Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/12/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Seit unserer letzten Sitzung haben die Kolleginnen und Kollegen Gabriele Lösekrug-Möller, Heinz Paula und Dr. Ilja Seifert ihre 60. Geburtstage gefeiert. Im Namen des Hauses noch einmal herzliche Gratulation und alle guten Wünsche! ({0}) Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin Christine Lambrecht anstelle des ausgeschiedenen Kollegen Olaf Scholz neues ordentliches Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss und im Vermittlungsaus- schuss werden soll. Darf ich dazu Ihr Einverständnis feststellen? - Das sieht so aus. Dann ist die Kollegin in beide Ausschüsse gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- geführten Punkte zu erweitern, wozu auch die Vereidi- gung eines Bundesministers gehört, die nach dieser Zusatzpunktliste heute Mittag, voraussichtlich zwischen 12.30 und 13.00 Uhr - stellen Sie sich darauf bitte ein -, vorgenommen werden soll: ZP 1 Vereinbarte Debatte zum Hilfsantrag Portugals ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Ge- sundheit ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 29 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten aufnehmen - Verantwortung des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes Deutschland wahrnehmen - Drucksache 17/5758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({2}), Marieluise Beck ({3}), Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU - Drucksache 17/5771 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften - Drucksache 17/5311 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6}) - Drucksache 17/5793 Berichterstattung: Abgeordneter Matthias W. Birkwald - Bericht des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5796 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({8}) Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Alexander Bonde ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der technischen Vorschriften für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({9}) Nr. 924/ 2009 vom 16. Dezember 2010 - KOM({10}) 775 endg. Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreundlich gestalten - Drucksache 17/5768 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen - Für eine unabhängige und effektive WHO - Drucksache 17/5769 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit hier Änderungen vorgesehen sind und soweit erforderlich, abgewichen werden. Aufgrund der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portugals und der Aufsetzung von zwei weiteren Zusatzpunkten nach den Tagesordnungspunkten 15 bzw. 17 verschieben sich die nachfolgenden Tagesordnungspunkte jeweils nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 18 und 26 werden abgesetzt. Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({11}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze - Drucksache 17/5178 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({12}) Rechtsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes - Drucksache 17/5754 Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf der Drucksache 17/5754 dafür den Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl vor. Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens 311 Stimmen erhält. Die Wahl erfolgt mit blauer Stimmkarte und blauem Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen trägt. ({13}) - Der Deutsche Bundestag nimmt mit Faszination die ersten Annäherungsversuche zwischen dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion und dem neuen Vorsitzenden der FDP-Fraktion zur Kenntnis, dem ich bei dieser Gelegenheit herzlich zu seiner neuen Aufgabe gratuliere. ({14}) Gültig sind nur Stimmkarten, die mit einem Kreuz bei „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ versehen sind. Un- gültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Die Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimm- karte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführern an der Wahlurne Ihren Wahl- ausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wer- den. Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Wahlurnen besetzt? - Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ich den Wahlgang. An der Urne am Ausgang zur Abgeordnetenlobby scheint noch ein Schriftführer zu fehlen. Könnten sich die Geschäftsführer bitte darum kümmern? Ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offen- sichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus- zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl werden wir Ihnen später bekannt geben.1) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte wieder Platz. 1) Ergebnis Seite 12293 B Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe den Zusatzpunkt 1 unserer Tagesordnung auf: Vereinbarte Debatte zum Hilfsantrag Portugals Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die geschäftsführende portugiesische Regierung hat sich Anfang April angesichts fortgesetzten Vertrauensverlustes und sich massiv verschlechternder Refinanzierungsbedingungen an den Finanzmärkten gezwungen gesehen, internationale Finanzhilfen zu beantragen. Die Verhandlungsführer der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, die daraufhin nach dem vorgesehenen vereinbarten Mechanismus die entsprechenden Prüfungen vorgenommen und Verhandlungen mit der portugiesischen Regierung geführt haben, sind zwischenzeitlich zu der Einschätzung gekommen, dass die Tragfähigkeit der portugiesischen Staatsverschuldung durch ein striktes finanz- und wirtschaftspolitisches Reformprogramm wiederhergestellt werden kann. Wir sollten den portugiesischen Bürgerinnen und Bürgern diese Chance nicht verwehren. Neben der geschäftsführenden portugiesischen Regierung haben sich auch die beiden größten Oppositionsparteien auf die Ziele dieses finanz- und wirtschaftspolitischen Programms verpflichtet. Das ist wichtig; denn es kann keine Finanzhilfen auf der Basis unverbindlicher Zusagen geben. Im Übrigen wird jedes Programm seine Ziele nur erreichen, wenn die Bevölkerung des betreffenden Landes den Weg mitgeht, wenn sie sieht, dass der Weg notwendig und richtig ist - zu einer nachhaltigen Wiederherstellung der portugiesischen Staatsfinanzen und der dauerhaften Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Portugals. Das ist der Weg, der Portugal eine Zukunftsperspektive eröffnet. Es handelt sich um ein ehrgeiziges Maßnahmenpaket, über das die europäischen Finanzminister am Montag und Dienstag der kommenden Woche zu beraten und zu befinden haben. Wir haben uns gestern um das notwendige Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss bemüht und geben dem Bundestag heute, wie es die gesetzliche Regelung vorsieht, Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Maßnahmenpaket ist ehrgeizig, aber auch machbar. Die portugiesische Regierung hat im Übrigen in den vergangenen Monaten schon erhebliche Konsolidierungsanstrengungen unternommen und hat sich verpflichtet, weitere Maßnahmen in einer Größenordnung von 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zur Reduzierung des Defizits in Kraft zu setzen: Es sollen Gehälter im öffentlichen Dienst sowie Renten jenseits eines Mindestbetrags für die sozial Schwächeren gekürzt oder zusätzlich besteuert werden. Die Beschäftigung im öffentlichen Dienst soll um jährlich 1 bis 2 Prozent zurückgeführt werden. Im Gesundheitssystem sollen 550 Millionen Euro eingespart werden. Die Transfers an nachgeordnete Ebenen sollen gekürzt werden. Die öffentlichen Unternehmen kommen - das scheint mir besonders wichtig auf den Prüfstand; sie müssen ihre Kosten um 15 Prozent reduzieren. Die Effizienz der Verwaltung soll gesteigert und die Haushaltskontrolle intensiviert werden. Der Anwendungsbereich ermäßigter Mehrwertsteuersätze wird reduziert, und Ausnahmen von der Körperschaft- und Einkommensteuer werden abgebaut. Verbrauchsteuern wie etwa die Tabaksteuer und auch die Immobiliensteuer sollen erhöht werden. Durch Privatisierungen sollen bis zum Ende des Programms zusätzlich 5,5 Milliarden Euro aufgebracht werden. Ich nenne diese einzelnen Punkte, damit man ein Gefühl dafür bekommt, dass es sich wirklich um ein durch konkrete Maßnahmen unterlegtes und deswegen als tragfähig zu beurteilendes Programm handelt. Aber Schwerpunkt des Programms sind Strukturreformen für die Wirtschaft. Denn das eigentliche Problem Portugals ist seit vielen Jahren, dass die Wachstumszahlen der portugiesischen Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit ungenügend sind. Portugal hat seit 2000, also seit über zehn Jahren, ein durchschnittliches Wachstum von nicht mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das hat zu einem hohen Leistungsbilanzdefizit geführt. Die Nettoauslandsverschuldung Portugals liegt bei 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der private Sektor ist mit 260 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch verschuldet. Die öffentliche Verschuldung ist nicht so hoch wie in anderen europäischen Mitgliedsländern. Um mehr Wachstum zu ermöglichen, müssen die Arbeitsmärkte flexibilisiert werden. Vor allen Dingen junge Menschen brauchen eine bessere Beschäftigungsperspektive. Deswegen hat die portugiesische Regierung eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen, um zu einer größeren Effizienz, einer stärkeren Beschäftigung und einer größeren Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu kommen. Auf der Grundlage dieses Programms ist es vertretbar und richtig, Finanzhilfen bis zu 78 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, um Portugal den Weg zu den Finanzmärkten in einer angemessenen Zeit wieder zu ermöglichen. Der Internationale Währungsfonds wird sich mit einem Drittel daran beteiligen; die anderen zwei Drittel müssen vom EFSF, also der Gemeinschaft der Euro-Länder, und dem EFSM, dem Fonds der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union, getragen werden, wobei die Aufteilung der zwei Drittel zwischen den beiden Fonds am Montag noch im Einzelnen abschließend behandelt werden muss. Das ist noch nicht im Letzten geklärt. Ich glaube, dass wir vorschlagen können, dass wir - unter den noch zu vereinbarenden Bedingungen - die12290 sem Programm, diesen Vorschlägen zustimmen. Ich bitte um die Stellungnahme des Deutschen Bundestags dazu. Meine verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation Portugals zeigt erneut, wie ernst wir die Gefahr von Ansteckungseffekten in der Euro-Zone nehmen müssen. Portugal ist weniger stark verschuldet als andere Euro-Staaten. Portugal hat nicht - um ein weiteres Problem zu nennen - wie Irland einen weit überdimensionierten Bankensektor. Dennoch ist es aus den genannten Gründen zu einer dramatischen Verschlechterung der Refinanzierungsbedingungen gekommen. Das zeigt, wie wichtig eine verstärkte, frühzeitige wirtschaftliche Überwachung potenzieller Krisenstaaten und die Umsetzung von Strukturreformen in der EuroZone insgesamt sind. Deswegen ist es gut, dass wir im vergangenen Jahr in der Europäischen Union die Stärkung des Stabilitätsund Wachstumspakts beschlossen haben, dass wir mit den makroökonomischen Überwachungsverfahren nicht nur die Haushaltsentwicklung beobachten, sondern auch ein stärkeres Augenmerk auf die wirtschaftliche Entwicklung richten, dass wir mit dem Euro-Plus-Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit Möglichkeiten gefunden haben, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsländer zu verbessern. All das wird seine Wirkung nicht über Nacht zeigen. Wir haben es mit Problemen zu tun - es sind mehr Probleme, als wir vor einem Jahr gehofft haben -, die ihre Ursachen im Grunde in Fehlern der Vergangenheit haben, mit denen wir aber umgehen müssen, weil wir in unserem ureigensten - auch deutschen - Interesse die wirtschaftliche und politische Integration Europas verteidigen und die Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Europäischen Währungsunion gewährleisten müssen. Wir müssen in diesem Zusammenhang uns und unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder und wieder daran erinnern, dass wir von der wirtschaftlichen Integration und der europäischen Währungsgemeinschaft große wirtschaftliche und soziale Vorteile haben. Wir hätten die Finanz- und Bankenkrise des Jahres 2008 nicht annähernd so gut überstanden - die Folgen wie der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 4,7 Prozent waren schwer genug -, wenn wir nicht die Europäische Währungsunion gehabt hätten. Fast zwei Drittel unserer Exporte gehen in andere europäische Länder. Ohne die gemeinsame Währung hätten wir starke Aufwertungstendenzen gehabt. Ohne die Europäische Währungsunion hätten wir nicht die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts, der Wirtschaft und - die Ergebnisse der Steuerschätzung werden heute bekannt gegeben - der öffentlichen Finanzen. ({0}) Deswegen gehen wir diesen Weg, auch wenn schwierige Entscheidungen erforderlich sind, die keinem leichtfallen und bei denen wir die Aufgabe haben, sie immer wieder gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu begründen. Denn die europäische Einigung wird am Ende nur gelingen, wenn wir die Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder und wieder von der Richtigkeit und Verantwortlichkeit unserer Entscheidungen überzeugen. Wir handeln im besten Interesse aller Europäer und vor allen Dingen aller Deutschen; denn wir haben in mehr als einem halben Jahrhundert nicht weniger als andere politisch und wirtschaftlich von der europäischen Einigung profitiert. Wir tun das Beste für die Zukunft unserer Kinder und nachfolgender Generationen, wenn wir die europäische Einigung auch für die Zukunft leistungsfähig und nachhaltig halten. In Zeiten der Globalisierung kann keiner von uns in Europa seinen Interessen gerecht werden, ohne dass wir in Europa zu gemeinsamen politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Entscheidungen fähig sind und so unsere Interessen in der Welt wahrnehmen; daran müssen wir uns erinnern. ({1}) Das gilt auch für Griechenland. Natürlich weiß ich, dass die vielen Meldungen, die Entwicklung der Zinssätze an den Finanzmärkten und all diese Dinge für erhebliche Beunruhigung sorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es ganz klar ist: Wir haben mit Griechenland vor etwas mehr als einem Jahr eine Kreditvereinbarung getroffen. Die Kredite werden in vierteljährlichen Raten ausbezahlt. Die Grundlage jeder Auszahlung sind vierteljährliche Berichte des Internationalen Währungsfonds, IWF, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Union dazu, ob sich das Programm vereinbarungsgemäß weiterentwickelt. Diese Berichte sind Voraussetzung für jede Entscheidung. Den letzten Bericht gab es im März. Angesichts wachsender Gerüchte auf den Finanzmärkten darüber, dass die Situation kritischer wird, habe ich schon im April gesagt, dass wir uns den nächsten Bericht im Juni besonders sorgfältig anschauen werden. Denn wir werden keine unverantwortlichen Entscheidungen treffen, aber wir können unsere Entscheidungen nur auf der Grundlage klarer Analysen treffen. Der nächste Bericht des IWF, der EZB und der Europäischen Kommission über die Entwicklung in Griechenland steht im Juni an. Auf der Grundlage dessen werden wir entscheiden. Wenn sich herausstellen sollte, dass Griechenland nicht in dem zeitlichen Rhythmus, wie es in den vergangenen Jahren zugrunde gelegt wurde, an die Finanzmärkte zurückkehren kann, dann muss darüber gesprochen werden, welche zusätzlichen Maßnahmen insbesondere Griechenland ergreifen kann und was zusätzlich getan werden kann, um dieses Problem zu lösen. Ohne klare Konditionen werden wir keine zusätzlichen Maßnahmen beschließen können. Denn alles andere würde Zweifel an der Verlässlichkeit dessen hervorrufen, was wir heute und in der nächsten Woche auch im Hinblick auf Portugal zu entscheiden haben. Nur Verlässlichkeit kann die Grundlage für verantwortliche Entscheidungen sein. ({2}) Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Wir werden ständig gewarnt, wir mögen bei jeder Überlegung dahin gehend, dass auch der private Sektor an den Kosten für irgendwelche Maßnahmen beteiligt werden könne, auf die Reaktion der Finanzmärkte achten. Das ist richtig. Wir sind in die Finanzmärkte eingebunden. Wir haben ein Interesse an funktionierenden FinanzBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble märkten und ein Interesse daran, dass das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte in Europa erhalten bleibt. ({3}) Auch der Bund muss sich in diesem Jahr in einer Größenordnung von weit über 300 Milliarden Euro an den Finanzmärkten refinanzieren. Das Vertrauen der Finanzmärkte ist eine Conditio sine qua non. Aber Vertrauen in die Nachhaltigkeit unserer wirtschaftlichen Ordnung setzt auch voraus, dass nicht die Gewinnchancen bei den Investoren und die Risiken beim Steuerzahler liegen. ({4}) Deswegen brauchen wir Regelungen, die das Vertrauen nicht gefährden. Diese haben die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung im Europäischen Rat durchgesetzt. An den Regelungen, die im Rahmen des Vertrages über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus im Einzelnen ausgehandelt werden, wird die Bundesregierung festhalten. Sie sind am Ende Voraussetzung nicht nur dafür, dass wir Entscheidungen treffen können, sondern auch dafür, dass wir das Vertrauen der Menschen überall in Europa, auch in unserem Land, in die Fairness und die soziale Vertretbarkeit der von uns zu treffenden Entscheidungen erhalten können. Es kann nicht sein, dass es auf Dauer eine derart klare Trennung von Chancen und Risiken gibt. Deswegen müssen wir diesen Weg gehen. Wir werden auch im Hinblick auf Griechenland und den Europäischen Stabilisierungsmechanismus darauf achten. Wir werden das, was wir im Deutschen Bundestag beschlossen haben, in Europa gemeinsam vertreten. Wir sind in Europa nicht allein. Aber wir werden unsere Verantwortung wahrnehmen. Meine Bitte, mein Appell an uns alle ist: Lassen Sie uns unserer Verantwortung gerecht werden! Aber lassen Sie uns nie vergessen, dass unsere Verantwortung vor allen Dingen auch darin liegt, dass wir die Nachhaltigkeit der europäischen Einigung wirtschaftlich und politisch nicht gefährden. Das ist das Wichtigste, was wir im Interesse unserer Zukunft zu leisten haben. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schäuble, Ihnen nehmen wir Ihre uneingeschränkte europäische Überzeugung ohne Zweifel ab. Aber Ihr Problem ist doch in Wahrheit, dass Ihre eigenen Truppen aus dem Regierungslager täglich anders funken, nicht nur der Koalitionspartner, sondern auch das gesamte Regierungslager. ({0}) Ist nicht die ganze Wahrheit, dass die Bundeskanzlerin und der Außenminister auch hier im Parlament ständig mit ängstlichem Blick auf die Innenpolitik und die innere Lage der Koalitionsparteien schauen, anstatt sich offen ihrer Verantwortung zu stellen? ({1}) Mit anderen Worten: Die große Angst dieser Regierung hat einen Namen, und dieser Name ist Europa. Das war vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen so - ich erinnere Sie daran -, das war vor dem letzten Sommer so, das war vor den Wahlen in Baden-Württemberg so und nach den Märzbeschlüssen im Europäischen Rat. Im Zusammenhang mit dem künftigen Rettungsschirm haben Sie sich wieder vor der Debatte im Bundestag gedrückt und gehofft, dass man die parlamentarische Beratung möglichst weit in den Herbst hinein schieben kann. Ich sage Ihnen: So kann man mit dem Parlament nicht umgehen, und so kann man auch mit europäischer Verantwortung nicht umgehen. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Herr Finanzminister, das sage ich auch deshalb, weil sich nach meiner Erinnerung dieses Parlament der europäischen Verantwortung nie entzogen hat. Die ganze Wahrheit ist doch: Nicht das Parlament ist der Regierung jemals in den Arm gefallen, wenn Deutschland in der europäischen Pflicht war, sondern es sind Ihre eigenen Leute, derer Sie sich nicht sicher sind und vor denen Sie Angst haben. Das ist doch der Grund dafür, weshalb wir uns seit Wochen und Monaten ein, wie ich jedenfalls finde, ganz und gar unwürdiges Schauspiel miteinander liefern. Herr Finanzminister, Sie enthalten uns wichtige Beratungsunterlagen vor. Was im Nachbarland Österreich selbstverständlich ist, nämlich die Vorlage des Textes des Vertrages zum europäischen Stabilisierungsmechanismus, das soll offenbar hier in Deutschland nicht gelten. Ich könnte auch zugespitzt sagen: Der Spiegel kennt Ihre geheimsten Termine im europäischen Ausland; aber dieses Parlament darf nicht wissen, welche Verträge Deutschland schließt. Das kann nicht sein. Das ist auch eine Frage der Selbstachtung dieses Hauses. ({3}) Wir können uns jetzt einmal fragen: Was hat es eigentlich gebracht, dass wir mehrfach nicht zur richtigen Zeit im Deutschen Bundestag offen und ehrlich miteinander gestritten haben, sondern immer wieder versucht worden ist, die notwendigen Debatten hinauszuschieben? Wenn wir zurückschauen, sehen wir doch, dass wir in den letzten anderthalb Jahren jedes Mal von der Wirklichkeit eingeholt worden sind. Wenn Sie so wollen, hat am Ende auch die Unerbittlichkeit der Märkte dafür gesorgt, dass Ihr Handeln gekennzeichnet wird als das, was es ist, nämlich als mutloses Herumdoktern an Symptomen, immer zu spät, nie vor der realen Entwicklung, sondern immer hinterherhinkend und meistens getrieben von anderen. Ich sage Ihnen: Europa erwartet anderes von Deutschland und anderes von dieser Regierung. ({4}) Es ist ja nicht nur die böse Opposition, Frau Merkel, die hier im Bundestag gelegentlich sagt und auch heute wieder sagen muss, dass mit Blick auf die letzten 10 bis 15 Jahre das Ansehen Deutschlands und der deutschen Regierung in Europa auf dem Tiefpunkt angekommen ist. Das finden Sie auch, wenn Sie sich einmal die Zeitungen aus der letzten Zeit anschauen. Der Altmeister der deutschen Außenpolitik, Hans-Dietrich Genscher, beschreibt im Tagesspiegel nach Analyse der Lage - ich finde, das ist ein Artikel, der für Sie in der FDP hochbrisant ist -: Von Deutschland ist jetzt eine aktive Rolle gefordert und Handlungsfähigkeit der Regierung. Was heißt das mit anderen Worten? Es ist doch auch seine Analyse, dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien für alles Mögliche stehen - für Streit, für populistische Anwandlungen -; aber sie stehen eben nach Genschers Ansicht ganz offenbar für eines nicht: für eine aktive Rolle in Europa und für handlungsfähige Politik. Diese Analyse teile ich, meine Damen und Herren. ({5}) Es ist nicht so, dass ich nur Häme empfinde. Ich weiß, dass das ein schwieriger Parteitag für Sie wird. Aber deshalb schauen wir alle natürlich genau hin, was im Vorfeld des Parteitages geäußert wird. ({6}) Ich sehe - und nicht nur ich - Anträge etwa aus dem Landesverband Hessen, in denen der Bundestagsfraktion und den Aktiven im Kabinett vorgeworfen wird, sie hätten die Europäische Union in eine Transferunion umgewandelt und so gegen fundamentale liberale Überzeugungen verstoßen. Vom hessischen Landesverband werden Sie aufgefordert, die Einführung einer europäischen Finanztransaktionsteuer kategorisch abzulehnen. Ich sage Ihnen: Sie gehen hier einen gefährlichen Weg. Wenn es ein Thema gibt, das sich aus meiner, aus unserer Sicht für Populismus nicht eignet, und bisher war das unsere gemeinsame Überzeugung, ({7}) dann ist das die Europapolitik. Bei diesem Thema brauchen wir klare Linien und Verlässlichkeit. ({8}) Ich habe im vergangenen Jahr gemeinsam mit Peer Steinbrück einen Vorschlag veröffentlicht - wir haben ihn nicht zurückgehalten -, wie ein europäisches Gesamtkonzept in der gegenwärtigen Finanzkrise und in der Krise der Europäischen Währungsunion aussehen könnte. Wir haben gesagt: Das funktioniert nur dann, wenn Deutschland bereit ist, in einer solchen Situation eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie wollten das damals nicht hören. Sie haben im Dezember des vergangenen Jahres gesagt, so schlimm werde das alles nicht kommen und wir sollten aufhören, den Teufel an die Wand zu malen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die erregten Zurufe, die es in diesem Parlament aus dem Regierungslager, auch von der Regierungsbank gegeben hat, als ich gesagt habe: Wir dürfen nicht zulassen, dass die EZB zur Bad Bank Europas wird. Wie sieht das heute, gut ein halbes Jahr später, aus? Für fast 80 Milliarden Euro hat die EZB am Sekundärmarkt Staatsanleihen gekauft. Vermutlich liegen ebenso viele riskante Bankanleihen im Depot. Der Nachfolger von Herrn Trichet wird ein verdammt schwieriges Erbe antreten. Warum? Weil die europäischen Regierungen, auch die deutsche, nicht den Mut hatten, nach einem vernünftigen und mutigen Gesamtkonzept zu handeln. Das ist der Grund. ({9}) Peer Steinbrück und ich haben damals gewusst, dass unser Vorschlag nicht besonders populär war und in der deutschen Öffentlichkeit und bei den Medien nicht nur auf Zustimmung stoßen würde. Aber wir haben gesagt: Wir werden so etwas brauchen wie einen intelligenten Haircut; wir werden so etwas brauchen wie einen permanenten Rettungsschirm; und wir werden, wenn es uns gelingt, die europäischen Wirtschaftspolitiken mit einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftsregierung stärker zusammenzuführen, auch den Weg für eine limitierte Zulassung von Euro-Bonds freimachen müssen. „Wir wollen das nicht!“, haben Sie damals gerufen. In allen Punkten sind Sie sechs Monate später von der Realität eingeholt worden. Natürlich haben wir inzwischen eine Spielart der Transferunion, auch wenn sie nicht so heißen darf. Natürlich haben wir in Zukunft eine Art europäischer Anleihen; nur Euro-Bonds dürfen sie nicht genannt werden. Natürlich wird es am Ende auch Umschuldungen und Haircuts geben müssen und geben. Die Frage ist nur: Wie werden sie ausgestaltet, und wann werden sie kommen? Warten wir, bis alle privaten Gläubiger aus dem Schneider sind, oder gelingt es uns noch vorher, private Banken und Versicherungen in Mithaftung zu nehmen? Alle in Europa wissen das, nur die Regierung verhält sich wie die drei chinesischen Affen: nichts sagen, nichts sehen, nichts hören. So geht das nicht. ({10}) Statt zu sagen, was ist, hat sich so eine Art Orwell’scher Neusprech durchgesetzt. Wir haben eine Transferunion, die nicht so heißen darf, Euro-Bonds, die keine sind, und am Ende werden Sie den Haircut, der kommen wird, als sanfte Rasur verkaufen. Man kann das so machen; das bestreite ich nicht. Man kann damit eine Koalition wie diese vielleicht eine Zeit lang über die Runden retten. Aber man muss wissen, was dabei auf der Strecke bleibt: die eigene Glaubwürdigkeit auf jeden Fall, aber auch - und das ist schlimmer die Zustimmung zu diesem großen europäischen Projekt, an dem wir Interesse haben sollten. Ich hätte vor einem, vor anderthalb Jahren noch jeden für verrückt erklärt, der gesagt hätte: Das gemeinsame europäische Projekt kann irgendwann einmal in Gefahr geraten. - Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Dabei muss uns doch bewusst sein: Ohne Europa und ohne die europäische Integration wäre die Geschichte dieses Landes anders verlaufen. Wir wollen und wir brauchen dieses Europa. Das sage ich, obwohl ich weiß, dass es zuhauf Defizite und Unzulänglichkeiten gibt. Aber wir dürfen dieses Europa nicht den Stimmungen, nicht den Stammtischen, nicht dem Boulevard überlassen. Es ist unsere Aufgabe, die Ärmel hochzukrempeln, rauszugehen und dafür zu kämpfen. Wir dürfen nicht zulassen, dass erodiert, was von Generationen vor uns aufgebaut worden ist. Lassen Sie uns hier offen und ohne Orwell’schen Neusprech über Europa debattieren, auch darüber, was uns dieses Europa wert ist. ({11}) Wir sind für europäische Solidarität, und wir sind für die Hilfen für Portugal samt dem Paket. Dazu stehen wir. Aber ich sage Ihnen voraus: Die Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit für diese europäische Politik ist in Gefahr, wenn wir den Eindruck erwecken, dass die Nutznießer dieser Solidarität nicht die Staaten und die Menschen in den europäischen Staaten sind, sondern Finanzanleger und Banken. Europäische Solidarität muss mehr sein. Sie funktioniert auf Dauer nicht ohne Beteiligung der Finanzmärkte. Machen Sie deshalb endlich den Weg für die Finanztransaktionsteuer frei. Sorgen Sie dafür, dass sie in Europa eingeführt wird. Auch das ist Teil einer europäischen Solidarität. ({12}) Ein letzter Satz aus dem Artikel von Hans-Dietrich Genscher, der mir ernst ist und der vielleicht in schwierigen Debatten auf dem FDP-Parteitag hilft: Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, kann ich Ihnen das Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Art. 45 des Grundgesetzes mitteilen: abgegebene Stimmen 568, ungültige Stimmen 2, gültig folglich 566 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 401 Mitglieder des Deutschen Bun- destages, mit Nein 138. 27 Kolleginnen und Kollegen haben sich der Stimme enthalten. Damit hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl die erforderliche Mehrheit von min- destens 311 Stimmen nicht nur erreicht, sondern auch überboten und ist damit gewählt.1) Herzlichen Glück- wunsch! 1) Namensverzeichnis der Teilnahme an der Wahl siehe Anlage 2 ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Luksic für die FDPFraktion. ({1})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Irland nimmt nun auch Portugal die Hilfe des Euro-Rettungsschirms in Anspruch. Lassen Sie mich gleich zu Beginn meiner Rede deutlich sagen: Es liegt im europäischen und im deutschen Interesse, einen unkontrollierten Zahlungsausfall Portugals zu verhindern; denn die Auswirkungen auf die Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone wären nicht absehbar. Deswegen ist es richtig, dass wir Verantwortung übernehmen. Herr Steinmeier, Sie haben eben von Verantwortung und Solidarität gesprochen. Aber als es darauf ankam, als es um den Rettungsschirm für Griechenland ging, haben Sie und die SPD sich aufgrund der bevorstehenden Wahl in NRW, also aufgrund innenpolitischer Erwägungen - Sie kritisieren sonst immer, die Regierung würde so etwas tun -, enthalten. Deswegen sollte die SPD bei diesem Thema ganz zurückhaltend sein. ({0}) Die harten Bedingungen des Rettungsschirms erfüllen ihre Funktion. Es gibt keine Anreize, die Staatsverschuldung weiter in die Höhe zu treiben. Der Rettungsschirm ist die Ultima Ratio. Portugal hat sich lange gesträubt, unter den Rettungsschirm zu gehen. Das zeigt, dass diese Konstruktion richtig ist. Der Rettungsschirm ist kein Selbstbedienungsladen; er ist vielmehr ein Rettungsnetz. Die Reißfestigkeit dieses Netzes wird von dem betroffenen Land selbst bestimmt. Die europäischen Staaten spannen das Netz; die Stärke der Seile wird von dem Land bestimmt, das das Rettungsnetz braucht. Ohne genügend eigene Anstrengungen, ohne Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung, reißt dieses Netz. Deswegen ist es gut und richtig - das ist Teil der Politik der Bundesregierung -, dass es auch im Fall von Portugal die Hilfen nur im Zusammenhang mit einem ehrgeizigen wirtschaftlichen Anpassungsprogramm gibt, das dazu beitragen soll, dass Portugal wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Das ist im deutschen Interesse, das ist im europäischen Interesse. Deshalb müssen wir hier helfen. ({1}) Portugal wird mit dem Hilfspaket von insgesamt 78 Milliarden Euro zwei Jahre lang von den Finanzmärkten unabhängig sein. Es hat also Zeit, sich zu refinanzieren, den Haushalt zu konsolidieren und die notwendigen Strukturreformen anzugehen. Das Hauptproblem Portugals ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings ist es nur bedingt mit Griechenland und Irland vergleichbar; denn Portugal hat ein funktionierendes Staatswesen und eine industrielle Basis, auf der man aufbauen kann. Es kommt jetzt darauf an, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Deshalb liegt der Schwerpunkt in dem Anpassungsprogramm auch auf den Strukturreformen. Die Bedingungen des Hilfspakets und die europäische Kontrolle machen dies möglich. Das Hilfspaket ist kein Selbstzweck, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Die drei Kernelemente sind: Haushaltskonsolidierung, eine Strategie für den Finanzsektor mit Bankenreform und Rekapitalisierung sowie - das ist das Wichtigste - tief eingreifende und sofort einsetzende Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Justizsystem, bei der Infrastruktur und auch im Dienstleistungsbereich. Die Auflagen der internationalen Gemeinschaft sind streng. Portugal verpflichtet sich, bis 2013 Einsparungen in Höhe von 10 Prozent des BIP durchzuführen. Bis 2013 soll das Maastricht-Kriterium wieder eingehalten werden. Das wird durch die regelmäßige neutrale Überprüfung durch IWF, EZB und Kommission vor der Auszahlung weiterer Tranchen garantiert. Ich glaube, in der deutschen Öffentlichkeit gibt es zu wenig Verständnis dafür, was das wirklich heißt. Politisch heißt das für Portugal die Aufgabe eines großen Teils politischer Souveränität. Es sind große und schmerzhafte Einschnitte, die zugemutet werden. Das Programm der neuen Regierung - wir werden jetzt Wahlen in Portugal haben - wird zu einem großen Teil durch die Bedingungen des Hilfspakets schon vor dem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Für uns muss aber klar sein: Nur wenn diese Reformen wirklich umgesetzt werden, wenn die Versprechungen in Portugal eingelöst werden, kann und darf auch gezahlt werden. ({2}) Das Programm der Regierung ist ambitioniert. Im öffentlichen Dienst in Portugal werden die Löhne eingefroren. Die Renten werden gekürzt, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wird gesenkt, das Überstundengeld wird gedeckelt. ({3}) Die Zahl der Rathäuser und Gemeindeverwaltungen wird verringert. Privatisierungen im Energiebereich, bei der Post und der Telekommunikation stehen an. Liebe Kollegen der Linkspartei, es werden auch Steuern erhöht, um die finanzielle Basis zu stärken. Auch wird der Finanzsektor reguliert. Deswegen noch einmal, was das Rettungsnetz angeht: Die Portugiesen haben es selbst in der Hand, ob das Netz hält oder nicht. Jedenfalls sind die Leistungen, die sich Portugal vornimmt, sehr ambitioniert und ehrgeizig. Davor sollten auch wir im Deutschen Bundestag, glaube ich, hohen Respekt haben. ({4}) Jetzt kommt es darauf an, dass sich auch die Oppositionsparteien in Portugal an das halten, was angekündigt wurde. Sie haben dem in einem Brief zugestimmt. Das ist wichtig und notwendig. Die EU ist handlungsfähig. Geeignete Instrumente für den Umgang mit Schuldenstaaten wurden gefunden. Es muss aber klar sein: Euro-Rettungsschirm und ESM können nur Notfallmaßnahmen sein. Jetzt ist es umso wichtiger, die Weichen für die Zukunft zu stellen, damit es keine Dauerhilfen gibt. Deswegen brauchen wir in Europa eine Stabilitätskultur und eine marktwirtschaftliche Entwicklung der Euro-Länder. Vor allem müssen Verstöße wirksam sanktioniert werden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir bei den Verhandlungen in Brüssel, die jetzt anstehen, gerade beim EconomicGovernance-Paket dafür sorgen, dass wir die Ursachen neuer Krisen bekämpfen und nicht nur an den Symptomen herumdoktern. Darum muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt so geschärft werden, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Ordnung bringen. Bei Verstößen müssen früher Sanktionen verhängt werden. Sie müssen automatisch erfolgen, damit sie auch endlich einmal angewendet werden. Das ist nämlich das Problem, das wir in Europa haben. ({5}) Zu einer wirksamen Konsolidierung gehören auch die Aufnahme von Schuldenbremsen in das nationale Recht der Mitgliedstaaten, die Integration des Euro-Plus-Pakts in die Rechtstexte, ein europäischer Rahmen für die Finanzinstitute, die keine Grenzen kennen, eine straffere Bankenregulierung, Regeln für staatliche Insolvenz und vor allem - das wird der Hauptknackpunkt der Verhandlungen in Brüssel sein - die private Gläubigerbeteiligung im ESM. Sowohl im Hinblick auf den ESM als auch auf mögliche weitere Hilfen für Griechenland ist es wichtig, dies in Brüssel zu verankern. Wir wissen, wie schwierig das ist, weil sowohl die EZB als auch die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier große Bedenken haben. Insofern ist es ein umso größerer Erfolg der Bundesregierung, dass sie durchgesetzt hat, dass es mit dem ESM im Rahmen der CACs eine Beteiligung privater Gläubiger geben wird. Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung. ({6}) Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Parlamentsbeteiligung. Diese muss gestärkt werden. Das hat sich auch im Falle Portugals gezeigt. Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass wir das Parlament durchaus noch proaktiver informieren können. ({7}) Es wird, auch im Hinblick auf den zukünftigen ESM, besonders wichtig sein, dass es für die Auslösung von Hilfszusagen und Änderungen der Instrumente oder der Ausleihkapazität einen Parlamentsvorbehalt gibt. Ohne diesen würde es, wie ich glaube, schwierig sein, einem ESM zuzustimmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Parlamentsbeteiligung die Regierung nicht schwächt. Im Gegenteil: Sie stärkt die Regierung bei Verhandlungen auf europäischer Ebene in Brüssel. Dies liegt nicht nur im Interesse des Parlaments, sondern auch im Interesse der Bundesregierung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, dass wir heute eigentlich eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Situation sowohl in Griechenland als auch in Portugal hätten verlangen können und müssen. ({0}) Frau Bundeskanzlerin, auch wenn Sie sich freiwillig in die letzte Reihe der FDP-Fraktion setzen, ändert dies nichts daran, dass Sie für das, was dort geschehen ist, hier rechenschaftspflichtig sind. Der Weg, den man mit Blick auf Griechenland gegangen ist, ist gescheitert. Dort findet nicht nur ein in jeder Hinsicht nachvollziehbarer Generalstreik statt. Vielmehr sind dort alle Methoden gescheitert, so wie wir es übrigens von vornherein vorausgesagt haben. Jetzt wenden Sie dieselben Methoden bei Portugal an. Das kann nicht gutgehen. ({1}) Herr Bundesfinanzminister, am Freitag nahmen Sie an einem Treffen teil. Ein bisschen haben Sie davon erzählt; aber es war ja in gewisser Weise ein Geheimtreffen. Ich finde, das Parlament hat einen Anspruch darauf, zu erfahren, was die Finanzminister der Euro-Zone dort vereinbart haben. Was Griechenland betrifft, haben Sie gesagt, man müsse strikte und harte Sparauflagen erteilen, dieser Weg werde aus der Krise hinausführen. Er hat aber noch tiefer in die Krise hineingeführt. Wann ziehen Sie daraus Schlussfolgerungen? ({2}) Ich möchte, dass unserer Bevölkerung eine Frage beantwortet wird: Sind Länder wie Griechenland, Irland und Portugal in einer Krise, weil die Leute dort faul und raffgierig sind - so lautet eine immer wieder anklingende rassistische Antwort -, oder hat das, wie wir meinen, ganz andere Ursachen? Darüber muss aufgeklärt werden. Jeder Staat steht privaten Banken gegenüber. Diese privaten Banken geben einem Staat gerne Kredite, und zwar deshalb, weil der Staat ein sicherer Gläubiger ist, der immer artig die Zinsen zahlt. Dies führt dazu, dass Staaten immer mehr Kredite aufnehmen. Dadurch steigt nicht nur die Belastung hinsichtlich der Raten, sondern auch die Belastung hinsichtlich der Zinsen. Von Problemstaaten - diese drei Länder sind solche - verlangen die Banken dann immer höhere Zinssätze, sodass es irgendwann unbezahlbar wird. Dadurch werden alle Haushalte belastet. Nun stellt sich die Frage: Was kann man dagegen tun? Ein Mittel wäre, Steuergerechtigkeit herzustellen. Aber dieser Vorschlag wird niemals gemacht, auch nicht in Bezug auf ein anderes Land. Die Renten sollen gekürzt werden. Aber Steuergerechtigkeit herzustellen, das wird niemals verlangt. Das ist aber eine der wichtigsten Voraussetzungen. ({3}) Apropos FDP: Alle neoliberalen Parteien im Bundestag machen immer wieder das Gegenteil. Sie sagen, die Steuern müssten gesenkt werden. ({4}) FDP und Union haben die Vermögensteuer abgeschafft. SPD und Grüne haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. ({5}) Es passiert, wie gesagt, immer das Gegenteil. Irgendwann steht man vor einem Problem, Herr Steinmeier: vor dem Problem, dass man soziale Leistungen plötzlich nicht mehr bezahlen kann. Dann muss man entweder den Weg des Sozialabbaus gehen, wie Sie es mit der Agenda 2010 getan haben, oder man muss sich höher verschulden. ({6}) In der Regel passiert übrigens beides zeitgleich: Man verschuldet sich höher und baut Sozialleistungen ab. Dieser Weg ist aber falsch; denn wenn die Schulden wachsen, steigen die Zinslasten weiter. Das heißt, man ist in einem Teufelskreis. Wenn man Sozialabbau betreibt, dann sinken die Steuereinnahmen. Das heißt, auch das ist keine Lösung, sondern bewirkt nur eine Verschärfung des Problems. Zurück zu Griechenland, Irland und Portugal. Die privaten Ratingagenturen haben das Recht, Staaten einzuschätzen, und zwar gerade dann, wenn die Finanzmärkte entfesselt sind. Wenn die privaten Ratingagenturen mitteilen, dass diese drei Staaten nichts taugen, dann hat das zur Folge, dass die Zinslasten noch größer werden. Damit wären sie zahlungsunfähig, und es bleibt ihnen kein anderer Weg, als sich an die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds zu wenden. Man muss aber auch fragen, warum das so ist. Was müssen denn die Staaten bezahlen? Sie müssen ihre Schulden bei den privaten Banken abzahlen. Was ist mit den Auslandsbanken? Die deutschen Banken und Versicherungen haben Forderungen gegenüber Griechenland und Portugal. Wenn sich unsere Bundesregierung hier sehr bemüht, dann sollten Sie ehrlicherweise sagen, dass es Ihnen auch und vordergründig darum geht, dass die Deutsche Bank und die deutschen Versicherungen alle ihre Gelder zurückbekommen. Das steckt nämlich dahinter. ({7}) Wenn die Staaten wirklich pleitegingen - wobei ich mir nicht vorstellen kann, wie das aussehen soll - ({8}) - Ja, aber unser Ziel war, dass Sie pleitegehen, und das ist uns auch einigermaßen gelungen. ({9}) - Quatschen Sie doch nicht immer so ein dummes Zeug! Hören Sie zu! Sie können etwas lernen. ({10}) Es gibt noch einen anderen Weg. Man könnte einen Staat per Gesetz entschulden. Das hätte aber zwei Konsequenzen: Zum einen würde man von den Banken nie wieder Geld geliehen bekommen. Zum anderen würden auch die deutschen Banken und Versicherungen furchtbar darunter leiden. Ich nenne einmal die Zahlen in Bezug auf Griechenland, damit unsere Bevölkerung weiß, worum es geht. Die Allianz-Versicherung hat gegenüber der griechischen Regierung Forderungen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro, die Münchener Rückversicherung 2,2 Milliarden Euro, die Deutsche Bank 1,6 Milliarden Euro und die Commerzbank 3 Milliarden Euro. Insgesamt schuldet der griechische Staat all diesen Einrichtungen 25,4 Milliarden Euro. Das zu sichern, ist die vordringliche Aufgabe der Bundesregierung. Das sagen Sie nie, Herr Schäuble. Ich finde, diese Wahrheit muss auch auf den Tisch. ({11}) Jetzt stellt sich die Frage, wie man dieses Problem lösen könnte. Es ist ganz einfach: nur durch das schwedische Modell. Dann muss man dazu bereit sein, dass alle großen Privatbanken, ob in Griechenland, Portugal oder Deutschland, durch die jeweiligen Staaten übernommen werden. Damit werden die Schulden, Zinslasten etc. reguliert. ({12}) - Ich weiß, dass die SPD konservativ ist. Als Konservative können Sie meinetwegen später alles wieder reprivatisieren. Die großen Privatbanken nicht zu übernehmen, ist aber ein gigantischer Fehler. ({13}) Was haben Sie denn beschlossen? Nach der Pleite der Hypo Real Estate in Deutschland haben Sie beschlossen, die Hypo Real Estate zu übernehmen. Die Große Koalition hat sie verstaatlicht. Das heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Steuergeldern eine Forderung der Deutschen Bank gegen die Hypo Real Estate bezahlen mussten. 10 Milliarden Euro aus den Steuergeldern der Bürgerinnen und Bürger haben wir der Deutschen Bank gezahlt. Das führte dazu, dass die Deutsche Bank große Gewinne machte, riesige Dividenden an ihre Großaktionäre ausschüttete und Boni an all ihre Ackermänner verteilte. Das ist ungerecht. Hätten wir auch die Deutsche Bank übernommen, wäre das Ganze nicht passiert. ({14}) Sie lehnen diesen Weg ab. Der Internationale Währungsfonds hat aber gerade festgestellt, dass die Banken nach der Krise noch mächtiger geworden sind, als sie schon vor der Krise waren. Was sagen Sie jetzt den betroffenen Ländern? Welchen Weg gehen Sie? Sie sagen erstens, dass diese Länder von der EU und vom Internationalen Währungsfonds Geld gegen höhere Zinsen bekommen. Zweitens sollen sie öffentliches Eigentum verkaufen. Das können sie allerdings nie mehr zurückkaufen; sie werden diesbezüglich entmündigt. Mein Vorredner hat recht damit, dass das eine Einschränkung der Souveränität dieser Staaten bedeutet. Drittens müssen die betroffenen Länder Renten, Löhne, Sozialleistungen und Investitionen drastisch senken. ({15}) Was sind die Folgen? Erstens. Unbeteiligte und Unschuldige bezahlen die Krise. Zweitens. Es ist sozial grob ungerecht. Drittens führen sinkende Einkommen der Bevölkerung zu sinkenden Steuereinnahmen. Die sinkende Kaufkraft der Bevölkerung führt zu einer Schwächung der Binnenwirtschaft. Das wiederum führt ebenfalls zu sinkenden Steuereinnahmen. Sie haben einen Teufelskreis organisiert, aus dem Griechenland gar nicht mehr herauskommen kann. Diesen Teufelskreis schlagen Sie jetzt auch Portugal vor. ({16}) An Griechenland gingen 110 Milliarden Euro. Die Frage ist: Wie viel soll nun hinzukommen? Dies wurde vom Bundesfinanzminister nicht beantwortet. An Irland gingen 85 Milliarden Euro, und an Portugal sollen 78 Milliarden Euro gehen. Aber Portugal ist nicht Irland. Dort hatten wir keine Immobilienblase. Die Staatsverschuldung ist viel geringer. Was sind eigentlich die Probleme dort? Eine gigantisch hohe Verschuldung, und zwar sowohl des Staates als auch der privaten Haushalte! Lassen Sie mich Ihnen zu den privaten Haushalten in Portugal eine Zahl nennen. Wenn man sämtliche Einkommen eines ganzen Jahres in Portugal addiert - Renten, Sozialleistungen, kleine Einkünfte, hohe Einkünfte und dieser Summe die Verschuldung der privaten HausDr. Gregor Gysi halte gegenüberstellt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Verschuldung im Vergleich zum gesamten Jahreseinkommen der portugiesischen Bevölkerung bei 130 Prozent liegt. Wer ist daran schuld? Der deregulierte private internationale Finanzmarkt! Dagegen machen Sie gar nichts. Das ist das Problem. Dadurch wachsen ständig die Zinslasten. ({17}) Portugal hat Auslandsschulden in Höhe von 220 Milliarden Euro, gegenüber Deutschland 33 Milliarden Euro. Wir haben also ein Eigeninteresse, Portugal zu helfen. Wir müssen doch nicht immer so tun, als ob das Ganze altruistisch wäre. Gerade Deutschland ist ebenfalls auf die Hilfe angewiesen. Es gibt aber eine weitere Ursache. Sie besteht in den harten und unsozialen Sparauflagen. Schauen wir uns einmal an, was Sie bisher in der EU - jetzt kommt noch einiges hinzu - gemacht haben: Kürzung des Arbeitslosengeldes in Portugal um 20 Prozent, Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes von 36 auf 18 Monate, Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst um 5 Prozent, Anhebung der Mehrwertsteuer auf 25 Prozent, Kürzung der Pensionen. Der in Portugal gesetzlich geregelte Mindestlohn in Höhe von 475 Euro pro Monat darf in den nächsten Jahren nicht mehr erhöht werden. Das alles haben Sie festgelegt. ({18}) - Natürlich hat das die EU festgelegt. Das alles sind die Auflagen der EU. ({19}) - Die Bundesregierung war aber führend daran beteiligt. Wenn Sie das nicht mitbekommen haben, tut es mir leid. Das Problem ist, dass dieser Teufelskreis gar nicht funktionieren kann. Wenn Sie dafür sorgen, dass der portugiesische Staat immer geringere Steuereinnahmen hat: Wie soll er denn dann aus der Krise herauskommen? Ich sage es noch einmal: Es hat in Griechenland nicht funktioniert, und es kann auch in Portugal nicht funktionieren. Nun muss Portugal öffentliches Eigentum im Wert von 5,3 Milliarden Euro verkaufen. Verkehrsprojekte und andere Investitionen müssen gestrichen werden. Wir müssen aber auch die Handelsungleichgewichte in der Europäischen Union und vor allen Dingen in der Euro-Zone berücksichtigen. Deutschland hat im März einen neuen Rekord in seiner Geschichte aufgestellt. 98,3 Milliarden Euro war der Wert dessen, was wir exportiert haben. Ein neuer Rekord! 60 Prozent der Exporte gingen in die Europäische Union. ({20}) - Aber diese Plusseite Deutschlands ist gleichzeitig die Negativseite anderer Staaten, auch Portugals. ({21}) Ihre einseitige Orientierung am Export wird zu einem immer größeren Problem. Wodurch ist Ihnen denn dieser Rekord gelungen? Er ist Ihnen gelungen, weil Sie die Renten, die Sozialleistungen und die Löhne gekürzt haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gysi, ich ahne, dass Ihnen noch vieles zu diesem Thema einfällt. Aber die Redezeit gibt das nicht mehr her.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich verstehe das, Herr Präsident. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: Es sind noch so viele wichtige Dinge, die ich Ihnen zu sagen habe. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie könnten mir das jetzt vertrauensvoll übergeben. Dann gebe ich Ihnen eine Zusage. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist bedauerlich, dass Sie das nicht mehr erfahren werden. Zum Schluss sage ich nur: Wir müssen vier Schritte gehen. Wir müssen die Wirtschaft Portugals durch einen Marshallplan stärken und brauchen dort keine Sozialkürzungen und Privatisierungen. Irland, Griechenland und Portugal brauchen geringere Zinsen. Das sind kurzfristige Dinge. Langfristig brauchen wir ein schwedisches Modell und endlich die Regulierung der Finanzmärkte durch Verbot von Hedgefonds, Leerverkäufen und die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Deutschland muss seine einseitige Orientierung am Export aufgeben. Es braucht höhere Löhne, höhere Renten, höhere Sozialleistungen, eine höhere Kaufkraft und endlich eine Stärkung der Binnenwirtschaft und nicht eine einseitige Orientierung am Export. Danke. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie: ({0}) Sie müssen mit unserer Unterstützung rechnen. Gestern im Haushaltsausschuss wollten sich Ihre Abgeordneten anfangs einer Formulierung verweigern, nämlich dass wir das Einvernehmen erteilen, dass Portugal an dieser Stelle geholfen wird. ({1}) Was sind das in Ihren Reihen für Zustände, dass Dinge, die Ihr eigener Bundesfinanzminister ausgehandelt hat, nicht mehr das Einvernehmen der Fraktion finden! ({2}) Heute Morgen lese ich, dass sich 19 Abgeordnete aus Ihren Reihen gegen den Europäischen Stabilisierungsmechanismus stellen wollen. Ich kann nur unterstreichen, Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie das hier im Bundestag durchbekommen wollen, dann ist es an der Zeit, dass Sie sich endlich so verhalten wie die österreichische Regierung auch und diesem Haus den Vertragsentwurf vorlegen. Das ist das Mindeste, was man hier an Respekt vor dem Grundgesetz erwarten kann. ({3}) Es ist richtig, Portugal zu helfen. Wir halten das für notwendig und für ein Gebot der Solidarität in Europa. Wenn man das nicht täte, wäre das schlecht für Portugal, aber auch schlecht für uns. Würden wir den Liquiditätsvorteil, den wir und die anderen Zahlenden in diesem EFSF haben, nicht an Portugal weitergeben ({4}) - ja, wir führen einen Transfer von Liquidität durch; das ist der Mechanismus, Herr Kollege -, dann würde sich Portugal Mitte Juni in einer Größenordnung von mindestens 10 Prozent auf den internationalen Kreditmärkten refinanzieren müssen. Wenn wir all das Richtige, was hier über die Schwierigkeiten und die Härten des portugiesischen Anpassungsprozesses gesagt worden ist, ernst nehmen, dann kann ich nur sagen: Das ist hart, aber im Vergleich dazu, dass sie sich sonst mit 10 Prozent refinanzieren müssten, ist das eine vergleichsweise leichte Übung. Die Sozialkürzungen, die bevorstehen würden, wenn wir Portugal nicht helfen würden, die möchte ich mir nicht ausmalen, und da möchte ich auch nicht auf der Ecke der Linken sitzen, die heute sagt, diese Hilfe solle nicht gewährt werden. ({5}) Portugal ist nicht Irland, und Portugal ist auch nicht Griechenland. In allen drei Fällen gibt es unterschiedliche Gründe für die krisenhafte Entwicklung und auch die Zerrüttung der Staatsfinanzen, die daraus resultiert. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, das Reformprogramm in Portugal ist ein anderes als das in Irland. Wir haben es mit einer Finanzierung zu einem Drittel über Einnahmen, auch Steuererhöhungen, zu tun. Es werden ermäßigte Körperschaftsteuersätze gemindert, und es gibt eine Einschränkung von Steuervergünstigungen. Ich glaube immer noch, dass man darüber streiten kann, ob das sozial ausgewogen und ökonomisch vernünftig ist. Aber dieses Programm geht wenigstens einen Schritt in die Richtung, dass man ein Stück daraus gelernt hat, dass man nur mit Sparen und Austerität Länder nicht aus der Krise holen kann. Man muss sparen, aber man muss auch investieren; man muss Haushalte sanieren, und man muss die Wettbewerbsfähigkeit stärken, wenn man aus dieser Krise in Europa rauskommen will. ({6}) Das ist das, wozu ich von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, eine Botschaft völlig vermisse. Sie bewegen sich nach wie vor in der Logik des Strafens, des Zwingens und der Austerität. Aber es wird kein Gedanke darauf verschwendet, in welcher Weise auch und gerade diese Länder realwirtschaftlich wieder auf einen Kurs gebracht werden können, mit dem ihre Krise tatsächlich überwunden wird und sie nicht kaputtgespart werden. Sie haben in meinen Augen kein Konzept für die Überwindung der Krise. Ich will da gar nicht die Anträge aus der FDP zitieren. Mich würde schon mal interessieren, Herr Bundesaußenminister, was Sie als jemand, der von Berufs wegen Europa verpflichtet ist, in dieser Debatte eigentlich sagen würden: Stehen Sie dazu, dass wir zur Sicherung Europas einen gemeinsamen Rettungsschirm brauchen? ({7}) Stehen Sie als Außenminister zu der Idee eines gemeinsamen Europas, oder wollen Sie weiterhin die Schäfflers und anderen Neoliberalen in Ihrem Laden gegen Europa mobilisieren lassen? Ich vermisse, dass Sie gelegentlich doch mal zu solch einem Thema außenpolitisch etwas sagen. ({8}) Aber es gibt dabei ja ein weiteres Problem. Sie haben mit Ihrer Haltung die Krise nicht verkürzt, sondern verlängert und verschärft. ({9}) - Nein, das haben Sie nicht. - Die Bundeskanzlerin meint, sie hätte sie ausgelöst. Also, davor muss ich sie in Schutz nehmen. Das haben Sie nicht. ({10}) Aber haben wir nicht dazu beigetragen, dass der Weg aus dieser Krise länger ist, als es notwendig gewesen wäre? Haben Sie nicht mit dem Beharren auf bestimmte Zinssätze im Solidaritätspakt die Schwierigkeiten dieser Staaten mit vergrößert? ({11}) Ich will diese Fragen in aller Ernsthaftigkeit stellen. Wir stehen heute vor der Situation, dass Ihnen international niemand mehr abnimmt, dass es am Ende des Tages ohne eine Umschuldung Griechenlands gehen wird. Die meisten Experten sind auch der Auffassung, dass wahrscheinlich auch in Irland kein Weg daran vorbeiführt. ({12}) Wir diskutieren heute schon - auch das leugnen Sie natürlich - ein neues Paket auch für Griechenland. Das ist wahrscheinlich unausweichlich. Aber, Frau Merkel, wenn das unausweichlich ist: Warum haben Sie nicht den Mut, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Das ist so, wir müssen dieses Paket und dieses Problem gemeinsam bewältigen“? Was machen Sie stattdessen? Sie wiederholen den Fehler, den Sie schon Irland gegenüber gemacht haben. Wäre es nicht klüger gewesen, bei Irland mit der gleichen Härte darauf zu dringen, dass Irland seine lächerlichen Körperschaftsteuersätze anhebt, wie Sie darauf gedrängt haben, dass Irland 5,8 Prozent Zinsen auf die europäischen Kredite bezahlt? Das war die falsche Prioritätensetzung, ({13}) das hat die Krise in Irland ökonomisch verlängert, und es führt uns in die Nähe der Umschuldung. Das ist das Problem. Nun wollen Sie den gleichen Fehler im Falle Portugals fortsetzen. Damit wir uns da nicht missverstehen: Auch ich glaube, dass es einen bestimmten Aufschlag auf die refinanzierten Kosten geben muss. Der Zinsvorteil kann nicht vollständig weitergegeben werden, weil wir in ein Risiko gehen, ein Risiko, das dieses Haus und dieser Bundeshaushalt im gegebenen Falle mitzutragen haben. Aber Sie müssen mir doch mal erklären, warum wir, wenn wir das Geld für den Fonds für 2,7 Prozent auf dem Kreditmarkt aufnehmen, es an Portugal für 6 Prozent weitergeben wollen, während selbst der Internationale Währungsfonds nur 3,2 Prozent oder 4,2 Prozent verlangt. Wollen wir Portugal helfen, Frau Bundeskanzlerin, oder wollen wir an der Hilfe verdienen? Wollen wir Portugal abzocken? Das sind doch die Fragen, die sich an dieser Stelle stellen. ({14}) Ich glaube, wir sind in Europa in einer sehr ernsten Situation. Wir erleben dieser Tage, wie eine kleine, fremdenfeindliche Partei in Dänemark die gesamten europäischen Bürgerinnen und Bürger als Geisel nimmt und gegen das Grundrecht auf Freizügigkeit versucht, in Europa wieder Grenzkontrollen durchzusetzen. Wir sind in einer Situation, in der der Zusammenhalt Europas in einer Weise herausgefordert wird, die wir alle als Europäer schon lange nicht mehr für möglich gehalten haben. Wie agiert man in einer solchen Krise? In einer solchen Situation sind doch europäische Überzeugung und Standfestigkeit das Richtige und nicht das Wegducken vor solchen Mechanismen. ({15}) Nicht das Bedienen des Stammtisches, sondern das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa mit seinen Grundfreiheiten, das ist die Herausforderung. Dazu gehört auch konsistentes, glaubwürdiges Handeln. Deswegen ist es richtig, Portugal zu helfen. Aber es ist schädlich, ökonomisch kurzsichtig, falsch und krisenverlängernd, in dieser Weise zu versuchen, an der Hilfe zu verdienen. Deswegen müssen Sie dafür sorgen, dass die Zinssätze an dieser Stelle gesenkt werden. Wir dürfen nicht mehr verlangen, als selbst der IWF verlangt. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Trittin, ich will zunächst einmal feststellen: Wären Sie im Haushaltsausschuss dabei gewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen dürfen, dass wir der Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister das Einholen des Einverständnisses sogar vollumfänglich attestiert haben; ({0}) das ist schriftlich festgehalten und nachzulesen. Dies ist deshalb vollumfänglich geschehen, weil der Bundesfinanzminister schon am Montagabend die Obleute informiert hat. Das hätte er nicht tun müssen; das hat er freiwillig getan. Ihre Kollegin Hinz war ebenfalls dabei. ({1}) Die Bundesregierung hat an dieser Stelle alles Notwendige getan. Auch an die Opposition gerichtet sage ich: Ich finde, es ist schon kleinkariert, wenn die einzige Kritik, die Sie zu äußern haben, sich daran festmacht, dass es in den Reihen der Koalition einige Andersdenkende gibt. Ich bin überzeugt: Diese Personen gibt es auch bei Ihnen. Allerdings interessiert das in der Öffentlichkeit momentan niemanden. Wenn das alles ist, was Sie an Kritik zu äußern haben, dann sind wir ganz gut aufgestellt. Eines muss man eingestehen: Wir diskutieren nicht zum ersten Mal über eine Hilfe für ein Euro-Land, das in Schwierigkeiten geraten ist. Griechenland war der Anfang; ein Sonderfall bis heute. Ich beteilige mich nicht an den Spekulationen um Griechenland; da bin ich ganz beim Bundesfinanzminister. Wir sollten in aller Ruhe abwarten, was die Prüfungen durch den IWF, durch die EZB und die EU-Kommission im Juni ergeben. Danach sollten wir über weitere Schritte nachdenken, und wir sollten nicht vorher schon den Teufel an die Wand malen. Wir haben im Dezember vergangenen Jahres Irland unter strengen Auflagen unter den Rettungsschirm geholt. Heute klopft Portugal an. Es ist das zweite Euro12300 Land, das - nicht zuletzt zur Reorganisation der Bankenlandschaft und zwecks Wiederherstellung seiner Liquidität - unter den Rettungsschirm schlüpfen möchte. Wir sind aufgefordert, an dieser Stelle wirksam zu helfen. Wir kennen die Verfahren. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Das hilft uns weiter, soll aber nicht den Eindruck erwecken, als ob es Routine wäre. Ganz im Gegenteil: Es gibt ernstzunehmende Fragen, die die Menschen in diesem Zusammenhang an uns stellen, und wir greifen diese Fragen auf: Wie soll es weitergehen? Wann zieht ihr die Reißleine? Gibt es keine Alternativen? Wie schützt ihr die Steuerzahler? Lassen Sie mich versuchen, einige dieser Fragen zu beantworten. Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal ist der Euro-Rettungsschirm ein vorübergehender Mechanismus. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Zeit, die wir jetzt haben, nutzen, um einen dauerhaften Mechanismus im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, zu verankern. Für uns ist es dabei wichtig, dass im ESM alle Entscheidungen einstimmig erfolgen, dass also niemals gegen unsere Interessen entschieden werden kann. Für uns ist es weiterhin wichtig, dass alle Hilfen konditioniert erfolgen, sprich: mit Gegenleistungen, entsprechenden Reformen verbunden sind. Außerdem ist für uns ganz wichtig, dass die Gläubigerhaftung in diesem Regelmechanismus verankert wird und dass damit risikobehaftete Spekulationen nicht zulasten der Bürger, sprich: der Steuerzahler, stattfinden können. Zweite Frage: Wann zieht ihr die Reißleine? Auch darauf gibt es eine Antwort. Wenn Euro-Staaten Hilfen beantragen, dann gibt es eine ganze Latte von Prüfungen und Vereinbarungen, insbesondere zu den damit verbundenen Auflagen. Wenn diese Regularien den Überprüfungen standhalten, ist Hilfe berechtigt. Wir schenken aber niemandem etwas. Die Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit ist an dieser Stelle diametral entgegengesetzt zu der Wahrnehmung in den betroffenen Ländern. ({2}) Gerade durch die Demonstrationen in Griechenland wird dies jetzt wieder augenfällig gezeigt. Die Euro-Rettung ist deshalb auch im ureigenen deutschen Interesse zu betrachten. Wer, wenn nicht wir, profitiert denn vom Euro? Ich will nur ganz kurz beispielhaft benennen: Die Stabilität unserer Währung muss gesichert werden und ist gesichert. Die Transaktionskosten fallen weg. Allein das macht für die Betroffenen eine Entlastung von 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr aus. Wir haben keine Wechselkursschwankungen. Das gibt Sicherheit. Wir haben eine hohe Preistransparenz in ganz Europa. Jeder weiß, was ein Glas Bier in Paris, in Madrid, in Mailand, in Berlin und sonst wo kostet. ({3}) Durch den gemeinsamen Heimatmarkt - so nenne ich ihn einmal - gibt es sehr viele individuelle Vorteile, die ich jetzt gar nicht im Einzelnen erläutern will. Dritte Frage: Gibt es denn keine Alternativen zu immer neuen Hilfen? Diese Frage wird von den Bürgern immer wieder gestellt. Selbstverständlich gibt es auch andere Wege, über die man nachdenken kann. Wir sind nicht so vermessen, zu glauben, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Es gibt immer wieder ernstzunehmende Experten, die uns zuhauf gute Ratschläge dafür geben, was man grundlegend anders machen könnte. Eines muss man an dieser Stelle aber festhalten: Die sind nicht in der Verantwortung. Die Verantwortung für das, was wir machen, müssen wir übernehmen. Wir müssen uns deshalb sehr genau überlegen, was wir machen. Das tun wir; denn die Euro-Rettung ist kein Spielplatz, auf dem es um theoretische Alternativen geht. Ich kenne niemanden, der über Alternativen redet und mir präzise voraussagen kann, was am Ende dabei herauskommt. Das ist das Entscheidende; denn wenn beim Euro etwas schiefläuft, dann hat dies verheerende Folgen - nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa und, wenn man so will, für die ganze Welt. Dass das so ist, kann man daran ablesen, dass der IWF, eine wirklich internationale Organisation, die EZB und die EU-Kommission der 27 Mitgliedsländer und nicht nur der 17 Länder, die den Euro haben, an der jeweiligen Rettung beteiligt sind, egal, welcher Rettungsmechanismus greift. Alle beteiligen sich an diesen Rettungsmaßnahmen. Allein schon dadurch zeigt sich die Bedeutung. Ich kann deshalb nur davor warnen, über das Szenario nachzudenken, ein Mitgliedsland aus dem Euro-Raum oder aus der Währung herauszudrängen. Selbst für Länder, die keine gemeinsame Währung haben, ist ein Staatsbankrott ein Desaster. Noch schlimmer wäre es, wenn dies in einem gemeinsamen Währungsraum geschehen würde. Die Folgen wären wirklich unbeschreiblich. Jetzt komme ich zur letzten Frage: Wie schützt ihr uns Steuerzahler? Gerade mit dem, was wir tun, zielen wir darauf ab, die Steuerzahler zu schützen; denn wir geben Garantien und keine Haushaltsmittel. Wir geben Sicherheiten für Kredite, deren Rückzahlung wir erwarten. Wir wollen keine Transferunion. Wir wollen keinen europaweiten Länderfinanzausgleich. Wir wollen eine starke Europäische Union mit einer stabilen Währung. Wir wollen eine europäische Solidarität. Solidarität setzt Stabilität voraus. Deshalb tun wir alles, damit auch Portugal durch die entsprechenden Auflagen zur Stabilität zurückkehrt, und durch Stabilität wird dann wieder Solidarität erzeugt. Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir kontrollieren alles, was wir machen, von Anfang an. Wir kontrollieren dies durch die vierteljährlichen Quartalsberichte auch während des Verlaufs. Wir kontrollieren an dieser Stelle nicht nur unsere eigene Regierung, sondern wir schauen auch aufmerksam, was in den betroffenen europäischen Ländern geschieht. Damit können wir immer gesichert sagen, ob jetzt ein weiterer Schritt erfolgen kann oder auch nicht. Dies prüfen wir regelmäßig. In diesem Sinne werben wir um das Vertrauen für unseren Weg. Wir sind davon überzeugt: Der Weg, den wir einschlagen, ist der richtige.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Carsten Schneider ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Barthle, Sie haben mit dem Satz geschlossen, dass Sie um das Vertrauen werben - nicht nur des Bundestages, sondern sicherlich auch der Bevölkerung. Nun will ich Ihnen zugestehen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilisierungsmaßnahmen des Euro - und nicht nur der Bevölkerung, sondern auch derer, die uns Geld geben; das sind letztlich die Versicherungen und Banken ({0}) entscheidend dafür ist, dass wir dauerhaft eine Stabilisierung der Euro-Zone erreichen. Die Frage ist nur: Wie informieren Sie dieses Parlament seit einem Jahr über alle die Dinge, die mit dem Euro und der Staatsfinanzierungskrise zusammenhängen? ({1}) Sie informieren häppchenweise. Sie sind Getriebene der Märkte. Sie sind Getriebene Ihrer eigenen Skepsis in der Koalition. Es ist ja so, dass Sie in Bezug auf die Zustimmung zu den Maßnahmen für die Stabilisierung des Zusammenhalts Europas in Ihrer Koalition heftigen Widerstand haben. ({2}) Schließlich sind es Ihre Mitglieder, die gegen die verschiedenen Maßnahmen vor dem Verfassungsgericht klagen, und nicht etwa die Opposition. Das, was Sie hier tun, ist durch Verheimlichen, Tricksen und Leugnen gekennzeichnet. Das gilt ganz klar auch bei dem Punkt Griechenland. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat heute kurz ausgeführt, es gebe darüber Diskussionen. Darüber gibt es keine Diskussionen, sondern es ist klipp und klar: Griechenland wird mit den bisher zugesagten 110 Milliarden Euro nicht auskommen. Vorgesehen war, dass Griechenland sich im Jahr 2012 zum Teil wieder selbstständig am Kapitalmarkt refinanziert. Schon jetzt steht fest, dass das nicht gelingen wird. Deswegen wäre es notwendig gewesen, heute an dieser Stelle im Deutschen Bundestag darüber Klarheit zu schaffen, anstatt Geheimtreffen in Luxemburg zu veranstalten und diese zu leugnen, um dann am Montag im Ecofin eine Lösung zu präsentieren. Der Bundestag ist der Ort, an dem so etwas diskutiert werden muss. ({3}) In der Frage der Krisenprävention geht es darum, wie wir die Stabilität der Euro-Zone hinbekommen. Es geht doch gar nicht um die Stabilität des Euro. Zu Beginn haben Sie ja immer gesagt, es gehe um den Euro. Der Euro steigt und fällt. Das hat relativ wenig damit zu tun. ({4}) Vielmehr geht es darum, ob Länder bankrottgehen und ob sie in der Euro-Zone bleiben. Damit stellt sich die Frage, ob es die Europäische Union so, wie sie sich bisher erfolgreich entwickelt hat, weiter geben wird. Diese Frage hängt elementar mit der Haushalts- und Finanzpolitik und letztendlich auch mit einer weiteren koordinierten Wirtschaftspolitik zusammen. Man muss ganz klar sagen, dass das bisher dazu - insbesondere zum Punkt Griechenland - Vorgelegte einfach nicht überzeugend ist. Es ist ein Leugnen der wirtschaftlichen Situation Griechenlands, wenn Sie behaupten, 2013 könnten die Griechen wieder an den Kapitalmarkt gehen. Das ist eine pure Illusion. Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass das einem Land möglich ist, das 2013 eine Gesamtverschuldung von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, der wirtschaftlichen Leistung, aufweisen wird. Deswegen ist es meines Erachtens klüger, schnell Schritte zu gehen, die es Griechenland dauerhaft ermöglichen, wieder selbstständig zu arbeiten. ({5}) Diese Schritte sind: Erstens. Die einseitigen Sparpakete und Austeritätsmaßnahmen, die hier gemacht wurden, führen nicht zu stärkerem Wirtschaftswachstum. Es ist richtig, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Aber es ist falsch, auf Investitionen zu verzichten. Das wäre auch eine Aufgabe der Europäischen Union. ({6}) Zweitens. Eine Möglichkeit, den europäischen Marshallplan für die Peripheriestaaten Südosteuropas zu finanzieren, wäre die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Ich komme darauf noch zurück. ({7}) Drittens: Gläubigerbeteiligung. Was erleben wir momentan? Sie können derzeit kurzläufige Anleihen Griechenlands kaufen und erzielen bei sechsmonatiger Laufzeit eine Rendite, die zwischen 10 und 13 Prozent pro Jahr liegt - und das nahezu gefahrlos, weil Sie zugesagt haben, dass es bis 2013 keinerlei Einschnitte oder Gläubigerbeteiligung gibt. Das heißt, das Kasino ist zurück. Die deutschen und europäischen Steuerzahler finanzie12302 Carsten Schneider ({8}) ren die Gewinne und Renditen von Hedgefonds in diesem Land. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({9}) Ich meine, dass es an dieser Stelle sinnvoller wäre, diese Gläubiger, die das Ganze im Übrigen zum Teil auch schon abgeschrieben und wertberichtigt haben, auch an den Restrukturierungsmaßnahmen zu beteiligen. Eine Option, die Sie bei dem kurzfristigen Stabilisierungsmechanismus ausgeschlossen haben, wäre gewesen, das Modell der Brady Bonds, die in Mexiko hervorragend funktioniert haben, zu nutzen, um europäische Garantien zu geben, aber auch den privaten Gläubigern ihre Mittel mit einem Kursabschlag zurückzuzahlen, damit sie sich im Rahmen einer Wertberichtigung an der Konsolidierung beteiligen. ({10}) Das wäre ein Befreiungsschlag gewesen, der Griechenland auch geholfen hätte. Stattdessen erleben wir, dass Sie europaweit isoliert sind. ({11}) Sie sind in der Frage der Gläubigerbeteiligung beim ESM isoliert. Sie haben das zwar mit den Staats- und Regierungschefs grob vereinbart, aber die halbe Welt ist dagegen. Sie sind isoliert in der Frage, wie es mit der Europäischen Zentralbank weitergeht. Herr Sarkozy und Herr Berlusconi bestimmen mittlerweile, wie die Finanzpolitik in Europa aussieht. Diese beiden bestimmen durch Auftritte und Festlegungen, wer der neue Chef der Europäischen Zentralbank wird. Ich will klar sagen: Ich habe nichts gegen Herrn Draghi; ich halte ihn für kompetent. Aber dass Deutschland keine Rolle mehr bei dieser wichtigen Personalie spielt und auch sonst in europäischen Institutionen überhaupt nicht mehr vorkommt, ist auch ein Ergebnis Ihrer Isolationspolitik auf europäischer Ebene. ({12}) Sie haben den Bundesbankpräsidenten im Regen stehen lassen, als er die verdeckte Staatsfinanzierung in Form der Aufkaufprogramme der EZB kritisierte. Dies macht die EZB jetzt so handlungsunfähig und so willfährig, dass sie jedwede private Gläubigerbeteiligung ablehnt. ({13}) Ich will schlussendlich aus einem bemerkenswerten Artikel von Frau Berschens aus der heutigen Ausgabe des Handelsblatts zitieren: Die Kosten der Schuldenkrise werden allein den Steuerzahlern aufgebürdet - und zwar schleichend. Zentralbanker und Regierungen setzen darauf, dass die Bevölkerung die komplexen Zusammenhänge nicht durchschaut - und brav zahlt. Doch diese Strategie des Durchwurstelns birgt am Ende das größte aller systemischen Risiken: den Aufstand der Bürger gegen die Europäische Währungsunion. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, dies geschieht nicht. Allerdings erfüllt es mich mit Sorge, wenn ich mir Ihre Politik dazu anschaue. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für die Stärkung des Vertrauens der Bürger in Europa, Herr Kollege Schneider, haben Sie mit Ihrer Rede, wie ich glaube, nichts, aber auch gar nichts getan. Dafür etwas zu tun, ist aber auch Ihre Aufgabe als Opposition, ({0}) im Übrigen auch die Aufgabe der Grünen angesichts der gewachsenen Verantwortung, die sie in diesem Land tragen. Meine Damen und Herren, als Erstes ein Wort an die Adresse derjenigen, die der FDP einen europaskeptischen Kurs vorgeworfen haben: ({1}) Herr Steinmeier, wenn man auf stabile Währung achtet, wenn man auf strikte Kriterien achtet, wenn man strikte Kriterien haben will, damit es in Zukunft in Europa nicht so läuft wie in der Vergangenheit, dann ist das keine europaskeptische Politik, sondern eine Politik zur Stärkung Europas. Das ist die Aufgabe, die dieses Land, diese Regierung und diese Koalition haben und wahrnehmen wollen. Das ist der Unterschied. ({2}) Ich will Ihnen auch genau sagen, warum das so ist, und zwar, ohne dass ich damit einen Vorwurf verbinde, weil ja alle irgendwie daran beteiligt waren. Angesichts der Tatsache, dass in Europa in den vergangenen Jahrzehnten in nahezu allen Ländern Schulden gemacht worden sind, dann Kriterien aufgeweicht worden sind und man nicht genau kontrolliert hat, ob sich noch jeder daran hält, kann man doch nur zu einem Ergebnis kommen, nämlich: Wir müssen besser aufpassen, wir müssen konkret aufpassen, und wir müssen die Dinge machen, die notwendig sind für einen stabilen Euro. In diesem Zusammenhang wundere ich mich, dass die ehemalige rot-grüne Koalition ihre eigene Vergangenheit vergessen hat. Ich will sie jetzt einmal loben. Wo stand denn die Bundesrepublik Deutschland vor sieben Jahren, also 2004/2005? Sie war der kranke Mann Europas. Das fing im Jahr 2000 an. ({3}) Langsam wurde es besser. Warum wurde es besser? Warum gilt denn Deutschland heute in Europa als Kraftzentrale? Warum schauen denn nach zehn Jahren auf einmal alle auf Deutschland und sagen: „Wir brauchen Deutschland als Lokomotive“? Weil wir Reformen gemacht haben, weil Sie während Ihrer Zeit als Koalition Reformen gemacht haben, die zwar unangenehm und schwierig waren und mit Einschnitten einhergingen, aber richtig waren! Jetzt sagen Sie den Ländern, die diese Reformen nicht gemacht haben: Macht das mal nicht! Geht nicht den deutschen Weg! - Fordern Sie doch lieber die Länder - Portugal, Griechenland, vielleicht auch Irland und andere Länder - auf, das zu tun, was Sie während Ihrer Regierungszeit getan haben, und schlagen Sie sich nicht mit Enthaltungen und Ähnlichem in die Büsche! Das würde Ihnen viel besser anstehen. ({4}) Nun auch ein deutliches Wort an die Adresse derjenigen, die meinen, es wäre Deutschland gedient, wenn man beim Euro nicht hilft. Ich will hier ganz klar und deutlich sagen: Eine egozentrische Sicht nach dem Motto „Wir haben unsere Aufgaben gemacht, uns geht es gut, das war’s“ wird es mit uns nicht geben. Es darf sie nicht geben. Es ist unsere europäische Verantwortung, unseren Familienmitgliedern in Europa - wir sind Teil dieser Familie - zu sagen: Ja, wir helfen euch. ({5}) - Und Sie sitzen hier und hören einfach einmal zu; das hilft. ({6}) Was haben Sie denn dagegen, festzustellen, dass wir Teil der europäischen Familie sind? ({7}) Ich hoffe, dass wenigstens das noch auf die Unterstützung der SPD trifft. Die Unterstützung der FDP hat diese Aussage jedenfalls. ({8}) Wir haben unsere Exportstärke dem Euro zu verdanken. Wir haben die Stärke an vielen Stellen in unserer Gesellschaft Europa zu verdanken. Das gilt auch für den Wirtschaftsaufschwung und die Investitionsfreudigkeit in Deutschland. Es hat auch etwas damit zu tun, dass der Wechselkurs des Euro so ist, wie er ist. In Gesprächen mit Amerikanern und anderen hört man: Die Chinesen halten ihren Wechselkurs künstlich niedrig. - Auch uns könnte man die Höhe des Wechselkurses des Euro vorwerfen. Denn - das will ich den Bürgern klar und deutlich sagen - bei welchem Wechselkurs wäre denn zum Beispiel die D-Mark gegenüber dem Dollar: bei 1,90 oder bei 2? Wir wissen es nicht, aber er wäre wohl weit höher. Deswegen kann man sagen: Wir verdanken Europa sehr viel. Dieser Dank ist Teil unserer Europafreundlichkeit und unserer Europaverantwortung. Es sind die zwei Seiten derselben Medaille: Auf der einen Seite sagen wir unsere Hilfe zu - allerdings nicht so, wie es die SPD oder die Grünen wollen, und erst recht nicht so, wie es die Linke will -; ({9}) auf der anderen Seite knüpfen wir daran konkrete Bedingungen und klare Aussagen. Denn wir wollen das Spiel, wie es in den letzten zehn Jahren gespielt worden ist, nicht fortführen. ({10}) Meine Damen und Herren, es geht doch eigentlich darum, dass wir erwarten können und müssen, dass, wenn wir uns in Europa solidarisch verhalten, die anderen Länder Europas stabil sind. Herr Schneider, im Zusammenhang mit dem, was Sie zu Spekulationen gesagt haben, will ich eines eindeutig feststellen. Sie haben hier behauptet, dass man in sechsmonatige griechische Anleihen gehen könne. Es gibt aber gar keine sechsmonatigen griechischen Anleihen mehr. ({11}) Sie sind vom Markt; die Laufzeit ist zu Ende. Wir haben Griechenland an dieser Stelle vom Markt genommen. Sie scheuen sich davor, zu sagen, wie viel Milliarden der Steuerzahler noch aufbringen muss, wenn Sie nicht bereit sind, sich an Reformprogrammen zu beteiligen, wenn Sie sich beim EFSF und bei den Griechenland-Hilfen enthalten. ({12}) Aufgrund der großen Verantwortung, die Sie haben, müssen Sie klarstellen, wo Sie bereit sind, mitzumachen, und an welcher Stelle Sie nur kritisieren und sich in die Büsche schlagen wollen. ({13}) Zum letzten Punkt. Im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, den wir jetzt erarbeiten, würde ich der SPD empfehlen, Herrn Sarrazin einmal ein bisschen genauer zuzuhören ({14}) - da braucht man nicht zu lachen -, und zwar Herrn Sarrazin von den Grünen. Arbeiten Sie gemeinsam mit der Koalition daran - das ist eine Einladung -, dass wir beim ESM eine gute Parlamentsbeteiligung erreichen. Ich persönlich kann an dieser Stelle nur sagen: Die bisherigen Verfahren beim EFSF reichen nicht aus. Hier muss mehr Transparenz, mehr Klarheit geschaffen werden. Aber ich will ausdrücklich für dieses Parlament sagen: Wir können uns in Zukunft nicht mehr dahinter verstecken, dass die Dinge auf der Regierungsebene entschieden werden. Wir müssen auch auf der Parlamentsebene regelmäßig und klar sagen, wann und warum wir unseren europäischen Freunden helfen. Herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bartholomäus Kalb für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir den Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung zustimmen, dann machen wir das mit Sicherheit nicht leichtfertig. Der Abstimmung gehen sehr intensive Beratungen voraus. Jeder Einzelne trifft eine Güterabwägung. Wir haben eine Verantwortung, und dieser muss sich jeder Einzelne stellen. Das gestehe ich jeder Kollegin und jedem Kollegen in diesem Hause zu. Trotzdem haben wir, wie bereits von den meisten Vorrednern gesagt, die wichtige Verpflichtung, für die Stabilität des Euros und damit für den gemeinsamen Euro-Raum und das gemeinsame Europa einzustehen. ({0}) Wir haben gestern im Haushaltsausschuss sehr lange und sehr intensiv beraten. Herr Kollege Schneider, darum kann ich Ihre Vorwürfe gegenüber dem Finanzminister überhaupt nicht teilen; ich muss sie zurückweisen. Sie haben den Begriff „verheimlichen“ gebraucht und gesagt, er hätte uns etwas verheimlicht. Der Bundesfinanzminister Dr. Schäuble hat sich gestern im Haushaltsausschuss nicht nur um das gesetzlich vorgesehene Einvernehmen bemüht, sondern in sehr umfassender und erstaunlich offener Art und Weise über alle Zusammenhänge informiert und alle Fragen beantwortet, die man normalerweise draußen auf der Straße nicht beantworten kann. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, an dieser Stelle ganz herzlich danken. ({1}) Ich möchte auf das zurückkommen, was Herr Steinmeier gesagt hat. Ich meine, hier ist in unzulässiger Vereinfachung einiges durcheinandergebracht worden, was die Refinanzierungsbedingungen beim EFSM und bei der EFSF auf der einen Seite und die Bedeutung von Staatsanleihen auf der anderen Seite anbelangt. Er hat sich für Euro-Bonds ausgesprochen. Wir sind ausdrücklich dagegen. Die Frage, wie sich die Bundesrepublik Deutschland refinanziert, ist eine ganz andere Frage als die, wie sich die anderen Institutionen refinanzieren. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass EZB, IWF und Kommission mit den Portugiesen ein sehr ehrgeiziges Programm ausgearbeitet haben, das die Grundlage der Hilfsmaßnahmen bilden wird. Wir werden natürlich daran beteiligt sein, entsprechend unserem Anteil an der EFSF in Höhe von 27 Prozent. Wir begrüßen ganz ausdrücklich, dass hier ein gemeinsames, ein sehr stringentes Programm mit dem Ziel vorgelegt worden ist, den portugiesischen Haushalt zu konsolidieren, aber auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Portugals zu erhöhen. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedanken einbringen. Ich könnte mir schon vorstellen - das ist eine Aufgabe nicht nur der Euro-Zone, sondern der Europäischen Union insgesamt -, dass überprüft wird, ob die in Rede stehenden Länder, die der Hilfe bedürfen, mit den zur Verfügung stehenden EU-Mitteln aus den verschiedenen Programmen umfangreichere Maßnahmen ergreifen könnten, um ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stärker zu verbessern, als das bisher der Fall war. Ein effizienterer Mitteleinsatz wäre hier sicherlich angesagt. ({2}) Vorhin ist von Kollegen darauf hingewiesen worden, wie bedeutsam die Stabilität des Euro für uns und die gesamte Euro-Zone im Hinblick auf unsere Marktsituation, unsere Wettbewerbssituation und unsere Exportsituation ist. Ein Kollege hat schon gesagt: Wir Deutschen hatten in den letzten Jahren Exporte in Höhe von 800 bis 900 Milliarden Euro zu verzeichnen; davon gingen rund zwei Drittel in den Bereich der Europäischen Union, davon wiederum der überwiegende Anteil in den Bereich der Euro-Zone. Man kann sich also leicht ausmalen, was die Stabilität des Euro für uns bedeutet. Deswegen sind diese Maßnahmen auch im deutschen Interesse. Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Zeitgründen kann ich auf viele andere Punkte, die angesprochen werden müssten, nicht mehr eingehen. Wir sind insgesamt für den Euro verantwortlich; es müssen nicht nur die Länder handeln, die jetzt der Hilfe bedürfen. Wir haben gerade ein nationales Programm grundgesetzlich verankert - und auf europäischer Ebene vereinbart -, das der Konsolidierung der Haushalte dient. Die Bundesrepublik Deutschland hat derzeit eine Verschuldung von 83 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Insofern müssen auch wir einen gewaltigen Beitrag leisten, damit wir auf den zulässigen Wert von 60 Prozent zurückkommen. Als größte Wirtschaftsnation in der Euro-Zone ist es nicht unbedeutend, wie wir uns verhalten und was wir hier tun.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

All diese Maßnahmen sind koordiniert vorzunehmen. Hätte man die Regeln des Maastricht-Vertrags, die Theo Waigel erarbeitet hat, durchgehend eingehalten und die Kriterien streng beachtet, dann hätten wir heute manches Problem nicht zu bewältigen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Meister ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Eindruck am Ende dieser Debatte ist, dass sie zwar sehr kontrovers war, es in diesem Haus aber gleichzeitig eine breite Zustimmung dafür gibt, die notwendige Hilfe für Portugal unter den genannten Kriterien und Konditionen zu gewähren und vonseiten des Bundestages ein klares Signal zu geben, dass wir dies für richtig halten. Das ist ein bemerkenswertes Signal. Wir machen von unserem Recht, als Parlament Stellung zu nehmen, heute Gebrauch. Ich will sagen: Wir tun das in verantwortlicher Weise. Deshalb sollte auch niemand Furcht haben, wenn wir dieses Parlamentsrecht bezogen auf den ESM einfordern. Wir zeigen heute, dass wir mit diesem Instrument verantwortlich umgehen. ({0}) Dass sich der Deutsche Bundestag in solche Debatten einschaltet, ist ein Beitrag zur Stärkung des Euro und nicht eine Infragestellung der Stabilität unserer Währung. ({1}) Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir den ESM schaffen, im Falle der Aktivierung des ESM eine Beteiligung des Deutschen Bundestages ausdrücklich vorsehen. Außerdem sollten wir für den Fall einer Veränderung der Instrumente des ESM einen Gesetzesvorbehalt schaffen. Das ist mein Verständnis davon, wie der Deutsche Bundestag mit diesen Dingen umgehen sollte. ({2}) Heute Morgen ist von verschiedenen Kollegen ein klares Bekenntnis zu Europa eingefordert worden. Ich glaube, niemand braucht die Unionsfraktion dazu aufzufordern. Ja, wir sind für Europa. Die Frage ist aber doch nicht, ob wir für Europa sind. Die Frage ist vielmehr, für welches Europa wir stehen. Herr Steinmeier, stehen wir für ein Europa, das Prinzipien hat, in dem jeder seine Verantwortung an seinem Platz wahrnimmt und wo jeder für das haftet, was er tut, und Eigenverantwortung übernimmt? ({3}) Stehen wir für ein Europa, in dem alle erkennen, dass wir eine gemeinsame Pflicht zur nachhaltigen Stabilität der Währung haben? Oder heißt „Bekenntnis zu Europa“ Laisser-faire? Heißt es: „Wir sagen Ja, und dann darf jeder tun, was er will, aber alle müssen die Folgen unverantwortlichen Handelns gemeinsam tragen“? Wir stehen für ein prinzipiengeleitetes Europa. Wir ringen darum, dass die Prinzipien auch in schweren Zeiten eingehalten werden. Denn wir benötigen sie für den dauerhaften Erhalt unserer Wertegemeinschaft. ({4}) Ich will darauf hinweisen, dass in der Regierungszeit des Bundeskanzlers Gerhard Schröder - damals hat der heutige Fraktionsvorsitzende der SPD Mitverantwortung getragen - an zwei Stellen wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass wir nun in einer schwierigen Lage sind. ({5}) Erstens. Die Aufnahme Griechenlands wurde genehmigt, ohne dass die Voraussetzungen erfüllt waren. ({6}) Da wurden Prinzipien verletzt. Das ist das Problem, über das wir reden: Halten wir Prinzipien ein, oder verletzen wir Prinzipien? ({7}) Zweitens. Wir als Deutsche haben im Rahmen der Debatte über den Maastricht-Vertrag nicht, wie wir es jetzt tun, darum gerungen, ihn zu stärken, um künftige Krisen zu vermeiden. ({8}) Es ist nur ein Beitrag dazu geleistet worden, die Voraussetzungen aufzuweichen und uns damit ein Stück weit in die Krise hineinzuführen. Deshalb sage ich: Wir brauchen Prinzipien und müssen auch in schwierigen Zeiten um diese Prinzipien ringen. ({9}) Es wird immer wieder die Führungsrolle Deutschlands eingefordert. Ich verstehe unter dem Begriff Führungsrolle nicht - das möchte ich ausdrücklich sagen -, dass man schaut, wohin alle laufen, und dann versucht, schneller zu laufen als alle anderen. Ich verstehe unter dem Begriff Führungsrolle, dass man nachdenkt, in welche Richtung man zu laufen hat. Man muss außerdem versuchen, in der Diskussion die richtige Richtung vorzugeben. An der Stelle möchte ich dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und unserer Bundeskanzlerin ein ausdrückliches Lob aussprechen. Denn nicht jeder führt die Diskussion über die richtige Richtung und steht dazu, wenn andere etwas leichtfertig damit umgehen. Deshalb möchte ich beide sowie die gesamte Regierung bestärken, darum zu ringen, dass wir in die richtige Richtung gehen und nicht nur schnell laufen. Das sollte geschehen, und dahinter sollten wir als Parlament stehen. Zur Frage der angemessenen Zinsen. Herrn Trittin sehe ich gerade leider nicht mehr, will aber seine Frage durchaus aufgreifen. Wir haben ein Jahrzehnt erlebt, in dem den Ländern, über die wir heute im Wesentlichen reden - die Peripherieländer -, durch den Beitritt zum Euro-Raum ohne jegliche Konditionen ein niedriges Zinsniveau gewährt wurde. ({10}) Sie hatten eine riesige ökonomische Chance, ihre Wirtschaft, ihren Wohlstand und ihren Arbeitsmarkt durch niedrige Refinanzierungskosten nach vorne zu bringen. Sie wurde leider nicht genutzt. ({11}) Es kann doch nicht sein, dass wir denselben Fehler zweimal machen. Vielmehr müssen wir diesen Ländern die Chance geben, Zugang zum Kapitalmarkt zu fairen Konditionen zu haben, indem wir sie durch unsere Hilfsaktionen, durch das Programm, dabei unterstützen. Wir müssen aber auch darauf achten, dass das Ganze wirklich zu einer nachhaltigen Veränderung der Strukturen in diesen Ländern führt, sodass sie wieder eine Chance haben, sich dauerhaft selbst am Kapitalmarkt zu finanzieren. Das muss der Weg sein. Es geht nicht, dass nach Hilfe gerufen, Geld gegeben und eigentlich keine Verantwortung für die Zukunft wahrgenommen wird. Meine Damen und Herren, ich will die Frage nach den Alternativen aufgreifen. Herr Schneider, ich habe viel Kritik gehört, was wo möglicherweise nicht richtig gemacht wird. Die Frage lautet doch: Wo ist denn der alternative Weg? Als wir vor vier Jahren über die Frage IKB diskutiert haben, gab es viele, die gesagt haben, wir sollten keine Banken retten. Als es einige Monate später zum Zusammenbruch von Lehman Brothers kam, haben viele gesehen, dass wir bei den Kosten plötzlich über ganz andere Größenordnungen reden. Noch sind wir in der Lage, zu überlegen, was die richtigen Schritte sind und wie wir die Situation im Hinblick auf unser Vorgehen kontrollieren. Wenn das Ganze außer Kontrolle gerät, wenn wir auf den Finanzmärkten und in der Wirtschaft über sich entwickelnde Ansteckungsgefahren plötzlich in eine unkontrollierbare Lage geraten, wird das, was wir derzeit als Hilfspakete diskutieren - der Überzeugung bin ich -, gemessen an den Folgekosten dann eher kleine Beträge bedeuten. Darum rate ich dringend, dass wir zwar kontrovers debattieren und die Argumente austauschen, dass wir aber nicht nur sagen, was der falsche Weg ist, ohne klar aufzuzeigen, wo die Alternative ist und welche Folgen sie hat. Ich glaube, wir müssen dabei die Sorgen der Menschen in Deutschland, aber auch in Portugal, Griechenland und Irland berücksichtigen. Denn wir müssen die Menschen überzeugen und dürfen nicht glauben, dass wir ihnen einfach sagen können, was richtig ist. Nein, wir müssen sie bei diesem Prozess mitnehmen. Es ist ein Prozess, den wir für sie durchführen und nicht für uns.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. Ich habe mit einem Auge auf die Uhr gesehen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute im Kern über die Aktivierung des Rettungsschirms für Portugal. Keiner von uns hat sich gewünscht, dass wir dies irgendwann einmal tun müssen. Aber wir haben vor einem Jahr in diesem Hohen Hause die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir bei Notfällen, wie aktuell in Portugal, in der Lage sind, zu helfen, und zwar ausreichend und so, dass diese Länder wieder auf den Wachstums- und Entwicklungspfad zurückkommen können. Ich will nur - es ist schon sehr viel gesagt worden ganz kurz auf das Memorandum of Understanding eingehen, das uns seit gestern vorliegt. Das wird die Grundlage für die Hilfen sein, die Portugal in den nächsten drei Jahren empfangen wird. Wenn man sich dieses Memorandum genau anschaut, stellt man fest: Es ist deutlich ausgewogener, als es das für Irland seinerzeit war. Dass unsere Kritik an jenem Memorandum of Understanding richtig war, zeigt, dass Irland Nachverhandlungen in dieser Frage führt. Nur ganz kurz ein paar Hinweise: Die Aufteilung, dass das Konsolidierungsprogramm in Portugal zu zwei Dritteln auf Ausgabenkürzungen, aber zu einem Drittel auf Einnahmeverbesserungen beruht, zeigt, dass es ausgewogener ist. Die Kürzungen müssen gemacht werden. Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit. Sie werden aber nicht bei den geringsten Renten durchgeführt, ebenso wenig bei den geringsten Löhnen. Dass aber die Mehrwertsteuer erhöht wird und Ausnahmen bei der Unternehmensteuer abgeschafft werden, ist ein richtiger Punkt. Ich glaube, dass dieses Konzept tragfähig sein wird. Wir wissen, dass es in Portugal im Moment nur eine amtierende Regierung gibt. Am 5. Juni sind dort Parlamentswahlen. Das ist unter diesen Bedingungen eine ganz schwierige Situation. Ich glaube aber, dass, egal welche Parteien eine Mehrheit im portugiesischen Parlament stellen, diese in der Lage sein werden, dieses ambitionierte Programm umzusetzen. Wir werden weiter darauf achten, dass das geschieht. Ich muss Herrn Trittin, der leider nicht mehr anwesend ist, an einer Stelle korrigieren, weil er das MemoMichael Stübgen randum of Understanding offensichtlich nicht richtig gelesen hat. Die Behauptung, es gäbe bei den deutschen Finanzierungen einen unseriösen Zinsaufschlag, ist falsch. Das ist ganz eindeutig geregelt: Bei den Finanzierungskosten soll es einen Aufschlag von 208 Basispunkten geben. Das heißt, die EFSF bekommt einen Aufschlag; sie finanziert sich zu ungefähr 3,6 Prozent. Beim IWF ist es niedriger. Deshalb wird ein niedrigerer Zins weitergegeben. Das gilt auch für die Europäische Kommission. Dadurch kommen die Zinsunterschiede zustande. Das hat aber nichts mit einem unsolidarischen Zinsaufschlag zu tun. Lassen Sie mich in den wenigen Minuten Redezeit, die ich noch habe, auf ein anderes Thema eingehen, das heute schon mehrfach angesprochen worden ist. Zurzeit befinden wir uns in den Verhandlungen zur Einrichtung des Europäischen Stabilisierungsmechanismus. Darüber wird in der Bundesregierung, in der Europäischen Kommission und in vielen Ausschüssen unseres Hauses debattiert. Unser Ziel ist es, einen dauerhaften Mechanismus zu schaffen. Bei diesem dauerhaften Mechanismus wollen wir aber Fehler, die wir bei den bisherigen Mechanismen erkannt haben, ausschließen. Deshalb unterstützt die CDU/CSU-Fraktion ganz nachhaltig das Ziel der Bundesregierung und insbesondere von Bundesminister Schäuble, dass dieser Mechanismus im Fall des Verlustes der Schuldentragfähigkeit, das heißt der drohenden Insolvenz, zwingend die Gläubigerbeteiligung vorsieht. ({0}) Es ist bedauerlich, dass wir mit dieser Forderung in fast allen anderen Euro-Ländern auf extremen Widerstand stoßen. Diese Auseinandersetzung müssen wir aber führen und gewinnen; denn sonst wird das kein nachhaltiger und tragfähiger Konsolidierungsmechanismus werden. In einem Punkt besteht im Moment noch eine Differenz zwischen der Auffassung der Bundesregierung und zumindest den Europapolitikern im Bundestag; auch darauf will ich kurz eingehen. Es geht um die grundsätzliche Frage der Konstruktion des ESM und seiner Zuordnung. Die Bundesregierung hat uns in mehreren Schriftsätzen mitgeteilt, dass sie davon ausgeht, dass der Europäische Stabilisierungsmechanismus eine internationale Finanzorganisation wie IWF, Weltbank etc. sein soll. Ich glaube, es gibt einige gute Gründe für diese Auffassung. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass diese Auffassung schlussendlich nicht tragfähig sein wird. Dazu noch einige kurze Sätze. Der Europäische Stabilisierungsmechanismus wird eine europäische Angelegenheit sein. Er wird eine Institution nach dem europäischen Komplementärrecht sein. Das sieht man erstens daran, dass wir für die Einrichtung den europäischen Vertrag ändern müssen. Das wäre nicht nötig, wenn das eine unabhängige Institution werden würde. Zweitens werden die Europäische Kommission und die EZB eine ganz herausgehobene Funktion hinsichtlich der Arbeit des ESM bekommen. Das Europäische Parlament erhält Informationsrechte hinsichtlich der Arbeit des ESM. Der Europäische Gerichtshof wird bei Auseinandersetzungen letztinstanzlich entscheiden. Die Finanzminister der Euro-Länder und nicht von den Parlamenten gestellte Experten werden der Gouverneursrat dieser Einrichtung sein. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass die Grundlage für die Regelung der Rechte des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit dem ESM - Beteiligungs- und Informationsrechte der Europa-Artikel des Grundgesetzes, also Art. 23 des Grundgesetzes, sein muss. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns am Ende darauf einigen werden. Noch ein Hinweis.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Herr Stübgen!

