Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/15/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2011 - Drucksache 17/5400 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({1}), Brigitte Pothmer, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aus- und Weiterbildung stärken, Abbrüche verringern, Erfolgsquoten erhöhen - Drucksache 17/5489 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Bundesministerin Annette Schavan das Wort. ({3})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der jährliche Berufsbildungsbericht der Bundesregierung informiert über die Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Damit gibt er uns auch wichtige Informationen über die Zukunftschancen der jungen Generation. Denn wir wissen: Zwei Drittel aller Jugendlichen gehen den Weg über die berufliche Bildung. Deshalb ist die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ein sensibles Thema, das im Jahr 2010 mit der Frage verbunden war: Wie wird sich die Zahl der Ausbildungsplätze in Zeiten der Wirtschaftskrise entwickeln? Wird sie stark zurückgehen? Wie werden die Bewerberzahlen sein? Kurz zusammengefasst sehen die Fakten in Bezug auf das Jahr 2010 folgendermaßen aus: Erstens. Prognostiziert war ein Rückgang der Zahl der Ausbildungsangebote um 20 000. Diese Prognose hat sich nicht bewahrheitet. Bezogen auf die Gesamtzahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge von 560 000 beträgt der Rückgang 0,8 Prozent. Aber - das ist der zweite wichtige Punkt - wir konnten die interessante Entwicklung beobachten, dass es erstmals wieder ein Plus bei der Zahl der Ausbildungsverträge in den Betrieben gibt. Es geht hier also nicht um die außerbetrieblichen und die vielen Maßnahmen, die wir vor allem in den strukturschwachen Regionen auf den Weg gebracht haben, in denen aufgrund der schwierigen Situation nicht genügend betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Die Entwicklung bei den betrieblichen Ausbildungsverträgen ist ausgesprochen positiv. 2010 sind 519 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist ein Plus von 5,6 Prozent gegenüber 2005. ({0}) Das zeigt, dass die Unternehmen auch in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht nachgelassen haben, dass sie nicht zurückgefahren, sondern zugelegt haben. Redetext Der dritte wichtige Punkt betrifft die Zahl der Altbewerber, die uns in diesem Hohen Hause schon vielfach beschäftigt hat. Diese Zahl ist von 262 000 im Jahre 2008 auf 185 000 im Jahre 2010 zurückgegangen; das ist ein Rückgang um knapp 30 Prozent. Auch das ist eine überaus positive Entwicklung. Wir wollen, dass der Übergang von der Schule in die Ausbildung direkt erfolgt und dass nicht viele junge Leute als Altbewerber jahrelang in einem Übergangssystem warten müssen. ({1}) Der vierte wichtige Punkt bezieht sich auf das Übergangssystem selbst. Auch hier ist in den vergangenen fünf Jahren, seit wir uns gezielt darum kümmern, indem wir Veränderungen vornehmen, Kompetenzen zurückbringen und Maßnahmen bündeln, ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, nämlich um 22,5 Prozent. Das heißt, junge Leute kommen schneller in Ausbildung als noch vor einigen Jahren. Das Resümee der Bundesagentur für Arbeit bezogen auf das letzte Jahr ist - wir werden ein solches Resümee in den kommenden Jahren noch häufiger erleben -: Es wurden mehr unbesetzte Ausbildungsplätze gemeldet, als es unversorgte Bewerber gibt. In Zahlen bedeutet dies: Rund 20 000 Ausbildungsplätze - exakt sind es 19 605 - blieben unbesetzt. Es verblieben rund 12 000 unversorgte Bewerber. Das macht deutlich, wie sich die Bevölkerungsentwicklung auswirkt. In Ostdeutschland konnte man diese Auswirkung in den letzten Jahren schon sehr gut beobachten. Im übrigen Bundesgebiet wird es in den nächsten Jahren eine ähnliche Entwicklung geben. Die Schülerzahlen werden in den nächsten zehn Jahren deutschlandweit deutlich zurückgehen. Die Frage ist also nicht mehr: „Bekommt jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz?“, sondern die Frage wird lauten: „Was müssen wir tun, damit angebotene Ausbildungsstellen tatsächlich besetzt werden?“ Ich will Ihnen noch weitere Vergleichszahlen nennen: Im Jahr 2005 gab es über 40 000 unversorgte Bewerber auf ungefähr 12 000 unbesetzte Stellen. Das Verhältnis hat sich also ins Gegenteil verkehrt. Ausblick auf das Jahr 2011. Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet in ihrer Halbjahresbilanz einen deutlichen Anstieg der Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze. Wir können davon ausgehen, dass es für den Zeitraum September 2010 bis Ende März 2011 einen Anstieg der gemeldeten Ausbildungsplätze um 14,3 Prozent gegeben hat. In absoluten Zahlen ausgedrückt: 48 000 Ausbildungsplätze mehr als im Vorjahr wurden bis Ende März gemeldet. Das ist eine gute Perspektive für dieses Jahr 2011. ({2}) Damit stellt sich die Frage: Was sind die zentralen Aufgaben in der Berufsbildungspolitik, vor denen wir stehen, damit wir diese neue Situation sinnvoll gestalten können? Der erste Punkt. Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, dessen Zeitraum wir bis 2014 verlängert haben, liegt nicht mehr bei quantitativen, sondern bei qualitativen Größen. Im Mittelpunkt steht also die Qualifikation. Dazu haben Bund und Länder die Qualifizierungsinitiative verabschiedet. Es ist jetzt wichtig, dass die darin vereinbarten Maßnahmen auch auf der Seite der Länder konsequent umgesetzt werden. Wir wollen erreichen, dass jeder Jugendliche einen Abschluss bzw. eine Qualifikation erreicht, die den Einstieg in die Ausbildung ermöglicht. Der zweite Punkt betrifft die Neuordnung des Übergangssystems. Wir sollten in dieser Frage nicht fahrlässig sein. Manchmal entsteht der Eindruck: Das Übergangssystem brauchen wir überhaupt nicht. ({3}) - So ist es. - Das ist aber keine Lösung. Man muss manchmal auch über den Tellerrand schauen und darf sich nicht nur auf Deutschland beziehen. Wer sich bei den europäischen Nachbarn umschaut, der weiß: Der Übergang von Bildung in Beschäftigung ist ein ganz zentrales bildungspolitisches Thema. Die Jugendarbeitslosigkeit würde in Spanien nicht 40 Prozent, in Frankreich nicht 25 Prozent und in den skandinavischen Ländern nicht um die 20 Prozent betragen, wenn es in diesen Ländern an der Stelle funktionieren würde. Der Übergang ist die sensible Stelle überhaupt. Wir haben in Deutschland eine Jugendarbeitslosigkeit von 7 Prozent. Darum werden wir beneidet. Bei uns ist die Jugendarbeitslosigkeit so viel niedriger als in anderen Ländern, weil es die berufliche Bildung und die duale Ausbildung gibt. Jetzt müssen aber die nächsten Schritte gegangen werden. Für mich beginnt das Übergangssystem nicht da, wo die Schule endet. Daher sind für mich die Bildungsketten die wichtigste Maßnahme, die ab Klasse 7 mit der Potenzialanalyse beginnen. Begleitet werden 30 000 Schülerinnen und Schüler bis zur Ausbildung. Ich bin davon überzeugt, dass es das Ziel der Neuordnung des Übergangssystems - es ist die entscheidende Maßnahme, beginnend ab Klasse 7 - sein muss, mehr Jugendlichen den Schulabschluss zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns sowohl auf der Ebene der Länder wie auch auf der Ebene des Bundes einigen. Mein Ziel ist nicht, einfach Geld von A nach B, also zur BA, zu schieben. Wir brauchen vielmehr eine zentrale Maßnahme der Länder und des Bundes. ({4}) - Lieber Herr Schulz, genau das machen wir. Sie glauben das nicht? Das glaube ich Ihnen sofort. - Was will ich sagen? Wir haben jetzt auf der Bundesebene genau diesen Schritt getan: Wir haben diverse Maßnahmen zusammengefasst, solche im Kontext der Schule und solche im Kontext der beruflichen Bildung. Nach allem, was ich aus den Schulen höre - es ist eine wichtige unterstützende Maßnahme für die Arbeit in den Schulen; man kann das nicht einfach den Lehrerinnen und LehBundesministerin Dr. Annette Schavan rern überlassen -, bin ich davon überzeugt, dass diese Maßnahme von allen Maßnahmen, die wir vor allen Dingen auf der Ebene der Länder ausprobiert haben, die wirksamste ist; sie gibt uns die Möglichkeit, tatsächlich eine bessere Qualifikation der Jugendlichen zu erreichen, die sich schwertun. Dritter Punkt. Die Gruppe, die uns in diesem Kontext am meisten interessieren muss - auch was die Bildungsketten angeht -, bilden die Jugendlichen mit Migrationshintergrund; man braucht dafür keine eigenen, neuen Maßnahmen. Wir wissen, dass die Ausbildungsquote in dieser Gruppe geringer ist; die Quote derer, die ohne Schulabschluss bleiben, ist höher. Deshalb ist die Maßnahme für diese Jugendlichen besonders wichtig. Wichtig ist aber auch, dass es uns in den nächsten Jahren gelingt, bei unserem Bemühen, Unternehmer mit Migrationshintergrund in die Ausbildung einzubeziehen, weiter voranzukommen. Die Unternehmer mit Migrationshintergrund kommen aus unterschiedlichen Kulturen und wissen um kulturelle Vorbehalte und klassisches Bildungsverhalten in dieser oder jener Kultur; sie können uns auf dem Ausbildungsmarkt helfen. Auch da sind wir einen guten Schritt vorangekommen; aber die Zahl derer, die mitmachen, kann noch erhöht werden. Letzter wichtiger Punkt. Im Laufe der nächsten Monate wird die Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens im Deutschen Qualifikationsrahmen vollendet; wir sind in der Endphase. Das ist ein zentraler Schritt; denn damit kommt es bei der Frage, ob wir bei der Umsetzung des Qualifikationsrahmens die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung akzeptieren, zur Stunde der Wahrheit. Ich bin der festen Überzeugung: Jetzt ist der Moment, in dem wir europapolitisch einen wichtigen Impuls setzen können. Viele beneiden uns um die duale Ausbildung. Mit der Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens im Deutschen Qualifikationsrahmen haben wir die große Chance - wir werden sie nutzen -, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Ausbildung mit der Anerkennung von Ausbildungen und Abschlüssen zu belegen. Insofern finde ich, dass das eine gute Situation für die berufliche Bildung ist. Das ist mit Blick auf die Zukunftschancen der jungen Generation eine gute Botschaft. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sagen, es gebe eine positive Entwicklung. Darin stimmen wir überein. Diese positive Entwicklung kann uns dennoch nicht zufriedenstellen; darüber sind wir uns hoffentlich einig. ({0}) Dazu will ich Ihnen drei Zahlen nennen: 85 000 junge Menschen haben im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz erhalten. Weitere 320 000 junge Menschen stecken in einer der vielen Maßnahmen im Übergangsdschungel; auch die Frau Ministerin hat bemerkt, dass dort unbedingt eine Lichtung erforderlich ist. Die bedrückendste Zahl ist für mich: 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen Berufsabschluss und können deshalb die Schwelle zum Berufsleben gar nicht überwinden. ({1}) Diese jungen Erwachsenen befinden sich nicht einmal in einer Qualifizierungsmaßnahme. Diese erschreckend hohe Zahl sinkt auch nicht, trotz des demografischen Wandels, trotz des Fachkräftebedarfs und trotz der Erholung der Wirtschaft; das ist für mich das schlimmste Signal, das von dieser Zahl ausgeht. Wenn ich auf die Website Ihres Hauses gehe, dann lese ich über diese jungen Menschen: Hierbei handelt es sich um ein weitere „Reserve“, die für eine Steigerung der künftigen Zahl junger Fachkräfte genutzt werden kann. Das ist, freundlich gesagt, eine sehr unglückliche Beschreibung dieser jungen Menschen. ({2}) Das ist eben keine Reserve, die man für schlechte Zeiten anlegt. Diese Menschen haben einfach keine Startmöglichkeiten in das Berufsleben, weil ihnen die Berufsausbildung fehlt. Es ist zynisch, wenn man eine solche Wortwahl trifft. Es handelt sich um Einzelschicksale, denen wir helfen müssen. Vielleicht haben Sie in den nächsten drei Wochen der sitzungsfreien Zeit die Gelegenheit, diesen Terminus auf der Website zu entfernen. Wir sind uns einig: Wir dürfen keinen der jungen Menschen aufgeben und verloren geben. Wir müssen jeden jungen Menschen mit einem Schulabschluss und einem Berufsabschluss in das Leben entlassen. Als SPDBundestagsfraktion haben wir dazu drei konkrete Vorschläge gemacht. Wir wollen erstens eine Berufsausbildungsgarantie. Auch wenn Sie auf die Jugendarbeitslosigkeit bei uns in Höhe von 7 Prozent verweisen und sagen, dass diese Zahl im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern gut aussieht, sind wir der Meinung, dass eine Ausbildungsgarantie ein Signal an die Jugendlichen in unserem Land ist, dass es für sie eine sichere Perspektive beim Start in das Berufsleben geben wird. Das ist etwas, was wir unbedingt erreichen wollen. Das lehnen Sie leider ab. ({3}) Zweitens halten wir an dem Ausbildungsbonus fest. Auch wenn Sie sagen: „Die Wirtschaft hat bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zugelegt“, ist es im Moment das falsche Signal, auf dieses Instrument zu verzichten. Durch diesen Bonus sind bisher rund 50 000 junge Menschen zu einer Ausbildungsstelle gekommen. ({4}) Davon abgehen zu wollen, ist das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt. Drittens wollen wir das Programm „Zweite Chance“ erhalten, das Sie jetzt streichen wollen. Das ist kontraproduktiv. ({5}) - Sie wollen zumindest kürzen. - Sie sagten eben, die Zahl der Ausbildungen im dualen Bereich sei gestiegen. Wenn die Zahl der Ausbildungen insgesamt gesunken ist, muss ja die Zahl der Ausbildungen in den staatlichen Ausbildungseinrichtungen gesunken sein. Das ist der Beleg dafür, dass man dort nicht kürzen darf, wenn wir gemeinsam an dem Ziel festhalten, dass jede Schülerin und jeder Schüler eine Berufsausbildung erhält. Genau deshalb brauchen wir das Programm „Zweite Chance“ in voller Höhe. ({6}) Aber das reicht auch nicht. Zweite und dritte Chancen für Jugendliche in unserem Land einzuräumen, ist das eine. Das alles sind Reparaturmaßnahmen. Das alles sind Lösungen, wenn wir Jugendlichen aus einer Situation heraushelfen, in die sie durch vielerlei Gründe hineingeraten sind. Wir haben - das ist das andere - einen ganzheitlichen Ansatz. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Wir brauchen eine sogenannte - ich nehme dieses Wort, weil Sie es so gern benutzen - Exzellenzinitiative für Kitas und für Ganztagsschulen. Das ist Bildung von Anfang an. Hier müssen wir investieren, und zwar in ganz Deutschland. Es ist der richtige Ansatz, dort viel Geld hineinzugeben, damit Kinder von Anfang an, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, individuell gefördert werden können und einen guten Start bekommen. Beim Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen wissen wir Sie eben leider nicht an unserer Seite. Genauso wie Ihre Kollegin Familienministerin Schröder und die ganze Regierung Merkel legen Sie dort eben keinen Schwerpunkt Ihrer Politik. ({7}) Das ist der grundsätzliche Fehler in Ihrer Bildungspolitik. Wir fordern immer wieder und erneut einen Krippengipfel, ({8}) bei dem man sich mit den Ländern zusammensetzt, ({9}) um dafür zu sorgen, ({10}) dass der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 tatsächlich eingelöst werden kann. In dieser Frage lassen Sie die Länder und Kommunen im Stich. Sie haben auch keine neue Initiative - wie wir sie fordern - für den Ausbau der Ganztagsschulen gestartet. Sie reden immer davon - mal die CDU, mal die FDP, auch mal Frau Merkel -, dass Sie das Kooperationsverbot für eine falsche Entscheidung halten. ({11}) Wir teilen das in diesem Haus, glaube ich, unisono. Wo bleibt Ihre Initiative, dieses Kooperationsverbot aufzuheben? ({12}) Ich kenne keine Initiative, ({13}) weder von der Regierung noch vom Parlament noch von dieser Koalition. ({14}) Ich würde weniger Zeitung lesen wollen, ({15}) sondern hier in diesem Haus gern eine Gesetzesinitiative sehen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich im Kabinett zusammen und suchen Sie nach einem ganzheitlichen Ansatz für Bildung in unserem Lande, und machen Sie nicht nur Stückwerk! Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FPD-Fraktion. ({0})