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig. - Wir sollten den ESM anders als den EFSF und den Griechenland-Fonds mit einer großen Mehrheit im Bundestag beschließen. Dazu haben wir jetzt die Chance, und diese sollten wir nutzen. Lassen Sie uns dafür arbeiten, dass wir das Gesetzeswerk am Ende dieses Jahres mit großer Mehrheit beschließen können! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/5797. Hierzu liegen mir neun persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll beifügen1). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mehrheitlich angenommen. ({0}) - Das ergibt sich ja auch aus den angekündigten Erklä- rungen zur Abstimmung, die dem Protokoll beigefügt werden, wie von mir vor der Abstimmung mitgeteilt. An der mehrheitlichen Zustimmung wird von niemandem ernsthaft Zweifel angemeldet. Dann halten wir auch das noch einmal so fest. Nun stimmen wir über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5798 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Entschlie- ßungsantrag ist genauso unzweifelhaft mit Mehrheit ab- gelehnt. 1) Anlagen 3 bis 5 Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Modernisierung der Stromnetze - Bürgernah, zügig, für erneuerbare Energien - Drucksache 17/5762 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch diese Aussprache 90 Minuten andauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wieder heißt es in den letzten Tagen, das Nadelöhr für die Energiewende sei der Netzausbau. Zunächst einmal muss man sagen, dass das Datum für den endgültigen Atomausstieg nicht am Netzausbau hängt. ({0}) Schon in wenigen Jahren kann durch die fossilen Kraftwerke, deren Bau sowieso nicht mehr zu stoppen ist, die Versorgungssicherheit in allen Regionen Deutschlands - auch ohne die Atomkraftwerke - sichergestellt werden. Aber natürlich brauchen wir die Netze für die Energiewende, Netze für erneuerbare Energien, Netze für die dezentralen Erneuerbaren, und zwar in bedeutendem Umfang und auf allen Ebenen. Wir brauchen Smart Grids, aktuell brauchen wir Verteilnetze, bald auch dringend Übertragungsnetze. Da habe ich eine erfreuliche Nachricht: Gerade durch den schnellen Atomausstieg wird der Netzausbau deutlich erleichtert. Eine wirkliche Energiewende ist die Voraussetzung für Akzeptanz. Nur wenn Sie es mit der regenerativen Zukunft ernst meinen, werden die Menschen neue Stromtrassen in ihrer Heimat akzeptieren. ({1}) Viele derjenigen, die hier in Berlin am lautesten schreien, der Netzausbau gehe nicht, die Bürger seien ja dagegen, haben nie mit den Bürgern vor Ort gesprochen. ({2}) Bei vielen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern vor Ort habe ich einiges gelernt. Wir haben eine Umfrage bei 25 Bürgerinitiativen durchgeführt. Das Ergebnis macht Mut. Keine einzige der Bürgerinitiativen ist grundsätzlich gegen den Ausbau der Stromtrassen, ({3}) auch nicht vor ihrer eigenen Haustür, wenn die Netze wirklich für erneuerbare Energien gebaut werden, die Bürger ernsthaft beteiligt werden und Innovation ermöglicht wird. ({4}) Die größten Bremser des Netzausbaus sind nicht die Bürgerinnen und Bürger, es waren schon immer die Atomkonzerne, die die Netze als das Einfallstor begreifen, durch das die erneuerbaren Energien ihnen Marktanteile abnehmen werden. ({5}) Wir von den Grünen stehen zu unserer Verantwortung. Deshalb haben wir schon vor Fukushima ein Konzept zum Netzausbau vorgelegt. Auch in dem heute vorliegenden Antrag zeigen wir auf, wie der Netzausbau vonstatten gehen kann. Hier die drei wichtigsten Punkte: Erstens. Wir brauchen eine transparente Bedarfsplanung. Die Idee der Netzentwicklungspläne geht in die richtige Richtung. Es ist gut, dass Sie unterschiedliche Szenarien prüfen wollen. Aber Sie machen sich von den vier großen Netzbetreibern abhängig, und Sie wollen nicht einmal ein Szenario vorlegen, in dem glaubwürdig ein schneller Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien dargestellt wird. Wir fordern: Daten in öffentliche Hand, nachvollziehbare Berechnung und wirkliche Transparenz. Welche Leitungen werden für erneuerbare Energien gebraucht und welche nicht? ({6}) Zweitens. Echte Bürgerbeteiligung bedeutet: Die Bürger werden ganz am Anfang des Verfahrens beteiligt, wenn noch nicht alles entschieden ist. Dies bedeutet, dass auch andere Akteure als die Netzbetreiber Vorschläge einbringen können, die diskutiert werden. Vor allem bedeutet es, dass wirklich etwas entschieden werden kann. Ein runder Tisch, bei dem schon am Anfang feststeht, dass sowieso nur wieder die Freileitung mit den alten Gittermasten infrage kommt, ist eine Farce. Echte Bürgerbeteiligung braucht Gestaltungsspielräume. Wir müssen auch finanzielle Gestaltungsspielräume öffnen. Wenn es nicht wirklich etwas zu entscheiden gibt, dann ist eine Informationsoffensive, wie sie im Papier der Bundesregierung beschrieben wird, nichts anderes als eine Verschwendung von Steuermitteln für einen PRGag. Das wird nicht helfen. ({7}) Drittens. Wir brauchen technische Innovationen, viel mehr Erdkabel, Smart Grids und Gleichstromübertragungen. Ich erkenne bei Ihnen leichte Fortschritte in diese Richtung, aber noch gleicht Ihr Fortschritt einer Schnecke. Dabei können Sie sich ruhig trauen. Die Innovationen bei der Stromübertragung sind nicht zu teuer. Das Höchstspannungsnetz trägt nur mit winzigen 2,5 Prozent zu den Stromkosten bei. Wir können es uns leisten, auch bei den Stromnetzen Hightechland zu bleiben. Ich komme zum Schluss. Wir können die Netze ausbauen - der schnelle Atomausstieg ist der erste Schritt hierzu -, wenn wir alle hier im Parlament unserer Verantwortung gerecht werden. Ich bin bereit, einen fairen Netzausbau zu unterstützen. Wir können die Stromnetze ausbauen. Aber das geht nur mit den Bürgerinnen und Bürgern. In diesem Sinne bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fukushima ist immer noch auf der Tagesordnung - und das zu Recht. Es erfüllt uns alle mit erheblicher Sorge. Das Moratorium war deswegen eine richtige Entscheidung. Wir haben Zeit gebraucht und brauchen auch noch Zeit, die sehr intensiv genutzt werden muss, um so schnell wie möglich in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu kommen. Nur muss es dabei immer drei Grundvoraussetzungen geben. Die lauten für mich: bezahlbar, zuverlässig und sauber. Sauber heißt: Wir müssen den Umstieg möglichst CO2-frei gestalten. Es darf daher nicht sein, dass wir das Energiekonzept aus den Augen verlieren. Wir wollen den benötigten Strom in Zukunft eben nicht importieren. Das ist aber das, was wir zurzeit machen müssen, weil wir, nachdem acht Kernkraftwerke von den Netzen gegangen sind, eben nicht genügend Strom haben. Die Bundesnetzagentur hat bekannt gegeben, dass pro Tag zwischen 2 000 und 5 000 Megawatt - manchmal sogar 6 000 Megawatt - importiert werden. Wie wollen wir die Kernkraftwerke zukünftig ersetzen? Sind Gas- und Kohlekraftwerke geeignet, die Stromversorgung zu sichern? Unser Problem ist, dass wir gesicherte Leistung brauchen. Nur wird das mit Blick auf die Klimaschutzvorstellungen, die wir haben, schwierig werden; denn wir müssen dann gleichzeitig versuchen, an anderer Stelle CO2 einzusparen. Das alles auf einmal zu bewerkstelligen, dürfte nicht sehr einfach sein. Allein die acht Kernkraftwerke, die wir zurzeit vom Netz genommen haben, ersparen uns knapp 50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, wenn sie unter Volllast laufen würden. Welchen Preis sind wir bereit für den Ausstieg zu zahlen? Frau Kollegin, Sie sprachen davon, das sei gar nicht so teuer, es seien Mehrkosten von ungefähr 2 Prozent. Der dena-Chef hat gesagt: Wenn wir die benötigten Netze auf einer Länge von 4 400 Kilometern ausbauen würden, würde allein das - und zwar unter der Annahme, dass wir nur Freileitungen bauen - den Strompreis um 0,5 Cent verteuern. ({0}) Das kostet 0,5 Cent pro Kilowattstunde. Wenn wir zur Erdverkabelung übergehen, wird es - ich komme darauf noch zurück - erheblich teurer. ({1}) Die Grünen behaupten, dass man Windkraftanlagen im Süden bauen könne und dass man dann gar nicht so einen großartigen Netzausbau brauchen würde. Das wage ich zu bezweifeln; denn die sogenannte Windernte ist im Süden deutlich geringer als im Norden unseres Landes. ({2}) Dass im Meer aufgrund wesentlich höheren Windaufkommens deutlich mehr Strom produziert werden kann, ist eine Tatsache. Wir haben offshore rund 3 000 Windstunden und onshore 1 870 Windstunden. Das sind Fakten, die auf dem Tisch liegen. Die Frage, wie die Grünen das in Baden-Württemberg machen wollen, finde ich spannend. Ich habe Ihren Koalitionsvertrag gelesen. Da steht drin, dass Sie den Windkraftanteil von heute 0,7 Prozent innerhalb von fünf Jahren auf 10 Prozent erhöhen wollen. ({3}) Bis jetzt gibt es in Baden-Württemberg 450 Windkraftanlagen. Das würde bedeuten, dass es die Grünen schaffen müssten, in fünf Jahren 5 000 bis 6 000 zusätzliche Windkraftanlagen zu bauen. ({4}) Das dürfte ziemlich ungemütlich werden. Ich bin sehr gespannt, ob es die Bevölkerung akzeptieren würde, wenn auch im Schwarzwald und auf dem Feldberg Windkraftanlagen gebaut würden; vielleicht kann man sie ja als Slalomstangen benutzen. ({5}) Vielleicht werden aber auch Offshorewindkraftanlagen im Bodensee gebaut. Das hätte einen Vorteil: Dort könnte man das ganze Jahr lang Offshorewindkraftanlagen bauen, weil es dort keine Schweinswale gibt. ({6}) Ich denke, dass wir auf diesem Sektor sehr vorsichtig sein müssen. Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölkerung. Ich kann mir vorstellen, dass die Akzeptanz der Bevölkerung, wenn zu viele solcher Anlagen gebaut werden, nicht allzu groß sein wird. Dennoch ist es notwendig - das dürfen wir nicht wegdiskutieren -, den Netzausbau voranzubringen. Ohne den Netzausbau funktioniert das ganze System nicht. Der Netzausbau muss von Nord nach Süd erfolgen. Wir brauchen drei große Trassen à 1 000 Kilometer Länge, die ungefähr 60 Meter breit sind. Dafür müssen wir die notwendigen Gesetze schaffen. Das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das der Bundeswirtschaftsminister plant, ist sinnvoll und richtig. Jeder in diesem Hohen Hause ist gefordert, Vorschläge zu machen, wie wir den Netzausbau beschleunigen können. Es darf nicht mehr so sein, dass es in dem einen Bundesland einen Bebauungsplan gibt, in dem anderen Bundesland aber nicht, sodass der Netzausbau an der Grenze stecken bleibt. Wie Sie wissen, ist laut dena-Netzstudie I bis jetzt ein Netzausbau von 900 Kilometern geplant. Davon sind gerade einmal 10 Prozent gebaut. Dafür haben wir fünf Jahre gebraucht. Wenn wir in dieser Geschwindigkeit weitermachen, werden wir den Netzausbau überhaupt nicht bewältigen. ({7}) Es wird höchste Zeit, dass wir alle nach Lösungen suchen. Am Anfang dieses Prozesses kann gerne eine Bürgerbeteiligung stattfinden. Aber danach muss es schnell gehen. Dann darf nicht mehr jeder sagen: „Jetzt klage ich noch gegen dieses und jenes.“ ({8}) Außerdem werden wir darüber zu diskutieren haben, wie wir im Rahmen des Netzausbaus dafür sorgen können, dass die Erdverkabelung vernünftig durchgeführt wird. Mit dem Thema Erdverkabelung muss man sich beschäftigen. Es handelt sich dabei nämlich um eine völlig neue Technologie, die noch nicht erprobt ist. Wir haben die EnLAG-Novelle verabschiedet, in der steht, dass diese Anlagen jetzt erprobt werden sollen. Bis heute ist noch keine einzige in Betrieb. Hinzu kommt, dass sie technisch hochkomplex sind. Die Kabel müssen gut 1,50 Meter tief im Boden verlegt werden, und zwar in Betonrohren. Das bedeutet zum Beispiel, dass man in der freien Flur Brücken bauen muss, damit dort auch schwere Landmaschinen fahren können. Entlang der Kabelschächte muss eine Revisionsstraße verlaufen. Bei den Menschen wird es keine besonders große Freude auslösen, wenn wir in Naturschutzgebieten Straßen bauen. Wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, dass alle 900 Meter sogenannte Muffenhäuschen gebaut werden müssen. Dort müssen die Kabel, weil ihre Länge 900 Meter beträgt, aneinandergeflanscht werden. Außerdem muss ein Betonhäuschen drum herum gebaut werden. Das wird, was die Landschaftsästhetik betrifft, nicht besonders schön sein. Darüber sollte man sich im Klaren sein. ({9}) Wichtig ist mir Folgendes: Wir müssen all dies so schnell wie möglich testen und beschleunigt durchführen. Herr Kohler von der dena hat vor einigen Tagen bekannt gegeben, dass wir eine Ausbaugeschwindigkeit von mindestens 500 Kilometern pro Jahr erreichen müssen. Das bedeutet, ganz nebenbei, dass wir noch neun Jahre brauchen, bis wir das komplette Netz ausgebaut haben. Dass wir dieses Ziel mit den jetzigen Gesetzen erreichen werden, stelle ich infrage. Ich fordere uns alle auf, dazu beizutragen, dass wir eine Beschleunigung des Netzausbaus hinbekommen. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir unsere Ziele im Hinblick auf die erneuerbaren Energien nicht erreichen. Dann wird auch ein Ausstieg aus der Kernenergie nicht so schnell möglich sein. Das hängt direkt miteinander zusammen. ({10}) Ich wünsche mir von Ihnen konkrete Vorschläge. Ich wünsche mir von Ihnen, dass Sie Ihre eigenen Leute vor Ort bremsen und dafür sorgen, dass sie konstruktiv mitmachen. Es bringt nichts, in Berlin dafür zu sein und vor Ort dagegen. ({11}) Dabei können Sie mithelfen. Dabei sind Sie alle gefordert. Wenn Sie das nicht tun, helfen Sie nicht mit, den Energiewandel so schnell wie möglich zu gestalten. Dazu fordere ich Sie auf. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Fuchs, Ihre Kollegen aus der Unionsfraktion haben in den letzten Tagen immer wieder gesagt, sie hätten eine Menge gelernt. Wenn man Ihre Rede eben verfolgt hat, dann weiß man nicht, ob man das auf die gesamte Fraktion beziehen darf. ({0}) Jedenfalls wünsche ich mir, dass Sie bei dem, was Sie in den nächsten Wochen und Monaten im Bereich der Energiepolitik tun, tatsächlich auf Konsens setzen und Brücken bauen, statt wieder Gräben zu ziehen, wie Sie es in dieser Rede getan haben. ({1}) Wir haben bis zur Sommerpause einiges vor. Wir reden heute über den Netzausbau. Der Netzausbau ist aber nur in einem Gesamtkonzept zu verstehen, das bis zur Sommerpause vorliegen muss. Ich will etwas dazu sagen, was auf der Tagesordnung steht. Nachdem die Kommissionen ihre Berichte vorgelegt haben und das Kabinett im Juni entschieden hat, soll bis Anfang Juli im Bundestag und anschließend im Bundesrat Folgendes beschlossen werden: Novellen des Atomgesetzes, Energiewirtschaftsgesetzes und Netzausbaugesetzes, das Bauplanungsgesetz sowie Anpassungen im Gesetz zum Energie- und Klimafonds, in den EEG-Eckpunkten, den Eckpunkten zur Energieeinsparverordnung und im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz. Ich glaube, es wird deutlich, dass wir dabei vor einer sehr großen Aufgabe stehen und dass vieles dafür gesprochen hätte, die Zeit zu nutzen und diese Themen von Anfang an im Bundestag und in geeigneten Gremien, zum Beispiel in einem Sonderausschuss, vorzubereiten. ({2}) Das Thema Netze ist in der Tat - das ist schon in der Rede von Frau Nestle angeklungen - ein Kernpunkt im Gesamtkonzept. Es ist sozusagen das Nadelöhr: Wenn wir bei dem Thema nicht vorankommen, dann wird es bei allen anderen schwierig, insbesondere bei der Integration und beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien, aber auch bei allen Veränderungen im sonstigen Kraftwerkspark. Deswegen ist es selbstverständlich unsere gemeinsame Verantwortung, alles zu tun, um zu den notwendigen Netzinvestitionen zu kommen. Diese brauchen wir beispielsweise zur Anbindung der Offshorewindenergie und zum Ausgleich der Volatilitäten von erneuerbaren Energien, insbesondere von Windkraft und Photovoltaik. Wir brauchen dazu auch Leitungen, die zum Teil außerhalb unserer Landesgrenzen sind, beispielsweise Interkonnektoren nach Skandinavien, um die dortigen Speicherkapazitäten zu nutzen. Das ist übrigens im beiderseitigen Interesse. Denn es führt auch gleichzeitig zu einer besseren Nutzung der Wasserkraft für die Stromerzeugung in Norwegen. Dahinter stehen also durchaus belastbare Geschäftsmodelle. Wir stehen vor einer besonderen Herausforderung, weil wir gleichzeitig in großen Zusammenhängen denken müssen, was Europa angeht. Es geht darum, das Netz in Europa insgesamt auszubauen. Das muss in Deutschland so erfolgen, dass es mit dem europäischen Stromhandel vereinbar ist. Gleichzeitig brauchen wir auf der lokalen Ebene, also dezentral, Investitionen insbesondere in die Verteilnetze, die es ermöglichen, dass gerade Photovoltaik, aber auch erneuerbare Energien allgemein in das System integriert werden. Wir stehen vor quantitativen, aber vor allen Dingen auch vor qualitativen Herausforderungen. Ich darf an dieser Stelle das Stichwort „intelligente Netze“ erwähnen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es jetzt besonders wichtig, über Verfahren zu sprechen, die anders als in der Vergangenheit tatsächlich zu Beschleunigungen führen. Denn es ist richtig, was Herr Fuchs gesagt hat: Es ist ernüchternd, in welchem Umfang etwa die dena-I-Projekte bisher realisiert worden sind, nämlich nur zu 10 Prozent. Aus der dena-Netzstudie II wird deutlich - egal wie man sie interpretiert und ob man eher vom oberen oder vom unteren Rand der Ausbaunotwendigkeiten ausgeht -, dass wir vor weiteren Herausforderungen stehen. Es ist richtig, bei der Akzeptanz der Bevölkerung - das ist der entscheidende Punkt - anzusetzen; dazu ist gerade schon einiges gesagt worden. Um die Akzeptanz der Bevölkerung geht es übrigens nicht nur im Energiebereich und insbesondere beim Netzausbau, sondern auch bei anderen Infrastrukturprojekten. Deswegen sage ich gerade in Richtung der Regierungskoalition: Das, was Sie bei CCS gemacht haben, konnten Sie sich bei diesem Thema vielleicht leisten. Sie werden sich das Gleiche aber beim Netzausbau und bei den Gesetzen, die ich vorhin aufgeführt habe, nicht leisten können. Sie können nicht jeder Schwierigkeit, jedem Mangel an Akzeptanz - auch in Ihren eigenen Reihen auf Landesebene ausweichen, indem Sie Opt-out-Regelungen schaffen, die es den Ländern erlauben, nicht mitzumachen. ({3}) Das wird nicht gehen, wenn wir tatsächlich einen Energiekonsens erzielen und die Energiewende in diesem Land schaffen wollen. Legen Sie also Gesetzentwürfe vor, die mit den Ländern so abgestimmt sind, dass wir zumindest auf der politischen Ebene einen Konsens erreichen können! Die Reaktionen der Länder auf die von Ihnen vorgelegten Eckpunkte eines Netzausbaugesetzes stimmen bisher nicht sehr optimistisch. Ich gebe Ihnen in der inhaltlichen Grundausrichtung nicht unrecht. Ja, wir brauchen eine Art Bundesnetzplan. Ja, wir brauchen auch eine engere Verzahnung von Bundes- und Länderebene. Aber es macht keinen Sinn, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen und den Ländern aufzuoktroyieren, dass das gesamte Verfahren inklusive des Planfeststellungsverfahrens auf der Bundesebene durchzuführen ist. Das kann man empfehlen, wenn man Berater der Bundesregierung ist. Aber die Politik muss wissen, dass es eine geteilte Verantwortung in diesem Land gibt. Das können wir nicht einfach wegwischen. Es geht eher darum, intelligente Lösungen zu finden, wie wir zu Beschleunigungen kommen, etwa durch die Zusammenlegung von Verfahren, durch eine zeitlich pa12312 rallele Abwicklung von Verfahren und durch Vermeidung von Doppelprüfungen. Hier erwarten wir von Ihnen konkrete Vorschläge. Beteiligungsrechte, egal ob von den Menschen vor Ort oder von den Bundesländern, dürfen dabei jedenfalls nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Netzausbau ist nur ein Teil des Energiekonsenses, den wir in diesem Land benötigen. Es gibt viele andere Fragen, die wir in den nächsten Wochen zu beantworten haben. Wenn Sie einen parteiübergreifenden Konsens wollen, dann müssen Sie sich bewegen. Dann müssen Sie bis zur Sommerpause Vorschläge zu allen zentralen energiepolitischen Themen vorlegen. Sie müssen mit uns vorher reden, um auszuloten, wie sich beide Seiten bewegen müssen, damit es am Ende ein parteiübergreifendes Konzept gibt. Das hätte einen Wert an sich, weil die Investitionszyklen im Energiesektor sehr lang sind und weil die gesamte Branche - sie ist sehr vielfältig; es geht nicht allein um die großen Energiekonzerne, sondern vor allen Dingen auch um die vielen Stadtwerke und die neuen Akteure auf dem Markt - verlässliche und langfristig geltende Rahmenbedingungen braucht. Ich wünsche mir, dass wir eine Einigung erreichen, der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zustimmen können. Nur dann sind wir sicher, dass wir in der nächsten Legislaturperiode nicht wieder von vorne anfangen müssen. Noch wichtiger: Nur dann sind die Akteure in der Energiewirtschaft und der energieverbrauchenden Wirtschaft sicher, dass das, was wir heute beschließen, auch morgen und übermorgen gilt. Wir brauchen also belastbare Vorschläge, etwa beim Ausbau der erneuerbaren Energien und bei der Systemintegration der erneuerbaren Energien. Möglicherweise werden sich Rot und Grün auf der einen Seite sowie Schwarz und Gelb auf der anderen Seite relativ schnell einigen. Aber wir brauchen einen breiteren Konsens. Wir brauchen auch eine Abstimmung in der Frage: Wie gehen wir in der Übergangsphase, bis wir 100 Prozent erneuerbare Energien erreicht haben, mit dem konventionellen Kraftwerkspark um? Ich glaube, dazu ist ein besonderer Dialog zwischen Rot und Grün gefragt. Sie werden sich innerhalb der Koalition vielleicht leichter tun. Aber am Ende müssen wir eine Lösung finden, in der wir uns alle wiederfinden können. Auch da gilt - Sie haben beispielsweise die Unterstützung des Wirtschaftsministeriums und des Umweltministeriums -: Sie sind gefordert, im Vorfeld belastbare Vorschläge zu machen, nachdem Sie hoffentlich auch zeitnah den Dialog mit uns begonnen haben. Dies sind nur zwei Beispiele, bei denen wir eine Verständigung brauchen. Man könnte noch weitere anführen. Dazu gehört beispielsweise die Frage: Wie halten wir es mit der Industrie in diesem Land? Ich höre aus allen Fraktionen das Bekenntnis: Wir wollen Industriestandort bleiben! - Dann müssen wir aber auch das Notwendige dafür tun, damit wir es tatsächlich bleiben können. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben zu diesen Themen Vorschläge gemacht. Wir haben ein Energieprogramm vorgelegt, das wir in der letzten Sitzungswoche offiziell als Drucksache in die Debatte eingebracht haben. Wir sagen nicht: „Vogel friss oder stirb!“, sondern das ist ein Angebot. Schauen Sie es sich bitte an! Wir sind auch überhaupt nicht böse, wenn Sie daraus abschreiben. Ich verspreche Ihnen: Wir werden Sie nicht wegen Diebstahl geistigen Eigentums verklagen, es gibt nicht die nächste Plagiatsaffäre. Im Gegenteil: Wir würden Sie dafür loben; denn das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung eines breiten Energiekonsenses. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDPFraktion. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der bedingungslose Kampf gegen die Kernkraft das ist die grüne Stoßrichtung dieses Antrags, sonst nichts. Ein geordneter Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien wird dabei zur Nebensache, er ist lästiges Beiwerk. Die Bemerkung in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung seit Jahren nur Marionette der Stromkonzerne sei, kann ich nur auf die grün-rote Regierung Fischer/ Schröder beziehen, sonst wäre Ihre Behauptung einzig und allein eine Beleidigung und zugleich ein geistiger Tiefflug. ({0}) Denken Sie bitte daran, dass Sie damit auch Tausende von Mitarbeitern der Energieunternehmen verunglimpfen. Vorbildlich ist da der einmütige Appell der Ethikkommission unter Klaus Töpfer, derartige Verunglimpfungen zu unterlassen. ({1}) Zur Sache: Die Folge des von den Grünen vorgeschlagenen Atomausstiegs wäre ein Wegfall der Kernkraftwerke bis zum Jahr 2017. Diese müssten wir zunächst weitestgehend durch fossile Kapazitäten und Stromimporte ersetzen. Gleichzeitig müssten wir wegen fehlender Netze hohe Windstromüberschüsse ins Ausland exportieren. So weit meine Bemerkung zum unreflektierten Antikernkraftdenken. Das ist nun wirklich kein vernünftiger Weg zu den erneuerbaren Energien. Vernünftig ist die sinnvolle Beschleunigung des Netzausbaus, so wie es bereits in unserem Energiekonzept steht und wie es in den Vorhaben der Regierung umgesetzt wird. ({2}) Das Lesen Ihres Antrags weckt in mir vor allem einen Gedanken: Glauben Sie wirklich, was Sie da so schreiben? Oder dient das gebetsmühlenhafte Wiederholen falKlaus Breil scher Behauptungen lediglich der Mobilisierung einiger Ihrer Aktivisten und Sympathisanten? ({3}) Sie wiegeln die Bevölkerung auf. Die Bürger sollen sich gegen große Unternehmen auflehnen. Alles Große ist in Ihren Augen von vornherein böse, der Dämon. Dieses grundsätzliche Misstrauen gegen jede Wirtschaftlichkeit und Skaleneffekte ist es auch, was mich grundsätzlich an Ihrer Politik stört. ({4}) Es riecht schon nach bewusster Agitation, wenn Sie die Netzbetreiber in aller Öffentlichkeit ständig mit Atomkonzernen gleichstellen. Sie wissen selbst: Das stimmt nicht. Sie propagieren bewusst etwas Falsches.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Breil, darf ich Sie kurz unterbrechen? Frau Kollegin Nestle würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Nestle.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Weil Sie mir jetzt zweimal vorgeworfen haben, bewusst falsche Tatsachen darzustellen, möchte ich Sie einfach nur fragen: Was ist Ihrer Meinung nach in unserem Antrag an falschen Tatsachen wiedergegeben?

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, das habe ich Ihnen ja gesagt, und das werde ich Ihnen im weiteren Verlauf noch sagen. ({0}) - Ich kann die Rede ja noch einmal von vorn beginnen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Breil, Sie haben das Wort.

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie wissen es selbst: Es stimmt nicht. Sie propagieren nämlich bewusst Falsches. Zwei der vier Energiekonzerne haben ihre Netze bereits verkauft. Diese Netze werden von den neuen Eigentümern eigenständig und unabhängig betrieben. Ich meine TenneT und 50 Hertz. Die Amprion GmbH als Tochtergesellschaft der RWE AG ist gemäß den Anforderungen des Energiewirtschaftsgesetzes rechtlich eigenständig und befindet sich übrigens gerade im Verkaufsprozess. EnBW ist überwiegend in staatlichem Besitz und hat seit ein paar Wochen ein Mitglied Ihrer Grünen im Aufsichtsrat. Zudem will der jetzt neue Umweltminister in Baden-Württemberg ja ohnehin das EnBW-Netz verkaufen, um seine alternativen Umstiegsfantasien bezahlen zu können. Auch die weiteren Punkte sind altbacken und fade. Die zentralen Ideen Ihres Antrags können Sie alle im Energiekonzept der Bundesregierung, in der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz ({0}) oder in den Vorschlägen des Bundeswirtschaftsministers zu einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz finden. Ich meine damit den Bundesfachplan für Hochspannungsnetze, den Ruf nach Vereinfachung der Verfahren, die Trennung von Netz und Erzeugung und die Forderung nach Smart Grids. In diesem Sinne begrüße ich sogar Ihre Forderungen, übrigens ganz im Gegenteil zu den Sozialdemokraten, Ihren Wunschpartnern. Der ehemalige Staatssekretär im BMU und jetzige Wirtschaftsminister von Thüringen, Matthias Machnig, hat am vergangenen Dienstag beispielsweise eine Bundesfachplanung abgelehnt. ({1}) Doch werden wir konkret: Ich fordere Sie vor diesem Hohen Hause auf, die Notwendigkeit des Netzausbaus, wie in Ihrem Antrag auch beschrieben, in Ihre grüne Basis hineinzutragen. Überzeugen Sie die Leute vor Ort! Ich bin wirklich gespannt, wie Ihnen dies gelingen wird. Allerdings sind wir uns in manchen Punkten auch einig: Auch wir wollen eine frühzeitige und intensive Bürgerbeteiligung und eine hohe und frühzeitige Verfahrenstransparenz. Wir wollen die heute üblichen Doppelprüfungen durch Bürgerbeteiligung zu denselben Sachpunkten in der Raumordnung und in der Planfeststellung vermeiden. Allerdings sind die staatliche Kontrolle der Netzbetreiber und deren Gängelung zu Investitionen, wie Sie das fordern, absolut überflüssig. Das kann ich Ihnen durch folgende Zahlen belegen. Die beiden schon jetzt unabhängigen Übertragungsnetzbetreiber sind im vergangenen Jahr Investitionsverpflichtungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro eingegangen: TenneT mit 2,5 Milliarden Euro, 50 Hertz mit 1,6 Milliarden Euro. Sie planen bis 2020 eine Verdoppelung dieser Anstrengungen: TenneT 6 Milliarden Euro und 50 Hertz 3,3 Milliarden Euro. Dort, wo Sie die Netzbetreiber nicht auf den geballten Widerstand von professionell organisierten Gegnern stoßen lassen - ich meine hier nicht die berechtigten Inte12314 ressen der anwohnenden Bürger -, geht es mit dem Netzausbau auch voran. Kommen wir nun zu einem Schlagwort Ihres Antrags, den Sanktionen. Die derzeitige Sachlage ist bekannt: Hat ein Netzbetreiber schuldhaft nicht investiert und Leitungen nicht ausgebaut, dann wird der Bau dieser Leitung ausgeschrieben. Infolgedessen bekommt derjenige mit dem besten Angebot den Zuschlag für die jeweilige Trasse. Die schon bestehende Regelung ist also folgerichtig und vernünftig. Ihre Forderungen bezüglich der Nutzung vorhandener Infrastrukturen sind ebenso altbekannt. Die Bahntrassen sind zum Beispiel nicht breit genug für 380-kV-Leitungen. Deren 40-Meter-Schneisen reichen für den Bau nicht aus. Für die neuen Leitungen bräuchte man mindestens rund 60 Meter; auch die Masten müssten deutlich erhöht werden. Beides hätte zur Folge, dass die Netzbetreiber - nach geltendem Recht - neue Verfahren anstrengen müssten, und das nicht ganz zu Unrecht. Schauen Sie beim Bahnfahren doch mal aus dem Fenster: Sie sehen Häuser, Sie sehen Fabriken, Sie sehen Gärten; die stehen einem Ausbau oft im Wege. Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie uns zur Beschleunigung des Netzausbaus vorlegen, zeigt einzig und allein Ihr eigenes Dilemma. Es ist das Dilemma zwischen Ihren frommen Wünschen in Berlin und der selbst heraufbeschworenen Realität vor Ort. Es sind die Geister, die Sie riefen und die Sie nicht mehr loswerden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! 2004 wurde in Zusammenarbeit mit unter anderem drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschland eine Studie angefertigt. In dieser Studie wurde vorausgesagt, dass im Jahr 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Offshoreenergie, also auf See erzeugte Windenergie, und 24,4 Gigawatt Onshoreenergie, also an Land erzeugte Windenergie, produziert würden. Jetzt haben wir 2011, und wir haben nur 0,2 statt 5,4 Gigawatt Offshoreenergie, dafür aber 27 statt 24 Gigawatt Onshoreenergie. Durch die bis heute bundesweit installierte Photovoltaik ist die für 2020 erstellte Prognose der Deutschen Energie-Agentur, dena, längst übertroffen worden. Die in dieser Studie vorgenommenen groben Fehleinschätzungen, auf denen die Netzausbauplanung bis heute beruht, machen deutlich, dass wir noch einmal ansetzen müssen und dass die entsprechenden Projekte überprüft werden müssen. Das ist einer der Gründe, warum der Widerstand gegen die Ausbauprojekte gerade bei 380-kVTrassen in den Regionen so stark ist. Die Leute haben nämlich längst gemerkt: Diese Leitungen sind nicht nötig, um Erneuerbare ans Netz zu bringen; man plant mit fehlerhaften und alten Zahlen. ({0}) Es ist vollkommen klar, dass es unter diesen Voraussetzungen einer Änderung des EnLAG, des Energieleitungsausbaugesetzes, bedarf. Unser erster Schritt ist, weiterzukommen auf dem Weg hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass sinnlos Geld zum Fenster hinausgeworfen wird. Die aufgrund der dena-Studie geplanten Ausbauprojekte müssen auf Eis gelegt werden. ({1}) Erst wenn wir einen Zielplan haben, der klarstellt, welche Netze bei einer dezentralen Erzeugung erneuerbarer Energien notwendig sind, können wir an konkrete Ausbauprojekte herangehen. Denken wir nur an den immensen Zuwachs bei Solarstrom. Er macht inzwischen im Mittel 2 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus, tagsüber deutlich mehr, und zwar genau dann, wenn aufgrund der Spitzenlast besonders viel Strom gebraucht wird. Das gilt an sonnenreichen Tagen noch viel mehr. Das führt zum Beispiel dazu, dass der Energiebedarf in weiten Bereichen Sachsen-Anhalts voll durch Erneuerbare gedeckt werden kann. Der dezentrale Ausbau der Anlagen für erneuerbare Energien macht es also nötig, dass die Verteilnetze fitgemacht werden, damit die dezentralen Anlagen auch wirklich an das Netz angeschlossen werden können. Es ist klar: Eon, RWE und Vattenfall sind an den Nord-Süd-Trassen interessiert, weil sie wollen, dass ihre Kohlekraftwerke und ihre Atomkraftwerke im Norden am Netz bleiben. Sie wollen, dass ihr Strom weiterhin in die südlichen Bundesländer verkauft wird. Stattdessen sollten sie unterstützen, dass der überfällige Ausbau erneuerbarer Energien, zum Beispiel aus Windanlagen, stattfindet. Das Interesse der Konzerne, die fossile Energie erzeugen, ist, die zentralen, monopolhaften Strukturen zu erhalten, und dafür brauchen sie diese Trassen. Wenn wir den Anteil der fossilen Energie zurückfahren wollen, dann brauchen wir die Erneuerbaren. Die Menschen wollen die Energiewende, und sie merken, dass das, was hier vielerorts geplant ist, nicht dazu passt, sondern weiter die großen Konzerne fördert. Eine Energiewende muss - das sagt die Linke ganz deutlich - eine soziale Energiewende sein. ({2}) Das heißt auch, die Macht der Konzerne zu brechen und in Zukunft auf die kleinen und mittleren Energieanbieter zu setzen. Es geht dabei gerade um die kommunale Ebene, also um die Stadtwerke, und um demokratische Kontrolle. Energetische Großprojekte wie Offshorewindparks müssen auch von Stadtwerken - ich denke dabei an Genossenschaften - realisierbar sein. Unter anderem deshalb schlagen wir vor, das Ende der 80er-Jahre geschleifte Genossenschaftsgesetz zu reformieren und für die beschriebenen Aufgaben fitzumachen. ({3}) In ihrem Antrag gestehen die Grünen der öffentlichen Hand gerade einmal eine Rolle als Kapitalgeber zu. Das genügt aus unserer Sicht nicht. Das schafft weder Transparenz noch Mitbestimmung. Die Ideen der Grünen greifen zu kurz. Die öffentliche Hand muss durch eigene kommunale und staatliche Unternehmen selber Eigentümer der Stromnetze werden, und zwar sowohl der Verteilnetze als auch der Übertragungsnetze. ({4}) Nur so schaffen wir es, eine wirklich demokratische Kontrolle über die Netzinfrastruktur, die ein Teil der Daseinsvorsorge ist, zu erlangen und Investitionen da zu tätigen, wo sie wirklich nötig sind. Wenn wir von Netzumbau sprechen, dann meinen wir nicht nur die rein technische Seite. Wir sprechen dann auch über das Grundverständnis der Energienetze als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. So müssen wir sie verstehen, und so müssen wir es angehen. Der Netzumbau muss ein Rahmenprogramm für eine beschleunigte Rekommunalisierung beinhalten. Die Bundesregierung hat in ihrem im Moment auf Eis liegenden Energiekonzept des vergangenen Jahres beim Punkt Netzausbau selbst betont, dass Hürden bei den Absprachen mit den Netzbetreibern zu erwarten sind. Ich frage Sie deshalb, warum Sie diese Infrastruktur, diesen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, überhaupt der Willkür und den Eigeninteressen des Marktes und der Privatwirtschaft überlassen, die damit Geld verdienen und natürlich eine Rendite erwirtschaften wollen und nicht sinnvoll im Interesse des Gemeinwohls agieren. Als Eon 2008 sein Übertragungsnetz verkaufen musste, weil die europäische Kartellbehörde die Preistreiberei und den Marktmissbrauch nicht mehr toleriert hat, hätte der Bund das Netz übernehmen müssen. Genau das tat die Große Koalition nicht. Hätte sie es seinerzeit getan, wäre sie dort aktiv geworden, dann hätten wir manche Probleme und Hindernisse, die uns in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen werden, jetzt nicht. ({5}) Ich bitte Sie, das zu überdenken und umzusteuern. Ich danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich - das meine ich jetzt nicht bösartig -, dass die Grünen mit ihrem Antrag in der Realität angekommen sind. ({0}) Bisher wurde der notwendige Netzausbau in dem fraglichen Umfang von Ihnen nämlich immer bestritten, und es wurde gesagt: Man muss das nur anders, dezentraler organisieren, dann brauchen wir diesen Netzausbau nicht. Daneben wurden Verschwörungstheorien bemüht - Ansätze dafür finden sich noch in Ihrem Antrag -, nach dem Motto „Von den Netzbetreibern wird der notwendige Netzausbau hintertrieben“ oder „Atomstrom verstopft die Netze“ und anderes mehr. Das Geschäftsmodell des Netzbetriebes - das gilt insbesondere für die Übertragungsnetze - hat sich im Übrigen mit der Mitwirkung Ihrer verehrten Vorgängerin, Frau Nestle, geändert. Seit wir 2005 das Energiewirtschaftsgesetz geändert haben, gibt es den diskriminierungsfreien Netzzugang. Das heißt, jeder kann die Stromautobahnen und das Verteilnetz nutzen, wenn er Strom transportieren will und muss. ({1}) Die Herausforderungen in Bezug auf das Netz verändern sich aber. Bisher ist das Netz einseitig, also mehr oder weniger - so sage ich es einmal - als Einbahnstraße, ausgerichtet. Das führt beispielsweise dazu, dass es die - in Anführungszeichen - dünnsten Netze in den Windbereichen an den Küsten in Norddeutschland gibt. Zukünftig brauchen wir aufgrund einer dezentralen, fluktuierenden Stromerzeugung natürlich eher andere Netze, sowohl im Bereich der Verteilnetze als auch der Übertragungsnetze. Wenn wir es nicht schaffen, dieses Problem zu lösen, dann wirkt all das, was wir im Energiebereich unternehmen, nicht. Ich glaube, darüber müssen wir uns hier gemeinsam klar werden. Die Netzbetreiber - ich spreche jetzt einmal insbesondere über die Betreiber von Übertragungsnetzen - haben gar nichts mehr mit denen zu tun, die Strom erzeugen. TenneT und 50 Hertz gehören heute internationalen Investoren und haben nichts mit der Stromerzeugung zu tun. Die Netzbetreiber haben schon heute ein originäres Interesse daran, das Netz stabil zu halten, es zu betreiben und möglichst viel Strom durch ihre Netze zu leiten, womit sie natürlich Netznutzungsentgelte, Trassenentgelte, erzielen. Insofern hilft es uns nichts, wenn man hier Situationen beschreibt, die vielleicht vor zehn Jahren aktuell waren. ({2}) - Ja, das ist richtig. RWE hat das Übertragungsnetz noch, aber man ist dabei, es zu verkaufen. EnBW ist vorhin schon angesprochen worden. De facto ist durch die europäische Lösung sowie durch das, was wir gemacht haben, der diskriminierungsfreie Zugang sichergestellt. Heute kann in diesem Haus doch niemand mehr ernsthaft behaupten, dass der diskriminierungsfreie Zugang nicht gewährleistet sei. ({3}) Lassen Sie mich noch einmal zu den Dimensionen der Herausforderung kommen. Dabei will ich mich auf die Netze konzentrieren und am Rande auch auf die Speicherung eingehen. Bei den Vorrednern ist es zum Teil schon angeklungen. Betrachten wir nur einmal das Übertragungsnetz, also die Stromautobahnen. Kollege Hempelmann hat es angesprochen: 850 Kilometer hätten nach der denaNetzstudie I eigentlich bis 2010 gebaut werden müssen, um die Ziele von 2005 im Hinblick auf die erneuerbaren Energien zu befriedigen. Deren Anteil an der Energieerzeugung sollte - ich erinnere noch einmal daran 2010 12,5 Prozent betragen. Tatsächlich hatten wir im Jahr 2010 einen Anteil von knapp 17 Prozent. Allerdings wurden - Kollege Hempelmann hat es angesprochen erst knapp 10 Prozent der entsprechenden Leitungen gebaut, nämlich 90 Kilometer. Das heißt, das alles ist wirklich sehr auf Kante genäht. Jetzt wollen wir unser Energiekonzept vom letzten Jahr, dessen Ziele unbestritten sind - mehr Energieeffizienz, verstärkter Ausbau der erneuerbaren Energien -, noch dramatisch steigern und vielleicht weiter beschleunigen. Deshalb brauchen wir - insofern sind die Zahlen auch nicht veraltet, wie die Kollegin behauptet hat, sondern nagelneu - bei den Stromautobahnen 3 600 Kilometer Leitungen zusätzlich. Allein im Übertragungsnetz benötigen wir 4 500 Kilometer. Ich spreche nur davon, was technisch notwendig ist. Im Verteilnetz brauchen wir 200 000 Kilometer neu zu bauende Leitungen. Ferner ist das Thema Interkonnektoren angesprochen worden. In diesem Zusammenhang wird immer Norwegen bemüht. Leider müssen wir konstatieren - Stand heute -, dass die beiden Projekte Nord.Link und NorGer mit jeweils 1 400 Megawatt, mit denen die Leitungslücken nach Norwegen geschlossen werden sollten, im Moment planerisch nicht weiter nach vorne kommen. Weil die norwegische Regierung das Ganze nicht so will, wie wir es uns vorstellen, kommen wir an dieser Stelle nicht weiter. Das sind leider die Fakten. Das heißt, wir können, auch wenn es uns in Deutschland im Moment gefällt, beispielsweise nicht über die norwegischen Wasserspeicher verfügen. Wir sind im Moment nicht einmal in der Lage, die Leitungen zu bauen. Auch dort sind große politische Anstrengungen notwendig, um mehr zu erreichen. ({4}) Aufgrund des Moratoriums spielt das Thema Interkonnektoren ebenfalls eine Rolle. Dieser Tage - das ist gestern im Wirtschaftsausschuss berichtet worden, es ist also ganz aktuell - ging es um die Interkonnektoren im Zusammenhang mit Frankreich. Wir haben derzeit einen zweigeteilten Strommarkt, weil die Interkonnektoren nicht mehr in der Lage waren und sind, den Strom von Frankreich nach Deutschland so zu leiten, wie es jetzt aufgrund des Moratoriums notwendig ist. Wenn wir nach Polen und nach Tschechien schauen, sehen wir das gleiche Problem. Das heißt, auch im Bereich der Interkonnektoren müssen wir mehr als Gas geben, um das Netz auszubauen. Bisher habe ich nur von der Technik gesprochen. Smart Grids und Smart Metering sind angesprochen worden. Wenn wir einen Umbau bei den Netzen vornehmen wollen, müssen wir auch im Bereich von Smart Grids und Smart Metering die Maßnahmen ausbauen. Diese intelligente Steuerung zu schaffen, bedeutet nicht nur technische, sondern natürlich auch finanzielle Herausforderungen. Lassen Sie mich auch beim vieldiskutierten Thema Speicherung einfach einmal die Dimensionen aufzeigen, über die wir reden. Heute haben wir in Deutschland ein Speichervolumen an elektrischer Arbeit von 0,04 Terawattstunden. Das betrifft im Wesentlichen die Pumpspeicherkraftwerke. Dieses Volumen kann im Moment gerade einmal eine Stunde den Strom puffern. Übereinstimmende Untersuchungen zeigen, dass wir dann, wenn wir in Ansätzen dem genügen wollen, was wir jetzt bei den erneuerbaren Energien planen, ein Speichervolumen von mindestens 10 Terawattstunden - wir haben jetzt 0,04 - benötigen. Das ist das 250-Fache dessen, was wir heute haben. Es wird dieser Tage auch viel über Elektromobilität gesprochen und behauptet, damit könne man das Problem lösen, sogar dezentral. Auch hierzu ein paar Zahlen und Fakten; denn Adam Riese kann man ja nicht wirklich übergehen: Die 1 Million Elektrofahrzeuge, die wir im Jahr 2020 haben wollen, hätten theoretisch ein Speichervolumen von insgesamt 0,01 Terawattstunden. Das setzt voraus, dass wir das vollständig einsetzen könnten. Ich weiß nicht, wie begeistert jemand ist, der nachts sein Elektromobil ans Stromnetz anschließt, um am nächsten Morgen damit fahren zu können, wenn der Akku nachts stattdessen beispielsweise über Smart Metering geleert wird, sodass er morgens damit nicht fahren kann. Aber selbst wenn wir das außen vor lassen, sind die 0,01 Terawattstunden ein Faktum, das auch Sie nicht bestreiten können. Insofern zeigt sich, wie groß die Herausforderung auch in diesem Bereich ist. Deshalb müssen wir neue Wege beschreiten. Ich nenne hier einmal das Stichwort „Methanisierung“. Im Erdgasbereich sind heute beispielsweise bereits über 200 Terawattstunden vorhanden. Deshalb müssen wir sektorübergreifende Ansätze finden und uns nicht nur mit Strom befassen, sondern Strom und Gas miteinander verknüpfen. Auch beim Stromtransport müssen wir nach neuen intelligenten Möglichkeiten suchen. Indem wir alles miteinander verknüpfen, könnten wir uns vielleicht manchen Ausbau der Stromnetze sparen. ({5}) Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind also gigantisch. Zu den Kosten habe ich bisher noch nichts gesagt. Sie bewegen sich in einer Größenordnung von 40 bis 50 Milliarden Euro. Dieses Geld muss in den nächsten 10 bis 15 Jahren investiert werden. Ich glaube ja, dass wir das schaffen können, weil es genug privates Kapital gibt. Dazu gehört aber auch, dass wir entsprechende Investitionsanreize setzen. Was nützen uns aber die technische Machbarkeit und alles Geld, wenn wir all das zwar planen, aber nicht umsetzen können? Deshalb wird es entscheidend sein - das ist mein ernstgemeinter Appell am Schluss -, dass wir das fraktionsübergreifend im Bundestag umsetzen und die Länder mit ins Boot holen. Wenn wir das nicht schaffen, wird all das nicht funktionieren. Wir können es nur gemeinsam schaffen. Auch hier gilt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Ja zum Atomausstieg sagt, wer Ja zum schnelleren Umstieg auf Erneuerbare sagt, muss auch Ja zum Ausbau der Netze und zum Ausbau der Speicher sagen. Dazu fordere ich Sie auf. ({6}) Wir sind bereit - das sage ich an Ihre Adresse, Herr Hempelmann, und auch an die Adresse der Grünen -, im weiteren Prozess über diese Dinge zu diskutieren. Es handelt sich aber um ein Geben und Nehmen. Das gilt auch für andere Gesetze, bei denen wir Ihre Mitwirkung vielleicht nicht brauchen, weil sie nicht zustimmungspflichtig sind. Wir wollen nämlich ein Gesamtpaket schnüren, um unsere Ziele zu erreichen. Nur wenn wir den nötigen Netzausbau schaffen, werden wir zu all dem in der Lage sein. Anderenfalls werden wir scheitern, und zwar unbeschadet all der Dinge, die wir alle gemeinsam bei Sonntagsreden verkünden. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPDFraktion. ({0})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in das Thema einsteige, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um dem soeben gewählten Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Herrn Kretschmann, zumindest im Namen der SPD-Fraktion, aber, wie ich denke, auch im Namen der Grünen und des gesamten Hauses von Herzen zu seiner Wahl zu gratulieren. ({0}) Die Tatsache, dass dieses neue rot-grüne bzw. grün-rote Projekt ({1}) - ich habe doch beides genannt, regt euch doch noch nicht so auf ({2}) große Begeisterung gerade auch hinsichtlich seiner energiepolitischen Ausrichtung auslöst, zeigt sich auch daran, dass sogar zwei Leute der Opposition mitgestimmt haben. Einen herzlichen Glückwunsch an diejenigen aus der Opposition in Baden-Württemberg, die schon so weit sind! ({3}) Dieser energiepolitischen Wende und dem Aufbruch in den Reihen der Union und der FDP kann man insbesondere zwei Namen, nämlich den von Herrn Fuchs und den von Herrn Breil, gegenüberstellen. Ich war über einige ihrer Aussagen etwas überrascht, will das jetzt aber nicht bewerten. ({4}) Auf zwei Dinge möchte ich aber eingehen. Herr Fuchs, zunächst zur Klarstellung: Sie haben gesagt, wir wollen nicht, dass wir in Zukunft bei der Stromversorgung von Importen abhängig sind. Ich frage mich, warum Sie dann im letzten Jahr ein Energiekonzept verabschiedet haben, das darauf basiert, dass wir im Jahr 2050 bis zu 30 Prozent Energie importieren. Das passt doch nicht zusammen. ({5}) Der zweite Punkt; man kann darüber streiten. Herr Breil, wenn Sie hier, an die Grünen gerichtet, sinngemäß sagen: „Die Geister, die Sie riefen, holen Sie jetzt ein“, frage ich Sie: Von welchen Geistern werden Sie eigentlich gerade eingeholt? Ich glaube, diese Aussage hätten Sie besser an die eigene Adresse gerichtet als an die Opposition. ({6}) - Nicht so lange wie Sie für Ihre Frage. Ich komme jetzt aber zu einigen Feststellungen. Der Zustand der Übertragungsnetze in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Großteil vor 40 Jahren und mehr errichtet wurde. Der Netzausbau in den 60er12318 und 70er-Jahren betrug rund das Dreifache von dem, worüber wir jetzt reden. Das haben wir übrigens problemlos weggesteckt. Der Netzausbau war nötig, um zum einen den Ausbau fossiler Kraftwerke und zum anderen den Ausbau der Kernenergie zu ermöglichen. Das ist ein Fakt. Dass Investitionen in die Erneuerung der Stromleitungen ohnehin erforderlich sind, ist kein Geheimnis; das wissen wir. Das Problem ist nur, dass wir jetzt über einen Leitungsausbau von 3 500 Kilometer sprechen und dies automatisch mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien verknüpfen. Das ist falsch. Wir hätten ohnehin enorme Investitionen in die Leitungen zu tätigen gehabt. Von daher ist es wichtig, einmal im Detail zu schauen, worüber wir hier eigentlich reden. Herr Fuchs sprach eben von 4 400 Kilometern; es wird also immer mehr. ({7}) - Ja, ich lese die Studien. Aber wenn man eine Studie zitiert, sollte man das auch vollständig tun, Herr Fuchs. ({8}) Sie zitieren sie so, dass es in Ihre Konzeption passt. Sie versuchen mit dem Argument, wir kämen mit dem Netzausbau nicht hin, die Laufzeitverlängerung zu billigen. Das ist der falsche Weg. In der dena-Studie steht: 1 700 bis 3 500 Kilometer. Das muss man deutlich sagen. ({9}) Außerdem verfügt der - schon nicht mehr oder gerade noch amtierende - Wirtschaftsminister in seinem Haus über ganz andere Studien. Laut einer Studie von Consentec und R2B erfordert selbst ein Anteil von 50 Prozent an erneuerbaren Energien im Jahr 2020 über dena I hinaus noch 250 Kilometer Höchstspannung. Das ist eine Studie aus dem BMWi. Deshalb muss man sich die Zahlen in den verschiedenen Studien genau anschauen. ({10}) Was brauchen wir wirklich? Das kann man am besten herausfinden, wenn man mit den Betreibern der Übertragungsnetze spricht. Ich will nur von einem berichten, von Amprion. Ich hoffe, ich darf das tun; aber es ist kein Geheimnis. Amprion hat schon frühzeitig, basierend auf dem, was an Investitionen ohnehin erforderlich ist und was aufgrund des rot-grünen Ausstiegsbeschlusses absehbar war, bis 2020 Investitionen in die Netze in Höhe von 3 Milliarden Euro vorgesehen. Sie bauen 800 Kilometer ihrer Höchstspannungsnetze aus, 97 Prozent davon auf vorhandenen Trassen - ohne Akzeptanzprobleme -, 2 Prozent parallel zu bestehenden Trassen und nur 1 Prozent neu. Um von sich aus Konflikten aus dem Weg zu gehen, bauen sie von den insgesamt 5 Kilometern 3 Kilometer freiwillig unterirdisch. Sie sagen, sie werden das hinbekommen. Natürlich gibt es hier und da Probleme, aber an diesem Beispiel sieht man, dass es geht. Von daher ist die Aussage, dass mindestens 3 500 oder 4 400 Kilometer Übertragungsnetze gebraucht werden, falsch. Wichtig ist, dass wir mit den Leuten sprechen. Eines, was auch in der Diskussion anklang, ebenfalls in der Rede von Herrn Fuchs, möchte ich noch aufgreifen. Es hieß, wir werden nur dann frühzeitig aus der Kernenergie aussteigen können, wenn wir bis dahin massiv Leitungen ausgebaut haben und wenn wir parallel dazu dafür sorgen, dass die Offshorewindparks schneller als geplant ans Netz gehen. Beides ist falsch. ({11}) Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen: Durch die Abschaltung der acht AKW haben wir rund 8 800 MW vom Netz genommen. Bis zum Ende des nächsten Jahres werden allein 10 600 MW an neuen Kapazitäten hinzugebaut, und zwar zum Großteil durch fossile Kraftwerke, die ohnehin in der Planung sind. Das heißt, den Verlust dieser 8 800 MW haben wir mehr als wettgemacht. ({12}) - Herr Fuchs, das sind Zahlen vom BDEW. Ich kann sie Ihnen schriftlich geben. ({13}) Wir werden in diesem Jahrzehnt allein in Österreich und der Schweiz Zubauten von Pumpspeicherkraftwerken mit einer Leistung von 5 500 MW erleben; in Deutschland ist der Zubau von Kraftwerken mit einer Leistung von 1 700 MW geplant. Hinzu kommen massive Zubauten im Bereich der Erneuerbaren. Ich will eines deutlich machen: Warum ist es eigentlich falsch, jetzt massiv Geld in die schnellstmögliche Anbindung der Offshorewindparks zu pumpen? Wir brauchen Offshorewindparks - ich bin dafür -; das ist unbestritten. Aber in diesem Moment ist die schnellstmögliche Anbindung nicht erforderlich, um die Atomkraftwerke abzuschalten. Es gibt eine aktuelle Studie des Bundesverbandes WindEnergie. Demzufolge würde man, wenn man 2 Prozent der Landesflächen für Onshorewindparks zur Verfügung stellen würde, folgende Größenordnungen erreichen: In NRW, wo das aktuell Thema in der neuen Koalition ist, könnte so eine Leistung von bis zu 20 000 MW erreicht werden, in BadenWürttemberg eine Leistung von bis zu 23 000 MW - ich bin mir sicher, dass wir so weit kommen -, in Bayern, Herr Nüßlein, von bis zu 41 000 MW. Da muss man schon die Frage stellen: Warum nutzen wir jetzt nicht die Möglichkeiten, wesentlich mehr Onshoreanlagen anzuschließen? Das wäre kurzfristig realisierbar und deutlich kostengünstiger, als jetzt massiv im Offshorebereich zu investieren. Meine Damen und Herren, Sie müssen es vor Ort nur zulassen. ({14}) Wir müssen eines beachten - der Bundesumweltminister ist nicht mehr da -: Wir dürfen den Zubau im Onshorebereich im Rahmen der EEG-Novelle nicht klammheimlich unattraktiv machen, indem wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtern. Wir müssen im EEG nichts Zusätzliches für den Onshorebereich regeln; wir müssen es nur so lassen, wie es ist. Das wird aber nicht getan. Damit gefährden wir den Ausbau im Onshorebereich massiv. Ich will Ihnen zwei Beispiele für Veränderungen im Rahmen der EEG-Novelle nennen: Zum einen wird die Degression gemäß dem Erfahrungsbericht und der Vorschläge auf 2 Prozent angehoben. Der Systemdienstleistungsbonus soll gestrichen und das Repowering auf nur noch vier Jahre begrenzt werden. Das ist faktisch eine Kürzung der Vergütung um 1,5 Cent pro Kilowattstunde. Das kann die Branche nicht verkraften, weil es keine Kostensenkungspotenziale in diesem Umfang gibt. Wenn Sie einen Konsens mit uns finden wollen, dann müssen Sie gewisse Grundforderungen der Opposition erfüllen: Man muss die Bedingungen dafür erhalten, dass sich die erneuerbaren Energien positiv entwickeln. Das heißt mit Blick auf die Entwicklung im Onshorebereich: Finger weg! Lassen Sie im Onshorebereich alles so, wie es im Gesetz geregelt ist. Dann werden wir es schaffen, den Ausbau der erneuerbaren Energien ohne große Investitionen im Offshorebereich, die, würden sie verfrüht getätigt, zu großen Preissteigerungen führen würden, massiv voranzubringen. Das hilft auch den Menschen in Bayern; denn es ist besser, wenn die Wertschöpfung vor Ort geschieht, wenn die Gemeinden über die Gewerbesteuer davon profitieren, anstatt anschließend über die Umlage das Fünffache zu zahlen, damit wir jetzt massiv und schnell Offshoreanlagen ans Netz bringen. ({15}) Ich will auf einen letzten Punkt eingehen. Wir reden immer nur über die Höchstspannungsleitungen. Ja, das ist wichtig; wir müssen den Stromtransport von Nord nach Süd sicherstellen. Ich will das gar nicht kleinreden. Die Frage, was wir mit den Verteilnetzen machen, wird aber mindestens genauso bedeutend sein. Wir müssen die Verteilnetze zu solchen Netzen umbauen, die auch Strom aufnehmen, also zu Einspeisenetzen. Hier gibt es gute Ansätze. Wenn wir es schaffen, die Potenziale im Süden Deutschlands bei der Windkraft zu nutzen, kommt es zu zusätzlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit den bisherigen Verteilnetzen. Es gibt gute Ansätze, dafür zu sorgen, dass Investitionen, die vor Ort erforderlich sind, mit Partnern aus dem Bereich der erneuerbaren Energien und dem Mittelstand schnellstmöglich getätigt werden. Das ist deutlich günstiger als das, was wir im Bereich der Höchstspannungsleitungen tätigen müssten, hilft uns aber kurzfristig, den Umstieg schneller hinzubekommen. Es gibt hier viele Möglichkeiten. Sie haben das Angebot an die Opposition gemacht, zu einem gemeinsamen Entwurf zu kommen. Wir werden es annehmen, aber nur dann, wenn dieser Umstieg qualitativ gesichert wird und es nicht bei einigen vorgeschobenen Argumenten bleibt, von denen Sie leider auch heute wieder viel zu viele vorgetragen haben. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer von der FDP-Fraktion. ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns allen ist klar, dass der Netzausbau eines der zentralen Themen ist. Frau Nestle, Sie sind der Meinung dass wir den Ausbau der Netztrassen nur dann hinbekämen, wenn wir gleichzeitig einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien durchführen und uns dann auch noch darauf begrenzen würden, nur die Netztrassen zu bauen, die für die erneuerbaren Energien gebraucht werden. Das reicht wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es gehört beides dazu. Wenn man den beschleunigten Ausstieg aus der Kernkraft will, dann muss man akzeptieren, dass eben nicht nur ein Netzausbau im Bereich der erneuerbaren Energien notwendig ist, sondern beispielsweise auch zusätzliche Gaskraftwerke benötigt werden. ({0}) Es stellt sich dann die Frage, wie Sie den Bereich der fossilen Energien unterstützen wollen. Wie wollen Sie es schaffen, auf Akzeptanz für Energien zu stoßen, die als zusätzliche Brücke nötig sind? Wir brauchen sie auf jeden Fall. Der Netzausbau für erneuerbare Energien allein reicht nicht aus. Sie haben gesagt, wir sollten finanzielle Gestaltungsspielräume ermöglichen. Im Klartext heißt das: Es soll mehr Geld ausgegeben werden. Man kann natürlich nett formulieren, dass man Gestaltungsspielräume erhöhen will. Man kann aber auch sagen: Es wird teurer. Das ist eine Sache, die man den Leuten auch sagen muss. Aus meiner Sicht muss man die Leute fragen, was sie bereit sind, zu bezahlen, und wofür sie bereit sind, es zu bezahlen. Die Planungssicherheit muss gesteigert werden. Die Steigerung der Planungssicherheit kann bedeuten, dass die Mitspracherechte der Bevölkerung zu Beginn des Verfahrens gestärkt werden, später jedoch nicht mehr bestehen, etwa wenn es dann zu Widersprüchen kommt, weil persönliche Interessen dem großen Ganzen entgegenstehen. Den Leuten muss dann gesagt werden: Jetzt sind wir uns einig, wir können das Fass nicht zum hundertsten Mal aufmachen. Hier müssen Sie uns genauso helfen, wie wir Ihnen in anderen Bereichen versuchen, zu helfen. Wir müssen eine gemeinsame politische Haltung hinbekommen, und zwar eventuell auch gegen Einzelinteressen. ({1}) Es ist nicht möglich, dass dies zur Zufriedenheit aller gelingt. Ihr Ansatz ist, dass alles im Einklang mit den Leuten vor Ort geschehen muss. Der Meinung bin ich auch. Ich denke, dass der Bund allein nicht zu viel entscheiden kann, sondern dass die Länder das selbst machen müssen. Ich halte nichts davon, wenn sich ein Bundesland wie Baden-Württemberg am Schluss darüber beschweren kann, dass der Bund irgendetwas gemacht hat, das ihm nicht gefällt. Die Länder müssen selbst beweisen, dass sie einen möglichst effizienten Netzausbau hinbekommen. Die Verantwortung würde dann bei jedem einzelnen Bundesland liegen, unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung. ({2}) Wir müssen es so hinbekommen, dass wir uns nicht um jedes einzelne Dorf kümmern müssen. Die Landesregierungen, die Bundesregierung und der Bundestag müssen den Mut haben, zu sagen: Wir verstehen, dass es euch lieber wäre, wenn wir eine Umgehung von zehn Kilometern für euch einrichten würden. Wenn aber jedes Dorf in Deutschland eine Umgehung von zehn Kilometern fordert, dann wird es extrem teuer. Diese vielen kleinen Einzelmaßnahmen würden am Schluss dazu führen, dass es nicht mehr finanzierbar ist. Dies der Bevölkerung klarzumachen, erfordert vermutlich eine gewisse Härte. Dazu brauchen wir auch Ihre Unterstützung. ({3}) Ihr Antrag ist in Ordnung. Was mich allerdings gewundert hat, ist, dass Sie sich nur auf den Bereich des Netzausbaus konzentriert haben. Sie haben unerwähnt gelassen, ob es neben dem Netzausbau noch auf andere Dinge ankommt. Herr Pfeiffer hat kurz angesprochen, dass wir den Netzausbau an der einen oder anderen Stelle vielleicht gar nicht in diesem Umfang brauchen. Denn wir haben eventuell die Möglichkeit, erneuerbare Energien zu speichern, den Eigenverbrauch zu erhöhen und gar nicht so viele fluktuierende Energien in Netze einspeisen zu müssen. Auch das muss ein Ziel sein. Wir dürfen nicht immer nur daran denken, möglichst viele Netze auszubauen. Wir müssen auch daran denken, moderne Technologien so einzusetzen, dass die Netze zu bestimmten Zeiten vielleicht gar nicht mehr verstopft werden. Darüber machen wir uns im Moment Gedanken. Wir möchten Anreize dafür schaffen, nicht mehr so viel in die Netze zu pumpen. Nicht nur die Erzeugung, sondern auch der Verbrauch sollte dezentral vor Ort stattfinden. Auf diese Weise muss nicht alles quer durch die Republik geschickt werden. ({4}) Herr Brüderle und Herr Röttgen als Wirtschafts- bzw. Umweltminister haben Anfang April mit dem Sechspunkteplan schon ein sehr gutes Papier vorgelegt. Viele der darin enthaltenen Punkte sollten Sie eigentlich unterstützen. Es hat mir ein bisschen Ihre Begeisterung darüber gefehlt, dass für Beteiligungsmöglichkeiten, für Planungsbeschleunigung und für Mediationsverfahren für die Menschen gesorgt wird. ({5}) Das ist eine echte Leistung. Sie müssen einmal mit den Netzbetreibern reden. Man könnte natürlich sagen: Das sind alles böse Atomlobbyisten. Man könnte aber auch sagen, dass es vielleicht vernünftig wäre, in einen Dialog mit den Netzbetreibern einzutreten. Man könnte sie dazu bewegen, den Vorgang zu beschleunigen. Denn sie haben das Gefühl, dass hier viel passiert. Sie sind in einer positiven Grundstimmung und sagen: Jetzt ist nach vielen Jahren, in denen leider nicht so viel passiert ist, endlich einmal ein bisschen Dynamik in diesem Bereich entstanden. Ich meine daher, dass Sie uns unterstützen könnten. Sie sollten nicht immer nur klagen, wie schlimm es vorher war. Auch durch Ihre Reihen sollte ein Ruck gehen. Vonseiten des Wirtschaftsministeriums wird, was NABEG und andere Fragen angeht, viel getan. Das verdient Respekt, gerade auch den der Opposition. ({6}) Auf dem Bundesparteitag der FDP in Rostock wird auch ein Leitantrag zum Thema Energie diskutiert. Natürlich wird ein großer Bereich davon die Netze betreffen. Der von mir angesprochene Punkt, den Netzausbau nicht extrem beschleunigt voranzubringen, sondern daneben auch den Einsatz von Stromspeichern attraktiver zu machen, kommt darin auch vor. Daher werden wir uns für die Schaffung von Anreizen für marktgerechtes Verhalten der EEG-Anlagenbetreiber einsetzen. Herr Becker, die Frage wird lauten, wie sich die Opposition verhalten wird, wenn man versucht, über das EEG dahin gehend zu fördern. Es gibt Überlegungen hinsichtlich zusätzlicher Anreizprogramme zur Schaffung von Speicherkapazitäten. Es gibt verschiedene Vorschläge vonseiten der Industrie. Ich glaube, das wird der Bereich sein, in dem etwas zu machen ist. Wir dürfen uns nicht nur auf die Netze und deren Ausbau konzentrieren, sondern müssen über den Tellerrand hinausblicken. Gleichzeitig werden die Netze auf alle Fälle ausgebaut werden. Für die Bevölkerung werden sich Nachteile ergeben. Das wird zu Widerstand in der Bevölkerung führen. Für diesen Bereich hat Herr Trittin bereits Ihre Unterstützung zugesagt. Aber auch für den Bereich Pumpspeicherkraftwerke werden wir sicherlich mehr Unterstützung von Ihrer Seite benötigen. Wir werden auch in anderen Bereichen überlegen müssen, ob es nicht sinnvoller wäre, dort zusätzliche Netze zu bauen, auch wenn man sich dadurch Probleme mit dem Naturschutz einhandelt. Die dezentrale Erzeugung allein wird nicht ausreichen. Wir werden die Offshoreversorgung brauchen. Auch dort wird es Probleme mit dem Naturschutz geben, denn es werden riesige Leitungen gebaut. Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, vielleicht beim Thema Methanisierung endlich den Konsens hinzubekommen, den Sie eingefordert haben. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen - vielleicht können Sie später darauf eingehen, Frau Höhn -, dass vonseiten des Wirtschaftsministeriums, des Umweltministeriums und von der Koalition schon sehr viele Vorleistungen erbracht wurden. Ich hoffe, dass wir einen konstruktiven Dialog führen werden. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ohne den maximalen Ausbau der Stromnetze ist die Umstellung der Stromerzeugung auf erneuerbare Energien nicht machbar. So tönt es aus fast allen politischen Lagern. Sie behaupten: Wer gegen eine Stromleitung ist, verhindert den Umstieg auf erneuerbare Energien und den Ausstieg aus der Atomkraft. - Ist das so? Wer profitiert eigentlich vom Netzausbau, und wer bezahlt diesen? Am Bau neuer Stromleitungen verdienen Planungsbüros und Baufirmen. Die Netzbetreiber erhalten für ihr eingesetztes Kapital eine garantierte Verzinsung von 9 Prozent. Das bedeutet: Wenn man mehr Kapital einsetzt und das Netz größer ist, dann gibt es mehr Zinsen. Wo erhält man sonst noch 9 Prozent Zinsen ohne Risiko? Auch die Betreiber neu zu bauender Kraftwerke profitieren. Sie bauen das Kraftwerk am Ort mit den niedrigsten Stromherstellungskosten. Entstehende Mehrkosten durch den Neubau von Stromtrassen und die Kosten von Leitungsverlusten interessieren sie nicht. Diese Kosten gehören zum Netzbetrieb. Bezahlen müssen den Netzbetrieb und den Netzausbau Firmen, Handwerker und Familien, also der ganz normale Stromkunde. ({0}) Ein gigantischer Netzausbau belastet Firmen, mindert die Kaufkraft und kostet damit Arbeitsplätze. Deshalb fordert die Linke, dass der Ausbau der Stromnetze effizient erfolgt und nicht der Profiterzielung, sondern nur der Deckung des notwendigen Bedarfs dient. ({1}) Der reine Bau von Stromtrassen dauert etwa ein Jahr. Laut Professor Hohmeyer, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen, ist der Atomausstieg ohne zusätzliche Stromleitungen möglich. Das heißt, wir haben die Zeit, das Stromnetz ohne hektischen Aktionismus an die Zukunft mit erneuerbaren Energien anzupassen. Nachdenken spart Kosten. Dafür ein Beispiel: Gaskraftwerke werden zumindest für die nächsten Jahrzehnte benötigt. Die neue Erdgastrasse durch die Ostsee erreicht beim ehemaligen AKW Nord in Greifswald die Bundesrepublik und führt weiter nach Süden. Jetzt werden in Greifswald neue Gaskraftwerke gebaut, die die vorhandenen Stromtrassen nutzen. Für die geplanten Windparks in der Ostsee sind dann zusätzliche Stromtrassen im Gespräch. Würde man aber die Gaskraftwerke im Süden bauen, wo es den Strombedarf gibt, könnte man die Windparks an die vorhandenen Leitungen anschließen und den Leitungsneubau einsparen. ({2}) Ein anderes Beispiel: In meiner Heimat Thüringen halten der Netzbetreiber 50 Hertz und die Landesregierung stur am Bau einer 380-kV-Leitung über den Thüringer Wald fest. Diese Entscheidungen wurden gegen den Willen der Bevölkerung und mit mangelhafter Transparenz getroffen. Der Bedarf wurde nicht nachgewiesen. Dagegen wehren sich Bürgerinitiativen. Obwohl die Initiativen durch ein Gutachten belegen konnten, dass die Optimierung bestehender Stromleitungen ausreichen und nur 25 Prozent der Kosten eines Neubaus ausmachen würde, werden diese Tatsachen von Ihnen ignoriert. Diesen überflüssigen Netzausbau lehnt die Linke strikt ab. Darum unterstützen wir die Bürgerinitiativen. ({3}) Die Netzoptimierung darf nicht zu einer Profitquelle werden. Firmen und Bürgerinnen und Bürger sind keine Melkkühe der Konzerne. Deshalb müssen die Stromnetze Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und der Gesellschaft gehören. Die Linke sagt: Hochspannungsnetze sind zu verstaatlichen, und Verteilungsnetze sind zu kommunalisieren. ({4}) Stromerzeuger müssen an den Kosten des Stromnetzes beteiligt werden. Damit entsteht ein Anreiz zu dezentraler Stromerzeugung. ({5}) Stromerzeugung vor Ort spart Stromleitungen, schafft Arbeitsplätze und schwächt die Dominanz der Konzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall. Die Bürgerinnen und Bürger müssen bei den Planungen von Stromleitungen von Anfang an einbezogen werden und mitreden können, wenn diese durch ihre Region verlaufen. Die Bundesnetzagentur muss im Energiebereich für die Planung und den Bau der Hochspannungsnetze zuständig sein. Die Kontrolle der Energiewirtschaft hat durch eine staatliche Behörde und durch unabhängige Beiräte zu erfolgen. Der Netzausbau ist ein Teil der Umgestaltung der Energiewirtschaft. Auch in anderen Bereichen wie Wind-, Solar- und Bioenergie drohen im Speicherbereich Profitmaximierungen zulas12322 ten der Verbraucher. Deshalb fordert die Linke eine staatliche Strompreisaufsicht. ({6}) Damit verhindern wir, dass die Profite der Strombranche und die Strompreise explodieren, und wir erhalten die Akzeptanz für Strom aus erneuerbaren Energien. Ohne gesellschaftliche Regulierung und gesellschaftliches Eigentum geht es bei der Stromversorgung nicht. Das meint die Linke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch in dieser Debatte hat das Wort „Konsens“ eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Ich möchte vorweg ganz deutlich sagen, dass ich der Überzeugung bin, dass wir in der ganzen energiepolitischen Debatte bisher noch keinen Konsens hatten. Es gab zwar im Jahr 2000 einen Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün oder Grün-Rot, wie man das auch immer nennen mag, aber es gab keinen Konsens darüber, in was wir einsteigen wollen. Sie waren zwar gegen die Kernenergie, aber Sie waren auch ({0}) gegen all die anderen Dinge, die wir dringend brauchen, um den Umstieg überhaupt hinzubekommen. ({1}) Das ist doch das Problem, mit dem wir zu tun hatten. ({2}) - Natürlich stimmt das. Sie waren gegen das größte Speichermedium, das wir in Deutschland haben, gegen das Schluchsee-Projekt im Schwarzwald. Sie waren gegen so gut wie alle Hochspannungsleitungen. Bei Demonstrationen in ganz Deutschland haben Sie an vorderster Front mitgemacht. Sie sind gegen die Kohlekraftwerksprojekte, obwohl wir diese Kraftwerke brauchen, um den Umstieg richtig hinzubekommen und eine effiziente Energieversorgung sicherzustellen. ({3}) Sie sind gegen das Biomasse-Dampf-Heizkraftwerk in Kehl. Diese Liste könnte man unendlich fortführen. Sie waren in den letzten Jahren immer nur dagegen. ({4}) Jetzt kommt die große Chance. Jetzt werden wir Sie bei den Themen stellen. Jetzt haben wir die Chance, gemeinsam den Einstieg in eine stärkere Nutzung der erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren zu gestalten. ({5}) Wir werden Sie beim Wort nehmen, liebe Frau Höhn. Die Herausforderungen sind immens. Wir wollen in den nächsten Jahren circa 25 Prozent unserer Stromerzeugung, des Stroms aus Kernenergie, 50 Prozent der grundlastfähigen Stromerzeugung Stück für Stück nicht nur durch fossile, sondern vor allem durch erneuerbare Energien ersetzen. Wir wollen, dass bis 2020 35 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. ({6}) Das ist eine enorme Herausforderung, die Sie damals, als Ihre Fraktion in der Regierungsverantwortung war, Herr Fell, nicht so definiert haben. Sie haben die Ziele damals wesentlich niedriger gesetzt als wir heute. Um diesen Umstieg hinzubekommen, brauchen wir vieles. Wir brauchen sowohl Offshore- als auch Onshoreanlagen. Wir brauchen Speicher, und wir brauchen Netze. Wir brauchen Biomasse. Wir brauchen Flächen, die für die Energiewirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen die Kleinen, und wir brauchen die Großen. Wir brauchen die kommunalen und die großen Energieversorger. Wir brauchen alles, um diesen Umstieg hinzubekommen. Dazu müssen wir jetzt Vorschläge und Konzepte vorlegen. Deshalb habe ich mir den Antrag, den die Grünen heute vorgestellt haben, genau durchgelesen. Liebe Frau Nestle, Sie haben den Antrag vorgestellt. Ich muss schon sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist, mit Verlaub, eine dünne Suppe. ({7}) Das bin ich von Ihnen normalerweise nicht gewohnt. Ich möchte ein paar Punkte herausnehmen: Die Antragsbegründung ist fachlich falsch. Sie schreiben beispielsweise, dass wir das Problem haben, dass die den Atomkonzernen nahestehenden Netzbetreiber den Ausbau der erneuerbaren Energien behindern. Weder ist es so, dass die Netzbetreiber den Atomkonzernen nahestehen - seit 2005 sind die gar nicht mehr zusammen; das haben Sie übrigens mit beschlossen -, noch können die Atomkonzerne ihren Strom bevorzugt einspeisen und die Produzenten von Strom aus erneuerbaren Energien dadurch behindern. Sie können gar nicht behindert werden. Im Gegenteil: Sie müssen, wenn es möglich ist, bevorzugt aufgenommen werden. Sie schreiben weiter, Erdkabel könnten „problemlos und schnell gebaut werden - zu geringen oder ohne Mehrkosten“. ({8}) Auch das ist vollkommen falsch, Frau Nestle; das wissen auch Sie. Wir kommen mit den Erdverkabelungsprojekten, die im EnLAG vorgesehen sind, nicht voran. Selbst ein Erdkabel im 110-kV-Bereich kostet das Vier-, Sechsoder Achtfache eines ganz normalen oberirdischen Kabels. ({9}) - Natürlich stimmt das. Ein weiterer Punkt - das hat mich noch mehr überrascht - ist, dass Sie immer noch im Bremserhäuschen sitzen, in Ihrer Ideologie verhaftet sind ({10}) und sagen: Die Menschen wenden sich zu Recht „gegen Stromtrassen, die das Landschaftsbild zerschneiden und umweltschädlichen Atom- und Kohlestrom transportieren“. Wenn Sie immer noch dieser alten Denke folgen und sagen, dass Sie gegen die Stromtrassen sind, solange sie Atom- und Kohlestrom transportieren, dann kommen wir vor Ort keinen Schritt weiter. ({11}) Sie müssen herunter von diesem Ross; denn das wird so nicht funktionieren. Sie halten sich ein Hintertürchen offen, indem Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass es falsch ist, den endgültigen Atomausstieg vom Ausbau der Netze abhängig zu machen. Das heißt: Ausstieg ja, aber Einstieg nein. Sie sind also immer noch dort, wo Sie vor zehn Jahren waren. ({12}) Das ist genau der falsche Ansatz. ({13}) Jetzt diskutieren wir über den Einstieg. Ein Thema - das haben meine Vorredner entsprechend dargelegt ist der Flaschenhals für die verstärkte Nutzung der Erneuerbaren: Nur wenn wir die Netze ausbauen, werden wir die Erneuerbaren voranbringen können. Darauf müssen wir unser Hauptaugenmerk legen. Die Erneuerbaren sind leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Zeit können wir nicht überbrücken, da wir keine entsprechenden Speicherformen zur Verfügung haben; daran müssen wir sowohl im chemischen als auch im physischen Bereich arbeiten. Das tun wir, aber da müssen wir noch mehr tun als heute; das wollen wir auch. Wir müssen vor allen Dingen die örtliche Distanz überbrücken. Bisher beträgt die Distanz zwischen Erzeugung und Nutzung etwa 40 Kilometer. In den nächsten Jahren wird diese Distanz auf im Schnitt 300 Kilometer aufwachsen. Dazu brauchen wir - das wurde schon angesprochen - 2 000, 3 000, 4 000, vielleicht auch nur 1 500 Kilometer neue Leitungen. Wir brauchen diese Leitungen, egal wie. Wenn wir weiterhin mit einer Geschwindigkeit von 20 Kilometern pro Jahr - so war es in den letzten fünf Jahren - vorangehen, werden wir auch in 30 Jahren nicht die Leitungen haben, die wir brauchen. Selbst 1 500 Kilometer Leitungen - diese Zahl haben Sie genannt - werden wir so nicht erreichen. Deshalb müssen wir beim Ausbau der Leitungen wesentlich schneller werden. Wir brauchen aber nicht nur die Ertüchtigung des bestehenden Netzes, sondern auch Stromautobahnen, die von Norden nach Süden, von Punkt zu Punkt, beispielsweise über HGÜ, den Strom transportieren. Wenn wir den Strom - das wird sowohl den Offshore- als auch den Onshorewind betreffen -, nur im Norden einspeisen, werden wir netztechnisch im Norden ein großes Problem bekommen; dies betrifft auch unsere Nachbarländer. Wir müssen den Strom, der im Norden erzeugt wird - dort gibt es wesentlich bessere Bedingungen zur Stromerzeugung durch Wind -, direkt in den Süden schieben. Deshalb brauchen wir Stromautobahnen über längere Distanzen, über 300, 400 Kilometer. Auch das wird ein wichtiges Projekt werden. Nicht nur eine Stromautobahn wird dazu notwendig sein, sondern sicherlich vier oder fünf. In diesem Bereich gibt es schon Projekte, deren Planungs- und Realisierungszeit aber bis zu 10, 15 Jahre beträgt. Neben den großen Netzen brauchen wir auch kleine Netze, die Verteilnetze. Auch da stehen wir vor enormen Herausforderungen. Die Kommunen sagen: In den nächsten 10 bis 15 Jahren brauchen wir 25 Milliarden Euro, um das Verteilnetz zu ertüchtigen, vor allen Dingen aufgrund der enormen neuen Kapazitäten im Bereich der Photovoltaik. Das muss ebenfalls realisiert werden. Dazu sage ich ernüchtert und mit dem Anspruch, dass die Kommunen hier stärker investieren müssen: Wenn eine Kommune mit einer Einwohnerzahl von 50 000 ein eigenes Netz hat, dann müsste sie im Schnitt in den nächsten 15 Jahren 15 Millionen Euro in ihr Verteilnetz investieren. Das ist eine ganz grobe Rechnung. Ich gestehe zu, dass sie sicherlich zu einfach ist, aber dadurch können die Größen dargestellt werden. Eine Kommune mit 50 000 Einwohnern müsste 15 Millionen Euro allein in ihr Stromnetz investieren, wobei der Bürger vor Ort dadurch keine Verbesserung bemerken würde. Das ist eine enorme finanzielle Herausforderung. Dazu muss man zum Beispiel noch Themen wie die Smart Grids betrachten. Ich komme zum nächsten Punkt. In Bezug auf das Netz ist - auch das wurde schon angesprochen - das Thema Europa wichtig. Wir müssen schon sehen, dass wir bei diesem schnellen Atomausstieg - auch das sage ich in aller Deutlichkeit - mit Blick auf Europa ein Stück weit egoistisch vorgehen. Wir als Deutschland mitten in Europa müssen uns darauf verlassen können, dass die anderen Länder um uns herum auch mitziehen. Wenn wir nicht genügend Strom aus Sonne und Wind bekom12324 men, sollten wir uns darauf verlassen können, dass uns die Franzosen, die Tschechen und die Polen Strom liefern. In Zeiten, in denen wir zu viel Strom aus Wind und Sonne haben, sollten wir hoffen können, dass die Österreicher, die Schweizer und vielleicht auch irgendwann einmal die Skandinavier unseren Strom abnehmen und speichern. Wie gesagt, das kann nur dann funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen dazu ein europäisches Netz, das diesen Herausforderungen entsprechend gerecht wird. All diese Themen müssen immer unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass wir auch in Zukunft eine sichere, saubere, klimafreundliche und vor allen Dingen bezahlbare Energieversorgung haben müssen, und zwar nicht nur für die Industrie bzw. die Wirtschaft, über die wir sehr viel sprechen, sondern auch für den ganz normalen kleinen Mann, der diese ganze Veranstaltung auch bezahlen muss. In diesem Sinne haben wir vor, große Projekte durchzuführen, und wir kämpfen da gemeinsam. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bareiß, wenn man Ihre Rede eben gehört hat, hat man den Eindruck, dass Sie den Gong noch nicht gehört haben: Sie sind nicht diejenigen, die den gesellschaftlichen Konsens hergestellt haben. - Wir haben hier vor zehn Jahren einen gesellschaftlichen Konsens zur Energiepolitik aufgestellt, und Sie haben ihn ohne Not im letzten Herbst gebrochen. Das ist die Situation. ({0}) Heute diskutieren wir darüber, diese Energiewende, die wir vor zehn Jahren eingeführt haben - und zwar raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien -, jetzt fortzusetzen. Das ist der Weg dieser Energiewende. Das bedeutet in der Tat auch Ausbau und Modernisierung der Stromnetze. Das bedeutet neue Stromleitungen sowie bessere und intelligentere Netze. Dazu sagen wir: Wir Grüne wollen diesen notwendigen Ausbau der Netze. Jetzt ist die Frage, wie. Dazu sagen wir: Man kann und muss diesen Ausbau bei Wahrung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger - und nicht bei Beschneidung der Rechte - erreichen. Wenn Sie die Rechte beschneiden, treiben Sie die Bürger in die Klage. Dann wird das Verfahren verlängert, statt verkürzt. Deshalb sagen wir: Das muss mit den Bürgern und nicht gegen sie geschehen. ({1}) Ich komme zum nächsten Punkt. Wir haben ganz unterschiedliche Reden gehört, die ich auch interessant fand. Herr Pfeiffer, ich fand, dass es bei Ihnen interessante Ansätze gab. Auch bei Herrn Meierhofer fand ich interessante Ansätze, bei Herrn Fuchs und Herrn Breil war es die alte Soße. Wenn wir hier sachlich diskutieren wollen, müssen wir endlich mit zwei Legenden aufhören. Die erste Legende - sie wurde auch eben wieder von Herrn Fuchs und Herrn Breil gebracht - lautet: Schuld an dem ganzen Problem des fehlenden Netzausbaus sind die Bürgerinitiativen und die Grünen. - Damit lenken Sie von den eigenen Problemen ab und zeigen, was die Fehler angeht, mit dem schwarzen Finger auf die anderen. ({2}) Dazu sagen wir: Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Beim Netzausbau gibt es nach Angaben der Bundesnetzagentur 24 vordringliche Trassenprojekte. Nach der neuesten Liste verzögern sich neun davon. Drei von diesen neun Projekten verzögern sich wegen Bürgerprotesten. Wenn Sie die Verzögerungen aufheben wollen, müssen Sie außer auf die Bürgerproteste auch auf die anderen Gründe für die Verzögerung schauen. Das ist der Weg. ({3}) Sehen Sie sich einmal an, was zum Beispiel der Sachverständigenrat sagt: Nicht allein Bürgerproteste, sondern noch zwei weitere Gründe führen dazu, dass die Netze nicht ausgebaut werden. Der erste Grund sind wirtschaftliche Hemmnisse für Investitionen. Das sehen wir auch. Auch darüber müssen wir nachdenken und es ändern. Der zweite Grund - Herr Pfeiffer, noch am 4. Mai gab es von den Grünen eine Veranstaltung mit den Stadtwerken bzw. mit den Betreibern von Windkraftanlagen - ist, dass es bei den Netzbetreibern, die gleichzeitig auch Stromkonzerne sind, noch immer Widerstände gibt. Diese sind noch nicht vollständig ausgeräumt. Auch hieran müssen wir arbeiten; denn die Netzbetreiber wollen natürlich ihre Konkurrenten nicht ans Netz lassen. Sie haben indirekt eine Menge Eingriffsmöglichkeiten. Der dritte Punkt ist die fehlende Akzeptanz. Es ist eine gemeinsame Aufgabe, diese Akzeptanz herzustellen. Dazu wollen auch wir Grüne beitragen. Dazu sind wir bereit. Wir sagen: Die Planung muss transparent sein. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, und wir müssen sie frühzeitig einbinden. Das sind drei ganz wichtige Punkte, die man beachten muss, wenn man die Netze schneller ausbauen möchte. ({4}) Die zweite Legende, mit der Sie aufhören müssen, ist die Argumentation, der Netzausbau sei die Voraussetzung für den Atomausstieg. Das ist eindeutig falsch. Herr Fuchs und Herr Breil haben vorhin wieder so arguBärbel Höhn mentiert. Der Grund dafür ist entweder Unkenntnis oder der Wunsch, den Atomausstieg auszubremsen. Das scheint Ihr Motiv zu sein. Selbst die dena - wenn man die dena-Netzstudie liest, dann weiß man: wo „dena“ draufsteht, sind Eon und RWE drin ({5}) hat in ihren Studien die glasklare Aussage getroffen, dass der Netzausbau nichts mit den Laufzeiten der Atomkraftwerke zu tun hat. Als Sie im letzten Jahr, als es um die Laufzeitverlängerung ging, bei der dena nachgefragt haben, ob auch ein geringerer Ausbau der Netze möglich ist, antwortete Ihnen die dena eindeutig Nein. Im Zehnpunkteprogramm von Angela Merkel, das Sie im Herbst letzten Jahres vorgelegt haben, waren vier Punkte enthalten, die den Netzausbau betreffen. Sie verlängern die Laufzeiten, müssen sich aber um die Netze kümmern. Die Argumentation, dass man den Netzausbau braucht, um aus der Atomkraft aussteigen zu können, ist also eindeutig falsch. Sie sollten diese Argumente nicht ständig wiederholen; denn dadurch verunsichern Sie die Bevölkerung. ({6}) Es ist unverfroren, wenn die CSU genau diese Argumente wiederholt. Sie sagen: Wir wollen erst einmal überprüfen, ob der Netzausbau wirklich funktioniert. Dann werden wir überprüfen, ob wir die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern. - Ich muss Ihnen sagen: Das ist unverfroren und ein starkes Stück. Denken Sie nur an die Ereignisse in Fukushima. Dort kämpft man noch heute gegen die furchtbaren Folgen des GAU an. Hier in Deutschland tagt derzeit eine Ethikkommission, und die Kanzlerin diskutiert mit der Opposition über den Atomausstieg. Vor diesem Hintergrund will uns die CSU weismachen, wir brauchten eine Revisionsklausel. Mit Ihrer Argumentation nach dem Motto „Wir steigen erst einmal aus der Atomkraft aus; dann überprüfen wir alles“ schaffen Sie in der Bevölkerung keine Akzeptanz. Dabei werden wir nicht mitmachen. ({7}) Ich komme zum Schluss. Wir sagen: Lassen Sie die Tricksereien. Lassen Sie uns sachlich diskutieren. „Sachlich“ heißt, gemeinsam die Weichen zu stellen: für die Fortsetzung der Energiewende, für einen schnellen Atomausstieg und für eine Modernisierung der Netze. Die Ideen sind vorhanden. Lassen Sie uns gemeinsam vorgehen, statt Legenden über die Argumente der anderen zu spinnen. Das ist nicht die Politik, die Sie machen sollten. Vielmehr geht es darum, eine Lösung der Energiefrage zu finden, statt sich gegenseitig ideologisch anzumachen. Wir sollten eine sachliche Diskussion führen. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr war es das Wort „alternativlos“, das unsere Debatten bestimmt hat. ({0}) In diesem Jahr scheint es das Wort „Akzeptanz“ zu sein. Wir diskutieren, wenn es um das Thema Kernenergie geht, aus guten Gründen über Akzeptanz. Wir diskutieren am heutigen Tage auch über Akzeptanz, wenn es um andere Themen geht: um CCS, um Standorte von Windkraftanlagen, um Pumpspeicher und um Netze. Am Schluss werden wir irgendetwas akzeptieren müssen. Man muss in aller Klarheit sagen: Es kann doch nicht sein, dass wir so tun, als könne man in diesem Land gegen alles sein. Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, dass Sie mit Legenden aufhören wollen. ({1}) Ich bitte Sie, bei dieser Gelegenheit nicht gleich neue Legenden zu bilden. Sie haben nämlich gerade so getan, als sei die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, darauf ausgerichtet gewesen, die Kernenergie ad ultimum, also ewig, zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr allerdings etwas anderes beschlossen. Wir haben die Energiewende fortgeschrieben und sie an die Realität angepasst. Wir haben gesagt: Wir wollen den Ausstieg aus der Kernenergie - ganz klar -, aber für den Umstieg auf erneuerbare Energien brauchen wir Zeit und Geld. ({2}) Jetzt sind wir in einer anderen, schwierigeren Situation. Denn egal, wie man das Ganze sieht: Wir werden jetzt Zeit und Geld brauchen, und zwar nicht für den Ausstieg, ({3}) sondern für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Die Kernenergie wird uns diese Zeit nicht mehr verschaffen, und sie wird auch weder über den Fonds noch über die Brennelementesteuer das benötigte Geld einbringen. Insofern sind wir in einer schwierigen Situation. Deshalb ist es geraten, einen breiten energiepolitischen Konsens zu suchen. Man erreicht den Konsens aber nicht dadurch, dass man die Bundesregierung als Marionette der großen Stromkonzerne und Verweigerer beim Netzausbau diffamiert, wie es in dem von Ihnen vorgelegten Antrag zu lesen ist. ({4}) - Herr Hempelmann, Sie lachen darüber. Sie haben offenbar nicht im Detail gelesen, was die Kollegen von den Grünen geschrieben haben. Sie haben nämlich geschrieben, dass die Bundesregierung seit Jahren den Netzausbau verweigert. Damit kann nicht der amtierende Bundesumweltminister oder der Wirtschaftsminister gemeint sein; vielmehr ist mit hoher Wahrscheinlichkeit insbesondere Herr Gabriel gemeint. Insofern ärgert es mich, dass ich jetzt die Empörung der SPD herbeireden muss. Ich habe gedacht, sie kommt von selbst. Denn Sie müssten sich doch darüber aufregen, dass die Grünen wieder einmal versuchen, es sich in der Opposition ganz leicht zu machen. ({5}) - Aber wer ist sonst mit „seit Jahren“ gemeint? Wenn man über das Thema Verweigerung spricht, dann kann man nicht so tun, als könnte man die Bürgerinitiativen, die man selber unterstützt - ich denke an die IG „Vorsicht Hochspannung“ in Oldenburg und Diepholz, die von den Grünen unterstützt wird -, einfach beiseitewischen. ({6}) - Lieber Herr Kollege, gleich folgt die Vereidigung des Ministers. Bei dem Kommen und Gehen ist es ohnehin schwierig, zu reden, weil einem nicht die nötige Aufmerksamkeit zuteilwird. Ich bitte um Verständnis. Normalerweise bin ich sehr offensiv, was das Thema angeht, aber nicht jetzt. Ich schlage Ihnen stattdessen vor - das ist eine Aufforderung à la Trittin -: Sie sollten als Grüne in keiner Form, weder sitzend, stehend, singend noch tanzend, gegen diese Leitungen demonstrieren. Das wäre ein Signal aus der grünen Ecke. ({7}) Wir alle wissen - zumindest das kann ich als Konsens bezeichnen -, dass der Netzausbau ein Nadelöhr beim Aufbau der Versorgung durch erneuerbare Energien darstellt. Ich sage noch einmal deutlich: Ich will dem Erneuerbare-Energien-Gesetz nichts absprechen; wir haben es damit geschafft, Kapazitäten aufzubauen. Beim Strom geht es aber um etwas anderes, nämlich um die Versorgung. Dabei liegen wir noch recht weit zurück. Dafür müssen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz noch einmal novellieren, gerne auch im Konsens, und Marktnähe schaffen. Wir müssen die Netze ausbauen und Speicher zur Verfügung stellen. Das hat man eben nicht von Anfang an ins Visier genommen. Das schlägt uns gegenwärtig zeitlich ins Kontor. Auch das darf man deutlich sagen. Die Kapazitäten, die dadurch entstehen, sind zu begrüßen. Aber die fluktuierende Einspeisung ist ein Problem, das man nur durch intelligente Lösungen in den Griff bekommt. Die Netze sind ein Teil des Ganzen. Wir haben in Deutschland 36 000 Kilometer Hochspannungsleitungen. Das ist offenkundig zu wenig. Wir können gerne eine akademische Debatte darüber führen, ob wir 1 500, 3 600 oder 4 500 Kilometer zusätzlich brauchen. Aber wenn wir im Durchschnitt 20 Kilometer im Jahr bauen, dann brauchen wir für die 1 500 Kilometer - ich lege explizit Ihre Zahl zugrunde - 75 Jahre. Das kann doch nicht das Ziel sein. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle miteinander über unseren Schatten springen müssen. Dabei geht es um Naturschutzregelungen, Planungsrecht und selbstverständlich auch um den Föderalismus. Sie wissen, dass ich als bayerischer Abgeordneter gerne die Fahne des Föderalismus hochhalte, damit sich andere Bundesländer unsere bayerischen Erfolge zum Vorbild nehmen können. Aber in dieser Sache wird sich der eine oder andere Ministerpräsident nicht nur von uns, sondern auch von Ihnen bewegen müssen. Wir brauchen eine bundeseinheitliche Regelung, da die Stromleitungen die Grenzen der Bundesländer überschreiten. Es geht darum, einheitliche Genehmigungsverfahren zu finden, die Verfahren zu beschleunigen sowie Bürokratie und Blockaden abzubauen. An dieser Stelle ist eine Bundesfachplanung notwendig. Ich appelliere leidenschaftlich für eine kraftvolle Unterstützung im Bundesrat. Ich bin gespannt, welche Ausreden wir zu hören bekommen, wenn es zum Schwur kommt. ({8}) Beim Thema neue Speicher hat uns der Kollege Pfeiffer sehr eindrucksvoll vorgerechnet, wie weit wir hier zurückliegen. Auch da bedarf es zusätzlicher Anstrengungen. Wir werden diesbezüglich erste Ansätze im Rahmen des EEG finden müssen. Noch einmal ganz deutlich: Wenn uns das nicht gelingt, was wir uns vorstellen, dann sind wir in einer ernsten Bredouille. Wir werden die Kohlekraftwerke in diesem Land länger laufen lassen und zusätzliche Gaskraftwerke bauen müssen, um die fluktuierende Einspeisung auszugleichen. Dabei ist die Akzeptanz der Bevölkerung wichtig. Ich bitte Sie herzlich, hier nicht nur Schaufensteranträge zu formulieren und Schaufensterreden zu halten, sondern uns, wenn es darauf ankommt, in geeigneter Art und Weise zu unterstützen. Vielen herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5762 an die in der Tagesordnung aufgePräsident Dr. Norbert Lammert führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Eidesleistung des Bundesministers für Gesundheit Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er heute gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Rainer Brüderle, und den Bundesminister für Gesundheit, Herrn Dr. Philipp Rösler, aus ihren Ämtern als Bundesminister entlassen und Herrn Dr. Philipp Rösler zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Herrn Daniel Bahr zum Bundesminister für Gesundheit ernannt hat. Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid. Ich darf Sie, Herr Bahr, zur Eidesleistung zu mir bitten. ({0}) Ich darf Sie, Herr Bundesminister, bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die übernommene Aufgabe.