Heiner Kamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004064, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Ziegler, man kann Zahlen schlechtreden - die unter Ihrer Regierung waren noch schlechter - und den Jugendlichen auf den Rängen oder an den Bildschirmen jeglichen Mut und jegliche Zuversicht nehmen, oder man liest den Bericht richtig und versucht, die guten Zahlen zu deuten und dem Publikum näherzubringen, um bei den Menschen Mut und Zuversicht zu verbreiten. ({0}) Der Mensch, vor allem der junge Mensch, braucht die Hoffnung auf Fortschritt. Älteren Menschen genügt es, wenn sie hoffen können, dass es nicht schlechter wird. Dieser Satz ist nicht von mir, sondern er wird dem langjährigen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel zugeschrieben. Ich glaube, in diesem Hause zählen wir uns alle nicht nur nach dieser Definition zu den jüngeren Menschen, und das sollten wir auch. Was den von der Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht 2011 angeht, dürfen wir uns zu den jungen Menschen zählen und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Der Bericht zeigt, dass sich die Situation auf dem Ausbildungsmarkt weiter verbessert. Die Ausbildungsbilanz kann sich wirklich sehen lassen. Die Anfang der Woche veröffentlichte Ausbildungsumfrage der Industrie- und Handelskammern bestätigt diese erfreuliche Entwicklung. Die Chancen der Jugendlichen auf einen Ausbildungsplatz werden als glänzend angesehen. Für ihren Bereich rechnen die Kammern mit einem Zuwachs an Ausbildungsverträgen von 5 Prozent. 40 000 zusätzliche Ausbildungsplätze wollen die Unternehmen allein in diesem Bereich im Jahr 2011 anbieten. Das sind ausgezeichnete Nachrichten für die jungen Leute, über die wir uns freuen dürfen. ({1}) Auch der Berufsbildungsbericht rechnet angesichts der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung mit einer Zunahme der angebotenen Ausbildungsstellen. Die aktuellen Zahlen der Kammern sind ein erster empirischer Beleg. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Bundesregierung die richtigen wirtschaftspolitischen Akzente setzt. 2,6 Prozent prognostiziertes Wachstum in diesem Jahr und ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf 2,9 Millionen sind hierfür ein Nachweis. ({2}) Die Unternehmen werden ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht und zeigen mit ihrer vorausschauenden Personalpolitik, dass sie mit Optimismus in die Zukunft blicken. Diesen Optimismus können auch die jungen Leute teilen. Sie profitieren von dem steigenden Angebot an Ausbildungsplätzen. Aufgrund der sinkenden Bewerberzahlen verbessern sich auch für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler die Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Diese Entwicklung wird vor allem in den neuen Bundesländern besonders deutlich. Dort ist die Zahl der Schulabgänger um 13,5 Prozent zurückgegangen. Darauf ist auch im Wesentlichen der geringfügige Rückgang an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im Bundesschnitt zurückzuführen; denn in den alten Bundesländern wurden sogar mehr Verträge abgeschlossen als im Vorjahr. Der erfreuliche Umstand, dass die Wehrpflicht endlich aufgehoben wird, schmälert die Chancen auf einen Ausbildungsplatz keineswegs. Auch der große Abiturjahrgang wird kein Problem darstellen, ganz im Gegenteil: Der enorme Bewerbermangel wird dadurch kurzzeitig ein wenig abgemildert. Während in rot-grünen Zeiten Ausbildungsplätze Mangelware waren, suchen Handwerk und Wirtschaft heutzutage händeringend Nachwuchs. ({3}) Für dieses zentrale Problem müssen wir Lösungen finden, und zwar in einer gemeinsamen Anstrengung von Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Gerade vor Ort brauchen wir Kooperationen von Schulen und Unternehmen. Die zahlreichen Einzelmaßnahmen können vielfach durch bessere Koordination eine größere Wirkung entfalten. Jugendliche sollen früh ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten entdecken können. Wir müssen alle Reserven für die berufliche Dualausbildung aktivieren. Dazu gehört, dass wir das vielfach noch brachliegende Potenzial der oft nur vermeintlich Leistungsschwächeren ausschöpfen. Pilotversuche einzelner Unternehmen zeigen deutlich, dass viele als schwer vermittelbar eingestufte Bezieher von Transferleistungen mit einer Einstiegsqualifizierung tatsächlich erfolgreich in die Ausbildung hereingeführt werden können. Es lohnt sich also für die Unternehmen, Chancen zu geben. Den Unternehmen, die das tun, gebührt unser Dank. ({4}) Wie im Vorjahr gab es auch am Ende dieses Berichtsjahres wieder mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Bewerber. Ganz besonders freue ich mich darüber, dass auch die Zahl der Altbewerber seit 2008 um rund ein Drittel zurückgegangen ist. Altbewerbern, lernschwachen Jugendlichen und jungen Menschen mit Migrationshintergrund müssen wir zu einer Qualifizierung verhelfen. Eine Ausbildung ist und bleibt die beste Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und Integration in den Arbeitsmarkt. ({5}) Dass es sich lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen, zeigt die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zu den gesellschaftlichen Folgekosten unzureichender Bildung. Der fortgeschriebene Ausbildungspakt mit neuem Schwerpunkt ist ein wichtiger Beitrag zu unseren Anstrengungen bei der Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Das Übergangssystem selbst gilt es zu optimieren. Den unübersehbaren Maßnahmendschungel werden wir lichten. Mit den Bildungsketten setzen wir in der Schule an, indem wir Schulabbrüche verhindern und Übergänge von der Schule in die duale Ausbildung verbessern. Die Bildungslotsen leisten dabei kontinuierlich und individuell einen richtigen und wertvollen Beitrag auf dem Weg förderbedürftiger Jugendlicher zum Ausbildungsabschluss. Dabei beschreiten wir einen anderen Weg - jetzt hören Sie gut zu, Frau Ziegler - als der Regierende Bürgermeister Wowereit und seine hilflose Arbeits- und Sozialsenatorin Bluhm von der Linken. Beide beteuern immerfort, wie wichtig das Schaffen neuer Lehrstellen ist, und drohen der Wirtschaft und dem Handwerk. ({6}) Doch wenn es darauf ankommt, in der eigenen Verwaltung - sozusagen vor der eigenen Haustür - Ausbildungsplätze zu schaffen, versagen SPD und Linke kläglich. ({7}) Man muss sich das einmal vorstellen: In der Hauptstadt lässt der rot-rote Senat über 10 Millionen Euro an Mitteln für Ausbildung verfallen. ({8}) Von eingeplanten 2 Millionen Euro im Haushalt der linken Sozial- und Arbeitssenatorin sind hierfür gerade einmal 350 000 Euro ausgegeben worden. Peinlich hoch zehn, kann ich da nur sagen. ({9}) Wir arbeiten mit den jungen Leuten daran, dass es weiter vorangeht. Rot-Rot-Grün begnügt sich damit, zu hoffen, dass es nicht schlechter wird. Sie sind eben eines: von gestern. ({10}) FDP und Union werden weiter zukunfts- und fortschrittsorientierte Politik für die jungen Menschen und unser Land gestalten. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rosemarie Hein für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich kann den Optimismus, den Sie hier verbreiten, nicht teilen. ({0}) - Ja, das ist schade. Ich würde es gern, aber es gibt keinen Grund dazu. - In der vergangenen Woche haben Sie - auch Ihr Staatssekretär - von einer insgesamt ausgeglichenen Bilanz gesprochen. Die Zahl der Altbewerber, das haben Sie auch zitiert, sei um 30 Prozent zurückgegangen. Fakt ist aber: Erstens. Von einer Entspannung kann eigentlich nicht die Rede sein. Vielmehr wurden insgesamt etwas weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr. Dabei geht die Schere zwischen Ost und West wieder auseinander. Während in den westlichen Bundesländern ein leichter Zuwachs zu verzeichnen war, ging die Zahl der Ausbildungsplätze im Osten um über 4 000, also um 7,4 Prozent, zurück. Hinzu kommt, dass der Anteil der überbetrieblichen, also ausschließlich öffentlich finanzierten, Ausbildungsplätze mit 20 Prozent im Osten viermal höher ist als im Westen. Im Westen ist dafür das Übergangssystem anteilig wesentlich stärker. Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die in diesem Bildungssystem stärker benachteiligt sind, dort größer ist. Die gibt es im Osten nicht so reichlich. Zweitens. Mehr als 184 000 Altbewerberinnen und Altbewerber - ein schreckliches Wort - haben in den vergangenen fünf Jahren vergeblich einen Ausbildungsplatz gesucht. Angesichts dieser Zahl ist es doch ein Skandal, wenn von einem Fachkräftemangel geredet wird und Unternehmen beklagen, dass sie Ausbildungsplätze nicht besetzen können. ({1}) Drittens. Auf die derzeit etwa 19 000 unbesetzten Ausbildungsstellen kämen jeweils zehn Bewerberinnen und Bewerber, wenn man allen Altbewerberinnen und Altbewerbern und denen aus diesem Jahr eine Ausbildungsstelle anbieten würde. Es ergäbe sich, wie gesagt, ein Verhältnis von eins zu zehn. Dieser Bilanz sollten Sie sich stellen. Eine ausgeglichene Bilanz stelle ich mir wesentlich anders vor. Die Ministerin sagte eben, dass es angesichts der Wirtschaftslage noch schlimmer hätte kommen können. Wenn die Statistik jetzt nicht ganz so schlimm aussieht wie noch vor ein oder zwei Jahren, so ist das offensichtlich allein Folge der zurückgegangenen Zahl der Schulabsolventinnen und Schulabsolventen. Die geburtenschwachen Jahrgänge, die es nach der Wende im Osten gab, sind jetzt altersmäßig vollständig in der Ausbildung. Damals ist die Geburtenzahl auf ein Drittel des letzten Vorwendejahres zurückgegangen. Die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger, die einen Ausbildungsplatz suchen, hat sich infolge dessen im Osten jetzt halbiert. Die Positivbilanz, die die Bundesregierung nun einfährt, ist also dem Geburtentief im Osten geschuldet. Man gewinnt den Eindruck, man habe das einfach ausgesessen. Die Bundesregierung setzt heute offensichtlich immer noch auf das Prinzip Hoffnung. Sie hofft zum einen auf weiter zurückgehende Schülerzahlen und zum anderen auf einen überproportionalen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, was die Wirtschaft wohl animieren soll, mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Was bitte ist das denn für ein Fortschrittsverständnis? Das können wir nicht teilen. Wir haben den Eindruck, dass man sich heftig in die Tasche lügt. ({2}) Hinzu kommt, dass es zugegebenermaßen eine große Dunkelziffer gibt, weil die Statistik nur die Bewerberinnen und Bewerber erfasst, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit und den anderen sogenannten zugelassenen Trägern melden. Das ist aber nur gut die Hälfte eines Absolventenjahrgangs. Wenn nun aber die Bundesregierung gar nicht so genau weiß, wer sich warum und wie lange um einen Ausbildungsplatz bemüht und wer wann einen findet, wie kann sie dann helfend eingreifen? Darum lese ich mit großem Interesse, dass es endlich Bemühungen um eine bessere Ausbildungsstatistik gibt. Das haben wir in einem Antrag, den wir vor einigen Monaten in diesem Haus vorgelegt haben, bereits gefordert. Ein weiteres Problem bleibt das Übergangssystem. Unternehmen benennen heute die mangelnde Ausbildungsfähigkeit als Grund, weshalb nicht alle Ausbildungsplätze besetzt werden können. Aber woran bemisst sich eigentlich die Ausbildungsfähigkeit? Im Bericht kann man dazu keinerlei Aussagen finden. Auch der Staatssekretär ist mir in der vergangenen Woche eine Antwort auf meine Frage schuldig geblieben. Ich habe erfahren, dass es ein entsprechendes Kästchen in den Formularen der Bundesagentur für Arbeit gibt. Ich erfuhr, dass man da ein Kreuz mache oder eben nicht nach welchen Maßstäben bleibt sehr undurchsichtig. Wer an dieser Stelle ein Kreuzchen hat, landet mit ziemlicher Sicherheit im Übergangssystem. Im Jahr 2010 haben sich 324 000 Jugendliche in irgendeiner Weise im Übergangssystem wiedergefunden. Nicht alle von ihnen galten als nichtausbildungsfähig. Sie haben trotzdem keinen Ausbildungsplatz bekommen. Bekannt ist aber, dass das ein- oder oftmals auch mehrmalige Durchlaufen des Übergangssystems längst nicht das bringt, was das System verspricht. Dadurch wird der Übergang in eine Ausbildung in der Regel nicht erleichtert, sondern erschwert. ({3}) Mit der Zahl der Jahre, in denen man sich erfolglos auf dem Ausbildungsmarkt beworben hat, sinkt zudem die Chance auf eine erfolgreiche Vermittlung drastisch. Darum ist der vorhin schon erwähnte Befund, dass 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 29 Jahren überhaupt keine Berufsausbildung haben, eines der schlimmsten Ergebnisse bundesdeutscher Berufsbildungspolitik der letzten Jahre. Da kann sich auch keine Vorgängerregierung ausnehmen. Für die Lösung dieses Problems gibt es bis heute überhaupt kein überzeugendes Konzept. ({4}) Nun scheint ein neues Problem herangewachsen zu sein: der vermeintliche oder tatsächliche Fachkräftemangel. Zunächst einmal ist festzuhalten: Wenn man in den vergangenen Jahren ausreichend Ausbildungsplätze geschaffen hätte, gäbe es diesen Mangel heute nicht. ({5}) Heute stellt man fest, man könne auf keinen jungen Menschen mehr verzichten. Konnte man das denn je? Offensichtlich konnten sich Unternehmen in Zeiten starker Jahrgänge einfach die Besten aussuchen. Der Rest wurde abgeschoben. Man konnte ja wählen. ({6}) Nun aber wählen die Bewerberinnen und Bewerber. Hören Sie einmal zu; ich habe etwas sehr Interessantes gefunden. - Im Bericht findet sich das Schaubild 10. Dort sind die Berufe aufgeführt, in denen schon jetzt ein Bewerbermangel beklagt wird. Das sind Berufe in der Gastronomie, Verkäuferinnen und Verkäufer, Bäcker, Gebäudereiniger usw. All diese Berufe finden sich in einer Tabelle - es geht um Tarifverträge und Entgelte -, in der die Berufe aufgeführt sind, in denen in meinem Bundesland ein Stundenlohn von unter 7,50 Euro gezahlt wird. ({7}) Entsprechend dieser Tabelle wird im Gebäudereinigerhandwerk am meisten verdient. In Sachsen-Anhalt wird in diesem Bereich ein Stundenlohn von 6,58 Euro gezahlt, und das ist ein Branchenmindestlohn. Hört! Hört! ({8}) Bedenkt man dann noch die Arbeitsbedingungen in diesen Berufsgruppen, dann ist verständlich, warum diese Berufe zu diesen Konditionen heute von jungen Leuten nicht mehr gewählt werden. Da funktioniert der Markt eben einmal anders herum. Ich finde, das ist auch in Ordnung. ({9}) Ein anständiger gesetzlicher Mindestlohn könnte da helfen. Er würde die Attraktivität dieser Berufe erhöhen. Es gibt im vorliegenden Berufsbildungsbericht sehr viele beunruhigende Befunde. Ich frage mich: Was kann man dagegen tun? Das Bundesministerium hat eine Abteilung „Programmerfindung“ - ich habe das hier schon vor einigen Monaten erwähnt -, der es immer noch nicht an Ideen mangelt. Die Programme, die ich jetzt nenne, habe ich alle im Berufsbildungsbericht gefunden: Es gibt den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs; er wurde bis 2014 verlängert. Es gibt die Initiative „Abschluss und Anschluss - Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“, die unter anderem die Berufseinstiegsbegleiter beinhaltet; die Ministerin hat dies angesprochen. ({10}) Weitere Programme heißen: EQ Plus, APO, BOP, ÜBS, ARENA, VerA und Jobstarter Connect. Ich befürchte, ich habe ein paar übersehen. Das alles hört sich lustig an, aber es ist nicht lustig. Es wird immer unübersichtlicher. Welches Programm läuft wie lange und richtet sich an wen? Hinzu kommen noch die landeseigenen Modellprojekte und Programme. Wenn die Ministerin heute sagt, man wolle das alles vereinheitlichen, dann warte ich gespannt auf den Entwurf, der zeigt, wie diese Vereinheitlichung aussehen soll. Ich bin skeptisch. Das hier riecht nach Vielfalt, klingt nach Vielfalt, aber ich glaube, es ist nur Wirrwarr. ({11}) So wird das nichts werden. Auch die Programme, die nun frühzeitig in den Schulen ansetzen sollen, um abschlussgefährdeten Jugendlichen zu helfen, sind nichts weiter als Reparaturprogramme für ein verfehltes Bildungssystem. Wenn in Zukunft immer weniger Arbeitsplätze für Geringqualifizierte vorhanden sein werden, dann muss man für bessere Bildung sorgen. Wir brauchen das Geld dort, wo die Bildung von Anfang an besser gemacht werden kann, ({12}) und das Kooperationsverbot muss fallen, damit die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern auch gemeinsam wahrgenommen werden kann. Als Erstes muss sich die Schule ändern, damit mehr bessere Abschlüsse erworben werden können. Ein Hauptschulabschluss reicht oft nicht mehr. Auch das Übergangssystem hilft an dieser Stelle überhaupt nicht weiter. Wir brauchen mindestens solide Realschulabschlüsse für die Mehrzahl der jungen Menschen und natürlich mehr Abiturienten. Zweitens brauchen wir endlich einen Rechtsanspruch auf eine qualitativ hochwertige berufliche Erstausbildung. Drittens muss es in der Wirtschaft ein solidarisches System der Ausbildungsfinanzierung nach dem Vorbild der Bauindustrie geben. Es muss durchgesetzt werden, dass sich alle Unternehmen daran beteiligen. Viertens muss der Unsinn aufhören, dass die einen eine Ausbildungsvergütung bekommen - nicht immer eine besonders hohe, aber immerhin eine -, während die anderen Schulgeld zahlen müssen, um überhaupt eine Ausbildung zu erhalten. Darüber schweigt der Bericht übrigens. ({13}) Das ist vor allem in den Gesundheitsberufen der Fall, obwohl der Bedarf an Arbeitskräften in diesen Berufen in den nächsten Jahren enorm zunehmen wird. Fünftens muss das Berufsübergangssystem weitgehend überflüssig gemacht werden; ganz wird man es nicht abschaffen können. Stattdessen brauchen wir ausbildungsbegleitende Hilfen in den Ausbildungsberufen, beim Gang in die Berufsausbildung. Es ist sinnvoll, dort anzusetzen; denn dort kann es tatsächlich helfen und stellt nicht nur eine Warteschleife dar. Sechstens bedarf es einer schnellen Lösung für die 20- bis 29-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung; denn hier geht es nicht nur um die individuellen Lebensperspektiven - um die geht es natürlich auch -, sondern auch um hohe Folgekosten bis ins Alter. Das sind ganz sicher nur einige der wichtigsten Schritte, die unbedingt gegangen werden müssen. Es gibt sicher noch mehr. Man muss sie umsetzen. Wir möchten eigentlich nicht bis zum nächsten Bericht warten, um dann festzustellen, dass sich wieder nichts getan hat. Ich danke. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kamp, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede die Jugendlichen vor dem Fernseher begrüßt. Ich gehe davon aus, dass die meisten Jugendlichen um diese Uhrzeit, um 9.30 Uhr, entweder in der Schule oder bei der Ausbildung sind. Den Jugendlichen, die um 9.30 Uhr vor dem Fernseher sitzen, hilft Ihr Schönreden nicht. ({0}) Sie wollen eine Perspektive, sie wollen eine Chance, und sie wollen nicht nur demografische Daten hören, die vielleicht irgendwann wirksam werden. Die Zahlen sprechen für sich. Einige wurden genannt: 185 000 Altbewerberinnen und Altbewerber, 320 000 Jugendliche im Übergangssystem. Das ist noch nicht alles. Die eigentlichen Zukunftsherausforderungen stehen unmittelbar bevor. Dazu gehört die Tatsache, dass in diesem Jahr die doppelten Jahrgänge - Stichwort: G 8 - auf den Ausbildungsmarkt strömen. Die Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst führt dazu, dass es in Deutschland bald 60 000 junge Männer geben wird, die ausgebildet werden wollen. ({1}) Auf diese Personengruppen gehen Sie gar nicht ein. Auf die Frage, was die Politik tut, damit diese jungen Männer nicht auf der Straße und nicht in einer Sackgasse landen, sondern eine qualifizierte Ausbildung bekommen, haben Sie noch keine Antwort. ({2}) Das ist eine Herausforderung, der Sie sich annehmen sollten. ({3}) Frau Schavan, Sie sagen, dass es günstige Rahmenbedingungen gibt. Aber günstige Rahmenbedingungen alleine helfen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen nur bedingt. All die Zahlen, die ich genannt habe - es fehlen geschätzt 670 000 betriebliche Ausbildungsplätze in Deutschland -, machen deutlich: Wir brauchen strukturelle Reformen, um in diesem Bereich voranzukommen. Darauf sind Sie leider gar nicht eingegangen. Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Ausbildungspakt verlängert haben. Ja, das haben Sie getan. Aber Sie haben keine überprüfbaren Ziele festgelegt. ({4}) Sie haben zum Beispiel nicht gesagt: Wir schaffen für diese Jugendlichen 60 000 zusätzliche Ausbildungsplätze. ({5}) Das wäre messbar und überprüfbar. Das wäre eine Handlungsanweisung für alle Beteiligten gewesen. Davon nehmen Sie aber Abstand. Damit sind wir wieder beim Schönreden und bei leeren Versprechen. Ein anderes Beispiel: die Bildungsketten. Ja, diese Initiative ist eine sinnvolle, gute Idee. Aber wenn es so ist, wie Sie sagen, warum statten Sie sie dann nicht vernünftig aus? Warum investieren Sie in diese Initiative nicht so viel Geld, dass sie in ganz Deutschland flächendeckend wirken kann und nicht bei einigen wenigen Leuchtturmprojekten steckenbleibt? Für Jugendliche ohne Perspektive reichen einige wenige Vorzeigeprojekte nicht aus. Das ist eine Binsenweisheit. ({6}) Wenn 150 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz haben, verursacht dies Folgekosten. Das DIW spricht davon, dass 150 000 nicht ausgebildete Jugendliche zu jährlichen Folgekosten in Höhe von 1,5 Milliarden Euro führen. Damit bin ich bei einem wichtigen Punkt: Es ist nicht nur die Aufgabe des Staates - wir reden über ein erfolgreiches duales System -, sondern auch die Aufgabe der Wirtschaft, in diesem Bereich zu agieren. Auch hier muss ein Umdenken stattfinden. Aber dieses Umdenken fällt nicht vom Himmel. An dieser Stelle sind wir wieder bei der Verantwortung der Politik. Wir müssen die Menschen überzeugen. Wenn Sie fordern, dass sich gerade Unternehmen mit Migrationshintergrund stärker auf dem Ausbildungsmarkt engagieren - diese Ansicht teile ich -, dann bedeutet dies auch, dass wir es ihnen ermöglichen müssen. Wenn es darum geht, Menschen zu einer Ausbildung zu befähigen und dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, sind auch die IHKs gefragt. Hier stehen wir noch halbwegs am Anfang. Wir machen Ihnen einen Vorschlag. Unser Vorschlag heißt „Dual Plus“. Mit diesem Vorschlag gehen wir nicht nur die Umgestaltung des Übergangssystems an. Vielmehr haben wir vor allem folgende Fragen im Blick: Wie schaffen wir es, dass sich auch kleine und mittlere Betriebe am Ausbildungspakt beteiligen und die Ausbildungsverpflichtung eingehen? Wie können wir Qualifizierung so organisieren, dass sie überbetrieblich und Hand in Hand mit dem dualen System funktioniert? Die dritte wichtige Frage lautet: Wie können wir auch Jugendliche, die in einer Sackgasse stecken geblieben sind, keine Perspektive haben und auf dem Ausbildungsmarkt keine Angebote erhalten, erreichen? Auf diese Fragen geben wir Antworten. Dabei setzen wir im Gegensatz zu Ihnen nicht nur auf die demografische Entwicklung und die Hoffnung, dass sich die Welt irgendwann verändert, sondern wir machen ein konkretes Angebot, das sich an die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Jugendlichen und die Politik, die endlich handeln muss, richtet. ({7}) Eine letzte Bemerkung zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Zahlen zeigen: Sie sind die Verlierer unseres Ausbildungssystems; sie bleiben auf der Strecke. Was diese Jugendlichen betrifft, sind wir bisher nicht konkret genug. Auch Ihre Antworten sind nicht konkret genug. Schlimmer noch: Sie entdecken und analysieren Probleme, geben aber keine einzige Antwort auf die Frage, wie sie zu lösen sind. Die eine Seite der Medaille ist, dass wir passgenaue Angebote machen müssen. Die andere Seite der Medaille ist, dass sich auch in der Kultur dieses Landes etwas verändern muss. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen ausländischen Namen haben, dauert es im Vergleich zu deutschen Jugendlichen dreimal so lange, bis sie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden, und sie bekommen viermal so oft Absagen. Es dauert bis zu 17 Monate, bis sie überhaupt eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch bekommen. Wenn man den Jugendlichen die Tür vor der Nase schließt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann frustriert sind. Auch für diese Jugendlichen muss gelten: Sie sollten sich mit Optimismus bewerben können. Bis wir das erreicht haben, müssen Sie noch jede Menge Hausaufgaben machen. Es reicht nicht aus, nur auf die demografische Entwicklung zu setzen, sondern man muss auch politisch entschlossen handeln. Dazu haben Sie bis jetzt noch keine Konzepte vorgelegt. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Man kann immer nörgeln und Haare in der Suppe finden, Frau Kollegin Ziegler. Wenn wir uns aber die Zahlen bei den Altbewerbern und den jungen Menschen, die im Übergangssystem sind, angucken, kann man schon von einer rot-grünen Erblast sprechen. ({0}) Es ist eine echte rot-grüne Erblast, dass jeder zweite Migrant im Alter zwischen 25 und 34 Jahren in den Jahren vor 2005 keinen Ausbildungsplatz gefunden hat. Neh12180 men Sie die Zahlen bei den Altbewerbern: Das waren rund 300 000 im Jahr 2005. Im Jahr 2010 waren es 185 000. Die Zahl der jungen Menschen im Übergangssystem ist in den letzten fünf Jahren um fast 100 000 zurückgegangen. Allein im letzten Jahr ist sie um ein Viertel gesunken. Seitdem Frau Schavan für Bildung und Forschung in Deutschland Verantwortung trägt, haben wir Erfolge auf diesem Gebiet vorzuweisen. Vorher war das eher ein Desaster. ({1}) Wenn Sie eine objektive Wertung der Politik des Bundesbildungsministeriums bzw. der Bundesregierung vornehmen wollen, dann müssen Sie sich gelegentlich einmal den OECD-Bericht aus dem Jahr 2010 vornehmen. Da steht auf Seite 19: Deutschland engagiert sich auf beeindruckende Weise für die Bewältigung dieser Herausforderung. Das bezieht sich auf die Herausforderung im Rahmen des Übergangssystems. - Dann wird weiter auf folgende Themen Bezug genommen: Initiative „Perspektive Berufsabschluss“, Koordinierung der Übergangsangebote auf regionaler Ebene, Un- und Angelernte, voll berufsorientierte Abschlüsse. Das heißt, die OECD konstatiert, dass die Bundesregierung bzw. die Bundesministerin genau den richtigen Weg geht. ({2}) Warum müssen wir diesen Weg gehen? Was hat uns denn in der Krise so stark gemacht? In der Krise hat uns doch stark gemacht, dass wir ein Industriestandort sind. Wir sind nur deswegen ein erfolgreicher Industriestandort, weil die duale berufliche Ausbildung in der Welt einmalig ist. Frau Schavan hat darauf hingewiesen: Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Industrieländer, andere haben eine viel höhere. Die duale Ausbildung ist eine Basis dafür, dass wir eine so niedrige Jugendarbeitslosigkeit haben. ({3}) Sie haben auch auf die Wirtschaft Bezug genommen. Wenn uns die Wirtschaft mitteilt, dass sie für 60 000 Stellen keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber hat finden können, und darauf hinweist, dass Erziehungsdefizite zu Ausbildungsdefiziten werden, dann ist doch nicht nur an die Politik und die Schule, sondern an die gesamte Gesellschaft die Frage zu stellen: Wie machen wir junge Menschen fit, damit sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind? Das ist nicht nur eine Aufgabe von Schule und Politik, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({4}) Was macht die Politik? Wir haben bis zum Jahr 2014 rund 620 Millionen Euro für diesen Bereich eingestellt. Allein für das Jahr 2011 haben wir die Mittel für die Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung um 30 Millionen Euro erhöht. Was steckt dahinter? Ich will das an zwei ganz konkreten Beispielen deutlich machen. Erstens geht es um ein Projekt meines sehr geschätzten Kollegen Hagemann in der Stadt Worms. Dort wurde aus dem Programm „Perspektive Berufsabschluss“ ein regionales Übergangsmanagement finanziert, weil es dort eine sehr hohe Arbeitslosigkeit gibt und 10 Prozent der Hauptschulabgängerinnen und -abgänger den direkten Übergang von der Schule ins duale Ausbildungssystem nicht schaffen. Mit diesem regionalen Übergangsmanagement - in Güstrow gibt es ein ähnliches Projekt will man die Akteure zusammenführen, damit wirklich keiner verloren geht. Frau Ministerin, ich darf vielleicht zitieren, was Sie in Rostock auf dem Unternehmertag gesagt haben: „Es gibt niemanden, der nichts kann.“ Genau das ist die Basis für das, was wir hier tun. ({5}) Zweitens kümmern wir uns nicht nur um die, die keinen Schulabschluss haben. Im Rahmen des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ kümmern wir uns auch um diejenigen, die älter, angelernt oder ungelernt sind. Es gibt zum Beispiel bei mir im Wahlkreis in der Stadt Schwaan ein Projekt im Pflegebereich. In MecklenburgVorpommern gibt es mittlerweile große Defizite an Fachkräften im Pflegebereich. Dort werden Module aufgebaut, sodass Ungelernte oder Angelernte als Altenpflegehelfer oder Altenpfleger arbeiten können. Diese beiden Beispiele zeigen: Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen stellen sich den Herausforderungen. Wir machen keine Politik im Kuckucksland, sondern wir machen Realpolitik. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Willi Brase für die SPD-Fraktion. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Es gibt einen Zuwachs an Ausbildungsplätzen auf voraussichtlich 614 000, 615 000 bis Ende September. Es gibt aber auch, wie schon erwähnt, 320 000 Menschen im Übergangssystem und 1,5 Millionen junge Leute zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss und mit möglicherweise nur schlechten Perspektiven. Darüber hinaus gab es zum 31. März 2011 100 000 Bewerber, die älter als 19 Jahre sind. Ich nenne diese Zahlen deshalb, weil der Berufsbildungsbericht 2011 meiner Meinung nach sowohl Licht als auch Schatten enthält und es unsere Aufgabe ist, darauf hinzuweisen, dass wir hier im Parlament und in der Regierung noch eine Menge zu tun haben, damit die jungen Leute eine vernünftige Zukunftsperspektive bekommen. ({0}) Kollege Rehberg hat bereits über Erziehungsdefizite gesprochen. Wir wollen doch einmal festhalten, was uns in Untersuchungen der unterschiedlichen Institute immer wieder zum Besten gegeben wird: Junge Leute, die in einem Haushalt mit einem Einkommen von bis zu 1 550 Euro leben, fallen hinsichtlich der Bildung sozusagen unter das wirtschaftliche Risiko. Wenn beide Elternteile nicht berufstätig sind, gibt es ein soziales Risiko, und wenn die Eltern weder einen Schul- oder Hochschulabschluss noch einen Berufsabschluss haben, dann gibt es ein Bildungsrisiko. Man kann das auch anders formulieren: Die Chancen in der Bildung sind heute extrem davon abhängig, wie dick das Portemonnaie der Eltern ist. Das ist für eine Gesellschaft wie unsere eine Schande, auf Deutsch gesagt. ({1}) Das bedeutet doch nichts anderes, als dass wir - alle Fraktionen in diesem Hause tragen in Landesregierungen Verantwortung - in den letzten zehn Jahren offensichtlich eine Politik gemacht haben, die zumindest gegen einen Teil der Menschen in unserem Lande gerichtet war. Eigentlich müssten wir ein Stück weit in Demut gehen, weil wir es nicht geschafft haben, allen jungen Menschen eine vernünftige Bildung zu ermöglichen. Es gibt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, in der es heißt: Sparen bei der Berufsbildung kostet den Staat Milliarden. - Wenn wir es nicht schaffen, dass alle jungen Leute eine Berufsausbildung erhalten und einen Berufsabschluss machen, dann werden wir in den nächsten zehn Jahren bis zu 15 Milliarden Euro an gesellschaftlichen Folgekosten zu tragen haben. Allein diese Zahl sollte uns ermuntern, endlich zu handeln und ein paar Dinge voranzubringen. Die wirtschaftliche Situation ist gut. Was macht die Regierung? Sie kürzt die Mittel für den Eingliederungstitel. ({2}) Das ist schlecht. Ich will Ihnen sagen, was aus unserer Sicht notwendig ist: Erstens. Ich glaube, dass das „Recht auf Ausbildung kein Abschluss ohne Anschluss“ absolut richtig ist. Allen jungen Leuten muss eine Perspektive gegeben werden. ({3}) Zweitens. Wir wollen die Berufsorientierung ab der siebten Klasse für alle Schulen und nicht nur für die sogenannten Risikoschulen zur Pflicht machen. Teilweise wird das schon auf den Weg gebracht. Bisher ist dabei an 30 000 Schülerinnen und Schüler gedacht; aber es gibt noch viel mehr. Hier wäre es gut, wenn die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern endlich Initiativen ergreifen würde, damit alle Schülerinnen und Schüler von dieser Maßnahme profitieren. ({4}) Drittens. Wir wollen ein regionales Bildungsmanagement; denn wir wissen: Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte - das waren sie, das sind sie, und das werden sie immer bleiben. In den Kommunen weiß man am besten, was zu tun ist. Wir sehen es vor allem als Aufgabe der Länder und Kommunen an, die Übergangsmaßnahmen gemäß dem Leitsatz „Kein Abschluss ohne Anschluss“ auf den Weg zu bringen. Viertens. Wir wollen die Fachkräfte besser ausbilden und den Fachkräftebedarf sichern. Wir wollen 1,5 Millionen Menschen eine Perspektive geben. Wenn es zutrifft, dass wir in diesem Bereich jedes Jahr Milliarden verlieren, dann müssen wir mehr ausgeben als die 60 Millionen Euro für das Programm „Perspektive Berufsabschluss“, die derzeit für mehrere Jahre in den Haushalt eingestellt sind. Das wäre ein guter und richtiger Weg. ({5}) Wir wollen fünftens, dass die Unternehmen auch Schwächere und Ältere in Ausbildung nehmen. Allein in diesem Jahr gibt es 100 000 junge Bewerber zwischen 20 und 25 Jahren. Wir beklagen, dass junge Menschen nicht früh genug in die Berufstätigkeit kommen. Wir haben die Möglichkeit, ihnen eine Chance zu bieten. Lassen Sie uns diese Möglichkeit nutzen. Sechstens sind wir der Auffassung, dass wir WeGebAU ausbauen müssen. Ich gebe zu, dass dieses Programm in der Praxis Anlaufschwierigkeiten hatte. Aber es stabilisiert sich und wird besser genutzt. Lassen Sie uns dieses Programm verbessern und ausweiten, damit wir dann, wenn künftig Fachkräfte gebraucht werden, auch den Menschen, die schon in Arbeit sind, ob angelernt oder ungelernt, eine Perspektive zu geben. Das halte ich für richtig und notwendig. ({6}) Der Stern hat vor wenigen Tagen die Ergebnisse einer Umfrage zum Thema „Steuern rauf für die Bildung!“ veröffentlicht. Auch wenn das für die FDP als Steuersenkungspartei etwas schwierig ist: 73 Prozent der Befragten - weit über 100 000 Personen - waren dafür. ({7}) - Jetzt wollen Sie die Steuern nicht mehr senken, sagt Herr Rösler. Gestern hat Herr Brüderle, der „Weinkönig“, wieder gequakt: Wir wollen die Steuern wieder senken. - Hören Sie auf! Werden Sie sich erst einmal selbst einig! 73 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie mit einer leichten Steuererhöhung einverstanden wären, wenn in der Bildung endlich etwas auf den Weg gebracht würde. ({8}) Dieselben Personen haben auf eine entsprechende Frage geantwortet: Wir halten es für absolut notwendig, dass sozial Benachteiligte in unserer Gesellschaft aufsteigen können. - Es war einst ein Merkmal dieses Landes, dass auch Kinder aus Arbeiterfamilien wussten, dass sie mit etwas Anstrengung die Chance haben, nach oben zu kommen. Diese Chance ist nicht mehr für alle gegeben. ({9}) 70 Prozent der Befragten haben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es richtig ist, den jungen Leuten eine Berufsausbildungsgarantie zu geben. Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sylvia Canel für die FDP-Fraktion. ({0})

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein lieber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bildung ist ein lebendiger Prozess. So lebendig, wie wir hier sitzen, so lebendig ist auch dieser Prozess. ({0}) Wir beginnen mit der frühkindlichen Bildung und brauchen Übergänge in Aus-, Fort- und Weiterbildung. Wir haben es mit einer riesigen rot-grünen Erblast zu tun. Ja, Herr Rehberg, Sie haben völlig recht. Das darf nicht bestritten werden; das muss hier einmal gesagt werden. ({1}) Notwendig ist, dass die frühkindliche Bildung endlich vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Das ist bisher in keinem Bundesland wirklich gelungen. Selbstverständlich müssen wir zuallererst diejenigen fragen, die in den Bundesländern in Regierungsverantwortung sind, warum das nicht geschehen ist. ({2}) Die grundlegenden Weichen des gesamten Bildungssystems bzw. der gesamten Bildungslaufbahn werden deshalb ganz am Anfang gestellt, weil dadurch eine besonders gute Integration und frühkindliche Förderung sozial schwacher Kinder möglich wird. Wir können sie besonders gut erreichen und das ausgleichen, was die Elternhäuser nicht leisten. Wir müssen deshalb darauf ein besonderes Augenmerk haben - und fördern, fördern, fördern. Denn den Reparaturbetrieb, von dem zu lesen ist, dürfen wir uns nicht länger erlauben. ({3}) Kinder früh stärken heißt, Perspektiven zu eröffnen. Wenn wir Perspektiven eröffnen, gelingen auch die Übergänge. Übergänge sind besonders kritische Situationen. In einer modernen und offenen Gesellschaft muss es sehr viele Möglichkeiten geben, Übergänge im Bildungssystem zu schaffen. Die Leistungsfähigkeit des Systems sichert ganz besonders die individuellen Aufstiegschancen. Leistungsfähigkeit erreichen wir, wenn wir endlich aus Abschlüssen Anschlüsse machen; denn Anschlüsse sind das, was uns weiterbringt, und es sind die Übergänge, die wir verbessern müssen. ({4}) Der Berufsbildungsbericht erhebt die Herstellung von Durchlässigkeit zur zentralen Forderung. Das ist auch unsere zentrale Forderung. Gerade angesichts des zukünftigen Fachkräftemangels aufgrund des demografischen Wandels müssen wir in der frühkindlichen Bildung die Rahmenbedingungen schaffen, die nötig sind. Das heißt, wir brauchen eine bessere Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher, und wir müssen qualitativ bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Eltern ihre Kinder in den entsprechenden Einrichtungen abgeben können. Die Zahl der Schüler wird sich bis 2025 um knapp 20 Prozent verringern. Das steht im Bildungsbericht. Man könnte meinen, Deutschland habe heute zu viele Kinder; denn in Zukunft wird jedes fünfte Kind fehlen. Wir können die Qualität im Bildungswesen nur dann sichern, wenn wir diese demografische Rendite dort belassen. Das ist unsere Forderung. Wir dürfen aus dem Bildungsbereich keine Gelder abziehen. Wir müssen mindestens die Summe, die wir heute investieren, auch weiterhin in die Bildung investieren. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die DIHKAusbildungsumfrage, die in dieser Woche erschienen ist. In dieser Ausbildungsumfrage wurde die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger als Ausbildungshemmnis Nummer eins benannt. Mehr als drei Viertel der Unternehmen beklagen die unzureichende schulische Qualifikation und die mangelnden persönlichen Kompetenzen der Bewerber. Das heißt: Zu der schlechten Schulausbildung kommt auch noch eine schlechte Erziehung hinzu. Das wiederum kennzeichnet den Reparaturbetrieb, den wir uns nicht länger leisten dürfen. Das Defizit beginnt bei der frühkindlichen Bildung, es setzt sich in den Schulen fort und reicht bis hin in die weiterbildenden Anstalten. Wir müssen dazu kommen, am Anfang mehr zu investieren und die frühkindliche Bildung zu fördern. ({5}) Wenn nun die Zahl der Auszubildenden rückläufig ist und diese oftmals nicht ausbildungsreif sind, dann ergibt sich eine doppelte Schieflage. Die individuelle Förderung in den Schulen muss gesteigert werden, damit jeder Einzelne die Chance hat, einen Abschluss zu erreichen. Dazu gehört die Erziehungsunterstützung in den Schulen, und dazu gehören Rahmenbedingungen, die viel besser sein müssen als die, die wir heute in den Schulen vorfinden. ({6}) Die Potenziale aller Schüler müssen gehoben werden. Früh müssen Perspektiven entwickelt werden, und die Berufsorientierung in den Schulen muss früher erfolgen und deutlich gestärkt werden. Dazu gehören eine engere Vernetzung der Schulen mit ihrem Umfeld und eine stärkere Kooperation mit den Unternehmen vor Ort. Das muss - auch das sagt die PISA-Studie der OECD, und auch wir haben das schon länger immer wieder erklärt Hand in Hand mit der Eigenständigkeit der Schulen gehen. Die erfolgreichsten Länder sind diejenigen Länder, in denen die Schulen ein hohes Maß an Eigenständigkeit haben, Eigenständigkeit zur individuellen Förderung, Eigenständigkeit, möglichst früh mit der Förderung zu beginnen, und Eigenständigkeit, um mit den Unternehmen zu kooperieren, damit die Berufsbildung früher beginnen kann. ({7}) Die Durchlässigkeit von der Lehre zur Hochschule muss verbessert werden. Auch diejenigen, die aus nichtakademischen Berufen kommen, müssen die Möglichkeit erhalten, in der Universität einen höheren Abschluss zu erlangen. Genau dieses Segment müssen wir stärken. Wir müssen für all diejenigen offen sein, die in ihre eigene Bildung investieren; deshalb müssen auch wir in Bildung investieren. Die Wissensgesellschaft erfordert eine gute Bildung für alle von Beginn an. Jedem einzelnen jungen Menschen muss die beste Bildung zuteilwerden. Den positiven Trend, der von diesem Bildungsbericht ausgeht, müssen wir verstetigen. Es gibt viel zu tun. Ich denke, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schavan, Sie haben darauf hingewiesen, dass es eine positive Entwicklung gibt. Ich bin die Letzte, die das kleinreden will. Aber diese positive Entwicklung haben wir im Wesentlichen der demografischen Entwicklung und dem wirtschaftlichen Aufschwung zu verdanken. Es ist mir sehr wichtig, Sie darauf hinzuweisen, dass alle Experten davon ausgehen, dass wir es bei denjenigen, die es in die Ausbildung geschafft haben, auch mit Creaming-Effekten zu tun haben. Wir steuern auf eine verfestigte Jugendarbeitslosigkeit zu, wenn wir nichts tun. ({0}) Frau Schavan, wenn 17 Prozent einer Alterskohorte keine Ausbildung haben, dann ist das ein riesiges volkswirtschaftliches Problem, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine kleine Kohorte junger Leute eine große Kohorte alter Menschen unterstützen muss. Wenn von dieser kleinen Kohorte junger Leute noch 17 Prozent dazu nicht nur keinen Beitrag leisten können, sondern selbst wahrscheinlich ein Leben lang alimentiert werden müssen, dann ist das volkswirtschaftlich nicht mehr zu schultern. Deswegen reicht es auch nicht aus, ein bisschen am Übergangssystem zu verbessern. Nein, Frau Schavan, das Übergangssystem in dieser Form ist nach wie vor ein Dschungel. Es gibt immer noch mehr als 200 Maßnahmen in diesem Bereich. Es kostet uns jährlich 4 Milliarden Euro. Alle Evaluierungsergebnisse zeigen, dass das Übergangssystem seine Aufgabe, nämlich die Jugendlichen, die nicht ausbildungsfähig sind, ausbildungsfähiger zu machen, nicht erfüllt. Deswegen muss dieses Übergangssystem ersetzt werden. ({1}) Jetzt will ich als Erstes ein ganz deutliches Bekenntnis zum dualen System abgeben. Das duale System ist gut, ja, ({2}) aber leider nicht für alle. Das duale System hat strukturelle Probleme. In einer Krise bilden Betriebe die Jugendlichen nicht als Fachkräfte aus, die wir für den Aufschwung brauchen. ({3}) Das ist ein strukturelles Problem. Zweitens. Viele der kleinen Dienstleistungsbetriebe und viele der Neugründungen sind gar nicht in der Lage, das gesamte Spektrum einer Ausbildung zur Verfügung zu stellen. Die fallen quasi als Beteiligte des dualen Systems heraus. Das ist ein strukturelles Problem. Zu Recht beklagt die Wirtschaft immer wieder, dass viele der Jugendlichen keine Ausbildungsreife mitbringen. Deswegen müssen wir dem dualen System eine Ergänzung an die Seite stellen. ({4}) Weil die Folgekosten extrem hoch sind - sie werden in den nächsten Jahren 15 Milliarden Euro betragen -, sagen wir: Lassen Sie uns das Übergangssystem in eine Berufsausbildung mit Kammerabschluss überführen. Schieben Sie die Jugendlichen, die jetzt keinen Ausbildungsplatz im dualen System bekommen haben, nicht weiter in dieses perspektivlose Übergangssystem ab, sondern legen Sie ein Sofortprogramm auf, mit dem diese Jugendlichen in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt nach einem ganz veränderten und neuen System eine Ausbildung mit Kammerabschluss bekommen! ({5}) Die Ausbildung muss modularisiert werden. Die Ausbildung in den überbetrieblichen Ausbildungswerkstätten braucht sehr hohe Praxisanteile. Insgesamt muss jeder Jugendliche, der jetzt arbeitslos ist, vom Jobcenter sofort ein Angebot für eine Ausbildung bekommen. Wir steuern auf ein Problem zu, das lautet: extrem hoher Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Jugendarbeitslosigkeit. Frau Schavan, das ist nicht im Sinne der Volkswirtschaft, und das können Sie im Hinblick auf die individuellen Chancen, die die Jugendlichen verdient haben, nicht zulassen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Albert Rupprecht für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Pothmer, Ihre Zustandsanalyse war nichts, was sich im Berufsbildungsbericht 2011 widerspiegelt. Die wesentlichen Ergebnisse dieses Berichts sind: Es gab 2010 deutlich mehr Ausbildungsplätze als erwartet. Die Zahl der Jugendlichen in Warteschleifen ist dramatisch gesunken. Auch 2011 geht es aufwärts. Wir erwarten 14 Prozent mehr Ausbildungsplätze. Das sind sehr gute Nachrichten für unsere Jugendlichen. ({0}) Die demografische Entwicklung ist eine Ursache für die guten Ergebnisse, aber bei weitem nicht die einzige. Wir erleben, dass in fast allen europäischen Ländern die Zahl der Jugendlichen demografiebedingt sinkt. Wir erleben auch, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa sehr unterschiedlich ist: In Deutschland liegt sie bei 7 Prozent; in Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien, Belgien, Schweden und vielen anderen europäischen Ländern beträgt sie dagegen 20 bis 40 Prozent. Man spricht in diesen Ländern von verlorenen Generationen. Während die Länder um uns herum in Schulden und in Arbeitslosigkeit versinken, ist Deutschland unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel gestärkt aus den großen Krisen - aus der Wirtschaftskrise, der Finanzkrise und der Euro-Krise - hervorgegangen. ({1}) Diese Stärke kommt am Ausbildungsmarkt an. Unsere Jugendlichen werden gebraucht. Die Zukunftsaussichten unserer Jugendlichen sind so gut wie selten zuvor. Die zweite Ursache für die sehr guten Jugendarbeitslosigkeitswerte in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ist das nach wie vor exzellente duale Ausbildungssystem. An dieser Stelle muss ein Dank all denjenigen Unternehmern gesagt werden, die ausbilden. Darüber hinaus geht ein Dank an die Partner des Ausbildungspaktes. Wir hätten uns gewünscht, dass die Gewerkschaften mitmachen und nicht vor der Tür stehen bleiben. ({2}) Wir haben zwei große Aufgaben am Ausbildungsmarkt zu erfüllen. Es gibt zum einen immer mehr Unternehmer, die keine ausbildungsgeeigneten Jugendlichen finden. Der drohende Fachkräftemangel ist eines der großen Themen der nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Für uns, die Unionsfraktion, gilt ganz klar, dass die Qualifizierung der heimischen Bevölkerung Priorität gegenüber einem Mehr an Zuwanderung aus dem Ausland hat. Es gibt zum Zweiten nach wie vor zu viele Jugendliche, die den Einstieg in die Ausbildung nicht schaffen. Es ist richtig: 1,4 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss, das ist viel zu viel. Es ist aber auch richtig, Frau Ziegler, dass diese Jugendlichen die Folgen der Schröder’schen Ausbildungskrise zu ertragen haben. Das sind im Grunde genommen Altlasten, die wir abzuarbeiten haben. ({3}) Wir konnten in den letzten beiden Jahren die Zahl der Altbewerber zwar um 30 Prozent verringern - das ist ein hervorragender Wert -, aber es sind in der Tat immer noch zu viele. Beim Dresdner Bildungsgipfel haben die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten beschlossen, dass die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis 2015 von 8 auf 4 Prozent halbiert wird und dass ebenso die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsabschluss von 17 auf 8,5 Prozent halbiert wird. Ich finde, das sind ehrgeizige Ziele. Das Herzstück unserer Maßnahmen ist - Ministerin Schavan hat es dargestellt - das Konzept der Bildungsketten. Wir nehmen die gefährdeten Kinder künftig bereits in der siebten Klasse an die Hand - wesentlich früher als bisher - und begleiten sie kontinuierlich und individuell in die Ausbildungszeit hinein. Frühzeitig, kontinuierlich und individuell, das ist die neue Qualität der Bildungsketten. ({4}) Richtig ist auch, dass wir die Vielzahl der Programme im Übergangssystem überarbeiten müssen. Deswegen gilt es, nicht alles zur Seite zu schieben und kaputtzumachen, sondern, herauszufinden, was erfolgreich war. ({5}) Das muss ausgebaut werden. Darüber hinaus gilt, zu sortieren, welche Programme erfolglos waren, und die Kraft aufzubringen, diese zu streichen. Wir erwarten von der Bundesregierung zeitnahe, inhaltlich überzeugende Beschlüsse. Darüber hinaus erwarten wir von den Ländern und von den Kommunen, dass sie sich gemeinsam mit Albert Rupprecht ({6}) der Bundesregierung an einen Tisch setzen und den Wildwuchs, der zu Recht kritisiert wurde, beenden. Bei der Erreichung der Dresdner Ziele trägt der Bund Verantwortung. Ganz klar ist: Die Länder haben die Hauptverantwortung. Wenn wir die Schulabbrecherquoten anschauen, dann zeigt sich wieder das klassische Bild: Die besten Werte haben die unionsgeprägten Länder Baden-Württemberg und Bayern und in Ostdeutschland die unionsgeprägten Länder Thüringen und Sachsen. Wenn wir bis 2015 die Dresdner Ziele erreichen wollen, dann müssen auch die schlechten Bundesländer massiv Gas geben. Frau Ziegler, Sie hatten in Brandenburg über Jahre als Ministerin Verantwortung. Brandenburg ist eines der Länder, die absolut miserable Werte abgeliefert haben. ({7}) Die Kinder im SPD-geführten Brandenburg sind nicht dümmer als die Kinder aus dem CDU-geprägten Sachsen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum letzten Satz. - Deswegen ist es Aufgabe der Länder, in die Pötte zu kommen. Ich sage es noch einmal: Insbesondere die SPD-geführten Länder, die bis dato miserable Werte abliefern, müssen ihre Arbeit in diesem Bereich verbessern. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPDFraktion. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade ist der Satz gefallen, dass die Zukunftsaussichten für junge Menschen selten so gut waren, wie das im Moment der Fall ist. Das mag für einige zutreffen; die Lebenswirklichkeit für viele Jugendliche sieht aber leider anders aus, und einige von denen wohnen auch in Bayern oder Baden-Württemberg. ({0}) Deswegen nützt es nichts, wenn wir hier die Zahlen schönreden und Erfolge betonen; wir müssen die Lebenswirklichkeit junger Menschen zur Kenntnis nehmen und die Probleme benennen. Das will ich bei zwei Themen auch tun. ({1}) Erstens. Es ist hier schon benannt worden, dass die Situation junger Menschen mit Migrationshintergrund am Ausbildungsmarkt deutlich schlechter ist als die derjenigen ohne Migrationshintergrund. ({2}) Nur jedem Vierten gelingt der Übergang von der Schule in die Ausbildung problemlos. Es gehört zu den gern zitierten Binsenwahrheiten, dass wir trotzdem auf keinen von ihnen verzichten können. Ich glaube schon, dass der Berufsbildungsbericht einige richtige Maßnahmen benennt, aber die Herausforderung ist weiter gehend. Wir müssen noch entschlossener und vor allem rechtzeitig darauf reagieren. Ich will dazu ein Beispiel nennen. Frau Kollegin Ziegler und auch Frau Kollegin Canel haben hier gerade schon darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, frühzeitig einzugreifen, etwa in der Schule spezifische Problemlagen anzupacken. Deshalb war und ist es richtig, mit Schulsozialarbeitern die Schulen darin zu unterstützen, ihre Integrationsarbeit und auch die Vorbereitung auf die Arbeitswelt zu verbessern, zu intensivieren. ({3}) Es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir als SPD zu Beginn dieses Jahres die 3 000 Stellen im Vermittlungsausschuss nur durchsetzen konnten gegen den Widerstand der Koalition und auch gegen den anfänglichen Widerstand der zuständigen Ministerin, die das noch auf dem Bildungsgipfel 2008 abgetan hat. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Kommunen nach 2013, wenn die Finanzierungszusage des Bundes ausläuft, diese Stellen erhalten können. Wir müssen die Zusage geben, dass die Kommunen die Stellen weiter finanziert bekommen und wir die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht im Stich lassen. ({4}) Ausbildung und Arbeit sind zentrale Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Gerade deshalb ist es wichtig, politische Maßnahmen für junge Menschen mit Migrationshintergrund zu ergreifen, um ihnen zu zeigen: Ihr gehört zu uns. Ihr seid wichtig für unsere gemeinsame Zukunft. Deshalb helfen wir euch dabei, einen Platz in der Gesellschaft und eine Zukunft in dieser Gesellschaft zu finden. - Das muss unser politischer Anspruch sein, und das ist unser politischer Ansatz. Da nützt es nichts, die Zahlen ansonsten schönzureden; wir müssen politisch handeln. ({5}) Ein zweites Thema. Viele Unternehmen haben den Bedarf an Fachkräften erkannt und geben jungen Menschen nach der Ausbildung die Möglichkeit, in die Erwerbstätigkeit überzugehen. Aber wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass sich ein anderer Trend immer weiter verstärkt. Wie ist es denn mittlerweile für junge Menschen, die mit 20 Jahren ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben, die vielleicht mit ihrer Freundin oder ihrem Freund in die erste gemeinsame Wohnung ziehen und die Grundlagen für die spätere Fa12186 milienplanung legen wollen? Wie ist das für sie im wirklichen Leben? ({6}) Für viele junge Menschen wird das Ende der Ausbildung zur Zitterpartie. Mehr als ein Drittel von ihnen steht danach auf der Straße. Das ist die Wirklichkeit. Viele bekommen nur einen befristeten Vertrag oder können lediglich als Leiharbeitnehmer zu schlechteren Konditionen im gleichen Betrieb bleiben. Das ist ein Zustand, der - das ist hier gerade schon benannt worden gesellschaftlich und volkswirtschaftlich nicht zulässig sein sollte und den wir politisch ernsthaft diskutieren müssen. ({7}) Die sogenannte zweite Schwelle nach der Ausbildung ist ein Thema für den Deutschen Bundestag; das müssen wir politisch konsequent in den Blick nehmen: Erstens. Das Ziel ist natürlich die unbefristete Übernahme; denn nach einer mehrjährigen Ausbildung im Betrieb braucht es eigentlich keine Probezeit mehr. Die unbefristete Übernahme wäre für die jungen Menschen eine vernünftige Perspektive. ({8}) Zweitens. Leih- und Zeitarbeit dürfen nicht zum Dauerzustand für einen immer größer werdenden Teil der jungen Generation werden. Über dieses Thema haben wir oft genug gesprochen. Drittens. Es zeigt sich immer häufiger, dass insbesondere junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befristete Arbeitsverhältnisse angeboten bekommen - ohne Begründung. Das geschieht nicht, weil es unternehmerisch notwendig wäre, sondern deshalb, weil es rechtlich möglich ist. Aus diesem Grunde ist es wichtig und richtig - auch darüber haben wir im Plenum schon gesprochen -, dass die sogenannte sachgrundlose Befristung endlich gestrichen wird. ({9}) Junge Menschen, deren Wunsch es ist, nach Bildung und Ausbildung auf eigenen Füßen zu stehen, die eine Familie gründen wollen - was sie auch sollen und was wir politisch unterstützen -, die sich zugleich weiterbilden und für die Einhaltung des Generationenvertrages einstehen sollen, die also am Beginn der sogenannten Rushhour des Lebens stehen, brauchen Perspektiven und Sicherheit. Wenn dieses zentrale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft - wenn du Leistung bringst, dann bekommst du auch materielle Sicherheit - nicht eingehalten wird, dann wird die Akzeptanz sinken. Deswegen ist politische Eile geboten. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Uwe Schummer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Zunächst eine gute Botschaft in dieser Berufsbildungsdebatte: Die heutige Debatte ist, glaube ich, seit 2002, seit ich dem Bundestag angehöre, die erste, in der vonseiten der Oppositionsfraktionen nicht die Ausbildungsplatzabgabe gefordert wird. ({0}) Das zeigt: Auch Sie sind lernfähig. Das nehmen wir mit großer Freude und Optimismus zur Kenntnis. Eine Botschaft des Berufsbildungsberichts lautet: Die duale Ausbildung ist in der Europäischen Union, wo sie in der Anerkennungsrichtlinie negativ bewertet wurde, auch dank Annette Schavan aus der Benachteiligtenecke herausgeholt worden. Heute ist die duale Ausbildung, wie sie in Deutschland existiert, ein Vorbild sowohl im europäischen Bildungsraum als auch global. Durch die Gleichstellung des Bachelors mit den Weiterbildungsberufen des Meisters und des Technikers, auch mit Blick auf den europäischen Bildungsraum, wollen wir dafür sorgen, dass Abitur und qualifizierte Ausbildungsberufe wie Mechatroniker gleichwertige Chancen bieten. ({1}) Das sind unsere Maßnahmen, die dazu geführt haben, dass unser System der dualen Ausbildung heute auch in Brüssel als Vorbild gesehen wird. Dass die duale Ausbildung einen gewissen Stellenwert in Deutschland und Akzeptanz bei den Unternehmen hat, zeigen die folgenden Zahlen: In Deutschland liegt die Arbeitslosigkeit bei der Gruppe der Ungelernten bei 30 Prozent; bei denen, die eine duale Ausbildung absolviert haben, liegt sie bei 5,1 Prozent; bei den Hochschulabsolventen liegt sie bei 3,2 Prozent; bei denen, die eine duale Weiterbildung, zum Beispiel Meister oder Techniker, absolviert haben, liegt sie bei 2,8 Prozent. Das zeigt die Bildungsrendite, die mit der dualen Ausbildung einhergeht. ({2}) Wir wissen: Gut fördert, wer früh fördert. Wir haben viele Themen, über die wir, auch mein geschätzter Kollege Willi Brase, ({3}) hier seit Jahren sprechen, in Angriff genommen. Wir haben ein Bildungspaket aufgelegt, um besonders die 2,5 Millionen Kinder und Jugendlichen zu fördern, die aus Familien kommen, die ihre Kinder nicht entsprechend unterstützen können. Zu dem Paket gehören das Schulstarterpaket, die Schulspeisung, unterstützender Unterricht und weitere Maßnahmen. Mit dieser frühzeitigen Förderung über die Kommunen versuchen wir, zu verhindern, dass negative Sozialkarrieren von einer Generation auf die nächste übergehen, und wir versuchen, den Ausstieg aus Hartz IV und den Aufstieg durch Bildung zu organisieren. Unsere christlich-liberale Koalition hat dieses Thema verstärkt in Angriff genommen. ({4}) Wir, die wir leidend vom Niederrhein bei Düsseldorf kommen, müssen feststellen: Nachdem der Bund die Schulspeisung für Kinder und Jugendliche aus hilfebedürftigen Familien organisiert hat, streicht die rot-grüne Landesregierung diese. ({5}) 51 Millionen Euro werden ersatzlos gestrichen. Das ist Ihre Doppelstrategie: In Berlin fordern Sie Geld, und in Düsseldorf, wo Sie regieren, streichen Sie die Mittel ersatzlos. ({6}) In der Opposition den Lautsprecher machen und sich dort, wo Sie regieren, als Leisetreter aus dem Staube machen: Das ist Ihre Mentalität, Herr Schulz. Das erleben wir nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Berlin. Gut fördert, wer systematisch fördert. Deshalb gibt es die Bildungsketten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oppermann?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß, Herr Kollege Oppermann, dass Sie mir mehr Redezeit gönnen. Aber ich komme mit meiner Redezeit aus. Vielen Dank für Ihr Angebot. ({0}) Wir organisieren mit den Ausbildungsketten endlich eine systematische Förderung beim Übergang von der Schule in den Beruf. Das wirkt natürlich motivierend: Der Jugendliche merkt, dass er durch eine berufsqualifizierende Maßnahme eine Perspektive bekommt und dass er kein Hartzer wird. Er wird deswegen in der Schule stärkere Anstrengungen unternehmen, um den Abschluss zu schaffen. Wir müssen gemeinsam organisieren, dass die Abbrecherquote bei den Auszubildenden von derzeit 22 Prozent abgesenkt wird. Die Hälfte derer, die ihre Ausbildung abbrechen, tun dies deswegen, weil sie den falschen Beruf gewählt oder weil sie den falschen Betrieb gefunden haben. Die Ausbildungsketten bedeuten einen systematischen Übergang zur beruflichen Qualifizierung und sind daher bitter notwendig. Wir fördern frühzeitig mit dem Bildungspaket, und wir fördern systematisch mit den Bildungsketten. Das ist die Botschaft des Berufsbildungsberichts, die wir gemeinsam unterstützen sollten. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Thomas Oppermann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Schummer, ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, weil Sie vorhin geschummelt haben. Sie haben davon berichtet, dass in den Ländern die Mittel für die Schulspeisung gekürzt werden. Dabei haben Sie unterschlagen, dass in den Gesetzen, die wir nach Vermittlungsverfahren hier gemeinsam verabschiedet haben, der Vorrang der Bundesleistung beim Essensgeldzuschuss des Bundes für Kinder von Hartz-IV-Empfängern festgeschrieben wird. Das heißt, die Länder müssen keine Mittel für den Essensgeldzuschuss bereitstellen. Sie können diese Mittel einsetzen, um beispielsweise Schulsozialarbeiter einzustellen, um die Qualität der Ausbildung zu verbessern oder um Unterrichtsausfall zu bekämpfen. Das war der Sinn der Sache. Sie dürfen also nicht von willkürlichen Einsparungen sprechen. Dass die Länder keine Mittel mehr für den Essensgeldzuschuss geben müssen, ist von uns gewollt. Denn in dem Gesetz, das Sie gemeinsam mit uns verabschiedet haben, steht, dass der Essensgeldzuschuss des Bundes vorrangig ist und von den Ländern nicht gezahlt werden muss. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Kollege Schummer.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kritik, die ich geäußert habe, bezog sich auf das ersatzlose Streichen. Wir sind uns doch darin einig, dass wir mit dem Bildungspaket die Bildungsausgaben von Bund, Ländern und Kommunen insgesamt erhöhen wollen. Wenn also durch das Ausweiten von Bundesmitteln auf Landesebene Gelder eingespart werden, dann ist unsere Erwartung als Bildungs- und Forschungspolitiker, dass die so eingesparten Mittel - in Düsseldorf sind es 51 Millionen Euro - beispielsweise für den Förderunterricht oder für andere Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden ({0}) und nicht ersatzlos gestrichen werden. Sie aber streichen diese Mittel in Düsseldorf ersatzlos. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir von der SPD führen die Diskussion über den Berufsbildungsbericht mit dem Ziel: Keiner darf verloren gehen; kein Jugendlicher darf ohne Schulabschluss und ohne Berufsabschluss ins Leben entlassen werden. Das ist unser Ziel, und das unterscheidet uns von Ihnen. ({0}) 1,5 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Das wurde heute schon mehrfach erwähnt. Aber ich habe keine Antwort von der Bundesregierung auf die Frage gehört, wie dieses Problem behoben werden soll. Wir fordern ein Bundesprogramm, das diesen jungen Menschen eine zweite Chance gibt, damit die Wirtschaft die Fachkräfte, die sie braucht, um unseren Wohlstand zu erhalten, findet und qualifiziert. Was aber machen Sie als Bundespolitiker gegen den Fachkräftemangel? Ich finde es wirklich sehr bedauerlich, dass ausschließlich Frau Ministerin Schavan hier ist; Frau von der Leyen, die bei diesem Thema ebenfalls viel Verantwortung trägt, ist heute nicht anwesend. ({1}) Herr Fuchtel, ich sehe schon, dass Sie da sitzen; aber das Thema ist mir so wichtig, dass ich gerne die „Führungsattention“ der Ministerin hätte und nicht nur die des Staatssekretärs. ({2}) Warum sage ich das? Wir Bundestagsabgeordnete tragen die Verantwortung für den Bundeshaushalt; sehr viel Bildungs- und Weiterbildungspolitik wird nicht im Haushalt von Frau Schavan verantwortet, sondern im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Schauen wir uns an, was in den nächsten Jahren passieren soll: Im Zeitraum von vier Jahren sollen 22,5 Milliarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik gespart werden. ({3}) Das heißt, Sie wollen in der Arbeitsmarktpolitik das Fördern abschaffen und es beim Fordern belassen: Sie wollen die Schaffung von Ausbildungsplätzen und die berufliche Weiterbildung nicht mehr unterstützen; ({4}) Sie wollen kein Programm der zweiten Chance für die angesprochenen 1,5 Millionen jungen Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren. Das ist die Konsequenz Ihrer Sparpolitik im Bund. ({5}) Lassen Sie uns einmal schauen, was Sie bei der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf den Tisch gelegt haben. Heute gibt es 1 200 Berufseinstiegsbegleiter an den Schulen; Olaf Scholz hat sie eingeführt. Sie begleiten Jugendliche an der Schwelle zwischen Schule und Ausbildung. Jetzt gibt es im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Mittel für weitere 1 000 Berufseinstiegsbegleiter. Das ist eine Parallelstruktur; aber das ist nicht so schlimm, Hauptsache, es gibt Berufseinstiegsbegleiter. Jetzt schreiben Sie im Zusammenhang mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf, dass Sie die Berufseinstiegsbegleiter toll finden und es sie an jeder Schule geben soll. Aber Sie geben nicht das Geld, das nötig ist, damit es sie an jeder Schule geben kann. ({6}) Sie sagen, es solle hier eine Kofinanzierung der Kommunen geben; aber Sie haben die Kommunen vorher mit Ihren ganzen Steuersenkungen geschröpft. ({7}) Woher soll denn das Geld für die Unterstützung der Ausbildungsfähigkeit der jungen Leute kommen? Das ist doch die Frage; das ist ein Thema, über das wir diskutieren müssen, wenn es darum geht, Jugendlichen eine Chance zu geben. Keiner darf verlorengehen. Wir müssen den Blick nach vorne richten und eine Allianz für Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland schaffen. Da versagt Ihre Regierung. Es ist schön, sich hinzustellen und zu sagen: Wir haben viele Einzelprojekte. Wir brauchen aber ein Programm zur Stärkung der zweiten Chance. Wir brauchen ein System des Übergangs. Diese Übergangszeit sollte auf die Ausbildung angerechnet werden; sie sollte nicht additiv vor die Ausbildung geschoben werden. Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass kein Jugendlicher in Deutschland mehr die Schule ohne Schulabschluss verlässt. 2009 gab es bei uns 60 000 Jugendliche, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen haben. Die Bertelsmann-Stiftung hat festgestellt: Davon finden nur 20 000 einen Ausbildungsplatz. Das sind die Hilfeempfänger von morgen; hier sind Ihre Investitionen notwendig. Wir brauchen nicht nur schöne Worte und kalte Taten, wie wir sie bei dieser Regierung leider viel zu oft erleben. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum: Das haben Nadine Schön ({0}) die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für das laufende Jahr vorausgesagt. Das sollte uns alle freuen. Denn ein robustes und gesundes Wachstum sichert die Zukunftsfähigkeit unseres Landes; darüber waren wir uns am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss bei der Diskussion des Frühjahrsgutachtens fast alle einig. ({1}) Wir waren uns einig: Es gibt einige Risiken, die diese positive Entwicklung abbremsen und gefährden können. Eines dieser Risiken ist der drohende Fachkräftemangel. Sehr geehrte Damen und Herren, der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren eines der entscheidenden Themen für unsere gesamte deutsche Wirtschaft werden vom kleinen Schlosserbetrieb bis zum großen Chemiekonzern. Wir alle wissen, es braucht ein Bündel von Maßnahmen, um diesem Fachkräftemangel zu begegnen. Eine ganz entscheidende Maßnahme ist mit Sicherheit die berufliche Bildung. Fachkräftesicherung durch berufliche Bildung, das heißt Ausbildung, und das heißt auch lebenslange Fort- und Weiterbildung. Zum Thema Ausbildung ist vieles gesagt worden. Es gibt viel Licht, und ja, es gibt auch Schatten. Das ist in dieser Debatte deutlich geworden. Die positive Nachricht ist aber doch, dass uns auch der demografische Wandel mit dem drohenden Fachkräftemangel dabei hilft, noch mehr Licht dahin zu bringen, wo vorher Schatten war. Der demografische Wandel gibt uns die Chance, auf die jungen Menschen zuzugehen und ihnen eine Ausbildungsperspektive zu geben, die es vorher schwerer hatten. Liebe Kollegin Pothmer, ich weiß gar nicht, was daran schlecht sein soll. ({2}) Das betrifft in erster Linie die Altbewerber, das betrifft Jugendliche mit besonderen Problemen, und das betrifft Jugendliche mit Migrationshintergrund. Diese drei Gruppen stehen noch stärker als zuvor im Fokus der Bemühungen. Nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft sieht sich diesen jungen Menschen gegenüber in der Pflicht. Deshalb bilden sie einen Schwerpunkt beim nationalen Ausbildungspakt, der im letzten Jahr verlängert wurde. Das sind nicht nur Lippenbekenntnisse. Das sieht man an den Zahlen. Die Zahl der Altbewerber ist in den vergangenen Jahren um ein Drittel reduziert worden. Ja, es gibt noch 185 000 Altbewerber. Für jeden dieser 185 000 ist es schlimm, wiederholt keinen Ausbildungsplatz gefunden zu haben. Das will ich gar nicht kleinreden. Aber 2008 waren es noch über 260 000. Jeder dieser jungen Menschen, der nun eine Perspektive hat, ist eine Erfolgsgeschichte, und hinter jedem dieser jungen Menschen stehen ein engagierter Betrieb und ein Team von Pädagogen und engagierten Sozialarbeitern, die diesen Weg ermöglicht haben. All denjenigen sollten wir heute Morgen ein großes Dankeschön senden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in unseren Anstrengungen für diese Jugendlichen nicht nachlassen wollen, wurde bei meinen Vorrednern deutlich. Ich ärgere mich schon, liebe Kollegen, wenn Sie in Ihren Pressemeldungen und in Ihren Reden kontinuierlich die Erfolge verschweigen und bei den Problemen so tun, als seien sie erst unter CDU-Regierungen aufgetaucht und wir würden nichts dagegen tun. ({4}) Dass wir trotz Wirtschaftskrise eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit haben, niedriger als in allen anderen europäischen Ländern, und dass wir Jahr für Jahr mehr Jugendliche in betriebliche Ausbildung vermitteln, ist ein großer Erfolg. Das dürfen Sie gern auch einmal anerkennen. ({5}) Wenn wir über Fachkräfte sprechen, dann geht es auch darum, leistungsstarke Jugendliche für eine Ausbildung zu begeistern. Das Handwerk hat mit einer sehr guten Kampagne vorgelegt, in der es darauf aufmerksam macht, dass es gerade in Handwerksbetrieben innovative und zukunftsträchtige Berufe und viele Chancen gibt. „460 000 Innovationen. Und das Patentamt haben wir auch gebaut“ - das ist einer der Slogans, der für die Innovationskraft des Handwerks mit seinen attraktiven Berufen wirbt. Diese Attraktivität zu erhöhen, ist auch Aufgabe der Politik. Hier können wir unterstützen: zum Ersten durch eine bessere Durchlässigkeit des Systems, zum Zweiten durch bessere Berufsorientierung auch an Gymnasien und zum Dritten vor allem dadurch, dass wir Ausbildung im dualen System wertschätzen und als wichtigen Baustein unserer Wirtschaft auf Augenhöhe mit den Akademikern anerkennen. Die Ministerin hat es gesagt: Dazu gibt der Nationale Qualifikationsrahmen Gelegenheit. ({6}) Abschließend will ich einen Teil der beruflichen Bildung erwähnen, der heute leider nicht angesprochen wurde, aber sehr wichtig ist. Das ist das Thema der Fortund Weiterbildung. Der Berufsbildungsbericht widmet sich diesem Bereich mit einem eigenen Kapitel. Während der Kurzarbeit haben beispielsweise bei uns im Saarland viele Arbeitnehmer Weiterbildungsangebote genutzt. Das hat mit dazu geführt, dass wir stärker aus der Krise herausgekommen sind, als wir hineingegangen sind. ({7}) Weiterbildung und lebenslanges Lernen sollen in Deutschland selbstverständlich sein. Die Politik muss dazu Rahmenbedingungen schaffen, Anreize setzen. Der Berufsbildungsbericht stellt die Initiativen dar. Reinschauen lohnt sich. Die Fort- und Weiterbildung ist ebenfalls ein wichtiger Faktor gegen Fachkräftemangel. Das sollten wir noch stärker forcieren. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegen, ich komme zum Schluss. - In einem dynamischen Land mit einem hohen Bedarf an Fachkräften brauchen wir alle Menschen. Deshalb sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Michael Kretschmer für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte ist es gut, die Sachen noch einmal zurechtzurücken ({0}) und auf die Realitäten und die wirklichen Fakten zurückzukommen. Die Situation im Bereich der Ausbildung in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Vor fünf, sechs Jahren mussten wir noch häufig darüber sprechen, dass große Teile eines Jahrgangs - vor allen Dingen, wie die Bundesministerin richtigerweise sagte, in den neuen Ländern - ohne Ausbildung geblieben sind. Es gab belastende Gespräche in Schulklassen. Ein Jugendlicher hat 30 bis 40 Bewerbungen geschrieben, und am Ende gab es nur Absagen. Das gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Wir haben heute eine grundlegend andere Situation. Heute kann jeder, der die Leistung erbringt, einen Ausbildungsplatz bekommen. Das ist eine gute Nachricht. ({1}) Die Feindbilder, die die linke Opposition in der Vergangenheit aufgebaut hat, haben schon früher nicht getaugt, um die Probleme und die Situation richtig zu beschreiben, geschweige denn, sie zu lösen. Heute sind sie absurd. Deswegen muss man auf den Kern zurückkommen: Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft, sowohl für den jungen Menschen als auch für den Unternehmer. Deswegen kann man Bildungspolitik, berufliche Bildung, nicht ohne Wirtschaftspolitik denken. Deswegen war das, was wir vor Jahren erlebt haben - auch in den alten Bundesländern -, das Ergebnis einer verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik. ({2}) Es ist so, wie Anette Hübinger immer sagt: Die SPD schafft zuerst den Missstand, um ihn später zu beklagen. Damit ist glücklicherweise Schluss. ({3}) Ich halte nichts - heute wurde es angesprochen - von Ausbildungsgarantien und einer Zwangsübernahme. Wir haben heute vor einer Woche ein Gespräch mit dem Präsidium des DGB geführt. Ich musste feststellen: Man muss wirklich häufiger mit diesen Menschen reden, denn man stellt fest, dass die Gewerkschaften viel vernünftiger sind als die linke Opposition hier in diesem Haus. ({4}) Ich finde es bemerkenswert, dass eine frühere Arbeitsministerin aus Brandenburg sich hier hinstellt und schimpft wie ein Rohrspatz, aber nicht über das, was Sie in Brandenburg falsch gemacht haben, weswegen es dort so viele Schulabbrecher gibt und so viele schlechte Leistungen herauskommen. ({5}) Das wäre das richtige Thema für Ihre Rede bzw. für Ihre Kritik gewesen, Frau Kollegin. ({6}) Was wir heute einfordern müssen, ist: Leistung. Wir brauchen Leistungsorientierung. ({7}) Die Zahlen belegen zwar, dass jeder Jugendliche eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, aber wir brauchen auch vernünftige Ergebnisse nach Abschluss der Realschule oder der Hauptschule. Ich finde schon, dass von diesem Platz aus gesagt werden muss: In Deutschland hat jeder eine Chance auf einen Aufstieg, wenn er die Leistung erbringt, und dies ist auch möglich. ({8}) Dass die linke Opposition sich hier als Anwalt der kleinen Leute aufspielt, ({9}) gefällt mir per se nicht. Ich glaube, so wie Sie es betreiben, sind Sie keine Anwälte, sondern Sie wollen Vormund sein, Sie wollen selbst bestimmen. ({10}) Sie machen den Leuten keinen Mut, sondern Sie sagen: Es ist alles furchtbar. - Aber es ist nicht furchtbar. Jeder hat eine Chance in unserem Land! ({11}) Ich sage ganz klar: Wir brauchen Eigenverantwortung. Ich bin froh, dass endlich einmal ein Gericht eine Mutter zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt hat, ({12}) weil der eigene Sohn 477 Tage nicht in die Schule gegangen ist. Das Gericht hat gesagt: Das kann ja wohl nicht wahr sein. Die Eltern sind dafür verantwortlich. ({13}) Es sind nicht die Unternehmen oder die Wirtschaft oder die Politik oder die Lehrer, die daran schuld sind, dass dieser junge Mensch keinen Ausbildungsplatz bekommt, sondern es sind die Eltern und der Jugendliche selbst, und das muss auch so benannt werden. ({14}) Nicht das geringe Einkommen ist das Problem. Das Problem entsteht, wenn sich jemand nicht kümmert. Es ist eine Beleidigung für alle Menschen - auch für solche mit einem kleinen Einkommen -, die sich redlich um Arbeit bemühen, wenn Sie sich hinstellen und sagen: Die haben ja keine Chance. Aus denen wird sowieso nichts. ({15}) Nein, meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist eine Aufstiegsgesellschaft, in der jeder eine Chance hat, wenn er sich Mühe gibt. ({16}) Unsere Arbeit der vergangenen Monate und Jahre mit dem Bildungsgipfel, den Bildungsketten und dem Bildungs- und Teilhabepaket führt zu einem Punkt, an dem Ernst damit gemacht wird, denjenigen zu helfen, die wirklich Schwierigkeiten haben. Ich bin froh darüber, dass wir hierfür in den vergangenen Monaten hohe Geldsummen bereitgestellt haben. Das muss man anerkennen und akzeptieren. Wir sind auf einem guten Weg, den wir weiter gemeinsam gehen sollten. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5400 und 17/5489 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einsetzung eines Sonderausschusses „Atomausstieg und Energiewende“ - Drucksache 17/5473 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm für eine nachhaltige, bezahlbare und sichere Energieversorgung - Drucksache 17/5481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Allgemeinen bin ich ein gelassener Mensch; aber diese Gelassenheit fehlt mir in diesen Tagen, wenn ich die öffentlichen Erklärungen von Herrn Brüderle und Herrn Röttgen zur Energiepolitik lese. Das ist schon dreist, was ich da in diesen Tagen lese. Dabei sage ich Ihnen: Wer im Regierungsamt handelt, der kann falsch liegen. Wer nicht handelt, kann erst recht falsch liegen. Aber wer sich so katastrophal irrt wie Sie, wer sich absichtsvoll, verantwortungslos über alle Bedenken zur Kernkraft hinweggesetzt hat, wer sich noch vor einem halben Jahr öffentlich damit gebrüstet hat, dem Energiekonsens in diesem Land das Genick zu brechen und sich dafür feiern zu lassen, von dem erwarte ich auch einen Moment der Demut. ({0}) Ich finde es unerträglich, dass Sie gerade einmal drei Wochen nach dem energiepolitischen Super-GAU Ihrer Parteien so tun, als hätten Sie immer an der Spitze der Bewegung für eine neue Energiepolitik in diesem Lande gestanden. Aber das passt am Ende auch zu der Kanzlerin. Glauben Sie mir: Ich schätze Herrn Töpfer. Ich vermute sogar, ich schätze ihn mehr als einige aus den Reihen der Regierungsparteien. ({1}) Aber ich sage Ihnen auch: Was ist das für eine Dreistigkeit, wenn ausgerechnet diejenigen, die den bestehenden Konsens über die Zukunft der Energiepolitik - Ausstieg aus der Kernenergie, Einstieg in erneuerbare Energien erst in die Tonne treten und dann, ein halbes Jahr später, nach den Ereignissen in Japan, eine Ethikkommission gründen! Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ob Ihnen das bewusst ist: Aber was ist die Gründung der Ethikkommission denn anderes als die Behauptung, die Energiepolitik der Vorgängerregierungen sei nicht nur falsch oder unvollständig, zu viel oder zu wenig ambitioniert? Nein, sie ist der in eine Institution gegossene Vorwurf, die Energiepolitik der Vorgängerregierungen habe ethische Anforderungen verletzt. Das lasse ich mir von keinem in diesem Lande sagen, meine Damen und Herren. ({2}) - Da kommen schon andere drauf. Sie können es, glaube ich, in diesen Tagen auch nachlesen. ({3}) Ich lasse mir das von keinem sagen, aber erst recht nicht von denjenigen, die den politischen und ethischen Grundkonsens, den es gab, mutwillig, absichtsvoll, ohne Rücksicht auf die Folgen gebrochen haben. Ich sage Ihnen: Die ethischen Fragen des Atomausstiegs waren in diesem Lande beantwortet. Sie haben die Fragen wieder offen gestellt. Das ist Ihre Bilanz. ({4}) Sie wollten nicht lernen, und Sie wollten nicht hören. Die Geschichte der Atomkraft in der Welt hat Namen: Harrisburg, Sellafield und Tschernobyl. Den Jahrestag dieser schrecklichen Katastrophe werden wir in wenigen Tagen zum 25. Mal begehen. Das ruft auch die Bilder von vor 25 Jahren wieder wach: 1,5 Millionen Hektar Bodenfläche sind verseucht, 4 000 Menschen sind unmittelbar nach der Katastrophe gestorben, 350 000 Menschen wurden evakuiert - viele von ihnen sind später an Krebs gestorben -, Kinder mit schweren Missbildungen, die in ein Leben im Abseits hineingeboren wurden. Meine Damen und Herren, nicht Japan, nicht Fukushima war der Lernort für Politik. Es waren die Unglücke vor Japan, die gezeigt haben, dass dies eine Hochrisikotechnologie ist, die letztlich von den Menschen nicht beherrschbar ist. ({5}) Das ist die traurige Botschaft, die wir seit mindestens 25 Jahren kennen. Aber Ihre Bundeskanzlerin hat sich noch 2009 vor das Deutsche Atomforum gestellt und Tschernobyl als den Betriebsunfall eines verlotterten Sowjetkommunismus bezeichnet. Ein paar Monate später hat sie sogar vollmundig angekündigt, die Laufzeitverlängerungen als energiepolitische Mitgift in die schwarz-gelbe Regierungsehe einzubringen. ({6}) Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich in dieser Ehe noch alle wohlfühlen. Ich bin mir nur sicher: Was Sie da angerichtet haben, das ist das Komplettchaos in der deutschen Energiewirtschaft. ({7}) Wer uns mit einer doppelten Kehrtwende innerhalb von sechs Monaten da hineingeführt hat, der kann für sich nicht beanspruchen, den Weg aus diesem Chaos heraus zu kennen. Dazu braucht man Glaubwürdigkeit, und die, meine Damen und Herren, haben Sie nicht. ({8}) Es kommt eines hinzu: Fehlende Glaubwürdigkeit kann man sich am Ende auch nicht leihen, die kann man sich auch nicht bei großen Persönlichkeiten einer Ethikkommission leihen, im Übrigen auch deshalb nicht, weil diese Persönlichkeiten für unlautere Ziele nicht zur Verfügung stehen. Was ich sehe: Das Vorgehen der Regierung ist unlauter. ({9}) Sie ahnen das doch miteinander: Dieses Parlament ist der ungeliebte Ort der Kanzlerin. Ob Euro-Rettung, ob Aussetzung der Wehrpflicht, ob Moratorium bei der Laufzeitverlängerung: alles an diesem Parlament vorbei! Damit, meine Damen und Herren, muss Schluss sein. ({10}) Der einzige Ort, an dem verbindlich über die Zukunft der Energiepolitik in diesem Lande entschieden wird, ist der Deutsche Bundestag und nirgendwo sonst. ({11}) Kaum eine Frage ist für die künftige Entwicklung dieses Landes so entscheidend wie die nach der Zukunft der Energiepolitik. Wenn ich das so sage, dann auch, weil ich weiß, dass das in der Vergangenheit immer Ihre Worte waren. Wenn Sie das ernst meinen, dann darf doch gar nicht umstritten sein, dass diese wichtige Zukunftsfrage intensivster Diskussion und intensivster Begleitung durch das Parlament bedarf. Nur deshalb haben wir die Einrichtung eines parlamentarischen Sonderausschusses verlangt. Ich habe Ihnen das in einem Brief an alle Fraktionen vorgeschlagen. Ich nehme zur Kenntnis: Das muss Sie bei den Regierungsfraktionen tief verschreckt haben. Die Antwort kam ja schon, fast noch bevor der Brief von mir bei Ihnen eingegangen war. Die Antwort lautete, die Botschaft war: auf keinen Fall so etwas. Ich zitiere: „Nach unserer Auffassung“, schreiben Herr Kauder, Frau Hasselfeldt und Frau Homburger, „ist die Einrichtung eines solchen Sonderausschusses nicht erforderlich.“ Ich frage mich: Was ist das eigentlich? Ist das Angst oder Ignoranz? Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, über meinen Brief und die Antwort darauf in den Fraktionen zu diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie alle miteinander wirklich der Meinung sind, dass wir über diese existenzielle Frage, über die Zukunft der Energiepolitik, im Deutschen Bundestag und seinen Ausschüssen und in einem Sonderausschuss nicht wirklich vertieft beraten müssen. ({12}) - Ja, das frage ich auch Sie. - Warum lassen Sie das eigentlich mit sich machen, meine Damen und Herren? Haben Sie gelesen, was Thomas Hanke im Handelsblatt geschrieben hat, und haben Sie nicht gemerkt: Das richtet sich an Sie, wenn er schreibt: „Steht auf, wenn ihr freie Abgeordnete seid!“ ({13}) Was zu entscheiden ist, das müssen wir jetzt entscheiden, nicht in einem Monat, nicht in einem Jahr. Sie sind die Mehrheit hier in diesem Hause, und Sie können, wie im letzten Jahr, versuchen, energiepolitische Grundsatzentscheidungen mit Ihrer Mehrheit hier im Bundestag durchzudrücken. Ich sage Ihnen nur eines voraus: Die Methode „Friss oder stirb!“ wird Ihnen nicht bekommen. Ihnen muss einfach klar sein: So viel Chaos, so viel Unsicherheit in der Energiepolitik war nie in Deutschland. Darauf lässt sich keine Zukunft bauen. Schauen Sie doch gelegentlich einfach einmal auf die letzten Tage zurück. Schauen Sie, was Sie angerichtet haben. Ihre doppelte Kehrtwende in der Energiepolitik gefährdet doch alles, was in der Energiewende schon auf dem Weg war. Nach der Verlängerung der Laufzeiten haben die Stadtwerke Investitionen in Höhe von 7 Milliarden Euro storniert. Jetzt storniert auch der Rest der Energiewirtschaft Investitionen. Unternehmen, die extrem energieabhängig sind, wissen nicht, ob es sich noch lohnt, in diesem Lande Arbeitsplätze zu schaffen. Meine Damen und Herren, das ist Ihre energiepolitische Bilanz nach 17 Monaten. „Herzlichen Glückwunsch!“, kann ich dazu sagen. Herzlichen Glückwunsch! ({14}) In einer solchen Situation - auch das in aller Offenheit - ist es für eine Opposition verführerisch, zu sagen: Dann lasst doch diese Regierung in ihrem selbstgepflanzten Irrgarten weiter herumirren, im Zweifel nützt uns das vielleicht sogar parteipolitisch. Aber hier geht es eben um mehr, hier geht es um Zukunft, und das ist nicht nur die Zukunft der Regierungsparteien. Es geht um Lebensqualität, Umwelt, Wirtschaft und Arbeitsplätze. Das können wir ganz offenbar Ihnen allein nicht überlassen. Das ist der Grund, weshalb wir Ihnen einen konkreten Vorschlag auf den Tisch legen, wie wir aus unserer Sicht aus der Sackgasse herauskommen. Ich danke ausdrücklich allen Mitgliedern meiner Fraktion, die in den letzten Tagen mit aller Kraft und mit großem Ehrgeiz an diesem Vorschlag gearbeitet haben. Was da auf dem Tisch liegt, das ist kein Traumschloss. Wir wissen um die Folgen fortschreitender Erderwärmung auf der einen Seite, und wir wissen um die Notwendigkeit, dass dieses Land ein Industriestandort bleiben muss, auf der anderen Seite. Deshalb sind unsere Prioritäten klar: Erstens. Energie muss so erzeugt werden, dass wir ehrgeizige Klimaschutzziele weiter erreichen. Zweitens. Energie muss für Verbraucher bezahlbar sein, für private Verbraucher ebenso wie für produzierendes Gewerbe. Drittens. Schlafende Riesen wie die Energieeffizienz müssen geweckt werden. Weniger Energieverbrauch ist das Gebot der Stunde. Viertens. Wir brauchen einen weiteren Ausbau der Regenerativen bei beschleunigtem Ausstieg aus der Kernenergie. Fünftens. Wir brauchen - auch das steht in unserem Vorschlag - eine ehrliche Diskussion darüber, welchen Anteil welche Energieerzeugung in welcher Zeit wirklich beitragen kann. Wer sich dazu nicht ehrlichmacht, der wird keinen belastbaren Grundkonsens über die Zukunft der Energiepolitik in diesem Lande zustande bringen, ({15}) wer die Glaubwürdigkeit verloren hat, erst recht nicht. Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, Sie können so weitermachen wie in den letzten Wochen, schwankend zwischen den wechselnden Zurufen von Verbänden, Medien und Zeitgeist. Aber das ist nicht die Verantwortung, wie ich sie verstehe. So werden Sie scheitern. Wenn Sie das verhindern wollen, dann greifen Sie unsere Vorschläge auf. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Altmaier für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben soeben eine engagierte, etwas polemische Wahlkampfrede des Kollegen Steinmeier gehört. Nur, sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, zunächst einmal ist festzuhalten: Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sind vorbei. ({0}) Ihre Partei hat in Rheinland-Pfalz etwa 10 Prozentpunkte verloren, und in Baden-Württemberg sind Sie hinter die Grünen auf den dritten Platz abgefallen. ({1}) Wenn Sie weiter so am Thema vorbeireden, wird sich an diesem Trend so schnell auch nichts ändern. ({2}) Der zweite Punkt. Ich glaube, dass Sie eigentlich gar nicht vorhatten, so zu reden. Sie wollten wahrscheinlich darüber reden, wie wir die Debatten der nächsten Wochen und Monate so strukturieren, dass wir die Chance, die in der schrecklichen Tragödie von Fukushima liegt, gemeinsam ergreifen ({3}) und einen der letzten großen gesellschaftlichen Konflikte der letzten Jahrzehnte beenden. Wir haben in der Nachkriegszeit öfter solche Debatten geführt. Ich erinnere an die Debatte über die Westintegration, über die soziale Marktwirtschaft, über die NATO-Nachrüstung, ({4}) über Auslandseinsätze der Bundeswehr am Beispiel des Kosovo-Krieges. ({5}) Es waren im Übrigen die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die häufiger als unsere Fraktion Anlass hatten, ihre Positionen zu korrigieren. ({6}) Aber Tatsache ist doch, dass derjenige, der immer schon der Auffassung war, er habe von Anfang an alles gewusst und alles richtig gemacht, an der praktischen Politik scheitert. Tatsache ist: Wir alle müssen unser Verhalten und unser Handeln überprüfen und danach ausrichten, was sich in der Realität abspielt. ({7}) Ich sage für meine Fraktion: Wir sind bereit, vor dem Hintergrund dessen, was in Fukushima geschehen ist, mutig und entschlossen ({8}) die Diskussion über einen gesamtgesellschaftlichen Konsens in der Frage der künftigen Energiepolitik aufzunehmen. Diese Koalition ({9}) und die sie tragenden Fraktionen werden das Ihre dazu beitragen, dass dieser Konsens in den nächsten Wochen unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen erarbeitet wird und auch zustande kommt. ({10}) Wenn ich sage: „Wir wollen einen gesellschaftlichen Konsens“, dann meine ich damit ausdrücklich auch einen parlamentarischen Konsens. Aber der gesellschaftliche Konsens steht doch an erster Stelle. Das ist der Grund, warum wir unmittelbar nach dem Unglücksfall von Fukushima die Ethikkommission einberufen haben. ({11}) Die Ethikkommission ist aus hervorragenden, maßgeblichen Vertretern aller gesellschaftlich relevanten Gruppierungen zusammengesetzt: der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Wissenschaft, des Umweltbereichs. ({12}) Ich glaube, wenn Sie ein Interesse an der Sache haben und nicht nur den Versuch unternehmen wollen, parteipolitisches Kapital aus einer wichtigen Debatte zu schlagen, dann müssen Sie auch ein Interesse daran haben, dass die Arbeit der Ethikkommission gelingt, und dann müssen Sie anders über die Ethikkommission reden, als Sie es in den letzten Wochen getan haben. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Altmaier, es gibt zwei Wünsche nach einer Zwischenfrage, einmal von der Kollegin BullingSchröter und einmal vom Kollegen Heil.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Sie haben gesagt, dass es einen gesellschaftlichen Konsens geben soll und dass in der Ethikkommission alle relevanten Verbände vertreten sind. Meine Frage an Sie: Warum wurden dazu keine Umweltverbände eingeladen? Warum dürfen deren Vertreter nicht teilnehmen? ({0})