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Da ich die Glückwünsche nicht nur persönlich, sondern im Namen des ganzen Hauses übermittelt habe, ist es nicht zwingend erforderlich, dass nun jedes Mitglied dieses Hauses jeweils noch einmal einzeln seine Glückwünsche überbringt. ({0}) Ich rege deshalb an, dass nach Aufruf des nächsten Tagesordnungspunktes der neue Minister am Rande oder außerhalb des Plenarsaals zur Entgegennahme weiterer persönlicher Glückwünsche zur Verfügung steht. Ich möchte im Übrigen bei dieser Gelegenheit gern auch dem ausgeschiedenen Bundesminister Rainer Brüderle im Namen des Hauses für seine Tätigkeit in der Bundesregierung danken. ({1}) Für die neue Aufgabe habe ich ihm heute Morgen schon alles Gute gewünscht, nicht aber seinem Nachfolger in diesem Amte, nämlich dem Amt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Herr Minister Rösler, auch Ihnen alle guten Wünsche des ganzen Hauses für die übernommene neue Aufgabe! ({2}) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 f sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: 29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze - Drucksache 17/5708 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({3}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Privilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms - Drucksache 17/5709 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Standpunkts der Union im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien im Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4 und 5 der Verordnung ({5}) Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten einschließlich Bestimmungen über die Mitwirkung an den von der Agentur eingeleiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge und Personal - Drucksache 17/5710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6}) Auswärtiger Ausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine wirkungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon - Drucksache 17/5389 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton Schaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen - Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern - Drucksache 17/5516 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss f) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE 19. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE vom 6. bis 10. Juli 2010 in Oslo, Norwegen - Drucksache 17/4453 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten aufnehmen - Verantwortung des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes Deutschland wahrnehmen - Drucksache 17/5758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({11}), Marieluise Beck ({12}), Volker Beck ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU - Drucksache 17/5771 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({14}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hier handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf. Hier geht es um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 17/5264 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) - Drucksache 17/5564 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Barthel Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5564, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5264 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der großen Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 30 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung gewerberechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/5312 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16}) - Drucksache 17/5795 Präsident Dr. Norbert Lammert Berichterstattung: Abgeordnete Christine Scheel Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5795, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5312 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen - Drucksache 17/5707 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({17}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch, sodass wir offensichtlich so verfahren können. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem rechtzeitig eingetroffenen Staatssekretär Hans-Joachim Otto.

Hans Joachim Otto (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001666

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes ist ein beispielgebendes Erfolgsmodell. Im Monopolzeitalter zuvor waren noch überteuerte Tarife und rückständige Technik die prägenden Bilder. Mit nur einem, zudem staatlich beherrschten Diensteanbieter wäre die Erfolgsgeschichte der Digitalisierung und des Internet jedenfalls nicht so rasch denkbar gewesen. Erst die Öffnung des Marktes und der Wettbewerb brachten Dynamik, Innovationsschübe und Hunderttausende neue Arbeitsplätze. Die Preise für Telekommunikationsleistungen sind seit der Liberalisierung bei rasant steigender Qualität um rund 90 Prozent gesenkt worden. Wo sonst kann man das schon beobachten? Das Ziel von Gesetzgebung muss nun sein, diesen Erfolgspfad sogar noch auszubauen. Der technologische Fortschritt erfordert immer größere Bandbreiten. Gleichzeitig benötigen wir aber auch - das betone ich ganz klar - einen flächendeckenden Zugang zum Breitbandnetz. Beide Ziele erreichen wir durch eine weitere Stärkung des Wettbewerbs, durch die Setzung von Innovationsanreizen und durch verbesserte Kooperationsmöglichkeiten. Dies, meine Damen und Herren, sind die Kernpunkte des heute hier zu beratenden Gesetzentwurfs. Die TKGNovelle beschleunigt die Umsetzung unserer Breitbandstrategie. Die letzten weißen Flecken werden durch Kombination aller verfügbaren Technologien geschlossen und noch in diesem Jahr mit mindestens 1 Megabit pro Stunde versorgt. Glasfaser, DSL, TV-Kabel, Funkund Satellitentechnik greifen ineinander und ergänzen sich. So sind in den vergangenen Monaten gut 40 000 Haushalte zusätzlich angeschlossen worden - pro Monat, wohlgemerkt. Zusätzlich flankieren wir die Schließung der weißen Flecken mit unserem Best-Practice-Breitbandwettbewerb für Kommunen und mit dem Breitbandbüro des Bundes. Der Rollout des LTE-Netzes hat begonnen. Durch die Versteigerungsauflagen gehen unterversorgte Gebiete beim Ausbau vor. Auch das weitere Ziel, bis zum Jahr 2014 75 Prozent aller Haushalte mit mindestens 50 Megabit pro Stunde zu versorgen, ist damit überaus realistisch und übrigens in einzelnen Bundesländern jetzt schon erreicht worden. Die Vollversorgung mit Hochleistungsnetzen ist dann nur noch ein kleiner Schritt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wettbewerb, gestützt durch eine unabhängige und professionelle Regulierungsbehörde, hat die bisherigen Erfolge ermöglicht. Jedes etwaige Abwürgen des Wettbewerbs würde den Breitbandausbau bremsen und Arbeitsplätze und Innovationskraft kosten. Wer wohlfeil nach Universaldiensten oder gar einer Verstaatlichung ruft, kann Unternehmen und Kommunen auch gleich direkt auffordern, gar nichts mehr zu tun und gar nichts mehr zu investieren. Zu Recht, meine Damen und Herren, gibt daher auch die EU einen Wettbewerbskurs vor. Sie wird jeden Eingriff in diesen und auch in die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur ahnden. Ich erinnere alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Zusammenhang an die Aufhebung des rechtswidrigen § 9 a TKG. Das sollte uns dauerhaft eine Mahnung sein. Unser Gesetz wird die Möglichkeiten zur Nutzung bestehender Infrastrukturen und zu Kooperationen verbessern. Die damit verbundenen Synergien und der clevere Technologiemix sind der Weg zum flächendeckenden Ausbau, den wir alle wollen. Wir erhöhen Planungssicherheit für Unternehmen und führen investitionsfreundliche Regulierungsgrundsätze ein. Die erheblichen Verbesserungen im Bereich des Verbraucherschutzes stärken Vertrauen und Rechtssicherheit, und auch das ist ganz wichtig. ({0}) Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf erwartungsgemäß konstruktive Beratungen in den zuständigen Ausschüssen. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Martin Dörmann für die SPD-Fraktion. - Die maßvolle Verblüffung lässt sich mühelos erklären. Üblicherweise folgt einem Vertreter der Regierung ein Vertreter der Opposition. Bei aller Bedeutung des Telekommunikationsgesetzes: Es ist nicht so außerordentlich, dass wir von dieser bewährten parlamentarischen Praxis abweichen müssten. ({0})

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst im Namen der SPD-Bundestagsfraktion die Gelegenheit nutzen, den beiden ernannten Ministern sehr herzlich zu ihrem neuen Amt zu gratulieren. Ich hoffe im Interesse unseres Landes, dass sie eine gute Hand bei der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben walten lassen. Speziell für den Wirtschaftsausschuss darf ich hinzufügen, dass wir uns bei Herrn Brüderle für die konstruktive Zusammenarbeit sehr herzlich bedanken. Wir gehen davon aus, dass auch mit seinem Nachfolger eine solche Zusammenarbeit gepflegt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserer Informationsgesellschaft nimmt die Bedeutung der Telekommunikation und insbesondere des Internets täglich zu. Darauf muss die Politik konsequent reagieren. Die aktuellen Herausforderungen liegen auf der Hand: Erstens. Wir benötigen mehr Verbraucherschutz, etwa vor Kostenfallen, unseriösen Anbietern oder ärgerlichen Warteschleifen. Zweitens. Wir brauchen eine gesetzliche Absicherung der Netzneutralität. Die Innovationskraft des Internets muss erhalten bleiben. Diskriminierungen müssen von vornherein verhindert werden. Drittens. Wir brauchen vor allem eine flächendeckende Versorgung mit schnellem Internet. Es darf nicht sein, dass viele Menschen in ländlichen Regionen von der Teilhabe am technologischen Fortschritt abgehängt werden. Die anstehende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ist eine hervorragende Gelegenheit, in all diesen Fragen einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Sie ist notwendig geworden, weil es einen neuen EU-Rechtsrahmen gibt, der von den Mitgliedstaaten national umzusetzen ist. Viele Vorgaben der EU zielen in die richtige Richtung und werden von uns deshalb ausdrücklich begrüßt. Ich nenne als Beispiel die Verbesserungen beim Verbraucherschutz oder auch Anreize zu mehr Breitbandinvestitionen. Insgesamt reichen diese Vorschläge aber bei weitem nicht aus, um den Herausforderungen wirklich gerecht zu werden. Leider, sehr geehrter Herr Kollege Otto, hat sich die Bundesregierung im Wesentlichen darauf beschränkt, die europäischen Vorgaben umzusetzen. Was ich vermisse, ist, dass eigene Impulse gesetzt und weitergehende Konzepte vorgelegt werden. Wir müssen unter dem Strich leider feststellen: Dieser Gesetzentwurf ist kein großer Wurf, sondern in weiten Teilen eher ein Dokument verpasster Chancen. Ich will Ihnen nur ein konkretes Beispiel nennen. Die Bundesregierung gibt selbst vor, dass Netzneutralität auch für sie ein wichtiges Anliegen ist. Dann kann man aber auch erwarten, dass sich das im Gesetzestext niederschlägt. Es ist aber an keiner Stelle des Gesetzestextes selbst das Wort „Netzneutralität“ erwähnt; das muss man erst einmal zustande bringen. Der bloße Hinweis auf Transparenzvorschriften reicht bei weitem nicht aus. Übrigens, selbst die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission Forschung und Innovation hat den Entwurf deshalb als völlig unzureichend kritisiert. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits eigene Anträge zur gesetzlichen Absicherung der Netzneutralität und für besseren Verbraucherschutz vorgelegt. Ein dritter Antrag, und zwar zum Breitbandausbau, folgt in der nächsten Sitzungswoche. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass bei dem Gesetzgebungsverfahren, also unter anderem bei den weiteren Beratungen in den Ausschüssen, der TKGEntwurf deutlich verbessert wird. Greifen Sie dabei unsere Vorschläge auf. Der größte Handlungsbedarf ergibt sich aus unserer Sicht auch weiterhin beim Breitbandausbau. Schnelles Internet für alle muss endlich flächendeckend realisiert werden. In immer mehr Lebensbereichen wird die Anbindung an das Internet inzwischen vorausgesetzt - sei es in der Schule, im Beruf, bei der Kommunikation zwischen den Menschen oder auch bei Freizeitaktivitäten. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass noch immer zahlreiche Kommunen keinen angemessenen Breitbandanschluss haben. An vielen Stellen klafft leider eine große Lücke zwischen den Ankündigungen der Bundesregierung und ihren Maßnahmen. So musste die Bundesregierung selbst einräumen, dass ihr Ausbauziel 2010 verfehlt wurde, übrigens weit deutlicher, als es der gerne zitierte Breitbandatlas aussagt; denn der leidet an systematischen Mängeln und bildet die Wirklichkeit in Deutschland nicht ab. Herr Otto, Sie sagen, zwischen 75 Prozent und 100 Prozent Verwirklichung des 50-Megabit-Ziels klaffe nur eine kleine Lücke. ({0}) Das ist eine Verkehrung der Tatsachen; denn Sie wissen, dass die letzten 25 Prozent die teuersten sind. Deshalb glaube ich, dass die Bundesregierung an Realitätsverlust leidet. ({1}) Dort, wo inzwischen Erfolge vorzuweisen sind, sind diese keineswegs auf die Beschlüsse der schwarz-gelben Koalition zurückzuführen. Ich will daran erinnern: Es war der damalige Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier, der im Zusammenhang mit dem zweiten Konjunkturpaket überhaupt erst für die Verabschiedung einer Breitbandstrategie gesorgt hat. Sehr geehrter Herr Otto, in deren Folge kam es dann zur Umsetzung der Digitalen Dividende, die Sie jetzt immer gerne zitieren; das heißt, bei der Frequenzversteigerung wurden Ausbauverpflichtungen zur Schließung der weißen Flecken festgelegt. Auf dieser Grundlage bauen die Mobilfunkunternehmen das mobile Breitband nun mit der neuen, modernen LTETechnologie aus, mit der im ersten Schritt Bandbreiten von wahrscheinlich 3 bis 5 Megabit pro Sekunde realisiert werden. Nach deren Ankündigung können wir davon ausgehen, dass das etwa im Jahre 2012 flächendeckend umgesetzt sein wird. Die Erfahrung lehrt allerdings auch, dass man mit Ankündigungen vorsichtig sein muss. Um vielleicht verbleibende vereinzelte Lücken tatsächlich zu schließen, macht es aus meiner Sicht deshalb durchaus Sinn, durch eine entsprechende Universaldienstverpflichtung eine Grundversorgung gesetzlich abzusichern. Die neuen EUVorgaben sehen ohnehin vor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, einen funktionalen Internetzugang als Universaldienst festzulegen. Dies setzt die Bundesregierung ja auch um. Aber die EU eröffnet den Mitgliedstaaten darüber hinaus auch die Möglichkeit, zusätzlich eine feste Bandbreite als Universaldienst festzulegen. Einige EU-Länder haben davon bereits Gebrauch gemacht. Allerdings sind die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Höhe der Bandbreite nicht völlig frei. Eine Universaldienstverpflichtung bedeutet einen erheblichen Eingriff in den Markt. Deshalb hat die EU bestimmte Kriterien vorgegeben: Erstens. Wettbewerbsverzerrungen müssen so weit wie möglich vermieden werden. Zweitens. Die Ausgestaltung des Universaldienstes muss technologieneutral erfolgen. Drittens. Die maximale Bandbreite in den Mitgliedstaaten kann nicht beliebig festgelegt werden. Sie hat sich daran zu orientieren, welche Bandbreite von der Mehrheit der Nutzer tatsächlich verwendet wird. Nach Einschätzung des Branchenverbandes VATM und auch der Bundesnetzagentur sind das heute Bandbreiten von etwa 2 bis 6 Megabit pro Sekunde, also solche Bandbreiten, die durch den LTE-Ausbau realisiert werden können. Was aber europarechtlich auf keinen Fall zulässig ist, wäre ein Universaldienst mit höheren Bandbreiten, der neuerdings in einem Positionspapier der Unionsfraktion vorgesehen ist. Zu Recht hat dieses Papier deshalb in der Fachwelt heftiges Kopfschütteln ausgelöst. Es ist offenkundig, dass sich die Wirtschaftspolitiker der Union nicht einmal mit den rechtlichen Voraussetzungen für ihre Vorschläge auseinandergesetzt haben. Ich denke, auch dadurch wird die fehlende Ernsthaftigkeit der Regierungskoalition bei diesem Thema dokumentiert. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben einer Breitbandgrundversorgung brauchen wir eine dynamische Entwicklung. Der Bedarf an höherer Bandbreite wird auch weiterhin stark wachsen - alleine schon wegen der wachsenden Zahl der Nutzer und neuer Anwendungen. Unser Ziel als stärkste Wirtschaftsnation in Europa kann nur sein, auch bei der Breitbandinfrastruktur spitze zu sein. Wir fordern die Regierungskoalition deshalb auf: Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben konsequent! Unterlegen Sie Ihre Ausbauziele durch wirksame Maßnahmen! Berufen Sie beispielsweise unverzüglich einen nationalen Breitbandgipfel mit den Ländern und Kommunen ein; denn wir brauchen ein abgestimmtes Vorgehen, sowohl im Hinblick auf die Verbesserung der planungsrechtlichen Voraussetzungen als auch bei der Abstimmung von Förderprogrammen. Selbstverständlich setzen wir in erster Linie auf faire Wettbewerbsbedingungen und auf gute Investitionsmöglichkeiten für die Unternehmen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen. Seit ihrem Amtsantritt haben wir von der schwarz-gelben Bundesregierung noch keine wirklich neuen und eigenen Impulse für den Breitbandausbau gesehen. Die haben andere gesetzt. Das Internetzeitalter braucht aber keine Politik mit der Geschwindigkeit einer Schnecke. Bitte satteln Sie endlich das Rennpferd. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/ CSU-Fraktion.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist offensichtlich der Tag der Netze. Erst haben wir über die Stromnetze verhandelt. Jetzt debattieren wir über die Datenautobahn, also die Breitbandnetze. Die Bundesregierung hat uns den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen zur Diskussion im Deutschen Bundestag vorgelegt. Herr Dörmann, Sie haben gesagt, dieser Gesetzentwurf sei kein großer Wurf. Er ist aber auf jeden Fall ein dicker Wurf. 178 Seiten sind zu behandeln; diese 178 Seiten enthalten teilweise sehr schwierige juristische Klauseln. ({0}) Mit diesem Gesetzentwurf sollen zwei Richtlinien der Europäischen Union umgesetzt werden, nämlich die Änderungsrichtlinie „Bessere Regulierung“ und die Änderungsrichtlinie „Rechte der Bürger“. Der deutsche Gesetzgeber ist also jetzt beauftragt, diese Regelungen in nationales Recht umzusetzen. Dieser Gesetzentwurf enthält im Prinzip zwei große Teile. Der erste Teil befasst sich hauptsächlich mit den Regulierungsgrundsätzen und den Rahmenbedingungen für den Wettbewerb. Der zweite Teil beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Verbesserung der Verbraucherrechte. Bei den Regulierungsgrundsätzen geht es im Groben um Anreize und um bessere Bedingungen für einen flächendeckenden Breitbandausbau. Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen, auch Herr Dörmann hat von der Notwendigkeit und der Wichtigkeit gesprochen, mit dem flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland schnell voranzukommen. Bei dem Teil zum Verbraucherschutz ist das wesentliche Ziel, dass der Verbraucher sich in dem immer spezielleren Markt der Telekommunikationstechniken zurechtfinden kann und dass er vor diversen Modellen des Abzockens von Kunden geschützt wird. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die kostenlosen Warteschleifen, die wir in diesem Hause - es gab ja einen Antrag der SPD-Fraktion ({1}) schon einmal diskutiert haben, an den Wechsel von einem Anbieter zu einem anderen Anbieter innerhalb eines Tages, an die Preistransparenz bei Call-by-Call-Tarifen und wesentliche Punkte mehr. Hier geht es also darum, die Verbraucherrechte zu schützen und in diesem Markt die Transparenz zu erhöhen. Lassen Sie mich aber noch einmal zum Breitbandausbau kommen; denn das ist wirklich der wesentliche Teil. Wir erhoffen uns, dass der Breitbandausbau in Deutschland mit diesem Gesetz eine noch höhere Beschleunigung erhält, um damit auf größere Geschwindigkeiten zu kommen. Schauen wir es uns doch einmal an. Die Breitbandstrategie wurde in der Großen Koalition entworfen. Das ist natürlich nicht bloß die Idee eines SPD-Ministers gewesen, wie Sie es dargestellt haben, Herr Dörmann. Vielmehr hat die Bundeskanzlerin die Breitbandstrategie der Öffentlichkeit vorgestellt. ({2}) - Wenn man in einer Koalition ist, muss man schon sagen: Es war die Koalition, die die Breitbandstrategie entworfen hat. Das sind natürlich ehrgeizige Ziele gewesen, gar keine Frage. Wenn man sich keine ehrgeizigen Ziele setzt, muss man sich nicht wundern, wenn man nicht vorankommt. Angesichts der Zahlen muss man ganz einfach dem Argument widersprechen, es sei in den letzten Jahren nichts passiert. ({3}) Das stimmt einfach nicht. Deutschland ist aus dem Mittelfeld gekommen. Es war ja auch Ausgangspunkt der Breitbandstrategie, dass wir festgestellt haben: Wir sind nur im Mittelfeld; wir wollen an die Spitze. - Wenn man sich die Zahlen anschaut, kann man konstatieren: Im Jahr 2010 sind fast 98,5 Prozent der deutschen Haushalte mit einer Bandbreite von mindestens 1 Megabit an das Breitbandnetz angeschlossen. Wir sind uns heute einig: Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es muss noch mehr werden. Aufgeschlüsselt sehen die Zahlen so aus: 93,3 Prozent der Haushalte verfügen über Anschlüsse mit mehr als 2 Megabit pro Sekunde; 81,6 Prozent der Haushalte stehen schon 6 Megabit pro Sekunde zur Verfügung; 67,6 Prozent 16 Megabit pro Sekunde, und 35,6 Prozent der Haushalte in Deutschland stehen Bandbreiten von über 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung. Das ist erst einmal eine riesige Leistung. Das muss man sagen; denn dahinter steckt ja auch noch ein enormes Investitionsvolumen. Dass seit 2006 pro Jahr ungefähr 6,5 Milliarden Euro jährlich in die entsprechende Infrastruktur investiert wurden, ungefähr die Hälfte von der Telekom, die andere Hälfte von den privaten Wettbewerbern, halte ich schon für eine sehr große Leistung. Das ist letztendlich auch der Grund dafür, dass wir in diesem Bereich mittlerweile zur europäischen Spitzengruppe gehören. Meine Damen und Herren, es ist klar, dass jeder, der noch keinen Anschluss an das Breitbandnetz hat, sagt: Eure Zahlen nützen mir gar nichts. Selbst wenn ihr 99,5 Prozent erreicht habt, ich selber aber nicht angeschlossen bin, ist das Ziel noch nicht erreicht. - Genau darum geht es ja: Wir brauchen eine hundertprozentige Abdeckung. Nun geht es um das Thema: Wie kann man das erreichen? Sollte man das, wie Herr Dörmann vorschlug, über die Verpflichtung zur Universaldienstleistung erreichen? Ich bin der Meinung, wir können das im freien Wettbewerb erreichen, indem wir alle zur Verfügung stehenden Technologien einsetzen. Aus meiner Sicht gibt es nicht gute und schlechte Technologien - darüber wird ja immer heftig diskutiert -, sondern Funk-, Satelliten- und Glasfasertechnik bieten ebenso wie alte Kupferleitungen im Prinzip die Möglichkeit, einen Breitbandanschluss herzustellen. Insofern muss man jetzt darüber reden: Wie erreichen wir eine hundertprozentige Abdeckung? Diese Aufgabe ist, wie ich glaube, politisch zu lösen. Hierzu gibt es verschiedene Modelle. Ich finde nicht, dass man einen Breitbandgipfel mit den Kommunen durchführen muss. Die Instrumente, die seitens der Bundesregierung schon eingeführt wurden, wie zum Beispiel die Erstellung eines Breitbandatlas, reichen nämlich völlig aus. Anhand des Breitbandatlas ist sehr genau nachweisbar, wo welche Anschlüsse vorhanden sind. Vor allen Dingen kann man auch feststelAndreas G. Lämmel len, welche Fortschritte in Deutschland erzielt werden. Das ist ja eigentlich auch das Wichtige, dass wir den Bürgern unseres Landes deutlich machen: Die Entwicklung schreitet unablässig fort. ({4}) Nun müssen allerdings - auf diesen einen Punkt möchte ich noch zu sprechen kommen - die Firmen zum Beispiel beim Ausbau von LTE, also dem schnellen mobilen Internet, erst einmal liefern. Das heißt, die Deutsche Telekom, Vodafone und andere müssen jetzt beweisen, dass diese Technik in der Lage ist, das zu leisten, was wir uns vorstellen. Wenn sie das leistet - davon bin ich überzeugt -, dann ist diese Funktechnologie wirklich ein guter Weg, um eine flächendeckende Versorgung mit dem mobilen Internet relativ schnell zu erreichen. Meine Damen und Herren, unsere Fraktion ist der Auffassung, Wettbewerb ist der beste Garant dafür, dass wir vorankommen. Wettbewerb ist auch der Garant dafür, dass die Preise für die Verbraucher günstig sind. Mit unserem Gesetz werden wir die Rechte der Verbraucher und ebenso den Wettbewerb beim Ausbau von Breitband-Internetanschlüssen stärken. ({5}) Herr Dörmann, die Fachpolitiker der Koalition und der Opposition sind ja nicht wirklich weit auseinander. Deshalb denke ich, dass es zu einem guten Gesetzgebungsverfahren kommt. Letztendlich wird es eine Neufassung des Telekommunikationsgesetzes geben, die Deutschland einen wirklichen Fortschritt bringt und dafür sorgt, dass wir in den nächsten Jahren Spitzenreiter auch in diesem Bereich in Europa werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast die Hälfte aller Verbraucherinnen und Verbraucher klagt über Probleme im Bereich Telefon und Internet. Die finanziellen Einbußen der Verbraucherinnen und Verbraucher, zum Beispiel durch unerbetene Anrufe, überhöhte Handyrechnungen und teure Warteschleifen, sind enorm. Ich frage Sie: Wer von Ihnen hat unerbetene Telefonanrufe oder überhöhte Handyrechnungen noch nicht erlebt? Deswegen fordern wir als Linke schon lange: Abzocke und Datenklau auf dem Telekommunikationsmarkt müssen endlich ein Ende haben. ({0}) Denn die Telekommunikationsbranche gehört zu denjenigen Branchen, bei denen bei den Verbraucherzentralen der größte Beratungsbedarf besteht. Beliebteste Opfer von unseriösen Geschäftspraktiken sind Jugendliche und ältere Menschen. Vor diesem Hintergrund war der Gesetzentwurf der Bundesregierung längst überfällig. Ich habe nur erhebliche Zweifel daran, dass der Gesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, die Probleme lösen wird. Aus unserer Sicht enthält dieser Gesetzentwurf noch viel zu viele Lücken und Schlupflöcher. Ein Beispiel dafür sind die Warteschleifen. Wir als Linke fordern, dass Warteschleifen und Störungshotlines komplett kostenfrei zu stellen sind, ganz egal, wo oder von wo ich anrufe. ({1}) Zugleich müssen die Warteschleifen zeitlich begrenzt werden; denn wer will schon Ewigkeiten mit Dudelmusik am Telefon verbringen? Hier bietet der Gesetzentwurf leider noch keine zeitliche Obergrenze. Nach wie vor werden Verbraucherinnen und Verbraucher mit überhöhten Handyrechnungen abgezockt. Wir als Linke fordern hier klare Preisobergrenzen und Preisinformationen; denn das, was bisher für das Festnetz gilt, soll aus unserer Sicht jetzt auch für Handys eingeführt werden. Doch was macht die Bundesregierung? Sie macht das glatte Gegenteil: Die wenigen Vorgaben, die es bisher gab, werden gestrichen, und stattdessen soll das Problem auf dem Verordnungswege gelöst werden. ({2}) Ein anderes Beispiel ist der bessere Schutz vor Kostenfallen im Internet. Wer kennt es nicht, dass die Einkäufe im Internet intransparent sind? Wir finden, es muss klar erkennbar sein, was ein Kauf im Internet kostet. Deswegen erneuern wir unsere Forderung nach Einführung eines Internetbuttons. ({3}) Schließlich fordern wir als Linke eine wirksame Aufsicht für den Telekommunikationsmarkt. Herr Lämmel, dieser Punkt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass der Wettbewerb nicht alle Probleme löst. Es gibt immer wieder Beispiele für Geschäftsmodelle, auch von Telekommunikationsunternehmen, die komplett auf unseriösen Geschäftspraktiken beruhen. Hier sollte die Bundesnetzagentur aus unserer Sicht deutlich präventiver tätig sein können. ({4}) Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist der Datenschutz. Der Datendiebstahl beim Elektronikkonzern Sony hat uns erneut vor Augen geführt, dass persönliche Daten unzureichend geschützt sind und dass sensible Kundendaten nach wie vor viel zu leicht in unbefugte Hände geraten. Der Gipfel war: Wer sich bei Sony telefonisch über den Verbleib seiner Daten informieren wollte, dem wurde eine kostenpflichtige Hotline angeboten. Das ist wirklich der Gipfel der Unverschämtheit. ({5}) Auch bei einem anderen Punkt bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung leider unzureichend: Es gibt nach wie vor die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Das ist aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßig, und auch eine Regelung zur Netzneutralität sucht man in diesem Gesetzentwurf vergeblich. Meine Damen und Herren, was uns die Koalition hier vorgelegt hat, entspricht verbraucherpolitischen Anforderungen nicht. Wieder einmal ist die Koalition zu sehr vor den Interessen der Wirtschaftslobby eingeknickt. ({6}) Was wir brauchen, sind konsequente Maßnahmen; denn das Ergebnis der digitalen Welt dürfen weder der gläserne Mensch noch geschröpfte Kundinnen und Kunden sein. Die Linke hat zu beiden Themen Anträge vorgelegt, und wir empfehlen den Vertreterinnen und Vertretern der Koalition, hier noch einmal nachzulesen und diesen Gesetzentwurf im Verfahren noch weiter zu verbessern. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgaben europäischer Richtlinien zur Telekommunikation um. Das ist aus unserer Sicht erst einmal begrüßenswert und dringend notwendig, weil wir bessere Rahmenbedingungen brauchen, um mehr Wettbewerb zu erreichen, und den Verbraucherschutz stärken müssen. Leider haben Sie aber nur die Mindestanforderungen aus Brüssel umgesetzt. Wir sehen beim Verbraucherschutz, beim Datenschutz, beim strikten Ausschluss anlassloser Vorratsdatenspeicherung, beim nachhaltigen und seriösen Breitbandausbau und bei der gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität Verbesserungsbedarf. ({0}) Zum Breitband. Die Novellierung hat das Ziel, die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen wettbewerbskonformen Breitbandausbau und Investitionen in Netze der nächsten Generationen zu verbessern. Es ist eine der größten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, die digitale Kluft zu überwinden. Es sind leider immer noch zu viele Regionen vom Internet abgekoppelt. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind nur 93 Prozent der Haushalte mit Breitband versorgt. Selbst in einem Land wie Bayern, das sich als Hochtechnologieland präsentiert, sind noch immer rund 130 Gemeinden - ich rede nicht von Aussiedlerhöfen, sondern auch von Gemeinden mit mehreren Tausend Einwohnern und von Stadtgebieten - unzureichend ans Internet angeschlossen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass sich die Bürgerinnen und Bürger insgesamt nicht ausreichend informieren können und manche Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufgaben im Vergleich zu denen aus anderen Ortsteilen, die einen Internetanschluss haben, nicht vernünftig erledigen können. Wir sehen, dass es für Unternehmen und Selbstständige, für Architekten und Steuerberater, Nachteile geben kann und damit die Abwanderung aus ländlichen Gebieten und der demografische Wandel dort verstärkt werden. Es kann nicht sein, dass die Abwanderung aus ländlichen Gebieten durch fehlende Anschlüsse forciert wird. ({1}) Wir haben einmal über eine Vorlage diskutiert, nach der Ende 2010 ein Etappenziel bei der Versorgung mit Breitbandanschlüssen erreicht werden soll. Sie haben dieses Ziel nicht erreicht. Jetzt heißt es: Bis 2015, spätestens bis 2018, sollen alle Haushalte mit Anschlüssen mit einer Bandbreite von mindestens 50 Megabit pro Sekunde versorgt sein. Wir wissen nicht, wie das erreicht werden soll und woher die Gelder dafür kommen sollen. Es wäre interessant, wenn wir das demnächst erfahren würden. Der Vorschlag der Union, die Verpflichtung eines Universaldienstes mit einer Bandbreite von 16 Megabit pro Sekunde ins Gesetz zu schreiben, ist aus unserer Sicht sowohl juristisch als auch wirtschaftspolitisch mehr als fragwürdig. Die Kosten der Umsetzung dieses Vorschlags müssten nach geltendem EU-Recht von der öffentlichen Hand getragen werden. Wie will die Regierung die Mittel in Höhe von 40 Milliarden Euro, die gemäß Ihrer Vorlage entstehen würden - das ist Ihre Vorstellung -, aufbringen? Sie haben die Chance vertan, den Ausbau mit den Erlösen aus der Versteigerung der Funkfrequenzen im letzten Jahr schneller zu finanzieren. Das Geld ist irgendwo im Haushalt verschwunden, so wie manches bei Ihnen verschwindet. ({2}) Jedenfalls hat man das Geld nicht so verwendet, wie es hätte sein sollen. ({3}) Wir finden auch: Die Politik sollte nicht darum feilschen, wer den Menschen in den ländlichen Gebieten mehr Bandbreite verspricht. Vielmehr geht es darum, sinnvolle Lösungen zu suchen. Dabei geht es auch um die Technik, die vor Ort eingeführt werden soll. Anstatt die Wirtschaft mit irgendwelchen Schnellschüssen zu verunsichern, sollten Sie die offenen Fragen beantworten. Die grüne Fraktion hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem geprüft werden soll, ob und unter welchen Bedingungen ein Universaldienst finanziell und rechtlich möglich ist und welche Kosten überhaupt entstehen würden. ({4}) Wir haben also jetzt die Hausaufgaben gemacht, die wir eigentlich von Ihnen erwartet hätten. ({5}) Sie setzen nicht die notwendigen Akzente beim Breitbandausbau. Der Bundesrat hat in seiner aktuellen Stellungnahme Zweifel daran erhoben, ob die gesetzten Ziele allein über Vorschriften erreicht werden können. Wir verstehen nicht, warum die Bundesregierung die meisten Änderungsvorschläge des Bundesrats bislang abgelehnt hat. Aber es kann sein, dass sich das im Verlauf der Diskussion noch verändert. Ein weiteres wichtiges Thema wurde von der Kollegin vorhin angesprochen: kostenlose Warteschleifen. Es ist schön, dass es bald endlich kostenlose Warteschleifen gibt. Wir fordern das übrigens schon seit Jahren. Die Kollegin Nicole Maisch ist schon seit Jahren hinterher, dass man in diesem Bereich weiterkommt. „Keine Leistung - keine Kosten“ heißt hier die Devise. Aber warum brauchen wir eine Übergangsfrist von zwölf Monaten? Das ist technisch überhaupt nicht notwendig. Es ärgert die Leute ohne Ende, dass Sie das Ganze weitere zwölf Monate nach hinten schieben wollen. ({6}) Kommen wir zu den verpflichtenden Preisansagen bei Call-by-Call-Anrufen. Bei Call-by-Call-Anrufen haben sprunghafte Preiserhöhungen in der Vergangenheit zu erheblichen finanziellen Schäden geführt. Es gibt Aussagen, dass es innerhalb eines Telefonats Preissteigerungen von bis zu 1 000 Prozent gegeben hat. Es ist eine Unverschämtheit, dass in den letzten Jahren diesbezüglich nichts passiert ist. Wir wissen schließlich, dass RotGrün im Jahre 2005 die Preisansagepflicht beschlossen hatte, dann aber an der CDU/CSU und der FDP im Bundesrat gescheitert ist. Nun wollen Sie die Unternehmen per Rechtsverordnung zur Preisansage verpflichten. Das reicht uns nicht. Wir wollen, dass die Pflicht zur Preisangabe in das TKG aufgenommen wird. Dann wäre es klar und sauber geregelt. ({7}) Wir wollen auch, dass der Datenschutz ernster genommen wird. Der Schutz unserer Privatsphäre in der Zukunft ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wir wollen ferner, dass die Netzneutralität, die für die bisher praktizierte grundsätzliche gleichberechtigte Übertragung aller Daten im Internet steht, ernsthaft gelebt wird. Jedoch planen große Telekommunikationsunternehmen, bestimmte Dienste gegen Aufpreis - zum Beispiel Fernsehen via Internet - zu beschleunigen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Offenheit des Internets als Grundlage von demokratischen Prozessen auf dem Spiel stehen kann. Das muss man in den Fokus nehmen; darauf muss man aufpassen. Das heißt: Auch die Netzneutralität muss als Regulierungsziel in diese Novelle aufgenommen werden. ({8}) Ein Gedanke noch zu den Änderungen für die Radiound Fernsehübertragung. Es geht nicht an, dass durch einen möglichen Frequenzwiderruf zusätzliche Kosten für die Radiosender entstehen. So wie das TKG im Moment ausgestaltet ist, entsteht bei einem Widerruf der UKWZuteilungen allein beim Bayerischen Rundfunk ein Kostenrisiko von 8 Millionen Euro; bei den privaten Radiosendern sind es 10 Millionen Euro. Diese Summen gehen dann für Investitionen in das Programm verloren. Deswegen möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle eine Korrektur anzustreben, damit wir auch im Sinne der Radiosender eine bessere Lösung bekommen. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal zur Linken und zu Ihnen, Frau Lay: Die Linke war schon immer ein Spezialist für das Thema Telekommunikation. Sie war allerdings zu DDR-Zeiten mehr für die Überwachung von Telefonen zuständig. ({0}) Jetzt stellen Sie sich hier als diejenigen dar, die die Vorratsdatenspeicherung bekämpfen wollen. ({1}) Das machen Sie zudem noch an falscher Stelle; denn das gehört hier gar nicht hinein. Das ist verwunderlich. Ob das intelligent ist, ist eine andere Frage. Man muss Sie immer wieder darauf hinweisen, wo Sie herkommen. ({2}) Ich glaube, das ist ganz wichtig. Denn die Neigung besteht, dies im Laufe der Zeit zu vergessen. ({3}) Wenn Sie mich jetzt weiter provozieren, ({4}) sage ich Ihnen auch noch, dass es in der DDR für zehn Haushalte nur einen Telefonanschluss gegeben hat. Das ist sozialistische Telekommunikationspolitik. In dieses Stadium wollen wir sicherlich nicht wieder zurückfallen. ({5}) Der geschätzte Staatssekretär Otto hat völlig recht: Die Liberalisierung des Marktes hat viel bewegt und auch viel Positives bewirkt. Trotzdem bleibt noch das eine oder andere, das wir im Rahmen einer solchen Novellierung geradeziehen müssen. Geschätzte Kollegin Scheel, ich hätte mich gefreut, wenn Sie die verbraucherpolitischen Ansätze ein bisschen mehr gelobt und weniger die Details kritisiert hätten. ({6}) Es ist doch wichtig, dass die Warteschleifen künftig kostenlos sind und die Unterbrechung des Anschlusses wegen der technischen Umstellung bei einem Festnetzanbieterwechsel auf einen Kalendertag beschränkt ist. Es ist doch gut, dass wir sagen: Bei einem Umzug gibt es ein Sonderkündigungsrecht für den Fall, dass man den Vertrag, so wie man ihn abgeschlossen hat, aufgrund der fehlenden Leistung am anderen Ort nicht fortsetzen kann. Was gibt es denn da zu kritisieren? ({7}) Im parlamentarischen Verfahren werden wir noch das eine oder andere, gerne auch im Konsens, einbringen, beispielsweise die Forderung, dass ein Vertrag erst dann wirksam wird, wenn das durch den jeweiligen Kunden in Textform bestätigt wurde. Es gibt im Telekommunikationsbereich die Unsitte, dass man angerufen wird und - egal wer am Telefon ist - anschließend ein Bestätigungsschreiben bekommt und sich dann dagegen wehren muss, dass der Vertrag auf einen anderen Anbieter umgestellt wird. Solche Fragen kann man im Gesetz aus meiner Sicht relativ schlank klarstellen, weil es ein Bestätigungsschreiben sonst nur im kaufmännischen Miteinander gibt. Warum soll es das im Bereich der Telekommunikation aufgrund der Kraft des Faktischen geben? Es ist richtig und wichtig, dass wir bei der tatsächlichen Geschwindigkeit von Breitbandanschlüssen mehr Transparenz schaffen. Hier gibt es oft große Unterschiede zwischen dem, was man vertraglich vereinbart hat, und dem, was man am Ende erhält. Das ist auch für unsere Diskussion über den Universaldienst wichtig. Jetzt gehe ich auf das juristische Argument ein, das Sie, Herr Dörmann, gebraucht haben. Von der Darstellung her ist es völlig richtig, dass wir uns auf das beziehen müssen, was 50 Prozent der Menschen nutzen. Aber wir beziehen uns dabei auf die Zahlen, die wir vom Bundeswirtschaftsministerium bekommen, und nicht auf die Zahlen vom vatm. ({8}) - vatm, haben Sie vorhin in Ihrer Rede gesagt. Da müssen Sie sich schon die Frage stellen: Cui bono? Warum behaupten die so etwas? Ich nehme die Zahlen, die der Kollege Lämmel gerade vorgelesen hat. Bundesweit waren Ende 2010 für 98,5 Prozent aller Haushalte Bandbreiten mit bis zu 1 Megabit verfügbar, für 93,3 Prozent Bandbreiten mit bis zu 2 Megabit, für 81,6 Prozent mit bis zu 6 Megabit, für 67,6 Prozent mit bis zu 16 Megabit und für 35,6 Prozent mit bis zu 50 Megabit. Ich wollte eigentlich über ganz andere Dinge reden; aber wenn das hier thematisiert wird, erkläre ich das gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dörmann? Dann könnten Sie das gleich mit erklären.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlich gerne, wenn es an dieser Stelle reinpasst.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Kollege Nüßlein, ist Ihnen der Unterschied bekannt zwischen der theoretischen Verfügbarkeit bestimmter Bandbreiten, worauf sich der Breitbandatlas bezieht, und der tatsächlich verwendeten Bandbreite, die sich auf die konkret abgeschlossenen Verträge bezieht? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass sich die europarechtlichen Vorgaben nicht nach den Kriterien des Breitbandatlasses ausrichten, sondern nach der tatsächlich verwendeten Bandbreite und insofern Ihre Aussage falsch ist? ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben den Schluss nicht abgewartet. Die Verfügbarkeit, die ich hier beschreibe, mündet natürlich in absehbarer Zeit in die Anwendung dieser Bandbreiten. Das Problem ist doch, dass wir nichts Statisches haben. Das ist übrigens beim gesamten Ausbau das Problem. Es ist nicht so einfach, wie seinerzeit die DDR mit Festnetztelefonie zu versorgen. Das Ganze ist ein dynamischer Prozess, in dem sich die Bandbreiten weiterentwickeln oder Neuerungen hinzukommen und in dem das Breitband von heute die Schmalspur von morgen sein wird. Ich möchte noch einmal deutlich machen, was wir unter Universaldienst verstehen und was im Übrigen auch die EU unter diesem Thema versteht. Wir glauben nicht, dass es sich um ein Instrument für einen Rollout von null handelt. Es geht uns darum, die Angelegenheit zu einem guten Abschluss zu führen, so wie es auch die EU vorsieht. Insofern, Herr Kollege Otto, ist das kein Thema, das man in die Ecke der Verstaatlichung und des Sozialismus verweisen muss. Stattdessen muss man sagen: Gegen das absehbare Marktversagen benötigen wir ein Instrument. Meine Vorredner haben ganz klar gesagt, dass es am Ende etliche geben wird, die außen vor sind. Dazu sage ich ganz offensiv: Ich werde mir hinterher nicht vorwerfen lassen, dass Hintertupfingen oder das letzte Forsthaus - davon ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede - nicht versorgt sind. Das kann nicht sein. Der ländliche Raum hat einen Anspruch auf Versorgung. Wir sehen aber, dass durch den Wettbewerb nicht sichergestellt werden kann, dass der ländliche Raum bis zum letzten Haushalt versorgt wird. Warum sollen die Unternehmen das denn tun, obwohl sie wissen, dass sie damit kein Geschäft machen können? Deshalb sieht die EU dieses Instrument vor, und wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir es ausgestalten wollen. Darüber wird man im Deutschen Bundestag doch wohl noch diskutieren können. ({0}) - Langsam. Wenn es darum geht, die letzte Lücke zu schließen, muss das nicht die öffentliche Hand zahlen. Der Universaldienst ist entsprechend auszugestalten; das wissen Sie offenkundig ganz genau. ({1}) - Nein. Das ist durch ein Umlagesystem möglich. Das wissen Sie doch. Ich sage ganz klar: Wenn jemand eine bessere Idee hat, wie man mit diesem Marktversagen umgehen und die Sache regeln kann, dann sind wir dem aufgeschlossen. Aber ich höre seit Jahren nur, was in diesem Land alles nicht geht. Das zeichnet auch andere Debatten aus. Dazu sage ich ganz offensiv, dass ich auch vom Bundeswirtschaftsministerium eine bessere Beschreibung dessen erwarte, was wir tun wollen. Wenn es ein klares Marktversagen gibt, dann können wir nicht sagen: Der Liberalismus steht über allem. Wenn wir andere Instrumente in den Blick nehmen, bitte ich darum, die Bedenken nicht überhandnehmen zu lassen. Wir haben gesagt, dass wir Synergien heben wollen, damit das Ganze billiger wird. Wir wollen einen gesetzlich geregelten Zugriff auf die Infrastruktur Dritter; beispielsweise wollen wir den Zugriff auf die Infrastruktur der Energieversorger sicherstellen, aber auch auf die Infrastruktur des Bundes. Lieber Andi Scheuer, es kann doch nicht sein, dass mir ein Beamter aus dem Bundesverkehrsministerium schreibt, da gebe es wesentliche Sicherheitsbedenken oder was auch immer. Wenn man dafür kein Instrument findet, sondern nur die Bedenken vor sich her trägt, dann sind diese Ansätze letztendlich nicht ausreichend und dann bin auch ich an dem Punkt, an dem ich frage: Was dann? An diesem Punkt des Themas Breitband müssen wir nacharbeiten. LTE ist ein respektabler Ansatz, weist in die richtige Richtung, wird unser Problem auf bestimmte Zeit sicher lösen, wird uns auch ein wenig Luft verschaffen; aber ich bin nicht schlüssig, ob das für alle gelten wird. Am Ende werden ein paar übrig bleiben, die auch durch LTE im Wettbewerb nicht problemlos angeschlossen werden können. Am Ende wird man sehen müssen, ob sich diese Funktechnologie wirklich so weiterentwickelt, dass die Bandbreiten mitwachsen. Unser Problem wird doch nicht dadurch gelöst, dass man sagt - ich nehme die Bandbreiten, die vorhin genannt worden sind; ich selber kann das nicht beurteilen -: Das flache Land erhält jetzt 6 Megabit über LTE, und die Städte bekommen 50 oder 100, und das war es dann. - Dann sind wir wirklich an dem Punkt, den die Kollegin Scheel vorhin beschrieben hat. Dann muss das Architekturbüro oder das IT-Unternehmen vom Land in die Stadt ziehen. Das wäre ein falsches Signal. Breitband birgt die große Chance, Strukturdefizite zwischen Stadt und Land auszugleichen und zu nivellieren. Deshalb bitte ich darum, nicht nur Pro und Contra, nicht nur Plus und Minus des Universaldienstes zu sehen und nicht die eine Seite gegen die andere auszuspielen. Wir sollten uns gemeinsam darauf verständigen, dass wir um eine angemessene Versorgung des flachen Landes ringen und gleichwertige Verhältnisse schaffen, wie es in Art. 87 f unseres Grundgesetzes steht. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rita Schwarzelühr-Sutter für die SPD-Fraktion. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Telekommunikationsgesetzes will die Bundesregierung eine ganze Reihe längst überfälliger Verbesserungen im Verbraucherrecht angehen. Endlich wird sie aktiv; allerdings sehen wir noch einen erheblichen Verbesserungsbedarf. Nach einer Umfrage der Verbraucherzentrale steht knapp der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger nach Vertragsabschluss mit einem Internetanbieter nicht die Internetgeschwindigkeit zur Verfügung, die vorher zugesagt wurde. Die tatsächlich gelieferte Leistung liegt meist deutlich unter der in der Werbung versprochenen Geschwindigkeit. Ist das eine bewusste Fehlinformation? Der Verbraucher braucht Preiswahrheit und Preisklarheit. Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass Sie die Anbieter laut dem vorliegenden Gesetzentwurf nur verpflichten wollen, den Verbraucher über eine bestimmte Mindestleistung zu informieren. Wie sehr diese Mindestleistung von der beworbenen Leistung tatsächlich abweichen darf, soll der Anbieter allerdings selbst entscheiden können. Ich finde, das ist nicht ausreichend. Das machen die Internetanbieter im Übrigen zum Teil sowieso schon. Die angegebenen Mindestgeschwindigkeiten liegen dann in der Regel bei 40 bis 50 Prozent der beworbenen Internetgeschwindigkeit. - Herr Nüßlein, Ihre Aussagen zum Universaldienst wundern mich, wenn ich sie mit dem vergleiche, was vorher Herr Lämmel gesagt hat. Sind Sie sich in Ihrer eigenen Partei jetzt einig, oder diskutieren Sie noch über die Strategie? ({0}) Wir begrüßen die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen zum Anbieterwechsel. Natürlich darf eine Dienstleistung nur für einen Tag unterbrochen werden, und in einer Informationsgesellschaft sollte ein Internetanschluss nicht länger als einen Tag unterbrochen werden. Allerdings muss man sich die Frage stellen, wie eine solche Umstellung innerhalb eines Tages sichergestellt werden soll. Denn effektive Sanktionsmechanismen für den Fall, dass ein Telekommunikationsanbieter sich bei der Umstellung des Anschlusses mehr als einen Tag Zeit lässt, sieht Ihr Gesetzentwurf überhaupt nicht vor. Es bedarf sicherlich keiner hellseherischen Fähigkeiten, um jetzt schon sagen zu können, dass ein Verbot ohne effektive Sanktionen ein zahnloser Tiger bleiben wird. ({1}) Herr Brüderle hat vollmundig erklärt, dass Probleme beim Anbieterwechsel nun der Vergangenheit angehören. Durch das, was Sie in dem Gesetzentwurf vorsehen, werden die Probleme beim Anbieterwechsel aber sicherlich nicht gelöst. ({2}) Es ist naiv, auf die freiwillige Einhaltung der Regeln durch die Unternehmen zu setzen. Wir brauchen einen Schadensersatzanspruch des Verbrauchers gegenüber dem Anbieter. Das muss dann auch im Gesetz stehen. Im Übrigen sollte die Kündigung eines Vertrages unbedingt in Schriftform erfolgen müssen; denn nur so kann Missbrauch durch die Diensteanbieter effektiv verhindert werden. Zu einer ungewollten Auflösung eines Internetvertrages kommt es dann zum Beispiel nicht. Ebenso reicht es nicht aus, bei einem Umzug den Verbrauchern ein Sonderkündigungsrecht für den Vertrag nur dann zuzugestehen, wenn die vertraglich zugesicherte Internetgeschwindigkeit am neuen Wohnort nicht angeboten werden kann. Bei einem Umzug sollte es unserer Meinung nach ein generelles Sonderkündigungsrecht für die Verbraucher geben. Viele ältere Menschen lösen zum Beispiel ihre Wohnung auf und ziehen in eine Pflegeeinrichtung. Warum sollen sie drei Monate lang für einen Vertrag zahlen, obwohl sie keine Leistung erhalten? ({3}) Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist das Thema Telefonwarteschleife sicherlich eines der wichtigsten, die durch den Gesetzentwurf geregelt werden sollen. Es ist gut, dass die Warteschleifen bei 0180- und 0900-Servicenummern für den Verbraucher künftig kostenfrei sein sollen oder nur ein Festpreis pro Anruf fällig sein soll. Nach unserer Meinung müssten auch Störungsmeldungen oder Anrufe in Gewährleistungsfällen grundsätzlich kostenfrei sein. Ich denke nur an die Vulkanaschewolke. Was war das für ein Chaos; die Servicenummern waren ständig besetzt. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, warum bei diesem für die Verbraucherinnen und Verbraucher so wichtigen Punkt eine so lange Übergangszeit gelten soll. Selbst der Bundesrat schlägt eine Übergangszeit von sechs Monaten vor und hält dies für ausreichend. Wenn die Bundesregierung sich schon daranmacht, mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes den Verbraucherinnen und Verbrauchern endlich mehr Rechte zuzugestehen, dann sollte sie ihre Regelungen auch konsequent zu Ende entwickeln und nicht auf halber Strecke stehen bleiben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Ende. - Ein Anliegen ist mir auch, eine Verbesserung im Telekommunikationsgesetz im Sinne der Notfallpatienten mittels einer genauen Ortung durch Rettungsdienste zu erreichen. Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie in unseren Antrag. Dann sehen Sie, was bei Ihnen noch fehlt. Das wäre für die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich ein echter Gewinn. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht vielleicht etwas unter, aber heute legen wir als christlich-liberale Koalition einen Meilenstein für den Verbraucherschutz vor; ({0}) denn dieses Telekommunikationsgesetz wird endlich Abzocke beenden, Bürokratie abbauen und viele Vorgänge für die Verbraucher vereinfachen. Es reicht nicht, wenn man sich hier hinstellt und sagt, was man alles gerne hätte. Ich erinnere daran: Telefonische Warteschleifen gibt es nicht erst, seit wir an der Regierung sind. Die gibt es schon länger. ({1}) Wer zwölf Jahre in diesem Bereich nichts getan hat, kann sich jetzt nicht hier hinstellen und sagen, dass alles zu langsam geht. ({2}) Wir lassen hier wichtige Verbesserungen wahr werden. Ein Anbieterwechsel muss jetzt innerhalb eines Tages möglich sein. Das heißt, das Problem der wochenDr. Erik Schweickert lang toten Telefonleitungen, das viele Verbraucher, aber auch Unternehmen hatten, wird der Vergangenheit angehören. Viele haben einen Wechsel gescheut. Sie haben gesagt: Das ist schwierig, nachher stehe ich ohne Telefon da. - Wenn ein solches Wechselhindernis besteht, dann wird nicht gewechselt. Deswegen sagen wir: Hier muss es eine Sanktionsmöglichkeit geben. Die ist jetzt vorhanden; denn wenn es mit dem Anbieterwechsel nicht klappt, gibt es die Möglichkeit, wieder auf das zurückzugehen, was man hatte. Das ist eine klare Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir beschleunigen auch die Chancen, dass überhaupt gewechselt wird. Denn wenn wir die Telekommunikationsunternehmen dazu verpflichten, Varianten in einem Tarif anzubieten, der maximal zwölf Monate gilt, kann schneller gewechselt werden, und die ellenlangen Klebeverträge gehören endlich der Vergangenheit an. Wenn wir schon bei den Wechselhürden sind: Wenn man viele Bekannte hat, wird die Rufnummer heute oftmals nicht gewechselt, weil man Angst hat, dass man Hunderten von Leuten die neue Handynummer geben muss. Dabei handelt es sich um eine sogenannte nicht ökonomische Wechselhürde. Das wird im TKG ebenfalls geändert. Jetzt kann man auch während der Vertragszeit seine Handynummer portieren bzw. mitnehmen. Man muss zwar weiterhin zahlen, bis der Vertrag endet; denn man ist ja ein Geschäft eingegangen. Aber dass man die Nummer mitnehmen kann, ist eine große Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({3}) Wenn Sie heute umziehen, haben Sie erstmals ein Sonderkündigungsrecht, wenn die vereinbarte Leistung am neuen Wohnort nicht angeboten wird. Ich frage mich: Wer hat denn damals die Gesetze gemacht, als es dieses Sonderkündigungsrecht nicht gab? Daran sehen Sie, dass es schon einen Unterschied macht, ob hier in Deutschland eine christlich-liberale Koalition regiert oder nicht. ({4}) Wir helfen nicht nur beim Umzug und beim Kampf gegen die Abzocke, sondern wir schaffen auch Transparenz bei den Abrechnungen. Wenn Leistungen Dritter über die Telefonrechnung abgerechnet wurden, wusste man oftmals nicht, wofür man die 2 oder 3 Euro bezahlen musste, die in der Rechnung enthalten waren. Ab sofort ist für den Verbraucher klar erkennbar, wer hinter dieser Leistung steckt. Das heißt, man kann überprüfen, ob die Leistung überhaupt in Anspruch genommen worden ist, und kann im Reklamationsfall viel schneller agieren. Ich komme zur Transparenz. Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter, ich meine, dass die Informationspflicht Transparenz schafft. Wir schreiben jetzt fest, dass genau angegeben werden muss, welche DSL-Geschwindigkeiten verfügbar sind. Von daher ist das schon eine deutliche Verbesserung im Vergleich zum jetzigen Stand. Ich komme zu dem in meinen Augen wichtigsten Bereich, den kostenfreien Warteschleifen bei Servicehotlines. Jeder von Ihnen kennt es: Das ist nicht nur nervenaufreibend. Man könnte das vielleicht gerade noch so akzeptieren, wenn es sich zeitlich im Rahmen halten würde. Es ist aber oftmals ein teurer Warteakt, weil sich Kostenfallen dahinter verbergen. Manchmal ist die Warteschleife deutlich teurer als die Serviceleistung, die man in Anspruch genommen hat. Es ist egal, ob es sich um Telefonanbieter, Kabelanbieter, Pay-TV oder Sonstiges handelt: Wir haben gesagt, dass sich Leistung lohnen muss. Eine Warteschleife, wenn ich irgendwo anklopfe, ist keine Leistung. Deswegen schieben wir dem Geschäftsmodell Warteschleife einen Riegel vor und bringen als christlich-liberale Koalition damit den Verbraucherschutz voran. ({5}) Frau Kollegin Lay, Sie glauben gar nicht, wie viele Leute mir die Tür eingerannt haben, als wir, die FDP, angekündigt haben, den kostenpflichtigen Warteschleifen den Kampf anzusagen. Wir waren diejenigen, die nicht festschreiben wollten, welche Technologie umgesetzt werden muss. Wir sind standhaft geblieben. Wir stehen auf der Seite der Verbraucher und fordern: Diese Abzocke muss ein Ende haben. Wie die Unternehmen das technisch umsetzen - ob durch Offlinebilling oder Onlinebilling -, bleibt ihnen überlassen. Das wird der Wettbewerb entscheiden. Aber ganz klar ist: Wir als christlich-liberale Koalition gehen bei diesem Thema voran. Das Thema Internetabzocke, das Sie angesprochen haben, ist nicht im Rahmen des TKG zu regeln - das wissen Sie genau -, sondern im Rahmen des Fernabsatzgesetzes. ({6}) Dort müssen wir dieses Problem behandeln. Auch darüber werden wir diskutieren. Heute geht es allerdings um das TKG. ({7}) Man sollte dann über ein Thema sprechen, wenn es auf der Tagesordnung steht. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Uns geht es nicht darum, irgendwelche Überwachungsbehörden zu schaffen, die Preise festsetzen und Zeiten regulieren - Stichwort: Kommunikationskombinat -, sondern wir wollen Verbraucherschutz durch Wettbewerb. Dazu leistet dieses Gesetz einen Beitrag. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die Linke. ({0})

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert schon lange Breitband für alle. Daher begrüßen wir die Ziele der TKG-Novelle: erstens die Gewährleistung einer flächendeckenden gleichartigen Grundversorgung mit Telekommunikationsdiensten und zweitens die Beschleunigung des Ausbaus von Hochleistungsnetzen. Leider hapert es an der Umsetzung vonseiten der Bundesregierung. Aufgrund ihrer Marktgläubigkeit ist die Bundesregierung - Sie, Herr Lämmel, haben das bestätigt - bereits am ersten Ziel gescheitert. Die Unternehmen konzentrieren sich auf den profitablen Breitbandnetzausbau in den Ballungsgebieten. Sie stürzen sich auf den gewinnträchtigen Mobilfunk. Wo es sich nicht lohnt, muss dann die öffentliche Hand für die Investitionen aufkommen. ({0}) Die Unternehmen müssen viel stärker in die Pflicht genommen werden. Das Marktversagen dauert hier schon viel zu lange. ({1}) Die Frage gleichwertiger Lebensbedingungen überall in Deutschland hängt ganz entscheidend davon ab, dass es überall einen gleichwertigen Zugang zum Internet gibt. Wenn das nicht gewährleistet ist, kann dies die Abwanderung von jungen Menschen zur Folge haben. Heutzutage kann man sich ohne das Internet nicht mehr bewerben. Das sieht auch Frau Merkel so. Doch Millionen Menschen warten seit Jahren auf zuverlässiges, schnelles Internet. Gleichwertige Lebensbedingungen werden ohne ausreichende Pflichtvorgaben nicht geschaffen. Die digitale Spaltung wird so nicht aufgehoben. Das muss sich ändern. Die Bundesregierung darf in Bezug auf die Schließung dieser weißen Flecken nicht allein auf die mobilen Breitbandversorger hoffen. Mobiles Breitbandinternet wird immer schlechter sein, als es Festnetzverbindungen sind. Außerdem beinhalten die Ausbauverpflichtungen nur eine 90-prozentige vorrangige Deckung der unversorgten Gebiete. Das sind nun einmal 10 Prozent zu wenig. Wir brauchen 100 Prozent. ({2}) Doch selbst das Ende der weißen Flecken reicht nicht aus. Mittelfristig brauchen wir flächendeckend Glasfasernetze. - In Lüchow-Dannenberg liegen die Kabel in den Verteilstellen in den Straßen. Sie sind aber noch nicht bis zu den Häusern verlegt worden; denn hierfür fehlt den Kommunen das Geld. - Nur dann gibt es ausreichende Kapazitäten für neue, datenintensive Anwendungen. Bisher haben in Deutschland nur 1,7 Prozent der Haushalte Glasfaserzugang. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Litauen - da werden Sie staunen - sind es 50 Prozent der Haushalte. Daran wird deutlich: Es ist eine Frage des politischen Willens. ({3}) Wir brauchen endlich den Breitbanduniversaldienst. Damit wären die Internetanbieter verpflichtet, allen Bürgerinnen und Bürgern einen Breitbandanschluss mit einer definierten Mindestqualität und zu erschwinglichen Preisen anzubieten. Damit würde verhindert werden, dass sich Unternehmen nur die Rosinen herauspicken und die dünn besiedelten Gebiete unversorgt lassen. Damit würde ein nachhaltiger Weg eingeschlagen werden; denn ein Universaldienst kann dem Stand der Technik immer wieder angepasst werden. Die Chance, den Breitbandausbau verpflichtend in die Novelle zum Telekommunikationsgesetz aufzunehmen, wurde bisher nicht genutzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, folgen Sie Ihrer Kollegin Ilse Aigner! Setzen Sie sich im Rahmen dieser Novelle für den Breitbanduniversaldienst ein! Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Ende der Debatte drei Feststellungen treffen. Erstens ist festzustellen, dass die Breitbandstrategie der Bundesregierung, mit der wir im europäischen Vergleich ganz oben stehen, richtig und erfolgreich war. Zweitens besteht aber in der Breitbandversorgung eine digitale Kluft insbesondere zwischen Städten und ländlichen Räumen. Diese Diskrepanz müssen wir in den Mittelpunkt des Handelns stellen. Es sind im Übrigen nicht nur ländliche Räume, sondern zum Teil auch städtische Randlagen betroffen. Das müssen wir jetzt in den Blick nehmen. Drittens ist festzustellen, dass die vorliegende umfangreiche TKG-Novelle an die ambitionierten Ziele der Breitbandstrategie anknüpft und wesentliche Verbesserungen im Verbraucherschutz und bei den Regelungen und Instrumenten einer klugen und investitionsfreundlichen Regulierung mit sich bringt. Die bisherigen sogenannten weißen Flecken und auch alle Regionen, die derzeit nur über Internetanschlüsse mit einer Geschwindigkeit im einstelligen MB-Bereich verfügen, müssen wir schnellstmöglich in den Blick nehmen, um hochleistungsfähige Breitbandanschlüsse zu schaffen. ({0}) Zum Stellenwert der Breitbandinfrastruktur für Bürger und Wirtschaft ist bereits viel Richtiges gesagt worden. Es ist auch richtig, was Frau Scheel gesagt hat, nämlich dass im ländlichen Bereich mit Problemen gekämpft wird, die ihre Ursache insbesondere in der demografischen Entwicklung haben und die nicht durch die digitale Kluft verschärft werden dürfen. Zum Teil wird von kleineren Gemeinden ein Aufwand in einer Größenordnung betrieben - die Zahlen belaufen sich teilweise auf fünf- oder sechsstellige Summen -, der manchen größeren Städten im Verhältnis gesehen nicht möglich wäre. Von den Kommunen wird viel geleistet, und es wird auch in Zukunft noch viel passieren müssen. Hier müssen wir aber entsprechend anknüpfen. Deswegen werden wir gerade diese Thematik in den Mittelpunkt stellen. Der Weg zur Erschließung des ländlichen Raumes muss ein Mix aus allen verfügbaren Technologien sein. Die LTE-Technik ist bereits angesprochen worden. Derzeit muss beim Ausbau der LTE-Technik ein Abstand von 30 Kilometern zu unseren Nachbarländern gewahrt werden. Ich rege an, zu prüfen, ob das auf europäischer Ebene behoben werden kann. Dabei geht es um technische, vielleicht aber auch um rechtliche Fragen. Es sind große Bereiche betroffen, die bisher nicht teilhaben können. Ich betone nochmals: Wie kein anderes Land in Europa konnten wir in den vergangenen Jahren die Breitbanddichte und -qualität signifikant steigern. Wie sich der Telekommunikationsmarkt in Deutschland entwickelt, hängt wesentlich von einer umsichtigen und klugen staatlichen Regulierung ab. Die Bundesnetzagentur hat in den vergangenen Jahren sehr gute Arbeit geleistet. Sie ist auch im internationalen Vergleich ein vorbildlicher Regulierer. ({1}) Ich will den Mitarbeitern ausdrücklich Dank sagen. In der Bundesnetzagentur wird gute Arbeit geleistet. Wir müssen uns die Frage stellen, welche Rolle die Regulierung in der sozialen Marktwirtschaft einnimmt. Für die Union und die christlich-liberale Koalition steht hierbei ein Leitsatz ganz oben: Umsichtige Regulierung muss den Marktteilnehmern so viel Freiheit lassen wie möglich und so viel Grenzen setzen wie nötig. Das muss der Leitsatz für Regulierung sein. ({2}) Wir brauchen eine moderne und kluge Regulierungspolitik in der sozialen Marktwirtschaft. Regulierungspolitik sollte Ausdruck zeitgemäßer Gestaltung sozialer Marktwirtschaft sein. Regulieren statt Strangulieren, das muss die Botschaft sein. Was bedeutet das konkret? Es bedeutet die Anwendung wettbewerbs- und investitionsfreundlicher Regulierungsgrundsätze und eine Ausgestaltung des Verbraucherschutzes auf der Höhe der Zeit. Das heißt, die Bürger auch vor Fehlentwicklungen, die schon benannt worden sind, vor Abzocke und Betrug zu schützen, Wettbewerb am Markt und technische Innovationen und technischen Fortschritt zu fördern. Genau bei diesen Punkten setzt die Gesetzesnovelle an. Eine ganze Vielfalt neuer Regelungen hat das Ziel, durch Wettbewerb, Innovation, Investitionen und Investitionssicherheit den Ausbau hoch leistungsfähiger Netze zu fördern. Hierzu gehören insbesondere ein langfristiges Regulierungskonzept - das bringt Investitionssicherheit -, die Berücksichtigung von Kooperationen und anderen Risikobeteiligungsmodellen bei Regulierungsentscheidungen, das Recht der Bundesnetzagentur, exakte Informationen über Art, Lage und Verfügbarkeit von Infrastruktureinrichtungen einzufordern, und - das ist schon angesprochen worden - die ausdrückliche Einbeziehung bereits vorhandener Infrastruktur auf anderen Ebenen wie Leitungen und Masten. Das wird demnächst ermöglicht werden. Es ist gesagt worden, diese Vorlage sei sehr umfangreich. Mit Anlagen und Stellungnahmen sind es 238 Seiten. Es ist natürlich eine sehr technisch geprägte Vorlage in einer sehr technischen Sprache. Ich finde es aber schön, dass man sich auch der Sprache gewidmet hat, dass man beispielsweise Veränderungen bei den Begrifflichkeiten vornimmt. Allein im neuen § 3 des TKG sind 35 Begriffe aufgeführt, die definiert werden. Man führt das Wort „Sprachkommunikation“ ein. Bislang war von Echtzeitkommunikation die Rede. Auch im Kleinen sind also Verbesserungen erzielt worden. ({3}) Wir sprechen also von Sprachkommunikation und nicht mehr von Echtzeitkommunikation. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die christlich-liberale Koalition weiß um den Stellenwert der Telekommunikation im 21. Jahrhundert für die Bürgerinnen und Bürger und für unsere mittelständisch geprägte Wirtschaft. Die neue TKG-Novelle wird ein wesentlicher Baustein dafür sein, dass Deutschland auf dem Gebiet der Telekommunikation bei Innovation und Investitionen, aber auch bei Wettbewerb und Verbraucherschutz weiterhin ganz oben steht. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5707 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Engagementpolitik im Dialog mit der Bürgergesellschaft - Drucksachen 17/3712, 17/5135 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hat nicht zuerst der Antragsteller das Wort?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein. Es ist sozusagen die zweite Lesung. Es ist eine Debatte über die Antworten. Eine Debatte über die Fragen hat es schon gegeben.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann soll es so sein. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehrenamt dir geben! Willst du nicht zu früh ins Grab, lehne jedes Amt gleich ab! Dieses Zitat wird in der Regel Wilhelm Busch, manchmal aber auch Ringelnatz zugeschrieben. Der wahre Autor ist wahrscheinlich unbekannt. Aber ich habe schon oft erlebt, dass Politikerkollegen dieses Zitat bei Grußworten und Vereinsjubiläen gebraucht haben. Diese Aussage stimmt für Deutschland eben nicht. 23 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich und sehen darin eine sinnvolle Betätigung. Sie wollen sich ehrenamtlich, bürgerschaftlich engagieren. Wir schaffen dafür gute und sinnvolle Rahmenbedingungen. Die Menschen, die sich engagieren, sind glücklicher und zufriedener als die, die sich nicht engagieren. Das wissen wir aus der Engagementforschung, insbesondere aus den Freiwilligensurveys. Daher müsste es eigentlich heißen: Willst du froh und glücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben! ({0}) Für den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements sei gesagt: Der Bund kann und soll nicht alles regeln. Wir wollen das bürgerschaftliche Engagement nicht verstaatlichen. Das bürgerschaftliche Engagement findet vor allem auf kommunaler Ebene statt. Darum sind auch die Kommunen und die Länder hier stark gefordert. Ein Teil der Fragen betrifft die sogenannte nationale Engagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisher in Deutschland nicht. Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung die nationale Engagementstrategie erarbeitet hat. Sie enthält Prinzipien und Ziele. Grundsätze werden formuliert und konkrete Maßnahmen aufgeführt. Die Strategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte: Integration, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografischer Wandel und internationale Zusammenarbeit. Diese fünf Punkte bilden die großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Ich glaube, wir haben diese fünf Schwerpunkte richtig gewählt. Die Ziele sind Koordinierung aller Ressorts in der Engagementpolitik, ein Miteinander der Bundesministerien, kein Nebeneinander oder sogar - das gab es noch nie - ein Gegeneinander. Der neue Ressortkreis „Engagementpolitik“ hat am 1. April das erste Mal getagt. Neue Kooperationen zur Engagementförderung, insbesondere mit der Wirtschaft und den Stiftungen: Das Bundesfamilienministerium hat mit dem Bundesverband deutscher Stiftungen eine Steuerungsgruppe für die engagementfördernden Stiftungen bei der Körber-Stiftung ins Leben gerufen. Verbesserung der Rahmenbedingungen, Ausbau der Anerkennungskultur: Es laufen schon die Vorbereitungen zur Vergabe des deutschen Engagementpreises am 3. Dezember 2011 durch Bundesministerin Kristina Schröder, in diesem Jahr auch mit der Sonderkategorie „Engagement von Älteren“. Wir denken an den fünften Altenbericht „Potenziale des Alters“ und an den sechsten Altenbericht „Altersbilder“. Sie sehen, die Ziele werden mit Maßnahmen und Tätigkeiten unterfüttert, und es tut sich etwas. Die Strategie ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesellschaft. Sie ist ein Beitrag zur Stärkung des Miteinanders und zur Förderung des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Die nationale Engagementstrategie zeigt zwei wichtige und positive Entwicklungen auf. Zum einen: Es engagieren sich immer mehr Menschen, 23 Millionen über 16 Jahre alte Menschen in Deutschland. Das ist gut ein Drittel. Und ein weiteres Drittel ist bereit, sich zu engagieren. Aus dem Freiwilligensurvey wissen wir: Es gibt eine Verschiebung, mehr Engagement im Bereich der Älteren, ein etwas reduziertes Engagement im Bereich der Jüngeren. Da spiegelt sich zum einen die demografische Entwicklung wider, zum anderen aber auch das etwas kleinere Zeitbudget der Jüngeren. Denken wir nur an G 8 oder an die gestrafften Studien- und Ausbildungsgänge. Es bleibt festzuhalten: Die nationale Engagementstrategie ist kein abgeschlossener Prozess. Da wurde am 6. Oktober letzten Jahres nicht einfach etwas vom Bundeskabinett beschlossen und dann zur Verehrung freigegeben, sondern das ist ein Prozess, der stattfindet, eine Strategie, die lebt. Deshalb wird auch im Jahr 2011 wieder ein nationales Forum für Engagement und Partizipation einberufen, das die Umsetzung der Strategie begleiten soll. Wir werden auch weiterhin prüfen, inwieweit Themen, die in der Engagementstrategie bisher noch nicht berücksichtigt werden konnten, im Zuge der Umsetzung der Engagementstrategie aufgerufen werden können. Ich möchte jetzt noch auf einen anderen großen Punkt in der Großen Anfrage eingehen, nämlich auf die Freiwilligendienste, insbesondere den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst. Noch nie gab es in Deutschland so viel Geld für Freiwilligendienste. 350 Millionen Euro haben wir bereitgestellt. Wir vom Bund haben früher mit 72 Euro pro Monat die Jugendfreiwilligendienste gefördert. Das war das Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische Jahr und ein bisschen mehr. Künftig werden wir das FSJ mit 200 Euro im Monat fördern. Zusätzlich wird es 50 Euro im Monat für junge Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf geben. Durch das Kopplungsmodell erreichen wir, dass sich beide, die Jugendfreiwilligendienste und der Bundesfreiwilligendienst, gut entwickeln können. 350 Millionen Euro vom Bund - es gab noch nie so viel -, 12 Millionen Euro von den Ländern - das meiste aus Baden-Württemberg und Bayern -, und 8 Millionen Euro kommen noch aus dem Europäischen Sozialfonds dazu. Es gibt noch eine gute Nachricht zum Bundesfreiwilligendienst. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigung führen soll. Wir waren uns alle darüber einig, dass wir die Gesetzeslage noch dahin gehend ändern wollen. Die Kindergeldfrage wird möglichst zeitnah in einem Steuergesetz, in dem man es vielleicht nicht vermutet, nämlich wahrscheinlich im Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz, geregelt werden. Das ist ein Gesetz, in dem man eher keine Regelung zu den Jugendfreiwilligendiensten vermutet. Kollege Koch, wir haben gewettet. Ich würde schon einmal den Wein kaufen, den Sie verlieren werden. ({1}) Wir werden hier die Kindergeldregelung einbringen. Wir schließen damit eine weitere Lücke: Bei den internationalen Jugendfreiwilligendiensten haben wir zum Kindergeld auch eine Regelungslücke, die so nicht zu erklären war und zu vielen Problemen im Einzelfall geführt hat. Auch diese Lücke wollen wir jetzt schließen. Ich bin mir sicher, das bekommen wir hin, und glaube, damit haben sich alle Vorwürfe und Kritikpunkte der Opposition erledigt. ({2}) - Nein? Euch fällt immer wieder etwas Neues ein. Das ist klar. Ich bin auch zuversichtlich, dass wir die offenen Plätze besetzen können: 35 000 Plätze für Jugendfreiwilligendienste, 35 000 Plätze für den Bundesfreiwilligendienst. Das wird sicher nicht gleich zum 1. Juli gelingen. Auch in der Vergangenheit fingen die Jugendlichen ihren Jugendfreiwilligendienst meist nicht zum 1. Juli an, sondern erst zum 1. September. Sie machen vorher erst noch etwas Urlaub, und dann geht es los. Das ist heute schon so, und das wird auch beim Bundesfreiwilligendienst so sein. Wir haben gute Erfahrungen mit der freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes gemacht. Rund 30 000 junge Männer haben ihren Zivildienst freiwillig verlängert. Das hat sehr gut eingeschlagen. Diese Möglichkeit zur freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes hatten Sie als Opposition ja kritisiert, aber wir hatten hier auch in der Koalition gewissen Überzeugungs- und Erklärungsbedarf. Aber das Ergebnis war sehr gut. 14 000 von diesen jungen Männern sind über den 1. Juli hinaus im Dienst und werden dann von freiwillig länger Zivildienst Leistenden zu Bundesfreiwilligendienstleistenden. Am Montag startet die Werbekampagne des Bundes hier in Berlin unter dem Motto „Zeit, das Richtige zu tun - Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden“. Es gibt Anzeigen, Plakate, ein Bus der Linie 100, der auch hier am Haus vorbeifährt, wird beklebt, vielfältige Informationen und Werbungen werden gestartet. Allen jungen Menschen, auch denen hier im Haus, rufe ich zu: Informieren Sie sich! Auf der Homepage www.bundesfreiwilligendienst.de können Sie alle Informationen und alles, was es zu diesem neuen Dienst gibt, abfragen. ({3}) Ich kann mir nur wünschen, dass sich viele ein Jahr ihres Lebens Zeit nehmen, um mal etwas anderes zu tun - für andere, aber auch für sich selber. Solch ein Freiwilligendienst erfüllt und bereichert das Leben. Sie sehen, die Engagementpolitik ist in der christlichliberalen Koalition gut aufgehoben und hat bei unserer Bundesregierung einen sehr hohen Stellenwert. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ute Kumpf für die Fraktion der SPD. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Grübel, Sie können sich vorstellen, dass uns der Bundesfreiwilligendienst als der Schlüssel für alle Problemlösungen nicht genügt. Wir haben die Debatte zu dem Thema bürgerschaftliches Engagement und auch zur Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements hier in diesem Haus auch schon mal umfassender und breiter geführt. Alle, die hier im Haus sind - so denke ich -, wissen, dass unsere Demokratie durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger lebendig ist und bleibt. Ich glaube, dass wir alle eine starke und lebendige Bürgergesellschaft wollen und dass wir wollen, dass Menschen ihre Freiheit nutzen, sich zu organisieren, ihre Meinung zu äußern, sich auch für andere einzubringen, sich in Initiativen und Verbänden für das Gemeinwohl starkzumachen. Darum werden wir von anderen Ländern auch beneidet. Sie erleben ja gerade in anderen Ländern, dass sich viele an diesem Interesse an Demokratie orientieren, sich dafür starkmachen. Ich nenne nur das Stichwort Nordafrika. Aber so weit will ich gar nicht gehen. Wir wissen auch, dass bürgerschaftliches Engagement und die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger füreinander für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen, den der Staat alleine gar nicht leisten kann. Und das, was wir hier im Saal auch immer gesagt haben, auch in den Ausschussdebatten und in der Arbeit in der Enquete-Kommission, ist, dass die lebendige Bürgergesellschaft staatliches Handeln kontrollieren, korrigieren, anspornen und ergänzen soll, aber dass bürgerschaftliches Engagement staatliches Handeln nicht ersetzen kann. Aus Untersuchungen weiß man ganz klar, dort, wo der Sozialstaat seinen Pflichten nachkommt, kann sich erst eine vitale Bürgergesellschaft entwickeln. Wenn er das nicht tut, dann bleibt diese Bürgergesellschaft auf der Strecke. Deswegen brauchen wir hier Demokraten. Eine Demokratie braucht Demokraten, die sich auf gelernte und eben auch gelebte demokratische Tugenden stützen. Deswegen heißt bürgerschaftliches Engagement mehr als Bundesfreiwilligendienst. Bürgerschaftliches Engagement bedeutet Selbsthilfegruppen und politische Partizipation, das klassische Ehrenamt genauso wie das Stiften und Spenden von Geld, aber natürlich auch die Freiwilligendienste. Die Zahlen wurden ja schon genannt: 23 Millionen Menschen engagieren sich in über 550 000 Vereinen, es gibt 17 000 Stiftungen - deren Zahl wächst -, es gibt Genossenschaften, Netzwerke, Wohlfahrtsverbände, Sportund Kulturvereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und viele andere Bereiche, die durch dieses ehrenamtliche Engagement reich gemacht werden. Wir waren uns auch einig seit der Arbeit der EnqueteKommission, dass dieses Engagement der Bürgerinnen und Bürger Anerkennung verdient, Wertschätzung, und dass die Politik die Förderung und die Ermöglichung des bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe verstehen muss. Wir alle wissen - das bekommen auch Sie in Ihren Wahlkreisen zu hören -, dass bürgerschaftliches Engagement nicht verzweckt werden darf. Es darf auch nicht als Ausfallbürge missbraucht werden, wenn Ebbe in der Staatskasse ist. ({0}) Darüber hinaus ist bürgerschaftliches Engagement nicht zum Nulltarif zu haben. Es geht nicht darum, dass die Leute Geld haben wollen, sondern darum, dass es gesetzliche wie auch politische Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement gibt. Die politischen Rahmenbedingungen müssen im Dialog mit der Bürgergesellschaft ausgehandelt werden. Diese Grundsätze, lieber Kollege Grübel - ich bitte um Aufmerksamkeit; der Kollege Riegert war damals Mitglied der Enquete-Kommission „Zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ -, haben wir uns in dieser Enquete-Kommission mühevoll erarbeitet. Herr Riegert, wie ich sehe, haben Sie das entsprechende Papier vor sich liegen - wunderbar. Wir haben sehr viele Aufträge noch nicht abgearbeitet. Wir alle haben uns geschworen, uns diese Aufträge hier noch zur Brust zu nehmen. Den Konsens, den wir durch die Enquete-Kommission, durch die Arbeit seit 2002 im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ und durch viele Gesetze, die seit 2002 auf den Weg gebracht worden sind, erzielt haben, setzt die Bundesregierung mit ihrer nationalen Engagementstrategie aufs Spiel. Sie haben einen schönen neuen Ordner. In diesem Ordner gibt es einen schönen neuen Titel: Engagementstrategie. Inhaltlich verbunden ist damit nichts. Es gibt Listen, es gibt Projekte; aber Sie beantworten unsere Frage danach, welches Leitbild Sie vor Augen haben, wenn Sie bürgerschaftliches Engagement fördern wollen, nicht. Sie beantworten auch nicht die Frage, wie es mit der Infrastruktur, mit Gesetzesvorhaben, wie dem Zuwendungsrecht, sein soll. Man erfährt nicht, wie es mit dem Freiwilligendienst, dem Freiwilligendienst-Statusgesetz und der Entbürokratisierung weitergehen soll. Alle diese Fragen werden nicht beantwortet. Ich denke, das ist misslich und - ich sage es einmal sehr zurückhaltend formuliert - ärgert die Menschen. Die Initiative für das Nationale Forum für Engagement und Partizipation wurde noch in der Großen Koalition auf den Weg gebracht. Es wurde zugesichert, dass alles im Dialog erarbeitet wird, dass die Vorschläge in entsprechende Gesetzesvorhaben einfließen; aber Sie haben dies schlichtweg negiert. Sie haben all die Vorschläge, die mit viel Zeitaufwand, Energie und Fleiß zusammengetragen wurden, links liegen gelassen. Damit wird eine dialogorientierte Politik, die gemeinsam mit der Bürgergesellschaft betrieben wird, ad absurdum geführt. Was Sie bei der nationalen Engagementstrategie außerdem außen vor lassen, ist die Beantwortung der Frage, woher das Geld kommen soll. Auf der einen Seite wird propagiert, dass Netzwerke und die entsprechende Infrastruktur wichtig sind. Aber heimlich werden die Netzwerke ausgetrocknet. Das BBE soll weniger Geld erhalten. Projekte, die zu Zeiten von Rot-Grün auf den Weg gebracht worden sind, sollen gekappt werden. Der Freiwilligendienst aller Generationen, bei dem viele Erfahrungen gesammelt worden sind, soll durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden. Es bleiben Projektruinen. Viel Geld ist verschleudert worden. Daher sind auch die Leute vor Ort nicht mehr bereit, sich in anderen Diensten zu engagieren. Aus der Bürgergesellschaft hieß es: Was wir jetzt erleben, ist eine gewisse Sprunghaftigkeit. Ein Projekt jagt das nächste, immer in der Erwartung von guten Effekten. Das alles ist nicht auf Dauer angelegt. - Deswegen schwindet die Motivation, sich weiter zu engagieren. Kein Konzept gibt es auch bezüglich der Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, was die Engagementstrategie angeht. Der Gesprächskreis am 1. April, auf den Sie hingewiesen haben, genügt uns nicht. Wir wollen an dieser Stelle mehr: Wir wollen verbindliche Rahmenbedingungen. Es gibt auch keine Auskunft über das Zuwendungsrecht, obwohl das schon lange gefordert wird. Fehlanzeige auch bezüglich einer nationalen Engagementstrategie. Es gibt keine vernünftige Konzeption, wie wir damit umgehen, dass unsere Gesellschaft älter, bunter und damit auch reicher wird. Die Älteren wollen mitreden, mitgestalten, mitentscheiden, vielleicht mitprotestieren. Sie wollen nicht auf den Bundesfreiwilligendienst vertröstet werden; vielmehr wollen sie rechtliche Rahmenbedingungen für ihre Teilhabe in der Gesellschaft, vor allem für ihre politische Teilhabe. Demokratie ist kein Schaukelstuhl, wie der Kollege Müntefering festgestellt hat. Er hat gesagt: Es geht nicht nur darum, Altersbilder zu ändern, sondern auch darum, den Älteren in der Gesellschaft gleichberechtigt einen Platz einzuräumen. Das Gleiche gilt für die Migranten: 15,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben einen Migrationshintergrund. 23 Prozent von ihnen engagieren sich bislang. Da liegt noch viel Potenzial brach, das wir erschließen müssen. Es fehlen aber Angaben dafür, wie dieses Potenzial erschlossen werden kann. Um sich bürgerschaftlich engagieren zu können, muss man auch Bürgerrechte haben und braucht man entsprechende gesetzliche Grundlagen, sei es das Wahlrecht auf Kommunalebene oder die doppelte Staatsbürgerschaft. Auch hier: Fehlanzeige! Ganz zum Schluss möchte ich noch zwei wichtige Punkte anführen. Uns alle muss sehr nachdenklich machen, dass die Bertelsmann-Stiftung in der letzten Woche einen Bericht über das Engagement von jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 25 Jahren vorgelegt hat, wonach dieses Engagement von ehemals 51 auf 31 Prozent dramatisch zurückgegangen ist, was dem Leistungsdruck in der Schule und der Einführung des achtjährigen Gymnasiums geschuldet ist. Damit wird Engagement behindert. Genau das Gleiche gilt für die Verschulung des Studiums, wodurch keiner mehr in der Lage ist, sich neben dem Studium in der Hochschule zu engagieren. Zu dieser Entwicklung sagen Sie in der nationalen Engagementstrategie nichts.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich weiß; ich darf noch etwas reden. Ich habe den Kollegen Sönke Rix gebeten, dass ich noch einen weiteren Punkt ansprechend darf, wenn ich mit der Zeit nicht ganz auskomme.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das geht zu seinen Lasten; das haben wir schon ganz kollegial vereinbart.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gut, das geht zu seinen Lasten.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, nämlich den Missbrauch des Ehrenamtes. ({0}) - Nein, nein; ich bin gleich fertig. - Wir selbst haben uns im Unterausschuss ausgiebig damit beschäftigt. Es gibt die Tendenz, dass für Tätigkeitsfelder in bestimmten sozialen Bereichen Stellen ausgeschrieben werden, nämlich 400-Euro-Jobs zuzüglich der Übungsleiterpauschale. Wir alle kennen das Problem und warten auf die Antwort der Bundesregierung - auch im Rahmen der nationalen Engagementstrategie - auf die Frage, wie sie diesen Missbrauch mit entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen unterbinden wird. Das bürgerschaftliche Engagement wird dadurch nämlich diskreditiert, und es wird nicht dafür geworben, dass sich mehr Menschen für die Gesellschaft einbringen, wenn sie ausgenutzt werden und wenn auf diese Weise eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgangen wird. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die Fraktion der FDP. ({0})

Heinz Golombeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004042, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das bürgerschaftliche Engagement gewinnt gravierend an Bedeutung. Das liegt auch an tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen wie dem demografischen Wandel, der höheren Lebenserwartung und der Integration von Migrantinnen und Migranten. Durch das freiwillige Engagement jedes Einzelnen wird daher ein immer wichtigerer Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft geleistet. Der nationalen Engagementstrategie widmet sich die christlich-liberale Koalition mit einer ressortübergreifenden Aufmerksamkeit. Wir sind dabei, die großen Ziele dieser Strategie umzusetzen, weiterzuentwickeln und auszubauen. Eines der großen Ziele ist eine bessere Abstimmung zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund. Durch die Entwicklung neuer Gesetzesvorhaben haben wir es geschafft, die Gestaltungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene zu verbessern. Dabei denke ich zum Beispiel an den Gesetzentwurf zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, wodurch der Erwerb des sogenannten Feuerwehrführerscheins erleichtert werden soll. In Zukunft wird es den freiwilligen Feuerwehren und den Rettungsdiensten ermöglicht, ihre Nachwuchskräfte auf Einsatzfahrzeugen bis 7,5 Tonnen selbst auszubilden und zu prüfen. Wir sichern damit ihre Einsatzfähigkeit; denn mit dem EU-Führerschein der Klasse B dürfen nur Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen gefahren werden. Mit diesem Gesetzentwurf der christlich-liberalen Regierung stärken wir das ehrenamtliche Engagement der vielen jungen Menschen, die bei der Feuerwehr und bei den Katastrophen- und Hilfsdiensten unsere Gesellschaft mit ihrem freiwilligen Einsatz unterstützen. ({0}) Durch den Abbau von Barrieren und die Schaffung von Freiräumen auf kommunaler Ebene steigern wir die Möglichkeit des Einzelnen, einen Beitrag zum bürgerschaftlichen Engagement zu leisten. Im Hinblick auf den eingangs erwähnten demografischen Wandel und die alternde Gesellschaft stehen wir vor neuen generationsübergreifenden Herausforderungen. Unser Ziel ist es, das aktive Altern und die Würde dieser Menschen zu berücksichtigen. Mit dem Programm der Bundesregierung „Alter neu denken - Altersbilder“ stößt die Bundesregierung eine breite Debatte zu den Altersbildern in unserer Gesellschaft an. Langfristig sollen dadurch Kompetenzen und Stärken älterer Menschen in den Vordergrund gerückt werden und Rahmenbedingungen für ein lebenszugewandtes Altern geschaffen werden. Mit bestehenden Infrastruktureinrichtungen wie Seniorenbüros insbesondere im ländlichen Raum ermöglichen wir den vielen älteren Menschen, die sich engagieren möchten, ihre Kompetenzen einzubringen. Räume zu schaffen, in denen sich Alt und Jung gemeinsam bürgerschaftlich engagieren, ist ein ganz wichtiger Baustein zur Sicherung von Teilhabe, von Zugehörigkeit und von Integration. Neben der Integration von Menschen mit Behinderungen zielt die nationale Engagementstrategie auf einen erhöhten Handlungsbedarf bei der Integration von Migrantinnen und Migranten. 18,4 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Um eine gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderinnen und Zuwanderer zu ermöglichen und ein soziales Zusammenleben zwischen ihnen und Einheimischen zu stärken, fördert die Bundesregierung mit dem bundesweiten Integrationsprogramm verschiedene Projekte zur sozialen und gesellschaftlichen Eingliederung. Aus Sicht der FDP müssen die Betroffenen jedoch auch selbst bereit sein, sich den Herausforderungen der Integration zu stellen, ({1}) und diese aktiv zu unterstützen; denn Selbsthilfe als eine der bedeutendsten Engagementformen schafft Hilfe für sich selbst und andere. Unser Ziel ist es, das bürgerschaftliche Engagement stärker öffentlich anzuerkennen; denn Anerkennung ist ein ganz besonders wichtiger Ansatz in der Engagementpolitik und stärkt zudem die Integration. 2010 wurde von der Bundesregierung erstmals eine Integrationsmedaille für Personen mit Migrationshintergrund verliehen, die einen vorbildhaften Beitrag für ein gutes Miteinander geleistet haben. Mit einer nachhaltigen Engagementpolitik schaffen wir es, Brücken zu bauen - Brücken zwischen den Generationen und Kulturen, in der Integrationsarbeit und europaweit. Mich freut es besonders, dass das Jahr 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit erklärt wurde. Wir wollen dieses Jahr 2011 nutzen, um die Rahmenbedingungen für das ehrenamtliche Engagement weiter auszubauen und neue Ideen zu schaffen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wie der Präsident vorhin richtigerweise festgestellt hat, befassen wir uns heute nicht mit der Anfrage, sondern mit den Antworten der Bundesregierung auf die darin gestellten Fragen. Die Anfrage selbst hat von der Fragenseite her das Spektrum der Engagementpolitik weiträumig abgedeckt. Liest man sich dagegen die Antworten der Bundesregierung auf die 70 Fragen durch, stellt man fest, dass teilweise sehr ausführliche, mit Beispielen unterfütterte Antworten gegeben werden. Man stellt aber zugleich kopfschüttelnd fest, dass fast alles sehr oberflächlich und letztendlich unkonkret bleibt. Ich muss schon sagen: Einen nachhaltigen Plan, eine konsistente Strategie zur Stärkung und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements haben Sie offensichtlich nicht. ({0}) Sie verfahren nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr weiterwissen, wird uns schon ein Freiwilligendienst retten. - Ein gutes Beispiel dafür ist die Antwort auf Frage 30. Es geht um die Chancen der Teilhabe von Geringverdienenden und von Menschen mit einfachen Bildungsabschlüssen am Engagement. Sie verweisen in Ihrer Antwort herrlich unkonkret „auf die allgemeinen Maßnahmen der Regierungspolitik“ sowie auf verschiedene Freiwilligendienste. Bürgerschaftliches Engagement ist mehr als Freiwilligendienst. Befreien Sie sich endlich von dieser einseitigen Blickverengung. ({1}) Sie wollen Geringverdienende ja gar nicht aus ihrer prekären Situation herausbringen. Die Linke fordert hingegen die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, ({2}) der in der laufenden Wahlperiode auf 10 Euro pro Stunde erhöht wird und Jahr für Jahr in dem Maße wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen. ({3}) - Ich hoffe, man hört Ihre Zwischenrufe. ({4}) Damit verbunden wollen wir eine deutliche Anhebung des Eckregelsatzes für Hartz-IV-Beziehende auf 500 Euro sowie des Kinderregelsatzes. Mittelfristig brauchen wir eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung. ({5}) Was die sogenannten bildungsfernen Schichten - ein schrecklicher Begriff für mich - anbelangt, treten wir für eine gebührenfreie und gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen ein, unabhängig vom Geldbeutel und vom Bildungsstand der Eltern. Dies fängt an mit gebührenfreier, ganztägiger und hochwertiger Kinderbetreuung. Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, auf diese Weise könnten Sie tatsächlich schon frühzeitig die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit das bürgerschaftliche Engagement stärken. Fangen Sie endlich damit an! Denn Ehrenamt darf keine Frage des Geldbeutels, der Ausbildung oder der Herkunft sein. In der Antwort auf Frage 55 schreiben Sie, dass sich Erwerbslose seltener bürgerschaftlich engagieren. Laut Freiwilligensurvey 2004 sind 27 Prozent aller Erwerbslosen engagiert. Ich finde, das ist schon eine beachtliche Quote. Aber ist Ihnen das Engagement dieser Menschen überhaupt willkommen? Ich glaube nicht, wenn man bedenkt, dass künftig - das sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen - Ehrenamtsentschädigungen wie Erwerbseinkommen behandelt und somit auf die monatliche Regelleistung angerechnet werden sollen. ({6}) Indem Sie möglichst viele Menschen in die Freiwilligendienste drücken wollen, verlieren Sie zudem aus den Augen, dass sich viele zum Beispiel in Erwerbsloseninitiativen engagieren. Sie müssen daher die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement auch außerhalb der Freiwilligendienste stärken. Hier war schon oft von Anerkennung die Rede. Die Anerkennungskultur muss unter anderem durch regelmäßige Berichterstattung in allen Medien, insbesondere den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sowie durch stärkere Nutzung des Internets für Information und aktive Beteiligung gestärkt werden. ({7}) Bürgerschaftliches Engagement muss als wichtige Qualifikation gerade bei Einstellungen im öffentlichen Sektor berücksichtigt werden. Flächendeckende Kompetenznachweise sind deshalb nötig. Das Antrags- und Abrechnungsverfahren für öffentliche Zuwendungen muss einfacher, verständlicher sowie transparenter sein. Weiterbildung von Engagierten hat als Bildungsurlaub zu zählen. Und es müssen kostenfreie Qualifikations- und Fortbildungskurse angeboten werden. Ein weiteres Stichwort möchte ich noch nennen, nämlich Versicherungsschutz während der Ausübung des Ehrenamts. Der Linken ist insgesamt wichtig, dass bürgerschaftliches Engagement nicht reguläre Arbeits- und Ausbildungsplätze verdrängt und dass es nicht Bund, Länder und Kommunen Stück für Stück von der Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben befreit. Um aber Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge erfüllen zu können, müssen Länder und Kommunen dazu auch finanziell in die Lage versetzt werden. Die Linke hat diesbezüglich zahlreiche Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Beispielsweise fordern wir, dass die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer unter Einbeziehung aller unternehmerisch Tätigen weiterentwickelt und eine Vermögensteuer als Millionärsteuer eingeführt wird. Aber nicht nur die Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements auch außerhalb der Freiwilligendienste müssen gestärkt werden, sondern ebenso das Wechselspiel des Engagements mit Familie und Beruf. Hier steht die Bundesregierung völlig blank da. Gesetzliche Initiativen zur Vereinbarkeit von regelmäßigem Engagement mit Familie, Schule, Ausbildung und Beruf sowie Maßnahmen für eine engagementfreundliche Zeitpolitik, zum Beispiel bezogen auf die Arbeitszeiten, plant die Bundesregierung nicht, wie die Antwort auf Frage 16 zeigt. Das ist ein Armutszeugnis. ({8}) Sie betonen immer voller Freude, dass Engagementbereitschaft und Kompetenzbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gewachsen sind. Dann verkünden Sie das doch nicht nur scheinheilig, sondern tragen dem auch politisch Rechnung, indem Sie eine politische Kultur der Beteiligung fördern! Denn die Menschen wollen sich nicht nur im Kleinen engagieren, sondern ebenfalls in der großen Politik und in ihrem Lebensumfeld mitbestimmen. Und sie sind auch fähig dazu. Führen Sie endlich Volksentscheide auf Bundesebene ein! Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Staatssekretär Kues! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ ist natürlich viel umfassender, Herr Koch; es lässt sich nicht auf die Funktion als Ausfallbürge für staatliche soziale Verantwortung reduzieren. ({0}) Sehr viele Menschen engagieren sich - das sage ich als eine, die aufgrund einer solchen Tätigkeit überhaupt erst zu einer Partei gekommen ist - deshalb bürgerschaftlich, weil sie, ob allein oder gemeinsam mit anderen, irgendetwas in ihrem Lebensumfeld verbessern oder verändern wollen. Sie wollen möglicherweise nichts direkt mit etablierten Strukturen zu tun haben. Es gibt sogar viele Ini12348 tiativen, die bewusst auf Staatsgeld verzichten, weil sie nicht staatsnah sein wollen, weil sie kreativ, lebendig und engagiert in ihrem persönlichen Lebensumfeld wirken wollen. Deshalb ist es viel zu kurz gegriffen, wenn Sie in dem bestehenden Diskurs sagen, dass alles ganz furchtbar sei, weil der Staat sich aus der sozialen Verantwortung zurückziehe. ({1}) Sie haben dabei die vielen Menschen nicht im Blick, die sich engagieren wollen, die etwas unternehmen wollen, unabhängig davon, ob es dafür eine Schublade oder einen Kasten gibt. Diese Menschen mit in den Blick zu nehmen, ist aber ganz wichtig, wenn man über bürgerschaftliches Engagement in der Breite spricht. Natürlich ist die Sorge nicht ganz unbegründet, dass, wenn der Staat sich in sozialen Kernfragen aus der Verantwortung zieht, bürgerschaftliches Engagement als Ersatz für staatliche Leistung herhalten muss. Aber das ist nur ein Teil des Diskurses. Den anderen Teil blenden Sie aus. Das reduziert die Debatte so weit, dass sie der Sache und dem Engagement der vielen Menschen nicht gerecht wird. ({2}) Ein zweiter Punkt. Ich finde, dass die Debatte über das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ - auch wenn Sie, Herr Grübel, sich bemüht haben, deutlich zu machen, dass die Regierung hier wirklich etwas vorhat vonseiten der jetzigen Bundesregierung unglaublich leidenschaftslos begleitet wird, insbesondere vonseiten der Ministerin und ihres Ministeriums. ({3}) Wo sind denn die flammenden Plädoyers für bürgerschaftliches Engagement? Wo ist die Leidenschaft in Bezug darauf, gemeinsam mit den Ländern, Städten und Gemeinden darüber zu diskutieren, wie wir in dieser Frage weiter vorankommen? Wo ist der aktuelle Bezug? Wir haben doch genügend Gelegenheiten - massive Zustimmung zu und Beteiligung an Volksentscheiden, an Volksabstimmungen, die Vorgänge um Stuttgart 21, die Auswahl von Begriffen wie „Wutbürger“ -, darüber zu diskutieren, was in dieser Gesellschaft eigentlich los ist. Warum wenden sich Menschen von der etablierten Politik ab? Warum fordern sie andere Formen der Einmischung ein? Wir haben wirklich viele aktuelle Anlässe, um vertieft darüber zu diskutieren. ({4}) Was ist Ihre Antwort darauf? Die nationale Engagementstrategie! Sie haben sieben Punkte auf wie vielen Seiten auch immer aufgeschrieben, die eigentlich nichts Neues beinhalten, sondern seit Jahren, ob von der Großen Koalition oder in anderen Konstellationen, in irgendeiner Art und Weise durchgeführt wurden oder werden und weitergeführt werden. Was ist das Besondere an dieser nationalen Engagementstrategie? Das können weder Sie noch die Ministerin erklären; die Ministerin kann auf diesem Feld ohnehin nur sehr wenig erklären. ({5}) - Nein, das ist so, Frau Fischbach. Ich begleite das Thema seit fünf Jahren, und ich sage Ihnen: Die jetzige Ministerin entwickelt bei diesem Thema keine Leidenschaft, und das ist auch der Grund, weshalb wir so wenig darüber reden. ({6}) Ein weiteres Thema: der Bundesfreiwilligendienst. Der Bundesfreiwilligendienst muss jetzt für die Behauptung herhalten, dass etwas ganz Besonderes passiert. Herr Grübel, es gibt aber ganz viele Baustellen, an denen Sie nichts geregelt haben: Wir haben verschiedene Freiwilligendienste, die alle unterschiedlich wirken. Wir haben immer noch kein Freiwilligenstatusgesetz; es ist auch unklar, wann es kommen soll. Wir haben keine Anschlussregelung - ich finde es wirklich nicht in Ordnung, dass Sie in der Öffentlichkeit immer wieder das Gegenteil vermitteln - für das Bundesprogramm „Freiwilligendienste aller Generationen“. Wir bemühen uns seit Jahren um dieses Programm, und zwar parteiübergreifend. Die fehlende Anschlussregelung muss man kritisch ansprechen. Wir hatten da nie einen Dissens. Wir haben immer gesagt: Das ist ein interessantes Angebot, weil es einen anderen Blick auf das Thema der älter werdenden Gesellschaft eröffnet, weil es dem Wunsch Älterer gerecht wird, sich einzubringen, weil es eine Antwort auf die Frage des Miteinanders der Generationen bietet. Jetzt sagen Sie ein bisschen verschwiemelt: Wir haben ja demnächst den Bundesfreiwilligendienst, der für alle Generationen offen ist. - Das ist aber etwas ganz anderes und deckt sich überhaupt nicht mit dem Programm „Freiwilligendienste aller Generationen“, das sehr gut nachgefragt wird und viel Zuspruch hat; das sagt nur kein Mensch. Wir haben keine Anschlussregelung für die Freiwilligendienste aller Generationen. Herr Kues, wo bleibt denn die Anschlussregelung? Soll das alles jetzt wirklich durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden? Das wäre etwas substanziell völlig anderes: Beim Bundesfreiwilligendienst könnten sich ältere Menschen am Ende ihres Berufslebens nicht einfach vier oder fünf Stunden in der Woche engagieren; wir reden hier von einem Dienst. Der große Unterschied liegt darin - das wissen Sie -, dass man sich beim Bundesfreiwilligendienst zu mindestens 20 Stunden Engagement, wenn nicht sogar noch mehr, verpflichten muss. Das ist doch etwas ganz anderes; das geht an den Bedürfnissen vieler älterer Menschen, die sich engagieren wollen, völlig vorbei. ({7}) Dies besagt auch der Freiwilligensurvey. Es gibt viele ältere Menschen, die sich engagieren wollen, aber nicht sozusagen in einem Halbtagsjob oder mit 25 WochenBritta Haßelmann stunden und mehr, sondern für vier oder fünf Stunden in der Woche. Ich konnte in der kurzen Zeit nur zwei Beispiele nennen. Sie machen aber deutlich: Sie produzieren hier zwar viele Hochglanzbroschüren und viele warme Worte nach außen, aber bewegen bei diesem Thema im Moment sehr wenig Substanzielles und diskutieren darüber auch sehr wenig. Wir führen nicht zusammen und fragen nicht, was in den einzelnen Ressorts gemacht wird. Welche tollen Ideen oder Projekte zum bürgerschaftlichen Engagement werden denn im Außenministerium, im Gesundheitsministerium oder im Innenministerium verfolgt? Das Familienministerium könnte sich doch einmal darum kümmern. Sie sind erst jetzt, im April, auf die Idee gekommen, eine Arbeitsgruppe dazu einzurichten, um zusammenzuführen, was in den unterschiedlichen Feldern passiert. Ich glaube, damit werden wir dem aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnis der Menschen, sich einzubringen, sich zu engagieren und fördernde, unterstützende Strukturen zu nutzen, nicht gerecht. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb muss man Sie an dieser Stelle kritisieren und Sie ermuntern, aktiver zu werden und sich nicht nur auf die Schulter zu klopfen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus Riegert für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schön, dass sich die SPD der Fleißaufgabe gestellt hat, sich 70 Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement auszudenken. ({0}) Ich finde aber auch, dass wir die Ministerien dafür loben sollten, dass sie mit dem gleichen Engagement auf fast 50 Seiten Antworten gegeben haben. ({1}) Ich richte mich damit an die Zuschauerränge, denn hier wurde versucht, den Eindruck zu vermitteln, die Antworten seien dürftig. Das sind fast 50 Seiten Antworten auf 70 Fragen aus vielen Bereichen. Ich denke, damit haben sich die Ministerien Anerkennung verdient. Wenn ich daran denke, wie das Bundesverkehrsministerium für den Feuerwehrführerschein gekämpft hat, dann komme ich zu dem Schluss: Wir sollten nicht immer nur meckern, sondern auch einmal sagen, dass da gute Arbeit geleistet wird. ({2}) Die einen vermissen die Strategie und die anderen die Leidenschaft. Sie wissen, dass unser früherer Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel einmal gesagt hat: Demokratie ist nicht da, um Begeisterung zu organisieren. Ich glaube, dass das Ministerium das weite Feld in den Blick nimmt. Man hat gemerkt, dass wir sehr stark ins Klein-Klein gekommen sind. Es handelt sich um ein Konsensthema, Frau Kumpf, das sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen eignet. 1995 haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Arbeitsgruppe eingerichtet und über 60 Organisationen und Verbände angehört. Dann haben wir eine Große Anfrage an unsere eigene Regierung gerichtet, gegen Widerstände aus der Regierung; denn man hat es nicht so gern, wenn die eigene Regierungskoalition eine Große Anfrage einbringt. Am 5. Dezember 1997 führten wir das erste Mal nach dem Krieg eine Debatte über bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt. Daraus ist eine Enquete-Kommission erwachsen. Ich habe mir die Unterlagen noch einmal herausgesucht. Es lohnt sich, sie zu lesen. ({3}) Der Bericht ist ein dicker Wälzer, der schöne Sondervoten enthält, von denen man das eine oder andere durchaus zitieren kann, beispielsweise zur direkten Demokratie. Er enthält eine wunderbare Passage: Die direktdemokratischen Elemente haben in den Kommunen mit zu einer „neuen Gewaltenteilung“ beigetragen und sie haben damit dem Partizipationsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger Rechnung getragen. ({4}) - Auf kommunaler Ebene. - Jetzt raten Sie mal, welcher Sachverständige ein Sondervotum abgegeben hat! Das war Ihr Sachverständiger, nämlich Professor Dr. Roland Roth. Er hat in einem Sondervotum ausführt: Diese Einschätzung überzeichnet die Möglichkeiten von Referenda in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Ihr eigener Sachverständiger hat so Stellung bezogen. ({5}) Dann haben wir richtigerweise einen Unterausschuss gegründet. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Opposition und uns. Sie fordern auf der einen Seite immer: Gesetze, Gesetze, Gesetze. Wann bringt ihr dieses Gesetz oder jene Verordnung? ({6}) Auf der anderen Seite beklagen Sie Bürokratie. So funktioniert das natürlich nicht. ({7}) Wir sind für einen freiheitlichen Ansatz und die Übernahme von Verantwortung. Wir sind gemeinsam der Meinung, dass wir eine Anerkennungskultur entwickeln müssen. Der Bürger muss in der Tat im Mittelpunkt stehen. ({8}) Aber neben den Rahmenbedingungen auf Bundesebene sind auch wichtig die Länder und Kommunen, Verbände, Vereine und Stiftungen, die Arbeitswelt, der Bereich „Erziehung und Bildung“ und die Medien. Deshalb glaube ich, dass wir den Kreis der Adressaten viel weiter fassen müssen, statt immer nur zu rufen: Was macht das Ministerium? Wo bleibt die Leidenschaft der Ministerin? ({9}) Schauen Sie sich die aktuellen Programme und Initiativen an! Es gibt den Bundesfreiwilligendienst, die „Aktion zusammen wachsen“, FSJ, FÖJ, „weltwärts“, die Civil Academy; übrigens vom BBE gemeinsam mit der BP AG initiiert. Sie haben den Vorwurf in den Raum gestellt, man wolle die Netzwerke abwürgen. ({10}) Ich kann Ihnen Ihr eigenes Votum vorlesen. Sie haben selber beschlossen: Die Selbstorganisation der Bürgergesellschaft trägt dem Bedürfnis nach einer nationalen Interessenvertretung bürgerschaftlichen Engagements ebenso Rechnung wie dem Anliegen einer Vernetzung der Sektoren. Sie kann nicht vom Staat initiiert werden, sondern muss sich aus bestehenden Strukturen der Bürgergesellschaft heraus bilden und sich selbst ihre Form geben. Das kann doch nicht heißen, dass wir als Bund acht Jahre lang diese Veranstaltung finanzieren und 240 Mitglieder - beispielsweise die Deutsche Bank - keine Drittmittel einbringen, um das Vorhaben entsprechend zu unterstützen. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, dass das BBE Drittmittel einwirbt und auch selbst für Mittel sorgt. Weil sie nicht hängen geblieben sind, darf ich Ihnen die vier strategischen Ziele der nationalen Engagementstrategie noch einmal kurz nahebringen. Erstens. Der Ressortkreis. Frau Haßelmann, in den sieben Jahren, in denen Sie mitregiert haben, gab es keinen Koordinationskreis. Jetzt sitzt man in den Ministerien zum Thema Engagementpolitik zusammen und hat zum ersten Mal konkrete Themen vereinbart. Man wird auch die Arbeit in der Bund-Länder-Gruppe intensivieren. Zweitens. Neue Kooperationen. Zu nennen ist die Zusammenarbeit - Markus Grübler hat es angeführt - mit dem Bundesverband Deutscher Stiftungen und mit Unternehmen. In diesem Bereich sind Förderprogramme geplant, etwa zum sozialen Unternehmertum, und Wirkungsmessungen. Drittens. Dialogforen. Im nationalen Forum, das seit dem 1. März der Deutsche Verein betreibt, gibt es zwei Foren zu Engagement und Integration. Im Herbst wird es drei Foren zu Engagement und Bildung geben. Ziel ist es, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Viertens. Anerkennungskultur. Zu nennen ist die Vergabe des Deutschen Engagementpreises. Ich glaube, die 23 Millionen Engagierten in Deutschland haben es verdient, dass wir ihnen unter dem Motto „für mich. für uns. für alle“, das wir gemeinsam mit der Sparkasse und den kommunalen Spitzenverbänden tragen, unseren Dank und unsere Anerkennung zeigen, aber auch unsere weitere Unterstützung zusagen. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen uns heute aufgrund der Antworten auf die Anfrage der SPD-Fraktion zur Engagementstrategie zu einer, wie ich finde, durchaus guten Zeit mit dem Thema „bürgerschaftliches Engagement“ auseinander. Das geschieht nicht irgendwie am Rande, am Donnerstagabend zum Beispiel, oder zu irgendeiner anderen Zeit, sondern jetzt am Donnerstagnachmittag, vielleicht mit ein wenig mehr Öffentlichkeit. Das ist schon wieder ein Fortschritt, den wir gemeinsam erzielt haben. Was bedeutet eine solche Engagementstrategie? Eigentlich soll das eine Politik aus einem Guss sein. Für uns Sozialdemokraten ist der Bereich des bürgerschaftlichen Engagements ein eigenständiges Politikfeld. Wir brauchen dazu ein abgestimmtes Konzept. Das scheint es in der derzeitigen Strategie nicht zu geben. Die 50 Seiten umfassenden Antworten - um da ein wenig von dem Lob zurückzunehmen - sind Bestandteil dessen, was in der Engagementstrategie schon aufgeführt worden ist. Damit sind nicht automatisch die guten Fragen beantwortet, die wir gestellt haben. Die Strategie, die vonseiten der Bundesregierung vorgelegt wurde, ist nur eine Zusammenstellung von bereits laufenden Projekten und Initiativen. Das wiederum ist nicht wirklich Politik aus einem Guss. ({0}) Was bedeutet eine Engagementstrategie noch? Es wäre gut, wenn es hier zu besonderen Initiativen kommen würde, um im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements fortschrittlich zu sein. Wo aber sind diese Initiativen? Neben dem Sammeln der weiteren Projekte fehlt es an Initiative; es fehlt eine Neuerung im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements. Zu Zeiten der Großen Koalition hat Peer Steinbrück als Finanzminister immerhin die „Hilfen für Helfer“ auf den Weg gebracht. Wir waren in dem Bereich innovativ und haben gesagt: Die Ehrenamtler, die dort aktiv sind, wollen wir mit unseren Möglichkeiten und auch mit Gesetzen - Gesetze bedeuten nämlich nicht immer gleich automatisch neue Bürokratie, ({1}) sondern können durchaus auch eine Entlastung sein, lieber Herr Riegert - unterstützen. ({2}) Wir waren initiativ. Wo aber sind die Erneuerungen und Initiativen der schwarz-gelben Bundesregierung? Fehlanzeige an dieser Stelle! Sie sagen - das ist schon mehrfach erwähnt worden -: Der große Wurf zum bürgerschaftlichen Engagement ist der Bundesfreiwilligendienst. ({3}) Zitat aus mehreren Reden: Das ist unsere Leistung; das ist das Größte, was in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet der Engagementpolitik erreicht worden ist. Ich will Ihnen die Widersprüche dazu aufzählen. Sie waren es, Herr Grübel, der eben gesagt hat, bürgerschaftliches Engagement dürfe nicht verstaatlicht werden. ({4}) Sie haben, ebenso wie Herr Riegert, deutlich gemacht: Wir wollen keine Verstaatlichung des bürgerschaftlichen Engagements. ({5}) Wieso aber dann ein staatlich organisierter Freiwilligendienst, zentral organisiert vom Bundesamt für Zivildienst oder demnächst Bundesamt für zivile Fragen oder wie auch immer Sie es nennen wollen? Das ist keine Erneuerung und auch nicht wirklich eine Entstaatlichung von bürgerschaftlichem Engagement. ({6}) Sie haben eine große Chance vertan. Der Wegfall des Zivildienstes und die Neuorganisation der Dienste boten die Chance, einen Teil des Dienstes in anderer Form weiterzuführen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass FSJ und FÖJ weiter ausgebaut worden wären. Sie hätten aber auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, wie man bürgerschaftliches Engagement in struktureller Hinsicht besser unterstützen kann. Sie hingegen stellen die Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements bei jeder Haushaltsberatung erneut infrage. Dabei geht es nicht nur um das Bundesnetzwerk, sondern auch um die Freiwilligenagentur, die Mehrgenerationenhäuser und die Freiwilligendienste aller Generationen, die schon angesprochen worden sind. Immer sagen Sie: Schluss mit diesen Projekten! Sie finden keine Anschlussfinanzierung und keine Anschlusslösung. Ihre Antwort lautet: Wir haben ja den Bundesfreiwilligendienst. - Dazu kann ich nur sagen: Das ist viel zu kurz gesprungen. ({7}) Sie weisen darauf hin, was die Mehrgenerationenhäuser jetzt alles leisten sollen. Sie sollen quasi die Freiwilligenagenturen ersetzen, die Freiwilligendienste aller Generationen beherbergen usw. Die Frage, wie es mit den Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll, haben Sie aber noch nicht beantwortet. ({8}) Wir können aber nicht mit unfertigen Konzepten andere unfertige Konzepte ergänzen. Da gerade das Thema „direkte Demokratie“ angesprochen worden ist und von abweichenden Voten im Zusammenhang mit dem Kommissionsbericht die Rede war, sage ich: Natürlich ist es fortschrittlich, wie die Kommunen mit der Bürgerbeteiligung umgehen. Aber es gibt dabei auch Schwierigkeiten. Es ist sehr schwer, Mehrheiten zu organisieren. Im Raum stand nicht die Aussage, dass das schlecht ist, sondern im Raum stand die Forderung nach einer Ausweitung auf die Bundesebene. Wir sind für die Bundesebene zuständig. Hierzu ist von schwarz-gelber Seite aber leider nichts zu hören. ({9}) In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stärken Sie die Infrastruktur für das bürgerschaftliche Engagement! Lassen Sie da nicht nach! Denn die Kosten, die durch einen Wegfall des bürgerschaftlichen Engagements entstehen würden, würden den Bundeshaushalt an anderer Stelle deutlich stärker belasten. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Florian Bernschneider für die FDPFraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich sind die Freiwilligendienste eine Form bürgerschaftlichen Engagements. Deswegen spricht gar nichts dagegen, auch an dieser Stelle über die Freiwilligendienste zu reden. Ich glaube, es spricht auch nichts dagegen, das bisher Erreichte herauszustellen: ({0}) Mit dem Freiwilligendienstkonzept der Koalition erhalten so viele Menschen wie nie zuvor die Gelegenheit, noch in diesem Jahr einen Freiwilligendienst anzutreten. Deswegen sage ich Ihnen, bei aller Anerkennung der sozialdemokratischen Erfolge für die Freiwilligendienste, ganz selbstbewusst: Selbst wenn das Freiwilligendienstkonzept das Einzige wäre, was die Koalition geschafft hätte, wäre das in anderthalb Jahren mehr als das, was die SPD in elf Jahren Regierungsbeteiligung in diesem Bereich erreicht hat. ({1}) Sie können sich darauf verlassen. Wir werden es nicht dabei belassen. Sie sprechen zu Recht einige Fragen an, um die wir uns bei den Freiwilligendiensten noch kümmern müssen. Manchmal frage ich mich aber auch, warum Sie sich diese Fragen nicht gestellt haben, als Sie in Regierungsverantwortung standen. Sie fordern zum Beispiel immer wieder vehement, dass ein Freiwilligendienststatusgesetz vorgelegt wird. Gestatten Sie mir aber diese Kritik: Wenn Sie sich auf der einen Seite damit rühmen, das FSJ Sport, das FSJ Kultur sowie die Dienste „weltwärts“ und „kulturweit“ eingeführt zu haben, können Sie auf der anderen Seite nicht uns die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass Sie es dabei versäumt haben, für einheitliche Rahmenbedingungen zu sorgen. Wir nehmen diese Herausforderung an. Wir arbeiten an einem Freiwilligendienststatusgesetz. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht aber, dass wir bei allen bisherigen Schritten den Wunsch nach einheitlichen Rahmenbedingungen beachtet haben. Mit dem gleichen Taschengeld, den gleichen pädagogischen Rahmenbedingungen und der gleichen Anzahl an Urlaubstagen im FSJ, im FÖJ und im Bundesfreiwilligendienst haben wir einen Teil dazu beigetragen, dass die Rahmenbedingungen gleich sind. Mit 200 Euro Förderung im FSJ und im FÖJ haben wir nicht nur die Förderung heraufgesetzt, sondern erstmals auch eine gleiche Förderung bei FSJ und FÖJ eingeführt. Der Kollege Grübel hat die Angleichung beim Kindergeld angesprochen. Das kann man uns also nicht vorwerfen. Trotzdem vergessen wir die Vielfalt nicht. Sie führen in Ihrer Großen Anfrage aus, dass es darum geht, zukünftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu bürgerschaftlichem Engagement zu bewegen. Sie sagen auch, dass sich mehr Menschen aus einem sozial benachteiligten Umfeld bürgerschaftlich engagieren sollen. Genau das tun wir ja: zum einen mit zusätzlich 50 Euro für sozial Benachteiligte, für diejenigen, die einen besonderen pädagogischen Förderbedarf haben, und zum anderen durch die Schaffung des neuen Einsatzbereichs Integration im Bundesfreiwilligendienst. Die Freiwilligendienste stehen auch vor der Herausforderung des demografischen Wandels; mein Kollege Golombeck hat es schon angesprochen. Unsere Gesellschaft wird älter, wobei die Älteren aber immer fitter bleiben. Deswegen ist es richtig, dass wir Personen, die älter als 27 sind, die Gelegenheit geben, sich im Bundesfreiwilligendienst zu engagieren. Ich glaube, das ist angesichts des demografischen Wandels eine wichtige Botschaft. Natürlich sind die Freiwilligendienste aller Generationen unheimlich wichtig, um zu lernen, wie es funktioniert. Sie waren in der Vergangenheit erfolgreich. Daher wäre es fahrlässig, wenn wir die Erfahrungen aus den Freiwilligendiensten aller Generationen jetzt nicht nutzen. Es wäre aber auch fahrlässig - es wird ja immer wieder von Verstetigung geredet -, die Chance zu verpassen, die Freiwilligendienste aller Generationen, auch wenn sie nur ein Modellprojekt sind, jetzt im Bundesfreiwilligendienst aufgehen zu lassen. Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt eingehen; dieser betrifft die jungen Menschen. Auch Sie hinterfragen den Zusammenhang zwischen verkürzten Lernzeiten und der Möglichkeit von bürgerschaftlichem Engagement. Natürlich bleibt einiges zu tun, um zu gewährleisten, dass die Jugendlichen auch bei verkürzten Abiturzeiten die Gelegenheit haben, sich weiterhin sozial, bürgerschaftlich zu engagieren. Ich sage aber auch, dass hier der falsche Ort ist, um zum Beispiel über die Entrümpelung von Lehrplänen zu sprechen. Wir können hier aber sehr wohl darüber reden - das zeigt die gestrige Sitzung des Familienausschusses -, wie wir Schule und bürgerschaftliches Engagement noch näher zusammenführen können. Die Kriegsgräberfürsorge hat uns gestern aufgezeigt, dass 25 000 junge Menschen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engagements für die Kriegsgräberfürsorge tätig sind. Das funktioniert aber auch nur, weil es einen engen Kontakt zwischen der Kultusministerkonferenz und den Schulen gibt. Das ist ein Bereich, in dem wir als Engagementpolitiker auf Bundesebene noch einiges tun können. Packen wir es an! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die durchaus gelungene Große Anfrage der SPD und die sehr gute Antwort der Bundesregierung haben es eigentlich nicht verdient, dass wir hier ständig versuchen, aufeinander einzuschlagen. ({0}) Vielleicht kann man über dieses Thema, bei dem Konsens besteht, einmal in aller Ruhe einen Gedankenaustausch durchführen, statt jede Gelegenheit nutzen zu wollen, um der Regierung völlig unhaltbare Vorwürfe zu machen. Das ist diesem Thema unangemessen. ({1}) Sie haben in Ihrer Großen Anfrage eine Definition von Bürgergesellschaft gegeben, die ich voll und ganz unterschreibe. Die Bürgergesellschaft setzt sich aus vielen Initiativen - aus Bürgerinitiativen, aus Spontaninitiativen, aus Nachbarschaftshilfe - zusammen. Wir haben von dem Beispiel Kriegsgräberfürsorge gehört. Wir haben bereits von den Initiativen, die von der Feuerwehr und dem THW gestartet werden, gehört. Es ist wichtig, dass wir eine Bürgergesellschaft haben, in der viele Menschen bereit sind, selbstlos einen Dienst für die Gemeinschaft zu erbringen. Das haben wir in Deutschland, und darüber dürfen wir uns freuen. Die Bürgergesellschaft, liebe Frau Haßelmann, ist nicht eine Institution, in die der Staat allzu sehr eingreifen sollte. Ich glaube auch nicht, dass das Ihre Meinung ist, ({2}) aber in Ihrer Rede wurde der Anschein erweckt, als würden Sie so denken. Die Bürgergesellschaft bewegt sich vielmehr in einem freien Raum neben dem Staat, neben der Wirtschaft und neben der Privatsphäre der Familie. Dort handelt und agiert die Bürgergesellschaft. Ohne die Bürgergesellschaft wäre der Staat gar nicht in der Lage, alle seine Aufgaben zu erfüllen. Denken wir nur an den privaten Bereich, an den Pflegedienst und daran, welche Nachbarschaftshilfe gerade bei pflegebedürftigen Nachbarn geleistet wird. Das ist Bürgergesellschaft, und diese haben wir in Deutschland; das darf man einmal ganz offen sagen. Ich möchte noch etwas dazu bemerken. Es gibt den berühmten Satz von Böckenförde: Der Staat kann nur existieren, wenn Voraussetzungen da sind, die er aber selbst nicht garantieren kann. - Diese Voraussetzungen wachsen in der Bürgergesellschaft durch den Austausch der Menschen miteinander. Hier werden Wertvorstellungen und Verhaltensmuster entwickelt, nach denen die Bürger leben und die der Staat braucht, damit er überhaupt regieren kann. Ohne die Entwicklung von Verhaltensweisen wäre der Staat hilflos, er wäre ohnmächtig. Diese Entwicklung haben wir in der Bundesrepublik Deutschland; auch das dürfen wir klar und entschieden sagen. Eine Eigenschaft der Bürgergesellschaft besteht darin, dass sie von Wertvorstellungen geprägt ist, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Es geht also um die eigene Kultur. Es geht darum, dass wir in der Bürgergesellschaft unsere eigene Kultur fortentwickeln. Das geschieht auch im Austausch mit denen, die zu uns gekommen sind, und zwar durch Auseinandersetzung. Die Geschichte jedes Volkes ist geprägt vom Ringen um die eigene Kultur. Es geht nicht ohne Auseinandersetzungen. Dies kann aber nicht vom Staat geleistet werden. Es kann auch nicht von der Bürokratie kontrolliert werden. Es muss vielmehr in einem freien Raum geschehen, und zwar im freien Raum der Bürgergesellschaft. Wir müssen versuchen, diesen freien Raum zu bewahren. Wir brauchen die Bürgergesellschaft - ich greife nur einen Aspekt heraus - insbesondere im Hinblick auf die Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wenn wir unsere Kultur für die nächsten Generationen bewahren wollen, brauchen wir die Integration. Sie alle wissen, dass Integration nicht Assimilation bedeutet. Integration heißt also nicht, dass unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre eigene Herkunft aufgeben sollen. Sie sollen auch ihre eigene Geschichte und Kultur nicht vergessen. Integration heißt, dass die verschiedenen Gruppierungen in einer Gesellschaft miteinander leben können. In einer solchen Gesellschaft muss Respekt und Achtung vor der Meinung und der Auffassung des anderen herrschen. Das gehört zur Grundeigenschaft der Bürgerinnen und Bürger in einer freien Gesellschaft. Genauso muss sich die Bürgergesellschaft entwickeln. Wir können es uns nicht leisten, uns abzuschotten. Man muss auf die Menschen ausländischer Herkunft zugehen. Gerade das wird von den Freiwilligendiensten und in den Vereinen geleistet. Denken wir einmal an den Sportverein: Wenn sich dort Kinder ausländischer Herkunft engagieren und einen Dienst leisten, dann werden sie viel schneller ein Teil der Gesellschaft. Bürgergesellschaft heißt Teilhabe. Teilhabe geht aber nicht ohne Engagement. Engagement und Teilhabe sind die zwei Seiten derselben Medaille. Es kommt darauf an - das wurde vorhin schon gesagt -, dass auch die Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft bereit sind, sich zu engagieren. Dies geschieht aber nicht; das ist Tatsache. Nur etwa 23 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund, die bei uns leben, engagieren sich in der Bürgergesellschaft. Das ist zu wenig. Auch der Rest muss sich engagieren. Nur so kann ein vernünftiges Miteinander entstehen. Das ist die große Aufgabe, die die Bürgergesellschaft zu leisten hat. Das ist - neben vielen anderen Aufgaben auch - die große Aufgabe Integration. Sie haben das Thema Integration in Ihrer Großen Anfrage in einer hervorragenden Weise angesprochen. Auch in der Antwort der Bundesregierung ist es zu finden. Ich sehe die Integration als eine ganz wichtige Aufgabe an. Wenn sie uns nicht gelingt - die Frau Bundeskanzlerin sagt, es sei die Schlüsselaufgabe für unsere Gesellschaft und wenn wir die Menschen, die bei uns leben, nicht zum vernünftigen Miteinander bewegen können, dann werden wir, die Deutschen, eines Tages Fremdlinge in unserem eigenen Land sein. Wir müssen versuchen, dies zu vermeiden und die Bürgergesellschaft zu stärken. Ich bedanke mich. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demonstration und Anwendung von Technologien Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid - Drucksache 17/5750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert, Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Speicherung von Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland ({1}) - Drucksache 17/5232 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Koeppen, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umfassende Datenbasis für Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds schaffen - Drucksache 17/3056 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Für die Bundesregierung erteile ich der Kollegin Katherina Reiche das Wort.

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CCS, also die Abscheidung, der Transport und die dauerhafte Speicherung von Kohlendioxid, ist nicht nur für Deutschland, sondern auch international von großer Bedeutung. Länder wie China, Australien, Kanada und die USA setzen große Hoffnungen in diese Technologie und unternehmen dazu Forschungsanstrengungen. CCS bedeutet, dass CO2 in Industrie- und Stromerzeugungsanlagen abgetrennt wird, damit es im Anschluss in tief liegenden Gesteinsschichten sicher gespeichert werden kann. Dieser Technologie wird - das habe ich gerade erwähnt - international große Bedeutung beigemessen. Es geht darum, den CO2-Ausstoß insgesamt, weil wir uns Klimaschutzzielen verpflichtet haben, zu mindern. Auch Deutschland hat sich verpflichtet, den Herausforderungen des Klimawandels durch eine drastische Reduktion der CO2-Emissionen zu begegnen. Wir haben uns beim Klimaschutz sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. Wir wollen den Umfang der globalen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 halbieren. Angesichts der hohen Pro-Kopf-Emissionen in den Industrieländern werden die Industrieländer den größten Beitrag dazu leisten müssen. Die Treibhausgasemissionen sollen in Deutschland bis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 um 80 bis 95 Prozent reduziert werden. Mit unserem Energiekonzept haben wir den Fokus auf einen deutlich beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien und auf die Steigerung der Energieeffizienz gesetzt. Das ist und bleibt unser Kompass, auch bei den Entscheidungen, die jetzt anstehen. Für den Umstieg in eine Energieversorgung, die auf erneuerbaren Energien basiert, brauchen wir mehr effiziente Gasund Kohlekraftwerke. Hierfür brauchen wir klimafreundliche Lösungen. CO2 entsteht nicht nur bei der Stromproduktion, sondern auch bei Industrieprozessen. Deshalb hat auch die Industrie ein großes Interesse daran, über eine Technologie zu verfügen, die es erlaubt, Industrieprozesse umweltfreundlich und klimafreundlich zu gestalten. Dies betrifft die Stahlerzeugung, die Zement- und Kalkindustrie, Raffinerien und andere Produktionszweige. Hier sind in den vergangenen Jahren massive Anstrengungen unternommen worden, um die Prozesse effektiver zu gestalten. Gleichwohl wird hier auch weiterhin CO2 emittiert werden; physikalisch und chemisch geht es gar nicht anders. Der Reduktion von CO2-Emissionen sind bei diesen Prozessen Grenzen gesetzt. Also braucht man neue Technologien, die es ermöglichen, Industrieprozesse in Zukunft wirtschaftlich und klimafreundlich durchzuführen. Der WWF erklärt mit Blick auf CCS in einer Stellungnahme Folgendes: Aus heutiger Sicht benötigen wir dazu den Einsatz von CCS-Technologien. Daher müssen wir die CCS-Technologie schnellstmöglich auf ihre Einsatzfähigkeit prüfen und entscheiden, ob Emissionen in geologischen Formationen im Untergrund gespeichert werden können. Ein Blick über den Tellerrand zeigt - ich habe es ganz zu Anfang meiner Rede gesagt -: Weltweit setzen verschiedene Staaten wie China, die USA, Australien und Indien weiterhin auf Kohle. Da wir ein Interesse an einem erfolgreichen globalen Klimaschutz haben müssen, sollten auch wir die Option CCS weiterhin verfolgen. Der Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, hat in einem Zeitungsinterview ausgeführt: Die weltweiten Kohlevorkommen sind so groß - vor allem in China, Indien und den USA -, dass ein internationales Abkommen zum Klimaschutz wohl nur zustande kommt, wenn man eine Option für die Kohle anbietet. Mit Blick auf die globale Energieerzeugung ist das Problem also noch drängender. Wenn wir hierfür keine Lösungen finden, werden wir die globalen Klimaschutzziele nicht erreichen können. An dieser Stelle setzt CCS an. Ich möchte ausdrücklich betonen: Diese Technologie ist eine Option, eine Möglichkeit, eine Chance. Ich finde, wir sollten sie nutzen. ({0}) Die CCS-Technologien befinden sich noch im Entwicklungsstadium. Sie sind im großtechnischen Maßstab noch nicht getestet. Viele Fragen sind noch offen: Fragen zur Wirtschaftlichkeit, zu Leckagen, verfügbaren Speicherpotenzialen, anderen Nutzungsmöglichkeiten, aber auch zu Umweltrisiken. Viele Fragen sind skeptischer und kritischer Natur. Wir haben darauf reagiert. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich im Bereich der Speicherung strikt auf Erforschung und Demonstration beschränkt. Die Möglichkeit, eine Speicherzulassung zu beantragen, ist zeitlich und auch mengenmäßig begrenzt. Selbst wenn man für die Demonstrationsspeicher eine Betriebsdauer von 40 Jahren unterstellt, würden dadurch nur 2,5 bis 5 Prozent der gegenwärtig bekannten Speicherpotenziale in Anspruch genommen werden. Bereits für die Erprobung sind höchste Umwelt- und Sicherheitsstandards vorgesehen. Ein Speicher kann unter anderem nur dann zugelassen und betrieben werden, wenn die Langzeitsicherheit gewährleistet ist. Ebenso muss Vorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik getroffen werden. Bei allen wichtigen Schritten ist eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen. Auch die Belange der Oberflächeneigentümer und andere Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds werden weitestgehend geschützt. Die Länder erhalten auf ausdrücklichen Wunsch wirksame Mitspracherechte. Sie können Gebiete festlegen, in denen die Speicherung zulässig ist, oder auch Gebiete, in denen die Speicherung nicht zulässig ist. Ich meine, dass diese Regelung den Befürwortern und den Skeptikern von CCS gerecht wird. Gegen den begründeten Willen eines Landes ist die Speicherung dort nicht möglich. Die Gebietsauswahl ist anhand von fachlichen und gerichtlich nachprüfbaren Kriterien zu begründen. Außerdem gilt das CCS-Gesetz in allen Bundesländern unmittelbar. Das Märchen einer Lex Brandenburg bleibt auch bei mehrfacher Wiederholung ein Märchen. Kein Land muss nochmals gesetzgeberisch tätig werden, um in die Demonstration einzusteigen. ({1}) Wir können unserer weltweiten Vorbildfunktion im Klimaschutz gerecht werden. Eine zuverlässige CCSTechnologie „Made in Germany“ kann helfen, die nationalen und globalen Klimaschutzziele zu erreichen und auf dem Schlüsselmarkt der Zukunft eine führende Rolle zu spielen. Ich möchte gerne um Ihre Unterstützung dafür werben. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPDFraktion.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir führen heute eine Debatte mit dem Ziel, eine EU-Richtlinie umzusetzen. Wir haben auf EU-Ebene gewisse Vorgaben zum Thema CCS bekommen. Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, national zu entscheiden, wie sie mit dem Thema umgehen wollen. In der Tat kann man manche Ihrer Argumente aufgreifen. Ich will gleich auf einige eingehen. Zunächst will ich inhaltliche Punkte ansprechen, die für die SPD-Fraktion beim Thema CCS von besonderer Bedeutung sind. Anders als Sie es dargestellt haben, Frau Staatssekretärin, sind wir nicht der Auffassung, dass das Thema CCS zu einem entscheidenden Bestandteil einer Klimaschutzstrategie werden sollte. Wir sind der Auffassung, dass wir alle bereits vorhandenen Instrumente nutzen müssen, um darauf unsere Klimaschutzstrategie aufzubauen. Das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu senken, muss in jedem Fall ohne CCS erreicht werden, weil diese Technologie zurzeit nicht eingeplant werden kann. Deshalb soll sich an diesem Aspekt alles Weitere orientieren. Ich kann zu durchaus unterschiedlichen Bewertungen kommen, inwiefern CCS möglicherweise an welchen Stellen gebraucht wird. Sie haben recht: Es gibt durchaus auch Ökoverbände - Sie haben einen genannt; ich will das Öko-Institut nennen -, die es für möglich halten, dass wir die Minderungsbeiträge, die wir im Laufe der nächsten 40 Jahre leisten müssen, nicht mit anderen Instrumenten erreichen und daher CCS insbesondere für industrielle Prozesse brauchen. Ich kann das heute nicht ausschließen. Wir wissen das nicht. Von daher gilt: Ja, es ist richtig, in Forschung, Entwicklung und auch in einige Demonstrationsprojekte einzusteigen. Für uns hat aber der Forschungsaspekt Priorität. Ein wesentlicher Forschungsbereich sollte sich dabei der Frage widmen, wie man das abgeschiedene CO2 wiederverwenden kann. Nicht die Verpressung und Speicherung, sondern die Wiederverwendung muss klar im Mittelpunkt stehen. ({0}) Ich glaube, dass dieser Punkt von enormer Bedeutung für die künftige Akzeptanz des Verfahrens sein wird. Entscheidend ist für uns aber auch, dass die gesetzlichen Regelungen eindeutig erkennen lassen, dass die vorgesehenen CCS-Projekte nur Demonstrationszwecken dienen. In dieser Hinsicht habe ich bei dem vorliegenden Gesetzentwurf Zweifel. Sie schreiben zwar gleich am Anfang, dass es sich erst einmal nur um Demonstrationsprojekte handeln soll. Das gesamte Gesetz ist aber so angelegt, dass klar zu erkennen ist, dass Sie hier schon Regelungen treffen, die über Demonstrationsprojekte hinausgehen. Ich sage Ihnen ganz klar: Dafür werden Sie die Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion nicht erhalten. ({1}) Ich will noch ein paar grundsätzliche Punkte ansprechen, über die wir schon zur Zeit der Großen Koalition diskutiert haben. Schon damals gab es unterschiedliche Auffassungen über die zu schaffenden Rahmenbedingungen und Grundlagen. Es müssen höchstmögliche Anforderungen an Sicherheits- und Umweltstandards gestellt werden. Wir wollen Transparenz und Bürgerbeteiligung in den anstehenden Verfahren ebenso wie klare haftungsrechtliche Regelungen und klare Regelungen bezüglich der Nachsorgebeträge. Ich könnte jetzt viele Punkte nennen, möchte aber nur zwei herausgreifen. Wir teilen die Bedenken einiger Bundesländer - insbesondere des Landes Brandenburg -, die der Meinung sind, dass die vorgesehenen Haftungsregelungen und Versorgungsregelungen nicht ausreichen, dass das alles zu unkonkret ist und dass man vieles in rechtlicher Hinsicht offenlässt. Nach unserer Auffassung ist die vorgesehene Sicherheitsleistung in Höhe von 3 Prozent deutlich zu gering. Sie sehen die Möglichkeit vor, nach 30 Jahren die Verantwortung des Betreibers für die Speicherstätten auf das Land zu übertragen. Diese Zeitspanne ist deutlich zu kurz bemessen. Hier muss es eine andere Regelung geben. ({2}) Der Hauptkritikpunkt betrifft allerdings eine Regelung, die in dieser Form neu ist. Das ist die sogenannte Länderklausel. Das hört sich zunächst nach einem Meilenstein des Föderalismus an. Die Länder dürfen nach gewissen Abwägungen alleine entscheiden, ob sie CCSSpeicher auf ihrer Landesfläche zulassen oder nicht. Für mich ist das kein Akt besonderer Föderalismusfreundlichkeit. Vielmehr dokumentieren Sie im Endeffekt hier Ihre eigene Handlungsunfähigkeit in Berlin. Sie sind nicht in der Lage, eine klare Regelung herbeizuführen. ({3}) Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Auf der einen Seite haben potenzielle Investoren keinerlei verlässliche Planungsgrundlagen. Auf der anderen Seite schieben Sie den Ländern quasi den Schwarzen Peter zu. Frau Reiche, der Bund findet CCS wichtig und gut, traut sich aber nicht, die rechtlichen Grundlagen für entsprechende Speicher zu schaffen. Das sollen die Länder entscheiden. Sie dürfen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, zum Beispiel unter touristischen, abwägen. Ich erwarte aber, dass eine Bundesregierung, die CCS für geeignet hält und für die diese Technologie ein wichtiger Bestandteil der Klimaschutzstrategie ist, sagt, wo gespeichert werden soll. Schieben Sie diese Entscheidung nicht auf die Bundesländer ab! ({4}) Was werden die Länder jetzt machen? Das ist ansatzweise schon zu erkennen. Die Länder müssen jetzt eine Regelung schaffen. Die entsprechenden Entscheidungen werden je nach wahltaktischen und anderen Überlegungen unterschiedlich ausfallen. Entscheidend ist aber die Frage, nach welchen rechtlichen Kriterien entschieden werden soll. Die Landesregierungen müssen nach einer Güterabwägung individuell entscheiden. Wir wissen, wie das im Endeffekt ausgeht. Über jeden Antrag und jedes Verfahren wird gerichtlich entschieden werden. Kritik kommt aber nicht nur aus den Reihen der Opposition, sondern auch aus Bundesländern, die von Ministerpräsidenten der Union regiert werden. Daher sage ich ganz klar: An dieser Stelle müssen Sie jetzt hier in Berlin Farbe bekennen. Wenn Sie CCS wollen, dann müssen Sie der Speicherung nach bestimmten Kriterien Vorrang einräumen. Wenn Sie CCS nicht wollen, dann könnten Sie Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien, zum Beispiel der Geothermie, Vorrang einräumen. Sie müssen auf jeden Fall klar sagen, welche Projekte Vorrang haben, damit die Länder wissen, wie sie in Zukunft mit möglichen Speicherstätten vor Ort umgehen sollen. Aber in seiner jetzigen Fassung können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich will noch eine andere Sache ansprechen, die - wie ich glaube - immer wieder benutzt wird, um die Diskussion in Deutschland in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Mittlerweile sagen selbst Energiekonzerne, CCS für energetische Prozesse werde es in Deutschland wahrscheinlich nicht geben. Nach meiner ganz persönlichen Einschätzung werden wir sie auch nicht brauchen, weil die fossilen Kraftwerke im Rahmen unserer energiepolitischen Strategie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts vom Netz genommen sein werden. Einige sagen, möglicherweise kann Biomethan noch eine Rolle spielen; aber das muss man sehen. Entscheidend aber ist die Frage, was in den Ländern passiert - Sie haben vorhin einige genannt: Indien und China -, die zurzeit in hoher Zahl zusätzliche Kohlekraftwerke bauen. Wir wissen alle, dass sie beim Klimaschutz enorme Probleme haben werden. Muss man daher nicht auch Möglichkeiten schaffen, dass sie in die Lage versetzt werden, CCS einzusetzen? Ich bin insofern bei Ihnen, als ich der Meinung bin: Wir müssen da helfen, damit die Energieversorgung in diesen Staaten CO2-ärmer wird. Das heißt für mich aber, dass wir nicht nur Technologien erforschen müssen, die vielleicht in 15 Jahren einsetzbar sind, um dann Fehler beispielsweise beim Bau von Kohlekraftwerken sozusagen wieder einzufangen, sondern dass wir jetzt Technologien liefern müssen, die schon heute CO2-frei sind. Auf diesem Gebiet haben wir schon enorme Erfolge. Das sollte doch die Strategie unserer Energieaußenpolitik sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Börnsen hat das Bedürfnis, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Ihre Ausführungen verunsichern mich ein wenig.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das tut mir leid.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das können Sie nachher abstellen. Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir - wie auch im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen - die Wiederverwendung von CO2 verfolgen sollten. Der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel hat sich vor zwei Jahren an dieser Stelle mit Vehemenz für CCS eingesetzt. ({0}) Ich frage mich, wie es bei Ihnen zu dieser Richtungsänderung kommt, zumal die Bundesregierung nicht mehr eine Gesamtlösung favorisiert, sondern nur noch ein Demonstrationsprojekt realisieren will, damit wir unter den Gesichtspunkten der Gefahrenproblematik und der Wirtschaftlichkeit eine Lösung finden können. Wie kommt es also, dass Sie jetzt drei Schritte zurückgehen und gar nicht mehr für CCS eintreten? Da meine Kollegin von den Grünen mich gerade daran erinnert hat, dass sich hierzu der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein derart geäußert hat, das sei mit ihm nicht zu machen, muss ich bemerken: Es war der damalige Umweltminister, der gesagt hat: Gut, dann stecken wir diesen Entwurf wieder in die Kiste und machen etwas Neues; dann müssen aber auch die Länder Vorschläge machen. Die Länder haben Vorschläge gemacht. Sie haben querbeet, A- wie B-Länder, gesagt: Wir möchten gern beteiligt werden, weil das ein Bürgerrecht ist. - Jetzt haben wir diese Beteiligung. Stimmen Sie mit mir darin überein?

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war jetzt eine Reihe von Fragen. Ich möchte mit der ersten Frage anfangen. Ich möchte klarstellen, dass ich nicht gesagt habe, ich sei gegen CCS. Ich habe deutlich gemacht, dass ich bei industriellen Prozessen sehr wohl eine große Notwendigkeit für den Einsatz sehe, dass ich aber die Erforderlichkeit für den energetischen Bereich anzweifle. Trotzdem müssen wir alles tun, um die Technologie zu erforschen - mit einem Schwerpunkt auf Wiederverwertung und nicht auf Verpressung. Das noch einmal zur Klarstellung meiner Position. Was Sigmar Gabriel angeht: Herr Börnsen, Sie sind ja auch schon ein alter Hase, wenn ich das einmal so sagen darf. Sie wissen, wie das in der Großen Koalition gelaufen ist. Es gab die Vereinbarung, gemeinsam ein CCSGesetz zu verabschieden. Dieses Vorhaben entstand nicht im luftleeren Raum; ich habe eben auch schon die europäischen Vorgaben angesprochen. Dann gab es Verhandlungen zwischen der Union und der Bundestagsfraktion der SPD. Ich nenne Ihnen nur einige Punkte, die wir jetzt wiederfinden. Das ist zum Beispiel die Frage der Haftungsbeschränkung oder die Frage, nach wie vielen Jahren die Verantwortung übergeben werden kann. Wir haben damals auch im Interesse der öffentlichen Haushalte versucht, die Situation zu verbessern und die Verpflichtungen der Speicherbetreiber heraufzusetzen. Das alles hat Ihre Fraktion verhindert. Es ist ja nicht so, dass sich damals Sigmar Gabriel hier hingestellt und gesagt hat: Ich bin Umweltminister und mache das so, wie ich es mir vorstelle. - Hätte er all das machen können, was er gewollt hätte, hätten wir in den vier Jahren der Großen Koalition noch mehr erreicht. Sie haben an vielen Stellen gebremst. Der entscheidende Punkt ist aber - auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu -: Herr Kauder und Herr Großmann haben ein halbes Jahr vor der Wahl gesagt: Die Pläne zum Thema CCS lassen wir jetzt ganz fallen. - Denn Herr Großmann hatte damals die Vorstellung, dass eine mögliche neue Koalition nicht nur ein Gesetz für die Laufzeitverlängerung, sondern auch ein Gesetz für CCS verabschiedet, welche seinen Vorstellungen entsprechen. Das war damals so. - So viel zur Erläuterung dessen, was in der Großen Koalition abgelaufen ist. ({0}) Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle abschließend ganz klar: Ich will nicht, dass man nun aus der zu befürchtenden Sorge einiger Menschen in diesem Land, was die Verpressung von CO2 angeht, die man ja sachlich diskutieren kann und diskutieren muss, das Thema CCS komplett diskreditiert. Aber es gibt gewisse Rahmensetzungen - ich habe einige für die SPD-Fraktion genannt -, die für uns ganz entscheidend sind, um dann einem solchen Gesetzentwurf auch zustimmen zu können. Zum Thema Länderklausel - Entschuldigung, ich habe das eben nicht beantwortet; ich wollte der Frage nicht aus dem Weg gehen -: Ja, wir sind für die Beteiligung der Länder, ja, wir sind dafür, dass man die Länder anhört, ja, wir sind dafür, dass man auch die Meinung der Länder einfließen lässt. Wir sind aber auch dafür, dass man dann ein Bundesgesetz schafft, das der Absichtserklärung der Bundesregierung entspricht, indem man sagt: Wir wollen CCS, und es wird nach den von uns festgelegten Kriterien umgesetzt. - Jetzt wird es in die Beliebigkeit der Länder gestellt, die je nach Wahltermin und parteitaktischen Dingen sagen: „Jetzt wollen wir es mal gerade nicht“, und nach der Wahl wollen sie es wieder. So kann es nicht funktionieren. Ich bitte Sie einfach, gerade auch bei diesem Punkt nachzusteuern und Ihrer Verantwortung als Bundesregierung nachzukommen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema CCS, CO2-Abscheidung und -einlagerung, ist ein Thema, bei dem ich mir immer wieder die Frage stelle: Wie machen wir eigentlich Politik? Da sieht man die Notwendigkeit, dass wir ein Gesetz bekommen, zum einen, weil die Europäische Union eine Richtlinie geschaffen hat, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, CO2-Abscheidung und -einlagerung auf ihrem Territorium zu ermöglichen. ({0}) Zum anderen besteht die objektive Notwendigkeit, diese Technologie zumindest zu erproben, um zu schauen, ob wir sie in unserem Land einführen können. Wir wissen auch, dass es Widerstände gibt, insbesondere in den betroffenen Regionen. Heraus kommen dann diese üblichen Politikerreden: „Ja, wir sind für CCS, aber vielleicht doch nicht ganz so“, und man steht vor der Frage: Wie komme ich aus dieser Nummer wieder heraus? Meine Damen und Herren, wir als Abgeordnete haben die Verpflichtung, Dinge, die wir für richtig halten, auch als richtig zu bezeichnen. Wenn sich Herr Becker hier hinstellt und sagt: „Bis 2020 brauchen wir die CO2-Abscheidung nicht für unsere Klimaschutzstrategie, weil das alles bis 2020 noch gar nicht im Einsatz ist“, dann sage ich: Das, Herr Becker, hat auch niemand behauptet. Aber die Klimaschutzstrategie in Deutschland sieht eine CO2-Einsparung von 80 bis 95 Prozent bis 2050 vor. ({1}) Das bedeutet, eine Einsparung von 95 Prozent nicht nur bei den energiebedingten Emissionen, sondern auch bei den industriellen ({2}) und in den Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft. Wer glaubt, 95 Prozent wären einzusparen, ohne dass auch bei den industriellen Emissionen angesetzt wird, die zum Teil prozessbedingt sind - das heißt, Sie können Aluminium nicht ohne diese Emissionen produzieren -, und sich dann hier hinstellt und sagt: „Wir brauchen das nicht für eine Klimaschutzstrategie“, der hat die Herausforderungen für 2050 nicht verstanden. ({3}) Entweder nimmt man das 95-Prozent-Ziel nicht ernst, entweder will man die CO2-Abscheidung nicht, oder man nimmt billigend in Kauf, dass sich diese Industrien irgendwann aus Deutschland verabschieden. Das kann man ja wollen; aber wer glaubt, die Aluminiumindustrie verabschiedet sich und die Automobilindustrie bleibt hier, der hat die Produktionszusammenhänge in diesen Industrien nicht verstanden. Wenn wir die energieintensiven Unternehmen aus dem Land jagen, dann werden wir auch andere wichtige Industrien verlieren. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Becker zulassen?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, vielen Dank. Meine Damen und Herren, CO2-Abscheidung und -Einlagerung in die Erde ist in erster Linie nichts, was zum Thema Kohleverstromung gehört, auch wenn es oft anders dargestellt wird. Das Ganze ist eine Frage der Sicherung unserer industriellen Kerne mit Blick auf die Mitte unseres Jahrhunderts. Deswegen müssen wir diese Technologien entwickeln und erproben, und es darf nicht so weit kommen, dass wir sie irgendwann aus dem Ausland werden importieren müssen. Noch sind wir führend bei diesen Technologien, und wir sollten diesen Vorsprung nicht verspielen. ({0}) Ich sage im Hinblick auf die Bundesregierung ganz kritisch: Es gibt noch keine einheitliche Haltung in den Koalitionsfraktionen zu der sogenannten Länderklausel. Die Frontlinien verlaufen nicht so sehr zwischen Parteien, sondern zwischen Regionen. Ich muss sagen: Ich halte es für äußerst kritisch, dass sich Bundesländer komplett aus ihrer bundespolitischen Solidarität verabschieden können. Wenn wir die Logik der Länderklausel auf andere Themen übertragen, dann stellen wir fest, dass sich Länder demnächst auch aus dem Ausbau von Stromnetzen, aus der nuklearen Endlagerung ({1}) und Ähnlichem verabschieden können. Es gibt nun einmal bundespolitische Aufgaben, die nur in bestimmten Regionen gelöst werden können. So wie diese Länder in einigen Fragen zu Recht die Solidarität des Bundes einfordern, so erwarte ich auch, dass sie die Verpflichtung zur Solidarität mit der Bundespolitik ernst nehmen, wenn sie selbst gefordert sind. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Becker.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kauch, ich habe nur eine Bitte - man kann inhaltlich anderer Auffassung sein -: Nehmen Sie zumindest zur Kenntnis, dass ich zwischen der Stromproduktion der Energiewirtschaft und der industriellen Produktion ganz bewusst getrennt habe. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass CCS nach den vorliegenden Stellungnahmen, beispielsweise nach der des Öko-Instituts, im Rahmen der Strategie bis 2050 erforderlich werden könnte. Aus diesem Grund sollte man es gerade für industrielle Prozesse erforschen. Das habe ich mehrfach betont. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Noch eine Frage. Sie haben hier deutlich gemacht, dass man gewisse Sachen nun zur Kenntnis nehmen muss. Ist davon auszugehen, dass Sie auch in parteiinternen Prozessen beispielsweise Herrn Sander aus Niedersachsen von Ihren Positionen überzeugen? Bisher tritt er öffentlich durchaus kritisch auf. In diesem Zusammenhang wird auch Herr Kubicki genannt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kauch, Sie möchten reagieren. Bitte schön.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass Sie erwähnt haben, dass dies auch ein Thema für den Bereich der industriellen Prozesse ist. Ich wünsche mir, dass auch die Sozialdemokraten - das gilt gerade für Sie, der Sie aus Nordrhein-Westfalen kommen, wo es industrielle Kerne gibt - für diese Technologie kämpfen und nicht nur Seminare dazu halten, wofür sie gut oder auch schlecht sein könnte. Das ist mein Punkt: Man muss für die Dinge, die man für richtig hält, auch einmal kämpfen. Ein Zweites. Natürlich gibt es unterschiedliche Auffassungen - in der Union, in der FDP und im Zweifel auch in Ihrer Partei, zumindest auf regionaler Ebene. Wir werden auf unserem Bundesparteitag am Wochenende genau diese Frage zur Abstimmung stellen. Es gibt einen Leitantrag, in dem das Thema CO2-Abscheidung alternativ dargestellt wird: Entweder man entscheidet sich für eine Länderklausel oder für den Ausschluss bestimmter Gebiete aus fachlichen Gründen, aber nicht des gesamten Landesgebietes. Das muss zur Abstimmung gestellt werden. Man muss schauen, wie die Mehrheiten sind. Ich werde mich auf dem Parteitag mit den Parteifreunden auseinandersetzen, die anderer Auffassung sind. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegen heute zwei Gesetzentwürfe vor: einer, in dem Regeln für die geplante Abscheidung und unterirdische Verpressung von Kohlendioxid aufgestellt werden, und ein zweiter, in dem eine solche Verpressung verboten wird. Die Linksfraktion hat den zweiten eingebracht. Wir sind nämlich der Meinung, dass CCS eine Sackgasse ist; diese Technologie ist ein gefährlicher und teurer Irrweg. ({0}) CCS wird, wenn überhaupt, frühestens 2030 großtechnisch verfügbar sein. Dann aber werden die erneuerbaren Energien schon deutlich billiger sein als eine fossile Stromerzeugung mit CCS. Da dies so ist, müsste CCS gegenüber regenerativen Energien schon jetzt massive Vorteile haben; denn sonst könnten wir es ja gleich bleiben lassen. ({1}) Hat CCS also solche Vorteile, etwa bei der Sicherheit? Wohl kaum! Schauen wir uns allein das Drama um die Asse an. Die abenteuerlichen Fehleinschätzungen von Wissenschaftlern und Unwahrheiten der Politiker verschlagen einem hier förmlich den Atem. Mit den strahlenden Erblasten dessen, was angeblich Hunderttausende von Jahren sicher sein sollte, werden sich noch Generationen herumschlagen. Milliarden Tonnen von CO2 sollen ewig sicher sein und in der Erde bleiben. Wem, bitte schön, wollen Sie diesen Unsinn erzählen? Das glaubt einfach niemand. Wie sich Klüfte und Störungen tief in der Erde exakt verhalten, wenn aggressive Gase unter hohem Druck verpresst werden, kann ernsthaft niemand sicher voraussagen. In Schleswig-Holstein sickern aufgrund natürlicher Prozesse schon jetzt extrem salzhaltige Wässer nach oben. Etwa ein Drittel der Trinkwasserreservoire sind deshalb nicht mehr nutzbar. Was ist, wenn der hohe CCS-Verpressungsdruck diese Salzpampe auch in anderen Gegenden irgendwann nach oben drückt? Das Süßwasser wäre dann für riesige Gebiete unwiederbringlich unnutzbar. Überdies: Kohlendioxid ist zwar nicht giftig wie Kohlenmonoxid, wenn man aber bei Unfällen daran erstickt, weil es die Luft verdrängt, dann nützt das herzlich wenig. Dass die Erneuerbaren all diese Risiken nicht haben, ist klar. Bei Sonne und Wind haben wir auch keine Ressourcenprobleme. Setzen wir dagegen weiter in großem Umfang auf Kohle, so machen wir uns - insbesondere bei der Steinkohle - abhängig von bedenklichen Importen. Im Zusammenhang mit der Braunkohle zerstören wir mit Landschaft und Siedlungen nicht nur unsere Heimat, sondern auch den Wasserhaushalt. CCS wirkt dabei wie ein Turbogenerator. Wegen der miesen Effizienz der Technik brauchen wir je Kilowattstunde ein Drittel mehr Brennstoff. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört. Macht CCS wenigstens Sinn, weil die Großkraftwerke länger Grundlaststrom liefern können? Das ist genauso Unfug; denn die schwankende Einspeisung von erneuerbaren Energien muss in ein flexibles System von Erzeugung, Verbrauch und Speicherung eingebettet sein. 2030 wird sicher noch Platz für schnelle Gaskraftwerke sein - heute Vormittag wurde darüber diskutiert -, nicht aber für eine Armada von trägen Kohlekraftwerken mit angeschlossenem Chemiewerk zur CO2-Reinigung. ({2}) Bliebe noch die Mär von CCS als Hilfsbringer für kaum vermeidbare Prozessemissionen in der Industrie, etwa für Stahlwerke oder Zementfabriken. Das ist ja das Totschlagargument gegen grundsätzliche CCS-Kritiker, ähnlich wie das absurde Technologieversprechen der Biomasse-CCS, mit dem irgendwann Treibhausgase aus der Atmosphäre gemolken werden sollen, um sie unter der Erde verschwinden zu lassen. Ich darf dazu anmerken, dass die Industrie selbst gar nicht an CCS allein für Stahl und Kalk glaubt, und zwar nicht nur wegen der horrenden Kosten, sondern auch deshalb, weil es ohne die Infrastruktur für Kohle-CCS auch kein Industrie-CCS geben wird. Allein wegen der Prozessemissionen wird niemand ein eigenes Pipelineund Speichersystem aufbauen, und Biomasse ist dem Wesen nach dezentral zu ernten. Wer hier CCS einsetzen möchte, der erzeugt entweder gigantische Verkehrsströme oder Monokulturen. Was bleibt also von CCS? Die anvisierten geologischen Formationen könnten rechnerisch im besten Fall die Emissionen einer halben Kraftwerksgeneration aufnehmen. Danach ist sowieso Schluss. Dafür hinterlassen wir unseren Enkeln ein neues Endlagerproblem für Tausende Generationen. Das Ganze rechnet sich nicht, und energiewirtschaftlich behindert es die Energiewende. Warum also wollen Sie CCS? Allein um die Laune weniger Konzerne zu bedienen, mit Subventionen noch ein paar Jahrzehnte länger Kohle verstromen zu können? Ich frage Sie: Reicht dies als Begründung aus? ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben gerade einige durchaus berechtigte und richtige Kritikpunkte in Bezug auf CCS aufgezählt ({0}) und legen hier einen Gesetzentwurf vor, der CCS komplett ausschließen soll. Reist man aber durch das Land Brandenburg, stellt man fest, dass CCS dort ein konkretes Thema ist. An der dortigen Landesregierung ist Ihre Partei beteiligt. Man trifft auf einen Wirtschaftsminister, den ich als den größten CCS-Befürworter in Deutschland wahrnehme. ({1}) Sie sollten wenigstens in dieser Debatte ehrlich zugeben, dass auch Sie da einen riesigen internen Konflikt haben und Diskussionen führen. Anderenfalls ist das, was Sie hier machen, Populismus und nicht mehr. ({2}) Herr Kauch, Sie haben sich eben ein bisschen oberlehrerhaft hier hingestellt und angekündigt, ({3}) Sie würden jetzt prozessbedingte Emissionen erklären und sagen, wie das alles zu laufen habe. Dann führten Sie als Beispiel die Aluminiumindustrie an. Es mag sein, dass ich mich täusche; aber ich habe noch nie davon gehört, dass in der Aluminiumindustrie prozessbedingte CO2-Emissionen entstehen. Das ist bei der Stahlindustrie und der Zementindustrie der Fall. Wenn Sie sich schon hier hinstellen, dann erklären Sie das bitte auch richtig. ({4}) Von Frau Reiche habe ich eben fast die gleiche Rede gehört wie vor zwei Jahren: ({5}) Weltweit setze man auf CCS-Technologie; das alles finde weltweit statt. Schauen Sie doch einmal genau hin: In Europa wird im Moment kein einziges CCS-Projekt durchgeführt. Wir haben eine Richtlinie, die 27 Staaten vorschreibt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Realität ist aber, dass erst eine Handvoll von Staaten diese Richtlinie umgesetzt hat und viele mittlerweile auch erklären, dass das für sie kein Thema ist. Keine Spur mehr von der Euphorie, die wir da vor zwei Jahren hatten! ({6}) Das einstige Musterland Norwegen, das bei CCS weltweit Vorreiter sein wollte und auch einige Versuche unternommen hat, hat alle Projekte eingestellt - erst vor kurzem in Mongstad, weil man dort Probleme mit dem Stoff hatte, der das CO2 aus dem Rauchgas abscheidet, weil er hochgiftig ist. All das sollte dazu führen, dass wir das Thema CCS sehr viel realistischer und sehr viel nüchterner betrachten, als das noch vor einigen Jahren der Fall war. ({7}) Es ist kein Wunder, dass die Euphorie vorbei ist; denn CCS löst keine Probleme, sondern verlagert die Probleme nur an eine andere Stelle. CCS ist eine End-ofPipe-Technologie und wird - auch das ist eben schon angeklungen - erst in 10 bis 15 Jahren zur Verfügung stehen, wenn überhaupt. Man kann Zweifel daran haben, ob es überhaupt dazu kommen wird. Aber falls diese Technologie zur Verfügung stehen wird, dann wird das erst in 10 bis 15 Jahren der Fall sein. Das Ganze wird ein Drittel mehr Kohle verbrauchen und damit unwirtschaftlich sein. Das heißt, die Erneuerbaren sind zu diesem Zeitpunkt die wesentlich bessere Klimaschutzalternative. CCS in der Energiewirtschaft hat deutschlandweit und europaweit überhaupt keine Perspektive. ({8}) Sie können den Menschen in Brandenburg doch überhaupt nicht erklären, dass man auf der einen Seite ein Riesenloch gräbt, um Kohle abzubauen, und dafür Landschaften zerstört und Menschen umgesiedelt werden müssen, während auf der anderen Seite 30 Kilometer weiter CO2 in die Erde gepresst wird, womit man den Menschen dort ebenfalls Probleme macht und Sorgen bereitet. So etwas ist nicht zukunftsfähig. Das ist einfach keine nachhaltige Politik. ({9}) Es ist nicht so, dass bei diesem Thema der Widerstand hauptsächlich aus den Umweltverbänden, von den Grünen usw. käme. Wenn ich mir die Stellungnahmen aus Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen und aus Mecklenburg-Vorpommern anschaue, stelle ich fest, dass auch Christdemokraten und Freidemokraten das Ganze kritisch sehen und Widerstand leisten. Das ist auch der Grund dafür, dass Sie, nachdem die Große Koalition vor zwei Jahren einen ersten Anlauf unternommen hat und nachdem die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung nach der Wahl gesagt hat, sie werde noch vor Weihnachten 2009 einen CCS-Gesetzentwurf vorlegen, erst zwei Jahre später damit kommen. Sie haben intern Konflikte, die Sie letztendlich nicht gelöst bekommen. ({10}) Dann haben Sie, um Akzeptanz für Ihren Gesetzentwurf zu gewinnen, eine Länderklausel erfunden, die es den Ländern ermöglichen soll, komplett aus dem Thema CCS auszusteigen. Der Kollege Becker hat es eben schon gesagt: Wenn wir das zum Regelfall bei Gesetzen machen, dann gute Nacht! Hier sehe ich große Schwierigkeiten. Das Interessante ist aber, dass man diese Länderklausel auch so interpretieren kann, dass das Ganze gar nicht funktioniert, dass die Länder das gar nicht leisten werden und es Ihnen nur darum geht, den Schein zu wahren, indem Sie Schleswig-Holstein und Niedersachsen überzeugen, dabei mitzumachen, und so die Mehrheit im Bundesrat sichern. Ich würde Ihnen empfehlen: Tun Sie mit diesem Gesetzentwurf das einzig Richtige: ({11}) Führen Sie ihn einem sinnvollen Zweck zu, nämlich dem Papierrecycling! Das hat dieser Gesetzentwurf verdient. Gehen Sie zurück auf Los! Machen Sie, wenn überhaupt, ein reines CCS-Forschungsgesetz! Stecken Sie die vielen 100 Millionen Euro, die wir von der EU für dieses Thema bekommen, in die erneuerbaren Energien!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Stecken Sie das Geld, wenn Sie bei prozessbedingten Emissionen sparen wollen, in die Forschungsförderung von neuen Verfahren und neuen Materialien! Damit könnten Sie helfen, CO2-Emissionen in diesem Bereich zu vermeiden. Das wäre der richtige Weg. Damit käme man auch bei diesem Thema voran. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum ein anderes Thema wird mit so viel Ambivalenz diskutiert wie CCS, quer durch alle Fraktionen und alle Parteien, zum Beispiel auch in meinem Bundesland Brandenburg, aber auch in den Naturschutzverbänden, bei den NGOs, bei der Exekutive, in den Ministerien, und vor allen Dingen auch in der Gesellschaft. Deswegen möchte ich versuchen, in dieser Debatte einfach einmal die Kausalität aufzuzeigen und das Ganze anhand von drei Fragen zu hinterfragen, nämlich, warum wir überhaupt ein CCS-Gesetz machen, was CCS überhaupt ist und, schließlich, für wen wir CCS machen. Ich werde versuchen, so unaufgeregt, so ideologiefrei und so ergebnisoffen wie nur möglich vorzugehen. Auf der einen Seite sagen die Gegner, es handle sich um eine Horrortechnik und eine Risikotechnologie, ohne überhaupt sicher zu wissen, ob es so ist, weil CCS ja noch gar nicht erprobt ist. Auf der anderen Seite sagen die Befürworter, es handle sich um die Wunderwaffe gegen den Klimawandel und CCS werde letztendlich ein Exportschlager. Nun zur ersten Frage, warum CCS. Ich glaube, es gibt einen Konsens in diesem Hause, dass es einen Klimawandel gibt; jedenfalls sagt das ein erheblicher Teil der Wissenschaft. Gestern hatten wir Professor Schellnhuber im Umweltausschuss. Er hat das wieder mit Vehemenz vorgetragen. Der IPCC, der Weltklimarat, sagt, dass wir die Emissionen des Klimakillers und Treibhausgases CO2 begrenzen müssen, um das Ziel, die Erde um nicht mehr als 2 Grad zu erwärmen, zu erreichen. Durch CCS können bis 2050, Herr Kollege Becker, 15 bis 20 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden. Diese Zahl wurde gestern auch genannt. Wenn wir gemeinsam den Klimawandel bekämpfen und dieses 2-Grad-Ziel erreichen wollen, dann dürfen wir nicht nur den Mund spitzen, sondern dann müssen wir auch pfeifen, dann können wir nicht nur planen, sondern müssen auch anfangen, zu bauen. Wenn wir bauen wollen, brauchen wir aber ein entsprechendes Werkzeug. Dieses Werkzeug - damit komme ich zu der Frage, was CCS ist - ist relativ neu; es liegt noch eingepackt in der Werkzeugkiste. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir es herausnehmen und ausprobieren sollen oder ob wir es unangetastet lassen. Die Frage, ob wir Chancen oder nur Risiken sehen, ist deshalb eine ganz bedeutende. Ich möchte zitieren, was der WWF dazu sagt. Warum? Zum einen ist in der Kürze der Zeit das, was ich nun als Zitat bringe, anders nicht besser zu sagen. Zum anderen handelt es sich beim WWF um einen neutralen Betrachter der Situation, der wohl kaum im Verdacht steht, einem Industriekonzern oder einem Energieversorger auf den Leim zu gehen. Wörtlich sagt ein Vertreter von WWFDeutschland: „Es bringt nichts, die Technik ungeprüft zu verteufeln und damit leichtfertig eine Chance im Klimaschutz zu verspielen“, Weiter oben steht: CCS könne als Übergangstechnik eine wichtige Rolle im Rahmen einer ambitionierten Klimaschutz-Strategie spielen. Der WWF sieht vor allem in den schnell wachsenden Schwellenländern wie China Einsatzgebiete für die Technik. Außerdem heißt es: CCS ist zwar kein Patentrezept im Kampf gegen den Klimawandel; an der weiteren Erforschung der umstrittenen Technologie führe aber kein Weg vorbei. Das finde ich auch. Wir sollten nicht ohne Not auf diese Technologie verzichten. Ich bin immer dafür, die Chancen zu sehen. Deswegen halte ich es auch für sinnvoll, diese Technologie auszuprobieren, zunächst im Rahmen der Demonstration in Brandenburg. Damit bin ich beim dritten Punkt: Für wen machen wir diese Technologie? Natürlich beschäftigen wir uns mit ihr, um dem Klimawandel entgegenzutreten. Auf der anderen Seite machen wir diese Technologie - auch das sage ich klipp und klar - für unseren Industrie- und Hochtechnologiestandort Deutschland, mit allem, was dazugehört; auch die Arbeitsplätze in Deutschland spielen dabei eine Rolle. Ich möchte nicht, dass durch Carbon Leakage die gesamte Industrie abwandert, nicht nur aus Deutschland, sondern letztendlich auch aus Europa. Für den Weg zu den erneuerbaren Energien haben wir ein Energiepaket geschnürt, dessen Umsetzung jetzt noch beschleunigt wird. Wir sind uns einig, dass wir das wollen. Dabei haben wir ein Zieldreieck festgelegt: Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz. Um alle drei Ziele zu erreichen, brauchen wir - das ist meine Meinung - diese Technologie. Ich komme zu meinem Fazit. Sicherheit steht an erster Stelle. Aber wie sicher die Technologie ist, können wir nur bei einer Demonstration feststellen. Es gibt eine Testanlage in Ketzin. Dort kann man schon bei einer kleinen Menge sehen, dass die Speicherung sicher ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Würden Sie gleich danach auch noch eine Zwischenfrage der Kollegin Behm zulassen? Dann haben Sie die Möglichkeit, beide zusammen zu beantworten.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Sie haben über den Erhalt von Arbeitsplätzen gesprochen. Ich habe in meiner Rede gesagt: Wenn wir CCS anwenden, dann können durch die Abscheidung CO2-Emissionen einer halben Generation von Kohlekraftwerken gebunkert werden; danach sind die Speicher voll. Das wissen wir. Wenn Sie aber Industrie-CO2 abscheiden wollen, dann dürfen Sie kein Kohle-CO2 abscheiden, weil Sie Gesteinsformationen für das Industrie-CO2 brauchen. Im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen habe ich gesagt, dass die Industrie das nicht bezahlen wird, weil es sehr teuer ist. Sie haben zu den Kosten bisher nichts gesagt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Behm, bitte.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich meine Frage direkt stellen darf, ist das wunderbar. - Sie haben gerade gesagt, Kollege Koeppen, dass man davon ausgehen kann, dass die CO2-Abscheidung in der Versuchsanlage in Ketzin sicher abgelagert wird. Ist Ihnen bekannt, dass die Versuchsanlage Ketzin früher ein Erdgasspeicher war und dass an dieser Stelle ein Dorf mit Namen „Knoblauch“ stand, das aufgegeben werden musste, als sich in den Kellern der Wohnhäuser plötzlich Gas feststellen ließ? So viel zum Thema Sicherheit. Ist Ihnen das bekannt, und woraus resultiert Ihre Aussage, dass die Lagerung in Ketzin sicher ist? Sie wissen so gut wie ich, dass in der Versuchsanlage bisher reines CO2 eingelagert wurde und erst seit der vergangenen Woche CO2 aus der Kohleverbrennungsabscheidung, das ja verunreinigt ist, eingelagert wird. Wie kommen Sie also zu Ihrer Aussage?

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erst einmal zu der Frage von Frau Bulling-Schröter. Für mich ist CO2 letztendlich ein Rohstoff. Deswegen ist CCS, die Abscheidung und die Einlagerung bzw. Speicherung, für mich eine vorübergehende Technologie, die trotzdem erprobt werden muss. Früher oder später werden wir natürlich auch auf Kohlekraftwerke verzichten - früher oder später. Wir haben eine begrenzte Speicherkapazität; das ist wahr. Wir werden das Klima nicht in Deutschland, schon gar nicht in Brandenburg retten. Aber wir können die Technologie sehr gerne in Deutschland, in Brandenburg demonstrieren, sie erforschen und zeigen, dass sie zum einen sicher ist und zum anderen die gewünschten Effekte hat. Ich erinnere einfach nur an den Transrapid: Wir wollten den Transrapid mit Riesengewinnen als tollen Exportschlager nach Asien verkaufen; aber dann haben wir selbst - nicht wir alle, sondern eher die linke Seite des Hauses - den Transrapid als eine Risikotechnologie verteufelt. ({0}) Warum sollte denn der Chinese oder der Inder sagen: „Jawohl, wir wollen den Transrapid“ - oder auch CCS -, wenn nicht einmal wir selbst in der Lage sind, den Transrapid auf einer 70 Kilometer langen Strecke vom Münchener Flughafen bis in die Innenstadt zu erproben? So ist das auch bei CCS. Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass Ihre Argumente nicht stimmen. Es geht nicht darum, das gesamte CO2 hier in Deutschland zu speichern, sondern nur einen Teil. Jetzt geht es erst einmal um die Speicherung von 8 Millionen Tonnen CO2 im Rahmen einer Exploration, um zu erkennen, ob es funktioniert oder nicht. Damit komme ich zur zweiten Frage. Wenn mir die Wissenschaftler in Ketzin sagen, dass sie davon ausgehen, dass die Einlagerung dieser Mengen - sie berechnen das für mehrere Größen - nach ihren Erkenntnissen sicher ist - ({1}) - Sie können gern lachen. Wenn Sie den Wissenschaftlern in Bezug auf die Aussagen zum Klimawandel vertrauen, dann können Sie auch den Wissenschaftlern vertrauen, die sagen: Nach unseren Jahren der Erprobung gehen wir davon aus, dass es sicher ist. Da wurden verschiedene Drücke ausprobiert, da wurde gespeichert und eingelagert, da wurde beobachtet, wohin sich das CO2 ausbreitet usw. Natürlich wurde - genau wie beim Klimawandel - über Computersimulationen berechnet, wie sich das verhält. Da sind Geologen usw. am Werk. Es tut mir leid: Ich vertraue dann schon den Aussagen dieser Wissenschaftler, die sagen: Sie können nach den Jahren der Erprobung davon ausgehen - das wurde berechnet -, dass ein entsprechendes Großprojekt sicher ist. - Das ist meine Antwort darauf. ({2}) Ich komme zu meinem Fazit zurück: Erstens. CCS muss sicher sein; das muss nachgewiesen sein. Deswegen gibt es die entsprechende Demonstration. Zweitens. Wir brauchen Transparenz; wir brauchen die Akzeptanz und die Beteiligung der Bürger vor Ort, aber auch der Länder. Die Bürger müssen nicht nur mit Informationen bedacht werden, sondern auch mit einer Wertschöpfungsabgabe - wie auch immer sie gestaltet wird -, die ausgeschüttet wird, wenn es Beeinträchtigungen gibt. Die Länderklausel - die Frau Staatssekretärin hat es bereits gesagt - ist eine Handreichung an die Bundesländer: Sie können sagen, wie sie mit der Speicherung umgehen. Ich halte das für ein legitimes Mittel. Der letzte Punkt. Wir müssen die Nutzung von CCS evaluieren und auswerten. Letztendlich müssen wir mit Daten und Fakten demonstrieren, dass die Spekulationen, Horrorszenarien, Vermutungen und Ahnungen durch Wissen ersetzt werden. Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Danke. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil für die FDP-Fraktion. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Unverträglichkeit mit der Gesundheit, die Angst um Leib und Leben und - mehr noch - den Verlust von Raum und Zeit: All dies verbanden die Menschen mit der Einführung der Dampflok in Deutschland. Ich meine die Eröffnung der Strecke Nürnberg-Fürth im Jahr 1835. Der Mensch könne eine derartige Geschwindigkeit gar nicht aushalten, so die allgemeine Meinung. Die tatsächlichen Folgen der Einführung des Eisenbahnverkehrs waren ein Aufblühen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und ein gewaltiger Ausbau der Infrastruktur. Die Dampflok ist weg, die Bedenken sind geblieben. Um den Ausstoß von Kohlendioxid durch Kraftwerke in die Atmosphäre zu senken, soll nun in Deutschland die unterirdische Verbringung von CO2 zunächst einmal getestet werden - nicht mehr und nicht weniger. Denn diese Methode, CCS, muss ihre wirklichen Potenziale für Industrie und Stromerzeugung erst noch zeigen. ({0}) Besonders die Sicherheit der Speicher ist nachzuweisen. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Zuverlässigkeit der Technik auch in Demonstrationsvorhaben erprobt werden kann. Am Computer geht das nicht. Ohne Probe gibt es keinen Nachweis. Nur im praktischen Verfahren können die offenen Fragen zu Umwelt12364 risiken, Speicherpotenzialen und Kosten realistisch beantwortet werden. Hierauf wird die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe mit ihrer weltweit anerkannten Professionalität stets ein waches Auge haben. Eine weitere Frage ist die nach dem Rohstoff CO2. Das jetzt so verteufelte Klimagas Kohlendioxid könnte in absehbarer Zukunft als wichtiger Rohstoff lediglich auf gewisse Zeit eingelagert werden, quasi als Zwischenspeicher. Jedenfalls sollten wir positiver an die Sache herangehen. Doch auch hier werden, wie damals in Nürnberg, Besorgnisse und Befürchtungen in der Bevölkerung wach. Das ist teilweise verständlich. Aus diesem Grund wird CCS nicht etwa flächenhaft eingeführt, sondern es wird lediglich die rechtliche Grundlage für die Erkundung, die Errichtung und den Betrieb von Demonstrationsvorhaben geschaffen. ({1}) Langfristig wollen wir den Ausstoß von Treibhausgasen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, das CO2 also quasi abschaffen. Dabei dürfen wir allerdings nicht diejenigen Industriezweige übersehen, die aus rein technischen Gründen nicht in der Lage sind, ihren CO2-Ausstoß noch weiter zu verringern. Es sind dies vor allem diejenigen Unternehmen, die am Anfang der Wertschöpfungskette in Deutschland stehen. Würden wir dieser wirtschaftlichen Basis unseres Landes die Perspektive nehmen, wären diese Firmen mit ihren Arbeitsplätzen in Deutschland nicht mehr zu halten. ({2}) Das gilt dann auch für die Nachfolgenden in der industriellen Wertschöpfungskette. Das will niemand. Also müssen wir schon allein dafür Optionen eröffnen. Für den Vollzug und die Durchführung des Gesetzes werden die Länder zuständig sein. Gleichwohl sollten gerade diejenigen Bundesländer, die im Länderfinanzausgleich von der Wirtschaftskraft der anderen - und somit auch von deren CO2-Emissionen - besonders profitieren, über ihren eigenen Schatten springen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr Kollege Krischer, mit den Linken ist es noch sehr viel schlimmer, als Sie es beschrieben haben. Wenn Sie eben Frau Bulling-Schröter zugehört haben, dann konnten Sie feststellen, dass sie sich bei dieser Gelegenheit auch noch gegen die Braunkohle positioniert hat. ({0}) Das ist Doppelzüngigkeit, die man den Linken an dieser Stelle vorhalten muss. Denn das tun Sie hier im Plenum gerne; aber draußen vor Ort, wo Braunkohle abgebaut wird, positionieren sich die Linken und ihre Gewerkschaftsfreunde ganz gern gegenteilig. Es wäre schon sinnvoll, wenn Sie, um die Öffentlichkeit nicht zu täuschen, eine Klärung herbeiführen könnten und uns mitteilten, was Sie eigentlich wollen. Sind Sie dafür oder sind Sie dagegen? Das ist die spannende Frage. ({1}) Frau Bulling-Schröter, Sie haben in diesem Zusammenhang auch einen Vergleich zwischen der CO2-Endlagerung und der Endlagerung von Kernbrennstoffen gezogen. Das zeigt, dass es Ihnen darum geht, eine Verunsicherungsstrategie aufzubauen, die letztendlich zu einem CCS-Verbot führen soll, das Sie in Ihrem Gesetzentwurf grundsätzlich vorschlagen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie die Frage von Frau Bulling-Schröter zulassen?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Apropos Verunsicherung: Der Petitionsausschuss befasst sich momentan mit 80 000 Petitionen zum Thema CCS bzw. dem Verbot von CCS. ({0}) Glauben Sie, dass nur wir die Menschen verunsichern? Oder glauben Sie, dass Menschen auch eigenständig denken können?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gehe davon aus, dass Menschen eigenständig denken, absolut. ({0}) Es gibt insbesondere in Bayern Menschen, die selbstständig denken. Ich würde mich auch dazu zählen. Im Übrigen weiß ich noch nicht, was Sie mir jetzt mit dem Hinweis sagen wollen. Sie werden im Laufe meiner Rede mitbekommen, dass ich nicht ein glühender Fan dieser Technologie bin und auch nicht derjenige, der sagt: CCS löst unsere Probleme; wir können das CO2Problem umfassend und schnellstmöglich lösen. Das ist überhaupt nicht der Fall. Ich sage nur: Man sollte nicht unnötig und zusätzlich - auch wenn man die Risiken und Bedenken sieht - noch eins draufsetzen und den Teufel an die Wand malen. Im Übrigen sollte man in seiner Politik konsistent sein und nicht hier etwas anderes fordern als draußen im Lande. Da werde ich ja wohl recht haben, liebe Frau Bulling-Schröter. ({1}) Im Übrigen bitte ich auch darum, nicht so zu tun, als ob wir jetzt in die großindustrielle Anwendung gingen. Das ist nicht wahr. Mehrfach ist schon betont worden, dass es um Erforschung, Erprobung und Demonstration geht. Ich habe heute in einigen Reden durchgehört, dass das bezweifelt wird. Aber, meine Damen und Herren, das steht ausdrücklich im Gesetz. Im Gesetz steht ebenfalls ausdrücklich, dass 2017 eine Evaluation erfolgt. Erst dann wird entschieden, wie es mit dieser Technologie weitergeht. Insofern, Herr Kollege Becker, verstehe ich die kategorische Ablehnung der SPD nicht, die Sie angekündigt haben; denn das ist die Unzeit dafür. Ich habe bereits unterstrichen, dass ich kein glühender Anhänger dieser Technologie bin. Es gibt Eigentumsrechte, die Probleme machen, und es gibt Risiken, über die man diskutieren muss. Ich sage aber auch: In der jetzigen Phase tun wir uns energiepolitisch ausgesprochen schwer; denn wir sehen, dass die Erfüllung von Klimazielen bei uns zunehmend schwieriger wird, wenn wir früher aus der Kernenergie aussteigen, was wir alle tun wollen. In dieser Phase Denkverbote und Versuchsverbote zu verhängen, wäre falsch. Deshalb muss man sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Ich bin der Meinung, dass wir diese Technologie national eher weniger nutzen werden. Das ist nur eine Prognose; die muss nicht richtig sein. Das kann sich im Laufe der Erprobungsphase in eine andere Richtung entwickeln. Wenn wir aber wirklich auf dieses 95-ProzentZiel zusteuern wollen, müssen wir eine Idee haben, was wir mit den Prozessen tun, bei denen CO2 logischerweise entsteht. Wir müssen überlegen, wie wir mit dieser Thematik umgehen wollen. Ich sage ganz offen: Wenn man eine solche Strategie verfolgt, dann kann es nicht sein, dass das in Form der Deindustriealisierung Deutschlands geschieht, indem man Unternehmen aus unserem Land vertreibt. Das hilft niemandem, und es hilft schon gar nicht dem Klima. Ich glaube, dass wir diese Technologie mit Blick auf die internationale Situation prüfen müssen. China hat seit dem Jahr 2000 den CO2-Ausstoß von ehemals 3 Milliarden Tonnen mehr als verdoppelt und hatte zeitweise einen jährlichen Zuwachs an CO2-Ausstoß, der so groß ist wie der gesamte CO2-Ausstoß in Deutschland. Das sage ich deshalb so nachdrücklich, weil ich in der Debatte, die wir hier führen, ein wenig die Relationen vermisse. Manches von dem, was wir hier diskutieren, stimmt mit Blick auf die internationalen Zahlen nicht. Man kann nicht so tun, als würden wir auf der Ökoinsel Deutschland die Welt retten. Das ist ein falscher Ansatz. Wir müssen die Realität im Blick behalten. Wenn man einen Strich unter das Ganze zieht, muss man realistischerweise sagen: Die Kohle dieser Welt wird verbrannt werden. Die Frage ist: Mit welcher Technologie? Gelingt es uns, dafür Ersatz zu schaffen? Im Hinblick auf den Energiehunger einer immens wachsenden Weltbevölkerung bin ich skeptisch - das sage ich Ihnen ganz offen -, dass uns das mit ein paar Windrädern gelingen wird. Ich bin eher der Meinung, dass die fossilen Brennstoffe auf dieser Welt noch eine ganze Weile eine Rolle spielen werden. Deshalb muss sich Deutschland überlegen, ob wir nicht im Rahmen einer Technologieführerschaft das eine oder andere anbieten können. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/5750, 17/5232 und 17/3056 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Raju Sharma, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen stärken - Drucksache 17/5523 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Innenausschuss Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Raju Sharma für die Fraktion Die Linke. ({1})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke hat einen Antrag zum Kirchenarbeitsrecht vorgelegt. Linke und Kirchen - da gehen natürlich gleich die Schubladen auf: DDR, SED, Unrecht gegen Gläubige. ({0}) Ja, wir sind die Rechtsnachfolgerin der SED. ({1}) Ja, wir wissen um das in der DDR begangene Unrecht an Gläubigen. Aber auch: Ja, wir stellen uns unserer Verantwortung. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, und wir kennen die Geschichte. ({2}) - Herr Kollege, ein Wort dazu: Ich sagte gerade, dass wir uns unserer Verantwortung stellen, anders als so manche Blockflöten und Schalmeien aus Ihren Reihen. ({3}) Wir stellen uns mit unserem Antrag nicht gegen die Kirchen und erst recht nicht gegen die Gläubigen. Wir stellen uns mit unserem Antrag an die Seite von 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei den Kirchen und den kirchlichen Einrichtungen. Ihre Rechte wollen wir schützen. Wir wollen, dass ihnen und ihrer Arbeit die nötige Achtung entgegengebracht wird. ({4}) Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Antrag für alle Fraktionen dieses Hauses zustimmungsfähig ist. Ich will das kurz belegen: Die FDP versteht sich als Partei der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs. ({5}) Wir leisten uns aber ein Sonderarbeitsrecht, das es den Kirchen ermöglicht, ihren Beschäftigten bis zu 30 Prozent niedrigere Löhne zu zahlen, als sie auf dem Markt üblich sind. ({6}) Nun mögen Sie mit Lohndumping im Prinzip kein Problem haben. ({7}) Hier aber haben wir eine Bevorzugung der Kirchen gegenüber anderen privaten Dienstleistern, die sich auf demselben Markt tummeln. Wenn Sie fairen Wettbewerb haben wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu. ({8}) Die Union stellt sich als Partei dar, die sich insbesondere dem Schutz der Familien verschrieben hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürzlich die Kündigung eines Chorleiters für unrechtmäßig erklärt, weil die Kündigung durch die katholische Kirche ein Verstoß gegen das Recht auf persönliche Lebensgestaltung darstellte und das Recht auf Schutz der Familie verletzt wurde, weil der Familie der nötige Schutz verweigert wurde. Folgen Sie dem Gericht: Stimmen Sie unserem Antrag zu. ({9}) - Ja, aber die katholische Kirche hat gekündigt. Insofern stimmt das schon. ({10}) - Das ist auch gut. Ich glaube sowieso, dass wir bei den Grünen mit unserem Antrag offene Türen einrennen müssten. Die Erzdiözese Köln hat kürzlich einem Religionslehrer und renommierten Theologen die Lehrbefugnis mit der Begründung entzogen, dass er schwul ist. Das kommt faktisch einem Berufsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung gleich. Volker Beck, ein Kollege aus Ihren Reihen, hat diesen Vorgang als hanebüchen beschrieben. ({11}) Damit hat er völlig recht. Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu. ({12}) Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die SPD versteht sich als Partei, die sich insbesondere für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer starkmacht. Hier aber haben wir ein Sonderarbeitsrecht. Wir haben ein Arbeitsrecht zweiter Klasse für 1,3 Millionen Beschäftigte in Kirchen und kirchlichen Einrichtungen. Das wollen wir nicht, und das könnt auch ihr nicht wollen. Deswegen: Stimmt unserem Antrag zu. ({13}) Unser Antrag ist weder weltfremd noch blauäugig. Es ist ein Unterschied, ob jemand als Pfarrer in der Kirche beschäftigt ist oder als Putzfrau. ({14}) Jemand, der in seiner Predigt am Sonntag den Gläubigen den Kopf wäscht, hat eine andere Verantwortung als diejenigen, die am Montag den Kirchenboden schrubben. Aber ihre Rechte und ihre Interessen haben wir vor allem im Blick. Sie wollen wir schützen, und wir wollen, dass ihnen und ihrer Leistung gebührender Respekt entgegengebracht wird, und zwar nicht erst im Himmelreich, sondern schon auf Erden. Vielen Dank. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben eine sehr kluge Entscheidung getroffen; denn sie haben die mühsam ausgehandelten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung einfach in Art. 140 des Grundgesetzes übernommen. Für das kirchliche Arbeitsrecht gilt die maßgebliche Garantie des Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung, in dem steht: Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Diese klare Unterscheidung, was die Kirche selbstständig regeln kann und was Sache des Staates ist, ist übrigens eine der großen Errungenschaften der Neuzeit, an der wir festhalten wollen. Aus dem Antrag der Linken kann man nur eines entnehmen, nämlich dass sie es so wie in der alten DDR halten will, wo der Staat definiert hat, was Kirche ist, und nicht die Kirche. Dagegen wehren wir uns entschieden. ({0}) Die Unterscheidung zwischen einem Pfarrer und anderen Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die Sie eben vorgenommen haben, können Sie nicht machen. Das muss die Kirche definieren. Kirche ist von ihrem Auftrag her nicht nur Seelsorge und Verkündigung, sondern genauso und wesentlich auch tätige Nächstenliebe, also Caritas und Diakonie. Ohne Caritas und Diakonie gibt es keine Kirche. Wenn also die Kirchen ihre Angelegenheiten und ihr Arbeitsrecht verfassungsgemäß selbstständig regeln können, dann gilt das selbstverständlich auch für die karitativen und diakonischen Einrichtungen und Dienste. ({1}) Ich finde, wir können in Deutschland froh sein, dass Caritas und Diakonie mit einer Vielzahl von Krankenhäusern, Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Kindertagesstätten, Schuldnerberatungs- und Suchtberatungsstellen sowie vielen weiteren Diensten zur sozialen Infrastruktur in unserem Land beitragen und konkret die Not vieler Menschen lindern helfen. Ich bin froh, dass es die Kircheneinrichtungen in unserem Land gibt, und ich will, dass sie auch in Zukunft bestehen bleiben. ({2}) Übrigens, die konkrete Hilfe für Menschen in Not und Armut, mit Behinderung und Krankheit ist meines Erachtens das glaubwürdigste Zeichen für die Ernsthaftigkeit des Doppelgebots, der Gottes- und Nächstenliebe, dem Christinnen und Christen verpflichtet sind. Was bedeutet die eigenständige Regelung der Angelegenheiten der Kirchen praktisch? Erstens. Die Kirchen regeln die Vergütung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Gremium, das paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw., um es in der Sprache der Kirchen zu sagen, von Dienstnehmern und Dienstgebern besetzt ist, in dem keiner die andere Seite überstimmen kann. Alle kirchlichen Einrichtungen sind an diese Tarifregelungen, die gemeinsam gefunden worden sind, gebunden. Diese von den paritätisch besetzten Kommissionen festgelegten Tarifgehälter sind übrigens in der Regel höher als die Gehälter, die bei anderen nichtkirchlichen Wohlfahrtsorganisationen oder im privatgewerblichen Bereich gezahlt werden. ({3}) - Doch, es ist nach wie vor so. Es gibt keinen Fall, in dem schlechter bezahlt wird als nach von Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträgen. Das zeigt übrigens, dass die Mitarbeitervertreter der Kirche sehr erfolgreich Löhne aushandeln. ({4}) Zweitens. Die Mitbestimmung der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt über gewählte Mitarbeitervertretungen. Das ist sozusagen die Bezeichnung für kirchliche Betriebsräte. Während im Geltungsbereich des staatlichen Betriebsverfassungsgesetzes gerade einmal 30 Prozent aller Betriebe einen Betriebsrat haben, haben im Bereich von Kirche, Caritas und Diakonie 65 Prozent aller Betriebe Mitarbeitervertretungen. Bei Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten sind sogar in 85 Prozent der Betriebe Mitarbeitervertretungen vorhanden. Im Gegensatz zur Behauptung der Linken gibt es also nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung. Die Gewerkschaften in Deutschland würden Jubelchöre ohne Unterlass anstimmen, wenn wir in der freien Wirtschaft eine Betriebsratsquote von 65 bzw. 85 Prozent hätten, wie es sie bei der Kirche gibt. Dazu kommt, dass diese Mitarbeitervertretungen Dachorganisationen auf Diözesan-, Landes- und Bundesebene mit aus Kirchenmitteln bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bilden können, um auch auf übergeordneter Ebene ihre Interessen zu vertreten. Nun ist im Antrag der Linken sowie in einer früheren Anfrage des Bündnisses 90/Die Grünen problematisiert worden, dass es einzelne kirchliche und karitative Einrichtungen bzw. Teile von diesen gebe, die sich ausgliedern, um die Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts und des kirchlichen Vergütungssystems zu umgehen. Eines muss klar sein: Wer Rosinen pickt und nicht das ganze Recht anwendet, der kann irgendwie auch nicht zum Bereich des Kirchendienstes gehören. Für den gilt dann das staatliche Arbeitsrecht und das Betriebsverfassungsgesetz. Das gilt selbstverständlich auch für das Streikrecht und die Organisation der Beschäftigten in Peter Weiß ({5}) Gewerkschaften, die die Tarifverträge für die Beschäftigten aushandeln. Man kann nicht halb, man kann nur ganz bei der Kirche dabei sein. Wer zur Kirche gehört und wer nicht, definiert allerdings nicht der Staat. Das muss die Kirche selber definieren. So hat zum Beispiel der Deutsche Caritasverband im Jahre 2007 in seinen tarifpolitischen Leitlinien eindeutig bestimmt: Ausgründungen oder Ausgliederungen aus tarifpolitischen Gründen sind nicht zulässig. Punkt. Basta. Der Vorsitzende des Caritasverbandes meiner Heimatdiözese, Weihbischof Dr. Bernd Uhl, hat in einem Zeitschriftenartikel klar formuliert: Wer aus der kirchlichen Tarifgemeinschaft ausschert, kann deren Vorteile nicht mehr in Anspruch nehmen. In diesem Bereich muss Klarheit herrschen. Deswegen begrüße ich sehr, dass die deutschen Bischöfe vorhaben, in der Grundordnung des Kirchendienstes für eine Klarstellung zu sorgen. Zum Kirchendienst gehört nur, wer das Tarifsystem und das gesamte kirchliche Arbeitsrecht anerkennt. Wer sich aus Teilen davonschleichen will, ist eben nicht mehr dabei und fällt unter die staatlichen Regelungen. Vor diesem Hintergrund stellt man fest, dass der Antrag der Linken in die vollkommen falsche Richtung geht. Deswegen sagen wir Ja zu kirchlichem Selbstbestimmungsrecht. Dazu müssen sich aber auch alle an die vereinbarten Regelungen halten. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich offenkundig um eine ausgesprochen sensible Materie. Es macht daher wenig Sinn, jetzt mit Schaum vor dem Mund hier herumzuwüten. ({0}) - Das macht nie Sinn, sagt der Herr Kollege aus Frankfurt, immer inspiriert von Oswald von Nell-Breuning, soviel ich weiß. Sie haben neulich einen Mindestlohn vorgeschlagen, der ausreichen soll, um im Alter eine gute Rente zu erzielen. Sie haben die Firma Lidl mit 10 Euro pro Stunde genannt. Aber das nur am Rande. Zum Antrag selbst: Der Kollege Sharma hat um die Zustimmung aller Fraktionen gebeten, weil der Antrag zustimmungsfähig für alle Fraktionen sei. Das Problem der Linkspartei ist, dass sie bei diesem Antrag große Probleme innerhalb ihrer eigenen Partei hat. Ich will Ihnen zwei Sätze aus einer Meldung von heute Vormittag zitieren. Da heißt es: Die religionspolitischen Sprecher der Linken-Landtagsfraktionen lehnten in einer Sitzung am Mittwochabend in Berlin einen Antrag der Bundestagsfraktion ab, der am Donnerstag im Bundestag beraten werden sollte. ({1}) Bezogen auf den Kollegen Ramelow - allseits bekannt heißt es weiter: Der Antrag könne jedoch so interpretiert werden, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht infrage gestellt werde. „Der Tendenzschutz ist ein Gut, das die Linke bei Parteien und Gewerkschaften respektiert“, sagte Ramelow. Das müsse auch bei den Kirchen gelten. Es gibt offenkundig Probleme mit dem Antrag bei der Linken selbst. ({2}) Bevor Sie die übrigen Fraktionen auffordern, dem Antrag zuzustimmen, sollten Sie erst einmal dafür sorgen, dass die eigenen Reihen in Ordnung gebracht werden. ({3}) - Herr Kollege, Sie wollen sich mit einer Zwischenfrage äußern? Frau Präsidentin?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Sharma, bitte schön.

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Schreiner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Linke eine wirklich plurale und pluralistische Partei mit vielen Meinungen ist? ({0}) Der von mir sehr geschätzte Bodo Ramelow ist jemand, der pointierte Meinungen hat und sie auch sehr deutlich artikulieren kann. Er spricht aber nicht für die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag, für die ich heute gesprochen habe und für deren Antrag ich heute bei Ihnen geworben habe. So ist es halt bei uns. ({1})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, es nutzt wenig, wenn die Linksfraktion hier im Bundestag etwas einbringt, das von ihren Länderorganisationen unisono abgelehnt wird. ({0}) Sie verwechseln Pluralität der Organisation mit völliger Zerstrittenheit der Organisation. Das ist ein Unterschied. ({1}) Das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Insofern sehe ich nicht ein, warum wir Ihnen jetzt dabei helfen sollten, für Ordnung in den eigenen Reihen zu sorgen. Das ist Ihr Bier und Ihre Angelegenheit. Ich will zunächst einmal ein paar Sätze zum Verständnis Ihres Antrags sagen, weil er auf den ersten Blick wenig einleuchtend erscheint. Der Kollege Weiß hat eben die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung angesprochen, die im Rahmen von Art. 140 des Grundgesetzes Gegenstand unserer Verfassung geworden sind. Der Hintergrund ist, dass wir in Deutschland eine säkulare Rechtsordnung haben. Es besteht die gleiche Freiheit für die weltanschaulichen Überzeugungen aller Bürger. Auf dieser Grundlage ist ein kooperatives Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften entstanden, das sich aus meiner Sicht bewährt hat und dessen Grundzüge nicht angegriffen werden sollten. - Das sage ich vorneweg zum besseren Verständnis. Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass die entsprechenden Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden sind. Daraus folgen die sogenannten kirchlichen Selbstbestimmungsrechte und Sonderregelungen bei der Behandlung von Beschäftigten. Dies nennen die Kirchen den sogenannten Dritten Weg, der, jedenfalls nach dem Verständnis der beiden christlichen Kirchen, für einen angemessenen Ausgleich der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen in den kirchlichen Einrichtungen sorgen soll. Das ist die Ausgangslage bzw. der Hintergrund des offenkundigen Konflikts. Ich will hinzufügen: Im Kern geht es darum, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit und das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Grundgesetz zum Ausgleich gebracht werden müssen. Das ist kein staatlicher Vorgang, sondern ein ständiger dynamischer Prozess. Ich will aus Sicht meiner Fraktion und meiner Partei klarstellen: Das Verhältnis Staat/Kirche hat sich in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten grundsätzlich bewährt; dies gilt auch für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Soweit es aber auf einzelnen Feldern oder in Einzelfällen zu Missbräuchen kommt, müssen diese abgestellt werden, am besten möglichst rasch und durch die Kirchen selbst. Es geht nicht darum, die Kirchen an den Pranger zu stellen. Aber wenn es Missbräuche gibt - es gibt offenkundig welche -, ({2}) dann müssen sie abgestellt werden. ({3}) Im Übrigen haben sich die Grünen vor wenigen Monaten darum bemüht, mehr Klarheit zu schaffen. Die Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen haben eine Kleine Anfrage gestellt. Die Antworten der Bundesregierung bestehen weitestgehend aus kahlen Flächen. Es wird nichts vernünftig klargestellt. Die Bundesregierung stellt sich offenkundig dümmer, als sie wirklich ist. ({4}) Bedauerlicherweise ist das so. Herr Kollege Brauksiepe, Sie sind ausdrücklich ausgeschlossen, weil Sie an der Beantwortung der Fragen nicht beteiligt waren. So kann man mit parlamentarischen Anfragen einer Fraktion nicht umgehen. Dann kann man auch gleich die Finger davon lassen. ({5}) Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe, möchte ich nur zwei Bemerkungen zum konkreten Inhalt des Antrags der Linksfraktion machen. Sie führen in Ihrem Antrag wörtlich aus - ich zitiere -: Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände … haben sich von der Bindung an die Tarife des öffentlichen Dienstes gelöst … Die neuen Vergütungsordnungen sollen Wettbewerbsvorteile erzielen, indem das Vergütungsniveau abgesenkt wird. In Ihrem Antrag heißt es weiter: Durch Ausgründungen von Betriebsteilen und niedrig bezahlte Leiharbeit sollen zusätzliche Kostenvorteile erzielt werden. - Das heißt im Klartext - das ist meine Interpretation; ich bin nämlich sehr für Klartext -: Die kirchlichen Einrichtungen bemühen sich systematisch darum, sich durch das Instrument des Lohndumpings einen zentralen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Wenn das richtig wäre, dann müsste das abgestellt werden. Die Sonderregelungen im kirchlichen Arbeitsrecht dürfen nicht dazu da sein, sich Privilegien zulasten der Arbeitnehmerschaft, der Beschäftigten bei den Kirchen, zu verschaffen. Das wird allerdings, ähnlich wie es der Kollege Weiß eben gesagt hat, zumindest von der Caritas, der Wohlfahrtsorganisation der katholischen Kirche, entschieden bestritten. Die Caritas hat mir heute Morgen schriftlich mitgeteilt, dass die Löhne und Gehälter im kirchlichen Dienst, jedenfalls bei der Caritas, in der Regel deutlich über den tariflich vereinbarten Löhnen lägen. Insofern sei der sogenannte Dritte Weg, was die arbeitsrechtliche Konstruktion betrifft, kein Wettbewerbsvorteil. Es bestehe aber ein massiver Druck der Kostenträger. ({6}) Alle Einrichtungen, die im Pflegebereich oder in anderen Bereichen der sozialen Dienstleistungen tätig sind, beklagen, dass der Druck der Kostenträger immer unerträglicher wird. Dass sich das auch in der Lohngestaltung niederschlägt, ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Es ist aber kein Spezifikum der kirchlichen Einrichtungen. Dass die kirchlichen Einrichtungen gegebenenfalls darunter zu leiden haben, steht außer Frage. Ich stelle die Behauptung streitig, dass vonseiten kirchlicher Einrichtungen - wie Sie sagen, von Caritas und Diakonischem Werk generell - systemisch Lohndumping betrieben wird, um Wettbewerbsvorteile zu erreichen. Das muss geklärt werden. Die Aussagen stehen sich außerordentlich kontrovers gegenüber. Wenn dem so wäre, wäre das auf Dauer nicht hinnehmbar. Das zweite Beispiel, das Sie in Ihrem Antrag nennen, leuchtet mir ein. Sie beschreiben den Zusammenschluss von kirchlichen Einrichtungen zu Interessenverbänden wie dem VdDD, dem Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland. Der Verband diakonischer Dienstgeber - bei den Kirchen heißt es Dienstgeber statt Arbeitgeber sei Mitglied in der BDA, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, geworden und dort sogar im Vorstand vertreten. Das ist einem kirchlichen Verband völlig unbenommen. Aber wenn das so ist, dann müssen die Gewerkschaften dieselben Rechte im kollektiven Arbeitsrecht haben, wie es andernorts der Fall ist. Man kann nicht von einem Dritten Weg reden, wenn man auf der einen Seite Mitglied in der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände ist und damit alle Möglichkeiten der organisierten Arbeitgeberseite ausnutzt, aber auf der anderen Seite sagt, die Arbeitnehmer müssten sehen, wie sie mit den angebotenen Regelungen zurechtkommen. Das geht nicht. Das wäre ein nicht zu ertragender Widerspruch und müsste in der Konsequenz geändert werden. ({7}) Ich komme zum Schluss. Wir wollen unsererseits die Vorgänge sorgfältig prüfen. Es sind fast 2 Millionen Menschen betroffen. Mit insgesamt 1,7 Millionen Beschäftigten sind die Kirchen der größte Arbeitgeber in Deutschland. ({8}) Es geht also nicht um irgendein Thema, sondern um einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmerschaft und ihre Arbeits- und Lohnbedingungen. Wir wollen und werden das Gespräch darüber suchen. Die Kirchen wären gut beraten, wenn sie auch in ihrer Funktion als Arbeitgeber Vorbild wären. ({9}) Es geht auch um die Glaubwürdigkeit dessen, was der Kollege Weiß eben Caritas genannt hat, nämlich tätige Nächstenliebe. In dem Fall beginnt die tätige Nächstenliebe bei den eigenen Beschäftigten. Man kann sie nicht über Lohndumping und anderes in die Ecke drücken. Frau Präsidentin, ich habe Ihre Hinweise bemerkt und komme zum letzten Satz.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das geht aber schon über die Nächstenliebe hinaus.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der beste Beitrag der Kirchen wäre, wenn sie ihrerseits vorhandene Missstände möglichst rasch abschafften. Das wäre der beste Beitrag dazu, dass das bewährte Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch in Zukunft vom Grundsatz her in Deutschland nicht infrage gestellt wird. Wir haben genügend Konflikte. Mehr brauchen wir wirklich nicht. Schönen Dank, Frau Präsidentin. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, in der Tat ist die FDP die Partei, die sich der sozialen Marktwirtschaft und auch dem Wettbewerb verschrieben hat und die sich verantwortlich fühlt, Religionsfreiheit nicht nur in der Bundesrepublik zu erhalten, sondern auch weltweit dafür einzutreten. Das Thema, über das wir heute sprechen, ist im Kern eine Frage der Religionsfreiheit. Das lassen Sie in Ihrem Antrag außer Acht, aber - darauf hat der Kollege Schreiner glücklicherweise schon hingewiesen - Ihr Kollege aus dem thüringischen Landtag, der dortige Fraktionsvorsitzende, hat das sehr wohl verstanden. Er kritisiert den Antrag, den Sie als Bundestagsfraktion der Linken eingebracht haben, mit den Worten - ich zitiere Bodo Ramelow -: Der Tendenzschutz ist ein Gut, das die Linke bei Parteien und Gewerkschaften respektiert. Das müsse auch bei den Kirchen gelten. Es geht also bei den Kirchen um ein besonderes Arbeitsverhältnis, das eben nicht vom Kapital auf der einen Seite und Arbeit auf der anderen Seite und von der Frage der Gewinnmaximierung bestimmt ist. Bei den Kirchen geht es vielmehr um den kirchlichen Auftrag, nämlich die Verkündigung des Wortes Gottes in Wort und Tat. Wie sie das tun, ist Auftrag und Verantwortung der Kirchen selbst. Das können und wollen wir nach dem im Grundgesetz verankerten Grundsatz der Religionsfreiheit den Kirchen nicht vorschreiben, auch nicht den kirchlichen Arbeitgebern. Sie haben als Beispiel genannt, dass der Verkündigungsauftrag für einen Pfarrer etwas anderes bedeutet als für eine Reinigungskraft, die die Kirche säubert. Das mag Ihnen plausibel erscheinen. Die Grundsätze unserer Verfassung, die die Religionsfreiheit festschreiben, geben den Kirchen aber das Recht, dies selbst zu definieren. Wir respektieren das und wollen den Kirchen in diesen Fragen nicht hineinreden. ({0}) Die Kirchen verfahren - das ist von Kolleginnen und Kollegen schon beschrieben worden - nach dem System des sogenannten Dritten Weges. Es handelt sich um eine besondere Sozialpartnerschaft. Warum sollte es im Übrigen nicht etwas Besonderes in unserer Gesellschaft geben? Auch hier ist es möglich, Vergleiche zu ziehen und voneinander zu lernen. Sozialpartnerschaft bedeutet zunächst eine paritätisch besetzte arbeitsrechtliche Kommission, die eine Verständigung erzielt. Die verbleibenden Sachkonflikte werden durch eine neutrale und verbindliche Schlichtung geklärt. Das System des Dritten Weges ist sowohl durch das Bundesverfassungsgericht als auch durch das Bundesarbeitsgericht anerkannt worden. Durch die Gestaltung des Schlichtungsverfahrens ist zudem ausgeschlossen, dass sich eine einzelne Partei mit ihren Vorstellungen durchsetzen kann. Es ist empirisch belegbar, dass die Schlichtungsverfahren regelmäßig die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigen. Die Regelung des Dritten Weges stellt sicher, dass die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewahrt werden, aber auch auf Arbeitskampfmittel verzichtet werden kann. Auch das wird durch den Dritten Weg sichtbar. Es würde nicht dem Selbstverständnis der Kirchen entsprechen, auf Mittel des Arbeitskampfes wie beispielsweise den Ausschluss von Mitarbeitern zurückzugreifen. Der Antrag der Linken im Bundestag stellt in seinem Grundtenor die Religionsfreiheit sowie die Trennung von Staat und Kirche in der Bundesrepublik infrage. Dies lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion entschieden ab. Wir treten für diese Unterscheidung, aber auch für die Selbstständigkeit beider Institutionen ein. Nach dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist es Angelegenheit der Kirche, zu klären, welche Berufsbilder es in ihr gibt und wie die jeweiligen Berufsbilder an der Erfüllung des Verkündigungsauftrags mitwirken. Die Kirchen haben auch die Verantwortung, darüber zu entscheiden, ob die Zugehörigkeit zur Kirche Voraussetzung für die Einstellung ist, genauso wie Sie es zur Voraussetzung machen können, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Linkspartei beispielsweise nicht zugleich Mitglieder der FDP sind. Ich erinnere daran, dass Sie etwas für sich selber in Anspruch nehmen, das Sie den Kirchen verweigern wollen. Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten konsequent und aufrichtig Ihre Positionen vertreten. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Josef Winkler hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hat sich im Rahmen einer Kleinen Anfrage mit dem sogenannten Dritten Weg der Kirchen auseinandergesetzt. Es wurde bereits gesagt, dass die Antwort der Bundesregierung recht dürftig ist. Für uns scheint aber erkennbar zu sein, dass die Bundesregierung bis zum heutigen Tag nichts für veränderungsbedürftig und kritikwürdig hält. Diese Ansicht teilt meine Fraktion explizit nicht. ({0}) Wir befinden uns im Dialog sowohl mit der Arbeitgeberseite als auch mit der Arbeitnehmerseite, auch mit den Gewerkschaften, die versuchen, auf dem Klageweg Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchzusetzen und auszubauen. Es geht uns aber nicht darum, mit dem Finger auf die Kirche zu zeigen und ihre Tätigkeit im sozialen Bereich schlechtzureden. Diese Arbeit sollte vielmehr gewürdigt werden. Die Vielzahl der kirchlichen Einrichtungen, die in allen Bereichen des sozialen Lebens unserer Gesellschaft tätig sind, sollten unsere Unterstützung finden. Ihnen allen gebührt unser Dank für das, was sie tun. ({1}) Dass in der Sozialbranche die Ökonomisierung um sich gegriffen hat, ist auch nicht ein spezielles Problem, das nur die Kirchen betrifft. Das ist nicht nur dort, sondern in allen sozialen Einrichtungen so. Deshalb sollte man nicht einfach mit dem Zeigefinger in Richtung Kirchen argumentieren. Der Kostendruck ist nun einmal so, wie er ist. Er ist aber keine Folge des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, sondern die Konsequenz aus der Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen in der Gesellschaft insgesamt. Vor diesem Hintergrund wie die Linke zu argumentieren, ist ein wirklich „unterkomplexer Ansatz“. Man kann nicht einfach das kirchliche Selbstbestimmungsrecht abschaffen, nur weil es Probleme gibt. Mit dieser Generalisierung verfolgen Sie einen falschen Ansatz, den wir nicht mittragen werden. ({2}) Sie haben in Ihrem Antrag auch nicht ein einziges Mal - und das wohl aus gutem Grund - Bezug darauf genommen, wie das Ganze in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hineingekommen ist. Sie sagen, es sei eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, dass die Kirchen ihre Tätigkeit im erzieherischen und sozialen Bereich theologisch herleiteten. So haben Sie es in Ihrem Antrag zumindest suggeriert. Dazu sage ich: Das haben Sie nicht zu beurteilen. Wenn die Kirchen das theologisch herleiten, dann leiten die Kirchen das theologisch her, und das hat der Staat zu akzeptieren. Da kann sich die Linksfraktion hier im Bundestag ruhig auf den Kopf stellen. Die Linksfraktionen in den Bundeslän12372 dern wollen das ja gar nicht ändern, wie wir eben gehört haben. Auch wir sehen, dass es natürlich ein Problem ist, dass nicht gestreikt werden kann, auch wenn die Arbeitgeberseite bei den Kirchen nicht aussperren darf. Man wird doch wohl auch darüber diskutieren dürfen, ob das noch zeitgemäß ist. Ich denke auch, dass die Nichtgeltung der Antidiskriminierungsregeln in den kirchlichen Betrieben ein Problem darstellt. Es wäre den Kirchen zumindest nicht verwehrt, die Stufenregelung wie früher freiwillig jetzt schon anzuwenden. Je verkündigungsnäher ein Arbeitnehmer ist, desto eher könnte man sagen: Die Kirche muss das selbst entscheiden. Ich halte es aber für absolut abwegig - und es gibt keinen Fall, der mir logisch erscheint -, dass zum Beispiel einer Putzfrau gekündigt werden darf, weil sie nicht die gleiche Konfession hat. Es tut mir leid, aber da müssen die Kirchen mit gutem Beispiel vorangehen und dürfen das Recht, das sie haben, nicht ausnutzen. So sieht es meine Fraktion. ({3}) Über diesen Widerspruch, der vorhanden ist, wollen wir diskutieren. Ich bin von der Möglichkeit nicht besonders überzeugt, dass wir einfach Recht setzen und die Kirchen vor vollendete Tatsachen stellen. Ob das überhaupt verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist noch eine andere Frage. Wir sollten aber die kritischen Punkte, die wir sehen, im Dialog mit den Kirchen und den Gewerkschaften in den nächsten Monaten - natürlich auch in den Ausschüssen - diskutieren und konkretisieren. Wir sollten auch den widersprüchlichen Zahlen, die Kollege Schreiner angesprochen hat, auf den Grund gehen. Ich bin mir sicher, dass die beiden großen Kirchen, wenn es da wirklich Probleme gibt, bereit sind, hierzu in einen Dialog mit dem Deutschen Bundestag einzutreten. Ich halte es nicht für vernünftig, so vorzugehen, wie es die Linksfraktion vorschlägt, nämlich einfach einmal eine Gesetzesänderung zu beschließen und dann zu sagen: Nun schaut einmal, wo ihr bleibt. Das ist kein wirkliches Dialogangebot. Deshalb sind wir uns noch nicht sicher, wie wir mit dem Antrag in der zweiten Lesung umgehen werden. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulrich Lange hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle zunächst eines erfreut fest: Mit Ausnahme der Linken - der Bundestagsfraktion der Linken, muss ich jetzt genauer sagen - herrscht hier bei uns im Hohen Haus doch ein grundsätzlicher Konsens darüber, dass kirchliches Arbeitsrecht, die kirchliche Selbstbestimmung und die Trennung von Kirche und Staat, dessen Ausdruck das Ganze ist, bei uns letztlich unangefochten bleiben müssen. Denn wir alle wissen, was die Kirchen über Jahrhunderte in diesem Land geleistet haben. Es geht am Ende nicht, wie in Ihrem Antrag steht, darum, wie viel Prozent der Bundesbürger einer der beiden großen Kirchen angehören, sondern - wie vorhin schon ganz richtig betont worden ist - es geht um das religiöse Verständnis der Kirchen an sich, ihr eigenes Profil und ihren Daseinszweck mit der Caritas, wie der Kollege Weiß vorhin so schön sagte, als Wesensäußerung der Kirche. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, kann ich auch nicht ganz nachvollziehen, wenn Sie letztlich von einem Konzern Kirche sprechen; denn vieles, was die Kirche, die kirchlichen und die caritativen Einrichtungen in unserem Land leisten, könnten Sie auf einem freien Markt nicht anbieten. Sie hätten niemanden. Das müsste am Ende der Staat machen. Deswegen glaube ich, dass hier das Gewachsene eine sehr gute Basis ist, auf der wir weitermachen wollen. Über die Vorteile des Dritten Weges ist auch schon gesprochen worden. Die Stellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist beileibe nicht so schwach, wie uns der Antrag der Linken suggerieren möchte. Lassen Sie mich aber kurz ganz speziell auf das Thema Loyalitätsverstoß eingehen. Sie sagen, ein Loyalitätsverstoß würde - wie es das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das Sie zitiert haben, besagte - letztlich zu einem Kündigungsautomatismus führen. Da haben Sie entweder das Urteil nicht ganz richtig gelesen oder nicht ganz richtig verstanden. ({0}) - Ich wollte jetzt noch die Auswahl lassen. - Sie haben letztlich unterschlagen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - mit Urteil vom 3. Februar dieses Jahres noch einmal bestätigt - ganz klar gesagt hat, dass das deutsche Kirchenrecht, das kirchliche Arbeitsrecht, grundsätzlich mit europäischem Recht vereinbar ist. Die Entscheidung in der Klage dieses Organisten ist letztlich eine Abwägungsfrage gewesen, eine reine Einzelfallentscheidung. Denn zum Beispiel hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 3. Februar die Kündigung einer Kindergärtnerin für rechtens erklärt genau mit dem Argument, dass die Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin nicht verletzt worden sei. Es geht also letztlich immer um die Einzelfallabwägung und die Einzelfallbetrachtung. Lieber Kollege der Linken, die Kirchen verstehen das kirchliche Arbeitsrecht nicht als Freibrief. Das wissen auch wir hier im Deutschen Bundestag. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachtet man das Gros der arbeitsrechtlichen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und auch unserer Arbeitsgerichte zu den kirchlichen Arbeitsverhältnissen, dann zeigt dies, dass man sehr wohl bereit ist, die Besonderheit dieses kirchlichen Arbeitsverhältnisses mitzutraUlrich Lange gen, und das - ich sage das jetzt ausdrücklich - nicht nur wegen Art. 140 des Grundgesetzes, mit dem wir Teile der Weimarer Reichsverfassung übernommen haben, sondern weil wir - das zeigt auch der Konsens in diesem Haus - wissen, welche Leistungen die Kirchen hier für uns als Gesellschaft erbringen. ({2}) Gleichzeitig - das möchte ich auch deutlich unterstreichen - ist dieses verfassungsrechtlich gebotene Entgegenkommen auch eine Verpflichtung für die Kirchen, entsprechend als Vorbild zu handeln. Überall dort, wo das nicht der Fall ist, muss sich die Kirche selber fragen, ob sie dieses Arbeitsrecht dann in Anspruch nehmen kann. Ich sage für die Christlich-Soziale und die ChristlichDemokratische Union: Wir wollen ein ausgewogenes christliches, kirchliches Arbeitsrecht auch in einer profaneren Zukunft. Ich sage allen ein herzliches „Vergelts Gott!“, die in kirchlichen Einrichtungen ihren Dienst tun. Wir stehen weiter zu ihnen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5523 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Die Federführung soll beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann ({2}), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Stärkung des Europäischen Forschungsraums - Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die richtigen Bahnen lenken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen - Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386, 17/5802 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann Dr. Martin Neumann ({4}) Krista Sager Es ist vorgesehen, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union ist ein großer Friedens- und Freiheitsraum. Europa ist ein großer Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen. Europa ist der uns verbindende Kulturraum, der die Vergangenheit und die Zukunft prägen wird. Europa muss aber auch ein Raum für Forschung und Innovation sein. Deshalb hat die Bundesregierung sehr frühzeitig damit begonnen, sich an der Diskussion über die Fortentwicklung des 8. Forschungsrahmenprogramms mit eigenen programmatischen Vorstellungen zu beteiligen. Mit ihrem Grünbuch hat die Europäische Kommission zu Beginn dieses Jahres die Debatte darüber angestoßen, wie Forschung und Innovation in einem gemeinsamen strategischen Rahmen zu einem stärker wissensbasierten und nachhaltigen Wachstum beitragen können. Die Bundesregierung befürwortet diesen integrativen Ansatz, den wir auch in der Hightech-Strategie der Bundesregierung vertreten, und setzt auf einheitliche Fördermodalitäten. Sie will, dass wir keine starren, sondern flexible Regelungen bekommen, um neue Chancen und Herausforderungen in einem kontinuierlichen Prozess aufgreifen zu können. Ich freue mich, dass sich die im Bundestag vertretenen Fraktionen über die herausragende Bedeutung von Forschung und Entwicklung einig sind. Ich sehe viele Parallelen in den Anträgen der Fraktionen, zum Beispiel in der Fokussierung auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, in dem klaren Bekenntnis zum Vorrang der Verbundforschung als dem Kernstück der europäischen Forschungsförderung sowie in der Forderung nach einer deutlichen Vereinfachung der Förderverfahren. Gerade in dieser Vereinfachung entscheidet sich die Akzeptanz des 8. Forschungsrahmenprogramms in unseren Ländern. ({0}) Darüber hinaus freuen wir uns über die große Zustimmung der christlich-liberalen Koalition zur Orientierung der künftigen europäischen Forschungspolitik am Exzellenzprinzip. Mit dem exzellenzgetriebenen Forschungsrahmenprogramm haben wir in Europa eine weltweit anerkannte Marke etabliert. Daher ist es unverständlich, dass aus den Reihen der Opposition eine Abschwächung des Exzellenzprinzips zugunsten von Kohäsionszielen angestrebt wird. ({1}) Anstatt die für den Erfolg des Rahmenprogramms notwendige Exzellenz der europäischen Forschung durch Kohäsionsziele zu verwässern, sollten wir gerade mithilfe des Strukturfonds Brücken für eine bessere Beteiligung strukturschwacher Regionen am Forschungsprogramm bauen. Den Weg der Angleichung der europäischen Forschungslandschaft auf einem mittelmäßigen Niveau werden wir nicht mitgehen; denn ein solcher Weg nützt weder den europäischen noch den deutschen Interessen. ({2}) In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verweisen, dass keineswegs alle neuen Mitgliedstaaten im Rahmenprogramm unterrepräsentiert sind. Es besteht vielmehr ein sehr uneinheitliches Bild in der Beteiligung der Mitgliedstaaten. Unsere Analysen zeigen, dass das erfolgreiche Einwerben von Fördermitteln im europäischen Wettbewerb maßgeblich von der jeweiligen Ausgestaltung der regionalen und nationalen Politik abhängt. Wir sind bereit, in der nächsten Förderperiode unseren Beitrag für eine Heranführung der im Programm bislang unterrepräsentierten Regionen zu leisten. Wir sind hier für kreative und innovative Ideen offen. Hier sind Lösungsansätze denkbar, die eine Art Hilfestellung für Einrichtungen und Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten darstellen. Eine Vermischung des Exzellenzprinzips mit dem Kohäsionsprinzip in einem einzigen Programm ist aus unserer Sicht jedoch kein gangbarer Weg. ({3}) Das Forschungsrahmenprogramm ist ein wichtiges Instrument für ein wissensbasiertes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Deshalb werden wir einer Entkopplung von wirtschaftlichen und forschungspolitischen Zielsetzungen, wie sie die Fraktion Die Linke fordert, nicht zustimmen. Sie steht auch im fundamentalen Widerspruch zur Europa-2020-Strategie. Wir wollen uns sowohl den Herausforderungen der Gesellschaft stellen als auch gleichzeitig neue Wachstumspotenziale ermöglichen. Aus dem Gemeinsamen wird der Mehrwert für die Europäische Union. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Europäische Forschungsrat hat die grundlagenorientierte Pionierforschung in der europäischen Forschungslandschaft nach vorne gebracht. Konzipiert als wissenschaftsgeleitetes Förderprogramm für exzellente und unabhängige Forschung, gehört der Europäische Forschungsrat bereits jetzt zu den herausragenden neuen Elementen des europäischen Forschungsraums. Durch einen Impuls von Bundesforschungsministerin Annette Schavan während der deutschen EU-Präsidentschaft ist dieser Europäische Forschungsrat geschaffen worden. Der ERC stärkt den innereuropäischen Exzellenzwettbewerb um die besten Köpfe in ganz Europa und trägt so auch zur Attraktivität des Europäischen Forschungsraums für Forscherinnen und Forscher - übrigens auch aus Drittstaaten - bei. Dies wollen wir stärken. Der ERC muss der Leuchtturm der europäischen Grundlagenforschung sein. Die Opposition hat Angst vor einem klaren Exzellenzprinzip im 8. Forschungsrahmenprogramm. ({5}) Für uns dagegen ist Exzellenz die entscheidende Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit dieser Europäischen Union. ({6}) Voraussetzung für den Erfolg des Gemeinsamen Strategischen Rahmens für Forschung und Innovation ist zweifellos eine gesamteuropäische Diskussion über die Schwerpunkte im europäischen Haushalt. Wir wollen eine Neuausrichtung des EU-Haushalts zugunsten der Zukunftsinvestitionen und zugunsten von Forschung und Innovation. Dafür setzen wir uns ein. Das sollte unser gemeinsames Ziel sein. Die Bundesregierung wird die Aufgabe der Sicherung der wissenschaftlichen und technologischen Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit Europas mit ihrer klaren Programmatik voranbringen, sodass wir die Zukunft für die Menschen in Europa gemeinsam erfolgreich gestalten können. Herzlichen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Als Nächster hat unser Kollege René Röspel für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, Kollege René Röspel. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist ein tatsächliches Schwergewicht in der europäischen Politik nicht nur wegen seines finanziellen Volumens von 54 Milliarden Euro, das hier bereitgestellt wird, sondern gerade auch wegen seines Inhalts. Es geht nämlich um die Förderung europäischer Forschungspolitik und Forschungsvorhaben. Mittlerweile haben glücklicherweise viele Länder verstanden - Deutschland schon länger -, wie wichtig Bildung, Forschung und Innovationen sind - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. ({0}) Deswegen ist es sehr gut, dass sich der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung in diesem Jahr schon seit längerer Zeit damit befassen, die Erstellung des 8. Forschungsrahmenprogramms zu begleiten und die Weichen frühzeitig zu stellen. Das 8. Forschungsrahmenprogramm wird nämlich eine ähnlich wichtige Bedeutung wie das 7. Forschungsrahmenprogramm haben. Deswegen wäre es gut und angemessen gewesen, wenn wir als Deutscher Bundestag eine gemeinsame, klare Position entwickelt und nach Brüssel gesandt hätten, um deutlich zu machen, was Deutschland für richtig und sinnvoll hält. ({1}) Das wäre möglich gewesen. Herr Rachel, Sie haben die Gemeinsamkeiten angesprochen. Es gibt viele Gemeinsamkeiten aus deutscher Sicht, die sicherlich alle Fraktionen in einem klaren, knappen Antrag unterschrieben hätten. Wir alle wollen, dass das 8. FRP finanziell mindestens genauso stark ausgestattet wird wie das 7. Forschungsrahmenprogramm; vielleicht könnte man den Etat sogar erhöhen. Wir sind überzeugt, dass das Programm „Verbundforschung“, in dem verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen europäischen Ländern miteinander ein Thema bearbeiten, erfolgreich war. Wir sehen, dass der Europäische Forschungsrat, wo Fördergelder nach Exzellenz, also nach wissenschaftlicher Qualität, an junge Nachwuchswissenschaftler oder erfahrene Wissenschaftler vergeben werden, ein erfolgreiches Projekt ist, vergleichbar der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Wir alle sind überzeugt - das wäre ein weiterer Punkt -, dass Wissenschaftlerinnen stärker gefördert werden müssen, als es jetzt der Fall ist, nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene. ({2}) Wir wissen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs besser gefördert werden muss. Ein letztes Beispiel: Ja, wir brauchen eine Vereinfachung der Verfahren bei den europäischen Fördermitteln, nicht nur bei der Antragstellung, sondern auch bei der Abrechnung. Das alles hätten wir in einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag kleiden können. Das wäre ein starkes Signal an Brüssel gewesen. Wir hätten sagen können: Das deutsche Parlament will diese Kernforderungen im 8. Forschungsrahmenprogramm verwirklicht sehen. Leider ist das nicht gelungen. Wir als SPD, als Opposition, waren dazu bereit, ein gemeinsames Paket zu schnüren. Ich kenne die Schwierigkeiten, die eine Regierungskoalition hat. Aber wir haben in der letzten Legislaturperiode durchaus gezeigt, dass es von Regierungsseite möglich ist, etwas Gemeinsames dort zu machen, wo es sinnvoll ist. Jetzt aber werden die Bundesrepublik Deutschland, das deutsche Parlament als zersplittert wahrgenommen, weil es unterschiedliche Anträge und einen Antrag, der die Mehrheit finden wird, gibt. Das finde ich sehr schade, und das ist dem Thema nicht angemessen. ({3}) Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschieden in der Bewertung. ({4}) - Nein, die hätte man in anderen Anträgen aufgreifen können. Bei den vielen Gemeinsamkeiten hätten wir schon einen guten Antrag auf den Weg bringen können. Die Differenzen will ich benennen. Gerade ist das Exzellenzprinzip angesprochen und Rot-Grün der Vorwurf gemacht worden, wir wollten mit unserem Antrag das Exzellenzprinzip aufweichen. Das ist zwar ein interessanter rhetorischer Versuch, aber es ist genau umgekehrt. Schauen wir uns den Antrag der CDU/CSU an - den kann man übrigens gut knicken ({5}) und was in ihm über Exzellenz steht. Wir betonen in unserem rot-grünen Antrag ausdrücklich das Bekenntnis zur Exzellenz. Wir sagen, dass es unbestritten ist, dass Exzellenz, also die wissenschaftliche Qualität, das bestimmende Prinzip sein muss, aufgrund dessen Fördermittel vom Europäischen Forschungsrat vergeben werden müssen. Was steht aber im Antrag der CDU/CSU? Wenn das Exzellenzprinzip verwässert wird, dann in diesem Papier. Auf Seite 2 steht, dass Exzellenz das wichtigste Kriterium sei, an anderer Stelle, dass Exzellenz Priorität habe und das ausschließliche Kriterium sei. In Punkt 3 aber schreiben Sie, es sei die „Marktrelevanz bei der Vergabe von Fördermitteln zu berücksichtigen, damit die Forschungsförderung einen noch größeren Beitrag zur wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit leisten kann …“. Auf Seite 4 wird es noch toller. Dort steht, die Marktrelevanz sei neben dem Exzellenzkriterium wichtig, und vor allem müssten die Forschungsprojekte bereits am Anfang stärker auf ihre Marktrelevanz geprüft werden - nicht auf die Exzellenz, sondern auf die Marktrelevanz. Das finde ich allerdings schon sehr spannend. Sie sind es, die das Exzellenzprinzip verwässern, weil Sie ein neues Kriterium einführen, die Marktrelevanz. ({6}) Ich will Ihnen sagen, warum diese Abkehr einen richtig großen Fehler darstellt. Ich will zwei Beispiele nennen. Erstes Beispiel. Wenn Sie Exzellenz als wichtiges Kriterium sehen, aber Marktrelevanz berücksichtigen, dann setzen Sie das Ziel, dass das Forschungsrahmenprogramm einen Beitrag zur, wie Sie sagen, wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit leisten soll. Wir allerdings sehen - so habe ich die Leitlinien der Bundesregierung und auch die Europäische Kommission und das Parlament verstanden - das Forschungsrahmenprogramm als einen Beitrag, die großen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu bewältigen: Klima, Energie, Umweltschutz, Gesundheit, demografische Veränderung und Alter. Es ist also die Frage zu stellen, was wir tun und wie wir forschen müssen, damit Menschen gesünder leben und damit sie im Alter länger fit bleiben. Das alles kann dazu führen, dass dabei marktrelevante Produkte herauskommen. Aber das ist nicht das Kernziel. Das kann nach unserer Auffassung auch dazu führen, dass Sozial- und Geisteswissenschaften stärker berücksichtigt werden und nicht nur technologische Forschung betrieben wird. Sie erreichen also das Ziel, das wir verfolgen, nämlich die großen Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit und Umwelt anzunehmen, überhaupt nicht, wenn Sie Marktrelevanz als zusätzliches Kriterium einführen. Zweites Beispiel. Wenn, wie Sie schreiben, vor jeder Förderung eines Forschungsprojektes die Marktrelevanz geprüft werden muss, bedeutet das den Tod von Grundlagenforschung. ({7}) Bei Grundlagenforschung kann Marktrelevanz nämlich nicht nachgewiesen werden. Auch bei Forschung im Gesundheitsbereich, bei der es ja darum geht, die Situation von Menschen zu verbessern, weiß man nicht, ob am Ende ein marktrelevantes Produkt herauskommt. Ich finde - das war vielleicht der Grund, warum der Redebeitrag der Bundesregierung gleich am Anfang kam -, dass Sie vom Exzellenzprinzip tatsächlich in einer falschen Weise Abschied nehmen. Das bedauern wir sehr. Einen weiteren Differenzpunkt möchte ich noch abschließend nennen - meine Redezeit läuft ab -: Wir glauben, dass die geforderte Energiewende es nötig macht, auf europäischer Ebene über Veränderungen bei der Forschungsförderung im Energiebereich nachzudenken, und zwar hin zu mehr Klimaforschung und zur Erforschung von erneuerbaren Energien und von Energieeffizienz. Damit können wir die großen Herausforderungen, vor denen sich Europa und Deutschland gestellt sehen, auch besser angehen. Vielen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir danken Ihnen, Herr Kollege. - Als Nächster spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Professor Dr. Martin Neumann. Bitte schön, Kollege Neumann, Sie haben das Wort. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Frage, die sich hier im Saal stellt, ist die Frage nach den Merkmalen des weiteren Ausbaus des Europäischen Forschungsraums. Wenn man sich die Anträge anschaut - wir haben ja gestern im Ausschuss sehr ausführlich darüber gesprochen -, dann stellt man fest, dass wir in der Tat recht dicht beieinanderliegen, einmal abgesehen vom Antrag der Linken. Dazu gibt es tatsächlich deutliche Differenzen. Ich will an dieser Stelle einen ganz wichtigen Punkt hervorheben: Wir haben ein unterschiedliches Verständnis von der Zielstellung. Wir wollen mit unserem Antrag nicht erreichen, dass es ein europäisches Forschungssystem gibt, sondern wir wollen einen gemeinsamen Europäischen Forschungsraum definieren. Das ist ein ganz gravierender Unterschied. Worin besteht der Unterschied? Wir wollen, dass die Mitgliedstaaten, also auch wir und damit unser Forschungsstandort Deutschland, selbst für die Leistungsfähigkeit der nationalen Forschungssysteme Verantwortung übernehmen. Das heißt, wir wollen primär in den nationalen Forschungssystemen die Schwerpunktsetzung, die Gestaltung der Forschungsinfrastruktur, die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs und - das ist ganz wichtig und wird auch immer wieder angesprochen - die Partizipation von Frauen in der Wissenschaft vornehmen. Das Forschungsrahmenprogramm der EU ist also als gemeinsame Initiative gedacht, unter dessen Dach die Koordinierung und Verzahnung der jeweiligen nationalen Forschungsstandorte und -strukturen stattfindet. Ein weiterer Punkt ist ganz deutlich hervorzuheben: Bei den Veranstaltungen in Brüssel, die wir gemeinsam besucht haben, haben wir festgestellt, dass die Vereinfachung ein ganz wichtiges Kriterium ist. Viele Partner, die sich an diesen Programmen beteiligen wollen, stöhnen nämlich immer wieder darüber, dass alles sehr schwierig ist. Wenn man schon weiß, dass das Forschungsrahmenprogramm sehr schwierig ausgestaltet ist, dann darf man die Programme nicht noch weiter überladen. Das genau tun Sie aber, wenn Sie fordern, dass weitere Dinge aufgenommen werden, zum Beispiel das Kriterium der Forschungsstrukturförderung für exzellenzschwache Regionen bei der Vergabe von Fördermitteln. Wir wollen nicht - das will ich hervorheben, weil es für uns wichtig ist -, dass die Kohäsionspolitik entscheidend bei der Vergabe von Fördermitteln sein soll. Wir haben gestern im Ausschuss sehr ausführlich darüber gesprochen, dass für die Kohäsionspolitik in Europa eine Vielzahl von Instrumenten und Fördermitteln vorgesehen ist, die dann natürlich auch von den jeweiligen Ländern für die Förderung der ForschungsinfraDr. Martin Neumann ({0}) struktur verwendet werden können. Ich möchte deshalb nochmals ganz deutlich auf den Kohäsionsfonds hinweisen, der ausreichend Mittel bereithält, um exzellenzschwache nationale Forschungssysteme besser aufzustellen und leistungsfähiger zu machen. Dieser Punkt ist für uns sehr wichtig, und ihn möchten wir an dieser Stelle sehr deutlich hervorheben. Nur so ist es nach unserer Auffassung möglich, dass der Europäische Forschungsrat auch in Zukunft Erfolge und hervorragende Leistungen erzielt. In der gestrigen Ausschusssitzung ist von Ihnen, Frau Sager, und gerade auch von Herrn Röspel das Kriterium der Marktrelevanz als Widerspruch dargestellt worden. Wir finden, dass sich dieses Kriterium in den Zusammenhang der Verbundforschung einfügt und dass es kein Widerspruch ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Wir wollen, dass in der Forschung - das muss man an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen; Staatssekretär Rachel hat es ebenfalls hervorgehoben - ausschließlich das Exzellenzkriterium gilt, während bei der Entwicklung die Marktrelevanz neben der Exzellenz berücksichtigt werden muss. Das Kriterium der Marktrelevanz steht also aus unserer Sicht in keinem Widerspruch zu den anderen Kriterien, sondern trägt vor dem Hintergrund der Europa2020-Strategie zu der Schaffung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mittels wirtschaftlicher Innovation bei. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie meinen, wir müssten auch im Forschungsrahmenprogramm berücksichtigen, wie man schwächere Partner einbeziehen kann. Das war, glaube ich, der Kern Ihrer Ausführungen. In dem bilateralen Twinning-Programm werden Fördermittel an exzellenzstarke Partner vergeben, die dann innerhalb des Programms schwächere Partner und Regionen mitnehmen, sodass die schwächeren Partner durch die Kooperation wachsen können. Vielleicht ist das Twinning-Programm somit auch die Antwort auf Ihre Frage, wie man die strukturschwachen Regionen besser fördern und sie möglicherweise in die Entwicklung mit einbeziehen kann. Der Gedanke der Kooperation und Partnerschaft steckt nicht nur - das ist ein ganz wichtiger Punkt - in dem bilateralen Twinning-Programm. Ich möchte hier einen weiteren Schwerpunkt nennen, der diesen Gedanken beinhaltet, nämlich die Verbundforschung, die insbesondere die Zusammenarbeit von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft, vor allem mit den kleinen und mittleren Unternehmen, anstrebt. Genau diese Kooperationen sind nach meiner persönlichen Überzeugung Innovationstreiber für den europäischen Markt. Deshalb benötigen diese Projekte unsere politische Rückendeckung. Zu Beginn ist hier die Frage gestellt worden, warum wir keinen gemeinsamen Antrag gestellt haben. Ich habe gerade auf die wesentlichen Unterschiede hingewiesen. Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass es nicht sein kann, dass wir unserer Bundesregierung für diese Diskussion in Europa einen Minimalkonsens an die Hand geben. Vielmehr wollen wir einen starken Antrag haben. Dabei sind das Exzellenzkriterium und die Marktrelevanz entscheidend und zentral, und nur unter Berücksichtigung dieser Kriterien hätte möglicherweise ein konsensfähiger Antrag entstehen können. Wir haben einen konsistenten Antrag vorgelegt und die Gründe genannt, warum wir Ihre Anträge ablehnen werden. Wenn Ihnen an einem politischen Signal in Richtung Europa gelegen ist, wie Sie es im Ausschuss geäußert haben, lade ich Sie sehr herzlich ein, sich unserem Antrag anzuschließen. ({2}) Ich bedanke mich. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Professor Neumann. Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann, glaube ich, mit meinem Beitrag sehr gut an die Rede von Herrn Röspel anschließen. Die Diskussionen um das 8. Forschungsrahmenprogramm fallen immerhin in eine Zeit, da sich existenzielle Fragen der Zukunft in einer völlig neuen Schärfe stellen. Ob Finanzkrise, Klimawandel oder Fukushima - Störfälle und Krisen schrecken die Menschen in der gesamten Welt auf. Es hat sich in dieser Situation gezeigt, dass weder Politik noch Wissenschaft zuverlässige Voraussagen und Handlungsoptionen zur Beherrschung solch komplexer Systeme für Szenarien des Zusammenbruchs bieten konnten. Tausende Opfer heute und in der Zukunft sowie unabsehbare Folgen und Kosten für die menschliche Gemeinschaft erfordern von uns einen anderen Umgang mit entgrenzten Risiken. Es kann hier also niemand mehr so tun, als hätten Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund dieser Ereignisse kein massives Legitimationsproblem. Viel zu groß ist der Vertrauensverlust. Wissenschaft und Wirtschaft müssen Fragen einer zutiefst verunsicherten und kritischen Öffentlichkeit in einer ganz neuen Dimension und Konsequenz beantworten. Vor diesem Hintergrund muss der bisherige Fortschrittskonsens neu diskutiert werden. ({0}) Risikoforscher sprechen von einer weltweiten Gemeinsamkeit der Gefahr. Als Fazit formulieren sie die politische Vision: Kooperiere oder scheitere! Das deckt sich zu 100 Prozent mit den Positionen der Linken. Im Umkehrschluss heißt doch Ihre Position zur Marktrelevanz der Forschung nichts anderes als: Konkurriere und scheitere! Unser Antrag trägt deshalb die Überschrift „Europäische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen“. ({1}) Wissenschaft und Forschung können einerseits Europa neue Perspektiven für eine moderne, sozial-ökologische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung geben, andererseits entscheidende Beiträge zur gerechteren Lösung gesellschaftlicher Konflikte über europäische Grenzen hinaus leisten. ({2}) Meine Damen und Herren von der Koalition, dafür brauchen wir sehr viel Exzellenz. Wir haben nichts Geringeres als die Frage zu beantworten: Wie wollen wir und wie können wir in Zukunft leben? Der Koalitionsantrag - das ist schon angedeutet worden - folgt ziemlich unbeeindruckt der alten Logik, als hätte es die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht gegeben, als würde in Fukushima nicht immer noch der Rauch aufsteigen. Das liest sich im Koalitionsantrag wie folgt - ich zitiere -: Die zukünftige Forschungs- und Innovationsförderung muss … noch klarer … auf die technologische Führungsrolle und die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas ausgerichtet werden. ({3}) An anderer Stelle heißt es: Die Bemühungen Europas bei der Forschungs- und Innovationsförderung sollen das Potenzial für wirtschaftliches Wachstum haben. Es ist mir, ehrlich gesagt, schleierhaft, wie man glauben kann, unter dieser Prämisse tatsächlich Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen erarbeiten zu können. Gerade dieses einseitige wirtschaftsund technologiezentrierte Herangehen hat doch erst die Konflikte hervorgebracht und sie verschärft. ({4}) Der Bundestag hat es unlängst für nötig erachtet, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die sich vor allem mit der Frage beschäftigt, ob nicht gerade diese Wachstumslogik eine zentrale Ursache der Probleme ist. Nach Ansicht der Koalition soll die Wirtschaft nicht nur weiter die Themen setzen, sondern sogar noch dominanter. Wohl wahr: Das sehen wir ausdrücklich anders. ({5}) Wir sagen: Öko-sozial statt marktradikal. ({6}) Die Linke will die Forschungsförderung - da kann ich sehr schön an Herrn Röspel anschließen - konsequent an den Großzielen bei der Armutsbekämpfung, der Gesundheit, der Ernährung sowie beim Klima- und Umweltschutz ausrichten. Dabei ist insbesondere der Wissenstransfer in ärmere Regionen der Erde auszubauen. Bezogen auf Osteuropa bedeutet das: Die osteuropäischen EU-Mitglieder, die bisher weniger als 5 Prozent der EUForschungsförderung erhalten, müssen deutlich stärker eingebunden werden. Des Weiteren soll die Energieforschung Innovationen bei den erneuerbaren Energien und effizientere Speichertechnologien liefern. Sozial- und Geisteswissenschaften sollen an Vorschlägen zur Konditionierung sozialer Sicherungssysteme arbeiten. Schließlich soll das Programm zur Sicherheitsforschung konsequent zivil ausgerichtet werden. ({7}) Vor diesem Hintergrund ist die Technikfolgen- und Risikoabschätzung auch in Bezug auf Katastrophenmanagement, Ursachenforschung, soziale Konflikte und ethische Fragen der Wissensanwendung erheblich auszubauen. Meine Damen und Herren, das europäische Forschungsprogramm muss entscheidend dazu beitragen, dass Globalisierung zu einem stärkeren gesellschaftlichen Ausgleich führt; es muss Impulse setzen. Die Kooperation muss gezielt gestärkt werden; denn - ich erinnere Sie an die Vision der Zukunftsforscher -: Wer nicht kooperiert, der scheitert. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Krista Sager. Bitte schön, Frau Kollegin Krista Sager.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU hat gerade einmal einen Anteil von 5,5 Prozent am jetzigen EU-Haushalt. Die 27 EU-Staaten sind weit davon entfernt, ihr Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung auszugeben, zu erreichen. Das wird dem Anspruch einer wissensbasierten Gesellschaft und Ökonomie nicht gerecht. ({0}) - Da könnten ruhig alle klatschen. Wenn wir uns anschauen, welche Steigerungsraten andere Staaten im Forschungsbereich zu verzeichnen haben, dann müssten wir ein gemeinsames Ziel haben: Das 8. Forschungsrahmenprogramm muss im nächsten EUHaushalt einen größeren Stellenwert haben. ({1}) Wir sind weit davon entfernt, dass das eine Selbstverständlichkeit ist. Das allein wäre schon ein ziemlich guter Grund dafür gewesen, dass sich der Bundestag in der Forschungspolitik in einigen Punkten in einem gemeinsamen Antrag aufstellt. ({2}) Ich finde es wirklich bedauerlich, dass die Koalition das noch nicht gelernt hat. ({3}) Ich kann Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: In anderen Ausschüssen haben Ihre Kolleginnen und Kollegen das bereits gelernt, und ich hoffe, dass das bei Ihnen auch irgendwann einmal der Fall sein wird. ({4}) Die europäischen Staaten stehen vor großen gemeinsamen Herausforderungen: Energiewende, Klimawandel, demografischer Wandel sind nur einige davon. Das spricht dafür, dass wir größere Anstrengungen in der Forschung brauchen. Das spricht aber auch dafür, dass wir die gemeinsamen Forschungsanstrengungen stärker auf diese Herausforderungen fokussieren. Das bedeutet aber auch, dass wir uns von Ansätzen, die sich heute als Fehlschläge und Fehlinvestitionen herausgestellt haben, schleunigst verabschieden. Das Kernfusionsprojekt ITER wird keinen Beitrag zur Energiewende leisten, also müssen wir aussteigen. ({5}) Der Euratom-Vertrag passt nach Fukushima noch weniger in die Zeit als bisher, also müssen wir uns überlegen, wie wir da herauskommen. ({6}) Diesen Überlegungen verweigern Sie sich bisher. Wir stimmen in der Frage überein, dass die Verbundforschung und die Grundlagenforschung durch den Europäischen Forschungsrat einen großen Beitrag zu einem europäischen Mehrwert in der Forschung leisten. In diesem Punkt besteht kein Dissens. ({7}) Herr Neumann, Herr Kaufmann und Herr Rachel, wenn Sie das Hohelied des Europäischen Forschungsrates singen, entgegne ich Ihnen: Das Kriterium Marktrelevanz darf dabei keine Rolle spielen. Vielmehr gilt das Kriterium Exzellenz, das heißt, es wird überprüft: Was sind die vielversprechendsten Ansätze, ({8}) und wer sind die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler? Die sollen zum Zuge kommen. Das ist ein völlig anderes Kriterium als das der Marktrelevanz, das Sie einführen wollen. ({9}) Auch wir legen großen Wert darauf, dass die Geistesund Sozialwissenschaften in Zukunft sowohl in interdisziplinären Projekten als auch auf eigenen Forschungsfeldern einen Beitrag leisten und im Forschungsförderprogramm angemessen berücksichtigt werden. Aber Forschung ist immer nur so gut wie die Forscherinnen und Forscher. Deswegen finden wir es besonders wichtig, dass wir die Personenprogramme stärken, beispielsweise die Nachwuchsförderung über das Marie-CurieProgramm, aber auch durch die personenbezogenen Programme des Europäischen Forschungsrates. Wenn wir die besten Köpfe und die besten Talente für die europäische Forschung gewinnen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass Frauen in der Europäischen Union stärker an der Forschungsförderung beteiligt werden. Hier brauchen wir mehr Verbindlichkeit. ({10}) Herr Rachel, wir wollen das Kriterium der Exzellenz nicht aufgeben, wir wollen es in der Forschungsförderung beibehalten. Es kann Ihnen aber doch nicht egal sein, ob die Mitgliedstaaten, die bisher unterdurchschnittlich von der Forschungsförderung profitierten, nach wie vor zu der Struktur dieser Programme und zu diesen Kriterien stehen. Das heißt, Sie müssen ihnen Brücken bauen. Ich halte es für einen Fehler der Bundesregierung, dass Sie innerhalb der Europäischen Union so wenig bündnisfähig denken. Dass mit Mitteln des Kohäsionsfonds die Forschungsinfrastruktur gefördert wird, halte ich für selbstverständlich, Herr Neumann. Wir schlagen zudem ein Programm vor, mit dem wir dafür sorgen, dass Forscherinnen und Forscher in den forschungsschwächeren Ländern eine Chance bekommen, aus diesen Ländern heraus den Anschluss an die Spitzenforschung auf europäischer Ebene zu finden. Das ist mit Twinning nicht getan. Sie müssen dafür sorgen, dass in diesen Ländern Forschung zu vernünftigen Bedingungen betrieben werden kann. Das würde für die Zukunft eine vernünftige Bündnispolitik auf europäischer Ebene bedeuten, vor allem im Hinblick auf den Europäischen Forschungsrat und die Exzellenzkriterien. ({11}) Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung, die die Verhandlungen zum 8. Forschungsrahmenprogramm nun sehr forciert angehen muss, wenigstens einige Vorschläge der Opposition mit auf den Weg nimmt. Ich glaube, Sie wären damit gut beraten. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Krista Sager. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Stefan Kaufmann. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen präsentieren wir der EUKommission die Vorstellungen des Bundestages zur Ausgestaltung der künftigen EU-Forschungsförderung. Diese Stellungnahme erfolgt ganz bewusst - das muss man auch einmal sagen - im Rahmen des nächste Woche zu Ende gehenden Konsultationsprozesses. In den Antrag sind im Übrigen zentrale Forderungen der deutschen Forschungsorganisationen eingeflossen. Dies bestätigt auch das am 16. April vorgelegte Papier der Allianz der Wissenschaftsorganisationen, der ich an dieser Stelle ausdrücklich für ihre konstruktive Unterstützung bei diesem Prozess danken möchte. ({0}) Der Schwerpunkt des Nachfolgeprogramms zum 7. FRP wird weiterhin deutlich auf der Forschung liegen. Doch begrüßen wir den im Grünbuch dargestellten koordinierten Ansatz der Kommission von Forschung und Innovation. Das ist ein neuer Ansatz; denn damit kann die gesamte Wertschöpfungskette von der Grundlagenforschung bis zur Markteinführung aus einem Programm gefördert werden. Es werden deutliche Synergieeffekte erreicht. Dies dient letztlich der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Dort, Herr Kollege Röspel, spielt dann auch das Kriterium Marktrelevanz eine Rolle. Das ist also kein Widerspruch. ({1}) Was das Ganze mit Marktradikalität zu tun hat, Frau Kollegin Sitte, vermag ich nicht zu erkennen. ({2}) Ziel muss es sein, das künftige Rahmenprogramm so auszugestalten, dass Europa seine Spitzenstellung im Bereich Forschung und Innovation beibehält und ausbaut. Das ist kein Selbstläufer. Darin liegt die große Herausforderung für die EU in den beginnenden Etatberatungen. Wichtigste Forderung in unserer Stellungnahme ist daher der Ruf nach einer deutlichen Erhöhung der Mittel für die zukünftige Forschungsförderung. Ohne eine deutliche Mittelerhöhung sind die ambitionierten Ziele der Strategie „Europa 2020“ nicht zu erreichen. Folglich hat der Industrieausschuss des Europaparlaments bereits einstimmig eine knappe Verdoppelung der Mittel des 7. FRP auf zukünftig 100 Milliarden Euro gefordert. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Finanzierung der Großprojekte ITER und Galileo im Forschungsrahmenprogramm verbleibt und nicht über einen eigenen Haushaltstitel erfolgen wird. Zweitens muss die Exzellenz - das wurde mehrmals angesprochen - das wichtigste Kriterium bei der Vergabe von Fördermitteln sein. Kohäsionsziele dürfen bei der Forschungs- und Innovationsförderung keine Rolle spielen. Bei der Forschung kann es nur um einen Wettbewerb zwischen Spitzenleistungen und Spitzenforschung gehen. Forschungsmittel nach Regionen zu verteilen oder eine Nivellierung in Europa bei der Forschung anzustreben, kann und darf nicht unser Ziel sein. Der Aufbau von Exzellenz in strukturschwachen Regionen sollte einzig aus Mitteln der Kohäsionspolitik, das heißt über die Strukturfonds, finanziert werden. ({3}) Die EU-Finanzmittel im Bereich der Kohäsionspolitik sind mehr als sechsmal so hoch wie jene für die Forschungsförderung. Diese Strukturfondsmittel müssen derzeit zu mindestens 10 Prozent für Forschung ausgegeben werden. Dementsprechend stehen ganz erhebliche Summen für strukturschwache Mitgliedstaaten bereit, um eine exzellente Forschungsinfrastruktur aufzubauen. Ein ganz erfolgreiches Beispiel ist das ELI-Projekt, Extreme Light Infrastructure. Das ist ein Laser-Infrastruktur-Projekt, das sich momentan in Tschechien, Ungarn und Rumänien im Aufbau befindet. Ein vierter Standort wird gesucht. Hier wird eine gigantische Investition von mehr als 700 Millionen Euro aus den Strukturfonds finanziert. Das ist ein hervorragendes Beispiel, wie durch Kohäsionsmittel Spitzenforschung in den neuen Mitgliedstaaten geschaffen werden kann. Die besten Wissenschaftler dieser Disziplin werden dorthin folgen und weitere exzellente Forschungsbereiche aufbauen. Das ist der Weg, den Staatssekretär Rachel hier beschrieben hat: mithilfe der Strukturfonds Brücken für die neuen oder für strukturschwache Mitgliedstaaten bauen. Nur dann können wir den europäischen Forschungsraum insgesamt stärken. ({4}) Dem gleichen Ziel dient das von uns vorgeschlagene Twinning-Programm. Hier können echte Win-win-Situationen geschaffen werden, die ganz Europa stärken. Drittens treten wir - das ist bereits deutlich geworden - für eine deutliche Erhöhung des Etats des Europäischen Forschungsrates ein. „Deutlich“ heißt - ich will das einmal benennen - mindestens Verdoppelung, besser eine Verdreifachung der Mittel. ({5}) Der Europäische Forschungsrat wurde der Deutschen Forschungsgemeinschaft nachempfunden und ist in wenigen Jahren zu einer europäischen Forschungsmarke geworden. Viertens setzen wir uns für die Fortführung der Verbundforschung auf hohem Niveau ein. Die Verbundforschung muss auch zukünftig Kernstück der Forschungsförderung sein. Auch hier muss die Exzellenz ausschlaggebend sein. Die Marktrelevanz soll zukünftig aber gerade bei der Verbundforschung stärker berücksichtigt werden. ({6}) Weitere wichtige Forderungen in unserem Antrag sind die finanzielle Aufstockung der Marie-Curie-Maßnahmen, die Vereinfachung der Antragsverfahren, klarere Strukturen bei den Instrumenten und eine bessere Vernetzung der Maßnahmen der EU einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits. Bei der Vereinfachung der Antragsverfahren ist die Kommission bereits vorausgegangen. Sie hat im Januar Sofortmaßnahmen eingeleitet, die unseres Erachtens allerdings nicht ausreichen, um vor allem kleinen und mittleren Unternehmen die Beantragung von Fördermitteln schmackhaft zu machen. Die Antragsbearbeitungszeiten müssen deutlich verkürzt werden. Als hervorragendes Beispiel dient das KMUProgramm „Eurostars“. Was wollen die Oppositionsfraktionen? Der Antrag der Linken weist deutliche Unterschiede zu unserem auf. Sie wollen in der Tat - das haben Sie hier nicht bestritten das Exzellenzkriterium aufweichen. Sie wollen die Mittel aus dem Forschungsrahmenprogramm nach Kohäsionsgesichtspunkten verteilen. Damit würden Sie den allermeisten deutschen Forschungseinrichtungen einen Bärendienst erweisen. Wir müssen die Diskussion über die Forschungsinfrastrukturen in den neuen und in den strukturschwachen Mitgliedstaaten führen, aber nicht in vorauseilendem Gehorsam und nicht zulasten der Spitzenforschung in Ostdeutschland. ({7}) Mit einiger Freude habe ich den Antrag von Rot-Grün zur Kenntnis genommen; auch das darf ich sagen, Frau Kollegin Sager und Herr Kollege Röspel. In der Tat stimmen unsere Forderungen weitgehend überein. Ihr Vorschlag, strukturschwache Mitgliedstaaten durch den Ausbau von Wissenschaftlerstipendien besser zu beteiligen, ist zwar gut, jedoch aus unserer Sicht nicht nachhaltig genug. In der Summe werten wir Ihren Antrag als wichtiges Zeichen der Geschlossenheit in der Sache. Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Antrag und den darin enthaltenen umfassenden und konkreten Vorschlägen zur künftigen Ausgestaltung der Forschungsund Innovationsförderung in Europa einen konstruktiven Beitrag zum Konsultationsprozess leisten. Lassen Sie uns ein starkes Signal des Deutschen Bundestages nach Brüssel senden. Ich lade Sie herzlich ein, zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben rechtzeitig aufgehört; sonst wäre das starke Signal des Präsidenten gekommen. Vielen Dank, Kollege Dr. Kaufmann. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael Gerdes. Bitte schön, Kollege Michael Gerdes. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gestrige Ausschusssitzung und die heutige Debatte zeigen, dass die hier vertretenen Fraktionen durchaus ähnliche Ansätze zur Zukunft der europäischen Forschungsförderung verfolgen. Wir alle sind uns darin einig, dass der Stellenwert von Forschung und Entwicklung stetig wächst, und wir alle gehen davon aus, dass wirtschaftliches Wachstum, sichere Arbeitsplätze und nachhaltiger Wohlstand vor allem von wachsendem Wissen und Innovationen abhängen. Europa soll ein Forschungsraum sein, in dem intelligente Lösungen für soziale und technische Probleme gefunden werden, ein Forschungsraum, in dem Wissenschaftler mobil und unter besten Bedingungen arbeiten, ein Forschungsraum, in dem sich auch kleine und mittlere Unternehmen in Forschungsprojekte einbringen können. ({0}) Deshalb brauchen wir gut durchdachte Förderstrukturen. Das gilt national, aber auch innerhalb der Europäischen Union. „Gut durchdacht“ heißt einerseits, Schwerpunkte zu setzen. Wir meinen damit die Suche nach Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Wie wir heute schon hörten, sind das zum Beispiel die Energiewende, der Klimawandel und vor allen Dingen die vielschichtigen sozialen Herausforderungen. Das heißt, europäische Forschungsförderung darf nicht nur auf technische Neuerungen, mehr Patente oder größeren Absatz von Hightechprodukten abzielen, sondern wir brauchen auch Erkenntnisse im sozialwissenschaftlichen Bereich. ({1}) Auf der anderen Seite müssen sich die steigende Bedeutung von Forschung und Entwicklung sowie die andauernden Rufe nach mehr Innovationen auch in der Finanzplanung der EU widerspiegeln. Schaut man sich die finanzielle Ausstattung der Forschungsrahmenprogramme der EU an, fällt zunächst auf, dass in den vergangenen Jahren durchaus immer mehr Geld bereitgestellt worden ist. Das Volumen des 7. Forschungsrahmenprogramms ist im Vergleich zu seinem Vorgängerprogramm verdreifacht worden. Das ist auf den ersten Blick beachtlich; aber in der Relation zu den Agrarausgaben der EU entspricht das Finanzvolumen für Wissen, Forschung und Innovation keinesfalls unseren Vorstellungen. ({2}) Wir fordern in unserem Antrag eine größere finanzielle Gewichtung des Forschungsbereichs. Hier stimmen wir mit den Koalitionsfraktionen überein. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen entstehen aber nicht allein durch Investitionen in Forschungseinrichtungen oder Großprojekte. Innovationen setzen auch eine gute allgemeine sowie berufliche Bildung, lebenslanges Lernen, soziale Kompetenzen und umfassende Infrastrukturen voraus. In dieser Hinsicht gibt es noch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der EU. Die europäische Forschungspolitik steht vor der großen Herausforderung, innovationsstarke und innovationsschwache Mitgliedstaaten zu koordinieren. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung der Bildungs12382 und Forschungslandschaft macht es durchaus Sinn, Forschungspolitik und Strukturpolitik miteinander zu verknüpfen. Exzellenz- und Spitzenforschung sind dringend notwendig; dazu nimmt der Antrag von Rot-Grün ausdrücklich Stellung. Andererseits müssen aber auch strukturschwache Regionen die Chance haben, gute Ideen hervorzubringen und davon zu profitieren. Herr Staatssekretär Rachel, wir haben keine Angst. Exzellente Forschung und Kohäsion müssen sich aus meiner Sicht nicht ausschließen. Eine Forschungspolitik, die sich allerdings ausschließlich auf Spitzenforschung und Exzellenz konzentriert, würde das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU sicherlich verschlimmern. Das ist angesichts der bestehenden Unterschiede zwischen West- und Osteuropa politisch nicht wünschenswert. Das Ziel der europäischen Forschungsförderung muss heißen: Exzellenz auf der Grundlage von grenzüberschreitender Vernetzung und Interaktion. Die Stärke der Forschungspolitik in der EU ist die Verbundforschung. Diese muss in jedem Fall erhalten bleiben. ({3}) Es geht um die Vermehrung von Wissen durch Kooperation, es geht um das gegenseitige Lernen und um die Arbeit an gemeinsamen Herausforderungen. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben zu danken. - Als Nächster spricht für die Fraktion CDU/CSU unser Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Liebe Kollegen! Über Europa kann man sich oft ärgern. Wir haben den Tag mit einer Debatte über die Probleme des Euro, über die Probleme Portugals und Griechenlands begonnen. Jetzt reden wir über etwas, das für Europa eine glanzvolle gemeinsame Vision darstellt. Ich finde es beglückend, dass es hier ein so hohes Maß an Übereinstimmung im Bundestag gibt. ({0}) Lieber Herr Röspel, wenn die Differenzen nicht groß sind, hätte es eigentlich möglich sein sollen, einen gemeinsamen Antrag einzubringen. ({1}) Es ist, wenn die Differenzen so gering sind, auch möglich, dass Sie unserem Antrag zustimmen. ({2}) Freunde, wenn ich hier versuche, die Differenzen zu begreifen, dann wird es für mich intellektuell schwierig. Es ist eine Stärke unserer Forschungspolitik, dass wir sie - auch über wechselnde Regierungen hinweg - dank der Übereinstimmung in den wichtigen Fragen gemeinsam vorangebracht haben. Jetzt gibt es zusätzlich zu unserer nationalen Forschungspolitik die europäische Forschungspolitik. Die Ausgaben der europäischen Forschungspolitik bei uns betragen etwa 2,5 Prozent der gesamten Forschungsmittel in Deutschland pro Jahr. Das heißt, dass man die Mittel gezielt dort einsetzen muss, wo sie einen strategischen Zuwachs bewirken, wo sie etwas bewirken, das man national nicht erreichen kann. Manche der Forderungen, die vorgebracht wurden, sind richtig, aber nicht unbedingt europäisch. Ich finde die Stärke der Geisteswissenschaften, Orientierungswissen zu vermitteln und nicht nur allgemein zu spekulieren, großartig. Ihr Beitrag kann gut sein, wenn es gelingt. Ob das in einem europäischen Netzwerk besser aufgehoben ist als im nationalen Netzwerk, bleibt abzuwarten. Wir alle aber wissen: Es gibt auch bei europäischen Programmen geistes- und sozialwissenschaftliche Begleitforschung. ({3}) Wenn wir die Projekte anschauen, über die wir reden, dann sieht man, dass sie alle einen faszinierenden Mehrwert haben. Sie haben das Ziel, eine europäische Wissensgesellschaft zu schaffen. Sie sollen mit einer starken Wissenschaft neue Produkte, neue Problemlösungen, neue Dienstleistungen für die Märkte und damit neue Arbeitsplätze in einer offenen und wettbewerbsstarken Welt dauerhaft sichern. ({4}) Die Verbundforschung ist gepriesen worden. Wir haben eine sehr reife und komplexe Forschungspolitik in Deutschland. Über die Jahrzehnte haben viele in glanzvoller Weise dazu beigetragen. Was in der Verbundforschung an Modellen bei uns erarbeitet wurde, ist heute auch Teil der europäischen Programme. Das gilt zum Beispiel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Firmen, zwischen Wissenschaft und Unternehmen, wie wir sie in den 80er-Jahren im Rahmen von EU REKA entwickelt haben. Die Verbundforschung ist heute das Kernelement des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU. Zu Recht ist auch auf die Kohäsionsmittel hingewiesen worden. Es sind nicht nur Mittel für Arme. Es gibt auch hier in Deutschland starke Bundesländer. Nordrhein-Westfalen hat seine Innovationswettbewerbe 2007 bis 2013 mit weit über 600 Millionen Euro aus den Kohäsionsmitteln ausgerichtet. Freunde, nutzt das! Das Geld ist da. Man muss es nur holen. Das ist eine Frage der überlegenen wissenschaftlichen Intelligenz. ({5}) Ich spreche nicht über den Nachwuchs. Europa kann einen Beitrag dazu leisten, mehr Frauen in den wissenschaftlichen Beruf und die jungen Leute in die MINTFächer zu kriegen. Das ist eine der Aufgaben, die Europa mit dem Marie-Curie-Programm angeht. Das ist aber auch eine Aufgabe nationaler Natur. Die kleineren und mittleren Unternehmen müssen stärker in die europäische Verbundforschung einbezogen werden. Wenn die Bearbeitungszeit von Förderanträgen, wie der Bundesrat bemängelt, im Schnitt wirklich 400 Tage beträgt, dann muss ich sagen: Da kann kein Unternehmen überleben. Der, der damit zu arbeiten versucht, macht sich zu einem Staatsunternehmen. Der kann alles andere auf dem Markt vergessen. Das heißt also: Hier müssen bessere Strukturen hineingebracht werden, zum Beispiel durch die zweistufige Antragsstellung. Diese Strukturen müssen handhabbar sein und in kurzen Zeiten zu Entscheidungen führen. Man muss der Erste am Markt sein. Man darf nicht der Letzte sein, nur weil man auf den Bearbeiter gewartet hat. Dies ist ein wesentlicher Punkt. Ich möchte noch weitere Aspekte nennen: Der ERP/ EIF-Dachfonds zur Förderung von Wagniskapitalinvestitionen in deutsche Technologieunternehmen wurde 2004 mit 500 Millionen Euro aufgelegt und im Jahre 2010 um weitere 500 Millionen Euro aufgestockt. Die Hälfte des Kapitals kommt vom European Investment Fund, EIF. Wir unterstützen die Vernetzung der europäischen Strukturen, damit wir eine starke Infrastruktur bekommen. Ich möchte auch die Beratungsprogramme, die europäischen Netzwerke, das Enterprise Europe Network und die Zusammenfassung der Beratungen zu möglichen Förderungsmöglichkeiten - nicht nur im Hinblick auf Programme, sondern auch im Hinblick auf mögliche Partnerschaften - nennen. All das ist eine komplexe Welt vielfältiger Möglichkeiten. Frau Sager, ich zähle auch ITER dazu; denn die Forschung ist nicht für heute, Forschung ist etwas für morgen. Wenn wir in den 80er-Jahren nicht mit Begeisterung die Windenergie vorangebracht hätten, könnten Sie heute Ihre Mühlen hier nicht bauen. ({6}) Das ist die Wahrheit. So werden wir heute am ITER arbeiten, damit in 30 Jahren glückliche Menschen sagen: Frau Sager hat uns mit Leidenschaft unterstützt. Deshalb kriegen wir Strom aus Kernfusion in einer Weise, die umweltfreundlich und risikoarm ist. Daher werden wir Frau Sager ein bronzenes Denkmal auf den Marktplatz stellen. ({7}) Hier entsteht große Vielfalt. Das gilt auch für Europas Aktivitäten im Weltraum. Zum Beispiel wirkt man an der Strukturierung im Rahmen von Galileo mit. Ich würde mich freuen, wenn man hernach damit beginnen würde, auch die marktgängigen Betriebssysteme mit aufzubauen. Dass man sich an dieser Stelle beteiligt, ist gut. In der Raumfahrt muss man ein Zusammenspiel zwischen Europa und der ESA organisieren. Die starken ESA-Strukturen müssen allerdings erhalten bleiben. Beides gehört nämlich zusammen. Hier spielt man ein gemeinsames Spiel.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir könnten Ihnen ewig zuhören. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann tun Sie es. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war mein erster Versuch, Kollege Riesenhuber.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrter Herr Präsident,

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Allein für diese Anrede gibt es ein bisschen Redezeit obendrauf. Ich bitte Sie trotzdem, zu Ihrem Schlusssatz zu kommen.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich weiß die Mahnung zu würdigen. ({0}) Ich habe immerhin die Einleitung meiner Rede untergebracht. Ich darf zum Schluss betonen: Ich stimme denjenigen zu, die darauf hinweisen, dass wir für eine Erhöhung der Forschungsetats kämpfen müssen. Auf europäischer Ebene wollten wir bis 2010 bei den Forschungsausgaben einen Anteil von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. ({1}) Derzeit liegen wir bei einem Anteil von 2 Prozent. ({2}) In Deutschland betragen die Forschungsausgaben inzwischen 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn in Europa durchschnittlich 3 Prozent erreicht werden sollen, dann muss Deutschland auf einen Anteil von 4 Prozent hinarbeiten. Nicht alle Länder werden sich gleich entwickeln können. Wir werden kämpfen müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn wir es geschafft haben, dann haben wir allerdings alles: die Konzepte, die Strukturen, die nationalen Programme und den frohgemuten Unternehmungsgeist, der insbesondere dem Deutschen Bundestag in glanzvoller Weise zu eigen ist. Wenn dieser fröhliche Unternehmungsgeist in die Wissenschaft, in die Wirtschaft und in die europäischen Strukturen ausstrahlt, dann werden wir einen Aufbruch erleben, der wichtiger als alle Strukturen und alles Geld ist. Es geht um die Freude an der Zukunft. Zukunft geschieht, wenn man sich auf sie freut. Darauf wollen wir hinarbeiten. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, es lohnt sich immer, Ihnen zuzuhören. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/5802. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/5492 mit dem Titel „Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU ({0})“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist an- genommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5449 mit dem Titel „Stärkung des Europäischen Forschungsraums - Die Vor- bereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die richtigen Bahnen lenken“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen des Bünd- nisses 90/Die Grünen und der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Die Be- schlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5386 mit dem Titel „Europäische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und das Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nach Cancún - Europäische Union muss ihr Klimaschutzziel anheben - Drucksache 17/5231 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Vor Cancún - Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen Klimaschutzabkommen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internationaler Klimaschutz vor Cancún Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Ziel - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Klimaschutzziel erhöhen - Drucksachen 17/3998, 17/4016, 17/4529, 17/5402 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({3}) Michael Kauch Dr. Hermann Ott c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anheben - Drucksachen 17/2485, 17/4069 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({5}) Michael Kauch Dr. Hermann Ott Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster steht unser Kollege Frank Schwabe für die Fraktion der Sozialdemokraten auf meiner Rednerliste. Ihm gebe ich jetzt das Wort. Bitte schön, Kollege Frank Schwabe. ({6})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Verehrte Damen und Herren! Wer zu spät kommt, den braucht man eigentlich nicht mehr. So geht es dem Herrn Umweltminister Röttgen in der europäischen Klimaschutzdebatte. Für die Staatssekretärin gilt: mitgefangen, mitgehangen. Herr Röttgen kommt in der europäischen Klimaschutzdebatte zu spät, weil jetzt die entscheidenden Weichenstellungen getroffen werden. ({0}) Wir reden uns seit Monaten und Jahren den Mund fusselig. Wir reden über die notwendige Verschärfung des CO2-Reduktionsziels auf 30 Prozent in der Europäischen Union, die die effizienteste Volkswirtschaft der Welt sein und auch bleiben soll. Dafür gibt es zig Argumente, die ich nicht alle vortragen kann. Es gibt schöne Broschüren, in denen man das alles nachlesen kann. Wir haben das oft diskutiert. Die Zuspitzung der Ziele in der Europäischen Union ist nicht wegen den USA, wegen China oder der Vereinten Nationen notwendig, sondern sie kommt uns zugute. Wir brauchen sie deshalb, weil Deutschland bzw. die Europäische Union weltweit an der Spitze der effizienten und zukunftsfähigen Ökonomien stehen soll. Diese Woche wurde über ein interessantes Beispiel aus China berichtet. Es ist immer davon die Rede, dass wegen unserer Klimaschutzziele alles sehr problematisch sei und dass es die Wirtschaft schwer habe. Aus einer Untersuchung der Beraterfirma Roland Berger geht hervor, dass von 2008 bis 2010 die Herstellung alternativer Technologien in China um 77 Prozent gewachsen ist. Damit liegt China beim Einsatz und der Produktion von grünen Technologien gemessen am Bruttoinlandsprodukt weltweit auf Platz zwei der Volkswirtschaften nach Dänemark. China war vorher auf Platz sechs. Deutschland ist auf Platz drei. Das heißt, China hat Deutschland bei den grünen Technologien überholt. ({1}) Das ist ein Signal, das uns herausfordert, unsere nationalen und europäischen Ziele so anzupassen, dass wir international wieder an die Spitze der Volkswirtschaften kommen. ({2}) Das ist nicht selbstlos, sondern ziemlich egoistisch gedacht. Aber wir haben darüber hinaus auch weltweite Verantwortung dafür, dass der Klimawandel gestoppt wird und wir international andere Entwicklungspfade schaffen können. Bald gibt es weltweit 7 Milliarden Menschen. 2 Milliarden bis 3 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Energie. Sie werden aber Zugang zu Energie haben wollen. Das können wir ihnen nicht verwehren. Mittlerweile sind jedes Jahr - auch das ist eine Nachricht aus dieser Woche - mehr als 200 Millionen Menschen von Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Erdbeben oder Stürmen betroffen. Mindestens jedes zweite Opfer ist ein Kind. Schon 70 Prozent aller Katastrophen sind klimabedingt, wie UNICEF Deutschland heute festgestellt hat. Wenn man das alles weiß, dann kann es nicht sein, dass wir innerhalb der Europäischen Union weiter auf der Bremse stehen. Das verstehe ich vor allem deshalb nicht, weil wir in Deutschland mittlerweile auf dem Weg sind, ein gewisses Einvernehmen über die Energiepolitik zu erzielen. Das wird zumindest in der Presse berichtet. Im Parlament besteht von rechts bis links Einigkeit darin, dass Deutschland von 1990 bis 2020 die Treibhausgase um 40 Prozent reduzieren soll. Insofern ist es eine relativ einfache mathematische Aufgabe, das komplementäre Ziel innerhalb der Europäischen Union auszurechnen: Das sind 30 Prozent. Ich kann nicht verstehen, warum sich die Koalition nicht endlich zu diesem klaren Signal an die Europäische Union durchringen kann. ({3}) Wenn das so überzeugend ist und mathematisch klar hergeleitet werden kann, dann bleiben nur bestimmte sachfremde Gründe. Dann muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie sich im Zangengriff von Lobbyisten befinden, die gerade unterwegs sind. Sie kommen auch zu mir und rechnen mir dubiose Dinge vor. Wenn man das hinterfragt, dann stellt sich heraus, dass es von vorne bis hinten nicht stimmt. Sie haben wohl in der Energiepolitik jegliche Orientierung verloren; vielleicht gelten auch die mathematischen Grundsätze bei Ihnen nicht mehr. ({4}) Ich glaube, es liegt auch daran, dass Sie einen Umweltminister haben - das kann ich Ihnen nicht ersparen -, der als Schöngeist, Schönredner oder Schönwetterminister unterwegs ist, viel redet, spannende Texte schreibt und schon immer alles besser wusste. Aber wenn etwas zu bestimmen ist, dann erreicht er leider relativ wenig. Das ist meine Analyse. ({5}) Wenn wir über die Rahmenbedingungen für den Klimaschutz reden, geht es nicht darum, die Wirtschaft zu überlasten. Genau darum geht es nicht. Es geht um klare Rahmenbedingungen. Wenn man mit einzelnen Unternehmern spricht, dann sagen sie: Jawohl, vieles ist machbar, aber wir brauchen klare Rahmenbedingungen. Wir brauchen internationale und europäische Rahmenbedingungen. Wir brauchen im Übrigen auch nationale Rahmenbedingungen. Die Akteure der Koalition schieben sich aber nur den Schwarzen Peter gegenseitig zu. Ein Beispiel dafür war die gestrige Sitzung des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages. Dort haben wir erlebt, dass Herr Röttgen es auf die FDP schiebt, dass es in Deutschland noch kein Klimaschutzgesetz gibt. Herr Kauch hat das mit Hinweis auf die Union zurückgewiesen. Heute wird die FDP, wenn ich das richtig gelesen habe, in dieser Debatte gar nicht Stellung nehmen. Es hilft aber nichts, sich den Schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben. Wir brauchen vielmehr klare Rahmenbedingungen in Deutschland und innerhalb der Europäischen Union. Ich kann Ihnen Folgendes nicht ersparen: Wir werden wahrscheinlich von den Umweltpolitikern der Union gleich wieder ein Plädoyer für das 30-Prozent-Ziel innerhalb der Europäischen Union hören, mit dem Hinweis darauf, dass es auch einen entsprechenden Beschluss in ihren Reihen gibt; das ist löblich. Es gibt auch ein großes Einvernehmen unter den Umweltpolitikern auf internationaler Ebene. Aber am Ende handelt es sich um ein Muster ohne Wert, weil jetzt die Entscheidungen in der Europäischen Union anstehen. Jetzt entscheiden das Europaparlament, die Kommission und der Europäische Rat. Genau jetzt ist die letzte Möglichkeit, ein klares Ziel vorzugeben. Aber diese Möglichkeit verpassen Sie. Es gibt eine schöne Broschüre des Climate Action Network Europe, in der man alle Argumente nachlesen kann. Dort lässt sich folgendes Zitat finden: Wir glauben, dass eine Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 % für Europa der richtige Schritt ist. Es ist eine Politik zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Wachstum, für Energiesicherheit und zur Abwendung von Klimarisiken. Und vor allem ist es eine Politik für Europas Zukunft. Dieses Zitat stammt vom Juli 2010, unterschrieben von Dr. Norbert Röttgen, dem deutschen Umweltminister. Umgesetzt ist leider nichts. Ich appelliere an Sie, den Umweltminister nicht im Regen stehen zu lassen und endlich das Signal aus Deutschland an die Europäische Union zu setzen: Wir sind für 30 Prozent. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die CDU/ CSU-Fraktion.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die erste Debatte über Klimaschutz, die wir hier im Bundestag nach der Katastrophe von Fukushima führen. Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg darüber einig, dass man nach dieser Katastrophe in Japan nicht einfach weitermachen kann, dass es kein Weiter-so geben kann, sondern dass es eine Neubewertung und teilweise eine Neupositionierung geben muss. Das ist das eine. Das andere ist: Beim Klimaschutz darf es kein Zurückweichen geben. Klimaschutz muss die Priorität behalten, die die Bundesregierung, egal welche Fraktionen sie getragen haben, ihm immer beigemessen hat. Falsch wäre die Botschaft: Das wichtigste Ziel ist jetzt, so schnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen, und das Erreichen anderer Ziele wie der Klimaschutzziele können wir hintanstellen; das hat nicht mehr die gleiche Priorität. - Das wäre grundfalsch. Nur weil uns die Katastrophe von Japan die Risiken der Kernenergie noch deutlicher vor Augen geführt hat, sind die Herausforderungen und die Probleme des Klimaschutzes keinen Deut geringer geworden. Wir müssen beides unter einen Hut bekommen. Wir wollen auf der Grundlage eines breitestmöglichen Konsenses einen schnelleren Verzicht auf die Kernenergie verwirklichen. Aber gleichzeitig dürfen wir keinen Deut bei den Klimazielen nachlassen. Wir müssen beim Klimaschutz weiter vorankommen. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. ({0}) Wir wissen, dass die Herausforderung noch größer ist. Bei der Erarbeitung eines Energiekonzepts, an der viele beteiligt sind - die Fraktionen, die Regierung sowie die Ethikkommission unter Leitung von Herrn Professor Töpfer und Herrn Professor Kleiner, über das viele gesellschaftliche Debatten geführt werden -, geht es nicht nur um ökologische, sondern auch um wirtschaftliche Notwendigkeiten und soziale Belange. Das alles muss in einem Konzept so zusammengefasst werden, dass wir am Ende die Überzeugung haben: Das ist ein gutes Modell für Deutschland und gibt nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Europäischen Union und auf internationaler Ebene Impulse. ({1}) Wahr ist - der Kollege Schwabe hat es angesprochen -, dass wir Umweltpolitiker in der Union es für richtig halten und wollen, dass die Europäische Union das nachvollzieht, was wir in Deutschland bereits beschlossen haben. Wir wollen in unserer Klimaschutzpolitik nämlich nicht darauf warten, was andere machen. Wir können nicht einfach sagen, wir würden ja Dinge umsetzen, aber nur, wenn erst einmal andere vorangehen, sondern wir haben gesagt: Wir wollen unbedingt, egal was die anderen machen, bis zum Jahr 2020 unsere Treibhausgase um 40 Prozent reduzieren. Das ist der Beschluss der Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dieser Punkt hat auch die Unterstützung des gesamten Hauses. Die Konsequenz daraus, wenn wir das für uns für richtig halten, ist, dass wir das dann auch in der Europäischen Union umsetzen wollen. Deshalb teilen wir die Forderung, dass die Europäische Union ebenfalls unbedingt ihr Ziel, gegenüber dem Jahr 1995 bis zum Jahr 2020 auf minus 30 Prozent zu kommen, festschreiben sollte. Wahr ist, hierüber gibt es innerhalb der Koalitionsparteien und der Regierung eine Diskussion, so wie es sie in ganz Europa gibt. Es haben sich bisher nur wenige Staaten bereit erklärt, diesen Schritt zu gehen. Deshalb ist noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Diese Überzeugungsarbeit leisten wir in unseren Fraktionen, diese Überzeugungsarbeitet leistet Norbert Röttgen in der Regierung. Wir tun alles andere, als ihn im Regen stehen zu lassen. Wir unterstützen ihn auf diesem Weg. Norbert Röttgen wirbt gemeinsam mit den Umweltministern von Frankreich und Großbritannien für genau diesen Schritt. Wir wollen, dass er dabei Erfolg hat. Frank Schwabe hat gesagt, er sei einer, der die Dinge nur ankündige, aber nicht umsetzen könne. Aber die letzten Wochen zeigen Andreas Jung ({2}) doch, dass es gerade aus Sicht der Umweltpolitik jetzt möglich ist, Forderungen, die man schon länger erhoben hat, auch umzusetzen. ({3}) Das werden wir beim Energiekonzept in den nächsten Wochen sehen. Davon sind wir überzeugt, und die Weichen dafür sind gestellt. Ich bin guten Mutes, dass das auch bei der Weichenstellung in Europa gelingt. Eines will ich aber schon zurückweisen. Mein Eindruck ist nicht, dass es andere Regionen in der Welt gibt, die uns bei den Anstrengungen für den Klimaschutz überholen, sondern mein Eindruck ist, dass unser Impuls gebraucht wird, um andere mitzuziehen und anderen zu zeigen: Wir gehen voran, und deshalb müsst auch ihr in China, ihr in den USA und ihr in anderen Industriestaaten und in anderen Schwellenländern diesen Weg mit uns gehen. Ich glaube, darum wird es in den nächsten Wochen gehen. Darum wird es auch auf dem Weg gehen, den wir jetzt nach Durban einschlagen. Wir reden auf der Grundlage der heute vorliegenden Anträge auch noch einmal über die Frage: Was war das Ergebnis von Durban, und was sind die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind? Wir wissen, da haben wir bisher allenfalls die halbe Strecke des Weges zurückgelegt. Cancún ist nicht zum Fiasko, nicht zur Niederlage, nicht zum Scherbenhaufen geworden. Es ist aber gerade nur dieser Prozess gerettet worden. Diesen müssen wir jetzt zum Abschluss bringen. Es gibt viele Staaten, die noch nicht so weit sind, die diese Dinge nicht so konsequent angehen, wie wir das tun. Deshalb bleibt es das Ziel der Bundesregierung, mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen ein internationales Abkommen hinzubekommen. Deshalb sind wir auch bereit, mit anderen Staaten ambitioniert voranzugehen, sind bereit, bei einzelnen Themen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel beim Emissionshandel. Vor wenigen Wochen ist es uns gelungen, hier wichtige Weichen zu stellen, indem wir die 100-prozentige Auktionierung durchgesetzt und damit den Druck auf die Kohlekraft erheblich verstärkt haben, auch indem wir den Flugverkehr einbeziehen. Wir meinen, von alledem muss das Signal an unsere internationalen Partner ausgehen: Wir wollen ein Ergebnis, wir wollen die Herausforderung Klimaschutz gemeinsam angehen. Erfolg können wir nur international und gemeinsam haben, und dafür arbeiten wir. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bulling-Schröter ist nun die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch steht bei der Koalition nicht fest, wann wirklich aus der Atomkraft ausgestiegen werden soll. Fest steht allerdings bereits, dass der Braunkohle ein neuer Frühling beschert werden soll, sollten die AKWs früher vom Netz gehen. So jedenfalls könnte man das jüngste Energiepapier der CDU verstehen. Und ich frage mich: Braucht man für den Übergang tatsächlich mehr Braunkohleverstromung, und wie steht es dann um die Klimaschutzziele? Wir, die Linke, meinen, Deutschland kann sein Klimaschutzziel von 40 Prozent Reduzierung bis zum Jahr 2020 trotzdem erreichen, auch ohne Kernenergie und ohne zusätzliche Braunkohle. ({0}) Das ist zunächst möglich, weil Deutschland seine Exportüberschüsse im Strombereich zurückfahren kann, seine Anlagen stilllegen kann. Außerdem wirkt hier der Emissionshandel wunderbar regulierend. Der feste Deckel, die gesetzte Emissionsobergrenze, wird über teurere Zertifikate zum einen dafür sorgen, dass die fossilen Kraftwerke stärker auf Gas als auf die emissionsstärkste Energieform Kohle setzen müssen, zum anderen wird die emissionshandelspflichtige Industrie mehr zu schultern haben. Dessen ungeachtet muss Deutschland endlich mehr im Verkehrssektor tun. Beispielsweise muss der Zuwachs an Schwerlastverkehr gebremst werden. ({1}) Nicht zuletzt geht es darum, einen Durchbruch in dem Sektor der energetischen Gebäudesanierung zu schaffen. Klar ist, dass es hier erheblich mehr Geld aus öffentlichen Kassen geben muss, als bislang vorgesehen. Sonst stehen wir vor einer Mietenexplosion. Der preiswerteste und umweltfreundlichste Strom ist natürlich der, der nicht verbraucht wird. Darum muss endlich ein Top-Runner-Programm zum Durchbruch kommen, das dynamische Energieeffizienzstandards mit absoluten Verbrauchsobergrenzen für elektrische Geräte setzt. ({2}) Also noch mal: Top-Runner-Programm! Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Einkommen sollten beim Kauf stromsparender Geräte finanzielle Unterstützung erhalten. Wir halten das sozial und ökologisch für absolut sinnvoll. ({3}) Natürlich wird die Energiewende auch sonst Geld kosten. Machen wir uns nichts vor! Dann muss man natürlich fragen: Wer bezahlt? Das interessiert ja die Bürgerinnen und Bürger. Die Linke meint, den größten Brocken müssen die Energiekonzerne schultern; denn sie haben ja in den vergangenen Jahren exorbitante Gewinne eingefahren, zig Milliarden allein aus den Preiseffekten des Emissionshandels, zudem aus ihrer Oligopolstellung. Wie kommt es sonst, dass die Stromrechnung für einen Durchschnittshaushalt zwischen 2000 und 2009 um 324 Euro jährlich stieg, dabei aber nur 40 Prozent dieser Steigerung mit Umlagen für Erneuerbare, Kraft-WärmeKopplung und Steuern erklärlich sind? ({4}) Offensichtlich resultieren 60 Prozent aus Monopolprofiten der marktbeherrschenden großen Vier. Das kann man beweisen, auch wenn Sie hier motzen. Solche leistungslos erzielten Extragewinne müssen beschnitten und kassiert werden. ({5}) - Für den Staatshaushalt kassiert werden, klar. ({6}) Dies kann beispielsweise durch eine deutliche Erhöhung der Brennelementesteuer geschehen. Damit könnten unter anderem Sozialtarife für einkommensschwache Haushalte finanziert werden. ({7}) Wir fordern zudem die unverzügliche Wiedereinführung der Börsenaufsicht - das können Sie sofort unterstützen für den Spothandel im deutschen bzw. europäischen Strommarkt und ein gesetzliches Verbot des Insiderhandels an Strombörsen. - Da müssten Sie von der CDU/ CSU jetzt klatschen. ({8}) Auch die angekündigte Markttransparenzstelle muss endlich ihre Arbeit aufnehmen. Unter dem Strich haben wir also genug finanzielle Reserven und regulatorische Handhabe, zusätzliche Emissionen und steigende Preise zu verhindern. Darum lassen sich auch Atomausstieg und Klimaschutzziele gemeinsam bewältigen. ({9}) Zum Schluss: Denken Sie daran, was der chinesische Botschafter kürzlich zu Herrn Professor Schellnhuber vom WBGU sagte: Wenn es ein Land in der Welt gibt, das aus Atomkraft und Kohle zugleich aussteigen kann, ohne an Wohlstand zu verlieren, dann ist das Deutschland. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Michael Kauch gibt seine Rede zu Proto- koll1). 1) Anlage 7 Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Ott für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Anfang der Legislaturperiode, also seit mittlerweile eineinhalb Jahren, fordert die gesamte Opposition im Bundestag, dass die EU ihr Klimaziel auf 30 Prozent anhebt und dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt. Diese Forderung ergibt sich aus drei sehr einfachen Erwägungen: Erstens. Soll die globale Erwärmung unterhalb von 2 Grad bleiben, dann müssen die Industriestaaten ihre CO2-Emissionen massiv senken. Wenn wir länger warten, dann wird es nicht nur teurer - es könnte völlig unmöglich werden. ({0}) Die Katastrophe eines kippenden Klimasystems muss unter allen Umständen verhindert werden. ({1}) Zweitens. Ein globales Klimaabkommen wird auch dieses Jahr in Durban nicht abgeschlossen werden. Die Glaubwürdigkeit der Industrieländer ist in den Ländern des Südens massiv erschüttert und sogar verloren gegangen. Neues Vertrauen gewinnt die EU nur dadurch, dass sie als Vorreiterin vorangeht und deutlich macht, dass ein nachhaltiger Umbau der Wirtschaft möglich ist. Drittens. Der Pfad zur solaren Wirtschaft macht nämlich nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch Sinn. ({2}) Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die eindrucksvoll die wirtschaftlichen Vorteile eines höheren Reduktionsziels darlegen. Die jüngste Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zusammen mit der Universität Oxford zeigt: Bei einem Minderungsziel von 30 Prozent würden die Investitionen in Europa von 18 auf bis zu 22 Prozent des Bruttosozialprodukts steigen. Dadurch würden bis zu 6 Millionen neue Jobs entstehen. Das Bruttoinlandsprodukt würde sich um bis zu 620 Milliarden Euro erhöhen. Wer solche ökonomischen Chancen leichtfertig vergibt, der soll fortan bei allen wirtschaftlichen Diskussionen schweigen. ({3}) Ich bin der festen Überzeugung, dass es Europas Pflicht und Chance ist, eine zweite industrielle Revolution auf den Weg zu bringen. Diese neue, solare Revolution kann von Europa ausgehen, wenn wir es richtig machen, und dann zusammen mit den Menschen in Asien, Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent weiterDr. Hermann Ott entwickelt werden. Das Ganze kann sogar mit unseren Freunden in den USA geschehen, wie ich hinzufügen möchte. Ich bin als Klimapolitiker Berufsoptimist. Das kommende solare Zeitalter gibt uns die Chance, eine Welt zu schaffen, die in hohem Maße menschengerecht ist: weil sie dezentral organisiert werden kann, weil sie nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht und weil einige der Hauptgründe für kriegerische Konflikte wegfallen. Denn Frieden auf der Welt ist nach unserer festen Überzeugung nur dann möglich, wenn auch Frieden mit der Natur gemacht wird. ({4}) Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, eine solche Welt kommt nicht von allein. Sie muss erarbeitet und erkämpft werden. Dazu gehören neben der Vision auch Mut und Durchhaltevermögen. Der nach Fukushima von Bundeskanzlerin Merkel betriebene Atomausstieg reduziert bei einem entsprechenden Ausbau der Erneuerbaren als Nebeneffekt automatisch den CO2-Ausstoß. Eine Stromversorgung aus 50 Prozent Erneuerbaren bis 2020 ist keine Utopie, sondern nach Ansicht von Fachleuten gut machbar, ebenso wie 100 Prozent Vollversorgung durch Erneuerbare bis zum Jahre 2030. Warum bekommt der Bundesumweltminister dann nicht die Unterstützung seiner eigenen Fraktion? Muss ich noch einmal daran erinnern? Ein von den Oppositionsfraktionen im Umweltausschuss eingebrachter Antrag für ein 30-Prozent-Ziel der EU wurde von der Koalitionsmehrheit abgelehnt. ({5}) Herr Göppel, Kollege Jung, hier sitzen diejenigen, die sich für einen solchen Antrag einsetzen; das ist völlig klar. Aber in der Energiedebatte heute Morgen saßen hier Fuchs, Pfeiffer und andere. ({6}) Das, was ich beschreibe, ist der Konflikt, den Sie innerhalb Ihrer eigenen Fraktion lösen müssen. ({7}) Unterstützen Sie Ihren Umweltminister! Haben Sie doch keine Angst vor Ihrer eigenen Courage! Unterstützen Sie das, was die Menschen in diesem Lande wollen, nämlich eine saubere Energieversorgung und mehr Klimaschutz! ({8}) Mit einer Lobbypolitik für die alten, fossilen Strukturen wird in Zukunft kein Staat mehr zu machen sein, und - lassen Sie mich das anfügen - es werden auch keine Wahlen mehr zu gewinnen sein. ({9}) Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Josef Göppel ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden zum wiederholten Male über die Anhebung des europäischen Klimaschutzzieles. Der Deutsche Bundestag hat sich über alle Fraktionen hinweg darauf verständigt, dass Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduziert. Ich sage ganz klar, Herr Kollege Ott: Ich erwarte als Abgeordneter der Koalition, dass sich alle Mitglieder der Bundesregierung dem Vorstoß des Bundesumweltministers anschließen und jetzt im Europäischen Rat für die Anhebung des europäischen Ziels eintreten. ({0}) Da wir bereits im Jahr 2011 eine Senkung um 17,3 Prozent erreicht haben, sind 20 Prozent bis zum Jahr 2020 nämlich kein glaubwürdiges Ziel mehr. Genau dieses Problem kennen ja alle, die an Klimaschutzverhandlungen teilnehmen. Wenn sich die Europäische Union nicht bewegt, dann scheitert Durban. Das ist absehbar. ({1}) Deshalb können wir in Bezug auf den Temperaturanstieg auch nicht beim 2-Grad-Ziel bleiben. Das genau ist der Punkt, um den es geht. Wo liegen aber die Hinderungsgründe? Natürlich ist die Angst vorhanden, dass Europa mit einem höheren Klimaschutzanspruch wirtschaftlichen Schaden nehmen würde. Das Wirtschaftsministerium hat bei der Prognos AG und der GWS eine Studie in Auftrag gegeben - wie immer für teures Geld. Sie haben festgestellt, dass die Anhebung des Klimaschutzzieles auf 30 Prozent zu viele Nachteile für die europäische Wirtschaft mit sich bringen würde. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass es schon in allen Ländern Steuererleichterungen für die energieintensive Industrie gibt. Es wurde auch nicht berücksichtigt, dass wir eine preisdämpfende Wirkung zu verzeichnen haben, wenn weniger Primärenergie aus Drittländern eingekauft werden muss, und es wurde nicht berücksichtigt, dass durch Klimaschutzinvestitionen auch neues Wachstum generiert wird. Deswegen ist die entscheidende Frage: Wie schätzen wir das ein? Bringt eine Vorreiterrolle Nachteile, isoliert sie uns, oder bringt sie uns Vorteile? Die bisherigen wirtschaftlichen Erfahrungen unseres Landes auch auf dem Sektor der erneuerbaren Energien sind doch eindeutig: Mit einem energischen Vorangehen isolieren sich Deutschland und Europa nicht, sondern setzen sich international an die Spitze. ({2}) Genau diese Spitzenposition wird unserem Land Vorteile verschaffen. Mir hat gerade einer aus meiner Fraktion ins Ohr geflüstert: Wir wollen bezahlbare Strompreise. Der Mann hat recht. Ich will auch bezahlbare Strompreise. Wir werden aber sehen, dass in Zukunft nur noch saubere Stromquellen bezahlbar sein werden, weil die Folgekosten des Nichtstuns sehr viel höher als die Investitionen sind, die wir jetzt für den Klimaschutz brauchen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/5231 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist beruhigend. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5402. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3998 mit dem Titel „Vor Cancún - Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen Klimaschutzabkommen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/4016 mit dem Titel „Internationaler Klimaschutz vor Cancún - Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Ziel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Mehrheiten sind nicht unterschiedlich. Auch diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4529 mit dem Titel „EU-Klimaschutzziel erhöhen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen. Bei dem Tagesordnungspunkt 11 c geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anheben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/4069, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2485 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen. Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Europäische Nachhaltigkeitsstrategie - Drucksache 17/5295 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. ({1}) - Das ist doch kein Grund, zu randalieren. Wenn diejenigen, die an diesem Punkt nicht mehr teilnehmen wollen, unauffällig den Saal verlassen, finden diejenigen, die dazu jetzt das Wort erhalten, umso ungeteiltere Aufmerksamkeit. Darf ich vorher feststellen, dass es Einvernehmen dazu gibt, dass die Aussprache eine halbe Stunde dauern soll? - Das ist offenkundig der Fall. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({2})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach intensiven Beratungen in den letzten Monaten werfen wir heute einen Blick über unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie hinaus auf die europäische Perspektive nachhaltiger Entwicklung. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, die Unterrichtung im fraktionsübergreifenden Konsens ohne Sondervoten einzelner Fraktionen im Beirat zu verabschieden. Dies unterstreicht noch einmal den Ansatz, nachhaltige Entwicklung legislaturperiodenübergreifend und jenseits politischer AuseinandersetzunTankred Schipanski gen zu begleiten. Allen, die hieran mitgewirkt haben, danke ich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehr herzlich. Alois Glück, der ehemalige bayerische Landtagspräsident und Vordenker zum Thema Nachhaltigkeit, bezeichnete das Prinzip der Nachhaltigkeit als den zentralen Kompass, wenn wir einen guten Weg in die Zukunft gestalten wollen. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird dabei von zwei Direktiven bestimmt, nämlich dem Längerfristigen und dem Ganzheitlichen. Diese beiden Parameter haben wir bei den Beratungen zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie erleben können. Wir haben herausgearbeitet, dass die EUNachhaltigkeitsstrategie mehr und längerfristiger ist als die Strategie „Europa 2020“. Und wir haben gespürt, wie ganzheitlich die Fragestellungen sind. Von daher ist es lobenswert, dass wir anhand von zehn Themenfeldern sowie Indikatoren strukturiert gearbeitet haben, um unseren Kolleginnen und Kollegen im Parlament einen Überblick über diese breite Materie zu geben. Von daher können wir heute gar nicht auf alle Bereiche eingehen, sondern ich darf mich auf einige wesentliche Aspekte konzentrieren. Bei der Bewertung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie ergibt sich insgesamt ein sehr gemischtes Bild. In einigen Bereichen liegt die EU weit vorne, in vielen Bereichen sind allerdings noch erhebliche Anstrengungen notwendig. Eine wichtige Erkenntnis bei der Betrachtung der einzelnen Indikatoren ist, dass einige Länder Vorreiter sind und andere um ein Vielfaches dahinter zurückliegen. Dies zeigt, dass Nachhaltigkeit und Leitlinien nachhaltiger Entwicklung noch nicht überall in der EU als wichtiges Zukunftsinstrument in die Politik integriert sind. Hier ist aus unserer Sicht die EU gefordert, in allen Mitgliedstaaten für eine entsprechende Ausrichtung nationaler Strategien zu werben. Dabei kämpft die europäische Nachhaltigkeitsstrategie im Gegensatz zu unserer nationalen mit einem gravierenden Geburtsfehler: Die zur Begleitung der Strategie erforderlichen Indikatoren sind nicht politisch konsentiert, sondern von Eurostat entwickelt und ohne politische Beratung eingeführt worden. Entsprechend niedrig ist ihre Relevanz. Aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, dass sich die EU bei der Weiterentwicklung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie auch die Zeit nimmt, die Indikatoren politisch zu diskutieren. Nur so kann es gelingen, die Verzahnung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie und der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zu verbessern. Bei unserer gemeinsamen Befassung mit der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir auch feststellen können, wie gut der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung im deutschen Parlament verankert ist. Mit klaren Aufgaben und Kompetenzen treiben wir unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie voran. Solch klare Kontrollmechanismen bezüglich der Umsetzung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie fehlen in der EU. Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie enthält neben zahlreichen wichtigen und sinnvollen Indikatoren aber auch einige, bei denen durchaus kritisch hinterfragt werden sollte, ob diese Indikatoren uns wirklich weiterbringen. Hierzu gehört der Indikator „gute Staatsführung“. Sicherlich ist eine gute Staatsführung mit Blick auf eine nachhaltige Entwicklung wichtig. Allerdings ist die Bewertungsgrundlage des Indikators bemerkenswert: Eine Vertrauenserklärung gegenüber dem EU-Parlament von mehr als der Hälfte der EU-Bürger als positiven Befund zu werten, ist vor dem Hintergrund, dass die Wahlbeteiligung zum Europaparlament beständig abnimmt, sehr gewagt. Auch die Quote von 98,5 Prozent als Zielvorgabe für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Regierungen sagt kaum etwas über die gute Staatsführung der EU aus, müsste doch diese Quote bei 100 Prozent liegen. Letztlich sind die vorhandenen Indikatoren eher fragwürdig, sodass der Parlamentarische Beirat zu Recht empfiehlt, dieses Themenfeld aus dem Bereich der Indikatoren zu streichen und als ein weiteres Thema von besonderer Bedeutung ohne Indikatorenmessungen in den allgemeinen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie zu verlagern. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Nachhaltigkeit muss Leitprinzip der europäischen Politik sein sowie umfassend und konsequent Berücksichtigung finden. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Zukunftsstrategie: Wenn Nachhaltigkeit als politische, gesellschaftliche und ökonomische Querschnittsaufgabe begriffen wird, kann sie zum Innovationsmotor werden. Technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Fortschritt muss sich an diesem Prinzip messen lassen. Wichtig ist dabei, dass die Leitlinien nachhaltiger Entwicklung auf der europäischen Ebene nicht zugunsten kurzfristiger Zielvorgaben verdrängt werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering für die SPD-Fraktion. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde schon gesagt: Europa hat den Fortschrittsbericht zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt. Wir haben als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung das Thema aufgenommen und einen Bericht an den Bundestag gegeben. Die Drucksache liegt vor. Heute findet eine kurze Debatte statt. Wir haben Fragen gestellt, weil wir wissen wollten, wie denn die Entwicklung in Europa ist, wie synchron sie in den Mitgliedsländern läuft bzw. in welchem Maße sie nicht übereinstimmt. Die erste Frage, die wir gestellt haben, ging an die Bundesregierung. Wir haben gefragt, wie sie denn die Indikatoren, die Europa benutzt, sieht. Wir haben festgestellt - das war ziemlich ernüchternd -, dass die Indikatoren, mit denen Europa den Fortschritt misst, nicht von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind. Die Mitgliedstaaten sind zwar beteiligt worden, aber im Endergebnis ist es so, dass die Mitgliedstaaten und Europa den Fortschritt mit unterschiedlichen Maßeinheiten messen. Das ist nicht gut. Deshalb muss man versuchen, dies zu synchronisieren. Das ist notwendig, damit man weiß, worüber man redet, wenn man über Nachhaltigkeit und Fortschritt miteinander spricht. ({0}) Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass wir uns auch über die Inhalte austauschen und das, was wir erkennen können, ansprechen, soweit das in so kurzer Zeit hier möglich ist. Ich nenne ein paar Stichworte. Stichwort „natürliche Ressourcen“. Es ist klar geworden, dass es in Europa immer weniger Wälder und immer weniger Grün gibt, Wasser im vergleichbaren Umfang wie in den Jahren zuvor genutzt wird. Wenn man das zu der schlichten Wahrheit in Relation setzt, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland von jetzt 81 Millionen auf 68 Millionen bis zum Zeitraum 2050/2060 sinken wird, stellt sich die Frage, wie wir unsere Landschaft beplanen und welche Konsequenzen sich aus solchen Zahlen für die Zukunft des Landes ergeben. Eines müssen wir jedenfalls lernen. Bei den meisten von uns in Deutschland ist im Kopf, dass der Mangel an Wasser und Grün hauptsächlich andere Kontinente betrifft. Aber auch Europa ist davon in hohem Maße und in immer stärkerem Maße betroffen. Es ist wichtig, dass wir dieses Problem nicht unterschätzen. ({1}) Stichwort „öffentliche Gesundheit“. Ich spreche das Thema an, weil es in Europa durchgängig so ist, dass arm zu sein, also wenig Geld zu haben, immer mit einer unterdurchschnittlichen Versorgung im Gesundheitsbereich verbunden ist. Das ist ein deutsches Problem und auf jeden Fall in Europa ein weitverbreitetes Problem und deshalb etwas, was wir im Blick haben müssen und was in die europäischen Kategorien stärker einbezogen werden muss. Stichwort „soziale Sicherheit und Einbeziehung in unsere Gesellschaft“. Die Trennung zwischen Arm und Reich wird größer, die Schere geht weiter auseinander. Wir glauben, dass die Instrumente, die Europa nutzt, um das zu messen, nicht besonders aufschlussreich sind. Man nimmt die reichsten 20 Prozent und die ärmsten 20 Prozent, aber die Extreme sind dann nicht wirklich zu erkennen. Jedenfalls ist das eine Entwicklung, die in Europa durchgängig zu beobachten ist. 10 Prozent der jungen Leute in Europa kommen ohne Abschluss aus der Schule. Wir sind in Deutschland etwas besser geworden: Anfang dieses Jahrhunderts waren es pro Jahr 89 000, inzwischen sind es 58 000. Aber beruhigen kann uns das nicht. Das sind in zehn Jahren ungefähr 600 000 junge Leute, die ohne Schulabschluss in Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geschoben werden. Deshalb ist dieses Thema - 10 Prozent der jungen Leute in Europa kommen ohne Abschluss aus der Schule - eine der größten Herausforderungen, vor denen Europa steht. Das muss auch in Europa auf die Tagesordnung gesetzt werden. ({2}) Wenn wir die junge Generation ernst nehmen wollen, muss dieses Thema neben allen anderen wichtigen Themen, die wir in Europa zu besprechen haben, auf die Tagesordnung; denn die Wirkungen sind noch in 20 oder 30 Jahren in aller Massivität zu spüren. Es ist festgestellt worden, dass in Deutschland, aber auch in anderen Ländern die Frauen in der Entlohnung deutlich schlechter gestellt sind als die Männer. Das ist oft genug konstatiert worden und muss nun endlich behoben werden, sowohl in Deutschland als auch anderswo. ({3}) Stichwort „Demografie“. Die Altersarmut ist in den letzten sieben Jahren in Europa gewachsen. Wir haben eine lange Phase in Europa gehabt, wo die ältere Generation relativ besser dastand als die jüngere. In den letzten sieben Jahren hat sich dieser Trend verändert. Wenn man sich nun klarmacht, dass in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt die Lebenserwartung steigt, dass die Zahl der Älteren zunimmt, und wenn man davon ausgeht, dass sie weniger verfügbar haben, stellt man fest, dass es hier um eine Frage nicht nur sozialer Dimension, sondern auch ökonomischer Dimension geht. Die Binnenkaufkraft und die Leistungsfähigkeit werden an dieser Stelle abnehmen. Das ist nicht nur ein Minus an Lebensqualität, sondern, was die volkswirtschaftliche Dynamik angeht, auch eine große Gefahr, die wir sehen müssen. Was die Beschäftigung und die Arbeitsplätze im Bereich der 55- bis 64-Jährigen angeht, ist Europa ein Stück vorangekommen; die Beschäftigung liegt bei etwa 50 Prozent. Wir sind in Deutschland bei etwa 60 Prozent. 1998 waren wir bei etwa 36 Prozent. Das ist eine gute Entwicklung; aber trotzdem bleibt es nötig und dringend erforderlich, in ganz Europa auch den Älteren eine Chance zu geben, am Arbeitsmarkt teilzuhaben. ({4}) Ich nenne drei Punkte, die uns in dem, was Europa uns geliefert hat, fehlen. Es gibt erstens keine qualifizierte Auseinandersetzung mit den Finanzen, weder mit den öffentlichen Finanzen, mit den Haushalten, noch mit der privaten Finanzindustrie. Das ist hochärgerlich. Denn Nachhaltigkeitspolitik kann sich nicht darauf reduzieren lassen, zu versuchen, die verschüttete Milch aufzunehmen, sondern wir müssen auch als Politik auf die öffentlichen Finanzen und die private Finanzindustrie Einfluss haben. Sonst kann man nachhaltige Politik in Europa nicht organisieren. Auch das ist eine Konsequenz aus dem, was wir da lesen. ({5}) In dem gesamten Bericht fehlt zweitens die Integration, die Inklusion, ein Thema, das wir dringend aufnehmen müssen in Europa, in Bezug auf Zuwanderung, auf Einwanderung, aber auch auf Binnenwanderung in Europa. Was findet da eigentlich statt? Was bedeutet das? Wer soziale Stabilität haben will, muss sich auch um dieses Thema kümmern. Drittens steht in dem Bericht nichts zur Demokratie. Ich finde, das ist eine Schwäche, die wir uns nicht leisten können. Europa hat viele Probleme. Wir haben auch das Problem, dass wir immer wieder neu aufpassen müssen, dass die Demokratie auch stimmt, dass die Menschenrechte eingehalten werden, dass die Medienöffentlichkeit garantiert ist, und zwar in ganz Europa; ich will gar keine Adressen nennen. ({6}) Das ist etwas, über das wir miteinander sprechen müssen. Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie nicht partiell nur noch formal vorhanden ist und von der Substanz her den Anforderungen nicht genügt wird. Nun haben wir unseren Bericht gegeben. Der Bundestag und die Bundesregierung lesen das hoffentlich, sprechen darüber und erkennen, dass etwas getan werden muss. Durch Reden allein passiert nichts; wir haben oft genug darüber geredet. Deshalb die Aufforderung des Parlamentarischen Beirats: Lasst uns die Dinge miteinander anpacken und Europa organisieren und voranbringen, nicht nur bei den großen Themen, die uns jeden Tag berühren, sondern auch da, wo es konkret um die einzelnen Menschen und deren Lebensqualität geht. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Rede des Kollegen Johannes Vogel für die FDP- Fraktion wird zu Protokoll genommen.1) Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Deshalb hat auch die EU eine Nachhaltigkeitsstrategie. Leider scheint sie aber eher nur auf dem Papier zu stehen, als dass sie eine Handlungsgrundlage ist. Das hat auch der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung des Bundestages festgestellt. Alles andere als nachhaltig war der Druck der EU auf Griechenland, für den Euro-Rettungsschirm Löhne, Gehälter und Investitionen zu kürzen. Wie von der Linken vorausgesagt, brach daraufhin die Wirtschaftsleistung ein. Das war unverantwortlich. ({0}) 1) Anlage 6 Verantwortlich wäre gewesen, die gravierende Steuerhinterziehung in Griechenland - nach Schätzungen geht es hier um 30 Milliarden Euro pro Jahr - zu bekämpfen. Diese einseitige, nicht nachhaltige Politik verurteilt die Linke. Jetzt, ein Jahr nach dem Ausbruch der griechischen Finanzkrise, plant der griechische Finanzminister, mit 3 000 zusätzlichen Beamten die Steuerhinterziehung zu bekämpfen und so die Staatseinnahmen zu erhöhen. Das ist der Anfang einer nachhaltigen Finanzpolitik. ({1}) In der Bundesrepublik werden jedes Jahr weit über 50 Milliarden Euro Steuern hinterzogen. Jeder zusätzliche Steuerprüfer holt davon etwa 1 Million Euro in die Staatskasse zurück. Deshalb fordert die Linke mehr Steuerprüfer. ({2}) Das wäre für den Bundeshaushalt nachhaltig und ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Jeder Lohnsteuerzahler wird überprüft, aber Betriebsinhaber und Millionäre haben wegen fehlenden Personals in den Finanzämtern gute Chancen, bei Schummeleien nicht erwischt zu werden. ({3}) Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch nicht nachhaltig. Bei Empfängern von ALG II, beim Kindergeld, beim BAföG und beim Wohngeld wird gnadenlos überwacht. Der kleinste Fehler eines Leistungsempfängers führt zum Verlust von Leistungen und beim Bezug von ALG II zu erbarmungslosen Sanktionen. Wer Steuern in Millionenhöhe hinterzogen hat, geht bei rechtzeitiger Selbstanzeige straffrei aus. ({4}) Da sagt die Linke: So nicht! ({5}) Auch in anderen Bereichen wird bei der Nachhaltigkeit geschludert. Zum Schutz des Klimas legte die EU neue Grenzwerte für das Treibhauspotenzial von Kältemitteln in Klimaanlagen von Pkw fest. Dabei wurde aber nicht nur die Begrenzung des internen Energieverbrauchs der Klimaanlagen vergessen; auch der Gesundheitsschutz kam unter die Räder. Zum Schutz des Klimas wurde für neue Pkw-Typen ein Verbot des Einsatzes des bisherigen Klimakillers R 134 a erlassen. Die EU hoffte auf den Einsatz von CO2, doch die Autoindustrie setzte, um Entwicklungskosten zu sparen, auf R 1234 yf statt CO2. Im Falle einer undichten Klimaanlage oder eines Feuers nach einem Unfall entsteht daraus aber Flusssäure, welche die Lungen von Insassen, Helfern und Unbeteiligten verätzen kann. Das ist ein Skandal. Die Linke forderte sofort ein Verbot des Einsatzes gesundheitsgefährdender Kühlmittel in Pkw. Aber statt mit uns gemeinsam einen Weg zu finden, wie dieses Gesundheitsrisiko verhindert werden kann, schmetterten Sie von der Regierungskoalition unsere Initiative ab. Im September sollen die ersten Pkw mit dem Kühlmittel R 1234 yf im Handel sein. Das kann doch nicht ihr Ernst sein. ({6}) Wir fordern Sie auf, eine Entscheidung zu treffen, die dazu führt, dass kein einziger Mensch verletzt werden kann. Jetzt komme ich zur Nachhaltigkeitsprüfung zurück. Hätte es in diesem Fall eine Nachhaltigkeitsprüfung gegeben, wäre der Skandal nicht passiert. Hätten wir mehr Finanzbeamte und Steuerprüfer, zum Beispiel 500 in Nordrhein-Westfalen, könnten wir die Finanzen der Bundesrepublik nachhaltig verbessern. Wir, Die Linke, unterstützen die Arbeit des Parlamentarischen Beirats für Nachhaltigkeit, weil über die Nachhaltigkeitsprüfung Fehler erkannt werden können. Wir haben nur eine Welt und ein Leben, und deshalb müssen wir sorgsam damit umgehen. Das ist der Kern von Nachhaltigkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Frau Dr. Wilms das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach dem kurzen Ausflug in die Autoklimaanlagenwelt möchte ich auf das zurückkommen, was wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung machen. ({0}) Nach knapp vier Monaten steht wieder eine Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung auf der Tagesordnung dieses Hohen Hauses. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir nicht mehr Papiere auf den Tisch legen. Das kann ich Ihnen gerne erklären, gerade auch den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne: Es dauert mehrere Monate, bis wir im Beirat ein Papier zustande bringen; denn wir arbeiten anders als in den Ausschüssen, nämlich interfraktionell. Für das, was wir hier auf den Tisch legen, wollen wir die Zustimmung aller fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses erreichen. Deshalb handelt es sich um eine ganz besondere Debatte. Wir einigen uns auf einen gemeinsamen Nenner, den wir im Hause über lange Zeit beibehalten können, hinter dem wir alle stehen können - und dies heute zu einem Papier quer durch alle Themenfelder, nämlich zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Das ist unsere Arbeitsweise im Parlamentarischen Beirat. Europakritiker und Europaskeptiker haben in den vergangenen zwei bis drei Jahren nicht wenige Argumente an die Hand bekommen. Finanzmarktkrisen und Rettungsschirme bestätigen Skeptiker und Kritiker. Laut Eurobarometer glaubten Ende 2010 nicht einmal die Hälfte der EU-Bürger, dass die Krise überwunden sei. In Deutschland waren es sogar etwas mehr als die Hälfte. Diese Skepsis ist nicht verwunderlich, wenn man sich den Bericht des europäischen Statistikamtes zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie anschaut. Die Tagung des Beirats, die Ende März in Brüssel zusammen mit den Kollegen aus der EU stattgefunden hat, zeigte auch, dass dort bislang insgesamt nur ein geringes Interesse am Thema Nachhaltigkeit vorhanden ist. Ein nachhaltiger Staatshaushalt ist schließlich kein Thema, mit dem man Stimmen gewinnen kann; im Gegenteil: Sparprogramme werden in Europa sogar bestreikt. Bei der Nachhaltigkeit geht es aber um weit mehr. Es geht um die Zukunftsfähigkeit jedes einzelnen Staates und von Europa als Ganzes, ({1}) und zwar nicht nur im Bereich Finanzen, sondern auch in den Bereichen Ökologie und sozialer Zusammenhalt. Lassen Sie mich das am Beispiel Verkehr darstellen. 2008 hatte der Verkehr mit knapp einem Drittel den größten Anteil am Endenergieverbrauch in Europa. Hier steckt also ein riesiges Potenzial für Energieeinsparung. Das ist aber auch eine enorme Herausforderung. Das Güterverkehrsvolumen stieg seit 2000 um ein Viertel an. Laut Prognosen wird es noch weiter steigen. Wie kommen wir aus dieser Falle heraus? Das Zauberwort für nachhaltigen Verkehr heißt: Kostenwahrheit. Jedes Verkehrsmittel muss für sämtliche Umweltbeeinträchtigungen aufkommen. Nur dann haben auch umweltfreundliche Verkehrsmittel eine reelle Chance. ({2}) All diese Herausforderungen haben eines gemeinsam: Wir brauchen einen Systemwechsel, einen neuen Denkansatz. Derzeit wird überwiegend der Produktionsfaktor Arbeit besteuert, der Produktionsfaktor Boden bzw. Natur dagegen kaum. Scheinbar waren Ressourcen immer in unendlicher Menge vorhanden. Diese Annahme ist falsch. Unsere Erde ist nicht reproduzierbar, bislang jedenfalls. Lassen wir unseren Nachkommen auch noch etwas davon übrig. Die Nachhaltigkeitsziele in Europa müssen Priorität erhalten und über allen anderen bereichsübergreifenden Zielen stehen, auch über der Wachstumsstrategie Europa 2020. Vor allen Dingen muss sich Europa endlich die Mühe machen, diese Ziele politisch zu debattieren und festzulegen und das Ganze nicht nur über das Statistikamt abwickeln zu lassen. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union. Natürlich geht es dabei um Instrumente, um Verfahren und um Managementregeln. Ich finde es wichtig, noch einmal in den Mittelpunkt zu stellen, warum wir über diese Verfahrenswege diskutieren und worum es in der Sache geht. In der Sache geht es darum, dass wir in der gesamten Europäischen Union den Gedanken der Nachhaltigkeit voranbringen wollen. Wir wollen dahin kommen, sagen zu können: Wir leben in der Europäischen Union nicht auf Kosten der Zukunft. In den Bereichen Wirtschaft und Soziales, Finanzen und Umwelt leben wir nicht auf Kosten von morgen, sondern berücksichtigen die Belange künftiger Generationen. Das durchzusetzen, erfordert wiederum die Diskussion über Instrumente und Verfahren. Deshalb haben wir uns als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestages mit diesen Fragen im Hinblick auf Europa befasst. Wir machen uns stark dafür, dass es eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie gibt, die ambitioniert ist, die überzeugend ist, die in die Mitgliedstaaten ausstrahlt und dort Wirkung entfaltet. Das ist das Ziel. Wir stellen fest, dass auf dem Weg zu diesem Ziel noch erhebliche Hürden zu überwinden sind. Ich will drei Punkte kritisch herausgreifen. Erstens. Die Indikatoren der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie sind nicht politisch diskutiert und entwickelt worden. Sie wurden quasi von Eurostat ohne demokratische Rückkoppelung vorgegeben. Das ist schon ein Geburtsfehler, weil demokratische Legitimation die Voraussetzung für Akzeptanz ist. So werden diese Indikatoren die Strahlkraft, die wir uns von ihnen erhoffen, gerade nicht entwickeln können. Ich glaube, das ist ein Punkt, der sich ändern muss ({0}) und bei dem die Europäische Union eine Weiterentwicklung betreiben sollte. Zweitens. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Ergänzung der Lissabon-Strategie. Es mag Sinn machen, Synergien zu suchen, wo sie möglich sind. Das entspricht aber nicht der Bedeutung der Nachhaltigkeit, wie wir sie sehen. Wir glauben, dass Nachhaltigkeit der Überbau ist - sie muss über allem stehen -, dass andere Strategien sich hier einfügen müssen und aus diesem Gedanken der Nachhaltigkeit heraus zu entwickeln sind. Es darf gerade nicht umgekehrt sein: Nachhaltigkeit als Ableger von anderen Strategien. Auch das muss sich ändern. Die Nachhaltigkeit muss in der EU durch diese formale Frage stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. ({1}) Drittens. Letztlich ist es eine Frage der institutionellen Behandlung der Nachhaltigkeit. Wir glauben, dass die Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene im Parlament, in der Kommission und im Rat auch durch ihre formale Behandlung gestärkt werden sollte. Ich fange an beim Parlament. Wir sind nicht in der Situation, dass wir dem Europäischen Parlament Ratschläge für seine interne Organisation zu geben haben. Wir wollen aber Überzeugungsarbeit leisten und mit Europaparlamentariern - wir haben vor kurzem das Gespräch gesucht - darüber debattieren, ob sie nicht dasselbe machen wollen wie wir im Bundestag. Wir halten es für einen Fortschritt, dass wir einen Beirat haben, der sich fächerübergreifend mit Nachhaltigkeit befasst und quasi eine Wachhundfunktion übernimmt, der in allen Fachbereichen und bei allen Materien sagt: Hier muss Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, hier läuft etwas schief, und hier müssen wir etwas ändern. - So etwas gibt es im Europäischen Parlament bislang noch nicht. Wir würden gerne einen Impuls an die Europaparlamentarier geben, dass sie diesen bei uns erfolgreichen Weg ebenfalls gehen. Ich nenne ein Beispiel, warum dieser Weg erfolgreich ist. Es geht auf eine Initiative des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zurück, dass das Bundeskanzleramt - auf immer wiederkehrendes stetiges Drängen - ein eigenes Referat für Nachhaltigkeit eingerichtet hat. Fragen aus diesem Bereich unterliegen damit dort einer prominenten Behandlung und erlangen eine große Bedeutung. So etwas gibt es in der Kommission der Europäischen Union bislang noch nicht. Wir meinen, an dieser Stelle sollte ein Impuls gegeben werden. Hier sollte es eine Weiterentwicklung geben, damit der Gedanke der Nachhaltigkeit innerhalb der Kommission gestärkt wird. ({2}) Dasselbe gilt für die Ebene des Rates. Wir sind der Meinung, dass im Rat eine Arbeitsgruppe „Nachhaltige Entwicklung“ eingerichtet werden sollte, und zwar aus denselben Gründen, die für Parlament und Kommission gelten. Wir brauchen all dies, um die formalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Nachhaltigkeit inhaltlich einen höheren Stellenwert in der Europäischen Union bekommt. Wenn das alles gelingt, haben wir, so glaube ich, auf europäischer Ebene eine überzeugende Strategie, die mit den Nationalstaaten abgestimmt ist. Dann können die Indikatoren und Regeln von den Nationalstaaten ergänzt und übernommen werden. Dann gelingt es uns in der Europäischen Union insgesamt, eine nachhaltige Politik vernünftig umzusetzen. Wie man an den Beispielen sieht, haben wir noch ein gutes Stück Arbeit vor uns. Wir nehmen die Herausforderung an. Die Vorlage zeigt, dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung fraktionsübergreifend daran arbeiten. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Präsident Dr. Norbert Lammert Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/5295 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber gibt es offensichtlich keinen Streit. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neuen „Krippengipfel“ einberufen - Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung voranbringen - Drucksache 17/5518 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache 30 Minuten dauern. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({1})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute Abend über eines der wichtigsten sozial- und familienpolitischen Vorhaben dieses Jahrzehnts, über den Ausbau der Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die frühkindliche Bildung der Kinder und um die Unterstützung von erwerbstätigen Eltern, die Familie und Beruf partnerschaftlich miteinander vereinbaren wollen, sowie um die Bekämpfung von Familienarmut. Wenn wir den Fachkräftebedarf von heute und von morgen bewältigen wollen, ist die Lösung der Vereinbarkeitsfrage ein Schlüsselthema. Niemand darf den Ausbau der Krippenplätze und den ab 2013 bestehenden Rechtsanspruch infrage stellen. Das ist in diesem Haus heute Abend und darüber hinaus hoffentlich Konsens. ({0}) Ich habe bei diesem Thema aber zunehmend den Eindruck, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere die zuständige Bundesfamilienministerin Schröder in einer anderen Welt leben als der Rest der Republik. ({1}) Warum ist das so? Seit Monaten sind Schlagzeilen zu lesen wie diese: „Alte Bundesländer: Kitaplatz nur für jedes sechste Kleinkind“. Eine weitere Schlagzeile: „Krippenausbau gefährdet“. In einer GEW-Studie heißt es: Nie wurden Erzieherinnen und Erzieher so dringend benötigt wie heute. In den Bremer Nachrichten vom 22. Juli letzten Jahres war sogar zu lesen: Augen zu und durch. Wider besseres Wissen hält Bundesfamilienministerin Kristina Schröder am Kita-Konzept fest und versucht, den Lauf der Dinge schönzureden. Das Nichthandeln der Regierung fällt also nicht nur der Opposition auf. Es fällt auch den Medien und der gesamten Fachwelt auf. Die Kommunen schlagen Alarm und sagen, dass sie beim Krippenausbau definitiv mehr Unterstützung brauchen. Deutschland wird - das ist ganz aktuell - in der Ende April veröffentlichten OECD-Studie zur Familienpolitik ermahnt, mehr und schneller in Strukturen wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen zu investieren. Trotz des Ausbaus in den vergangenen Jahren habe die Betreuung der Kinder in Deutschland immer noch erhebliche Mängel, so die Studie. Wenn man auf den Spielplätzen, insbesondere im Süden und im Westen der Republik, mit den Müttern spricht, wird klar: Viele Frauen bleiben oft länger zu Hause, weil ihre Kinder auf den Wartelisten für einen Krippenplatz stehen. Lange Auszeiten nach der Geburt eines Kindes sind häufig nicht der Wunsch der Frauen, sondern das Resultat fehlender Bildungs- und Betreuungsangebote insbesondere für die unter Dreijährigen. So, meine Damen und Herren von der Regierung, sieht die Realität in unserem Lande aus. Doch was hört und liest man von der Bundesregierung? Seit ihrem Amtsantritt wird die zuständige Bundesfamilienministerin Schröder nicht müde, zu beteuern, dass die Ausbaudynamik erfreulich sei und es keinen Anlass zur Sorge gebe. Das ist interessant. Auch die Bundeskanzlerin sieht, wie wir vor kurzem hören und lesen konnten, keinen Handlungsbedarf. Das ist vergangene Woche auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages deutlich geworden. Sie sagte in ihrer Rede zum Ausbau der Betreuung: Wir werden sehen, wie sich die Fragen jetzt entwickeln. Wir sollten keine Kassandrarufe ausstoßen … Frau Bundeskanzlerin, nur vom Zuschauen und Abwarten werden die Eltern und die Kinder in unserem Land nicht die Betreuungsplätze bekommen, die sie benötigen. ({2}) Diesen Optimismus der Bundesregierung - oder sollte man schon von Ignoranz sprechen? - teilen weder die SPD-Bundestagsfraktion noch die Kommunen oder die Expertinnen und Experten und schon gar nicht die Eltern in unserem Land. Wie kann man ernsthaft ignorieren, dass zahlreiche Familien händeringend auf einen Betreuungsplatz für ihre Kleinkinder warten und keinen bekommen? Es ist doch fatal, wenn Mütter und Väter mangels Betreuungsangeboten nicht arbeiten können. Da hilft es auch nicht viel, dass die Arbeits- und SozialCaren Marks ministerin fordert, wir müssten mehr Fachkräfte gewinnen. Vor allem Alleinerziehende haben ohne ausreichende Betreuungsplätze keine Chance auf dem Arbeitsmarkt und damit auch keine Chance, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Zahlreiche Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen deutlich höher ausfällt, als die Bundesregierung bisher annimmt. Die bundesdurchschnittliche Betreuungsquote von 35 Prozent, die bis 2013 erreicht werden soll, gilt längst als überholt. Insbesondere in den städtischen Regionen dürfte der Bedarf auf 40 und zum Teil bis auf 60 Prozent steigen. Auch das ist die Realität. Das Problem ist vor allem dort besonders groß, wo die Betreuungsquote besonders niedrig ist. So liegt beispielsweise in Teilen Niedersachsens - Herr Staatssekretär, das ist unser Bundesland - die Betreuungsquote bei nur circa 10 Prozent. Da ist noch viel zu tun. Ja, es gibt einen Ausbau von Plätzen, aber ich denke, dieser geht viel zu langsam vonstatten. Handlungsbedarf besteht auch bei dem weiteren Ausbau der Qualität der Betreuung. Neben einer ausreichenden Zahl der Betreuungsplätze dürfen wir auch die Qualität der Betreuungs- und Bildungsangebote für unsere Kinder nicht außer Acht lassen. ({3}) Wir dürfen auch nicht vergessen, wie wichtig die Gewinnung pädagogischer Fachkräfte ist. DGB, Verdi und GEW warnen davor, dass der enorme Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern im frühkindlichen Bereich nicht gedeckt wird. Zu Recht weisen sie immer wieder darauf hin, dass dieser wichtige Beruf aufgewertet und besser bezahlt werden muss. Ich sage Ihnen: Sie haben die SPD an Ihrer Seite. ({4}) Für all diese Probleme, die ich genannt habe, müsste die Bundesregierung und allen voran Frau Schröder dringend mit Ländern und Kommunen gemeinsame Lösungen entwickeln. ({5}) Wir brauchen schnellstmöglich einen neuen Krippengipfel. Warum verweigert sich die Familienministerin dieser notwendigen Forderung? Die SPD-Bundestagsfraktion fordert in ihrem Antrag, einen solchen Krippengipfel endlich erneut einzuberufen. Der letzte fand im Jahr 2007 statt. Wir wollen, dass der Ausbau der Betreuung gerade auch im Bereich von Ganztagsangeboten beschleunigt wird. Wir fordern schon länger, dass der Betreuungsbedarf realistisch ermittelt wird und dass die regionalen Unterschiede und die Fachkräftebedarfe dabei berücksichtigt werden. Wir brauchen hier endlich Transparenz; denn nur so können wir bei der angestrebten Zahl der Betreuungsplätze, bei der Gewinnung von Fachkräften und auch bei der Finanzierung gezielt nachsteuern. Wir brauchen einen nationalen Bildungspakt für die frühkindliche Bildung, und wir brauchen eine Fachkräfteoffensive, die ihren Namen wirklich verdient. Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Die Ministerin müsste sich jetzt eigentlich nur noch an die Arbeit machen. Es reicht nicht aus, in Reden die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu betonen. Wir fragen uns: Wo bleiben die konkreten Maßnahmen? ({6}) Was tun Sie von der Regierungskoalition, um den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz zu sichern? Was unternehmen Sie, um die Kommunen beim Ausbau an frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten zu unterstützen? Durch Ihre Politik, Herr Staatssekretär Kues, haben Sie die finanzielle Lage in den Kommunen verschärft. Ob wegbrechende Steuereinnahmen oder massive Kürzungen bei der Städtebauförderung: Sie tun genau das Gegenteil von dem, was für die Kommunen dringend notwendig wäre. Wir wollen, dass Familien echte Wahlfreiheit haben und Beruf und Familie tatsächlich vereinbaren können. Aber das ist bislang noch nicht der Fall. Die meisten Paare wollen Familie und Beruf partnerschaftlich vereinbaren. Sie haben dabei in unserem Land nach wie vor viel zu große Hürden zu überwinden. Fehlende Krippenplätze sind dabei noch immer die größte Hürde. Eine moderne Familien- und Gleichstellungspolitik muss dafür sorgen, dass echte Partnerschaftlichkeit gelebt werden kann. Diese Bundesregierung und allen voran die Familienministerin müssen endlich in der Realität ankommen und die Kommunen mehr als bisher beim Krippenausbau unterstützen. Die SPD wird die Bundesregierung nicht aus der Verantwortung entlassen. Herzlichen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Caren Marks. - Nächster Redner ist unser Kollege Marcus Weinberg für die CDU/ CSU. Bitte schön, Herr Kollege Weinberg. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und Herren! Liebe Frau Marks! Erstens. Wenn Herr Beck in Rheinland-Pfalz Ihre Lyrik umgesetzt hätte, dann wären wir in dieser Republik beim Ausbau von Krippenplätzen wesentlich weiter. ({0}) Rheinland-Pfalz lag noch vor wenigen Jahren bei einer Betreuungsquote von 9 Prozent. Mittlerweile liegt man dort bei 17 Prozent. Das ist eine deutliche Steigerung. Wer aber aus dem Nichts kommt, kann sich nur steigern. Marcus Weinberg ({1}) Zweitens. Sie haben nicht die Interpretationshoheit in Bezug auf das, was Familie und Frauen wollen. Wir schaffen Angebote. ({2}) Sie fordern aber, dass alle Kinder einen Krippenplatz bekommen. Das ist familienpolitisch einfach falsch. Wir wollen Familien fördern, ihnen Angebote unterbreiten und somit eine Wahlfreiheit lassen. Wir wollen diese Familien nicht zwingen, ihre Kinder in die Krippe zu geben. ({3}) Ich bin froh über jede Familie, über jede Mutter und jeden Vater - das sage ich als junger Vater -, die diese Aufgabe wahrnehmen. Drittens. Sie haben anscheinend nichts von dem mitbekommen, was die Bundesregierung in den letzten Jahren - übrigens auch zur Zeit der Großen Koalition - auf den Weg gebracht hat. Deshalb ist solch eine Debatte immer sinnvoll und gut, weil man Ihnen noch einmal erläutern kann, wie sich die Dinge geändert haben, seitdem wir mit den Liberalen zusammen die Verantwortung haben. Es reicht ein Blick auf die beiden Ressorts Familie und Bildung. Sie sprechen immer von der Vereinbarkeit in diesen Bereichen. Wir sprechen vom Bildungsauftrag für die Kinder. ({4}) Schauen Sie sich den Haushaltsentwurf des zuständigen Ministeriums einmal an. Das Budget ist mittlerweile von 4,5 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 6,4 Milliarden Euro gestiegen. Das ist eine Steigerung um mehr als ein Drittel. Vergleichen Sie das einmal mit den Mitteln für das Ressort Bildung und Forschung unter Rot-Grün. Wir haben viele Maßnahmen in die Wege geleitet, gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung, die über das BMBF finanziert werden. Hier ist das Gesamtvolumen um 54 Prozent, also auf mittlerweile 11,65 Milliarden Euro, gestiegen. ({5}) Diese Koalition hat zwei Ressorts zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht - das gilt auch für die finanzielle Ausgestaltung -: Familie und Bildung. Das beweist deutlich, wo unsere Schwerpunkte liegen. Richtig ist - darüber muss man nicht streiten -, dass insbesondere die Flächenländer aufgefordert sind, beim Ausbau noch zuzulegen. Wir von der Koalition haben Ende des vergangenen Jahres in unserem Antrag deutlich gemacht, dass hier noch Luft nach oben ist. Insgesamt kann man sagen, dass es seit Inkrafttreten des Kinderförderungsgesetzes im Dezember 2008 unter der Großen Koalition mittlerweile rund 130 000 zusätzliche Angebote in der Kindertagesbetreuung gibt, davon 102 000 Angebote in Einrichtungen und 28 000 in der Tagespflege. Vor dem KiFöG wurde jedes siebte Kind betreut. Heute ist es jedes fünfte Kind. Das heißt, bundesweit ist die durchschnittliche Betreuungsquote von 13,6 auf 20,4 Prozent gestiegen. Das ist viel, und das ist gut. Das ist aber noch nicht genug. ({6}) Laut Nationalem Bildungsbericht 2010 hat sich die Zahl des Personals in Kindertagesstätten im Jahre 2009 um 42 000 Beschäftigte erhöht. Richtig ist auch: Wir brauchen bis zum Jahr 2013 35 000 bis 40 000 weitere Erzieher und dazu noch 25 000 Beschäftigte in der Tagespflege. Sie sagten, dass der Bund bei diesem Projekt nichts tut. Wir investieren gerade 4 Milliarden Euro in den Ausbau; das zeigt, der Bund hat hier Verantwortung übernommen. Außerdem geben wir 770 Millionen Euro ab 2014 für die Betriebskosten aus. ({7}) Der Ministerin zu unterstellen, sie würde kein Interesse mehr an diesem Projekt haben, ist fatal. ({8}) Es ist auch ein falsches Zeichen für die Öffentlichkeit, wenn Sie mit solchen nicht unterlegten Argumenten rhetorisch zu glänzen versuchen. ({9}) Zur frühkindlichen Bildung - auch das ist ein interessanter Punkt -: Der Bildungsbericht, den man immer zurate ziehen sollte, belegt, wie stark die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen - dies ist im Bildungsbericht explizit erwähnt worden - gestiegen ist: in den alten Ländern auf 15 Prozent und in den neuen Ländern sogar auf 45 Prozent. Es gibt sogar eine Bildungsbeteiligung bei Vier- und Fünfjährigen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass man angesichts dessen sagen kann: Betreuung und Bildung in Kitas sind richtig und wichtig. Hier liegen wir mittlerweile bei einer Quote von 95 Prozent. Das ist im Bereich der frühkindlichen vorschulischen Bildung ein guter Wert. Es stellt sich die Frage: Was tut die Bundesregierung noch? Zum Ausbau, also zur Quantitätssicherung, kommt in den nächsten Jahren die Qualitätssicherung, die ebenfalls von großer Bedeutung ist, hinzu. Ich erinnere daran, dass wir im Jahre 2008 das Aktionsprogramm „Kindertagespflege“ gemeinsam mit den Ländern auf den Weg gebracht haben. Zwischen 2006 und 2009 stieg der Anteil der Tagespflegepersonen mit entsprechender Qualifikation von 8 auf rund 22 Prozent. Zeitgleich hat sich der Anteil der Menschen, die ohne Qualifizierung in der Tagespflege arbeiten, auf rund 14 Prozent halbiert. Das ist das Verdienst dieses Programms. Außerdem gibt es die „Offensive Frühe Chancen“. Falls Sie es noch nie gemacht haben, rate ich Ihnen: Besuchen Sie einmal Kitas in Ihrem Wahlkreis! Marcus Weinberg ({10}) ({11}) 400 Millionen Euro werden für die Sprachförderung in Kitas ausgegeben. Es stehen also jeweils 25 000 Euro für eine zusätzliche Halbtagsstelle zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es das Programm „Mehr Männer in die Kitas“. Erst vor wenigen Wochen haben wir darüber diskutiert, dass wir gerade Jungen fördern müssen, weil sie im Hinblick auf die Bildungsentwicklung hinter den Mädchen zurückliegen, bei der Lesekompetenz zum Beispiel etwa ein Jahr. Sie haben damals argumentiert, dass wir jetzt die Männer und nicht mehr die Frauen fördern würden, was - Verzeihung - völliger Unsinn ist. Jeder, der sich fachlich auskennt und die entsprechenden Entwicklungen bewerten kann, wird Ihnen bestätigen: Wir brauchen mehr Männer in Kitas und Grundschulen. ({12}) Die Bundesregierung hat dieses Programm, das ein Volumen von 13 Millionen Euro hat, auf den Weg gebracht. Auch das war sicherlich richtig und wichtig. ({13}) Die Koalition hat bereits im Dezember letzten Jahres erste Maßnahmen eingeleitet. Hätten Sie unseren damaligen Antrag gelesen, wüssten Sie, wohin wir wollen. Wir wollen insbesondere eine Qualitätssteigerung erzielen. Das Ziel, das wir uns für das Jahr 2013 gesetzt haben, verfolgen wir nach wie vor. In den nächsten Jahren kommt es darauf an, die Qualität in diesem Bereich zu steigern. Das heißt, Gewinnung von männlichen Erziehern - das habe ich schon angesprochen -, freiwillige Zertifizierung von Kitas unter wissenschaftlicher Begleitung, weitere Qualifizierung, Verbesserung der Aus- und Fortbildung. Ich denke beispielsweise an das WiFF; in diesem Rahmen findet unter anderem die Weiterbildung pädagogischer Kräfte statt. Es gibt weitere Programme, die die Bundesregierung ebenfalls finanziert, um eine Qualifizierung durchzuführen. Bei allem Respekt: Dass Sie sich hier hinstellen und all das ignorieren, mag Ihrer Oppositionsrolle geschuldet sein. Das hat aber nichts mit objektiver Wahrnehmung zu tun. Ein wenig Respekt vor den Maßnahmen, die diese Bundesregierung ergriffen hat, sollten Sie schon haben. ({14}) Ihr Antrag, in dem Sie fordern, einen Krippengipfel einzuberufen, ist relativ begrenzt und überschaubar. Das ist einfach zu wenig. Wir werden die Entwicklungen weiterhin beobachten; das gilt auch im Hinblick auf den Ausbau. ({15}) Ich glaube, die Bundesregierung hat den richtigen Weg eingeschlagen. Dabei werden wir sie auch weiterhin unterstützen. Herzlichen Dank. ({16})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Weinberg, vielen herzlichen Dank. - Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Seit einigen Jahren ist die frühkindliche Bildung endlich ein zentrales Thema auf der politischen Agenda. Ziel ist es, einen Rechtsanspruch auf einen Kitabetreuungsplatz für jedes Kind ab dem ersten Lebensjahr zu schaffen. Die Opposition ist sich darin einig, dass bislang viel zu wenig getan wurde, um dieses Ziel zu erreichen. Inzwischen helfen auch die Lobreden von Herrn Weinberg und der Familienministerin nicht mehr, um über den traurigen Fakt hinwegzutäuschen, dass das Erreichen dieses erklärten Ziels zu scheitern droht. Seit Jahren weisen Fachverbände, Wissenschaftler und Gewerkschaften darauf hin, dass dieses Scheitern quasi von vornherein angelegt war, weil man ganz bestimmte grundlegende Fragen nicht beachtet, sondern konsequent ausgeblendet hat. Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach dem tatsächlichen Bedarf. Das haben Sie eben kritisiert, Herr Weinberg. Das Deutsche Jugendinstitut hat bereits im Jahr 2007 darauf hingewiesen, dass der tatsächliche Bedarf an Krippenplätzen wahrscheinlich höher ist als von der damaligen schwarz-roten Bundesregierung angenommen. Jüngere Daten bestätigen dies. Laut einer Forsa-Umfrage wünschen sich inzwischen zwei Drittel der Eltern eine frühzeitige Betreuung für ihren Nachwuchs. Demzufolge werden laut Deutschem Städtetag nicht nur 750 000, sondern 1,3 Millionen Kitaplätze benötigt. Gibt es darauf eine Reaktion der Bundesregierung? Nein, Fehlanzeige. Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sich endlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an der Finanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligen muss. ({0}) Er darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht allein lassen. Dies gilt sowohl für die zahlenmäßige Aufstockung der Betreuungsplätze als auch für die Qualifizierung und Bezahlung des zukünftigen Personals. ({1}) Doch was bisher als Antwort von der Bundesregierung kam, war zum einen Zahlenschummelei - das ma12400 chen Sie ja immer gerne - und zum anderen die Wiederholung der fast unverschämten Forderung, die Länder sollten sich endlich ein bisschen mehr Mühe geben und die Portemonnaies aufmachen; dann werde das alles schon klappen. Sie übernehmen keine langfristig angelegte Verantwortung, um das offenkundige Problem endlich zu überwinden. Die Umsetzung des Rechtsanspruchs wird mantraartig herbeigeredet, aber in der Praxis geschieht nichts. Das zeigen auch die „Projektchen“, die Herr Weinberg eben angesprochen hat, wie das Projekt „Offensive Frühe Chancen“. 400 Millionen Euro zusätzlich für Sprachförderung: Das klingt erst einmal gut. Ich habe mir das aber in der Praxis konkret angeschaut. Ich habe Kitas besucht und gesehen, was wirklich vor Ort ankommt. Das ist nicht einmal ein Tropfen, sondern nur ein Tröpfchen auf den heißen Stein. Von dem Geld können höchstens Halbtagsstellen geschaffen werden. Das heißt, die Kommunen müssen schon jetzt massiv drauflegen, wenn sie das Programm in Anspruch nehmen und qualitativ hochwertige Arbeit leisten wollen. Im Rahmen einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 bis 25 Stunden sollen die Beschäftigten individuelle Sprachförderung durchführen, dokumentieren, Elternarbeit leisten, sich vernetzen und weiterbilden. Können Sie mir einmal erklären, wie sie das mit 25 Stunden bewerkstelligen und wie sie von dieser Arbeit leben sollen? Darauf bekommt man von der Bundesregierung keine Antwort. Sie müssen sich darüber bewusst sein: Wenn Sie so etwas machen, dann muss es so angelegt sein, dass es mehr bringt als eine schöne Pressekonferenz. ({2}) Zurück zum Antrag. Auch wir sehen die Notwendigkeit, alle Beteiligten erneut an einen Tisch zu holen. Ein neuer Krippengipfel wird aber nur dann Erfolg haben, wenn von vornherein klar und deutlich herausgestellt wird: Der Bund kann und darf sich nicht länger aus seiner Verantwortung stehlen. Er muss seinen finanziellen Anteil am Ausbau der Kindertagesbetreuung ausweiten und am realen Bedarf ausrichten. Die Qualität der Betreuung und Bildung muss eine viel größere Rolle spielen. Eine realistische und aktualisierte Bedarfsanalyse ist eine notwendige Voraussetzung dafür. Ich frage mich, warum Sie diese nicht endlich erfüllen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. - Jetzt käme für die Fraktion der FDP Frau Kollegin Miriam Gruß. Sie hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass unsere Kol- legin Katja Dörner die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. 1) Anlage 9

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte bis zu diesem Zeitpunkt hat schon völlig klargemacht, dass wir weiterhin vor sehr großen Herausforderungen stehen, was den Kitaausbau angeht. In rund zwei Jahren soll der Rechtsanspruch in Kraft treten. Das steht so im Gesetz, und daran darf auf keinen Fall gerüttelt werden. Ich glaube, darin sind wir uns auch einig. Aber trotzdem müssen wir es immer wieder betonen, weil der Rechtsanspruch zurzeit von der einen oder anderen Seite durchaus infrage gestellt wird. Wenn wir allein davon ausgehen, was die Bundesregierung an Schätzungen vorgelegt hat und worauf auch ihre Finanzierungsvereinbarungen basieren - es wird von einem Betreuungsbedarf von 35 Prozent der unter Dreijährigen ausgegangen -, dann müssen wir in diesen knapp zwei Jahren rund 280 000 zusätzliche Kitaplätze schaffen. Die Ministerin selbst hat im vergangenen Herbst gesagt: Der Ausbau der Kinderbetreuung muss weiter an Dynamik gewinnen. - Leider können wir diese Dynamik in den letzten Wochen und Monaten nicht in dem Maße feststellen, wie es notwendig wäre. ({0}) Wenn wir die Sache realistisch angehen - das sollte man tun - und den Bedarf genauso realistisch einschätzen wie das DJI - die Zahlen sind schon genannt worden -, dann ist es völlig offenkundig, dass wir mit einer Betreuungsquote von 35 Prozent vorne und hinten nicht zurechtkommen werden. Tatsächlich müssen wir von durchschnittlich 39 Prozent ausgehen. Das entspricht rund 360 000 zusätzlichen Plätzen, die wir in den verbleibenden zwei Jahren noch schaffen müssten. Da klafft eine riesige Finanzierungslücke. Vor allem die Kommunen werden einfach im Regen stehen gelassen. ({1}) Die Grünen haben schon im letzten Jahr einen entsprechenden Antrag gestellt und die Bundesregierung aufgefordert, endlich eine solide Bedarfserhebung vorzunehmen und auf der Grundlage einer solchen Erhebung eine vernünftige Finanzierungsvereinbarung vorzulegen. Für eine solche Finanzierungsvereinbarung muss man tatsächlich alle wieder an einen Tisch holen: Bund, Länder und Kommunen. Wir haben das in unserem damaligen Antrag zwar nicht Krippengipfel wie die SPD genannt. Aber unser Anliegen war das gleiche. Unser Antrag ist im Dezember abgelehnt worden. Wertvolle Zeit ist vertan worden, die wir hätten gut nutzen können, um endlich vernünftig zu planen. ({2}) Beim Kitaausbau haben sich nur wenige mit Ruhm bekleckert. Die Bundesregierung betreibt immer weiter eine Vogel-Strauß-Politik, steckt den Kopf in den Sand. Sie geht weiter von einem Bedarf von 35 Prozent aus, obwohl bekannt ist, dass das nicht realistisch ist. Wenn mehr Plätze benötigt werden, haben die Betroffenen eben Pech. Es gibt kein zusätzliches Geld. Das darf auf keinen Fall so weitergehen. ({3}) - Ich komme zu NRW, Herr Kues. Das ist ein wunderbares Stichwort. Die Ministerin hat zu dem Anteil, den die Länder durch die Umverteilung der Umsatzsteuerpunkte erhalten, gesagt: Das ist eine Blackbox. - Die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat, bevor sie zum Glück abgewählt wurde, 70 Millionen Euro, die sie durch die Umsatzsteuerpunkteverteilung erhalten hat und die für die Finanzierung des Kitapersonals gedacht waren, einfach im Landeshaushalt versickern lassen; das Geld ist weg. Es wurde den Kitas und den Kommunen entzogen. Das hat Schwarz-Gelb zu verantworten, und das hat Rot-Grün zum Glück beendet. ({4}) Aber andere Länder verfahren weiter so. Das muss ein Ende haben. Man muss aber auch die Kommunen daran erinnern, dass seit 1992 im KJHG verankert ist, dass Kitaplätze nach Bedarf geschaffen werden sollen. Das hat man aber nicht gemacht. Auch die Kommunen hatten offensichtlich in den letzten 20 Jahren zum Teil andere Prioritäten, als in den Kitaausbau zu investieren. Natürlich müssen wir auch über Qualität sprechen. Dieses Thema ist schon mehrfach angesprochen worden. Wir wollen unbedingt die Fachkraft-Kind-Relation verbessern. Wir wollen mehr Sprachförderung und wollen mehr Kindern mit Behinderung - Inklusion ist ein großes Thema - die Möglichkeit geben, Regeleinrichtungen zu besuchen. Das alles müssen die Kitas leisten. Mit den derzeitigen Regelungen insbesondere auf Bundesebene werden wir nicht klarkommen. Wir Grüne veranstalten am Samstag in einer Woche einen eigenen Kitagipfel, auf dem wir nicht nur den qualitativen Ausbau, sondern auch den quantitativen Ausbau in umfassender Weise besprechen werden. Wir haben gelernt: Auf diese Bundesregierung kann man nicht bauen. Man darf nicht darauf warten, dass sie etwas tut. Deshalb machen wir es selber. Sie alle sind herzlich eingeladen. Ich hoffe sehr, dass wir zu besseren Regelungen für die Kitas kommen und es tatsächlich schaffen, den quantitativen Ausbau bis 2013 hinzubekommen, aber auch deutlich mehr für die Qualität zu tun. Das sind wir den Eltern und insbesondere den Kindern schuldig. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dörner. - Der Kollege Norbert Geis, der als Nächster für die Fraktion der CDU/ CSU spricht, wird gleich sagen, ob er diese Einladung annimmt. ({0}) Bitte schön, Herr Kollege Norbert Geis. ({1})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich von dieser Einladung erst jetzt Kenntnis bekommen habe. Ich muss erst in meinem Terminkalender nachschauen. Ich möchte eines sagen: Hier wird wirklich schwarzweiß gemalt. Das kann man so nicht stehen lassen. Sie wissen doch genauso gut wie ich und wie wir alle, dass der Bund bis zum Jahr 2013 4 Milliarden Euro für den Ausbau und Neubau der Kindertagesstätten bereitstellt und dass die Länder verpflichtet sind, gleichermaßen 4 Milliarden Euro bereitzustellen. Auch die Kommunen sind nach diesem Gesetz verpflichtet, 4 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Das sind insgesamt 12 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund kann man doch nicht behaupten, dass sich der Bund, der in Vorlage getreten ist, da zurückgehalten hätte. ({0}) Der Bund hat sehr wohl seine Aufgabe gesehen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder und der Kommunen ist. ({1}) Der Bund ist aber bereit, daran mitzuwirken, weil er die Notwendigkeit und die Bedeutung sieht. Man darf auch nicht vergessen, dass der Bund ebenfalls bereit ist, sich an den Folgekosten zu beteiligen. Er tut dies immerhin mit 770 Millionen Euro pro Jahr. Auch das darf nicht übersehen werden. Sich hier hinzustellen und zu sagen, der Bund habe eine Vogel-Strauß-Politik gemacht, ist wirklich völlig verkehrt. Das kann man so nicht stehen lassen. Auch Sie wissen, dass das falsch ist. Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten. Immerhin ist das hier ein Forum - auch wenn nur wenige Menschen anwesend sind -, auf das von draußen genau geschaut und über das dann berichtet wird. Man sollte schon bei der Wahrheit bleiben.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Caren Marks?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Frau Kollegin.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Geis, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie noch einmal geschildert haben, was wir in der Großen Koalition gemeinsam erreicht haben: 4 Milliarden Euro seitens des Bundes, die für den Ausbau der Krippenplätze bereitgestellt werden. Sie waren während der Großen Koalition leider noch nicht in unserem Ausschuss, deshalb möchte ich Ihnen mitteilen: Insbesondere den Einstieg in die Finanzierung der Betriebskosten hat die SPD nach hartem Ringen mit der CDU/CSU, dem damaligen Koalitionspartner, durchgesetzt. Es ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt, sich darauf einfach nur auszuruhen. Meine Frage an Sie ist: Wäre es angesichts der Tatsache - das haben auch andere Kollegen vorhin nach meiner Rede noch einmal betont; es gibt auch entsprechende Zahlen vom DJI und einigen anderen Expertinnen und Experten -, dass der damals angenommene notwendige Ausbau der Betreuung auf 35 Prozent längst nicht mehr ausreicht, sondern dass der Bedarf schon weitaus höher ist, nicht angebracht, dass der Bund noch etwas oben draufsattelt, wie es auch die Länder und Kommunen machen müssten, um den Rechtsanspruch überhaupt umsetzen zu können? Ich verweise in diesem Zusammenhang darauf, dass sich die Kosten für die Länder und Kommunen insgesamt sehr viel stärker nach oben entwickelt haben, als mit den verabredeten 4 Milliarden Euro abzudecken ist.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

4 Milliarden Euro sind ja nicht wenig, das ist schon ein beachtlicher Betrag. Wenn man überlegt, dass auch die Länder 4 Milliarden Euro drauflegen müssen und 4 Milliarden Euro von den Kommunen kommen, dann meine ich, dass mit 12 Milliarden Euro insgesamt eine Summe erreicht ist, um Investitionen in den Ausbau und Neubau von Kindertagesstätten zu tätigen, die zunächst einmal ausreichen müssten. Man muss die Entwicklung abwarten. Ich glaube, Sie gehen auch von einer falschen Annahme aus. Es ist nicht so, dass die Eltern ihre Kinder im Alter von einem bis drei Jahren gleich in die Kita schicken wollen. Viele Eltern wollen das nämlich nicht. Sie bedauern in Ihrem Antrag, dass die Betreuung in der Bundesrepublik Deutschland nur zu 23 Prozent gewährleistet sei. Sie erwecken den Eindruck, als sei die Betreuung, die durch die Eltern erfolgt, keine Betreuung. Auch Tagesmütter betreuen. Meine sehr verehrte Frau Kollegin, all dies sollten Sie bedenken. Ihre Frage war, ob wir mit einer Quote von 35 Prozent zurechtkommen werden. Ich antworte Ihnen darauf: Warten wir doch erst einmal ab. Tätigen wir erst einmal die Investitionen. Auch die Länder und Kommunen sollten erst einmal ihren Pflichten nachkommen und investieren. Der Bund ist in Vorleistung getreten. Die Länder und Kommunen müssen nachziehen. Das gilt insbesondere für das Land Nordrhein-Westfalen. Dort ist nämlich fast nichts geschehen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Geis, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Schwartze, zu?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Herr Kollege.

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Geis, Sie sprachen gerade das Land Nordrhein-Westfalen an. Ich kann bestätigen, mit dem U-3-Ausbau hängt man da wirklich weit zurück. Ist Ihnen aber bekannt, dass die alte schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen bis 2013 nur ganze 30 Millionen Euro für den U-3-Ausbau eingeplant hatte und dass deshalb Rot-Grün die Finanzierung komplett umstellen musste, damit der U-3Ausbau vor Ort überhaupt stattfinden kann? ({0}) Der Bund gibt für Nordrhein-Westfalen 480 Millionen Euro aus. Das Land hatte bis 2013 30 Millionen Euro eingeplant. Wie bewerten Sie das?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Bund ist in Vorleistung getreten, und das Land konnte sich zurückhalten. Aber jetzt, da der Bund seine Vorleistung bis zum Jahr 2013 erbringt, müssen die Länder dann auch anfangen, ihre Leistung zu erbringen. Deswegen kann man der alten Regierung in NordrheinWestfalen den Vorwurf so vielleicht nicht machen. Sie hatte ja den Vorteil, dass der Bund bereits Bereitschaft erklärt hatte, Leistungen zu erbringen. ({0}) Sie hat sich natürlich auf der Leistung des Bundes ausgeruht. Das gilt aber auch für andere Länder. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass die Länder antreten und ihre Leistung erbringen, die der Bund längst erbracht hat. ({1}) Das ist das, was Sie dabei mit bedenken sollten. - Danke schön. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es besteht bei uns allen überhaupt kein Zweifel daran, dass die frühkindliche Erziehung ein ganz bedeutender Faktor ist. Klugheit und Dummheit sind den Menschen nicht in die Wiege gelegt. Sarrazin mag ja in vielem recht haben, aber er hat nicht darin recht, dass die Intelligenz den Menschen angeboren ist. Wichtig und richtig ist, dass die Menschen unterschiedliche Begabungen haben und dass diese Begabungen geweckt werden müssen. Deshalb brauchen wir auch - das ist richtig - die frühkindliche Erziehung, und deswegen haben die Koalitionsfraktionen längst vor Ihnen den Antrag eingebracht, dass die Bundesregierung darauf bedacht sein muss, die Bindungs- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder im Alter von einem Jahr bis drei Jahren voranzubringen. Es wurde angeregt, ein Strategiepaket zur frühkindlichen Bildung zu schnüren, an dem sich sowohl der Bund als auch die Kommunen und die Länder beteiligen. ({2}) Das ist von uns bereits angeregt worden. Der Antrag ist längst verabschiedet worden, bevor Sie überhaupt daran gedacht haben, Ihren Antrag einzureichen. Auch das darf man mal in Ruhe sagen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns also alle einig, dass es richtig ist, die frühkindliche Bildung voranzutreiben, aber wir sind uns in dem Weg dahin nicht einig. Das wird in der heutigen Diskussion wieder klar und deutlich. Wir, die Koalitionsfraktionen, setzen nämlich auch auf die Erziehungsleistung der Eltern, nicht nur auf die der Kita. ({3}) Trotzdem wollen wir die Kita nicht hintanstellen. Aber wenn Sie sagen - dazu habe ich vorhin schon was gesagt -, dass nur 23 Prozent der Kinder in Deutschland betreut würden, ({4}) dann sage ich: Nein, in Deutschland werden viel mehr Kinder betreut, nämlich auch durch Tagesmütter und insbesondere durch die Eltern. Das müssen wir realistischerweise sehen. ({5}) Wir müssen ein Weiteres beachten. Wir müssen sehen, dass die Eltern oft viel besser in der Lage sind, die Kinder zu betreuen und sie zu erziehen, weil sie viel näher an den Kindern sind, was auch eine hochqualifizierte Erzieherin nicht leisten kann, wozu sie außerstande ist. Die frühkindliche Erziehung ist nämlich zunächst einmal eine Frage der subtilen Beobachtung, damit das einzelne Kind dann rechtzeitig den richtigen Schritt in seiner Entwicklung machen kann. Diese subtile Beobachtung wird am ehesten von der Mutter und dem Vater geleistet. Das ist etwas, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, von der Linken und von den Grünen, was Sie völlig übersehen. Wir sind für die Kita insbesondere dort, wo die Erziehungsleistung nicht vom Elternhaus erbracht wird. Wir sind insbesondere für die Kita für Kinder mit Migrationshintergrund, ({6}) weil wir wissen, dass die Kinder in ihren Elternhäusern, mit ihren Eltern nicht deutsch reden. Es ist sehr wichtig, dass die Kinder schon im frühesten Alter lernen, sich auf Deutsch zu verständigen, weil sie sonst mit den anderen, denen eine andere Erziehung zuteilwird, nicht mithalten können. ({7}) Wir erkennen also, wir sind auf der richtigen Spur, wenn wir sagen: Die Kita ist wichtig. Auf der anderen Seite ist aber auch die Förderung der Eltern bei ihrer eigenen Erziehungsleistung wichtig. Wir dürfen nicht übersehen, dass dort eine große Leistung erbracht wird. Deswegen müssen wir beides würdigen, Kita und Elternhaus, und wir müssen beides auch fördern. ({8}) Das tun wir vielleicht noch ein bisschen zu wenig. Wir sollten auch die Eltern fördern, die daheim bleiben und daheim ihre Kinder erziehen; denn diese Erziehungsleistung ist nicht geringer als die in der Kita. ({9}) Wir sollten den Eltern die Wahlmöglichkeit lassen. Wir sollten den Eltern sagen dürfen: Ihr könnt wählen, ob euer Kind in die Kita geht oder ob ihr es daheim erzieht. Ich betone: Diese Wahlmöglichkeit müssen wir den Eltern lassen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist ein Menschenrecht; das dürfen wir nicht übersehen. Danke schön. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Sie waren der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5518 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dem widerspricht niemand. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes - Drucksache 17/5761 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Als erste Rednerin spricht für die Fraktion der CDU/ CSU unsere Kollegin Gitta Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin Connemann. ({1})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem Getue.“ An diese Feststellung eines Georg-BüchnerPreisträgers habe ich im Vorfeld dieser Debatte gedacht, als ich den einen oder anderen Beitrag zu dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Presse las. Taten haben wir als christlich-liberale Koalition vollbracht, und zwar vor zwei Monaten, im März, als wir die Voraussetzung für eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit geschaffen haben. Sobald die Tarifpartner einen Antrag stellen, wird die Bundesregierung eine Lohnuntergrenze festlegen. Damit haben Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer dank unseres Gesetzes endlich einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass der tarifliche Mindestlohn nicht unterschritten wird. Dies gilt übrigens für verleihfreie Zeiten wie für Verleihzeiten, für inländische wie für ausländische Betriebe. Damit haben wir uns für die Herausforderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem 1. Mai ebenso wie für das Problem billiger Konkurrenz aus dem Ausland gewappnet. ({0}) Das beste Gesetz bedarf allerdings der Kontrolle; das wissen wir. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Zoll erhält damit auch für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung erweiterte Prüfungs-, Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der Bußgeldrahmen wird erhöht werden, und die Befugnisse der Zollbehörden einerseits und der Bundesagentur für Arbeit andererseits werden sehr sorgfältig abgegrenzt. Darauf wird der Kollege Lehrieder noch eingehen. „Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem Getue.“ Die Opposition - die SPD vorneweg hat im Vorfeld der Einbringung dieses Gesetzentwurfs einmal mehr eine Generaldebatte um die Zeitarbeit angestoßen. Ihr Abscheu und Ihre Empörung ist aber offensichtlich nur Getue, meine Damen und Herren von der SPD. Vor einigen Tagen haben sämtliche Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Soziales einen offenen Brief erhalten. Absender dieses Briefes, Frau Kollegin HillerOhm, war der Konzernbetriebsrat der Mediengruppe Madsack. Dieser Betriebsrat beklagt, dass die MadsackGruppe immer mehr Zeitarbeitnehmer beschäftige, von den Redaktionen bis zur Zustellung - nicht nur in Spitzenzeiten, sondern dauerhaft, ohne Chance auf Übernahme, mit negativen Folgen für die Stammbelegschaft. Ich habe mich natürlich informiert, wer hinter Madsack steht; das sollten wir tun. Auf wen bin ich gestoßen? Auf die DDVG, Ihr Medienimperium, meine Damen und Herren von der SPD. ({1}) - Da brauchen Sie nicht zu lachen. Das ist Ihr Unternehmen. - Sie halten den größten Anteil an Madsack, und damit haben Sie erheblichen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Meine Damen und Herren von der SPD, ohne Sie passiert bei Madsack nichts. Deswegen empfehle ich Ihnen dringend: Reden Sie nicht, sondern handeln Sie. ({2}) „Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem Getue.“ Wir diskreditieren die Zeitarbeit nicht; denn wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitarbeit kann für Geringqualifizierte ein Weg aus der Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei Drittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Berufsabschluss. Als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sind sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie haben volle Arbeitnehmerrechte: beispielsweise Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, während des Urlaubs und an Feiertagen, Mutterschutz und auch Elternzeit. Auf der anderen Seite wird durch die Zeitarbeit die Flexibilität der Unternehmen erhöht. Sie ermöglicht Beweglichkeit bei Auftragsspitzen oder besonderen Projekten - es sei denn, man ist verantwortlich für Madsack. Diese Flexibilität wollen wir erhalten, aber wir wollen auch die Fairness in der Zeitarbeit sichern. Das haben wir unter Beweis gestellt, indem wir den Schritt gegangen sind, die Möglichkeit einer Lohnuntergrenze einzuführen, und dies gesetzlich verankert haben. Wir müssen aber noch weiter gehen, sofern es zu einem Missbrauch des Instruments kommen sollte. Ein solcher zeichnet sich gegebenenfalls infolge eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts ab. Sie wissen, dass wir in der christlich-liberalen Koalition und in der Großen Koalition inzwischen in insgesamt neun Branchen allgemein verbindliche Branchenmindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz eingeführt haben. ({3}) Bislang galten diese Mindestlöhne für alle Mitarbeiter, die in der jeweiligen Branche tätig waren, zum Beispiel auch für Zeitarbeitnehmer. Wenn also ein Zeitarbeitnehmer im Gebäudereinigerhandwerk eingesetzt wird, erhält er den Mindestlohn für Gebäudereiniger - egal wo er tätig wird. Das ist ein gutes Prinzip. ({4}) Diesen Grundsatz hat das Bundesarbeitsgericht jetzt allerdings infrage gestellt. ({5}) Danach sollen Zeitarbeitnehmer nur noch dann den Branchenmindestlohn erhalten, wenn der Entleihbetrieb in den Geltungsbereich der Branche fällt. Leider wird diese Lücke, die sich aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts ergibt, genutzt. Es gibt inzwischen neue Geschäftsmodelle mit nur einem Ziel: Mindestlohnhopping. Gebäudereinigungsunternehmen firmieren jetzt beispielsweise als Zeitarbeitsunternehmen. Das ist aber Scheinzeitarbeit statt Zeitarbeit. Das Instrument wird also missbraucht. Deswegen schließen wir uns als Union der Forderung des Unternehmerverbands Deutsches Handwerk und auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, die vorgeschlagen haben, eine Änderung in § 8 Abs. 3 Arbeitnehmer-Entsendegesetz vorzunehmen. ({6}) Dort soll künftig geregelt werden, dass für die Entlohnung durch den Verleiher allein entscheidend sein soll, welche konkrete Tätigkeit der Leiharbeitnehmer ausübt. Wir unterstützen dieses Anliegen; denn wir wollen Missbrauch verhindern. Das ist unser Petitum. Wir werden auch weiterhin versuchen, den Zeitarbeitnehmern selbst ein Stück mehr wörtlicher Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Im Gesetz wird zurzeit nach wie vor der diskriminierende Begriff „Leiharbeit“ verwendet. Diese Begrifflichkeit ist bereits rechtlich nicht haltbar; denn bei der Leihe handelt es sich um die unentgeltliche Überlassung von Sachen. Hier geht es nicht um Sachen, sondern um Menschen, Menschen, die hart arbeiten und denen wir Gerechtigkeit zukommen lassen wollen. Deshalb werden wir insoweit gegebenenfalls einen Änderungsantrag vorlegen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung heute einen Gesetzentwurf zur Kontrolle eines Mindestlohnes in der Leiharbeit vorgelegt hat. ({0}) Notwendig wäre allerdings erst einmal, dass es überhaupt einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, dessen Einhaltung dann auch kontrolliert werden kann. Leider ist dies noch immer nicht der Fall. ({1}) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bis heute noch keine entsprechende Rechtsverordnung vorgelegt. Das ist mehr als ärgerlich; denn die gesetzlichen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Leiharbeit sind bereits geschaffen. Im Vermittlungsausschuss zur Reform der Regelsätze haben wir den Weg hierfür gegen den massiven Widerstand der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP frei gemacht. Nun müssen sich die Tarifparteien einigen, und hier hakt es zurzeit. Es wäre fatal, wenn der Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche jetzt noch an der Arbeitgeberseite scheitern würde. ({2}) Leider habe ich von Appellen der zuständigen Arbeitsministerin zu einer raschen Einigung der Tarifparteien in den Medien bisher nichts vernehmen können. Ganz im Gegenteil, noch am 18. April verkündete Ministerin von der Leyen stolz im ZDF-Morgenmagazin - ich zitiere -: „Neu haben wir jetzt eingeführt einen Mindestlohn in der Zeitarbeit. Denn das ist auch eine Branche, wo ich mir Sorgen gemacht habe, und deshalb war es so wichtig, jetzt auch zum 1. Mai den Mindestlohn in der Zeitarbeit einzuführen, damit wir keine Dumpinglöhne haben, die über das Ausland hier nach Deutschland importiert werden.“ ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Connemann, das sind tolle Worte. Wenn man der Ministerin Glauben schenkt, muss man annehmen, dass es bereits seit dem 1. Mai einen Mindestlohn gibt. Den haben wir aber noch nicht. Deshalb ist die Äußerung der Ministerin im Morgenmagazin eine glatte Fehlinformation. Frau Ministerin - oh, sie ist ja gar nicht da bei so einer wichtigen Debatte -, ich frage Sie: Wo bleibt der versprochene Mindestlohn? Wir brauchen endlich eine Absicherung für die rund 800 000 Beschäftigten in der Leiharbeit. Wir wollen Taten sehen. ({4}) Nun haben wir zwar noch immer keinen allgemeinverbindlichen Mindestlohn in der Leiharbeit, aber immerhin bringen wir das notwendige Gesetz zu dessen Kontrolle heute schon mal auf den Weg. Mit dem Gesetzentwurf wird die Vereinbarung in der Protokollerklärung des Vermittlungsausschusses zu den Regelsätzen weitgehend umgesetzt. Die Kontroll-, Melde- und Sanktionsbestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sollen in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz übertragen werden. Die Zuständigkeiten der einzelnen Behörden wie Zoll, Bundesagentur für Arbeit, Rentenversicherung und Finanzämter werden klarer geregelt und besser miteinander vernetzt. Das begrüßen wir. Seit dem 1. Mai dieses Jahres können auch Leiharbeiter aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten in Deutschland ohne Arbeitserlaubnis arbeiten. Dafür sieht der Gesetzentwurf die Einführung eines Meldesystems vor. Inländische Unternehmen müssen der Zollverwaltung künftig anzeigen, wenn sie Leiharbeiter aus dem europäischen Ausland beschäftigen. Auch das ist ein notwendiger Schritt. Auch sollen Sanktionen bei Verstößen geregelt und an das Entsendegesetz angepasst werden. Ob der Bußgeldrahmen von bis zu 500 000 Euro bei den schwarzen Schafen in der Leiharbeitsbranche die abschreckende Wirkung haben wird, die wir uns wünschen, wird die Erfahrung zeigen. Ganz wichtig ist jedoch, dass die Kontrolle vernünftig funktioniert und es hier nicht zu Reibungsverlusten, Drehtüreffekten und Schlupflöchern kommt. Hier müssen wir ganz genau aufpassen. ({5}) Natürlich müssen auch die Rechte und Informationsmöglichkeiten der Leiharbeitnehmer verbessert werden. Sie müssen über ihre Rechte in ihrem Einsatzbetrieb bei uns in Deutschland genau Bescheid wissen. Wir hätten uns deshalb eine Beratungsstelle für Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland gewünscht. Eine solche Beratungsstelle ist im Gesetzentwurf jedoch nicht vorgesehen. Problematisch finden wir auch, dass von einem Unterschreiten der Lohnuntergrenze betroffene Arbeitnehmer ihren Lohn individuell gerichtlich geltend machen müssen. Unternehmen, die den Mindestlohn nicht zahlen und vom Zoll erwischt werden, müssen zukünftig mit Sanktionen rechnen. Das ist gut. Diese Regelung verhilft den Arbeitnehmern jedoch nicht zum Ausgleich ihres entgangenen Lohns. Sie müssten ihren Arbeitgeber verklagen. Welches Gericht jeweils zuständig ist und wie die Vollstreckung im Ausland geregelt sein soll, lässt der Gesetzentwurf ebenfalls offen. ({6}) Des Weiteren fehlt eine Regelung für Leiharbeitnehmer, die in Tätigkeiten beschäftigt werden, für die Mindestlöhne vereinbart wurden, deren Betrieb allerdings nicht der Mindestlohnbranche angehört. Ich nenne ein Beispiel: Ein Krankenhaus, das früher festangestellte Maler und Lackierer beschäftigte, vergibt diese Arbeit jetzt an ein Leiharbeitsunternehmen. Der Arbeitnehmer hat nun keinen Anspruch auf den Mindestlohn für das Maler- und Lackiererhandwerk. Dieser liegt zurzeit für ungelernte Arbeitnehmer bei 9,50 Euro und für Gesellen bei 11,50 Euro, also weit über dem angekündigten Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche. Ich befürchte, dass dies zu einer Ausweitung der Leiharbeit, zu Wettbewerbsverzerrungen und einer Schwächung der Handwerksbetriebe in Deutschland führen wird. ({7}) Leider sagt der Gesetzentwurf auch nichts zur Durchsetzung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Das Schlupfloch für Verleihfirmen, niedrigere Löhne an ihre Leiharbeiter zu zahlen, als sie die Stammbelegschaften erhalten, ist weiterhin offen. Das bedauern wir sehr. Im Vermittlungsausschuss hat sich die schwarz-gelbe Seite so uneinheitlich gezeigt, dass keine Lösung vereinbart werden konnte. Noch nicht einmal nach vier Monaten sollten Leiharbeiter so wie die Stammbelegschaft bezahlt werden, ({8}) weil sich Schwarz und Gelb untereinander zerstritten hatten. Neun Monate war das Angebot, mit dem sich CDU und CSU von der FDP am Nasenring durch die politische Arena haben führen lassen. ({9}) Den wenigsten Menschen, die in der Leiharbeit tätig sind, hätte diese Regelung geholfen. Kaum ein Leiharbeiter bleibt länger als maximal drei oder vier Monate im gleichen Entleihbetrieb. ({10}) Schlimm, dass Schwarz-Gelb an dieser wichtigen Stelle Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verhindert hat. ({11}) Es ist unwürdig, dass Leiharbeiter im selben Betrieb für die gleiche Tätigkeit schlechter bezahlt werden als ihre festangestellten Kollegen. Es darf keine Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse geben, ({12}) und das, Frau Connemann, gilt für alle Arbeitnehmer, egal in welchem Betrieb sie angestellt sind, ob bei der Kirche - darüber haben wir vorhin diskutiert - oder ({13}) in einem Betrieb, ({14}) an dem die SPD beteiligt ist. ({15}) - Sie haben Madsack angesprochen. Die SPD hält daran eine Beteiligung von 20 Prozent. Die Zuhörerinnen und Zuhörer werden sich selber ein Urteil über Ihre Angriffe hier bilden. ({16}) Bedauerlich ist auch, dass sich Arbeitsministerin von der Leyen weder im Kabinett noch in ihrer Fraktion in dieser so wichtigen Frage durchsetzen konnte. Sie stellte am 24. März 2011 im Plenum ganz richtig fest - ich zitiere -: Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaft ungleich bezahlt werden. Frau Ministerin, auch wenn Sie dieser Debatte heute nicht beiwohnen: Ändern Sie diesen unwürdigen Zustand. Wir sind hier an Ihrer Seite. Danke schön. ({17})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. - Als nächste Rednerin würde auf meiner Liste Frau Kol- legin Gabriele Molitor für die Fraktion der FDP stehen. Sie hat aber ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich darf allerdings die Anwesenheit unserer neuen Parlamentarischen Staatssekretärin, Kollegin Ulrike Flach, auf der Regierungsbank zum Anlass nehmen, ihr herzlich zu gratulieren. Sie sitzt ja jetzt zum ersten Mal auf dieser Bank. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin! ({0}) 1) Anlage 8 Vizepräsident Eduard Oswald Nächste Rednerin auf meiner Liste zu diesem Tagesordnungspunkt ist Frau Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jutta Krellmann. ({1})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im manager magazin vom 26. April dieses Jahres stand: „Eine Branche rettet ihr Geschäftsmodell.“ Gemeint ist damit der Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser garantiert der Branche satte Gewinne und lässt den Leiharbeitsbeschäftigten auch weiterhin nur Krümel übrig. Fakt ist: Erstens. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist durch Ihr Gesetz vom Tisch. Leiharbeit bleibt Lohndumping ohne Wenn und Aber. Zweitens. Die eh schon niedrigen Löhne in der Leiharbeit bleiben, wie sie sind. Wir reden von 7,79 Euro im Westen und 6,89 Euro im Osten. Drittens. Der miese Mindestlohn in der Leiharbeit sichert den Leiharbeitsfirmen auch nach der Arbeitnehmerfreizügigkeit fette Gewinne. Im Klartext heißt das: Ein polnischer Leiharbeitnehmer wird ebenso schlecht bezahlt wie sein deutscher Kollege. Viertens. Dann gibt es noch die Werkverträge. Sie erlauben den Firmen, den miesen Mindestlohn in der Leiharbeit noch zu unterbieten. Ich finde, das ist ein absoluter Skandal. ({0}) Kein Wunder, dass der Chef von Randstad, Herr Eckard Gatzke, das neue Gesetz der Bundesregierung in höchsten Tönen lobt. Fragen Sie mal die Millionen Leiharbeitsbeschäftigten in Deutschland, was sie davon halten. Die Linke sagt: Es gibt keinen Grund, warum am gleichen Arbeitsplatz Beschäftigte unterschiedlich entlohnt werden, ({1}) außer wenn es darum geht, die Taschen der Branchenbosse zu füllen. Im Grunde setzen Sie noch einen drauf: die Leiharbeit in der Bürgerarbeit. Die Bürgerarbeit haben Sie als Arbeitsbeschaffung für Langzeitarbeitslose erfunden. Fest steht: Die Menschen werden gering bezahlt und sind nicht voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nach ihrer Bürgerarbeit droht den Beschäftigten wieder Hartz IV; denn von 900 Euro für 30 Stunden oder 600 Euro für 20 Stunden brutto kann kein Mensch leben. Das Programm ist ein Flop. Von 34 000 vorgesehenen Stellen werden bis Ende März nur 1 400 besetzt. Nach Ansicht der Gewerkschaft Verdi und der Linken sind die Kommunen verpflichtet, den Tarif des öffentlichen Dienstes in der Bürgerarbeit zu zahlen. Das würde 200 bis 300 Euro mehr pro Bürgerarbeitsplatz kosten. Doch die Kommunen sind klamm und lehnen das ab. Jetzt greift die Bundesregierung in die Trickkiste: Leiharbeit ist nun in der Bürgerarbeit zugelassen; ({2}) somit gilt für diese Beschäftigten nicht mehr die unterste Tarifentlohnung des öffentlichen Dienstes. Damit werden sie praktisch um 1 Euro pro Stunde beschissen. Wenn Ihre Empörung im Fall Schlecker nicht nur leeres Geschwätz war, dann müssten Sie bei der Anweisung aus Ihrem Ministerium knallrot anlaufen. ({3}) Frau von der Leyen, ich fordere Sie - auch in Abwesenheit, übermittelt durch Herrn Brauksiepe - auf, die Leiharbeit in der Bürgerarbeit sofort zu stoppen. ({4}) Hätten Sie auf uns gehört, wäre Lohndumping in der Leiharbeit längst Geschichte. Mit unserem Gesetzentwurf wäre Leiharbeit wieder für die Abdeckung von Auftragsspitzen da. Frankreich macht uns das praktisch vor: Leiharbeiter bekommen den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte plus 10 Prozent Flexibilitätsprämie, und das funktioniert, auch in zehn weiteren europäischen Ländern.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Selbstverständlich gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin Gitta Connemann will Ihnen eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön, Frau Kollegin.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Krellmann, Sie haben gerade in Ihrer Rede gesagt: wenn man sie denn gefragt hätte. Ich frage Sie jetzt, wie Sie sich ein Arbeitsleben sinnvollerweise vorstellen, ob nach den Modellen, für die wir uns hier einsetzen, oder nach den Modellen in Berlin. Denn wir konnten am 18. April dieses Jahres einem Bericht in der Berliner Morgenpost entnehmen, dass die BSR Hunderte von Tagelöhnern beschäftigt; das ist in Berlin. Es wird deutlich, dass die Schneewinterhilfskräfte mit Billigung des Wirtschaftssenators jeweils Eintagesverträge - die Betonung liegt auf „Eintagesverträge“ - zu niedrigeren Löhnen erhalten haben. Ich nenne Ihnen gerne den Namen des Wirtschaftssenators: Er heißt Harald Wolf, gehört der Linken an und ist Aufsichtsratschef der BSR. Wie beurteilen Sie ein solches Arbeitgeberverhalten?

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ein solches Arbeitgeberverhalten kann man nicht rechtfertigen, und solchen Dingen muss man nachgehen. Das, was ich gesagt habe, gilt für den Bund, für Berlin und Brandenburg, für Hessen, für Niedersachsen und für die friesische Küste, wo Sie herkommen. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist ein Grundprinzip. Dazu stehe ich, und dafür trete ich ein. ({0}) Das gilt insbesondere für Leiharbeitnehmer, und zwar an jedem Arbeitsplatz und in jedem Land. Insofern gilt das für Deutschland und für andere Länder. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir den Artikel zur Verfügung stellen würden, damit ich da nachhaken und erfahren kann, was da passiert ist. ({1}) Zum Abschluss möchte ich sagen: Wir, die Linke, werden gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Betroffenen beim Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ keine Ruhe geben und versuchen, das durchzusetzen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie haben noch eine Chance, eine Frage zuzulassen.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das mache ich wieder sehr gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Dann wird Ihre Redezeit natürlich verlängert. Vielen Dank. - Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, Sie haben jetzt die Leiharbeit in der Bürgerarbeit so massiv kritisiert. ({0}) Wäre es Ihnen lieber, in Wirklichkeit keine Arbeitsplätze im Bereich der Bürgerarbeit zu haben, als dass eine Vermittlungsorganisation, also ein Dienstleistungsunternehmen, das Management der Bürgerarbeit für die Kommunen übernimmt? Seitdem es die Klarstellung der entsprechenden Regelung gibt, wächst die Anzahl der bewilligten Stellen; die betroffenen Menschen, die Langzeitarbeitslosen, sind sehr froh. Wie schätzen Sie diese Arbeit ein? Die Leiharbeit in diesem Bereich ist doch mit der Leiharbeit, über die Sie gesprochen haben, überhaupt nicht identisch.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich weiß nicht, ob Sie mir nicht richtig zugehört haben. ({0}) Die Leiharbeit in der Bürgerarbeit ist im Grunde ein Weg, die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes zu umgehen. Im Grunde war geplant - das wissen Sie ganz genau -, dass die Vorschriften des TVöD - das sind die Informationen, die ich habe - angewendet werden sollen. Jetzt wird hier die Möglichkeit genutzt, über die Hintertür des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes die Leiharbeit zu nutzen. Die entsprechenden Arbeitnehmer erhalten nun den Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser Mindestlohn beträgt genau 1 Euro pro Stunde weniger als der Lohn, den die Menschen heute erhalten. Das empfinde ich als eine Sauerei gegenüber den Betroffenen. ({1}) Das sind Langzeiterwerbslose, die ein Recht darauf haben, für ihre Arbeit wenigstens einen Lohn entsprechend der untersten Entgeltgruppe des Tarifvertrages des öffentlichen Dienstes zu erhalten, nicht nur den Mindestlohn in der Leiharbeit. ({2}) Wir reden hier nicht über Leiharbeit. Sie lassen das zu, obwohl das keine Leiharbeit ist. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Jetzt, Frau Kollegin, bitte den Schlusssatz, den Sie angekündigt hatten.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich kann jetzt den Schlusssatz noch einmal sagen: Wir werden uns auf jeden Fall dafür einsetzen, dass Equal Pay in allen Bereichen durchgesetzt wird. Wir werden versuchen, gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Betroffenen das zu bekommen, was wir politisch von Ihnen nicht kriegen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann für die Fraktion Die Linke. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön, Frau Kollegin.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muss ich meinem Ärger über Verfahren der Bundesregierung Luft machen. Die Reform der Arbeitnehmerüberlassung wurde über ein Jahr lang lautstark angekündigt. Dann legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, der keine Lohnuntergrenze vorsah. Die Lohnuntergrenze folgte im Laufe des Verfahrens über einen Änderungsantrag. Heute, im dritten Anlauf, kommt nun ein Gesetzentwurf zur Kontrolle der Schwarzarbeit. Mittlerweile haben wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber noch keine allgemeinverbindlich erklärte Lohnuntergrenze. Es wurde viel Zeit vertrödelt. Ich kann das gesamte Verfahren nur als miserabel bezeichnen. ({0}) Jetzt aber zum Inhalt. Anscheinend bin ich mehr oder weniger die Einzige, die zum Gesetzentwurf redet. Die gute Nachricht ist, dass die Meldepflicht eingeführt wird, und vor allem, dass die Einhaltung der Lohnuntergrenze von den Behörden der Zollverwaltung kontrolliert und ihre Verletzung entsprechend dem Verfahren bei Nichteinhaltung der Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz sanktioniert wird. Jetzt habe ich aber eigentlich nur noch kritische Anmerkungen. Die Bundesregierung hat einen zusätzlichen Personalbedarf von 156 Stellen für die Zollverwaltung berechnet, und zwar auf der Grundlage von 700 000 Leiharbeitskräften; tatsächlich sind es aber über 900 000. Der Clou kommt noch: Über die zusätzlichen Mittel soll erst beim nächsten Haushalt entschieden werden. Meine Frage ist also: Soll der Mindestlohn in der Leiharbeit dieses Jahr überhaupt nicht kontrolliert werden oder, wenn doch, nur zulasten der Kontrolle der Einhaltung der anderen Mindestlöhne? Dazu kann ich nur sagen: Das wäre unverantwortlich. ({1}) Vor allem ist es absolut unverständlich, dass die Einhaltung der Drehtürklausel nicht von der Zollbehörde, sondern von der Bundesagentur für Arbeit kontrolliert werden soll. Abgesehen davon, dass die BA dafür gar nicht ausgestattet ist, ist sie, milde ausgedrückt, nicht für effektive und umfassende Kontrollen bekannt. Im Gegenteil: Die Überprüfungsquote im Jahr 2008 lag gerade einmal bei 9 Prozent und 2009 sogar nur bei 8,5 Prozent der Verleihfirmen, und dies, obwohl sich die Zahl der Leiharbeitskräfte im gleichen Zeitraum nahezu verdoppelt hat. Jetzt soll die BA auch noch die Einhaltung der Drehtürklausel kontrollieren. Das kann ich nur als schlechten Treppenwitz bezeichnen. ({2}) Letztes Jahr habe ich in einer Kleinen Anfrage nachgefragt, wie und nach welchen Kriterien die Bundesagentur für Arbeit Verleihfirmen prüft. Die Antwort war ernüchternd: Verleihfirmen mit unbefristeter Erlaubnis werden zwar kontrolliert, aber nur im Fünfjahresrhythmus. Da kann ich nur sagen: Eine bessere Einladung zum Missbrauch kann es überhaupt nicht geben. Die Bundesagentur für Arbeit ist immerhin selbstkritisch und realistisch; denn in ihrer Stellungnahme zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz stand - ich zitiere auszugsweise -: Mit Blick auf die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte Aufgabenkritik der BA könnte auch überlegt werden, die ordnungspolitische Aufgabe des AÜG … z. B. auf den Zoll zu übertragen und die BA damit weiter auf die Kernaufgabe Vermittlung zu fokussieren. Das sind klare Worte, aber sie werden ignoriert. Es scheint so, als ob die Bundesregierung mit ihrer hochgelobten Drehtürklausel nicht ernst machen will. Wir meinen aber, dass Kontrollen in angemessener Zahl notwendig sind, und zwar durchgeführt von den Profis der Zollbehörde. Ich kann also nur hoffen, dass die Regierungsfraktionen im Laufe des Verfahrens den Gesetzentwurf noch nachbessern werden. Wenn nicht, dann war die Empörung über den Missbrauch, beispielsweise bei Schlecker, vor allem heiße Luft. Eine solche Politik der Bundesregierung hilft niemandem, weder den Beschäftigten noch den seriösen Verleihfirmen. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. - Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Paul Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Paul Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Heute befassen wir uns in erster Beratung mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes. Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, wenn Sie bei den Vorrednern aufgepasst hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass sie sich sehr wohl in weiten Bereichen ihrer Reden mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben. ({0}) Sie waren nicht die Erste, die über diesen Gesetzentwurf gesprochen hat. Im Gesetzentwurf sind weitgehende Kontrollmechanismen verankert, die für die Einhaltung der festgelegten Arbeitsbedingungen und auch der Lohnuntergrenze sorgen sollen. In der letzten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesentwurfs zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und zur Verhinderung des Missbrauchs in der Leiharbeit hat der Deutsche Bundestag am 24. März dieses Jahres, also vor wenigen Wochen, entscheidende Verbesserungen auf dem Gebiet der Leiharbeit auf den Weg gebracht und auch einen branchenspezifischen Mindestlohn für die Leiharbeit eingeführt, der - Frau Kollegin Müller-Gemmeke, darauf können Sie sich verlassen - von der Bundesregierung in Kürze sicherlich umgesetzt werden kann, ({1}) Letzteres insbesondere im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, welche ab dem 1. Mai dieses Jahres für immerhin 77 Millionen Europäer, auch für Deutsche, gilt. Die Angst vor einer gewaltigen Einwanderungswelle und vor massivem Lohndumping war groß. Die Statistiken und Hochrechnungen belegen allerdings, dass diese Angst unbegründet war. Lohndumping verhindern wir erfolgreich durch die Einführung eines branchenspezifischen Mindestlohnes und eines wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanismus durch den heute vorliegenden Gesetzentwurf. Den neuen Regelungen in der Leiharbeit ist es auch zu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen die Azubilücke und als willkommenes Arbeitskräftepotenzial für etwa 1 Million offene Stellen, die wir derzeit in Deutschland haben. Die Zeitarbeit ist ein auf dem Arbeitsmarkt bewährtes Instrument. Sie darf nicht als Mittel zur Absenkung von Arbeitslöhnen und zur Verschlechterung von Arbeitsbedingungen genutzt werden. Insoweit besteht in diesem Hohen Hause Konsens. Dies wird gesetzlich gewährleistet, dies muss aber auch kontrolliert und, falls nötig, sanktioniert werden. ({2}) Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben natürlich recht: Wenn sich der Branchentarifvertrag nicht auch auf die Leiharbeit erstreckt, dann müssen wir überlegen - wie die Kollegin Connemann völlig zu Recht in ihrer Eingangsrede ausgeführt hat -, ob der § 8 Abs. 3 ArbeitnehmerEntsendegesetz eine entsprechende Änderung erfahren muss und ob wir das, was die Gerichte zwischenzeitlich anders bewerten, anpassen müssen. Darüber werden wir uns austauschen müssen. Im Übrigen ist dies heute die erste Lesung. Wir werden jetzt in den Fachausschüssen darüber beraten und diesen Gesetzentwurf im Detail diskutieren. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, einen Arbeitsmarkt zu haben, auf dem es ausschließlich feste und unbefristete Anstellungsverhältnisse gibt. Da wir uns aber nicht in einem isolierten Vakuum befinden, sondern auf einem Arbeitsmarkt, auf dem global vernetzte Unternehmen agieren, müssen wir jede Chance ergreifen, die Menschen Arbeit bietet - nicht nur den Hochqualifizierten, sondern allen Menschen. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitarbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Zeitarbeit zu haben ist besser als gar keine Arbeit. ({3}) Die Zeitarbeit ist eine realistische Chance, die zu einer festen Beschäftigung führen kann. Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, in den letzten Krisenjahren auch Geringqualifizierten und Arbeitslosen eine Chance auf Beschäftigung zu bieten. ({4}) So konnte der konjunkturelle Aufschwung schneller in Beschäftigungsverhältnisse umgesetzt werden. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, die erst am vergangenen Dienstag veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Zeitarbeitnehmer jeden siebten Euro des Aufschwungs erwirtschaftet haben. Zeitarbeitnehmer trugen damit 15 Prozent des deutschen Wirtschaftswachstums im Jahr 2010. ({5}) Angesichts eines Zeitarbeitnehmeranteils von knapp über 2 Prozent zeigt diese Berechnung die wesentlich höhere volkswirtschaftliche Bedeutung der knapp 900 000 Zeitarbeitnehmer bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise. ({6}) Aber, meine Damen und Herren, was helfen faire Lohnuntergrenzen, wenn sie nicht eingehalten werden? Was helfen sie, wenn Menschen schwarzarbeiten? Vertrauen allein reicht hier sicherlich nicht aus. Wir brauchen effektive Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der Gesetzentwurf verspricht eine effiziente und wirkungsvolle Kontrolle darüber, dass Arbeitgeberpflichten eingehalten werden. Diese wichtige Aufgabe soll von den Behörden der Zollverwaltung übernommen werden. Das Gesetz setzt zudem die Protokollerklärung zum Beschluss des Vermittlungsausschusses über das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen nach dem II. und XII. Sozialgesetzbuch um. Konkret werden die Befugnisse der Zollverwaltung im Bereich der Prüfung, Verfolgung und Ahndung in den nachfolgend genannten Punkten erweitert und von denen der Bundesagentur für Arbeit als Erlaubnisbehörde abgegrenzt. Arbeitgebern werden besondere Mitwirkungspflichten auferlegt. So soll bei verdachtsunabhängigen Kontrollen die Einhaltung einer festgelegten Lohnuntergrenze überprüft werden können. Darüber hinaus werden weitere Arbeitgeberpflichten festgesetzt. Bestimmte Dokumente, wie beispielsweise Lohnunterlagen und Arbeitszeitaufzeichnungen, müssen erstellt und aufbewahrt werden. Außerdem besteht die Pflicht eines ausländischen Verleihers zur Meldung von nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern. Meine Damen und Herren, wir werden weitere Punkte im Laufe des Verfahrens diskutieren müssen. - Ich sehe, der Präsident macht sich dezent hinter mir bemerkbar. Bevor er mir das Mikrofon ausschaltet, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend und bedanke mich für die konstruktiven Beiträge. Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich glaube, dass wir dieses Gesetz vielleicht sogar gemeinsam auf den Weg bringen können. Ich bitte um Ihre Zustimmung zu unserem guten Gesetzentwurf. Danke schön. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Noch ist der Abend nicht zu Ende. Wir haben noch eine Reihe von Tagesordnungspunkten, und ich lade alle herzlich ein, auch noch dazubleiben. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes - Drucksache 17/5521 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin steht auf meiner Liste Frau Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin. ({1})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der endlich ein schon lange hin- und hergewälztes Problem für eine begrenzte Zahl betroffener Frauen im Osten lösen soll. Zwischen August 1978 und März 1979 wurden in der DDR Frauen mit Hepatitis-C-Virus verseuchtem Anti-DImmunglobulin behandelt. Bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeit sollte damit verhindert werden, dass spätere Kinder mit Schädigungen geboren werden. Allerdings erlitten dadurch fast 3 000 Personen eine chronische Hepatitis-C-Virus-Infektion, die diverse Folgeerkrankungen mit sich bringt. Hier lag ganz offensichtlich ein grober Fehler der damals Verantwortlichen vor. Gut war, dass am 1. Januar 2000 das Anti-D-Hilfegesetz in Kraft trat. Darüber sollten die Betroffenen neben Leistungen der Heil- und Krankenbehandlung ab einem bestimmten Ausmaß der Schädigung finanzielle Hilfen als Einmalzahlung und als Rente bekommen. Leider zeigte sich, dass die Bewilligungspraxis von Land zu Land, von Versorgungsamt zu Versorgungsamt sehr unterschiedlich war und ist. Wie sicher viele von Ihnen erhalte auch ich immer noch und immer wieder Schreiben von Betroffenen, die um ihre Rente kämpfen. Die Betroffenen haben die verseuchte Anti-D-Immunprophylaxe erhalten und klagen nun über verschiedene gesundheitliche Beschwerden. Die Versorgungsämter meinen aber, es sei nicht ausreichend belegt, dass die Anti-D-Prophylaxe der Grund für diese Beschwerden ist. Ich finde, es ist zutiefst unwürdig, dass jemand, der einen solchen Schaden sogar nachgewiesen hat, jetzt beweisen muss, dass die Folgeerkrankung durch eben diese Anti-D-Immunprophylaxe entstanden ist. ({0}) Sie alle wissen, dass es fast unmöglich ist, zu beweisen, dass ein bestimmtes Symptom auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen ist. Deshalb behilft man sich mit Wahrscheinlichkeiten. Und dann kommt es zu der Situation, dass bei einem Versorgungsamt die Wahrscheinlichkeit ausreicht und ein anderes meint, dass die Wahrscheinlichkeit nicht ausreicht. Die Betroffenen fühlen sich zu Recht willkürlich behandelt. Ja, wir Politikerinnen und Politiker haben uns bereits ausführlich damit befasst. Nachdem die zuständigen Berichterstatter aller Fraktionen des Ausschusses für Gesundheit jahrelang viele Male mit Betroffenen und mit Vertretern des Bundesministeriums für Gesundheit zusammengesessen haben, habe ich als damalige Ausschussvorsitzende 2008 einen Brief an die damalige Ministerin gesandt. Leider haben sich die Fraktionen nicht auf eine Meinung verständigen können, aber Grundtenor war, dass das BMG für eine einheitliche Anwendung dieses Gesetzes Sorge tragen soll. ({1}) Nichts ist bislang geschehen. Daher sind wir in der Praxis von einer einheitlichen Handhabung weit entfernt. Die Linke hat sich jetzt entschlossen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, weil im aktuellen Grundlagenpapier der Bundesregierung zu den Patientenrechten zu lesen ist: Im Falle eines groben Behandlungsfehlers, der generell geeignet ist, den Schaden herbeizuführen, wird vermutet, dass der Fehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war. Das heißt, dass der Behandelnde den Gegenbeweis antreten muss, dass ein Fehler den Schaden nicht verursacht hat. Im Antrag der SPD zu Patientenrechten steht übrigens das Gleiche. Nichts anderes formuliert die Linke in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf. Diese Frauen sollen entschädigt werden, ohne dass sie den Beweis erbringen müssen. ({2}) Die Linke will ein würdiges Verfahren, das den durch die Anti-D-Immunprophylaxe Geschädigten endlich zu ihrem Recht verhilft. Geben Sie sich einen Ruck und setzen Sie hier ein Zeichen. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Karin Maag. Bitte schön, Frau Kollegin Maag. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Vorfälle, die zu dem Anti-D-Hilfegesetz geführt haben, nun schon ein paar Jahre zurückliegen, 1978 und 1979, will ich versuchen, sie zusammenzufassen, um uns gemeinsam auf den neuesten Stand zu bringen. Es geht um Frauen, die zwischen August 1978 und März 1979 in der ehemaligen DDR zur Immunprophylaxe geimpft wurden. Die Impfung war bei bestimmten Gesundheitsrisiken nach der Schwangerschaft vorgesehen und diente dazu, bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeiten nach Geburten Schäden bei den folgenden Kindern zu verhindern. Innerhalb dieses halben Jahres wurden 6 773 Frauen mit diesen Anti-D-Immunglobulinen behandelt. Weil die Impfchargen im damaligen Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft verseucht worden waren, wurden rund 4 600 Personen - das ist der Stand von heute -, also die behandelten Frauen, ihre Kinder und etliche weitere Kontaktpersonen aus dem familiären Bereich, kontaminiert. Derzeit, Stand vom 31. Dezember letzten Jahres, sind 2 615 Personen als Schadensfälle nach dem Anti-D-Hilfegesetz anerkannt. Ich glaube, es steht uns gut an, wenn wir sagen, dass diesen Opfern auch heute noch unser Bedauern und unser Mitgefühl gehören, und dies umso mehr, als sie natürlich auch heute noch, Frau Bunge, regelmäßig zu Untersuchungen müssen und damit weiterhin schwer belastet sind. ({0}) - Ich komme noch dazu, Frau Bunge. Machen Sie sich keine Gedanken. - Ich möchte darauf hinweisen, dass wir nicht vergessen sollten, dass diese Frauen zweimal geschädigt wurden: zum einen durch die kriminellen Machenschaften im Institut in Halle - Arzt und Apotheker wurden strafrechtlich verurteilt; aber das hilft den Betroffenen wenig -, zum anderen natürlich auch durch die frühere Einordnung in der DDR lediglich als Impfschaden. ({1}) Zu DDR-Zeiten durfte es keinen Arzneimittelskandal geben, also hat man die Frauen wie bei Impfschäden entschädigt und ihnen damit den Anspruch auf eine höhere Rente, eben nicht nur nach Versorgungsgesichtspunkten, ebenso versagt wie ein Schmerzensgeld. ({2}) Mit dieser Einordnung als Impfschaden ist der Vorgang über den Einigungsvertrag in unser Rechtssystem übernommen worden. Die Betroffenen waren weitere zehn Jahre - da haben Sie recht, Frau Bunge - von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen. Um diese humanitäre und soziale Lage der infizierten Frauen zu verbessern, hat der Bundestag im Jahre 2000 nach vielen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die für die Ausführung immer noch zuständig sind, ein eigenes Gesetz, das sogenannte Anti-D-Hilfegesetz, beschlossen. Es ist ein eigenständiges Gesetz; parallel gibt es andere, zum Beispiel das HIV-Hilfegesetz. Die Rentenleistungen sind heute nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelt. Sie reichen von Beträgen von 272 bis 1 088 Euro monatlich. Diese Rentenleistungen werden jetzt, so wie die normale Rente, zum 1. Juli 2011 dynamisiert. Über die Einmalzahlung haben wir schon gesprochen. Die Zahlungen werden durch Heil- und Krankenbehandlungsansprüche in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes ergänzt. Jetzt kann man sagen: Gott sei Dank hat sich die medikamentöse Therapie der chronischen Hepatitis C stetig verbessert. Die Heilungschancen sind erheblich gestiegen. Sie liegen jetzt bei 50 bis 75 Prozent. Ich möchte noch auf eines hinweisen, das mir im Zusammenhang mit Ihrem Vorschlag wichtig ist. Das AntiD-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als Auftragsverwaltung ausgeführt. An den Kosten haben sich auch die übrigen Bundesländer in Deutschland nach einem bestimmten Kostenschlüssel beteiligt. Jetzt komme ich zu dem, was Sie beanstandet haben. Das Bundesgesundheitsministerium lädt die Akteure regelmäßig ein und stellt über diese regelmäßigen Kontrollen die einheitliche Durchführung sicher. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dort am Anfang - das hat auch der Bundesrechnungshof aufgegriffen - einiges schieflief. Frau Bunge, Sie wollen jetzt mithilfe einer Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes die Beweislast umkehren. Ich halte das für rechtlich falsch und für politisch unklug und schwierig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das so sehe: Das Anti-D-Hilfegesetz wurde vor elf Jahren hier im Bundestag einvernehmlich verabschiedet. Alle Fraktionen, auch die PDS, waren sich damals einig, dass es sich - so hat es damals Frau Nickels formuliert - um eine ausgewogene Balance eines sehr komplexen Systems von Hilfen und Finanzierung handelt. Dieser mühsam hergestellte Kompromiss zwischen allen Beteiligten - also zwischen Bund, Ländern sowie weiteren Akteuren; ich habe die Beratungssituation bereits genannt - mit diesem guten Ergebnis wäre erneut ins Wanken geraten - das ist wiederum ein Zitat von Frau Nickels -, wenn nur ein Element aus diesem Bereich herausgebrochen wäre. Das haben sogar Sie bzw. die PDS damals eingesehen. Frau Bunge, an solche Vereinbarungen muss man sich dann aber auch halten. ({3}) - Lassen Sie mich fortfahren. Wir haben das Anti-D-Hilfegesetz auch evaluiert. In unseren Besprechungen haben wir auf eine einheitliche Rechtsanwendung hingewirkt. Meine Fraktion, Frau Bunge, hat bereits 2004 die Frage nach der Rechtsqualität dieser Entschädigungszahlungen gestellt. Die damalige Bundesregierung hat ausdrücklich klargestellt, dass es sich bei den Regelungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht um einen Bestandteil des sozialen Entschädigungsrechts, sondern um eine eigene Rechtsgrundlage handelt. Ich will hier jetzt eigentlich nicht Ihre sehr schlanke Begründung aufwerten. Ich will aber trotzdem erläutern, warum ich Ihre Forderung für wichtig halte. Wäre dies ein Bestandteil des Entschädigungsrechts, könnte man unter bestimmten Bedingungen eine Beweiserleichterung im Hinblick auf den Ursachenzusammenhang zulassen. Wir kennen so etwas aus dem Infektionsschutzgesetz. Diese Rechtslage entspricht auch der Rechtslage in anderen Bereichen des Entschädigungsrechts. Jetzt kommt die Begründung, warum es nicht geht: Ausschließlich zugunsten der Opfer, um höhere Renten zu ermöglichen und um überhaupt Einmalzahlungen gewähren zu können, ist man damals den Weg über die Schadenersatzleistungen gegangen. Nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen - die können wir hier nicht durch ein Gesetz im Einzelfall außer Kraft setzen - trägt der Anspruchsteller im Bereich des Schadenersatzes die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen. Damit verbietet sich die Beweislastumkehr schlicht aus Rechtsgründen. Ich gehe einmal davon aus, dass Sie sich an die einmal vereinbarte Rechtswahl auch halten wollen. Sie haben in mehreren Anfragen das Thema der Darlegungs- und Beweislast aufgebracht - im Einzelfall durchaus zu Recht. Die jeweilige Bundesregierung hat Ihnen aber auch gut begründet geantwortet, dass und warum eine Rechtsänderung nicht in Betracht kommt. Auch der Petitionsausschuss hat im Hinblick auf eine Sammelpetition betroffener Frauen nicht anders entschieden. Ich will jetzt nicht „nur“ erklären, warum Ihr Gesetzentwurf nicht gut ist. Ich habe durchaus schon von den betroffenen Frauen im Osten gehört, auch wenn ich aus dem Westen komme. Auch mir ist diese Problematik bekannt. Ich will konstruktiv auf Folgendes hinweisen: Der Rechtsanwalt des Deutschen Vereins HCV-Geschädigter verfolgt nämlich eine andere Zielrichtung. Er kümmert sich um die Verbesserung der Gestaltung der Nr. 26.10 AHP. Das sind die Anhaltspunkte für die sogenannte Gutachtertätigkeit und deren Nachfolgeregelung. Das erscheint mir der konstruktivere und vernünftigere Ansatz. Das sage ich Ihnen jetzt privat und persönlich. Für mich gilt: Im Ergebnis können wir mit der Regelung, die im Jahre 2000 getroffen wurde, zufrieden sein. Es ist gelungen, eine deutlich bessere Entschädigung als damals zu DDR-Zeiten üblich zu erreichen. Handlungsbedarf mit der Zielrichtung der Beweislastumkehr, wie von Ihnen gefordert, sehe ich deshalb nicht. Ich sehe das im Übrigen auch nicht im Hinblick auf das Patientenrechtegesetz. Meines Wissens sind wir in diesem Fall nicht Rechtsnachfolger und somit auch nicht der Behandelnde, den Sie gerade zitiert haben, geworden. Umgekehrt, Frau Bunge - auch dies will ich Ihnen nicht ersparen -, empfinde ich es als für die Betroffenen sehr belastend, wenn Sie immer wieder Erwartungen und Hoffnungen wecken, die Sie nicht erfüllen können. ({4}) Noch einmal: 2 615 im Raum stehende Schadensfälle sind anerkannt; das sind rund zwei Drittel. Unzumutbar ist das also sicherlich nicht. Ich will nicht verhehlen, dass es in Einzelfällen Probleme gegeben hat. Es geht aber um Einzelfallgerechtigkeit. Dafür sind die Gerichte zuständig. Einzelne Gerichte, die sich mit solchen Fällen befasst haben, haben sich wegen der AHP übrigens an das Bundesarbeitsministerium gewandt, um dort möglicherweise Änderungen herbeizuführen. Ich halte dies für einen relativ gut gangbaren Weg. Frau Bunge - ich spreche jetzt Sie persönlich an, weil Sie zu den Initiatoren dieses Gesetzentwurfes gehören -, mir wäre es lieb, wenn Sie in den östlichen Bundesländern keine unerfüllbaren Hoffnungen wecken würden. Helfen Sie den Menschen vor Ort! Wir haben eine gute Regelung. Belassen Sie es dabei, und versuchen Sie, im Einzelfall konstruktiv mitzuwirken! Danke schön. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Maag. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege Lemme. ({0})

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Flach, erst einmal sage ich Ihnen im Namen meiner Fraktion herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Amt als Staatssekretärin. Der Deutsche Bundestag berät nicht zum ersten Mal diese Problematik und diesen Tatbestand, der in der Gesamtschau letztlich nur betroffen machen kann. Ich muss sagen: Mich hat er betroffen gemacht. Es war immer mein Verständnis von Politik und Parlamentarismus, dass wir uns vor allem der Menschen annehmen müssen, denen Unrecht widerfährt, so wie im hier vorliegenden Fall der Infektion von rund 3 000 jungen Müttern mit Hepatitis C in den Jahren 1978 bis 1979 in der DDR. Diese Mütter erhielten nach der Geburt ihres ersten Kindes eine damals vorgeschriebene Anti-D-Immunprophylaxe, bei der mehrere klar identifizierte Chargen mit dem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Meine persönliche Bestürzung rührt daher, dass die Infektion nicht etwa durch einen mangelnden Grad wissenschaftlicher Kontrollierbarkeit der Präparate verursacht wurde, sondern dass die Verabreichung mit dem Wissen um die Folgen einer Hepatitis-C-Infektion und damit vorsätzlich geschehen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich habe lange in der DDR gelebt. Umso schockierender ist es für mich, mit den Dimensionen dort erlittenen Unrechts konfrontiert zu werden. Hepatitis-C-Viren verursachen eine Form der Leberentzündung, die im schlimmsten Fall einen chronischen Verlauf bis hin zum Tode durch Leberversagen nehmen kann. Eine wirksame Therapie zur Überwindung der Krankheit steht bis heute nicht zur Verfügung. Für die Betroffenen bedeutet dies schlicht, die Krankheit akzeptieren und mit ihr leben zu müssen. Besonders belastend ist dabei die stete Gefahr der Übertragung der Krankheit, etwa auf den Partner oder auf Familienangehörige. All diese Herausforderungen machen es notwendig, dass wir den Betroffenen zur Seite stehen. ({0}) Sozialdemokraten haben dies in der Vergangenheit in Regierungsverantwortung getan. Wir haben im Jahre 2000 gemeinsam mit dem Bündnis 90/Die Grünen unter der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer das Anti-D-Hilfegesetz auf den Weg gebracht. Wir haben dafür gesorgt, dass die Betroffenen und Angehörigen nach Anerkennung ihrer Schädigung durch Einmalzahlungen, Rentenbezüge und die Übernahme der Kosten für Heil- und Krankenbehandlungen unterstützt wurden. Für uns stehen die Belange der Patientinnen und Patienten grundsätzlich im Mittelpunkt. Aufgrund unserer Politik haben wir heute die Unabhängige Patientenberatung. In der gemeinsamen Selbstverwaltung wirken Vertreterinnen und Vertreter der Patienten mit, und die Betroffenen haben mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung eine zentrale Anlaufstelle. ({1}) Wir sind noch nicht am Ziel. Mit unseren Vorschlägen für ein modernes Patientenrechtegesetz wollen wir noch einen Schritt weitergehen, um für Patientinnen und Patienten Rechtssicherheit zu schaffen. Neben der unseres Erachtens dringend notwendigen Zusammenfassung von unterschiedlichen Rechten in einem einzigen Patientenrechtegesetz fordern wir grundsätzliche Beweiserleichterungen bei Behandlungsfehlern. Hingegen lehnen wir eine vollständige bzw. generelle Beweislastumkehr aus heutiger Sicht aus guten Gründen ab. Doch kommen wir zurück auf den hier zu diskutierenden Fall. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird jene Beweislastumkehr für diesen speziellen Betroffenenkreis gefordert. Denn nach über 30 Jahren besteht heute vielfach das Problem der mangelnden Nachweisfähigkeit von Hepatitis C. Auch der kausale Zusammenhang zwischen der Anti-D-Impfung in der DDR und der letztendlichen Erkrankung wird immer wieder infrage gestellt. Ich stelle hier unmissverständlich klar: Diese Umstände und Hürden sind nicht im Sinne der Betroffenen und entsprechen nicht dem Anliegen des Gesetzes. Mehrfach hat der Betroffenenverband, der Deutsche Verein HCV-Geschädigter, auf Probleme hingewiesen. Insbesondere ist die Uneinheitlichkeit der Anwendung des Anti-D-Hilfegesetzes und die damit verbundene unterschiedliche Anerkennungspraxis durch die Versorgungsämter in den Ländern kritisiert worden. Im Entschließungsantrag zu diesem Sachgegenstand in der 16. Legislaturperiode haben wir in der Großen Koalition nochmals unterstrichen, dass für die einheitliche Anwendung des Gesetzes Sorge zu tragen ist, was ich für meine Fraktion an dieser Stelle nochmals bekräftige. ({2}) Wir sehen auch heute die ausführenden Länder, aber auch das Bundesgesundheitsministerium als Aufsichtsbehörde in der Pflicht. Mit Blick auf die Kernforderungen des Gesetzentwurfs gebe ich zu bedenken, dass sowohl die defizitäre Finanzlage des Bundes als auch der Länder keinen Spielraum für eine Ausweitung der Mittel bietet. Jede dahin gehende Forderung ist zurückzuweisen. ({3}) Ich fordere die Bundesregierung jedoch auf, den in der Vergangenheit bereits stattgefundenen Erfahrungsaustausch zu Fragen der einheitlichen Durchführung des Gesetzes wieder neu zu beleben, und rege eine erneute Erörterung des Sachverhaltes im Rahmen der im kommenden Monat stattfindenden 84. Gesundheitsministerkonferenz an. Nach Überweisung des Gesetzentwurfs an den zuständigen Ausschuss für Gesundheit wird es meines Erachtens besonders darauf ankommen, die betroffenen Frauen anzuhören, um einen noch konkreteren Einblick zu erhalten. Abhilfe muss meines Erachtens in erster Linie pragmatisch und primär im Rahmen einer Optimierung der bestehenden Anerkennungspraxis gesucht werden. Ein positives Ergebnis ist nur im Konsens zwischen den beteiligten Akteuren zu erreichen. Was zählt, ist die Verbesserung der Situation der Betroffenen, für die das Gesetz einstmals mehrheitlich verabschiedet wurde. Ihnen muss unsere ganze Aufmerksamkeit gelten. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben zu danken. Vielen Dank, Kollege Lemme. Jetzt hätte nach meiner Rednerliste unsere Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP das Wort. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll. Das ist so ver- einbart.1) 1) Anlage 10 Vizepräsident Eduard Oswald Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Kollege Dr. Terpe.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass auf der Regierungsbank ein neues Gesicht zu sehen ist. Herzlichen Glückwunsch, Frau Staatssekretärin, zu Ihrem neuen Amt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verseuchung von Blutprodukten mit Hepatitis-C-Viren und die daraus entstandenen Infektionen sind schon mehrfach Thema im Parlament gewesen. Dies betraf nicht nur die Frauen, die in der DDR um das Jahr 1979 mit einer verunreinigten Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wurden. Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die sich in den 80er-Jahren mit Hepatitis-C-Viren durch verseuchte Blutprodukte infizierten, obwohl staatliche Behörden die Risiken bereits hinlänglich erkannt hatten. Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit dem sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine gesetzliche Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen erhalten eine Entschädigung entweder als Einmalzahlung oder als monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der HCVInfektion mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 bzw. 30 Prozent einhergeht. So weit die gesetzliche Regelung. In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen; das wissen wir alle. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die gesundheitliche Schädigung in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere dann, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt; darüber hat es die meisten Diskussionen gegeben. Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit den betroffenen Frauen. Wir wissen jedoch, dass eine Reihe unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schädigungen durchaus auf eine Infektion mit Hepatitis C zurückzuführen ist, was man vielleicht primär nicht annehmen würde. Dazu zählen neben den typischen Leberentzündungen mit Fibrosen Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lungen- und Gelenkerkrankungen sowie neuropsychiatrische Erkrankungen wie Depressionen. In diesen Fällen könnte die von den Linken vorgeschlagene Beweislastumkehr möglicherweise eine Hilfe für einzelne betroffene Frauen sein, die aus dem Anti-D-Hilfegesetz resultierenden Entschädigungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Ob diese Vermutung tatsächlich zutrifft, ob den Frauen damit wirklich geholfen ist, werden wir sicher im Laufe der weiteren parlamentarischen Diskussion klären können. Beweislastumkehr hin oder her, eines ist klar: Am Ende bleibt die Entschädigung im Rahmen des Anti-DHilfegesetzes auch dann eine Ermessensentscheidung, wenn der Zusammenhang zwischen Infektion und Schädigung belegt ist; denn ein Gutachter entscheidet, welchen Grad die Schädigung hat. Dieser Schädigungsgrad bestimmt letztendlich darüber, ob eine Entschädigung gezahlt wird und wenn, in welcher Form; das ist eine gutachterliche Frage. Liegt der Grad der Schädigung beispielsweise unter 30 Prozent, wird keine monatliche Rente gezahlt. Eine solche Bewertung ist nur bis zu einem gewissen Grade objektivierbar, und sie ist weitgehend unabhängig davon, wer die Beweislast für die Ursachen der gesundheitlichen Schädigung trägt. Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern selbst als Arzt im Rahmen einer ständigen Arbeitsgruppe bei der Begutachtung solcher Fälle mitgewirkt. Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen, die daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen Entscheidungen niemals einfach gemacht. Wir haben versucht, den Frauen auch in den Fällen gerecht zu werden, wo nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die schon beschriebenen Depressionen oder Müdigkeitssymptome vorgelegen hat. Dabei hat man sich immer am wissenschaftlichen Standard orientiert. Ich will vor diesem Hintergrund nicht verhehlen, dass ich Zweifel habe, ob die von den Linken vorgeschlagene Lösung den Frauen weiterhilft. Vielleicht ist ein außergerichtliches Verfahren auf Basis verbindlich verordneter Begutachtungskriterien, die immer wieder wissenschaftlich angepasst werden müssen, in Gutachterausschüssen der bessere Weg. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben Ihnen zu danken. Kollege Dr. Harald Terpe, vielen Dank. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5521 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften - Drucksache 17/5311 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 17/5793 Berichterstattung: Abgeordneter Matthias W. Birkwald - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5796 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({2}) Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Alexander Bonde Vizepräsident Eduard Oswald Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sie sind damit einverstanden. Ich glaube, ich kann es mir aus Zeitgründen sparen, die Namen der Kolleginnen und Kollegen vorzulesen, sodass wir direkt zur Abstimmung kommen können. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5793, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5311 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der vorherigen Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Birgitt Bender, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten - Drucksache 17/4042 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist somit beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der technischen Vorschriften für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung ({5}) Nr. 924/ 1) Anlage 13 2) Anlage 11 2009 vom 16. Dezember 2010 - KOM({6}) 775 endg. Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund- lich gestalten - Drucksache 17/5768 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5768. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Fraktion Die Linke enthält sich. Der Antrag ist damit angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern - Drucksache 17/5262 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) - Drucksache 17/5794 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({8}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verteidigungs- und Sicherheitsfragen wurden seit dem Ende des Kalten Krieges weitgehend von der euro- päischen Integration ausgeschlossen. Damit waren die Verteidigungsmärkte fast gänzlich vom Binnenmarkt ausgeschlossen und blieben national zersplittert. Die überwiegend nationale Organisation der Verteidigungs- märkte in der EU führte angesichts strenger Haushalts- beschränkungen sowie steigender Kosten für Verteidi- gungsgüter zunehmend zu Problemen. Voneinander abweichende Politiken zogen oftmals einen hohen büro- kratischen Aufwand und verschwenderischen Umgang mit Verteidigungsausgaben nach sich. Auch sind unsere nationalen Märkte in Europa oft zu klein, um hochwer- tige Ausrüstung zu erschwinglichen Preisen herzustellen und zu beschaffen. All diese Probleme haben meines Er- achtens unsere Europäische Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik insgesamt geschwächt. 3) Anlage 14 Um erstens die bestehende Zersplitterung zu überwinden, zweitens die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie zu erhalten und drittens eine angemessene Ausrüstung der Streitkräfte sicherzustellen, hat die Kommission bereits im Dezember 2007 ein Maßnahmenpaket vorgestellt, zu dem auch die hier beratene Richtlinie über die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern ({0}) zählt. Meine Fraktion begrüßt die Umsetzung dieser Richtlinie durch die Bundesregierung ausdrücklich, da damit die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Marktes geschaffen wird. Auch hat dann endlich dieses Durcheinander an uneinheitlichen und überzogenen einzelstaatlichen Genehmigungsverfahren beim Handel mit Verteidigungsgütern ein Ende. Durch das Wirrwarr an Genehmigungssystemen wird den Unternehmen nicht nur ein beträchtlicher Verwaltungsaufwand zugemutet, sondern es werden auch erhebliche Vorlaufzeiten, teilweise von bis zu mehreren Monaten, verursacht. Der daraus hervorgehende Verwaltungsaufwand der Unternehmen und Behörden verursacht jährlich Kosten von rund 433 Millionen Euro. Auch unsere deutschen Unternehmen verlieren viel Zeit und Geld mit der gegenwärtigen Regelung. Exporte von Verteidigungsgütern aus der Bundesrepublik erfordern üblicherweise eine Einzelgenehmigung, die beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, zu beantragen ist. Über politisch heikle Fälle entscheidet zusätzlich das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und bei Bedarf der Bundessicherheitsrat. Der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung weist für das Jahr 2009 insgesamt 16 202 Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von insgesamt rund 5 043 Millionen Euro aus. Abgelehnt wurden 128 Anträge, im Vorjahr 52. Das zeigt, dass der teilweise erhebliche bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Kontrollbedarf steht. Ich habe es immer geschätzt, dass das deutsche Recht - im Vergleich zu anderen europäischen Rechtsformen schon heute zur Verfahrenserleichterung die Möglichkeit vorsieht, anstelle von Einzelgenehmigungen sogenannte „Sammelausfuhrgenehmigungen“ oder „Allgemeingenehmigungen“ zu erteilen. Diese Verfahren privilegieren zuverlässige Exporteure, die im großen Stil am Außenwirtschaftsverkehr teilnehmen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, können sie exportieren, ohne zuvor einen Antrag auf Erteilung einer Einzelexportgenehmigung beim BAFA stellen zu müssen. Unsere Exporteure haben den Vorteil schnellerer Liefermöglichkeit und Planungssicherheit. Das spart Zeit und Geld. Konkret soll der EURechtsrahmen die Mitgliedstaaten veranlassen, den Anwendungsbereich von Sammelausfuhr- und Allgemeingenehmigungen auszuweiten. Wir in der CDU/CSU setzen uns mit Nachdruck für die Umsetzung der sogenannten Verteidigungsgüterrichtlinie ein. Für unsere betroffenen Unternehmen vereinfacht es das Exportkontrollverfahren, unnötige bürokratische Hemmnisse werden abgebaut, und zugleich kann eine stärke Fokussierung auf sensitive Verteidigungsgüterexporte in Drittstaaten erfolgen. All das geschieht, ohne dass die nationalen Mitgliedstaaten die Kontrolle über ihre Sicherheitsinteressen verlieren. Nach wie vor können die Mitgliedstaaten selbst entscheiden, welche Güter für die verschiedenen Genehmigungsarten in Betracht kommen, und die Bedingungen für diese Genehmigungen festlegen. Auch der Umstand, dass die Richtlinienumsetzung nur geringfügige gesetzliche Änderungen erfordert, spricht für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Die bevorzugten Allgemeingenehmigungen können auf der Grundlage unserer bestehenden und gut funktionierenden außenwirtschaftsrechtlichen Gesetze ({1}) erlassen werden. Mit den verbesserten Bedingungen für den Handel zwischen den europäischen Verteidigungsunternehmen ebnet der Vorschlag darüber hinaus den Weg für eine verstärkte industrielle Zusammenarbeit und optimierte Versorgungsketten. Davon profitieren sowohl große wie auch kleine und mittlere Unternehmen in mehreren Mitgliedstaaten. Das stärkt auch das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Wir alle wissen um die Sensibilität dieses Bereiches. Den Mitgliedstaaten wird deshalb bei der Schaffung eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter eine besondere Rolle zuteil. Die Verbringung von Verteidigungsgütern in der EU unterlag bislang 27 verschiedenen nationalen Genehmigungssystemen, die sich in Verfahren, Umfang und Fristen erheblich unterscheiden. Diese Unterschiede stellten ein wichtiges Hindernis für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen dar - in wirtschaftlicher sowie technischer Hinsicht. Wichtig ist deshalb, dass die Kommission den nationalen Mitgliedstaaten auch weiterhin Richtlinien vorgibt, die für einen einheitlichen Rechtsrahmen sorgen. Verbindliche Gemeinschaftsinstrumente sind unerlässlich für eine höhere Effizienz der europäischen Verteidigungsmärkte! Es ist aber genauso wichtig für ein einheitliches europäisches Kontrollsystem. Die Bundesregierung kommt mit ihrem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5262 zur Umsetzung der Richtlinie zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern erstens ihrer Pflicht nach, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bis zum 30. Juni umzusetzen, und zweitens trägt sie damit zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes für Verteidigungsgüter bei. Deutschland wahrt seine legitimen Sicherheitsinteressen und sorgt gleichzeitig für die Einhaltung der Binnenmarktgesetze. Dies ist im Interesse aller: der Steuerzahler, der Streitkräfte und der Unternehmen. Dem Gesetzentwurf ist zuzustimmen.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute verabschieden wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Die sogenannte Verteidigungsgüterrichtlinie ist ein wichtiger Schritt zur Förderung eines europäischen Zu Protokoll gegebene Reden Marktes für Verteidigungsgüter. Die im Jahr 2009 verabschiedete Richtlinie 2009/43/EG ist Bestandteil des EU-Verteidigungspakets, zu dem ebenfalls die Richtlinie über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit sowie die Mitteilung „Eine Strategie für eine stärkere und wettbewerbsfähigere europäische Verteidigungsindustrie“ gehören. Die Verteidigungsgüterrichtlinie muss bis 30. Juni 2011 in deutsches Recht umgesetzt werden und bis zum 30. Juni 2012 in Kraft treten. In der Vergangenheit haben unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich zu einer Behinderung des Güterverkehrs und zu einer Verzerrung des Wettbewerbs geführt. Die Problematik der verschiedenen Verfahrensweisen wird laut der Europäischen Kommission an den geschätzten Mehrkosten von 433 Millionen Euro pro Jahr deutlich. Mit der Verteidigungsgüterrichtlinie schaffen wir es, das Genehmigungsverfahren für festgelegte Rüstungsexporte zu vereinfachen und den Handel innerhalb der Europäischen Union zukünftig zu erleichtern. Kernbestandteil der Richtlinie ist die Ausweitung des Anwendungsbereichs von Allgemein- und Globalgenehmigungen. Nach der bisher gängigen Praxis waren Einzelgenehmigungen für Rüstungsexporte auch innerhalb der Europäischen Union die Regel. Allgemeingenehmigungen, die von den Mitgliedstaaten veröffentlicht werden, gelten nach Vorgabe der Verteidigungsgüterrichtlinie, wenn es sich bei dem Exportempfänger um die Streitkräfte eines EU-Mitgliedstaates oder um ein durch ein Zertifizierungsverfahren berechtigtes Unternehmen in einem EU-Mitgliedstaat handelt. Hinzu kommen vorübergehende Exporte für Vorführungen, Gutachten, Ausstellungen bzw. zur Wartung und Reparatur an den ursprünglichen Lieferanten. Die bereits angesprochene Globalgenehmigung wird für einen Zeitraum von mindestens drei Jahren an einen bestimmten Lieferanten erteilt, der dann zur Lieferung von Verteidigungsgütern an einen festgeschriebenen Empfängerkreis in einem bzw. mehreren EU-Mitgliedstaaten berechtigt ist. Die deutsche Verteidigungsindustrie wird einen großen Nutzen aus dem vereinfachten Genehmigungsverfahren ziehen. Unternehmen können in Zukunft Verteidigungsgüter exportieren, ohne zuvor eine Einzelgenehmigung beantragen zu müssen. Dies wird zu kürzeren Lieferzeiten führen und den Unternehmen auf längere Sicht Planungssicherheit verschaffen. Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es die Neuregelung gerade kleinen und mittleren Unternehmen ermöglichen wird, sich im europäischen Verteidigungsmarkt zu etablieren. Wir alle sind uns bewusst, dass die europäische Integration in einem solch sensiblen Bereich nur unter strengen Voraussetzungen vollzogen werden darf. Eine Vereinheitlichung der Genehmigungsverfahren der EU-Mitgliedstaaten darf nicht zu einer Aushöhlung unserer nationalen Exportkriterien führen. Die wichtigste Voraussetzung für die Umsetzung der Richtlinie 2009/43/ EG ist für mich daher, dass die Mitgliedstaaten die Kontrolle über ihre eigenen Rüstungsexportkriterien behalten. Unsere inhaltlichen Maßstäbe für die Beurteilung von Rüstungsexporten - die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ sowie der „Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union“ von 2008 - bleiben unverändert bestehen. Ferner bleiben die Bestimmungen über Exporte in Drittstaaten unberührt. Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen weiterhin einzelfallbezogen und unter besonderer Berücksichtigung der außenpolitischen Situation sowie der Menschenrechtslage im Empfängerland. Genehmigungen werden auch in Zukunft nur erteilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland sichergestellt ist. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG nachgekommen. Durch die daraus resultierende Entbürokratisierung der Exporte von Verteidigungsgütern innerhalb der Europäischen Union wird die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungsindustrie gestärkt. Darüber hinaus bringt die Verteidigungsgüterrichtlinie eine Vereinfachung der Belieferung der Bundeswehr mit Verteidigungsgütern mit sich. Nicht vergessen werden darf in der Debatte, dass auch die Exportkontrollbehörden durch das neue Verfahren entlastet werden und sich in Zukunft stärker auf die Kontrolle von Rüstungsexporten in Drittländer konzentrieren können. Die Angleichung der Genehmigungsverfahren für Rüstungsexporte innerhalb der Europäischen Union, die nun mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung umgesetzt wird, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Umsetzung einer EU-Richtlinie. Es handelt sich dabei um die Richtlinie der Europäischen Union zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Ziel dieser Richtlinie ist die Vereinfachung der Vorschriften und Verfahren für die Verbringung von Verteidigungsgütern zwischen den EU-Mitgliedstaaten. So soll das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sichergestellt und mögliche Wettbewerbsverzerrungen abgeschafft werden. Darüber hinaus sollen Innovationen, industrielle Zusammenarbeit und Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungsindustrie der EU gefördert werden. Im deutschen Recht müssen dafür das Außenwirtschaftsgesetz, AWG, die Außenwirtschaftsverordnung, AWV, die Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr, das Kriegswaffenkontrollgesetz, KrWaffKontrG, sowie die Erste Verordnung über Allgemeine Genehmigungen nach dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen geändert werden. Der SPD-Bundestagsfraktion ist es besonders wichtig, dass sichergestellt ist, dass durch eine europäische Harmonisierung die deutschen Regeln nicht aufgeweicht werden, und sie möchte, dass an den restriktiven deutschen Rüstungsexportregeln auch in den EU-Bestimmungen festgehalten wird. Dazu haben wir auch einen Antrag mit dem Titel „Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten“ eingebracht. Wir möchten zu einer „Kultur der Zurückhaltung“ und „restriktiven“ BeZu Protokoll gegebene Reden handlung von Rüstungsexporten zurückkehren und wollen die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwässern. Außerdem mahnen wir eine schnellere und verlässlichere Veröffentlichung des Rüstungsexportberichtes, spätestens sechs Monate nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres, an. Was soll sich aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern? In Zukunft ist die Erteilung von Allgemeinen Genehmigungen und Globalgenehmigungen, Sammelausfuhrgenehmigungen, vorgesehen. Außerdem werden ein europaweites Zertifizierungsverfahren und ein Kommunikationsportal beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingeführt. Konkret sieht es so aus, dass für die Allgemeinen Genehmigungen die existierende und schon in § 1 Abs. 2 AWV normierte Allgemeinverfügung genutzt wird, während das Kriegswaffenkontrollgesetz, welches den Erlass von Allgemeinen Genehmigungen nur in Sonderfällen vorsieht, dementsprechend geändert wird, dass Allgemeine Genehmigungen als Verordnungen der Bundesregierung erteilt werden können. Durch die nun vorliegende Gesetzesänderung wird die freiwillige Zertifizierung des ausführenden Unternehmens eingeführt. Eine vorherige Zertifizierung wird zwar den Verwaltungsaufwand der ausführenden Unternehmen im Genehmigungsverfahren verringern und langfristig die Verwaltungskosten reduzieren. Trotz allem dürfen die Zertifikate nicht „ewig“ gelten. Im Entwurf ist eine maximale Gültigkeit von höchstens fünf Jahren vorgesehen. Jedoch sollte die Maximaldauer nur in seltenen Fällen ausgenutzt werden. Eine kürzere Geltungsdauer birgt die Möglichkeit, bei Neubeantragung regelmäßig und in kürzeren Abständen die Voraussetzungen für die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Antragsteller zu überprüfen; denn wir reden über den hochsensiblen Bereich der Rüstungsexporte. Hier sollten wir häufiger hinschauen und prüfen. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für Transparenz gerade bei der Ausfuhr von Gütern in diesem hochsensiblen Bereich ein. Aus diesem Grund begrüßen wir die Normierung der bisher schon geltenden Praxis zu den Informations- und Buchführungspflichten. Jedoch ist es unbefriedigend, dass Endverwendung und Endverwender nur, soweit bekannt ist, angegeben werden müssen. Hier wäre eine striktere Regelung angebracht gewesen, um den Endverbleib überprüfen und sicherstellen zu können und den ungewollten Weitertransport zu minimieren bzw. auszuschließen. Auch Verteidigungsgüter im Sinne des Gesetzes bzw. der Richtlinie müssen dem Grundsatz der Endverbleibsklausel unterliegen. Die durch das vorliegende Gesetz vorgesehenen Änderungen setzen die europäischen Vorgaben um. Die Regelungen gelten für die Lieferung oder Beförderung von Waffen bzw. sonstigen Gütern, die militärisch genutzt werden können, zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für andere Lieferungen außerhalb der Europäischen Union gelten die bisherigen Regelungen weiterhin. Auch wenn es sich also nur um die Umsetzung von europäischen Vorgaben handelt, gilt gerade vor dem Hintergrund der Allgemeinen Genehmigungen und Globalgenehmigungen das Gebot der besonderen Wachsamkeit an den EU-Außengrenzen. Wir brauchen größtmögliche Transparenz bezüglich eventueller Weiterverbringung dieser hochsensiblen Güter aus der Europäischen Union.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern ist ausdrücklich zu begrüßen. Mit dem eingebrachten Entwurf des Gesetzes soll eine Rechtslage geschaffen werden, die sowohl den Standort Deutschland als auch den europäischen Rüstungsmarkt durch die angestrebte Vereinfachung und den Bürokratieabbau im Rahmen der Zertifizierung von Rüstungsgütern attraktiver macht, die Rechtssicherheit für Rüstungsgüter deutlich verbessert und sich punktgenau auf das Wesentliche ausrichtet. Die diesem Entwurf zugrunde liegende Idee, die Kooperationsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie zu stärken, ist als zentrale Komponente einer zukünftigen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausdrücklich und nachhaltig zu begrüßen. Die sinnvolle Umsetzung der Richtlinie wird die anfallenden Kosten für die Unternehmen auf ein Mindestmaß reduzieren und durch die innovative Umsetzung der Zertifizierungsverfahren Kosteneinsparungen für Unternehmen und Mitgliedstaaten mit sich bringen. Die Umsetzung der Richtlinie soll der Vereinheitlichung des Zertifizierungsverfahrens im europäischen Rüstungsmarkt dienen und wird diesem Ziel auch gerecht. Die Einführung eines empfängerbezogenen Zertifizierungsverfahrens, im Zusammenhang mit der Allgemeingenehmigung, kann zwar zu anfänglichen zusätzlichen Kosten auf Behörden- und Unternehmensseite führen. Auf mittelfristige Sicht wird es aber durch den unkomplizierteren Warenaustausch zu wechselseitigen Einsparungen kommen. Das Zertifizierungsverfahren stellt einen grundlegenden Systemwechsel im Ausfuhrgenehmigungsverfahren der Mitgliedstaaten dar. Die Allgemeinen Genehmigungen entlasten die betreffenden Unternehmen in ihrem Anwendungsbereich von dem Erfordernis, Einzel- bzw. Sammelausfuhrgenehmigungen zu beantragen. Die zertifizierten Unternehmen werden nun größere Rechts- und Planungssicherheit beim Bezug von Verteidigungsgütern erlangen. Zudem werden - unabhängig von der Umsetzung der Verteidigungsgüterrichtlinie die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Verwaltungsakte im Außenwirtschaftsverkehr im Zuständigkeitsbereich des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, elektronisch zu beantragen und zu übermitteln. Durch Nutzung des elektronischen Kommunikationsportals des BAFA kann es zu weitergehenden Kosteneinsparungen der betreffenden Unternehmen kommen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den Gesetzentwurf als maßgeblichen Schritt zur Vereinfachung der Verbringung von Rüstungsgütern und zur Schaffung einheitlicher Marktstandards auf dem europäischen Rüstungsmarkt. Hiervon profitieren sowohl die Streitkräfte der europäischen Mitgliedstaaten als auch die Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Lindner ({0}) von dieser Richtlinie erfassten Verteidigungsgüter produzierenden Unternehmen. Wir sind davon überzeugt, dass mit den in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen die europäischen Vorgaben erreicht werden, die Rechtssicherheit für deutsche Rüstungsunternehmen gestärkt und die Genehmigungsverfahren von Rüstungsgütern im europäischen Binnenmarkt entscheidend verbessert werden.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die EU-Richtlinie zur Verein- fachung der Bedingungen der Verbringung von Rüs- tungsgütern innerhalb der EU - kurz: Verteidigungs- güterrichtlinie - in nationales Recht umsetzen soll. Im Kern geht es um die Schaffung eines Lizensierungssys- tems. Es soll europäischen Rüstungsfirmen ermöglichen, nach Durchlaufen einer Zuverlässigkeitsprüfung, eine zeitlich befristete Genehmigung für den Austausch von Rüstungsgütern mit anderen, lizensierten Unternehmen zu erhalten. Einzelne Ausfuhren müssen dann nur noch im Nachhinein gemeldet werden. Die Verbringung von Rüstungsgütern innerhalb der EU wird also vereinfacht und die Kontrolle gelockert. Die vorliegenden Ände- rungsvorschläge für das Außenwirtschaftsgesetz, die Außenwirtschaftsverordnung, das Kriegswaffenkontroll- gesetz und die Verordnung über allgemeine Genehmigun- gen setzen die Forderung der europäischen Richtlinie fast wörtlich um. Die Kriterien für die Zuverlässigkeits- prüfung werden direkt in nationales Recht überführt. Verstöße werden mit Bußgeldern belegt, was ebenso den Forderungen der EU entspricht. Eine solch direkte und gesetzlich bindende Umset- zung einer EU-Richtlinie hätte ich mir persönlich auch für den Gemeinsamen Standpunkt der EU für die Kon- trolle der Ausfuhr von Militärtechnologien und Militär- gütern gewünscht. Mit gesetzlicher Bindungskraft hätten die dort enthaltenen Kriterien für Rüstungsexporte zahl- reiche Ausfuhren deutscher Firmen in äußerst fragwür- dige Empfängerländer verhindert. Andere Staaten sind uns da einen Schritt voraus und haben dem Kodex diese gesetzliche Bindungskraft verliehen. Auf europäischer Ebene besteht in der Konsequenz ein Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten der EU, was die Einhaltung des EU-Kodex für Rüstungsausfuhren betrifft. Ähnliche Un- terschiede in der Anwendung sind auch bei der Verteidi- gungsgüterrichtlinie zu befürchten. Die Staaten sind zwar angehalten sich über mögliche Verstöße und Fehl- verhalten der Rüstungsfirmen auszutauschen, eine Überwachung oder zumindest Unterstützung durch eine europäische Einheit ist jedoch nicht vorgesehen. Somit bleibt es fraglich, ob die Zertifizierungsstandards tat- sächlich überall gleich streng angewandt und über- wacht werden. Fälle sind denkbar, in denen Mitglied- staaten aus nationalen Interessen davon absehen, fragwürdige Geschäftspraktiken von Unternehmen bzw. Verstöße gegen die Zertifizierungskriterien gegenüber den anderen Mitgliedstaaten anzuzeigen. Die strategi- sche Bedeutung der Rüstungsindustrie wird mancherorts äußerst stark gewichtet, und somit bestünde hier ein be- sonderer Anreiz, das Regelwerk zumindest bis aufs Äu- ßerste auszureizen. Auch wenn die Verteidigungsgüterrichtlinie formell die Ausfuhr von Rüstungsgütern an Staaten jenseits der Grenzen der Europäischen Union nicht berührt, sind auch hier Auswirkungen zu befürchten. Teilkomponen- ten, die im Rahmen der hier vorgeschlagenen Änderun- gen leichter in andere EU-Mitgliedstaaten geliefert wer- den, könnten dort verbaut und weiter ausgeführt werden. Da die Exportstandards und Exportpolitiken der ande- ren Mitgliedstaaten teilweise weniger streng sind als die der Bundesregierung, ist zu befürchten, dass noch mehr deutsche Rüstungsgüter weltweit in den Umlauf gelan- gen und auch kritische Empfängerländer deutsche Rüstungsgüter erhalten. Wer nun auf die deutsche End- verbleibskontrolle und Reexportklauseln verweist, dem möchte ich das Beispiel der mit deutschen Komponenten bestückten Panzerabwehrraketen vor Augen führen, die via Frankreich auf beiden Seiten des Libyen-Konfliktes ihren Dienst verrichten. Die aufgezeigten Risiken sind natürlich nicht aus- schließlich an dem vorgelegten Gesetzentwurf festzuma- chen, er trägt aber zu einer Aufweichung des deutschen Rüstungsexportregimes bei. Das dürfen wir nicht zulas- sen, schon gar nicht auf diese Art und Weise, auf die die Bundesregierung versucht hat, diesen Gesetzentwurf völlig ohne Debatte durch das Parlament zu bringen. Als Grünenfraktion werden wir ihn deshalb ablehnen. Die Bundesregierung wäre besser beraten, sich europaweit für eine restriktivere und besser kontrollierte Rüstungs- exportpolitik einzusetzen. Was die Transparenz und par- lamentarische Kontrolle der Genehmigungspraxis der Regierung betrifft, sind uns viele unserer europäischen Nachbarn deutlich voraus. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen. Wenn europäische Standards verein- heitlicht werden, dann sollte dies nicht nur bei der ver- einfachten Verbringung, sondern vor allem auch bei der Ausfuhrkontrolle geschehen!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5794, den Gesetz- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5262 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koali- tionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? - Keine. Der Ge- setzentwurf ist in der zweiten Beratung so angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis wie in der vorherigen Abstimmung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so- wie den Zusatzpunkt 6 auf: Vizepräsident Eduard Oswald a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth ({1}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut - Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO in der „Global Health Governance“ stärken - Drucksachen 17/5486, 17/5800 - Berichterstattung: Abgeordneter Stephan Stracke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Dr. Harald Terpe, Marieluise Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Global Health Governance“ stärken - Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern voranbringen - Drucksachen 17/3437, 17/5801 Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Weiss ({4}) Karin Roth ({5}) Helga Daub Niema Movassat Uwe Kekeritz ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen - Für eine unabhängige und ef- fektive WHO - Drucksache 17/5769 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.1) - Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin- nen und Kollegen liegen dem Präsidium hier vor. Tagesordnungspunkt 19 a. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der Sozialdemokraten mit dem Titel „Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut - Rolle der Weltgesundheitsor- ganisation WHO in der ‚Global Health Governance‘ stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5800, den Antrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/5486 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen. 1) Anlage 12 Tagesordnungspunkt 19 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „,Global Health Governance‘ stärken - Gesundheitsversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern voranbringen.“ Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5801, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3437 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5769 mit dem Titel „Vertrag zwischen IAEO und WHO vom Mai 1959 kündigen - Für eine unabhängige und effektive WHO“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke, und das ist eine Stimme der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der SPD mit einer Ausnahme. Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Situation der Sinti und Roma in Europa verbessern - Drucksache 17/5767 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

10 bis 12 Millionen Roma leben in Europa. Sie bilden in den europäischen Staaten die größte historisch gewachsene ethnische Minderheit. Zu ihnen zählen neben der Gruppe der Sinti die Kalé, Gitanos, Manouches, Fahrende und Gens du Voyage. Die Aufzählung der Gruppen, die sich selbst zu den Roma zählen, ist Indiz für die Vielzahl der Traditionen, unterschiedlicher Lebensweisen und Lebenssituationen. Die Kultur der Roma ist fester Bestandteil ihrer ethnischen Identität. Ihre religiösen Bräuche sind untrennbar mit kulturellen Ausdrucksformen verbunden. Unser Antrag erwähnt auch, dass die Sprache der Roma, ihre Reinheitsgebote und ihr Rechtssystem feste Bestandteile ihrer Identität in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung sind. Heute sind schätzungsweise 80 Prozent der Roma sesshaft. Mehr als 1 800 nationale Romaorganisationen gehören dem European Roma and Travellers Forum an, das eine privilegierte Stellung innerhalb des Europarates einnimmt und dem Teilnahme an den Entscheidungsprozessen des Europarates eingeräumt sowie dessen Unterstützung zugesichert werden. Auch die große Vielfalt innerhalb der Roma-Gemeinschaft bringt es mit sich, dass keine pauschalen Lösungen für die Verbesserung der Situation dieser Minderheit aus dem Ärmel geschüttelt werden können. Und doch sind bereits - ungeachtet der noch immer in vielen Ländern Europas schwierigen Situation der Roma - erste Lösungsansätze gefunden, die es dringend zu implementieren gilt. Wichtig ist - das will ich betonen -, dass sowohl die EU-Mitgliedstaaten mit ihren nicht den Roma angehörenden Bürgerinnen und Bürgern als auch die Roma und ihre Organisationen selbst in gemeinschaftlicher Verantwortung an den notwendigen Verbesserungen mitarbeiten wollen und müssen. Es reicht nicht, zu fordern und die Rahmenbedingungen für eine Integration der Roma-Kinder und der Jugendlichen ins Schulsystem der europäischen Staaten zu schaffen. Die Roma müssen ihren Kindern auch die Möglichkeit einräumen, die Schule zu besuchen. Der Anteil der Romakinder im Schulalter macht es dringend notwendig, dass die staatlichen Schulsysteme die Kinder aufnehmen. 35,7 Prozent der Roma sind unter 15 Jahre alt. Einer Erhebung des Open Society Institute aus dem Jahr 2008 zufolge besuchen nur rund 10 Prozent der Romakinder eine Sekundarschule, eine nur begrenzte Zahl schließt die Grundschule ab. Bildung jedoch ist der Schlüssel zur Integration. Schule weist Lebenschancen zu und ist in den Mitgliedstaaten der EU eine unverzichtbare Institution der Sozialisation. Diese Chancen müssen durch die jungen Roma ergriffen werden; denn der Mehrheit der Roma im erwerbsfähigen Alter fehlt die notwendige Bildung für zahlreiche Arbeitsstellen. Oft jedoch fehlt der Wille, der die Voraussetzung für Integration ist, der Wille, neue Wege zu gehen. Die Roma selbst sind aus ihren Traditionen heraus auf Separation bedacht. Nach wie vor sind Roma europaweit Intoleranz und Vorurteilen ausgesetzt. Sie sind insbesondere von Diskriminierung betroffen, vor allem in den gesellschaftlichen Bereichen des Wohnens, des Arbeitens, der Bildung und der medizinischen Versorgung. Diese Diskriminierung findet weniger durch die jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen, sondern aus dem Alltagsverständnis der Menschen heraus statt. Die Problemlage ist also sehr komplex. Umso begrüßenswerter sind die Ansätze auf europäischer Ebene. Für die Förderung der Integration der Roma steht bereits ein legislatives, finanzielles und politisches Instrumentarium zur Verfügung. Mit verschiedenen Strukturfonds, wie mit dem Europäischen Sozialfonds, hält die EU Geldmittel bereit, die auch für die gesellschaftliche Integration der Roma und anderer benachteiligter Gruppen in Anspruch genommen werden können. Unter dem spanisch-belgisch-ungarischen Ratsvorsitz wurde die soziale und wirtschaftliche Integration der Roma zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Am 5. April 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Mitteilung zu einem europäischen Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma. Sie veranschlagt im EU-Haushalt dafür bis zu 26,5 Milliarden Euro, um die Mitgliedstaaten bei ihren Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Integration auch der Minderheit der Roma zu unterstützen. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten zählen zu den Kopenhagener Kriterien. Diese müssten eigentlich alle Staaten erfüllen, bevor sie der Europäischen Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen Bereichen auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in der Frage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund, dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt. In Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskriminierung noch eine Ausgrenzung der Roma. Aber es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem Hause vermutlich klar. Wichtig ist, dass die in Deutschland lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben. Deutschland trägt bereits auf europäischer Ebene zur Integration der Roma bereits auf vielfältige Weise bei. In den Ländern des westlichen Balkans fördert Deutschland aktiv sowohl in internationalen Foren wie der OSZE und des Europarates als auch durch verschiedene bilaterale Projekte die Integration der Roma. Ein Beispiel ist die Förderung zahlreicher Projekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen des Stabilitätspaktes sowie im Rahmen der Menschenrechte. Viel gemeinsame Arbeit ist noch zu leisten, durch die Mitgliedstaaten und alle Bürgerinnen und Bürger, Roma wie Nichtroma. Integration ist immer eine gemeinsame Sache und kann auch nur durch das Zusammenwirken der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gelingen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der uns seit diesem Mittwoch morgen vorliegende Antrag der CDU/CSU und FDP zu der Situation der Sinti und Roma liest sich, wie sich Waschlappen anfühlen. Keine einzige der zwölf Forderungen verlangt von der Bundesregierung in Zukunft ein Mehr an Engagement. Stattdessen bleiben Sie Ihrem „Weiter so!“-Motto treu. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie diesen Antrag tatsächlich aus bloßer Verlegenheit eingebracht haben. Ihr mangelndes Interesse an dem Thema und Ihre mangelnde Handlungsbereitschaft bleiben dennoch nicht verborgen. Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) Ich bedauere sehr, dass Sie Ungarn und dessen aktuellen EU-Ratsvorsitz für die Fortsetzung des Engagements in der Romadekade und bei der Verabschiedung des Rahmenbeschlusses für die nationalen Strategien zur Romaintegration loben, aber zu den aktuellen Vorkommnissen in Ungarn schweigen. Spätestens kurz vor Ostern wurde auch in unserer Presse bekannt, dass Rechtsradikale in Ungarn zurzeit Jagd auf Roma machen: „Kommt nur raus, ihr Zigeuner, heute Abend werdet ihr sterben“, so etwas musste der 13-Jährige von Rechtsextremisten verprügelte Romajunge aus Gyöngyöspata, einem 2 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Budapest, hören. Und das ist kein Einzelfall. „Schutzmachten“ und Bürgerwehren haben sich gebildet. Mit Schlägen, Steinen und Fackeln attackierten sie wiederholt die Romabewohner seines Dorfes. Zu Ostern gab es einen rechtsradikalen Ansturm auf das Dorf, woraufhin das Rote Kreuz 300 Romabewohner mit Bussen evakuierte. Die ungarische Regierung nannte dies einen „lang geplanten Ausflug“, ich nenne dies „Augen verschließen“. Die allgemeinen rechtsradikalen Tendenzen und die aktuellen Ausbrüche finden bei der rechtskonservativen Alleinregierung unter Victor Orban leider kein politisches Gegengewicht. Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass Sinti und Roma die bei weitem unbeliebteste ethnische Minderheit in Europa ist. Unabhängig davon, dass es generell diskriminierend ist, Sympathien nach Gruppenzugehörigkeiten zu verteilen - der Antiziganismus gewinnt in Europa an Fahrt, trotz zahlreicher guter Initiativen und Programmen der Europäischen Union. So begrüße ich ausdrücklich die Initiative des Europäischen Parlaments, welche alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, nationale Integrationsstrategien bis zum Ende des Jahres vorzulegen. Auch Sie erwähnen und begrüßen diese Strategie in Ihrem Antrag. Aber leider verpassen Sie die Möglichkeit, eine deutsche nationale Strategie anzukündigen und die Situation in unserem Land kritisch zu reflektieren. Es wird gefordert, die Wohn-, Bildungs-, Arbeitsund Gesundheitssituation in anderen europäischen Ländern zu verbessern. Sicherlich gibt es Abstufungen: Roma in Ungarn, Rumänien oder der Slowakei leben unter noch schwierigeren Bedingungen als in Deutschland. Aber Zoni Weisz hat bei seiner Rede im Januar 2011 vor dem Deutschen Bundestag keinen Zweifel gelassen: Wir müssen uns auch in Deutschland mit der Lebenssituation der Sinti und Roma beschäftigen. Auch in Deutschland sind Romakinder überdurchschnittlich häufig in Haupt- und Sonderschulen beschult, haben kaum Aussicht auf höhere Bildungsabschlüsse oder reguläre Beschäftigung. Wir müssen uns hier im Rahmen der nationalen Integrationsstrategien mit Romaverbänden und dem Zentralrat zusammensetzen und gemeinsam Lösungsansätze entwickeln. Etwas mehr hätte ich mir auch zu dem Thema Rückführungen in das Kosovo versprochen. Denn auch Sie wissen, die Lebenssituation von Roma, Ashkali und Ägyptern ist im Kosovo von Diskriminierung und daraus resultierender extremer wirtschaftlicher Not geprägt. Deshalb muss unserer Meinung nach in jedem Einzelfall besonders sorgfältig geprüft werden, ob den Betroffenen die Rückkehr ausnahmsweise zumutbar ist. Ist dies nicht der Fall, darf keine Abschiebung erfolgen. Es gibt nach wie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahme- und Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder mittellose Rückkehrer. Unterstützung gibt es weder von kosovarischen noch von internationalen Institutionen. Zwar hat die kosovarische Regierung 2007 ein Programm zur Reintegration von Rückkehrern aufgelegt. Aber die Behörden halten ihre diesbezüglichen Verpflichtungen nicht ein. Abgeschobene Rückkehrer sind deshalb entweder völlig auf sich selbst gestellt oder auf Hilfe aus dem Familienverbund angewiesen. Eine UNICEF-Studie belegt dies und weist auf die Auswirkungen hin: Kinder können nicht mehr in die Schule gehen, Familien leben wohnungs- und obdachlos. Perspektive: null. Ich frage mich, wie Sie dies in Kenntnis dieser Situation mit Ihrem christlichen Gewissen und mit unserem Grundgesetz zu rechtfertigen glauben. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie die Aufforderung zur Entwicklung einer nationalen Strategie ernst, entwickeln Sie diese mit den Romaverbänden und dem Zentralrat. Holen Sie die Bundesländer und Gemeinden ins Boot. Stoppen Sie die unreflektierten Abschiebungspläne und setzen Sie sich für eine humanere Lösung ein. Nehmen Sie Ihre Verantwortung innerhalb Europas wahr und verwandeln Sie Ihr „Weiter so!“ in ein „Mehr Engagement“. Wie Sie das machen können, dürfen Sie gern unserem demnächst eingereichten Antrag entnehmen.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wie wir im März angekündigt haben, bringen wir nun einen eigenen Antrag der christlich-liberalen Koalition zur Integration der Sinti und Roma in den Deutschen Bundestag ein. Inhaltlich ausgewogen und sachorientiert, zielt er auf eine effektive Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Roma und Sinti in Deutschland und Europa ab. Der als „Porajmos“ bezeichnete Völkermord an den europäischen Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus bedingt die besondere historische Verantwortung Deutschlands gegenüber diesen Menschen. Mit seiner bewegenden Rede in diesem Haus hat uns Zoni Weisz am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, an unsere Geschichte erinnert. Er war der erste Vertreter der Sinti und Roma, der bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages das Wort ergriffen hat. Mit dem Begriffspaar „Sinti und Roma“ wird die etwa 10 bis 12 Millionen Menschen umfassende und damit größte ethnische Minderheit Europas bezeichnet. Es ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Volksgruppen, die in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beheimatet sind. Sie leben bereits seit Jahrhunderten in Europa. Sie gehören zu uns, das wird allzu häufig vergessen. Seit einigen Jahren beobachten wir europaweit erschreckenderweise einen zunehmenden Schub von Rassismus und Nationalismus, der sich häufig gegen Sinti und Roma richtet. So auch derzeit in Ungarn, wo die rechtsextreme und offen antiziganisch auftretende Partei Jobbik als drittstärkste Partei im ungarischen Parlament sitzt. Eine selbsternannte Bürgerwehr hat in den Zu Protokoll gegebene Reden letzten Monaten mehrfach mit provokanten Aufmärschen die ungarischen Roma in Angst und Schrecken versetzt. Wie es scheint, reicht dieses rechtsextreme Gedankengut auch bis tief in die ungarische Polizei hinein. In vielen Ländern Europas sind Sinti und Roma Intoleranz und Vorurteilen ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Alltag findet ihre Diskriminierung vor allem in den Bereichen des Wohnens, des Arbeitens, der Bildung und der medizinischen Versorgung statt. Die Situation großer Teile der Sinti und Roma hat sich während der letzten Jahrzehnte in dieser Hinsicht erheblich verschlechtert. Heute wohnen diese Menschen häufig segregiert, teilweise kommt es zu einer Ghettoisierung, ihre Stadtviertel werden stigmatisiert. Europaweit werden überdurchschnittlich viele ihrer Kinder in Sonderschulen oder in reine Schulen für Sinti und Roma mit vereinfachtem Lehrplan abgeschoben. Dadurch erhalten ihre Kinder eine deutlich schlechtere Schulbildung als ihre Altersgenossen, verlieren jede Chance auf gesellschaftliche Integration, Arbeit und damit auf individuelle Freiheit. Dies verstärkt Armut und Perspektivlosigkeit unter den Sinti und Roma und fördert ihre soziale, kulturelle und wirtschaftliche Ausgrenzung. Teilweise werden sie sogar Opfer von offener, fremdenfeindlicher, körperlicher Gewalt. Darüber hinaus ist uns als FDP besonders daran gelegen, auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Überdurchschnittlich häufig werden Sinti und Roma Opfer von Menschenhandel; in einigen EU-Staaten machen sie bis zu 80 Prozent der Opfer aus. Meist geschieht dies zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangsarbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der Armut dieser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart mit Perspektivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zu rechtsstaatlichen Mitteln. Daher halte ich es für richtig, dass unser Antrag die Bundesregierung auffordert, auch in Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels verstärkt auf die Sinti und Roma zu achten. Unser vorliegender Antrag benennt all diese komplexen und interdependenten Probleme deutlich. Auch die Bundesregierung hat diese Probleme erkannt und beteiligt sich aktiv an nachhaltigen Lösungen auf nationaler, aber eben besonders auf europäischer Ebene. In Deutschland - um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen - arbeitet die Bundesregierung im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zusammen. Sie unterstützt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und stärkt damit die Forschungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Auch die Bundesländer und Kommunen sind in Form von kulturellen und sozialen Projekten sehr aktiv, um die gesellschaftliche Integration der Sinti und Roma zu fördern, wobei gleichzeitig ihre Identität, Kultur und Sprache gewahrt werden müssen. Anhand einiger Beispiele möchte ich außerdem kurz verdeutlichen, dass die Bundesregierung auch ihre internationalen Verpflichtungen und ihre Verantwortung gegenüber den Sinti und Roma ernst nimmt. Aktuell ist die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht bemüht, ihre Integration in Deutschland und Europa zu unterstützen. Dazu gehört nicht nur die aktive Rolle der Bundesregierung in internationalen Foren wie der OSZE oder dem Europarat. Das Auswärtige Amt fördert zahlreiche Menschenrechtsprojekte zur Unterstützung der Sinti und Roma im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Die Bundesregierung unterstützt EU-weite Kampagnen wie „Dosta!“, die durch Aufklärung zum Abbau von Vorurteilen und Ausgrenzung beitragen, und macht sich in der EU dafür stark, die Europäische Grundrechtecharta als Teil des Primärrechts konsequent in die Praxis umzusetzen. Genau hier müssen wir unsere Arbeit fortsetzen und uns um eine europaweite Integration der Sinti und Roma bemühen. Folgerichtig fordert unser Antrag daher die Bundesregierung auf, sich weiterhin bi- und multilateral für die Verbesserung der Situation der Sinti und Roma in Europa einzusetzen. Zoni Weisz hat uns ermahnt, es dürfe nicht sein, dass Sinti und Roma im 21. Jahrhundert immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt werden. Ich denke, unser Antrag zeugt davon, dass wir uns seine Mahnung zu Herzen nehmen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bereits zum dritten Mal befasst sich das Plenum des Deutschen Bundestages in diesem Jahr, also 2011, mit der Situation der Sinti und Roma in der Geschichte und aktuell, in Europa und hierzulande. Das ist bemerkenswert, aber auch nötig. Sinti und Roma sind die in Europa am meisten - vielfach systematisch - diskriminierte Bevölkerungsgruppe. In Frankreich wurden sie des Landes verwiesen. In Rumänien müssen sie in Ghettos leben. In der Slowakei wurde ihnen gleichberechtigte Bildung verwehrt. In Ungarn trommeln rechte Schlägertrupps zur Hatz gegen sie, ohne dass der Staat die so bedrohten Sinti und Roma hinreichend schützt. Aber auch die Bundesrepublik Deutschland ist nicht frei von Schuld. Zwei Drittel aller hier lebenden Sinti und Roma fühlen sich benachteiligt und ausgegrenzt, schätzt der Zentralrat der Sinti und Roma ein. Und der Deutsche Presserat gibt kund: In jeder seiner Sitzungen müsse er sich mit Beschwerden zum medialen Umgang mit Sinti und Roma befassen. Ich belasse es bei dieser knappen Schilderung. Aber schon sie zeigt: Es gibt akuten Handlungsbedarf. Die EU-Kommission hat Anfang April 2011 einen „Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ beschlossen. Nach einer umfangreichen Analyse mit Handlungsempfehlungen mündet er in das „Fazit: Jetzt ist Handeln angezeigt“, und zwar im Dreiklang „EU, national und regional“. Diesem Anliegen, so unterstelle ich positiv, folgen die CDU/CSU und die FDP mit ihrem Antrag „Situation der Sinti und Roma in Europa verbessern“, zumal einige Passagen textgleich mit der EU-Vorlage sind. Aber das ist noch kein Gütesiegel. In der Kürze der Zeit kann ich nur auf wenige Mängel hinweisen. Sie beginnen bei den zwölf Schlussfolgerungen. Bestenfalls vier davon haben etwas mit der Lage der Sinti und Roma hierzulande zu tun. Zwei Drittel klingen wie ein außenpolitisches Kommuniqué. Ich finde, Zu Protokoll gegebene Reden die Linke findet: So darf man sich vor den eigenen Problemen nicht wegducken. Ich empfehle den Antragsstellern zudem: Geben Sie ihre zwölf Empfehlungen einmal Bürgerinnen und Bürgern zu lesen, die nicht im Politikdeutsch verfangen sind. Ich garantiere, die werden nur „Bahnhof“ verstehen, so allgemein und unverbindlich sind sie formuliert. Niemand wird dort ein entschlossenes „jetzt ist Handeln angezeigt“ herauslesen. Sie weichen akuten Problemen weiterhin stur aus. Drei will ich exemplarisch benennen: Erstens. CDU/ CSU und FDP bleiben bei der umstrittenen Abschiebepraxis von Sinti und Roma ins kriegs- und krisengeschüttelte Kosovo, also ins asoziale Unbestimmte. Laut UNICEF erzeugt die Bundesrepublik Deutschland damit - Zitat - „eine Generation entwurzelter Flüchtlingskinder“, Kinder übrigens, die zum größten Teil hier geboren wurden und hier zuhause sind. Das ist inhuman und unverantwortlich. Zweitens. Ich finde es unbillig, wenn CDU/CSU und FDP in anderen EU-Ländern gleichberechtigte Bildung für Sinti und Roma fordern, daheim aber nichts dafür tun. Auch hierzulande haben Sinti- und Romakinder keine gleichberechtigten Bildungschancen. Die Bundesregierung beklagt es und erklärt sich zugleich für nicht zuständig. Das ist schizophren, aber logisch, weil das Bildungssystem falsch ist. Auch darüber ist zu reden. Drittens und abschließend: Natürlich fehlt nicht der Verweis auf die Geschichte der Sinti und Roma, auf den Versuch des NS-Regimes, sie auszurotten, und auf die dadurch wahrzunehmende besondere Verantwortung Deutschlands. Ein Denkmal südlich des Reichstagsgebäudes soll demnächst daran erinnern. Viele Sinti und Roma haben eine viel irdischere Sorge. Die Gräber ihrer Holocaustüberlebenden sollen eingeebnet werden, weil deren Frist nach deutscher Friedhofsordnung abgelaufen sei. Holocaust und deutsche Friedhofsordnung? Ich finde das instinktlos und geschichtsvergessen. Aber auch dazu findet sich im Koalitionsantrag kein Lösungsvorschlag. Die Linke plädiert für eine ehrliche und offene Beratung des vorliegenden Antrags in den Ausschüssen. Wir sind dazu bereit. Dazu gehört aber auch, dass man die Unbill der Sinti und Roma nicht länger als fremdes Leid ansieht, sondern als gesellschaftliches Problem. Es geht auch nicht um Minderheitenrechte, sondern um verbriefte Bürgerrechte. Ergo: Jetzt ist Handeln wirklich angesagt!

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung für die Verbesserung der Situation der Sinti und Roma in Europa einsetzen will. Es bleibt nur die Frage, warum die Koalitionsfraktionen nur nach Rumänien, Ungarn und Bulgarien blicken, anstatt damit anzufangen, die Lage der Roma und Sinti hier in Deutschland zu verbessern. So würde die Bundesregierung zugleich mehr Glaubwürdigkeit gegenüber den EU-Mitgliedstaaten gewinnen, wenn es darum geht, die Diskriminierung der Sinti und Roma in diesen Ländern anzugehen, was richtig und wichtig ist. Die Bundesregierung kritisiert die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung der Roma und Sinti in Europa zu Recht. Im Kosovo werden Roma beispielsweise sowohl auf ethnischer als auch auf religiöser und gesellschaftlicher Ebene diskriminiert. Kosovo-Roma sind dort gravierenden Einschränkungen in Bezug auf ihr Recht auf Freizügigkeit und ihre anderen fundamentalen Menschenrechte ausgesetzt, einschließlich schwerwiegender gesellschaftlicher und administrativer Diskriminierungen, die sie insbesondere daran hindern, ihre politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte auszuüben. UNHCR beobachtet ihre Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Gesundheitswesen, Bildung, Recht auf Eigentum und Zugang zu Polizei und Gerichten. Trotz all dieser offensichtlichen und zum Beispiel von UNICEF gut dokumentierten Missstände hat sich die Bundesregierung entschieden, am 12. April 2010 ein Rücknahmeabkommen mit der kosovarischen Regierung abzuschließen, das die Rückführung von fast 12 000 Angehörigen der Minderheiten der Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter vorsieht. Da hilft es auch nicht, wenn die Bundesregierung behauptet, sie würde die Rückkehrer mit Angeboten und dem Rückkehrprojekt „URA II“ unterstützen. Die Unterstützungsmaßnahmen werden nur in Priština angeboten, also kann nur eine geringe Anzahl von Personen davon profitieren, da der Großteil der zurückgeführten Roma nicht in Priština lebt. Fahrten nach Priština können sich aber nur die Wenigsten leisten. Die Hilfsangebote laufen also ins Leere. Außerdem dürfen nur Rückkehrer aus BadenWürttemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt an „URA II“ teilnehmen. Roma aus anderen Bundesländern erhalten diese Hilfe nicht. Schließlich läuft die Unterstützung durch „URA II“ schon nach sechs Monaten aus. Das erwähnt die Bundesregierung nicht, auch nicht die Tatsache, dass „URA II“ nichts daran ändert, dass Roma im Kosovo weder eine Lebensperspektive noch Lebensgrundlage finden. Eine Eingliederung ist im Kosovo nicht möglich, weil es eigentlich nichts gibt, in das die Rückkehrer und ihre Familien eingegliedert oder integriert werden können. 90 Prozent der Roma im Kosovo sind arbeitslos und können keine wirtschaftliche Existenz aufbauen. Die kosovarischen Behörden haben schlichtweg nicht die Kapazitäten, 12 000 Angehörige von Minderheiten aufzunehmen und erfolgreich zu integrieren. Untersuchungen der OSZE haben ergeben, dass in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und Unterbringung keinerlei Maßnahmen oder finanzielle Mittel vorgesehen sind, um zurückgeführte Personen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Das führt dazu, dass diese Menschen oftmals über keinerlei Unterstützung verfügen oder keine Informationen über den Zugang zu den genannten minimalen Leistungen erhalten. Nicht grundlos richtete sich der Menschenrechtskommissar der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Thomas Hammerberg, an Bundeskanzlerin Angela Merkel und wies darauf hin, dass es derzeit unverantwortlich und inakzeptabel sei, Angehörige von Zu Protokoll gegebene Reden Minderheiten in das Kosovo abzuschieben. Erschwerend kommt hinzu, dass deutsche Behörden Angehörige der Roma oft ohne gültige Papiere in das Kosovo abschieben. Ohne gültige Personenstandsdokumente können aber keinerlei Hilfen oder Leistungen beantragt werden. Die Bundesregierung ist also dringend aufgefordert, niemanden ohne gültige Papiere in das Kosovo zurückzuführen und das deutsch-kosovarische Rücknahmeabkommen für Roma aus dem Kosovo auszusetzen. Besonders schwierig ist die Lage von Romakindern im Kosovo. 37 Prozent von ihnen leben in extremer Armut, das heißt von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag. Fast 5 000 Kinder sind von den durchgeführten oder geplanten deutschen Rückführungen in das Kosovo betroffen, zwei Drittel von ihnen sind hier in Deutschland geboren. Bei ihnen handelt es sich nicht um eine „Rückführung“, sondern um eine Abschiebung in ein fremdes Land. Eine Studie von UNICEF hat ergeben, dass drei von vier zurückgeführten Kindern im Kosovo die Schule nicht mehr besuchen. Dieses Ergebnis ist alarmierend. Ein beträchtlicher Anteil hat keine Geburtsurkunde und kann damit auch das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung oder soziale Unterstützung nicht durchsetzen. Sowohl in Deutschland als auch im Kosovo müssen viele Kinder in den Flüchtlingsfamilien wegen chronischer Erkrankungen der Erwachsenen viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen. In Deutschland schränkt das Ausländer- und Asylrecht den Zugang von Kindern aus Flüchtlingsfamilien zu Bildung, medizinischer Versorgung und sozialer Teilhabe gravierend ein. So müssen sie beispielsweise vor Arztbesuchen eine behördliche Genehmigung einholen, damit Behandlungskosten übernommen werden. Statt mit dem Finger auf osteuropäische Staaten zu zeigen, sollte die Bundesregierung erst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Beginnen könnte sie damit, dem Kindeswohl in allen Belangen oberste Priorität einzuräumen. In Deutschland hätte das zur Konsequenz, dass asyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen dahingehend geändert werden, dass Flüchtlingskinder nicht länger diskriminiert werden. Bei Entscheidungen über Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete muss das Wohl des Kindes der ausschlaggebende Faktor sein. Kinder und Jugendliche aus dem Kosovo, die in Deutschland gut integriert sind, sollten ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Schon aus humanitären Gründen sollten Romakinder nicht in das Kosovo zurückgeführt werden. Sie würden in ein Land und in eine Umgebung verpflanzt, in der sie keinerlei Chancen auf ein menschenwürdiges Leben und eine normale Entwicklung haben.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5767 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Staatsminister für Ostdeutschland bestellen - Drucksache 17/5522 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.

Manfred Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema „Staatsminister für Ostdeutschland bestellen“. Mit der Bundestagsdrucksache 17/5522 fordert die Fraktion Die Linke die Berufung eines „Staatsministers für Ostdeutschland“ und deklariert die Bestellung des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Christoph Bergner, als Zeichen der „Diskriminierung der Belange Ostdeutschlands“. Zudem bezeichnet die Fraktion Die Linke die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer als Zeichen „fehlender Innovation und andauernder Ignoranz der Bundesregierung beim Thema Ostdeutschland“. Wir können dieser Argumentation nicht folgen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ganz deutlich zum Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Christoph Bergner. Im März 2011 übernahm er die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer von Thomas de Maizière, der zuvor Bundesinnenminister und zugleich Beauftragter war. Als Beauftragter koordiniert Herr Dr. Christoph Bergner sehr wichtige Politikfelder der Bundesregierung für die neuen Länder Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Er vertritt deren Interessen nach innen und außen. Dazu arbeitet Herr Dr. Christoph Bergner mit den Bundesministerien und Regierungen der neuen Bundesländer zusammen. Im Bundesministerium des Innern wird er inhaltlich vom Arbeitsstab „Angelegenheiten der Neuen Bundesländer“ unterstützt. Innerhalb der Referate kümmern sich zahlreiche Mitarbeiter um einzelne wichtige politische Belange. Die Themengebiete reichen von Wirtschafts- und Investitionsförderung über Infrastruktur, Forschungs- und Gesundheitspolitik bis hin zur Aufarbeitung des SED-Unrechts. Bereits diese personelle Ausstattung spricht eindeutig für eine hohe Priorität, die die Bundesregierung dem Thema verleiht. Darüber hinaus ist Herr Dr. Christoph Bergner ehemaliger Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und in seiner seit November 2005 ausgeübten Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern in besondere Weise geeignet, die Belange wahrzunehmen. Die Forderung, dass die Funktion „Staatsminister für Ostdeutschland“ 21 Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschland erfolgen soll, ist Manfred Behrens ({0}) eindeutig der Klientelpolitik der Fraktion Die Linke geschuldet, die sich vorzugsweise als Anwalt der Belange der neuen Länder versteht. Ihre Behauptung, sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, dass Ostdeutschland großflächig von ökonomischer Schwäche betroffen sei, ist schlichtweg falsch. Denn 20 Jahre nach dem Mauerfall hat die ostdeutsche Wirtschaft in vielen Bereichen aufgeholt. Die Zahlen und Bilanzen der Forschungsinstitute sind eindeutig. Das Produktivitätsniveau in den neuen Bundesländern ist seit der Wiedervereinigung um 40 Prozent auf mehr als 70 Prozent gestiegen. Natürlich ist der „Gesamtrückstand“ noch nicht aufgeholt, aber der Angleichungsprozess verläuft sehr ordentlich und zufriedenstellend. Die Wirtschaftsleistung in den neuen Bundesländern steigt an. Es war unmittelbar nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung schier unmöglich, die Wirtschaftsleistung von null auf hundert hochzufahren. Die Voraussetzungen dafür waren einfach nicht gegeben. Inzwischen hat sich dies geändert. Das haben wir der klugen Politik der CDU-geführten Bundesregierung sowie der CDUgeführten Landesregierungen zu verdanken. Auch die folgenden Jahre werden noch dazu genutzt, die Wirtschaft in den neuen Bundesländern weiter zu unterstützen, damit das Niveau der alten Bundesländer erreicht werden kann. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern sehr gut entwickelt. Der Fortschritt ist beachtlich und lobenswert. Vor allem gemessen an der Wirtschaftslage vor dem Mauerfall ist dieser Fortschritt in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beachtlich. Ich wiederhole es gern in aller Deutlichkeit: Die Aussage der Fraktion Die Linke, dass Ostdeutschland großflächig von ökonomischer Schwäche betroffen sei, ist schlichtweg falsch. Schauen Sie sich die Erfolgsmodelle in den neuen Bundesländern an. Die Regionen im thüringischen Jena und in Sonneberg weisen eine Arbeitslosenquote von 6 bzw. 7 Prozent auf. Auch der gesamte Wartburgkreis um Eisenach hat aktuell 7 Prozent. Die Kaufkraft ist stark gestiegen. Nehmen Sie das Beispiel Sachsen-Anhalt. Der Landkreise Börde weist mit 8,4 Prozent die geringste Quote in Sachsen-Anhalt auf. Auch zahlreiche Regionen in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern weisen ähnlich positive Zahlen auf. Insgesamt ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft sehr erfolgreich. Die CDU/CSU ist zudem fest entschlossen, diesen erfolgreichen Weg weiterzugehen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fragt sich, wieso nach über zwei Jahrzehnten deutsch-deutscher Wiedervereinigung noch immer von „Ostdeutschland und Westdeutschland“ gesprochen wird. Das Ziel ist doch, eine Gesellschaft zu schaffen, in welcher der gesamtdeutsche Gedanke dominiert und nicht gedanklich zwischen Ostund Westdeutschland unterschieden wird. Die Menschen sollen sich als „Deutsche“ fühlen, nicht als Ost- oder Westdeutsche. Einzig und allein die Fraktion Die Linke versucht, diese Begrifflichkeiten aufrechtzuerhalten und damit ihre Spartenpolitik zu legitimieren. Das ist nicht anständig, wenn man sich das eigentliche Ziel vor Augen führt! Es ist inzwischen eine neue Generation herangewachsen. Diese Generation ist 1990 geborenen und inzwischen 21 Jahre alt. Für diese jungen Bürgerinnen und Bürger existiert kein Ostdeutschland und Westdeutschland. Für sie gibt es nur ein gemeinsames Deutschland. Und das ist positiv. Die Spaltungspolitik der Fraktion Die Linke sollte diesen Prozess nicht stoppen dürfen. Insgesamt lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Antrag damit allumfassend ab.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unbestritten ist, dass die ostdeutschen Bundesländer besondere Beachtung verdienen. Unbestritten ist auch, dass sie diese notwendige Beachtung von dieser Bundesregierung nicht erhalten. Schauen wir auf die letzten Haushaltsberatungen, die massive soziale Einschnitte zur Folge hatten, oder aber auch aktuell auf die geplante Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, die im Wesentlichen darin besteht, dass die Herabstufung der Wasserwege ausschließlich den Osten Deutschlands betrifft. Wir stellen fest, dass die Belange Ostdeutschlands nicht berücksichtigt werden. Im Gegenteil, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre Entscheidungen treffen Ostdeutschland stets besonders hart. Ich glaube jedoch nicht, dass Ihre Politik davon abhängt, ob der Beauftragte Minister oder Staatssekretär ist. Nein, ich glaube viel eher - und einen anderen Schluss lässt Ihre Politik nicht zu - , dass die Interessen Ostdeutschlands generell keine hohe Priorität bei Ihnen genießen - egal bei wem und in welcher Form dieses Amt auch angesiedelt ist! Anders lässt sich Ihr Verhalten nicht erklären. Wenn dann da noch Herr Bergner als Zuständiger für Ostdeutschland in einem Interview sagt, die Aufgabe sei bescheidener geworden, bestätigt mich das nur in meiner Auffassung. Wie kann man denn nur davon reden, dass die Aufgabe bescheidener geworden sei? Wo wird denn hier der Maßstab angelegt? Wenn wir natürlich den Haushaltsplan mit seinen Kürzungen für Ostdeutschland als Maßstab nehmen, lässt sich zwar schlussfolgern, dass die Koalition der Meinung ist, dass die Aufgabe „bescheidener“ geworden ist. Der Aufgabenumfang hat sich aber mitnichten geändert, eher wohl die Aufgabenbeschreibung, und das wird sich in Zukunft noch deutlicher zeigen. Es reicht heute schon nicht mehr und in naher Zukunft schon gar nicht mehr aus, den Blick nur Richtung Ost und West zu wenden und hier miteinander zu vergleichen. Das wäre zu kurz gesprungen. Die Disparitäten zeichnen sich geografisch nämlich nicht nur zwischen Ost und West ab, wie der Antrag der Linken suggeriert, sondern auch zunehmend zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands. Wir müssen Deutschland und seine Regionen ganzheitlich betrachten. Damit meine ich, dass wir in jeder Himmelsrichtung sowohl strukturschwache Regionen als auch prosperierende Gegenden vorfinden. Das sind keine Charakteristika mehr, die man typischerweise dem Osten oder dem Westen zuordnen Zu Protokoll gegebene Reden kann. Und eben dieser Entwicklung muss Rechnung getragen werden, zum Beispiel bei der Struktur der Förderprogramme. Es kommt nicht auf den Titel desjenigen an, der sich insbesondere für die Belange Ostdeutschlands einsetzen soll. Es kommt darauf an, wie es derjenige versteht, seine Aufgabe mit Leben zu erfüllen. Es ist im weitesten Sinne nicht Aufgabe eines Einzelnen, sondern es müssen alle, in diesem Fall die gesamte Koalition, an einem Strang ziehen. Unserer Unterstützung für die ostdeutschen Belange, für die Interessen strukturschwacher Regionen im Gesamten können Sie sich sicher sein. Leider ist es hier mit Ihrem Enthusiasmus nicht weit her. Das ist bedauerlich; denn hier geht es um die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Die nächsten anstehenden Beratungen werden zeigen, wie ernst Sie diese Thematik nehmen.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gegenstand dieser Debatte ist ein Antrag der Partei Die Linke, in dem sie fordert, den Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer formell zum „Staatsminister für Ostdeutschland“ im Bundeskanzleramt zu machen. Ich persönlich komme übrigens aus Thüringen, mitten in Deutschland, und fühle mich als Mitteldeutscher. Ich frage mich also, warum wir die Aufgaben des jetzigen Beauftragten geografisch einschränken sollten. Schon von 1998 bis 2002 hatte der Beauftragte den Titel eines Staatsministers. Dies lag aber an der Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes. In den Ministerien heißt die gleiche Funktion „Staatssekretär“. Eine besonders kreative Idee ist das also nicht. Das eigentliche Ziel, billige und plumpe Kritik, ist deutlich und hier nur in eine andere Verpackung gehüllt. Auch dieser Antrag reiht sich ein in die Kategorie „Schublade“. Immer wenn die Kreativität ausbleibt, greift man in die Schublade und zieht einen Antrag. Deshalb ist der Antrag nicht ernst gemeint. Der vorgelegte Antrag beinhaltet keine kreativen Ideen, wie der Aufbau Ost vollendet werden kann. Entscheidend ist bei der Bewertung, ob er den Menschen in Ost- und Mitteldeutschland etwas bringt oder ob es sich um reine Symbolpolitik handelt. Mit dem auf den ersten Blick wohlklingenden Posten eines „Staatsministers für den Osten“ will man die Menschen glauben machen, dass damit die Probleme besser gelöst werden könnten. Dies ist nicht so. Nicht Titel, sondern Taten sind entscheidend. Bemerkenswert ist, dass sich hier die Linke wieder einmal als Anwalt der Ostdeutschen aufspielt, obwohl sie für die ganze Misere bis vor 20 Jahren, für die strukturellen Nachteile der Neuen Bundesländer verantwortlich sind. Während ihrer 40-jährigen Regierungszeit und unter einer fatalen Ideologie, zu der sich einige Unverbesserliche zurücksehnen, wurden in der ehemaligen DDR große Betriebe unwirtschaftlich und unproduktiv, der Mittelstand komplett zerschlagen und Kleinstunternehmen jeglicher Bewegungsspielraum genommen. Insofern klagen die Antragsteller hier Missstände an, für die sie selbst die Hauptverantwortung tragen. Statt irgendwelche „Postenplanspiele“ zu betreiben und „Funktionärsschach“ zu spielen, ist es deshalb wesentlich hilfreicher und produktiver, sich weiter darauf zu konzentrieren, wie wir die noch bestehenden Probleme inhaltlich lösen. Genau das haben alle Bundesregierungen seit 1990 gemacht, und das macht die jetzige Bundesregierung mit Engagement und Weitsicht. Und das vermisst man bei den Linken. Nur mit einem populistischen Etikettenwechsel werden Konzepte und Ideen nicht anders und vor allem nicht besser. Im Vordergrund muss also stehen, wie wir die nach wie vor bestehenden Probleme und Notwendigkeiten angehen, um die deutsche Einheit so bald wie möglich endgültig zu vollenden. Dies möchte ich hier gerne noch einmal benennen: Das ist zum einen die immer noch sehr hohe Abwanderung. Noch immer reißt der Strom vor allem junger, gut ausgebildeter Menschen vom Osten in den Westen nicht ab. Die Folge sind massive demografische Probleme: Überalterung, Frauenmangel, Verödung von Städten und Regionen. Darauf müssen wir uns einerseits einstellen, weil die Entwicklung nicht ganz zurückgedreht werden kann. Die Bundesregierung erarbeitet hierfür gerade eine Demografiestrategie, die noch dieses Jahr zukunftsweisende Maßnahmen aufzeigen wird, die auch auf den Westen angewendet werden können. Andererseits müssen wir auch die Ursachen bekämpfen. Richtig ist, dass die ostdeutschen Regionen im Durchschnitt bei der Wirtschaftskraft, trotz aller positiven Entwicklungen, noch immer hinterherhinken. Ein Schlüssel, dies zu überwinden, liegt unter anderem in der Stärkung der Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen in Verbindung mit wirtschaftsnahen Forschungseinrichtungen. Auch hier ist die Bundesregierung sehr engagiert, indem sie unter anderem die Innovationsförderung auf hohem Niveau hält. Auf die neuen Länder werden massive Finanzierungsschwierigkeiten zukommen. Dem muss entgegengewirkt werden durch eine konsequente Durchführung des Solidarpakts II und Übergangsregelungen für das Auslaufen der EU-Förderung. Auch diesbezüglich hat die Bundesregierung unter Federführung des Bundesinnenministeriums sehr gute Arbeit bei den Verhandlungen auf EUEbene geleistet und viel erreicht. Auch andere Ansatzpunkte hat die Bundesregierung erkannt und betreibt sie mit Nachdruck und Engagement. Diese sind: - Anwerbung internationaler Investoren durch bessere Vernetzung und Bekanntmachung der Vorzüge Ostund Mitteldeutschlands im Ausland - Sicherung des Fachkräftebedarfs durch regionenspezifische Ansätze - Förderung des strukturellen Zusammenwachsens der mittelosteuropäischen Regionen. Schließlich möchte ich auch betonen, dass wir die Aufarbeitung des Unrechts der SED-Diktatur weiterhin vorantreiben müssen, um dieses Kapitel endlich abschließen zu können und die Versöhnung der Menschen zu ermöglichen. Auch hier sind die Bemühungen dieser Bundesregierung beispielhaft. So überarbeiten wir gerade das Stasiunterlagengesetz und stellen sicher, dass bei der Aufarbeitung nicht nachgelassen wird. Gerade an diesem Punkt haben sich die Urheber des vorgelegten Antrags bislang nur durch Geschichtsklitterung und Zu Protokoll gegebene Reden Patrick Kurth ({0}) Verharmlosung hervorgetan. Konstruktive Beiträge vermisst man hingegen. Zur Vollendung der deutschen Einheit müssen viele verschiedene Ressorts beitragen, die vom Bundesbeauftragten koordiniert werden. Das Innenministerium hat sich als sehr guter Ort erwiesen, die genannten Probleme anzugehen. Im Mittelpunkt muss weiterhin stehen, auf welche Weise und mit welchem Engagement die Probleme angegangen werden und nicht, wie man das Ganze benennt oder wo man es ansiedelt. Und in dieser Hinsicht hat diese Bundesregierung bewiesen, dass sie verstanden hat, was notwendig ist, und dass sie gewillt ist, mit großem Engagement das Notwendige umzusetzen, und zwar in allen betroffenen Ressorts. Das hat sie getan, das tut sie und das wird sie tun. In diesem Zusammenhang betrachte ich es auch geradezu als Beleidigung, wenn die Linke in ihrem Antrag schreibt, dass derzeit die Belange Ost- und Mitteldeutschlands „mit noch geringerem Engagement“ vertreten würden oder wenn sie gar der Bundesregierung „andauernde Ignoranz“ in dieser Beziehung vorwirft. Soll das heißen, dass das Engagement bisher „gering“ war? Soll das heißen, dass der Transfer von Hunderten Milliarden, der Aufbau einer höchst modernen Infrastruktur, die mühevolle und sensible Aufarbeitung von 40 Jahren sozialistischer Diktatur, der beispiellose wirtschaftliche Aufholprozess Ergebnis eines „geringen“ Engagements des Bundes waren? Und in einem weiteren Punkt geht der vorgelegte Antrag an der Realität vorbei. Die Belange Ost- und Mitteldeutschlands werden auch weiterhin eine starke Stimme im Bundeskabinett haben. Es ändert sich nichts daran, dass die Koordinierungsfunktion an oberster Stelle im Bundesinnenministerium angesiedelt ist. Der Bundesinnenminister wird also weiterhin die Belange Ost- und Mitteldeutschlands vertreten, sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Bundeskabinett. Dass ihm dies ein wichtiges Anliegen ist, hat Hans-Peter Friedrich bei der Amtsübernahme immer wieder, auch in einem persönlichen Gespräch mit mir, ausdrücklich versichert. Der vorgelegte Antrag ist abzulehnen, weil er reine Symbolpolitik ist und inhaltlich nichts dazu beiträgt, dass die Problem Ost- und Mitteldeutschlands gelöst werden.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In den zurückliegenden Jahren haben die Menschen in Ostdeutschland ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen. Das hat maßgeblich mit ihrer ungebrochenen Tatkraft und ihrem Willen, die gesellschaftliche Transformation erfolgreich zu gestalten, zu tun. Ostdeutsche Bundesländer sind führend bei der Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energien, einer zeitgerechten landwirtschaftlichen Produktionsweise, sie besitzen Vorsprünge und nutzbaren Sachverstand in der möglichen und machbaren Verbindung von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung, in der gezielten Gesundheitsversorgung, in der nachhaltigen Bildungs- und Ausbildungspolitik. Und es ließe sich noch vieles mehr aufzählen. Warum also immer wieder Ostdeutschland? Muss das denn noch sein, mehr als 20 Jahre nach der deutschen Einheit? Weshalb sieht sich meine Fraktion immer wieder gezwungen, Anträge in dieses Parlament einzubringen, die sich explizit mit der Situation in Ostdeutschland beschäftigen? Die Antwort ist so einfach wie wahr. Auch 20 Jahre nach der deutschen Einheit herrscht - trotz des Erreichten - keine innere Einheit. Die Löhne in Ostdeutschland liegen im Schnitt rund ein Fünftel unter, der Anteil der Hartz-IV-Beziehenden dagegen deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Rund 2 Millionen Ostdeutsche haben ihre Heimat seit der Einheit in Richtung Westdeutschland verlassen, um dort Arbeit zu finden. Die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt wirkt sich bereits heute auf die kommenden Generationen aus: In vielen ostdeutschen Städten leben mehr als ein Drittel aller Kinder in Armut. Es herrscht eine fortgesetzte Rentenungerechtigkeit zwischen ost- und westdeutschen Rentnern, die ebenfalls aufgrund der verfestigten Lohndifferenz in Ost und West an die kommenden Generationen weitergegeben werden wird. Die Antwort auf die von mir formulierten Fragen, auch wenn die Mehrheit der anderen hier im Hohen Hause vertretenen Fraktionen die Position der Linken nicht teilt, kann nur lauten: Ja, sich insbesondere mit den ostdeutschen Bundesländern und der Situation ihrer Bevölkerung zu beschäftigen, ist zwingendes politisches Gebot. Doch in der Bundesregierung scheint Ostdeutschland dauerhaft abgeschrieben worden zu sein. Seit März 2011 wurde die Funktion des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer vom neu berufenen Bundesminister des Inneren, Hans-Peter Friedrich, an seinen Parlamentarischen Staatssekretär, Dr. Christoph Bergner, übertragen. Es ist zu erwarten, dass die Belange Ostdeutschlands zukünftig mit einem noch geringeren Interesse vonseiten der Bundesregierung vertreten werden, als dies in den zurückliegenden Jahren der Fall gewesen ist. Wir als Linke sind hingegen überzeugt, dass, obwohl die soziale und ökologische Situation in Ostdeutschland die Menschen vor große Herausforderungen stellt und obwohl der industrielle Nachbau West als Entwicklungspfad für den Osten endgültig gescheitert ist, in Ostdeutschland große Potenziale und Chancen für die regionale und gesamtdeutsche Entwicklung liegen. Doch diese müssen durch eine kluge Politik befördert und unterstützt werden. Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern haben den Grundstein gelegt, dass Ostdeutschland Impulsgeber und Innovationsmotor für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft werden kann. Darin werden sie von der Linken unterstützt. Wir als Linke fordern die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Parlaments auf, sich uns anzuschließen. Einen Staatsminister für Ostdeutschland zu bestellen und die Ostdeutschlandpolitik der Bundesregierung auf die Höhe der Zeit zu befördern, kann dabei nur ein erster, aber notwendiger Schritt sein. Im Übrigen könnte der Staatsminister dann zugleich aus seinem Amte den Komplettumzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin managen. Der aktuelle Teilungskostenbericht der Bundesregierung, der dem Haushaltsausschuss vorliegt, zeigt einmal mehr, wie unsinnig, ineffektiv, unökologisch und enorme Summen an Steuergeldern verschleudernd die Aufteilung der Bundesregierung auf zwei Standorte ist. Eine die gesamte Bundesregierung beheimatende Bundeshauptstadt Berlin wäre zudem ein wichtiges Signal für die innere Einheit der Republik. Zu Protokoll gegebene Reden

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Fraktion Die Linke schlägt die Umbenennung des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bun- desländer in „Staatsminister/in für Ostdeutschland“ vor. Insbesondere mit dem Recht zur Teilnahme an den Sitzungen der Bundesregierung soll die Person mehr Mitwirkungsrechte erhalten. Ein genauer Blick in die Geschäftsordnung der Bun- desregierung allerdings zeigt, dass Staatssekretäre auf Wunsch des zuständigen Ministers ohnehin an den Kabi- nettssitzungen teilnehmen dürfen. Das gilt auch für Be- amte aus den Ministerien, bei besonderem Wunsch und Antrag des Ministers. Ob die Politik für Ostdeutschland wahrnehmbar ist, hängt doch nicht vom Titel auf der Vi- sitenkarte ab, sondern von der Persönlichkeit, die diese Funktion mit konkreten Inhalten füllt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nach Ihrem Vorschlag am Anfang dieser Legislaturperiode zur „Einsetzung eines Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebens- verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“ ist es nun der zweite Antrag, in dem Sie ausschließlich auf Strukturveränderungen abzielen, ohne auf derzeit beste- hende Handlungsspielräume einzugehen. Mit diesem Schaufensterantrag zeigen Sie leider nur, dass Ihnen of- fensichtlich die politischen Ideen ausgehen. Statt Hand- lungsansätze für die vor uns liegenden Aufgaben in den Regionen Ostdeutschlands zu entwickeln, fallen Ihnen nur neue Gremien und Funktionen ein. Dennoch, wir teilen Ihre Kritik an der Bundesregie- rung, die dem Aufgabenfeld Aufbau Ost ohne erkennba- res Konzept begegnet. Auch wir sehen den Bundesbeauf- tragten für die neuen Länder im falschen Ressort angesiedelt. Der Arbeitsstab für die Angelegenheiten der neuen Bundesländer wurde Herrn Dr. Thomas de Maizière, CDU, aufgrund seiner Reputation und Erfah- rungen zugeordnet und so rein formal und nicht sachbe- zogen dem Innenministerium übertragen. Wir teilen zu- dem die Ansicht, dass mit dem neuen Amtsinhaber Dr. Hans-Peter Friedrich, CSU, der sich bislang wenig mit aktuellen Fragestellungen Ostdeutschlands befasste, das Thema ganz aus dem gesellschaftlichen und politi- schen Fokus zu rücken droht. Angesichts des auslaufen- den Solidarpakts und des Auslaufens der EU-Ziel-1- Förderung, der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung und der demografischen Verwerfungen in Ostdeutsch- land ist dringend ein Paradigmenwechsel im Aufbau Ost geboten. Gefordert sind neue Politikansätze, neue ge- sellschaftliche Debatten. Wir fordern die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel deshalb auf, die künftige Politik für die ostdeutschen Bundesländer zur Chefsache zu erklären, das Amt des Bundesbeauftragen der Bundesregierung für die neuen Länder wieder im Kanzleramt zu verankern - so wie be- reits in den Jahren 1998 bis 2002 - und es entsprechend den Herausforderungen als Querschnittsressort mit ins- besondere finanziellen Handlungsspielräumen auszu- statten. Wir dürfen nicht vergessen: In Deutschland versteti- gen sich räumliche Disparitäten. Wir haben de facto wirtschaftlich potente Wachstumskerne neben abgekop- pelten Regionen mit spezifischen strukturellen Proble- men, gerade in ländlichen Regionen, die durch den de- mografischen Wandel zusätzlich benachteiligt sind. Die wirtschaftliche Entwicklung stagniert und der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im Osten war im letzten Jahr niedriger als im Westen. Ostdeutschland hat nach wie vor eine wesentlich höhere Arbeitslosenquote, das Brut- tolohnniveau liegt bei rund 80 Prozent des Westniveaus. Aber die aktuelle Politik der Bundesregierung erschwert den Angleichungsprozess, statt ihn voranzutreiben. Die Kürzungen der Bundesregierung, die mit steigenden So- zialausgaben bei den ostdeutschen Kommunen verbun- den sind, haben erhebliche strukturelle Auswirkungen. Es ist an der Zeit, dass eine Akzentverschiebung von In- frastruktur- zu Innovationsförderung angeschoben wird. Angesichts der sinkenden Haushaltsbudgets muss eine strategische Neuausrichtung der Förderpolitik jetzt und nicht erst nach 2013 diskutiert werden. Das erfordert eine ressortübergreifende Verankerung des Arbeitssta- bes für die ostdeutschen Bundesländer im Bundeskanz- leramt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5522 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit einverstanden, somit ist die Überweisung auch beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren - Drucksache 17/5056 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kein Personalabbau bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten - Drucksache 17/5548 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor, und ich verzichte auf die Verlesung.

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Dezember des letzten Jahres sprach ich zum Antrag der SPD-Fraktion „Zukunftsfähigkeit der WSV sichern“. In meinen damaligen Ausführungen hatte ich kurz den Entwicklungsverlauf der Reform der Wasserund Schifffahrtsverwaltung skizziert, der bis dato stattgefunden hatte. Diesen Verlauf müssen Sie sich nämlich vor Augen führen, wenn Sie über den heutigen Stand der WSV-Reform sprechen. Ich führte aus, dass das Bundesverkehrsministerium bereits 1999 die Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für eine zukunftsorientierte WSV - Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ einrichtete, die vor dem Hintergrund bisheriger und künftiger Personaleinsparungen sowie knapper werdender Haushaltsmittel die künftige Aufgabenstruktur und konkrete Umsetzungsvorschläge ermitteln sollte. Ziel des Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Mit Blick auf eine künftige Aufgabenstruktur der WSV und ihre Kernaufgaben prüfte die Projektgruppe unter anderem: Welche Aufgaben müssen oder sollen durch die WSV mit welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und welche nicht? Welche Aufgaben können oder sollen durch Dritte wahrgenommen werden? Wo können Aufgaben sogar ganz entfallen? Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt. Aber anschließend passierte viele Jahre nichts - nämlich genauso lange wie das Verkehrsministerium von der SPD geführt wurde. Die damalige Führung des Hauses hatte sich lieber dafür entschieden, bestehende Strukturen der WSV zu zementieren, statt eine echte Reform der WSV in Angriff zu nehmen und diese zukunftsfest zu machen. Unter christlich-liberaler Führung hat das Bundesverkehrsministerium am 24. Januar 2011 einen Bericht vorgelegt, mit dem erstmals ein ernsthafter Schritt in die vom Bundesrechnungshof schon seit Jahren angemahnte Reform der WSV beschritten wird. Liebe Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge stammen vom 16. März 2011 bzw. vom 14. April 2011 und nehmen überwiegend Bezug auf den Bericht des Bundesverkehrsministeriums zur WSV-Reform vom 24. Januar 2011. Allerdings sind wir in der Diskussion schon einen Schritt weiter. Am 29. April 2011 legte das Bundesverkehrsministerium seinen zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vor, in dem es weitere Maßgaben des Haushaltsausschusses bezüglich der WSV-Reform erfüllt und Nachbesserungen zum Januarbericht liefert. Die ersten Schritte zu einer Reform der WSV sind also getan. Und das große Echo, das damit ausgelöst wurde, mahnt uns Parlamentarier, genau zu schauen, wie wir den weiteren Reformweg beschreiten. Ebenso hat sich der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinen letzten Sitzungen ausführlich mit der Thematik befasst und für seine Sitzung am 29. Juni 2011 eine öffentliche Anhörung zu dem Thema beschlossen. Die in Ihrem Antrag enthaltenen Ansätze, werte Damen und Herren der Grünen - wie zum Beispiel die Kategorisierung der Bundeswasserstraßen nicht nur nach den beförderten Tonnen pro Jahr vorzunehmen, sondern weitere Faktoren in die Bewertung einfließen zu lassen oder in die Kategorisierung der Netzstruktur der Bundeswasserstraßen nicht nur die messbaren Verkehrsströme auf Wasserstraßen, sondern das gesamte Verkehrsnetz zu analysieren und die vorhandenen bzw. geplante Schienen-, Straßen- und Hafeninfrastruktur sowie regionale und volkswirtschaftliche Kriterien, Umwelt- und Naturschutzaspekte und die Entwicklung des Wassertourismus zu berücksichtigen -, werden in dieser Anhörung auch eine wichtige Rolle spielen. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen, die in der Diskussion gewonnen werden, wird die Koalition mit dem Verkehrsministerium die weiteren Schritte, die für die Reform notwendig sind, analysieren. Dann wird es auch möglich sein, zum Jahresende ein Gesamtkonzept zur Aufgaben- und Personalstruktur und zur Aufbauorganisation der WSV vorzulegen. Dass dies nur im Dialog mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen möglich ist, habe ich bereits in meiner ersten Rede zu diesem Thema deutlich gemacht. An dieser Stelle möchte ich noch mal meine Bereitschaft zur weiteren, aktiven Zusammenarbeit mit den Beteiligten erklären. Dem vorliegenden Antrag der Grünen entnehme ich die grundsätzliche Bereitschaft, Veränderungen in der Struktur der WSV vorzunehmen. Aber mit Blick auf die noch anstehenden Beratungen und Anhörungen und den sich daraus ergebenden Diskussionsbedarf empfehle ich meiner Fraktion die Ablehnung Ihres Antrages. Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Fraktion Die Linke, in ihrem Antrag notwendige Strukturveränderungen vorzunehmen und damit den Empfehlungen des Bundesrechnungshofs zu folgen, ist dieser ebenfalls abzulehnen.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ist ein Thema, das für die Gewährleistung eines zentralen Zweiges der Infrastruktur unseres Landes von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Deshalb begrüße ich es sehr, dass es auch die Beachtung der Opposition gefunden hat. Leider gehen die Ausführungen der Antragsteller - wie so oft - in vieler Hinsicht fehl. Bitte lassen Sie mich zu einzelnen Punkten Stellung nehmen und so das Verständnis dieser Materie bei der Opposition zu erweitern. Zunächst möchte ich betonen, dass es sich bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes um eine leistungs- und serviceorientierte Organisation der Daseinsvorsorge mit hochmotivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern handelt. Die Fraktion der Linken, die schon in der Überschrift ihres Antrages einen Personalabbau kategorisch ablehnt, verkennt dies offensichtlich gründlich und verwechselt die Daseinsvorsorge des Staates, die möglichst günstig und effektiv mit unser aller Steuergeldern erbracht werden muss, mit einem öffentlich geförderten zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, der unantastbar sein muss. Dies ist natürlich ein großer Irrtum, der sich aber leicht durch die ideologischen Scheuklappen der SoziaZu Protokoll gegebene Reden listen erklären lässt. Wir dagegen gehen mit den Steuergeldern, mit Geldern, die die werktätige Bevölkerung hart erarbeitet, verantwortungsbewusst um. Gewissenhafte Treuhänder verschwenden nicht das ihnen anvertraute Geld, sondern versuchen, es möglichst effektiv einzusetzen. Genau darum geht es unter anderem bei der von uns angestrebten Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Wir werden und müssen die Balance zwischen knappen Ressourcen, dem öffentlichen Interesse an einer funktionierenden Infrastruktur und den berechtigten Interessen der Beschäftigten herstellen. Genau diesen Zweck verfolgt und erläutert die nunmehr vorliegende Endfassung des zweiten Berichts des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Dieser Bericht ist - wie ich gleich erläutern werde - grundlegend für die parlamentarische Beratung dieses Themas im Verkehrsausschuss des Bundestages. Auch der zweite Teil der Überschrift des Antrags der Sozialisten zeugt von einer völlig verfehlten Schwerpunktsetzung: Es ist selbstverständlich, dass ökologische Aspekte ausgewogen berücksichtigt werden, wenn eine so komplexe Infrastruktur wie die der Wasserwege vorgehalten wird. Es ist aber geradezu absurd, eine ökologische Flusspolitik - was dies auch immer sein mag - als zweitwichtigste Aufgabe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes zu identifizieren. Da sind unsere Kollegen von der Linken auf einem völlig falschen Dampfer! Primär geht es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst viele Güter mit dem umweltfreundlichen Verkehrsmittel Schiff transportiert werden können. Dies ist sicherlich ein effektiverer Umweltschutz als die Verhinderung von Schiffstransporten durch eine unreflektierte Renaturierung von Gewässern. Dazu gehört vor allem, dass wir einen tragfähigen Spagat zwischen Durchführungs- und Gewährleistungsverwaltung garantieren. Auch uns ist klar, dass eine Privatisierung von Aufgaben, die nur von einem Oligopol von Anbietern erfüllt werden können, zwar zu einer Senkung der Personalkosten führen mag, gewiss aber eine Steigerung der Gesamtkosten zeitigt. Diese Gefahr hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in dem Bericht auch ausdrücklich benannt. Daher gilt, dass Privatisierung weder - wie von Teilern der Opposition immer wieder apostrophiert ein das Gemeinwesen schädigendes Monster noch - wie von Menschen ohne ökonomischen Sachverstand propagiert - ein Allheilmittel oder Selbstzweck ist. Es kommt hier - wie so oft im Leben - auf den Einzelfall an. Eine angemessene Lösung ergibt sich nicht durch eine ideologische Betrachtung, sondern durch eine konkrete Abwägung aller Umstände im Einzelfall. Dies leugnen nur Ideologen! Ähnliches - und auch darauf sei in diesem Zusammenhang noch einmal eindringlich hingewiesen - gilt selbstverständlich auch für staatliches Know-how. Es ist doch klar, dass die Auslagerung von Aufgaben nicht zu einem Totalverlust von Wissen bei dem Staat, der Institution, der unsere Bürger vertrauen können, führen darf. Die Endfassung des zweiten Berichts des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung an den Deutschen Bundestag zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung beantwortet viele der in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen aufgeworfenen Fragen. Der vorliegende Bericht der Verwaltung ist als Arbeitsgrundlage für die parlamentarische Diskussion der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes gut geeignet. Dafür gebührt Bundesminister Dr. Ramsauer unser Dank. Dieser Bericht zeichnet in einer begrüßenswerten Klarheit die zentralen Linien der zu beschreitenden Reform mit kräftigen Strichen vor, die jedoch sicherlich an der einen oder anderen Stelle neu gezogen werden müssen. Bedauerlicherweise unterliegt der Staat - wie jeder Privatmensch auch - dem Zwang, mit den verfügbaren Mitteln auskommen und mit ihnen akzeptable Ergebnisse erzielen zu müssen. Dies gilt auch für den Bereich der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Ich möchte dies für die ökonomisch weniger geschulten Kollegen von der Linken noch ein wenig plastischer ausdrücken: Aus dem Geld, das wir haben, müssen wir das Beste machen. Und genau dies werden wir nach vielen Jahren unerklärlicher Versäumnisse auch tatsächlich tun. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat daher dankenswerterweise schon mit der für dieses Haus typischen Transparenz und Stringenz Vorschläge gemacht, welche Wasserstraßen in welchem Maße unterhalten werden sollen. Damit liegt dem Ausschuss eine belastbare Grundlage für die Diskussionen der Fachpolitiker untereinander, aber auch mit den Betroffenen vor. Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Verwaltung parlamentarische Entscheidungen durch präzise Vorarbeiten erleichtert und beschleunigt. Aus meiner langjährigen kommunalpolitischen Tätigkeit weiß ich, dass sogar exzellente Vorlagen der Verwaltung im Rahmen der politischen Diskussion - insbesondere aufgrund des intensiven Dialogs mit den betroffenen Menschen noch weiter optimiert werden können. Ich glaube nicht, dass wir - wie von den Grünen gefordert - zur Überwachung der Umsetzung der Vorschläge eine Regierungskommission „Wasserstraße“ einsetzen müssen. Dies obliegt dem Deutschen Bundestag, dazu sind wir auch in der Lage. Ich bin absolut überzeugt davon, dass die in dem Bericht aufgezeigten Restrukturierungsvorschläge nach einem vernünftigen Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ich als motivierte und vernünftige Menschen kennengelernt habe, zu Ergebnissen führen werden, die alle Beteiligten werden tragen können. Ich sehe der weiteren Entwicklung mit einem großen Optimismus entgegen und bin sicher, dass am Ende eine Lösung gefunden werden wird, die eine zukunftsfeste Wasserinfrastruktur und Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichert. Die wenig zielführenden Anträge von Grünen und Linken werden von uns abgelehnt.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken, die sich beide mit der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes beschäftigen. Die SPD hat ihren Antrag „Zukunftsfähigkeit der WSV sichern“ bereits am 1. Dezember 2010 eingebracht. Die WSV ist eine Bundesverwaltung, die - und Zu Protokoll gegebene Reden das ist eine Besonderheit in Deutschland - vom obersten Dienstherrn, dem Bundesverkehrsminister, bis hin zu den Facharbeitern und Beschäftigten an den Schleusen und Außenbezirken reicht. Ihr Aufbau hat also keine föderale Struktur, und das gibt allein durch die dadurch bedingt hohe Anzahl an Bundesbeschäftigten regelmäßig Anlass für unberechtigte Kritik. 12 633,5 Stellen oder Planstellen werden vom Ministerium für 2010 angegeben: Viel zu viele für „nur“ 7 300 Kilometer Bundeswasserstraße und gerade einmal 12 Prozent des Güterverkehrs, lautet der ewige Ruf der Unwissenden oder Böswilligen. Gerne wird dabei außer Acht gelassen, dass andere Verwaltungen in Bundes- und Landesbeschäftigte unterteilt sind. Allein in NRW kümmern sich 1 260 Landesbeschäftigte der Autobahnmeistereien um die 2 170 Kilometer Autobahn des Bundes auf nordrhein-westfälischem Boden. Ein Fluss ist aber keine Straße, und daher sind die Aufgaben der WSV vielfältiger Natur. Die Regelung des Schiffsverkehrs von der schwarzen Flotte bis zum Kanu ist nur ein Teilbereich. Die Bundesregierung hat in ihrem Kernaufgabengutachten 120 Produkte, also Tätigkeitsfelder, aufgelistet - und damit kommen wir zu des Pudels Kern; denn die hoheitlichen Aufgaben können wahre Goldgruben sein. Die lukrativen sollen endlich verteilt werden, wenn es nach dem Willen der FDP geht. 39 vergabefähige Produkte hat der zweite Bericht zur Reform der WSV schon ausgemacht, 12 weitere könnten nach Bildung eines Marktes von Dritten ausgeführt werden. Wer glaubt, hier ginge es um ökonomische Optimierung, also um Einsparung von Steuermitteln, der irrt; denn viele Beispiele zeigen uns, dass sich kein Markt entwickelt und Monopolstellungen die Kosten in die Höhe treiben oder die Ausführungsqualität der Arbeiten in den Keller. Nur ein Beispiel, die Nassbaggerei. Ich zitiere aus dem Bericht: „Die Erfahrungen mit der Nassbaggerei im Küstenbereich belegen, dass ein Nachfragemonopol im Regelfall zumindest mittelfristig ein Anbietermonopol ausbildet, welches dann zu enormen Kostensteigerungen führt.“ Wider besseres Wissen soll aber weiter privatisiert werden. Es kann also nicht um Optimierung oder Mitteleinsparung gehen. Aber, bitte, um was geht es der Koalition, wenn nicht um Privatisierung hoheitlicher Aufgaben, auch wenn man vorher schon weiß, dass es hinterher teurer wird? Was ist geschehen? Die Koalition fordert am 27. Oktober 2010 per Beschluss des Haushaltsausschusses den Umbau der WSV von einer Ausführungs- in eine Gewährleistungsverwaltung samt Übersicht der Stelleneinsparungen. Damit das Ministerium auch spurt, wird gleich eine Stellensperre verhängt. Grüne und Linke springen der Koalition bei. Es folgt am 24. Januar 2011 der erste Bericht. Er versetzt uns ins Staunen; denn er präsentiert zwar keine Einsparungen, und mehr Aufgaben vergeben will er eigentlich auch nicht, doch dafür unterbreitet er eine Kategorisierung der Bundeswasserstraßen, mit sehr weitreichenden Folgen für die Binnenschifffahrt in Deutschland. Ein Schreckgespenst, das seitdem alle, die mit schiffbarem Wasser zu tun haben, in Alarmbereitschaft versetzt, und das zu Recht! Denn die Pläne des Bundesministers offenbaren seine skandalöse Sicht auf den Verkehrsträger Wasserstraße. Ganze Flusssysteme drohen „trockengestellt“, Landstriche wirtschaftlich abgehängt zu werden. „Das war doch gar nicht bestellt“ ruft es gleich aus der FDP. Doch wie der Zauberlehrling schon sagte, diese Geister wird man so schnell nicht mehr los, und sie treiben uns bis heute um. Da hilft auch kein Schreiben an den Verkehrsminister. Die FDP wirft all ihre Namen in die Schale und erklärt mit Schreiben vom 25. Februar 2011 dem Minister, was sie von ihm erwarten. Das ist der Versuch, sicherzustellen, dass der Minister auch versteht, was sie wirklich wollen. Ein zweiter Bericht soll nun Klarheit schaffen. Viele Menschen in der WSV, der Binnenschifffahrt, der verladenden Wirtschaft, der produzierenden Wirtschaft und auch aus dem Bereich der Freizeitschiffer, Sportboote und Wassertouristik warteten gespannt auf den 30. April 2011, den Tag der Zustellung des Berichts. Kopfschütteln allerorten; denn nach wie vor ist absolut unklar, was denn das Haus damit will. Wieder gibt es nichts einzusparen, weder Personal- noch Sachmittel, ein paar Standorte sollen zusammengelegt, doch keine Stellen mehr abgebaut werden, als sowieso schon vereinbart, weiterhin wird an der untragbaren Kategorisierung der Wasserstraßen festgehalten, und niemand findet ein gutes Wort dafür. Kritik aus allen Richtungen, die Ministerpräsidenten der Länder stehen Schlange, auch die der CDU-Länder. Bei einer Onlineumfrage gaben 63 Prozent der Binnenschiffer dem Minister eine glatte Sechs für seine Binnenschifffahrtspolitik, und wieder stellt die FDP fest, dass das es nun wieder nicht war. Ich zitiere den Kollegen Staffeldt: Ein ganz großer Wurf ist damit noch nicht gelungen. - Ja, aber was wollen Sie denn, meine Damen und Herren von der Koalition, was der Herr Bundesminister nicht versteht? Es wird doch alles nur noch schlimmer. Was bisher gelaufen ist, ist ein ganz unwürdiges Spiel auf dem Rücken der Beschäftigten der WSV, ein Paradestück dafür, wie man keine Reform einleitet. Wäre es nicht so schlimm, könnte man über dieses Theater nur schmunzeln, doch es steht ein Verkehrsträger auf dem Spiel, unserer bundeseigenen Infrastruktur drohen dramatische Einschnitte, und ganze Wirtschaftsbereiche bangen um ihre Transportmobilität. Wollen Sie die WSV reformieren? Ja, darüber lässt sich reden, wir sind dabei, aber nicht so! Wo es sinnvoll und möglich ist, kann und muss die Behördenstruktur effizienter werden. Den Privatisierungswahn der FDP machen wir aber nicht mit. Sie wollen das Wasserstraßennetz neu strukturieren und Mittel konzentrieren? Ja, auch darüber können wir reden! Aber vorher erklären Sie mir, warum ganze Bundeswasserstraßen wegen Geldmangels renaturiert werden sollen, Anlagen verfallen und wir Millioneninvestitionen in die Infrastruktur zu Bauruinen verkommen lassen sollen, während Sie der Binnenschifffahrt gleichzeitig das Geld entziehen. Ihre Politik der geschlossenen Finanzierungskreisläufe bringt uns in diese Situation. Seien Sie ehrlich: Es wird noch enger für die Wasserstraße. Ich appelliere an Sie: Steuern Sie um, setzen Sie auf die umweltfreundlichen Verkehrsträger, bringen Sie die Güter auf die Wasserstraße und die Schiene, erfüllen Sie Ihre eigenen Ansprüche aus dem Aktionsplan Güterverkehr und dem Nationalen Hafenkonzept! Für all das brauchen wir auch eine schlagkräftige WSV vor Ort. Zu Protokoll gegebene Reden Zuletzt ein Wort zu den Anträgen. Einiges geht in die richtige Richtung, und bei vielen Punkten sehe ich auch Übereinstimmung; doch die Grünen denken immer noch in schwarz und weiß. Sie fordern zwar zur Kategorisierung der Wasserstraße zu Recht eine Erweiterung der Kriterien, beurteilen die Wichtigkeit der Wasserstraße aber selbst am aktuellen Verkehrsaufkommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nicht nur „wichtige“ und „unwichtige“ Wasserstraßen, wenn unwichtig bedeutet, dass dort nur noch Gewässerpflege erfolgen soll. Im Ganzen weht in Ihrem Antrag der Hauch ökologischer Nostalgie, und Sie versuchen, einen Keil zwischen Schifffahrt und Ökologie zu treiben. Für uns ist das kein Widerspruch, ganz im Gegenteil. Den Schwenk der Linken nach ihrem Fehlgriff im ersten Haushaltsbeschluss begrüße ich. Der Antrag hat mir aber entschieden zu viele dirigistische und zudem unkonkrete Ansätze. Ich freue mich auf die weitere parlamentarische Auseinandersetzung.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Diskussion über die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes beschäftigt uns jetzt schon seit einiger Zeit, und sie wird nicht von allen Seiten immer mit der ihr angemessenen Objektivität geführt. Insbesondere Sozialdemokraten und Linkspartei lassen jegliche Sachlichkeit vermissen. Sie diskreditieren die Reformüberlegungen bei jeder Gelegenheit und schrecken nicht einmal davor zurück, in der Öffentlichkeit die Unwahrheit zu verbreiten. Sie behaupten, die Regierungsfraktionen würden die Verwaltung privatisieren wollen. Dieses ist schlicht die Unwahrheit. Wir haben immer gesagt, dass wir überprüfen wollen, ob und welche vergabefähigen Produktgruppen es in der WSV gibt, die durch Vergabe an Dritte wirtschaftlicher zu betreiben sind, als wenn dieses in Eigenleistung der Verwaltung geschieht. Im Sinne eines aktivierenden Staates können Aufgaben auch externalisiert werden. Ist dies nicht der Fall, so werden die Aufgaben weiter von der WSV wahrgenommen werden, ganz nüchtern, sachlich und frei von irgendwelcher Ideologie. In die beschriebene Richtung stößt auch der Antrag der Linkspartei, eine Aneinanderreihung von objektiv falschen Annahmen und Behauptungen, die überhaupt kein Gesamtkonzept erkennen lassen. Sollten Ihre Vorstellungen Realität werden, ist die Zukunftsfähigkeit der WSV gefährdet und mit ihr die Sicherheit und Leichtigkeit der Schifffahrt. Dem Antrag der Grünen hingegen kann ich eine gewisse Sympathie entgegenbringen. Nachdem Sie als Teil der rot-grünen Regierung mit dafür verantwortlich waren, dass die Reformbemühungen des Kernaufgabenpapiers von 2001 gestoppt wurden, scheint ein Umdenkprozess stattgefunden zu haben. So finden sich in Ihrem Antrag einige Ansätze, bei denen wir nah beieinander sind. Im zweiten Bericht stellt das Bundesverkehrsministerium auf eine Kategorisierung der Wasserstraßen auf der Basis der im Jahr 2025 prognostizierten beförderten Tonnage ab. Wie Sie bin ich der Ansicht, dass die reine Betrachtung der Tonnage zu wenig ist, um die Bedeutung einer Wasserstraße bemessen zu können. Die von Ihnen hier gewünschte Präzisierung durch zusätzliche Parameter wie Containereinheiten, Personenschifffahrt oder den Wassertourismus gehen aus meiner Sicht in die richtige Richtung. Allerdings springen Sie zu kurz; denn zur angemessenen Beurteilung bedarf es einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der unter anderem auch Wertschöpfungsketten und kombinierte Verkehre mit einfließen müssen. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass das Ministerium Transparenz darüber schafft, wie es zu seiner Verkehrsprognose gelangt ist. Im Übrigen muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Reformüberlegungen der christlich-liberalen Koalition grundsätzlich erst einmal gar nichts mit einer Kategorisierung der Wasserstraßen zu tun haben. Die Reform dient dem Zweck, die Wasser- und Schifffahrtsstraßenverwaltung zukunftsfähig, effizient und leistungsstark zu erhalten. Eine Kategorisierung kann sinnvoll sein, darf aber natürlich erst erfolgen, wenn eine sorgfältige Aufgabenkritik erfolgte. Darum ist die Anfrage der Grünen nach Vorlage eines Gesamtkonzeptes zur Aufgaben- und Personalstruktur und der daraus abzuleitenden Aufbauorganisation sinnvoll. Gleiches gilt für den Aufgabenkatalog, in dem Sie eine Unterscheidung sämtlicher Tätigkeiten der WSV zwischen Gewährleistungs- und Durchführungsverantwortung wünschen. Welchen Zweck eine Regierungskommission erfüllen soll, erschließt sich mir nicht. Glauben Sie denn ernsthaft, dass durch die Hinzuziehung zusätzlicher Verbände die Entscheidungsprozesse flexibler, zielgerichteter und effizienter erfolgen? Hier habe ich den Eindruck, dass es Ihnen ausschließlich darum geht, Ihre eigene Klientel mit einzubringen, um der WSV zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen, die nicht dem hoheitlichen Auftrag der Verwaltung entsprechen. Alles in allem haben die Grünen einen nicht ganz uninteressanten Antrag vorgelegt, der aus meiner Sicht allerdings noch erhebliche Mängel aufweist. Über den Antrag der Linken habe ich genug gesagt. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke steht an der Seite der Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Arbeit der WSV so verändern, dass sie fit für die Zukunft ist. Sie soll künftig stärker an einer ökologischen Flusspolitik ausgerichtet werden. Die Regierungsparteien wollen die WSV zu einer sogenannten Gewährleistungsverwaltung machen. Die Beschäftigten dort sollen nur noch Arbeiten planen, fremdvergeben und kontrollieren, ob auch alles richtig gemacht wird. Die Arbeitsplätze von Wasserbauern, Binnenschiffern, Arbeitern und Angestellten bei der WSV werden weitgehend überflüssig. Das ist keine Reform, das ist die Zerschlagung der WSV. Diese Pläne müssen vom Tisch. Die Sicherheit und der Betrieb auf den Flüssen liegt im gesamtwirtschaftlichen Interesse. Die WSV ist für den reibungslosen Ablauf auf einem der am stärksten befahrenen Wasserstraßennetze verantwortlich, sie orgaZu Protokoll gegebene Reden nisiert die Notfallvorsorge bei Schiffsunfällen, macht Schadstoffbekämpfung, schützt die Infrastruktur für den gewerblichen und privaten Verkehr auf Flüssen und Kanälen und arbeitet auch heute schon daran, einen guten ökologischen Gewässerzustand zu bewahren oder wieder herzustellen. Das ist Daseinsvorsorge, und die gehört in die öffentliche Hand. Da hat nichts mit Stillstand zu tun oder mit sturem Festhalten an überholten Strukturen. Die WSV hat viele Umbauten hinter sich. Gemeinsam mit externen Beratern und internem Sachverstand hat man die Organisation umgebaut. Meistens war Personalabbau der Grund, dass die Arbeitsabläufe umgestaltet werden mussten. Seit 1993 hat die WSV fast 5 000 Arbeitsplätze abgebaut. Schon heute fehlen Fachkräfte für die Arbeit, die dann an Fremdfirmen vergeben wird. Was übrigens teilweise teurer ist als vorher. Das bestätigt selbst das Verkehrsministerium. Bis 2020 sollen nochmal 2 800 Stellen verschwinden. Jede weitere Kürzung beim Personal stellt die Arbeitsfähigkeit der WSV infrage. Die Linke will eine Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erhalten, die bisherige Aufgaben aufgibt und neue Aufgaben übernimmt, die für eine ökologische Flusspolitik nötig sind. Wir wollen einen Umbau, der Verkehrsverlagerung von der Betonstraße auf die Wasserstraße möglich macht. Denn der Anteil des Güterverkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsträgern muss deutlich erhöht werden, insbesondere beim Abtransport der Güter aus den Seehäfen - übrigens eine Forderung, die im Nationalen Hafenkonzept und dem Aktionsplan Güterverkehr und Logistik der Bundesregierung steht. Wir wollen erreichen, dass wenig genutzte Gewässer renaturiert werden, um einer ökologischen Flusspolitik gerecht zu werden. Der Naturschutz muss stärker in die Arbeit einbezogen werden, um eine naturnahe touristische Nutzung eines Flusses möglich zu machen. Das erfordert Personal, Ressourcen und fachliche Kompetenzen. Die Pläne des Bundesverkehrsministeriums zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung schlagen immer höhere Wellen, denn es gibt einen Sturm der Entrüstung. Es gibt Protest der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Ich zitiere: „Eine Umsetzung des Berichts würde die Leistungsfähigkeit der WSV zerstören, die Wasserstraße als Verkehrsträger und als ökologisches Gesamtsystem irreparabel schädigen, die WSV für die SteuerzahlerInnen verteuern … und Arbeits- und Ausbildungsplätze, nicht nur in der WSV, vernichten.“ So schreibt die Fachabteilung beim Verdi-Bundesvorstand. Es gibt Protest von immer größeren Teilen der Fachverbände und Wirtschaftsverbände aus der ganzen Republik. Protest gibt es nicht nur von den Oppositionsparteien, sondern auch aus den eigenen Reihen: Wenn die Verkehrsministerkonferenz aller Bundesländer die Pläne ablehnen und beschließen, dass „die erhebliche Unterfinanzierung im Wasserstraßenhaushalt“, die ja als Begründung herhalten musste, „durch die erwogene Kategorisierung nicht kompensiert werden“ kann, wenn die Verkehrsminister feststellen, dass der „Umbau der WSV von einer Ausführungs- zu einer Gewährleistungsverwaltung die WSV in ihrer heutigen Struktur infrage stellen“ würde, wenn sie beschließen, dass es „sowohl den Erhalt als auch den Ausbau eines leistungsfähigen Wasserstraßennetzes infrage“ stellen würde, spätestens dann sollte ein Minister aufwachen und umsteuern. Der Bundesverkehrsminister wurde deswegen auch heute bei der Bundeskanzlerin zum Rapport bestellt. Herr Ramsauer, arbeiten Sie nicht gegen den Willen der ganzen Republik! Nicht nachvollziehbar ist die Position von Bündnis 90/ Die Grünen in der Frage Zukunft der WSV. Sie fordern in ihrem Antrag, die WSV unter der Regie des Bundesrechnungshofs zu reformieren. Ich bezweifle, dass dort die Kompetenz vorhanden ist, um die Aufgaben der WSV zu beschreiben. Und dann noch zu fordern, dass bis zur Vorlage eines Reformvorschlags auf Dienstvereinbarungen mit Personalräten und Tarifvereinbarungen mit Gewerkschaften zu verzichten ist, das geht dann doch zu weit. Das ist ein Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Umbaupläne des Verkehrsministers sind ganz offenkundig auf Drängen einer kleinen marktradikalen Minderheit, nämlich auf Drängen der FDP, aus der Mottenkiste geholt worden. Die CDU/CSU lässt sich von ihrem Koalitionspartner treiben und stellt sich in der Diskussion mit Beschäftigten so dar, dass sie die Beschäftigten lediglich vor noch schlimmeren Plänen der FDP bewahren will. Machen Sie dem ein Ende! Wir fordern die Bundesregierung auf, die WSV angemessen auszustatten, um den vielfältigen Anforderungen der Binnenschifffahrt und einer umweltverträglichen Verkehrspolitik zu genügen. Das Wiederbesetzungsmoratorium und der Beförderungsstopp müssen aufgehoben werden. Für die über 1 000 Auszubildenden muss es eine angemessene Übernahmequote geben. Machen wir gemeinsam die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung als öffentliche Einrichtung zukunftsfest.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unser Antrag lautet: „Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren“. Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung beschäftigt uns nun schon eine geraume Zeit - und derzeit sieht es nicht danach aus, dass wir sie zügig zum Abschluss bringen könnten. Die Berichte der Bundesregierung lassen sehr viele Fragen offen. Schon der erste Bericht hatte viele Mängel. Offensichtlich haben die Aufträge des Haushaltsausschusses nicht zu mehr Klarheit im Bundesverkehrsministerium geführt. Die Bundesregierung scheint selbst nicht zu wissen, was sie eigentlich erreichen will. Deswegen passt oft ein Ende nicht zum anderen. Zwar gibt es richtige Ansätze, die wir begrüßen, nur fehlt die Eindeutigkeit, wohin man damit will. Die Festlegung einer neuen Netzstruktur der Bundeswasserstraßen ist ein richtiger Ausgangspunkt. Aber nur wenn auch endlich strategische Ziele für das System Wasserstraße definiert und daZu Protokoll gegebene Reden raus die notwendigen Aufgaben abgeleitet werden, kann man die Verwaltung schließlich effizient organisieren. Das Kernproblem dieser Reform ist jedoch, dass sie im „stillen Kämmerlein“ ausgearbeitet wurde. Sogar uns Abgeordneten wurde untersagt, die Direktionen, Ämter und Außenbezirke zu besuchen. Fraktionsübergreifend haben wir uns dagegen ausgesprochen. Mit diesem Vorgehen hat das Verkehrsministerium bei allen Betroffenen nachdrücklich für Verunsicherung gesorgt. Spekulationen über eine mögliche Zerschlagung wurde breiter Raum gegeben - und damit der Erfolg der eigenen Arbeit gefährdet. Das ist absolut unverständlich. Wir Grünen haben im letzten Jahr die ersten Ideen für eine neue Netzstruktur vorgestellt und eine Reform der Verwaltung gefordert. Wir haben die Regierungskoalition im Haushaltsausschuss unterstützt und es uns nicht als Opposition bequem gemacht. Dazu stehen wir, und wir sehen uns hier auch in einer besonderen Verantwortung, diese Reform erfolgreich umzusetzen. Ich gehe in die Ämter und höre, wie dort die Reformvorschläge bewertet werden. Sehr oft konnte ich feststellen, dass vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Defizite ihrer Verwaltung wohl bekannt sind und die Bereitschaft besteht, die Mängel zu beheben. Uns ist klar: Eine Reform dieses Ausmaßes kann nur mit den Beschäftigten und Betroffenen gemeinsam erfolgen. Als Gegensatz zu dieser Bereitschaft vor Ort empfinde ich die Erarbeitung der Reform im Hause Ramsauer. Hier scheint der echte Wille zu fehlen, wirklich etwas ändern zu wollen. Ganze vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verkehrsministerium hatten in drei Monaten ein neues Konzept für über 10 000 Beschäftigte zu entwickeln - mit weitreichenden Auswirkungen für die Logistikbranche und auf ganze Regionen. Die Ergebnisse dieses Vorgehens sind recht klar im zweiten Bericht der Bundesregierung zu lesen. Zahlreiche Verbesserungsvorschläge und Präzisierungen wurden ignoriert und nicht aufgenommen. Vor allem das Festhalten an der Tonnagemenge ist nicht nachvollziehbar. Es ist nicht klar, wie man diese Mengen berechnet, wenn der Bericht die Verkehrsprognose 2025 und dazu nebulös „weitere Spezialprognosen“ zur Grundlage nimmt. So rutscht etwa die Elbe im Gegensatz zum letzten Bericht um eine Kategorie nach oben. Für wen soll hier wirklich nachvollziehbar sein, auf welcher Grundlage diese Reform aufgebaut wird? Das Vorgehen ist einfach nicht transparent. Neben dieser unklaren Datengrundlage ist jedoch auch die Festlegung der Netzstruktur allein anhand der beförderten Tonnen pro Jahr nicht zweckmäßig. Bestimmte Güter können nicht aussagekräftig in physischen Gewichtseinheiten gemessen werden, sondern werden auch in der Anzahl der umgeschlagenen und transportierten Container bewertet. Gerade der steigende Anteil an Containern in der Schifffahrt muss deswegen bei der Netzstruktur der Wasserstraßen berücksichtigt werden. Mit dieser Datenbasis ist die gesamte Reform äußerst wackelig. Damit sind die angegebenen Zeitpläne Makulatur. Im Kern sind die beabsichtigten Abläufe sogar gefährlich: Bevor überhaupt breit diskutiert wurde und der Haushaltsausschuss die Reformabsichten bewertet hat, will das Ministerium bereits mit der Entwidmung und Renaturierung bestimmter Wasserstraßen beginnen, ohne dass eine tragfähige Idee vorhanden ist, was die Auswirkungen der Entwidmungen sind. Bevor damit begonnen wird, muss mit betroffenen Wassersport- und Tourismusverbänden sowie Ländern und Kommunen über eine mögliche Übergabe oder die Neuregelung der Verantwortung gesprochen werden. Wenn hier die hoheitlichen Aufgaben im Hauruckverfahren aufgegeben werden, muss zukünftig bei jeder Ufersicherung oder Instandsetzung durch die örtlichen Behörden eine Genehmigung eingeholt werden. Außerdem würde eine Wasserstraße mit ungeklärtem Folgestatus nicht mehr dem Bundeswasserstraßengesetz unterliegen, und demzufolge wäre unklar, wie und durch wen dann die erst kürzlich aufgenommenen Ziele der Wasserrahmenrichtlinie umzusetzen sind. Hier merkt man besonders deutlich, dass die Reform einzig aus verkehrspolitischer Sicht erfolgt und dann auch noch so schlecht. Politik heutzutage kann jedoch die Probleme nicht nur von einer Seite betrachten, sondern muss die Auswirkungen auf viele Politikbereiche berücksichtigen. Bei dieser Reform gibt es einen eklatanten Mangel aus der Umwelt- und Naturschutzsicht sowie bei den Auswirkungen auf den Tourismus und die regionale Wirtschaftsförderung. Wenn diese Aspekte nicht eingebunden werden, wird die Reform entweder halbgar oder ganz scheitern und definitiv zu höheren statt geringeren Kosten führen. Insgesamt kann man damit nur sagen: Die Bundesregierung hat bei dieser Reform weder gewollt noch gekonnt. Der einzige Ausweg ist deswegen das Aussetzen der Reform und die sofortige Einsetzung einer Kommission, an der alle Betroffenen beteiligt werden. Diese Kommission soll die Umsetzung der neuen Netzstruktur der Bundeswasserstraßen und eine Verwaltungsreform der Wasserund Schifffahrtsverwaltung begleiten. In ihr sollen Vertreter der Schifffahrtsbranche, der Häfen, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Umwelt- und Naturschutzverbände und Expertinnen bzw. Experten für Verwaltungsreformen vertreten sein. Mit einem breiten Konsens können hier Wege gefunden werden, um eine unumstrittene Reform zu erarbeiten und umzusetzen. Ich fordere alle Fraktionen und Betroffenen auf, sich für diese Kommission einzusetzen!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5056 und 17/5548 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren und gewährleisten Vizepräsident Eduard Oswald - Drucksache 17/5390 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Deutschland werden die Bürger- und Menschenrechte vom Grundgesetz und von den Landesverfassungen gewährleistet. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist der Leitsatz unserer Verfassung. Deutschland hat alle zentralen Übereinkommen der Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäischen Union zum Schutz der Menschenrechte nicht nur unterzeichnet, sondern setzt sie auch um. Die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte finden in nur wenigen Ländern der Welt auf so hohem Niveau, und zwar in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, Anwendung wie in unserem Lande.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deutschland ein Entwicklungsland in Sachen Menschenrechte - auf einer Stufe mit so finsteren Diktaturen wie Nordkorea, Iran oder Saudi-Arabien? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei. Das suggerieren sie schon mit der Überschrift Ihres Antrags, und das findet sich so auch in manchen Forderungen wieder. Das ist der falsche Ansatz für durchaus berechtigte Kritik in manchen Bereichen des Menschenrechtsschutzes in Deutschland, und das diskreditiert Ihr Anliegen schon im Ansatz. Ich sage dies nicht, weil ich Kritik an der Menschenrechtslage in Deutschland für unzulässig halte. Im Gegenteil, bin ich doch im Gegensatz zu vielen Kolleginnen und Kollegen der Union, vor allem der Innenpolitiker, sehr davon überzeugt, dass eine solche innenpolitische Kritik an der Menschenrechtslage notwendig, berechtigt und im Übrigen auch im Aufgabenprofil des Menschenrechtsausschusses angelegt ist. Aber, wenn man Ihren Antrag liest, drängt sich der Eindruck auf, dass in Deutschland die Menschenrechtslage geradezu katastrophal ist und wir in einem Land leben, in dem es im Menschenrechtsbereich in den letzten zehn Jahren keine Fortschritte gegeben hätte. Wer das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, liest, ohne die tatsächlichen Gegebenheiten zu kennen, der muss zu dem Schluss kommen, dass bei den Menschenrechten in Deutschland alles im Argen ist; denn sie malen alles schwarz, gehen immer vom Schlimmsten aus und pauschalisieren. So sprechen Sie von Menschenrechtsverletzungen bei Behinderten, erwähnen aber mit keinem Wort, dass mit der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention durch Deutschland und der Schaffung der Monitoringstelle zur Einhaltung dieser Konvention, angesiedelt beim DIM, die Verbesserung für diese Menschen aktiv politisch vorangetrieben wird. Hier wäre sachliche Detailkritik am Stand der Umsetzung richtig und erforderlich, zum Beispiel bei der Frage der Inklusion im Bildungsbereich. Auch erwähnen Sie bei der Frage nach Menschenrechtsverletzungen gegenüber Homosexuellen mit keiner Silbe die Verbesserungen für diese Gruppe durch die Gesetzgebungsinitiativen unter Rot-Grün. Auch verdrängen Sie, dass nach langem Drängen insbesondere der SPD mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur Kinderrechtskonvention auch dort etwas zum Positiven in Bewegung ist. Hier würden Sie unsere Unterstützung finden, wenn Sie unter Würdigung der auch von allen Nichtregierungsorganisationen begrüßten Rücknahme mit uns gemeinsam fordern würden, dem nun auch gesetzgeberische Umsetzungen im Bundesrecht folgen zu lassen, im Aufenthaltsrecht oder Sozialrecht. Genauso wenig thematisieren sie unser intensives Engagement im Menschenrechtsausschuss, für die Kinderrechtskonvention ein Individualbeschwerdeverfahren zu schaffen. Es geht nicht darum, irgendetwas schönzureden. Das ist auf keinen Fall mein Ziel. Aber ich finde es für eine effektive und glaubhafte Menschenrechtsarbeit äußerst gefährlich, so zu tun, als sei die Menschenrechtslage in Deutschland grundsätzlich und komplett negativ und als katastrophal einzuschätzen. Genauso gefährlich ist das Gesundbeten von tatsächlich vorhandenen Missständen; denn beides verstellt den Blick auf die Realitäten und macht konkrete Schritte zur Verbesserung der Menschenrechtslage von zum Beispiel Kindern, älteren Menschen, Migranten und Migrantinnen und Behinderten schwieriger. Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Ihr Bild der Realität vermittelt einen definitiv falschen Eindruck. Diese extrem negative Sicht der Dinge ist falsch. Es gibt einiges zu tun, um die Menschenrechtslage auch in Deutschland zu verbessern, fürwahr, darüber debattieren wir immer wieder, gerade im Menschenrechtsausschuss. Aber diesem durchaus berechtigten Anliegen werden Sie mit Ihrer Pauschalkritik nicht nur nicht gerecht, Sie konterkarieren darüberhinaus auch die Bemühungen derjenigen, die in oft mühevoller Kleinarbeit Fortschritte im Detail erzielen wollen. Die Selektivität Ihrer Wahrnehmung ergibt sich zum Beispiel aus Folgendem: Sie kritisieren den 4. Staatenbericht Deutschlands zum Sozialpakt aus dem Jahr 2001. Für die Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens wäre es dabei sicherlich nicht völlig falsch gewesen, zumindest darauf hinzuweisen, dass bereits 2008 der 5. Staatenbericht vorgelegt wurde. Dieser wurde erst vor wenigen Wochen in der 46. Sitzung des zuständigen Fachausschusses erörtert. Ergebnis war eine überwiegend positive Bewertung des Berichts und der Situation in Deutschland, allerdings verbunden mit der Aufforderung an den Gesetzgeber, das größte Defizit, nämlich die ausstehende Ratifizierung des Fakultativprotokolls endlich zu beseitigen. Dieser Forderung schließt sich die SPD-Fraktion nicht nur nachdrücklich an, wir haben dies bereits auch im Deutschen Bundestag mehrfach angesprochen und auch antragsmäßig eingebracht, aller12438 dings hat die Linksfraktion dies im Bündnis mit den Koalitionsfraktionen abgelehnt. Ein Großteil Ihrer zehn Forderungen ist in der Substanz nicht falsch, in der konkreten Frage nach Umsetzung fehlt fast alles. So ist es schön und richtig, zu fordern, Kinder- und Altersarmut mit allen erforderlichen Maßnahmen zu bekämpfen und ihr vorzubeugen. Nun wäre man als interessierter Bürger diese Landes schon interessiert, zu erfahren, was denn nach Auffassung der Linksfraktion diese „erforderlichen Maßnahmen“ sind. Antwort: Fehlanzeige. Sie fordern in Ziffer 3 „Kindern und Jugendlichen ({0}) frühzeitig Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe und Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten einzuräumen und hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen“. Prächtig! Wie wäre es denn mal mit eigenen Vorschlägen, so wie es die SPD immer wieder getan hat, zum Beispiel eine Streichung der Übermittlungspflicht des § 87 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, wonach Kinder ohne Aufenthaltsstatus von Schulen an die Ausländerbehörden gemeldet werden müssen? Zuviel verlangt? Des Weiteren fordern sie - ich zitiere -, „die soziale, gesellschaftliche und politische Partizipation der in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von Geschlecht, Behinderung, Herkunft, Religions- oder Konfessionszugehörigkeit, Hautfarbe oder sozialem Status, zu gewährleisten“. Auch das ist eine gute und richtige Forderung, die so pauschal und unkonkret jeder mittragen möchte, der nicht als Rassist gelten will. Aber was bedeutet das konkret in politisches Handeln übersetzt. Auf welcher Gesetzgebungsebene und mit welcher konkreten Gesetzgebungsinitiative soll diese Forderung in die Realität umgesetzt werden? Also ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Diskriminierungsfreiheit für alle Menschen in Deutschland zu fordern, ohne konkret zu benennen, was zum Beispiel bei der Umsetzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes schief läuft, um nur ein Beispiel zu nennen, ist für den, der politisch mit realen Gesetzgebungsinstrumenten tatsächlich etwas verändern will, zu wenig. Das reicht vielleicht für eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung, aber nicht für die politisch-praktische Arbeit. Wenn Sie in Ziffer 8 Ihres Antrages unter anderem eine „sanktionsfreie und bedarfsdeckende Mindestsicherung“ fordern, so sollten Sie das schon erläutern. Meinen Sie das in der Gesellschaft diskutierte bedingungslose Grundeinkommen und damit eine Abkehr vom Grundkonsens, nach dem gute Arbeit und Beschäftigung und damit verbunden die Sicherung menschenwürdigen Lebens durch eigene Arbeitsleistung einen Wert an sich darstellen? Oder meinen Sie mit Sanktionsfreiheit „nur“, dass bei staatlichen Transferleistungen, die von allen, die Arbeit haben, mit erwirtschaftet werden, überhaupt keine Regeln mehr gelten sollen? Fragen über Fragen, jedenfalls mehr als Antworten. Aber, um nicht in den Verdacht zu geraten, genauso schwarzmalerisch mit Ihrem Antrag umzugehen, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das Bild der Menschenrechtslage in Deutschland zeichnen, möchte ich erwähnen, dass wir zum Beispiel Ihre nun seltenerweise einmal konkret formulierte Forderung, Flüchtlingskinder von 16 und 17 Jahren nach der Kinderrechtskonvention zu behandeln und verfahrensrechtlich nicht als Erwachsene einzustufen, zu 100 Prozent unterstützen. Auch unterstützen wir die Forderung der Linken, dass allen Kindern, auch und vor allem denen ohne kontinuierliche Aufenthaltsgenehmigung, wie in der Behindertenrechtskonvention und der Kinderrechtkonvention rechtlich verbindlich vorgegeben, uneingeschränkter Zugang zu Bildungsstätten gewährt werden muss. Ja, es stimmt. Auch in Deutschland gibt es Defizite bei der Umsetzung menschenrechtlicher Standards. Ein Land, in dem alles zu 100 Prozent umgesetzt ist, gibt es nicht. Die Bundesrepublik hat fast alle Menschenrechtsverträge gezeichnet und ratifiziert, bei der Implementierung gibt es noch einiges zu tun. Die SPD-Bundestagsfraktion wird alles tun, um die selbst gesetzten Ansprüche unseres Landes und unserer Gesellschaft auch umzusetzen, immer wieder und mit konkreten Vorschlägen. Wir tun dies auch, um unserer eigenen Glaubwürdigkeit willen, wenn wir die Umsetzung der Menschenrechte in anderen Staaten fordern. Mit einem pauschalen Rundumschlag, der unser Land darstellt, als seien wir in der Zeit vor der Aufklärung steckengeblieben, werden wir diesem Ziel nicht gerecht. Ich würde mir wünschen, dass die Regierungskoalition in ihrer Menschenrechtsarbeit endlich den innenpolitischen Aspekt ernster nimmt und die Linke endlich konkret brauchbare Sacharbeit im Menschenrechtsbereich vorlegen würde, die sich nicht an der Vermarktung ihrer eigenen Thesen orientiert.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der Fraktion Die Linke „Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren und gewährleisten“ ab. Der Antrag erschöpft sich in einem Stakkato aus Behauptungen. Diese Behauptungen werden in der Regel nicht belegt oder näher ausgeführt. So wird zum Beispiel davon gesprochen, es würden bei der Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit Muslime benachteiligt. Die verfassungsrechtlich garantierte innere und äußere Glaubensfreiheit in Deutschland ermöglicht auch Muslimen das Praktizieren ihrer Religion ohne jegliche Einschränkungen. Der Antrag der Linken negiert in jeglicher Hinsicht die Erfolge dieser christlich-liberalen Koalition, welche im Koalitionsvertrag manifestiert und umgesetzt wurden. So haben wir das Bleiberecht gelockert. Bei der Residenzpflicht möchten wir eine hinreichende Mobilität, insbesondere im Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme. Persönlich wünsche ich mir auch ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Ausländer. Gerade als christlich-liberale Koalition haben wir in unserem Koalitionsvertrag ein besonderes Augenmerk auf die Menschenrechte im In- und Ausland gelegt. Maßgabe unserer Politik ist der Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, GG, der lautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unZu Protokoll gegebene Reden verletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Daher würden wir uns als Bundesregierung verfassungswidrig verhalten, wenn wir dies nicht beachten würden. Als Bundesregierung sind wir dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten, der den Rang eines Gesetzes hat. Dies alles zeigt, wie ernst es uns mit der Einhaltung der Menschenrechte in unserem Land ist. Mit unserem Koalitionsantrag „Menschenrechte weltweit schützen“ haben wir für die gesamte Legislaturperiode und darüber hinaus einen zielführenden und wegweisenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Hierin wird ganz klar: Wir Liberale wollen starke Menschenrechte - national und international. Der Antrag der Linken enthält aus Sicht der FDPBundestagsfraktion nur abstruse Forderungen, die jeglicher Grundlage entbehren. Im Lichte dieser Ausführungen kann dieser Antrag der Linken nur abgelehnt werden.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung singt gern das Hohelied der Menschenrechte. Gegenüber ausgewählten Ländern erhebt die Bundesregierung gern den moralischen Zeigefinger, auch um von der Situation im eigenen Land abzulenken. Art. 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wir haben allerdings in der Bundesrepublik keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Die Menschenwürde wird in diesem Land alltäglich verletzt. Dies gilt vor allem für Kinder, die in Armut leben, für die Ausgrenzung von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen und von Menschen mit Behinderungen. Gerade die konkrete Lebenssituation der sozial Benachteiligten und Schwachen ist aber der Lackmustest für unsere realen Menschenrechtsstandards! Wer definiert in diesem Land eigentlich, was zu einem Leben in Menschenwürde gehört? Ich möchte diesen Zusammenhang am Beispiel der Kinderarmut näher erläutern: Seit einigen Jahren steigt die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland unaufhörlich an, und man fragt sich: Wieso ist das so? Laut aktuellen Angaben der Kindernothilfe wachsen derzeit rund 3 Millionen Kinder unter Armutsbedingungen auf. Hinzu kommt, dass unser Bildungssystem die Armut zementiert, weil es kaum Aufstiegschancen bietet. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung können inzwischen Arbeiterkinder in den USA leichter studieren als in Deutschland. Dieses Verhältnis war früher einmal umgekehrt. 85 Prozent der Kinder mit Behinderungen besuchen in Deutschland sogar Sonderschulen, und keines dieser Kinder erreicht die Fach- oder die Hochschulreife. Kinder- und Jugendarmut ist für ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik ein gesellschaftspolitischer Skandal! Die großen Wirtschaftskonzerne werden als Verursacher der Finanzkrise entlastet, und bei der Armutsbekämpfung und anderen Sozialausgaben wird gekürzt. Allein in meinem Bundesland RheinlandPfalz sind über ein Fünftel der 15- bis 18-Jährigen arm. Die Ursache für Kinderarmut ist meist die Einkommensarmut der Eltern. Küchenhilfen in Trier bekommen 4 Euro Stundenlohn, Überstunden werden mit einer Pizza oder mit Bier entgolten. Wie soll damit eine Familie ernährt werden? Die Kinder aus solchen armen Familien gehen häufig ohne ein Pausenbrot in die Schule. Weil den Eltern das Geld fehlt, müssen sie auch auf bestimmte Freizeitaktivitäten wie einen Schwimmbadbesuch verzichten oder können nicht an Klassenfahrten teilnehmen. Kindergerechte Teilhabe und Menschenwürde sehen anders aus! Die sogenannte Reform-Agenda 2010 hat Millionen Menschen in Deutschland in Armut gestürzt. Damit wurde ein bislang ungekannter Raubbau vor allem an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten der Schwächsten unserer Gesellschaft betrieben. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn zur Durchsetzung der Menschenwürde und der Menschenrechte von Millionen Betroffenen und ihren Kindern. Um die Massenarmut zu bekämpfen, fordert die Linke einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro pro Stunde. Ansonsten gibt es keine sozial gerechte Teilhabe in unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung könnte hierbei von unseren europäischen Partnern lernen. Im Europarat fordert selbst die Gruppe der Europäischen Volkspartei, das sind die Konservativen, die Einführung von Mindesteinkommensgarantien. In Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von 10,16 Euro pro Stunde. Auch in Frankreich gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Arbeit muss eben angemessen bezahlt werden, um ein Leben in Würde zu ermöglichen. Das sind die Vorbilder, an denen sich die Bundesregierung orientieren müsste. Stattdessen betreibt Schwarz-Gelb lieber eine Sündenbockpolitik, die die Betroffenen selbst für ihre Misere verantwortlich macht. Menschenunwürdig ist auch Deutschlands Umgang mit Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Bei Flüchtlingen und Asylsuchenden haben wir ein menschenfeindliches Abschottungssystem geschaffen, für das wir uns schämen müssen. Sofern wir Flüchtlinge nicht vor den Mauern der Festung Europa im Mittelmeer ertrinken lassen oder abweisen, behandeln wir diejenigen, die es trotz allem zu uns schaffen und einen Asylantrag stellen, praktisch wie Kriminelle. Das Asylverfahren und insbesondere die Abschiebepraxis verletzen eindeutig die Menschenwürde der Betroffenen. Oft werden ganze Familien auseinandergerissen und zusätzlich traumatisiert. In Rheinland-Pfalz finden beispielsweise regelmäßig „Rückkehrberatungen“ mit Flüchtlingen statt. Für einen Laptop, einen „Wirtschaftsplan“ für die Selbstständigkeit und etwas Bargeld werden die Schutzsuchenden dann wieder abgeschoben. Und dies wird dann als freiwillige Rückkehr bezeichnet. Dabei fehlt doch in den Herkunftsländern oft sogar der Stromanschluss für einen Laptop. So sieht die Flüchtlingspolitik in Deutschland aus. Das spricht Bände über das Verständnis von Menschenrechten! Zu Protokoll gegebene Reden Die Linke fordert einen sofortigen Abschiebestopp und einen menschenwürdigen Umgang mit Schutzsuchenden und Asylsuchenden. Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht gehören abgeschafft; denn sie beschneiden elementare Menschenrechte. Es reicht nicht aus, nur an die Vernunft der Bundesregierung zu appellieren, dass sie die Würde und Rechte aller in Deutschland lebenden Menschen besser achten möge. Die Linke fordert die Konkretisierung des Sozialstaatsgebots durch die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz. Dies ist notwendig, um künftig Verletzungen insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in Deutschland besser zu begegnen und vorzubeugen. Die vorhandenen deutlichen Defizite vor allem in den Bereichen Armut, Arbeit, Wohnen, Gesundheitsversorgung und Bildung sind in allererster Linie Menschenrechtsverletzungen, die umgehend zu beseitigen sind. Nur in dem Maße, in dem Menschen über soziale Grundrechte verfügen, werden Freiheitsrechte umfassend wirksam. Ohne ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Freiheit. Beides gehört zusammen, es sind die beiden Seiten derselben Menschenrechtsmedaille!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Antrag der Fraktion Die Linke wählt einen Ansatz, den wir sehr begrüßen: bei der Menschenrechtspolitik nicht nur mit dem Finger auf ferne Staaten zu zeigen, sondern hier in Deutschland anzufangen. Die Universalität der Menschenrechte zwingt uns dazu, vor unserer Haustür die gleichen Standards anzulegen, die wir von unseren internationalen Partnern weltweit einfordern. Dass in anderen Staaten die Menschenrechte in viel stärkerer Weise als bei uns beeinträchtigt werden, ist uns klar. Mit Schrecken schauen wir auf Folter, Vertreibung, willkürliche Verhaftungen und vieles mehr, vor dem wir uns in Deutschland nicht zu fürchten brauchen. Doch auch in Deutschland gibt es menschenrechtliche Defizite. Sei es die Gewalt gegen Minderheiten, die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, zunehmende Armut gerade von Kindern, Barrieren beim Zugang zu Bildung, ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern bis hin zum Pflegeskandal im Alter - Verletzungen und Mängel ziehen sich durch viele Bereiche. Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion oder anderer sexueller Orientierung werden auch in der Bundesrepublik Opfer von Hetze und tödlicher Gewalt, genauso wie Obdachlose oder Menschen mit Behinderungen. Und ein ums andere Mal wird die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichthof getadelt, endlich die verfassungs- und europarechtswidrige Diskriminierung von Schwulen und Lesben zu beenden. Aber anstatt eine vorausschauende und menschenrechtskonforme Antidiskriminierungspolitik zu betreiben, lässt sich SchwarzGelb lieber in regelmäßigen Abständen von den Gerichten einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen. Was ist eigentlich aus den Gleichstellungsversprechen der Liberalen im Wahlkampf geworden? Wenn wir über den Menschenrechtsschutz in Deutschland sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass zuweilen Menschenrechtsverletzungen gar nicht von staatlichen Akteuren verursacht werden, sondern von transnational agierenden Unternehmen, und dass auch deutsche Unternehmen Menschenrechtsverletzungen begehen. Der weltweite Rohstoffhunger führt dazu, dass Bodenschätze unter menschenrechtswidrigen Bedingungen gefördert und Waren zu unmenschlichen Bedingungen produziert werden. Das Schielen auf Profit führt dazu, dass Unternehmen die von Staaten begangenen Menschenrechtsverletzungen dulden oder zumindest in fahrlässiger Weise fördern. Wir sehen aktuell an der Klage von Opfern der Apartheid unter anderem gegen die Daimler AG, dass auch deutsche Unternehmen bei diesem Spiel beteiligt sein können. Was die Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen und Straftaten brauchen, sind keine warmen Worte, sondern rechtliche Möglichkeiten, auch noch nach langer Zeit ihre Schadenersatzansprüche effektiv vor deutschen Gerichten geltend zu machen. Die konservativ-neoliberale Koalition schweigt dazu. Das einzige was ihr einfällt, sind freiwillige Selbstverpflichtungen der Unternehmen, in denen sie sich zur Einhaltung der Menschenrechte im Ausland verpflichten können. Dieses Konzept aber hat sich über die Jahrzehnte hinweg als weitestgehend gescheitert herausgestellt. Um ihren extraterritorialen Staatenpflichten nachzukommen, benötigt die Bundesrepublik endlich Gesetze, die das Verhalten deutscher Unternehmen im Ausland im Umgang mit den Menschenrechten klar regeln. Leider geht auch der Antrag der Fraktion Die Linke hierauf nicht ein. Der vierte periodische Bericht über die Durchführung des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 2001 kritisiert, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in Deutschland weniger Beachtung finden und geringer gesichert sind als die bürgerlichen und politischen Rechte. Diese WSK-Rechte werden in Deutschland über das Sozialstaatsgebot geschützt und gewährleistet. Leider begeht auch hier die aktuelle Bundesregierung einen schweren Fehler, indem sie das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt nicht ratifiziert. Es wurde über viele Jahre verhandelt. Seine Ratifikation würde für die seit 1973 für Deutschland verbürgten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unter anderem eine Individualbeschwerdemöglichkeit etablieren. Deutschland war während der Entstehung des Fakultativprotokolls ein verlässlicher Fürsprecher. Seit 2009 aber prüft die Bundesregierung nun die deutsche Ratifikation des Protokolls. Nachdem zunächst für Ende 2010 ein Kabinettsbeschluss über die Ratifikation angekündigt war, scheint nun der Prozess auf unbestimmte Zeit ausgesetzt zu sein. Hat die Bundesregierung also tatsächlich Angst davor, in Individualbeschwerden auf eigene Missstände hingewiesen zu werden? Ein bisschen mehr Selbstvertrauen wäre hier angebracht: denn ganz so schlimm, wie es der Antrag der Fraktion Die Linke darstellt, ist es um den deutschen Sozialstaat nicht bestellt. Eine Beschwerdeflut wird es also nicht geben. Der Antrag der Fraktion Die Linke geht überdies von einem falschen Verständnis der wirtschaftlichen, soziaZu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) len und kulturellen Rechte aus. Die Bundesregierung muss sie respektieren, indem sie die Rechte der Bevölkerung nicht verletzt. Sie muss die Rechte schützen, indem sie dafür sorgt, dass die grundlegenden Rechte nicht durch Dritte verletzt werden, und sie muss diese Rechte erfüllen, indem sie alles in ihrer Macht Stehende unternimmt, um der Bevölkerung diese Rechte zu gewähren. Die WSK-Rechte gewähren jedoch keinen Anspruch auf soziale und wirtschaftliche Gleichheit, wie es sich die Fraktion Die Linke vorstellt. Sie verpflichten die Bundesrepublik vielmehr, gewisse Minimalstandards zu erfüllen und bei der konkreten Umsetzung durch Gesetze, Verordnungen oder politische Maßnahmen keine Diskriminierungen zuzulassen. Die Forderung aus dem Antrag, soziale Grundrechte ausdrücklich in das Grundgesetz aufzunehmen, ist darüber hinaus völlig antipolitisch. Wie möchte die Fraktion Die Linke angesichts einer noch nicht einmal einfachen Mehrheit zur Zweidrittelmehrheit einer Verfassungsänderung gelangen? Zuletzt sei mir noch eines gestattet: Die Menschenrechtspolitik in Deutschland unter die Lupe zu nehmen und stärker einzufordern, ist mir sehr sympathisch. Wenn die Fraktion Die Linke jedoch über die Gegenwart spricht und in die Zukunft blickt, dann sollte sie auch über die Vergangenheit sprechen; denn wie es um das innerstaatliche Menschenrechtsverständnis ihrer Vorgängerpartei aussah, darf in diesem Fall nicht unerwähnt bleiben. Dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in dem vorliegenden Antrag lautstark eingefordert werden, ist umso bemerkenswerter, als dass die bürgerlichen und politischen Rechte noch vor nicht allzu langer Zeit von einigen jetzt noch in der Partei aktiven Menschen mit Füßen getreten wurden. Wer glaubhafte Menschenrechtspolitik machen möchte, der sollte sich mit seinen eigenen rechtsstaatlichen Verfehlungen zunächst ernsthaft auseinandergesetzt haben. Eine Partei, die ihre politischen Wurzeln auch in einem Unrechtsstaat hat, ist bei Forderungen nach der Einhaltung der Menschenrechte im Innern nur dann glaubwürdig, wenn sie ihre Position aus der Reflexion ihrer eigenen Geschichte heraus gewinnt. Wir Grüne sind der festen Überzeugung, dass sowohl Innen- als auch Außenpolitik an den Menschenrechten ausgerichtet sein müssen; denn nur wer innenpolitisch sich selbst genauso an den menschenrechtlichen Standards misst und messen lässt, wie er außenpolitisch andere danach beurteilt, kann überzeugende Menschenrechtspolitik vertreten.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5390 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung auch so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zum Schutz von Mensch und Umwelt stoppen - Drucksache 17/3689 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei mir vor.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Einsatz von Nanotechnologie ist inzwischen nicht mehr aus unserem alltäglichen Leben wegzudenken. Bereits jetzt kommt diese Zukunftstechnologie in vielerlei Hinsicht zum Einsatz. In der Nanotechnologie liegen große Chancen, zum Beispiel bei der Weiterentwicklung von hochwirksamen Medikamenten. Die Bundesregierung hat es sich mit ihrem Aktionsplan Nanotechnologie zum Ziel gesetzt, diese Zukunftstechnologie näher zu erforschen, mit all ihren Chancen, aber auch mit möglichen Risiken. Niemand verschließt die Augen vor möglichen Risiken, aber wir müssen auch verantwortlich damit umgehen. Panik ist ein schlechter Ratgeber. Der Antrag der Grünen benennt ein wichtiges Thema, wird diesem aber nicht in vollem Umfang gerecht. Sie schießen über das Ziel hinaus, wenn sie ein generelles Verbot von Nanosilber verlangen. Immerhin ist der Einsatz bestimmter nanohaltiger Silberprodukte in Lebensmittelbedarfsgegenständen verboten, weder für Nanoclay noch für Nanosilber gibt es eine Zulassung. Gemäß der Bedarfsgegenständeverordnung müssen Additive für Lebensmittelbedarfsgegenstände aus Kunststoff seit dem 1. Januar 2010 sämtlich zugelassen sein. Lediglich der Verkauf von Erzeugnissen, die im Einklang mit den bis zum 31. Dezember 2009 geltenden Vorschriften hergestellt oder eingeführt wurden, ist zulässig. Es ist wichtig, dass wir mehr Informationen und mehr Transparenz erhalten. In dieser Hinsicht spricht der Antrag der Grünen ein wichtiges Anliegen an, aber dies ist bereits von der Bundesregierung aufgegriffen worden. Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen hat kürzlich auf der Abschlussveranstaltung der Nanokommission eine Nanodatenbank gefordert, damit eben mehr Transparenz bei diesem wichtigen und mitunter kontroversen Thema besteht. Die Kennzeichnung von Nanoprodukten ist ebenfalls angedacht, befindet sich aber derzeit noch im Abstimmungsprozess. Wir erwarten von der Wirtschaft, dass sie dem Verbot der Verwendung von Nanoclay und Nanosilber Rechnung trägt. Zudem wurden die für die Überwachung von Bedarfsgegenständen zuständigen obersten Landesbehörden gebeten, diesem Sachverhalt im Rahmen der amtlichen Überwachung besondere Beachtung zu schenken und das BMELV über eventuell veranlasste Maßnahmen in Kenntnis zu setzen. Solange wir hier keine genaueren Informationen zum Sachverhalt haben, sollten wir uns allerdings mit voreiligen Verboten, wie in dem Antrag der Grünen gefordert, zurückhalten. Unstrittig dürfte sein, dass wir mehr Forschung über die genaue Wirkung von Nanosilber auf Mensch und Umwelt brauchen. Dies wird bereits vom Bundesinstitut für Risikobewertung und vielen anderen Forschungseinrichtungen getan. Ein wissenschaftliches Monitoring und zugleich ein Sicherungssystem ist meiner Meinung nach erforderlich. Das ist ein wichtiges Thema, mit dem auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach Überweisung des Antrages an die entsprechenden Ausschüsse wird hierüber in aller gebotenen Sorgfältigkeit noch einmal beraten werden müssen.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die medizinische Verwendung von Silber ist uralt. Schon im alten Ägypten wurden Wunden mit Silberfolien behandelt. Silbersulfadiazin wurde in den 60er-Jahren zu medizinischen Zwecken erfolgreich angewendet. Heute erlebt Silber angesichts einer steigenden Anzahl von antibiotikaresistenten Mikroorganismen in Form von Nanosilber, das aufgrund anderer Eigenschaften eine höhere Wirksamkeit hat, eine neue Blüte. So ist beispielsweise die Beschichtung medizinischer Geräte zur Aufrechterhaltung der Keimfreiheit ein ganz wichtiges Anwendungsgebiet. Die Verunreinigungsgefahr durch Keime, die heute ein nicht unerhebliches Problem in Krankenhäusern darstellt, kann in Zukunft erheblich reduziert werden. Schon heute stecken sich in Deutschland jedes Jahr bis zu 1 Million Menschen in Kliniken mit multiresistenten Erregern an. Davon versterben 20 000 bis 40 000 Patienten jährlich. Die bislang genutzte Desinfektion mit herkömmlichen Mitteln in Krankenhäusern ist oft unzureichend, teuer und belastet zusätzlich die Umwelt. Nanosilber wird wegen seiner hohen antibakteriellen Eigenschaften aber nicht nur für medizinische Zwecke, sondern auch in zahlreichen Produkten des Alltags eingesetzt. In Lebensmitteln ist die Verwendung von Nanosilber nicht zugelassen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt auf ein vollständiges und sofortiges Verbot der Verwendung von Nanosilber ab. Silber ist in sehr hohen Dosierungen bedenklich. Ob Nanosilber im täglichen Gebrauch allerdings ein Risiko für Mensch und Umwelt darstellt, ist derzeit noch Gegenstand laufender wissenschaftlicher Untersuchungen, da noch zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Die Anwendung von Nanosilber muss verantwortungsvoll angegangen werden. Die offenen Fragen, wie die nach eventuell auftretenden Resistenzen, müssen geklärt und Risiken ausgeschlossen werden. Es gilt zu klären, in welchen verbrauchernahen Produkten Nanosilber überhaupt und in welcher Konzentration Verwendung findet. Auch die Auswirkungen auf das Ökosystem, insbesondere die Belastung des Abwassers und dessen Wiederaufbereitung in den Kläranlagen, müssen untersucht werden. Wo stehen wir heute im Bereich der Risikoforschung? Die Bundesregierung hat allein 2010 14 Millionen Euro in Projekte der Risiko- und Begleitforschung investiert. Der Anteil an Projekten der Ressorts beläuft sich dabei derzeit auf 230 Millionen Euro im Jahr und damit auf 6,2 Prozent; das ist international Spitze! Zum Vergleich: USA 5 Prozent, UK 4 Prozent und Japan 2,4 Prozent. Auch ich bin der Meinung, dass wir mehr Erkenntnisse zu den potenziellen Risiken brauchen, bevor Nanotechnologie verstärkt in verbrauchernahen Produkten eingesetzt wird, aber wir brauchen keine Panikmache. Der Verbraucherschutz in Deutschland trägt dieser hohen Verantwortung Rechnung. Nennen möchte ich das laufende Projekt DaNa, das den Einfluss von unterschiedlichen nanosilberhaltigen Materialien von gebundenem Silber und gelösten Silbernanopartikeln auf Organismen und Umwelt untersucht. Hier werden mögliche Wirkungen von Nanosilber geprüft, und es wird mehr Transparenz geschaffen. Wichtig auch das Projekt UMSICHT: Es untersucht das Verhalten und den Verbleib von Silbernanopartikeln in Textilien und beschäftigt sich mit der Gefährdungsund Risikoabschätzung für Silbernanomaterialien auf die Umwelt. Werden neue Chemikalien oder Materialien entdeckt oder entwickelt, müssen sie nach der gesetzlichen Vorgabe auf ihre Unbedenklichkeit getestet werden. Hierfür gibt es Chemikalien-, Lebensmittel-, Kosmetik- und Waschmittelverordnungen und weitere Regularien. Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe Prüfungsregister: So regelt beispielsweise REACH als Verordnung die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Mit den bestehenden rechtlichen Regelungen ist also ein umfassender Schutz des Verbrauchers gewährleistet. Hersteller und Inverkehrbringer von Produkten, welche unter dem Einsatz von Nanotechnologie hergestellt werden, sind im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht für die Einhaltung der verbraucherrechtlichen Vorschriften verantwortlich. Auch müssen nach der europäischen Kosmetikverordnung von 2009 kosmetische Mittel, die Nanomaterialien enthalten, ab dem 1. Januar 2013 der EU-Kommission vorab gemeldet werden. Die Bundesregierung beschäftigt sich mit den verschiedenen Risiken, die sich im Bereich der Nanotechnologie ergeben können. So sieht der Nanoaktionsplan 2015 der Bundesregierung eine aktive Begleitung der Diskussion auf nationaler und europäischer Ebene vor. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Angesichts des noch laufenden Prozesses wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser neuen Technologie ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen übereilt und nicht zielführend. Es geht nicht um eine generelle Erlaubnis oder um ein Verbot, sondern um eine sinnvolle und konstruktive Auseinandersetzung mit den Chancen und den Risiken, die sich hier ergeben. Große Potenziale aus Zukunftstechnologien können nicht einfach aufgrund von spekulativ geschürten Ängsten beiseite geschoben werden. Das Marktpotenzial für nanotechnologisch basierte Produkte ist gewaltig. Nanosilber ist nur ein Aspekt. Zu Protokoll gegebene Reden Für Nanoprodukte wird insgesamt ein Weltmarktvolumen von 3 Billionen Euro im Jahr 2015 prognostiziert. Besonders viele Hoffnungen richten sich auf das Potenzial der Nanotechnologie für die Lösung der großen Probleme unserer Zeit: Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und Krankheiten. Nanotechnologie schafft hochqualifizierte Arbeitsplätze, schont die Ressourcen und verspricht Renditen für den Wirtschaftsstandort - Made in Germany Deutschland. Wir haben derzeit in Deutschland insgesamt 980 Unternehmen, die mit Nanotechnologie arbeiten, davon 242 Großunternehmen und 740 kleine und mittelständische Unternehmen, KMU. Die Gesamtzahl der Beschäftigten in dieser Zukunftstechnologie beläuft sich derzeit auf etwa 63 000, Tendenz steigend. Lassen sie uns die Chancen der Nanotechnologien nutzen und dabei die Risiken rechtzeitig erkennen und damit umgehen. Was wir brauchen, ist keine Stigmatisierung, sondern Fortschritt mit Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Zwerg steht hier im Mittelpunkt der Debatte und wirft riesige Schatten. Winzig sind Nanopartikel, aber riesig sind ihre Potenziale und Chancen, aber auch riesig sind die Unsicherheit und Unklarheit über mögliche Risiken und Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Fast unbemerkt werden immer mehr verschiedene Nanoteilchen in unterschiedlichen Anwendungen eingesetzt, obwohl sie noch in der Grundlagenforschung stecken. Zu viele Fragen sind offen, mögliche Risiken noch zu wenig erforscht. Große Hoffnungen und Erwartungen liegen in der Nanomedizin, besonders in der Krebstherapie. Neue Krebstherapien werden bereits in klinischen Studien erprobt. Die Anwendung von Nanomaterialien bei Transportsystemen für Medikamente soll eine effizientere Behandlung ermöglichen. Nanosilber kann auch helfen, Krankheitserreger zu bekämpfen. Gerade Nanosilber findet sich in immer mehr Produkten, die besonders dicht an die Verbraucherin und den Verbraucher herankommen und sogar gezielt zum Beispiel in die Haut eingreifen. Silberverbindungen werden in Cremes zum Konservieren genutzt oder sollen in Textilien antibakteriell wirken oder üble Gerüche verhindern. Die Warnung des Bundesamtes für Risikobewertung, BfR, auf die Verwendung von nanoskaligem Silber oder nanoskaligen Silberverbindungen in Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs zu verzichten, bis die Datenlage eine abschließende gesundheitliche Risikobewertung zulässt und die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Produkten sichergestellt werden kann, ist ernst zu nehmen. Das BfR mahnt, dass bezüglich der Resistenzausbreitung dringender weiterer Forschungsbedarf besteht. Gerade eine Resistenz gegen Antibiotika kann bei Silberexposition gebildet werden. Fragen zur Toxikologie von Nanosilber, dem der Körper des Menschen ausgesetzt ist, sind noch nicht hinreichend untersucht. Auch hier sieht das BfR weiteren Forschungsbedarf. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Nanokommission in ihrem Bericht und in ihren Empfehlungen 2011. Dort heißt es: „Für die Toxikologie und Ökotoxikologie stehen zurzeit keine eindeutig akzeptierten Entlastungskriterien zur Verfügung. Eine vorläufige Einschätzung ist daher derzeit nicht möglich“. Hinweise zu Gesundheitsgefahren müssen ernst genommen werden. Das gebietet des Vorsorgeprinzip des Staates; denn in Art. 20 a des Grundgesetzes heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“. Durch den stetig zunehmenden Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten steigt die tägliche Aufnahmemenge entsprechend. Die Konsequenz ist daher klar: Wir können es nicht einfach weiterlaufen lassen und warten, bis wir mehr wissen, sondern müssen jetzt eine Entscheidung treffen, die die Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen gesundheitlichen Risiken schützt. Der Verzicht auf Nanosilber in Kosmetika, Textilien, Reinigungsmitteln und anderen verbrauchernahen Produkten ist daher angeraten. Gerade der unnötige Einsatz von Nanosilber bei gesunden Menschen, bei denen die Sinnhaftigkeit und der Nutzen der Nanoteilchen fraglich sind, muss so lange untersagt werden, bis die Unbedenklichkeit nachgewiesen ist. Wir fordern erstens eine intensive Erforschung von toxikologischen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt bei Nanotechnologien und eine Verdopplung der Mittel zur Risikoforschung bei Nanopartikeln, zweitens eine Kennzeichnung von Nanopartikeln bei allen verbrauchernahen Produkten, drittens ein Produktregister, das alle Produkte auflistet, die Nanoteilchen enthalten, und alle Forschungsergebnisse und bisher erforschte Auswirkungen auflistet, viertens die Einrichtung einer Beratungsstelle als Bundesbehörde, die Erfahrungen sammelt und den Erfahrungsaustausch unterstützt, und fünftens ein Verbot des Inverkehrbringens von Produkten im verbrauchernahen Bereich, zumindest im freiverkäuflichen Bereich. Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion sind von 2009 bis 2012 für die Sicherheitsforschung im Bereich der Nanotechnologien circa 14,15 Millionen Euro pro Jahr verteilt auf die Häuser BMBF, BMU, BMAS und BMELV vorgesehen. Für die Forschung und Entwicklung von Nanotechnologien waren für 2010 ungefähr 400 Millionen Euro Bundesmittel eingeplant. Wir brauchen dringend eine systematische Einbeziehung von Risikofragen in die Sicherheitsforschung. Hierzu benötigen wir geeignete Testverfahren zur Überprüfung der Wirkungen von Nanoprodukten. Die Risikoforschung muss aufgrund der vielen offenen Fragen zu Auswirkungen auf Mensch und Umwelt schnellstmöglich intensiviert werden. Daher fordern wir die Verdopplung der Bundesmittel für das nächste Haushaltsjahr. Ab 2013 ist die Kennzeichnung von nanoskaligen Bestandteilen in Kosmetika in der EU verpflichtend. Demnach muss auf der Liste der Inhaltsstoffe der Zusatz „({0})“ nach der jeweiligen INCI-Bezeichnung hinzugefügt werden. Eine Kennzeichnung von verbrauchernahen Produkten dient der Transparenz und Zu Protokoll gegebene Reden lässt dem Verbraucher die Wahlentscheidung, ob er Nanoprodukte nutzen möchte oder nicht. Die Erfahrungen mit dem Kraftstoff E10 in den letzten Monaten haben uns deutlich gemacht, dass der Verbraucher gerade bei der Einführung von neuen Produkten oder Bestandteilen mitgenommen werden muss. Das bedeutet, dass die Konsumenten frühzeitig und umfassend informiert und besonders über alle Chancen und Risiken frühzeitig aufgeklärt werden wollen. Keine noch so gute Technologie ist in der Lage, sich durchzusetzen, solange sie nicht vom Verbraucher akzeptiert wird. Deshalb plädiere ich für einen offenen Bürgerdialog. Es ist die Aufgabe aller Akteure - der Industrie, der Wissenschaft, der Verbraucherorganisationen und natürlich der Politik -, sich der öffentlichen Diskussion über die Frage des Umgangs mit Nanotechnologie zu stellen. Nur weitreichende Aufklärung über Chancen und Risiken schafft Vertrauen. Für Verbraucher ist es bisher beim Kauf kaum ersichtlich, welche Produkte mittels Nanotechnologie hergestellt wurden oder Nanomaterialien enthalten. Wir müssen Markttransparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher durch ein öffentliches Produktregister schaffen, das unter Beteiligung der Verbraucherverbände eingerichtet werden soll. Alle Produkte, die auf dem Markt sind, müssen gemeldet und mit den Ergebnissen sämtlicher Studien zu der Wirkung und den Auswirkungen aufgelistet werden. Jeder, der ein Nanoprodukt erstmalig herstellen, importieren oder in den Verkehr bringen will, muss verpflichtet werden, Informationen über den Hersteller oder Importeur, die Identität des Produktes sowie weitere Informationen über die im Produkt enthaltenen Nanomaterialen an eine öffentliche Stelle zu melden. Selbstredend müssen vor allem Grundlageninformation und Handlungswissen in verständlicher Form vermittelt werden. Die Große Koalition hatte bereits 2009 im Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, „eine Informationsquelle zu schaffen, die Bevölkerung, Politik und Wirtschaft über geltende Bestimmungen, Vorschriften und Empfehlungen informiert und durch die zuständigen Bundesbehörden laufend aktualisiert wird“. Dies muss endlich umgesetzt werden. Hier ist Verbraucherministerin Aigner gefragt, endlich aktiv zu werden. Auch die Nano-Kommission empfiehlt in dem Schlussbericht die Einrichtung einer Beratungsstelle auf Ebene einer Bundesbehörde. Eine solche Beratungsstelle solle Erfahrungen aus der Anwendung der Kriterien zur vorläufigen Einschätzung von Nanomaterialien sammeln und den Erfahrungsaustausch organisieren. Im Sinne der Risikovorsorge sollten verbrauchernahe Produkte mit Nanosilber, solange eine fundierte Bewertung des Gesundheitsund Resistenzrisikos nicht getroffen werden kann, nicht mehr auf den Markt gebracht werden. Ein Verbot des Inverkehrbringens von Produkten im verbrauchernahen Bereich, zumindest im freiverkäuflichen Bereich, halten wir für sinnvoll und notwendig. Die Möglichkeit, spezielle Produkte zum Beispiel für Diabetiker noch im Fachhandel, zum Beispiel in Apotheken etc., zu erhalten, sollte bestehen bleiben. Bisher reagieren die Verbraucher auf Nanoprodukte aufgeschlossen. Allerdings halten wenige den Einsatz in Lebensmitteln für wünschenswert. Neben einer verstärkten Risikoforschung brauchen wir einen intensiven Dialog mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern darüber, welche Funktionen und Verbesserungen von Produkten, die mit Nanotechnologie erzielt werden können, die Gesellschaft überhaupt für nötig und sinnvoll hält.

Dr. Lutz Knopek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004074, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, ein zumindest temporäres Verbot von verbrauchernahen Produkten mit sogenanntem Nanosilber zu erlassen. Begründet wird dieser weitreichende Eingriff in das Marktgeschehen und die privaten Eigentumsrechte mit nicht auszuschließenden Gesundheits- und Umweltrisiken. Ganz konkret ist die Rede von einer möglichen toxischen Wirkung von Nanosilber für den Menschen, von möglichen Risiken durch eine Resistenzbildung gegenüber Krankheitserregern und von Risiken durch einen möglichen Eintrag in die Umwelt. Alle drei Punkte sind ernst zu nehmen, halten aber einer kritischen Betrachtung des derzeitigen Wissensstandes nicht statt. Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Lassen Sie mich zur Erläuterung unserer Position zunächst ein paar allgemeine Ausführungen zur Thematik machen, um dann auf die einzelnen Punkte des Grünen-Antrags gesondert einzugehen. Seit langem ist Silber bekannt für seine antimikrobielle Wirksamkeit. Bereits die alten Römer machten sich diese Eigenschaft zunutze und behandelten ihr Wasser mit Silbermünzen. In der Medizin spielt Silber seit dem 19. Jahrhundert eine Rolle. Es ist jedoch nicht das reine Silber, welches gegen Bakterien aktiv ist, sondern es sind die freigesetzten Silberionen. Diese wirken auf Bakterien toxisch, haben jedoch auf die Zellen von Säugetieren keine schädliche Wirkung und werden von Menschen in einer großen Konzentrationsspanne toleriert. Entgegen weit verbreiteter Annahme ist auch Nanosilber keine neue Erfindung der Nanotechnologien, sondern bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt und in verschiedenen Produkten im Einsatz. Die Schweizer Forscher von der Eidgenössischen Materialprüfungsund Forschungsanstalt EMPA haben dies vor kurzem in einem Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift „Environmental Science & Technology“ mit dem Titel „Nanosilber: Neuer Name - altbekannte Wirkung“ noch einmal verdeutlicht. Ihr Fazit: „Nano bedeutet weder, dass etwas neu, noch, dass es von vorneherein schädlich ist.“ Bereits in den 1920er-Jahren, als das sogenannte kolloidale Silber auf den Markt kam, löste das zahlreiche Studien und entsprechende Regulierungen seitens der Behörden aus. So berücksichtigt etwa der Grenzwert für Trinkwasser Silbereinträge in nanopartikularer Form. Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Kritikpunkte des Antrags der Grünen eingehen. Beginnen wir mit einer möglichen Gesundheitsgefährdung. Das BfR hat in seiner Stellungnahme vom Dezember 2009 vor allem zwei Applikationen von Nanosilber bewertet: den Einsatz in Lebensmittelkontaktmaterialien und in Kosmetika. Für den Einsatz von Silberverbindungen in kosmetischen Mitteln sieht das BfR derzeit keine wissenZu Protokoll gegebene Reden schaftlich begründeten Hinweise auf eine Verbrauchergefährdung. Für Lebensmittelkontaktmaterialien aus Kunststoff nimmt das BfR Bezug auf die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Diese hat einen spezifischen Migrationsgrenzwert festgelegt, bei dem ein Einsatz von Silber unbedenklich ist. Zudem ist zu beachten, dass für alle Lebensmittelkontaktmaterialien die Anforderungen der EU-Verordnung 1935/2004 gelten. Demnach müssen alle Materialien so hergestellt werden, dass sie die menschliche Gesundheit nicht gefährden. Dazu muss eine entsprechende Sicherheitsbewertung durchgeführt werden. Die Empfehlung des BfR, auf einen Einsatz von Nanosilber dennoch generell in konsumentennahen Produkten zu verzichten, fußt auf der Begründung, dass kein zusätzlicher Nutzen aus einem solchen Einsatz erkennbar sei. Eine solche Feststellung kann jedoch nicht pauschal getroffen werden, und die Entscheidung, ob im Einzelfall ein Einsatz von Nanosilber sinnvoll ist oder nicht, sollte aus unserer Sicht den Konsumenten und Produzenten überlassen werden. Richtig ist hingegen, dass noch keine abschließende gesundheitliche Risikobewertung möglich ist. Dazu mangelt es noch an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Tatsache allein rechtfertigt jedoch noch keinen weitgehenden staatlichen Eingriff. Vielmehr halten wir es für die bessere Vorgehensweise, die bestehenden epistemologischen Unsicherheiten durch verstärkte Forschungsanstrengungen zu beseitigen. Die schwarzgelbe Bundesregierung hat dazu mit dem Aktionsplan Nanotechnologie den entsprechenden Rahmen geschaffen. Kommen wir zum zweiten Punkt des vorliegenden Antrags, einer möglichen Gesundheitsgefährdung aufgrund von Resistenzbildungen. Das BfR konstatiert, dass bisher nur wenige Daten aus systematischen epidemiologischen Studien zur Verbreitung von Resistenzen gegenüber Silberionen existieren. Aktuelle Arbeiten zeigen zudem nur eine geringe Prävalenz von Silberresistenz. Auch stellt das BfR klar, dass dies keine nanosilberspezifische Problematik darstellt, sondern generell für den Einsatz von Silber zutrifft. Insgesamt ist aber auch hier der Wissensstand derzeit zu gering, um gesicherte Aussagen treffen zu können. Weitere wissenschaftliche Forschung ist daher angebracht, bevor eine Entscheidung über eine Einschränkung oder ein Verbot von Nanosilber getroffen werden kann. Dritter und letzter Kritikpunkt des vorliegenden Antrags am Einsatz von Nanosilber in Verbraucherprodukten ist die Möglichkeit eines Eintrags von Nanosilber in die Umwelt und damit verbunden eine Gefährdung der aquatischen Umwelt. Das UBA verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie, die eine erhöhte Sterblichkeitsrate von Wasserflöhen bei Exposition mit Nanosilber gegenüber mikroskaligem Silber festgestellt hat. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob überhaupt eine relevante Exposition zustande kommt. Im vom BMBF geförderten Forschungsprojekt „UMSICHT - Abschätzung der Umweltgefährdung durch Silbernanomaterialien: vom chemischen Partikel bis zum technischen Produkt“ wird genau dieser Frage nachgegangen. Erste Ergebnisse des Hohenstein-Instituts kommen zu dem Schluss, dass die Freisetzung von Nanosilber aus Funktionskleidung durch Waschvorgänge vernachlässigbar ist. Zudem werden freigesetzte Partikel fast vollständig durch Abwasserkläranlagen zurückgehalten. Eine aktuelle Studie der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz, EAWAG, kommt zu dem Schluss, dass nach gegenwärtigem Kenntnisstand Nanosilber in Abwasserreinigungsanlagen gut eliminierbar ist. Eine Kontamination der aquatischen Umwelt in relevanten Mengen erscheint daher unwahrscheinlich. Abschließend kann daher festgestellt werden, dass der derzeitige wissenschaftliche Forschungsstand zum Thema Nanosilber keine Rechtfertigung für weitreichende staatliche Eingriffe, wie von den Antragstellern gefordert, liefert. Vielmehr bedarf es weiterhin der kontinuierlichen Generierung gesicherten Wissens, welches dann gegebenenfalls eine Fortentwicklung des regulatorischen Rahmens nach sich ziehen kann. Selbstverständlich wird sich meine Fraktion der weiteren Diskussion zu diesem Themenkomplex, auch im Rahmen einer öffentlichen Anhörung, wie in einem Schreiben des BUND gestern gefordert, nicht verschließen.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nanosilber kann eine giftige Wirkung entfalten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt daher: Auf den Einsatz von Nanosilber in Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs sollte verzichtet werden, bis die Datenlage eine abschließende Bewertung der gesundheitlichen Risiken erlaubt. Nach neueren Studien können Leber und Lunge geschädigt werden. Die Experten weisen darauf hin, dass auch das krebsauslösende Potenzial von Nanosilber zu untersuchen ist. Doch was tut die Bundesregierung? Nichts. In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage „Einordnung gesundheitlicher und umweltbezogener Risiken der Nanotechnologie“ vom 20. April 2011 behauptet sie schlicht: „Erkenntnisse oder Anhaltspunkte über krebserregende Wirkungen von nanoskaligem Silber liegen nicht vor.“ Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge werden daher nicht eingeleitet. Mit anderen Worten: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ist das schon vorsätzliche Körperverletzung oder nur Untätigkeit im Amt? In jedem Fall kommt die Bundesregierung ihrer gesetzlichen Pflicht zur gesundheitlichen Vorsorge nicht nach. Der Antrag der Grünen, Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zu verbieten, ist daher richtig. Er wird von der Linksfraktion unterstützt. Die Linke sagt: Nanosilber hat in Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs nichts zu suchen. Auch müssen Verbraucherinnen und Verbraucher über Nanobestandteile in Produkten besser aufgeklärt werden. Wie ist der Zusatznutzen durch Nanotechnologie belegt? Welche gesundheitlichen und umweltbezogenen Risiken gibt es? Diese Fragen sind bisher offen. Tatsache ist: Verbraucherschutz kommt bei dem Thema nicht vor. Natürlich sind Nanostoffe vor allem für die Industrie von Bedeutung. Ein wichtiger Nutzen ergibt sich auch in der Medizin. Die Bundesregierung gibt jährlich rund 400 Millionen Euro zur Förderung der NanotechZu Protokoll gegebene Reden nologie aus. Für die Sicherheitsforschung und Risikobewertung im Rahmen der Vorsorge werden aber nur 0,1 Prozent der Gelder aufgewendet. Mehr ist dem zuständigen Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger nicht wert. Das ist ein krasser Gegensatz. Die Linke sagt: Das ist unverantwortlich. Wir nehmen zur Kenntnis: Die Erforschung und Bewertung von gesundheitlichen und umweltbezogenen Risiken, die von Nanostoffen ausgehen, ist bisher weitgehend vernachlässigt worden. Der Gesetzgeber ist derzeit nicht in der Lage, wirksame Vorsorgemaßnahmen zu treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht. Das ist offenbar auch so gewollt. Viele Ergebnisse von Risikountersuchungen, die mit Fördergeldern des Bundes finanziert wurden, sind für die staatliche Vorsorge nicht verwertbar. Sie wurden durch Unternehmen vorrangig zur Abschätzung betriebswirtschaftlicher Risiken vorgenommen. Sie dienen sogar dazu, die Gefahren, die von Nanostoffen ausgehen können, in der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Folgerichtig heißt es dann auch im Nanoreport der Bundesregierung, dass mögliche Risiken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbraucher, Arbeits- und Umweltschutz ein „Hemmnis bei der Vermarktung nanotechnologischer Produkte“ darstellen. Der Gesetzgeber ist gefordert, geeignete Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Das gilt besonders für den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Branche der Nanotechnologie. Schnellstmöglich sollte eine gesetzliche Regulierung und Kontrolle von Nanostoffen durchgesetzt werden. Auch die Fördermittel des Bundes für die Risikobewertung sind deutlich zu erhöhen. Alle Stoffe, die mindestens eine nanospezifische Eigenschaft aufweisen, sollten in einem behördlichen Register erfasst werden. Die Verbraucherinformation ist deutlich zu verbessern. Die Bundesregierung fordern wir auf: Nehmen Sie die Bedenken Ihrer eigenen Experten ernst und setzen Sie das Verbot von Nanosilber durch. Gesundheitsvorsorge muss Vorfahrt haben.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der Nanotechnologie stecken unbestritten große Potenziale. Neue Technologien und ihre konkreten Anwendungen haben nicht nur Vorteile, sie bergen oft auch Risiken für Mensch und Umwelt. Dies gilt in besonderem Maße für das Nanosilber, das zunehmend in Produkten des täglichen Bedarfs verwendet wird, etwa in geruchshemmenden Sportsocken, in Zahnbürsten oder in Lebensmittelverpackungen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt in Bezug auf die Substanzen, über die wir heute hier beraten, zu der eindeutigen Empfehlung, auf den Einsatz von Nanosilber in Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs zu verzichten, da die Datenlage eine abschließende Bewertung der gesundheitlichen Risiken nicht erlaubt. Diese Empfehlung wurde vor wenigen Wochen nach einem Workshop mit zahlreichen Experten durch das BfR noch einmal untermauert. Der BfR-Präsident, Professor Dr. Dr. Andreas Hensel, kam nach der Veranstaltung zu dem Schluss: „Die Diskussion hat die Mahnung des BfR zur Vorsicht bestätigt, denn es gibt nach wie vor zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über die spezifischen Wirkungen von Silberpartikeln in Nanogröße.“ Neuere Studien ergaben laut BfR deutliche Hinweise auf bisher für Silber nicht bekannte Wirkungen. Dazu würden beispielsweise krankhafte Veränderungen von Gewebe in der Leber und in der Lunge gehören. Über die Auswirkungen auf die Fortpflanzungsorgane des Menschen und über die krebsauslösenden Potenziale gibt es laut BfR bisher zu wenige Erkenntnisse und Daten. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass durch die großflächige Verbreitung von Nanosilber resistente Keime entstehen. Dann wäre Silber langfristig als wirksame Waffe gegen antibiotikaresistente Keime für die Medizin verloren. Auch das Umweltbundesamt warnt vor Gefahren für Wasserlebewesen und nützliche Bakterien durch Nanosilber, das sich zum Beispiel beim Waschen aus Textilien löst und über das Abwasser in die Umwelt gelangt. Alle diese Warnungen hat die Bundesregierung bisher ignoriert. Das ist fahrlässig. Die Experten sagen: Es gibt Gefahren für die Gesundheit, und wir wissen noch zu wenig über die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Deshalb müssen wir im Sinne des Vorsorgeprinzips und im Sinne des Gesundheitsschutzes aktiv werden und die Verwendung von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten so schnell wie möglich einschränken. Bisher gibt es nicht einmal eine Kennzeichnungspflicht für Produkte, die Nanopartikel enthalten. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben keine Chance, Produkte im Laden zu erkennen, die Nanosilber enthalten. Auf diesem Weg hält eine weitere Substanz Einzug in unseren Alltag und in die Umwelt, deren Wirkungen nicht abzuschätzen sind und bei der Gesundheitsgefährdungen bisher nicht ausgeschlossen werden können. Dabei gibt mir besonders zu denken, dass in anderen Ländern viel strengere Entscheidungen zum Umgang mit Nanosilber getroffen worden sind. In den USA gilt Nanosilber seit 2007 als Pestizid. Auch auf europäischer Ebene gab es bereits Bestrebungen, die Kennzeichnungspflicht für Produkte mit Nanosilber zu regeln und ein Nanomaterialienregister einzuführen. Dieses Vorhaben wurde bis heute leider vor allem durch die großen Widerstände einiger Industrieverbände ausgebremst. Mit unserem Antrag wollen wir dafür sorgen, dass Bewegung in dieses Thema kommt. Die Bundesregierung muss endlich tätig werden. Den schleichenden Einzug von Nanosilberpartikeln in unseren Alltag und in die Umwelt wollen wir verhindern, solange Gefahren für Mensch und Umwelt durch diese Substanz nicht ausgeschlossen werden können. Wir fordern deshalb, das Inverkehrbringen von verbrauchernahen Produkten mit Nanosilber zu verbieten. Außerdem wollen wir, dass bis zum Verbot dieser Produkte eine Liste aller mit Nanosilber produzierten und in Deutschland erhältlichen verbrauchernahen Produkte erstellt wird. Diese Liste muss leicht zugänglich sein und öffentlich gemacht werden. Die Menschen sollen bis zum Verbot in die Lage versetzt werden, Produkten, die Nanosilber enthalten, aus dem Weg zu gehen. Ich beantrage die Überweisung unseres Antrags an die zuständigen Ausschüsse und die federZu Protokoll gegebene Reden führende Beratung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3689 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz liegen soll. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Sie werden es nicht für möglich halten: Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, 13. Mai 2011, 9 Uhr, ein. Ich freue mich, wenn wir uns wiedersehen. Die Sitzung ist geschlossen. Guten Abend und alles Gute, was immer Sie heute noch vorhaben!