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch. - Wir haben die Ethikkommission so zusammengesetzt, dass sie überschaubar ist, ({0}) dass sie arbeitsfähig ist und dass sie imstande ist, eine Debatte zu führen, die in weiten Teilen öffentlich geführt werden wird, ({1}) auch unter Einbeziehung der Umweltverbände und der Bürgerinnen und Bürger. Dass wir imstande sind, eine solche Debatte zu organisieren, haben Sie im Rahmen von Stuttgart 21 gesehen. Es hätte der Politik niemand zugetraut, dass wir eine solche Debatte zustande bringen. Und Sie haben ja auch gesehen, dass die Öffentlichkeit honoriert hat, dass wir diese Debatte geführt haben. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Kollege Altmaier, hätten Sie, wenn Sie jetzt von Umdenken und Umlernen unter Hinweis auf das, was Frank-Walter Steinmeier eben ausführte - dabei ging es darum, wie glaubwürdig das ist -, sprechen, vielleicht einmal die Größe, einzuräumen, dass Sie im Herbst letzten Jahres einen Energiekonsens zwischen der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und der Energiewirtschaft kaputtgemacht und damit einen gesellschaftlichen Großkonflikt aufgerissen haben? Ich frage Sie, Herr Altmaier: Ist Ihnen entgangen, was im Herbst letzten Jahres in der Wirtschaft passiert ist? Da gab es nämlich Investitionsstau und Attentismus, bedingt durch die Unsicherheit wegen der Laufzeitverlängerungen. Weiterhin können Ihnen doch die Proteste auf den Straßen, die wir schon vor Fukushima erlebt haben, nicht entgangen sein. Deshalb wäre es, bevor Sie einen solchen Konsens wiederherstellen wollen, ein Zeichen von Größe und Anstand, zu sagen, dass Sie sich im Herbst geirrt haben. Haben Sie die Größe, das zuzugeben? ({0})

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heil, ich kann verstehen, dass Sie versuchen, das, was die rot-grüne Regierung damals gemacht hat, als Großtat darzustellen. Sie haben damals übrigens im Einvernehmen den Energieproduzenten Nachrüstungen erlassen und keine zusätzlichen Sicherheitsauflagen durchgesetzt. ({0}) Allerdings bestand damals nicht dieser Konsens wie heute. Damals haben Sie ein Gesetz beschlossen. Als wir im letzten Jahr vor der Frage standen, wie wir einen vernünftigen Übergang zu erneuerbaren Energien gestalten, haben wir festgestellt, dass Sie im Zeitplan für den Ausbau der Netze und der Speicherkapazitäten, also mit all dem, was notwendig ist, damit ein Land von 80 Millionen Einwohnern in das Zeitalter der erneuerbaren Energien kommt, um Jahre zurück lagen. ({1}) Sie haben zwar ein großes Schild vor sich her getragen. Hinter diesem Schild befanden sich aber lauter ungelöste Fragen und Probleme. ({2}) Deshalb frage ich Sie, Herr Heil: Sind Sie denn bereit, zuzugeben, dass Sie damals zwar eine große Überschrift produziert haben, bei der Umsetzung aber schmählich und kläglich versagt haben? ({3}) Ich komme, lieber Kollege Hubertus Heil, darauf zurück, wie wir diesen Prozess parlamentarisch gestalten. Die Wirklichkeit ist nämlich viel weiter, als Sie in der Bundestagsfraktion offenbar sind. Heute um 13 Uhr treffen sich die Ministerpräsidenten aller Bundesländer mit der Bundeskanzlerin, ({4}) um darüber zu reden, welche Voraussetzungen wir im Zuständigkeitsbereich der Länder schaffen müssen, damit der Übergang gelingt. ({5}) Es wird nicht das einzige Treffen dieser Art sein. Weil wir den Konsens wollen, werden wir selbstverständlich auch für eine angemessene parlamentarische Beratung Sorge tragen. ({6}) Die Frage ist nur, ob der Vorschlag, den Sie mit heißer Nadel gestrickt haben, der Weisheit letzter Schluss ist und ob er wirklich dazu angetan ist, dieses Problem bzw. diese Herausforderung in angemessener Weise zu behandeln. Ich will Ihnen dazu drei Überlegungen vortragen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Altmaier, es gibt eine Frage des Kollegen Kelber.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben ja gerade erwähnt, dass Sie für eine angemessene Beteiligung des Parlaments und damit der Öffentlichkeit an den Beratungen sorgen wollen. Ich hoffe, das wird anders als damals ablaufen, als Sie persönlich als Parlamentarischer Geschäftsführer in die Sitzung des Umweltausschusses gegangen sind, um dort für einen Abbruch der Beratungen zu sorgen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen der eineinhalb Seiten umfassende Zeitplan der Bundesregierung für die Beratung bekannt ist. Das Bundeskanzleramt schreibt vor dem Hintergrund, dass am 15. Juni das Moratorium ausläuft - ich zitiere nur den letzten Satz -: Ein Gesetz zur Stilllegung, das bis Ende des Moratoriums in Kraft tritt, setzt Kabinettsbefassung am 7. Juni voraus. Da der Deutsche Bundestag das Gesetz am 9. Juni beschließen müsste, sähe nach Meinung der von Ihnen gestellten Bundesregierung die Parlamentsbefassung so aus: keine Befassung der Fachausschüsse, keine Anhörung, kein Änderungsantrag, Verzicht auf die Fristen, Abstimmung zwei Tage später. Werden Sie diesen Zeitplan umsetzen, oder wird das Gesetz im Mai oder gar noch im April in dieses Parlament kommen?

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, im ersten Teil Ihrer Frage bezogen Sie sich auf die parlamentarischen Beratungen im letzten Herbst. Weil sehr viele Bürgerinnen und Bürger heute Morgen zuhören, ({0}) will ich noch einmal ausdrücklich sagen: Erstens. Ich kam damals nicht in die Sitzung des Umweltausschusses, um für einen Abbruch zu sorgen, sondern um für einen zeitgerechten Abschluss zu sorgen, ({1}) weil dieses Parlament ein Recht darauf hat, dass man die parlamentarischen Beratungen nicht durch Filibustern und willkürlich gestellte Anträge verzögert und unmöglich macht. ({2}) Das ist Ihnen und den Grünen damals ja auch nicht gelungen, wie die Abläufe gezeigt haben. ({3}) Zweiter Punkt. Der Ausgangspunkt unserer Unterhaltung über die Strukturierung der parlamentarischen Arbeit in diesem Frühjahr ist doch ganz klar: Wir sollten die Arbeiten der Ethikkommission gemeinsam abwarten. ({4}) Das gebietet der Respekt vor der Ethikkommission und der gesellschaftlichen Debatte. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle im Auftrag meiner Fraktion und auch der gesamten Koalition sagen, dass wir davon überzeugt sind, dass durch die Person des Vorsitzenden der Ethikkommission, Professor Klaus Töpfer, nicht nur die Gewähr dafür geboten wird, dass in dieser Kommission seriös gearbeitet wird, sondern auch dafür, dass die großen Fragen und Weichenstellungen angemessen behandelt werden. ({6}) Die Ethikkommission wird ihren Bericht gegen Ende Mai 2011 vorlegen. Etwa zur gleichen Zeit wird die Reaktor-Sicherheitskommission ihren Bericht vorlegen. Dann müssen wir uns die Frage stellen, wie wir im Bundestag den Prozess so strukturieren, dass wir die nötigen Anhörungen durchführen können, dass wir die nötigen Ausschussberatungen durchführen können und dass wir die nötigen Plenarberatungen durchführen können. ({7}) Lieber Kollege Heil, ich will hier die Frage stellen, um die es heute Morgen in der Debatte geht: ({8}) Glauben Sie angesichts der Fülle der Entscheidungen, um die es im Bereich der Netze, im Bereich der Speichermöglichkeiten, im Bereich des Planungsrechts und auch im Bereich der Laufzeiten am Ende dieser Debatte geht, wirklich, dass es sinnvoll ist, die Zuständigkeiten und Kompetenzen der Ausschüsse, die sich in den letzten Monaten auf hohem Niveau mit diesen Fragen beschäftigt haben und weiterhin beschäftigen, durch einen Sonderausschuss außer Kraft zu setzen, der naturgemäß aus einigen wenigen Kolleginnen und Kollegen besteht, ({9}) und all diese Aufgaben im Sonderausschuss zu lösen? ({10}) In einem Punkt sind wir uns doch einig: Wenn die Ethikkommission Ende Mai ihre Ergebnisse vorlegt, ({11}) dann wollen wir natürlich auch eine parlamentarische Entscheidung zustande bringen, mit der dafür gesorgt wird, dass mit dem Ablauf des Moratoriums klar ist, wie die Zukunft der Kernenergie und der Energiepolitik in Deutschland aussieht. ({12}) - Das sind keine drei Tage, sondern wir haben ein angemessenes, aber anspruchsvolles zeitliches Konzept. Ich sage Ihnen: So wie Sie in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen aus guten Gründen keine Sonderausschüsse eingesetzt haben, so ist es die Auffassung unserer Fraktion und Koalition, dass es sinnvoll ist, diese Debatte im Umweltausschuss, im Wirtschaftsausschuss, im Verkehrsausschuss und in allen anderen zuständigen Ausschüssen auf breiter Front zu führen, und wir werden dafür sorgen, dass sie unter angemessener Beteiligung der Öffentlichkeit stattfindet. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube nicht, dass irgendjemand Verständnis dafür hätte, wenn wir uns über technische Detailfragen wie die Frage, ob es einen Sonderausschuss gibt, oder die Frage, wie er zusammengesetzt ist, zerstreiten würden. ({14}) Wenn wir einen Konsens herbeiführen wollen, dann darf es doch nicht nur um einen Konsens darüber gehen, wie lange Kernkraft in Deutschland noch unverzichtbar und hinnehmbar ist, sondern dann muss es doch auch um die Frage gehen, was im Rahmen eines Gesamtkonzeptes geschehen muss, damit tatsächlich ein schnellerer Übergang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien möglich wird. Liebe Frau Höhn, ich habe mit Respekt zur Kenntnis genommen, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als ein Ergebnis der Debatten im letzten Jahr ihre Position in der Frage der Stromtrassen für die 380-kV-Leitungen überdacht und modifiziert hat. ({15}) Das ist ein klarer Hinweis, dass niemand in diesem Haus sagen kann: Wir haben keinen Grund, unsere Positionen kritisch zu hinterfragen und zu überdenken. Meine Fraktion hat diese Woche in insgesamt drei Sitzungen stundenlang über die Fragen diskutiert, die im Zusammenhang mit der Energiepolitik in den nächsten Monaten zu beantworten sind. Wir werden das in den nächsten Wochen fortsetzen. Ich weiß, dass es auch in anderen Fraktionen, wie bei der FDP und anderswo in diesem Haus, ein ähnliches Ringen gibt. Von den Kolleginnen und Kollegen Sozialdemokraten habe ich als einzige substanzielle Äußerung bisher die Forderung nach einem Sonderausschuss vernommen. ({16}) Wenn Sie die Begründung für die Einsetzung eines solchen Ausschusses lesen, dann werden Sie feststellen, dass zu den inhaltlichen Herausforderungen wenig oder nichts gesagt wird. Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal das Angebot unterbreiten - das richtet sich an das gesamte Haus -, die nächsten Wochen und Monate für einen wirklichen Dialog zu nutzen. ({17}) Es geht nämlich nicht nur um die Glaubwürdigkeit einer einzelnen Fraktion; es geht vielmehr um die Glaubwürdigkeit des politischen Systems und des Parlamentarismus. Ich bin davon überzeugt, dass die vor uns liegenden Beratungen eine große Chance sind, die Glaubwürdigkeit und die Zustimmung zum politischen Handeln auch in der Öffentlichkeit zu erhöhen. ({18}) Ich möchte uns alle aufrufen, dass wir dazu einen Beitrag leisten. Vielen Dank. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Altmaier, es nutzt nichts, wenn man versucht, eine zwingend notwendige Entscheidung durch Verzögerung hinauszuschieben. Es bringt Ihnen nichts, es schadet Ihnen nur. Sie kommen aus der Sache sowieso nicht heraus. Der Ausschluss der Öffentlichkeit wird nicht funktionieren. ({0}) Wir haben eine japanische Atomkatastrophe erlebt. Erst jetzt haben die Behörden eingeräumt, dass es doch der höchste Schadensfall ist und dass ein Super-GAU vorliegt. Auch das hat sehr lange gedauert. Aber jetzt ist es eingestanden worden. Selbstverständlich werden wir der japanischen Bevölkerung jede uns mögliche Hilfe zukommen lassen. Eines hat sich aber in Deutschland herumgesprochen: Ein Atomkraftwerk ist im Falle einer Katastrophe nicht beherrschbar, durch niemanden, auch nicht in Deutschland. Deshalb sind nun plötzlich alle Parteien für den Atomausstieg - irgendwann und irgendwie. Aber dafür brauchen wir keine Ethikkommission der Regierung, Herr Altmaier, die auch noch geschlossen tagen soll ({1}) und von einer Regierung eingesetzt wird, die diesbezüglich völlig unglaubwürdig und inzwischen auch unberechenbar ist. Welche Konsequenzen werden denn gezogen? Der FDP-Generalsekretär Lindner hat zum Beispiel gefordert: Alle alten Meiler müssen dauerhaft geschlossen werden. - Jetzt nimmt er das wieder zurück. Dann äußern sich Herr Röttgen und Herr Brüderle und legen einen Sechs-Punkte-Ausstiegsplan vor, der alles Mögliche ist, aber kein Plan. Darin geht es zum Beispiel um den rascheren Ausbau der regenerativen Energien, aber so gut wie ausschließlich auf der Basis von Offshorewindenergie. Doch diese großen Parks können nur von den vier Energieriesen gebaut und finanziert werden. ({2}) Zugleich wird aber so gut wie nichts zu Photovoltaik oder Erdwärme gesagt, in die auch kleine und mittlere Unternehmen investieren könnten. Das fällt auf. Aber selbst diese Absichtserklärung der beiden Bundesminister trifft vor allem auf Ablehnung in der Union, und zwar vonseiten der Herren Schäuble und Kauder. Sie führen drei Argumente an: Das erste Argument ist, dass es dann keine Versorgungssicherheit mehr gäbe. Das zweite ist, dass die Schuldenbremse dagegenspräche, und das dritte ist, dass die Strompreise in unzumutbarem Maße stiegen. Mit diesen drei Argumenten möchte ich mich kurz auseinandersetzen. Das Argument der Versorgungssicherheit von Herrn Kauder ist schon deshalb falsch, weil selbst der Umweltbeirat Ihres Bundesumweltministeriums festgestellt hat, dass wir die acht alten Atomkraftwerke nicht brauchen, weil sie nur Überschüsse produzieren. Das Argument ist also falsch. ({3}) Das zweite Argument ist die Schuldenbremse. Das finde ich spannend. Union und SPD haben die Schuldenbremse in das Grundgesetz geschrieben - wir hielten das immer für falsch -, und jetzt wird gesagt, die Schuldenbremse hindere uns daran, Fortschritte zu machen. ({4}) Das ist genau das, worauf wir immer hingewiesen haben. Indirekt bestätigt uns Herr Schäuble; denn er sagt: Wir können leider nichts mehr machen. Die Politik ist handlungsunfähig. - Aber in diesem Fall ist das Argument falsch, und zwar deshalb, weil die vier Energieriesen über solche Reserven verfügen, dass das Ganze sehr wohl finanzierbar ist. Darauf komme ich noch zurück. Das dritte Argument ist das Argument der höheren Strompreise. Die FDP spricht von einem Sparpaket. Sie sagt, es müsse noch mehr Sozialabbau geben und gerade die ärmeren Schichten und die durchschnittlich Verdienenden hätten das alles zu bezahlen. Das ist der einfachste und unsozialste Weg; für uns kommt der überhaupt nicht infrage. ({5}) Aber dahinter steckt doch etwas ganz anderes: Sie drohen mit Strompreiserhöhungen, um die Zustimmung gerade der ärmeren Schichten der Bevölkerung zur Atomenergie zurückzugewinnen. Ich sage Ihnen: Das ist übel. Mit solchen Katastrophen darf man nicht spielen, und man darf auch nicht eine solche Stimmung erzeugen. ({6}) Die Grünen äußern sich zur sozialen Frage überhaupt nicht, und die SPD denkt in erster Linie an die Großverbraucher. Wir denken an alle Verbraucherinnen und Verbraucher. ({7}) - Ja. Sie können uns doch nicht verbieten, zu denken. ({8}) Wir denken sowohl an die durchschnittlich Verdienenden als auch an die Armen sowie an die kleinen und mittleren Unternehmen, die alle davon betroffen sind. Was wir brauchen, ist die Wiedereinführung einer staatlichen Preisregulierung. ({9}) - Ich wusste, dass die FDP von Planwirtschaft redet. Wissen Sie, auch in der Bundesrepublik Deutschland herrschte in diesem Bereich Planwirtschaft; denn bis zur Großen Koalition hatten wir eine staatliche Preisregulierung in der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) Das haben Sie bloß nicht mitgekriegt. Waren Sie nicht im Bundestag, oder was? Erst die Große Koalition, bestehend aus Union und SPD, hat beschlossen, die staatliche Preisregulierung abzuschaffen, und zwar mit der Begründung, dass es einen topfunktionierenden Markt gebe, der ohnehin dafür sorge, dass die Preise sinken. Nun haben aber alle Bürgerinnen und Bürger und alle Unternehmen mitbekommen, dass die Preise in der ganzen Zeit nicht gesunken, sondern ständig gestiegen sind, weil die vier Riesen sich abgesprochen haben, wie sie die Bevölkerung abzocken. So einfach ist das. ({11}) Jetzt müsste doch auch die SPD einräumen, dass das gerade genannte Argument für die Abschaffung der Preisregulierung falsch war. Es bleibt auch falsch. RWE hat übrigens durch falsche Preise sogar 2,3 Milliarden Euro abgezockt. Wo blieb da eigentlich Ihr Protest? Der wäre meines Erachtens wichtig gewesen. Also: Wir müssen zurück zur staatlichen Strompreisregulierung. Es gibt jetzt eine große Chance für eine grundlegende Neuorientierung der ökonomischen, ökologischen, demokratischen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft. Weder die Verlängerung der Laufzeiten durch die jetzige Bundesregierung noch der rotgrüne Atomkompromiss aus dem Jahr 2002 sind heute noch die Verhandlungsbasis. Wir brauchen jetzt fünf Schritte für eine sozialökologische Energiewende. Erstens. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte. Es kann nicht bei der Ethikkommission der Regierung bleiben. Wir brauchen, wie von der SPD beantragt, einen Sonderausschuss des Bundestages. ({12}) Entgegen dem Willen der SPD darf aber auch dieser Ausschuss nicht geschlossen tagen. Es reicht auch nicht, alles im Internet zu veröffentlichen. Das ist wichtig, und das können wir machen. Auch der Ausschuss muss jedoch die breiteste Öffentlichkeit zulassen, Fragen von den Betroffenen aufnehmen und Gespräche mit ihnen führen. Das ist das Wichtige. Wir brauchen einen wirklichen gesellschaftlichen Konsens. Die Konzepte des BUND und von Greenpeace, die keinen Platz in Ihrer Ethikkommission haben, zeigen doch, welch fundiertes Wissen und welches Ideenpotenzial in der Gesellschaft vorhanden sind. Lassen Sie es uns doch endlich nutzen, statt es ständig auszuschließen! ({13}) Zweitens. Wir brauchen einen Atomausstieg mit einem Ausstiegsgesetz, damit das Ganze juristisch wasserdicht wird. Außerdem soll der Ausstieg unumkehrbar werden. Deshalb brauchen wir eine Ergänzung des Grundgesetzes. ({14}) Wir haben drei Anträge hierzu eingebracht. Herr Lindner, lesen Sie diese; das bildet. Im ersten Antrag geht es um die dauerhafte Stilllegung der sieben alten AKW und des AKW Krümmel. Im zweiten Antrag geht es um den Ausschluss der Übertragung der früher zugesicherten Reststrommengen für diese acht AKW auf die dann noch verbleibenden neun weiterlaufenden AKW. Das ist ganz wichtig; denn wenn diese neun AKW die Reststrommengen übernehmen, dann bedeutet das für diese eine Laufzeitverlängerung. Genau so etwas planen Sie. Das darf es auf gar keinen Fall geben. Dieser Trick darf nicht funktionieren. ({15}) Als Drittes haben wir beantragt, dass ein Verbot der Nutzung der Atomtechnologie für energetische Zwecke und für Waffen ins Grundgesetz aufgenommen wird. Das ist besonders wichtig, denn wenn wir das einmal im Grundgesetz stehen haben - geben Sie sich doch wirklich einen Ruck -, garantiere ich Ihnen, dass es nie wieder eine Zweidrittelmehrheit geben wird, die dieses Verbot abschaffen kann. Das ist das Entscheidende daran. ({16}) Zurück zu den fünf Schritten: Wir brauchen drittens eine staatliche Preisregulierung und kein Sparpaket, wie es die FDP will. Was wir wirklich brauchen, ist Steuergerechtigkeit. Jetzt sage ich Ihnen etwas zu den Kosten für die Energiewende: In erster Linie müssen das meines Erachtens die vier Energieriesen bezahlen. Die von diesen gebildeten Rückstellungen für den Abbau der AKW in Höhe von 29 Milliarden Euro sind jetzt in einen öffentlichrechtlichen Fonds überzuleiten, damit das Geld auch wirklich für den Abbau der AKW zur Verfügung steht. ({17}) Aber das ist nur das eine. Außerdem müssen sie ihre Extraprofite abführen, um die Umstellung auf erneuerbare Energien zu gewährleisten. Jetzt sage ich einmal etwas zu den Profiten dieser vier Energieriesen, damit die Bevölkerung es auch weiß: Eon, EnBW, RWE und Vattenfall haben seit 2002 einen Profit von über 100 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dort gibt es also genügend Geld, denn die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen wurden und werden von den vier Energieriesen abgezockt. Kleine und mittlere Unternehmen haben dagegen im Jahre 2009 - vor der fälschlich durch Ihre Regierung beschlossenen Verlängerung der Laufzeiten - 26,7 Milliarden Euro in die erneuerbaren Energien investiert. Wenn Sie Ihre Laufzeitverlängerung, die diese so schockiert hat, wieder zurücknehmen, sind diese auch bereit, wieder zu investieren und Mittel für die Erneuerbaren zur Verfügung zu stellen. ({18}) Übrigens noch zur Ergänzung: Ich habe gesagt, dass die vier Konzerne über 100 Milliarden Euro Profit seit 2002 erwirtschaftet haben. Allein in der Krise im Jahr 2009 waren es 23 Milliarden Euro, und im Jahre 2010 waren es 30 Milliarden Euro. Solche finanziellen Reserven haben die! Da müssen Sie einmal den Mumm haben und umgekehrt auch einmal ein bisschen abzocken, und zwar durch gerechte Steuern. Das ist das, was wir fordern. ({19}) Selbstverständlich muss auch der Bund investieren. Erst ganz zuletzt darf man an die Verbraucherinnen und Verbraucher denken, und das muss angemessen geschehen: Das bedeutet, dass man finanziell schwachen Haushalten einen Sozialtarif gewähren muss. Viertens. Die überkommenen Konzernstrukturen und die marktbeherrschende Stellung der vier Stromkonzerne stehen einer wirklichen Energiewende entgegen. Die Regierung hat bewiesen, dass sie erpressbar ist. Jetzt erpressen die Konzerne erneut - mit einem Stopp der Zahlungen in den Ökofonds. Ich sage: Wer so erpresst, darf kein Verhandlungspartner sein. ({20}) Die Energiewende gelingt dezentral oder gar nicht. Die Linke wird das Erbe von Hermann Scheer aufnehmen, das die SPD leider ausschlägt. ({21}) Der notwendige Netzausbau muss zum Einstieg in die dezentrale kommunale Energieversorgung genutzt werden. Die Stromnetze müssen endlich in öffentliche Hand, und zwar deshalb, weil ich möchte, dass die Politik zuständig ist. In der Politik haben wir Demokratie, bei den vier Konzernen haben wir keine Demokratie. Sie wollen die Zuständigkeit der Konzerne, wir wollen die Zuständigkeit der öffentlichen Hand. ({22}) Fünftens und Letztens. Wir brauchen höchste Energieeffizienz. Das ist auch eine soziale Frage. Darauf muss sich auch die Forschung konzentrieren. Wir haben schon vor Jahren 2,5 Milliarden Euro für einen Fonds beantragt, um Bürgerinnen und Bürgern mit einer Effizienzprämie bei der Anschaffung energiesparender Geräte zu helfen. Das gilt übrigens auch für Unternehmen; denen soll damit ebenfalls geholfen werden. Über den Fonds ist auch zusätzliche Hilfe für finanziell, das heißt sozial Schwache möglich. Wenn der Sonderausschuss gebildet würde und dazu dienen würde, den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie zu begleiten und den Einstieg in das nachatomare Industriezeitalter mit vorzubereiten, wenn er mit dazu beitrüge, eine breite und offene gesellschaftliche Debatte zu organisieren, bekäme er einen hohen gesellschaftlichen Gebrauchswert. Hören Sie auf, zu verdunkeln! Hören Sie auf, zu vertuschen! ({23}) Lassen Sie uns die dringend notwendigen Entscheidungen hier im Bundestag treffen. ({24})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, wir wissen, dass Sie Experte für alle Themen sind und dass Ihre Fachpolitiker hier fast nie reden dürfen. Dass Sie sich hier jetzt aber erdreisten, einen toten Kollegen, Hermann Scheer, für Ihre antikapitalistischen Reflexe, für etwas, was Hermann Scheer nie vertreten hat, zu vereinnahmen, all das, was Sie hier abgeliefert haben, ist so unterirdisch, so grottenschlecht und auch unfair gegenüber den Sozialdemokraten, das kann man hier im Parlament nicht akzeptieren. ({0}) Herr Gysi, Sie haben wieder einmal schwadroniert: Im Zweifel ist die Großindustrie schuld am Elend der Welt; sie muss ihre Extraprofite abführen. - Offensichtlich ist Ihnen nicht klar: Ab 2013 muss die Großindustrie ihre Extraprofite aus dem Emissionshandel abführen, nämlich in den Energie- und Klimafonds. ({1}) Diese Koalition hat beschlossen, dass diese Mittel in die Nutzung erneuerbarer Energien investiert und nicht vom Finanzminister eingesackt werden. Das ist eine Leistung dieser Koalition, die Sie an dieser Stelle einmal wahrnehmen sollten, Herr Gysi. ({2}) Wir reden heute über das Thema Einsetzung eines Sonderausschusses „Atomausstieg und Energiewende“. Man hat den Eindruck, es geht bei der SPD inzwischen kaum noch um die Inhalte. ({3}) Man gewinnt nämlich den Eindruck, dass man von der Koalition in dem Bemühen überholt wird, in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu kommen. Da Sie der Koalition offensichtlich inhaltlich nichts entgegenzusetzen haben, ({4}) echauffieren Sie sich hier während der Kernzeitdebatte über eine formale Frage. ({5}) Angeblich wird in diesem Parlament nicht diskutiert. Wenn ich zurückschaue, was ich in den letzten Wochen getan habe, dann stelle ich fest, dass ich an jedem Plenarfreitag hier im Parlament über das Thema Atomausstieg diskutiert habe. ({6}) Wir diskutieren permanent darüber. Es ist doch ein Märchen, dass diese Diskussion unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiere. ({7}) Es ist völlig aberwitzig, zu glauben: Wenn man einen Sonderausschuss einsetzt, dann kommen plötzlich bessere Ergebnisse zustande. Wir haben einen Wirtschaftsausschuss, wir haben einen Umweltausschuss und einen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, der sich beispielsweise mit Fragen der Gebäudesanierung beschäftigt. In all diesen Ausschüssen kümmert man sich um die Fragen, um die es hier geht, und zwar nicht erst seit gestern. In diesen drei Ausschüssen sitzen diejenigen Experten in diesem Parlament, die zu diesen Fragen beraten sollen. ({8}) Wenn wir einen neuen Ausschuss einsetzen, dann ist er in den ersten vier Wochen nur mit Formalia beschäftigt. In dieser Zeit können wir in diesem Parlament Entscheidungen treffen. ({9}) Das will diese Koalition: Entscheidungen treffen und nicht neue Gremien institutionalisieren. ({10}) Das war beim Energiekonzept so, und es wird bei der Weiterentwicklung des Energiekonzeptes so sein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne. Von wem denn?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Von Herrn Schwabe. - Herr Schwabe, bitte. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kauch, Sie haben gerade gesagt, dass wir keine zusätzlichen Ausschüsse und keine zusätzlichen Gremien brauchen. Wie bewerten Sie, dass die Bundesregierung die Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ - das ist eine Art Ausschuss - einberufen hat? Ist das ebenfalls ein überflüssiges Gremium? Schließlich meinen Sie, dass wir solche Fragen hier im Parlament zu klären haben.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Diese Ethikkommission berät die Regierung. Wir als Parlament müssen am Schluss über die Vorlagen der Regierung, also über das, was die Regierung vorschlägt, entscheiden. ({0}) Am Schluss wird im Parlament und nirgendwo sonst entschieden. ({1}) Wie beim Energiekonzept sind die Koalitionsfraktionen schon im Vorfeld in Regierungsentscheidungen eingebunden. ({2}) Es ist nicht so, dass wir darauf warten, dass uns Frau Merkel, Herr Brüderle oder Herr Röttgen Vorlagen geben, und dass wir uns hinstellen und abnicken. Das haben wir beim Energiekonzept im letzten Jahr nicht getan, und das werden wir auch in diesem Jahr nicht tun, meine Damen und Herren. ({3}) Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in der Frage, was selbstbewusste Parlamentarier sind. ({4}) Wir brauchen von Ihnen auch keine Nachhilfe in der Frage, wie Vorlagen im Parlament behandelt werden. Ich erinnere mich an meine Zeit in der Opposition. Da wurden bei der Gesundheitsreform Hunderte von Seiten Ge12202 setzestext hier innerhalb von zwei Tagen durchgepeitscht. Da wurden zig Seiten Änderungsanträge mal eben als Tischvorlage eingereicht. Das war die SPD! Deswegen brauchen wir von Ihnen hier überhaupt keine Nachhilfe. Wir machen die Verfahren korrekt. ({5}) Wir brauchen auch keine Nachhilfe von Herrn Steinmeier. Herr Steinmeier sagt, wegen unserer Politik würden - angeblich - Investitionen zurückgehen und keine Arbeitsplätze geschaffen. Gestern haben wir die Zahlen bekommen. Seit der Wiedervereinigung waren in Deutschland noch nie so viele Menschen beschäftigt wie jetzt unter Schwarz-Gelb. ({6}) Das ist der Erfolg dieser Regierung. Da brauchen wir von Ihnen keine Nachhilfe, meine Damen und Herren. Die SPD muss sich schon entscheiden, was sie will. Herr Steinmeier sagt: Wir müssen ein Industrieland bleiben; wir brauchen Klimaschutz und Versorgungssicherheit. - Alles richtig! Heute Morgen stellt sich Frau Nahles ins Fernsehen, und auf die Frage, wie sie denn sicherstellen wolle, dass das, was sie fordere, nämlich dass die Armen nicht belastet würden, durchgeführt werde, kam als einzige Antwort: Das muss die Regierung vorlegen. - So viel zu den sozialpolitischen Konzepten der Sozialdemokratischen Partei! Das ist peinlich. ({7}) Die FDP will schneller aus der Kernkraft aussteigen, als das bisher vorgesehen ist. Deshalb werden wir aber nicht alles über Bord werfen, was wir in den letzten Jahren für wichtig gehalten haben. ({8}) Deshalb werden wir nicht zulassen, dass das Problem einfach verlagert wird, indem man dauerhaft Kernkraftstrom aus Frankreich und Tschechien importiert oder indem man die Klimaschutzziele oder die Versorgungssicherheit gefährdet. ({9}) Deshalb muss ein Ausstieg aus der Kernkraft so gestaltet sein, dass die Netzstabilität gewährleistet wird, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen und dass wir unsere Importabhängigkeit nicht vergrößern. ({10}) Zur Ehrlichkeit gehört dazu, den Menschen auch zu sagen: Diese Reformen gibt es nicht zum Nulltarif. Man kann nicht zum Nulltarif aus der Kernkraft aussteigen und gleichzeitig alle anderen Ziele - Versorgungssicherheit, Klimaschutz usw. - erreichen. Unsere Verantwortung als Parlamentarier ist, dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht unnötig mehr bezahlen. Ihnen Sand in die Augen zu streuen und zu sagen: „Das kostet gar nichts; wir machen das mal eben so mit einem Schnipp“, ({11}) geht einfach an der Sache vorbei. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land auch sagen, dass es weitere Kosten gibt, nämlich Kosten nichtmonetärer Art, dass insbesondere die ländlichen Räume stärker als bisher ihren Beitrag zur Energieversorgung leisten müssen und dass sich auch dort viele Dinge, viele Landschaftsbilder beispielsweise, verändern werden. ({12}) Das ist unumgänglich, das ist notwendig in einem vernetzten Industrieland. Wir sollten nicht so tun, als würde das überhaupt nicht stattfinden. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hatten wir eine sehr ernsthafte Debatte zur PID. Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Debatte zur Energie genauso ernsthaft führen würden und nicht so krähenhaft und so lautstark, wie Sie, Herr Kauch, das eben getan haben. ({0}) Nach der Katastrophe von Fukushima gibt es in der Gesellschaft mittlerweile einen breiten Konsens. Herr Gysi, wir brauchen also nicht einen breiten Konsens, sondern wir haben einen breiten Konsens. ({1}) Über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind einer Meinung. Die Kirchen, die Umweltschützer, die Gewerkschaften, die Jungunternehmer, Greenpeace, die Katholische Landjugend und seit neuestem auch der Bundesverband der Energiewirtschaft sind dabei. Dieser breite Konsens lässt sich auf eine ganz einfache Formel bringen: Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien! Es ist unsere Aufgabe, das umzusetzen. ({2}) Denn wir sind die Volksvertreter. Die Umsetzung muss sachlich und fachlich und ohne Übertreibung und Schwarzmalerei erfolgen. ({3}) Bei der Umsetzung dieses gesellschaftlichen Konsenses in Politik sind drei wichtige Punkte zu bedenken: Erstens. Wir müssen raus aus den alten Atomanlagen. Das heißt, die sieben alten Reaktoren und Krümmel müssen abgeschaltet werden, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern endgültig, ein für alle Mal. ({4}) Der zweite wichtige Punkt ist, dass die im letzten Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung endlich vollständig zurückgenommen werden muss, ({5}) denn sie war ein großer Fehler. Dieser Fehler muss jetzt korrigiert werden. ({6}) Der dritte wichtige Punkt ist, dass wir eine konsequente Politik des Energiesparens, der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien machen müssen, um auch die verbleibenden Atomkraftwerke so schnell wie möglich überflüssig zu machen und abschalten zu können. Wir Grünen sagen: Das können wir in der nächsten Legislaturperiode schaffen. ({7}) Wir freuen uns, dass das Bundesumweltamt uns da recht gibt. ({8}) Wenn wir diesen Konsens politisch umsetzen wollen, haben wir allerdings einige Fragen zu beantworten. Die Bürger fragen: Wie teuer ist das? Über diese Frage können wir nicht einfach hinweggehen. Es wäre falsch, an diesem Punkt Angst zu machen. Aber das tun viele, selbst aus diesem Hause. Wir sollten uns einmal ganz ruhig anschauen, was die Bundesregierung selber im letzten Herbst an Gutachten zu diesem Thema auf den Tisch gelegt hat. Ich erinnere an das Gutachten vom EWI-Institut. EWI wird vor allen Dingen von Energiekonzernen bezahlt; das heißt, es steht nicht im Verdacht einer besonderen Nähe zu den erneuerbaren Energien. Das Gutachten von EWI kommt zu dem Ergebnis: Die Rückkehr zum rot-grünen Atomausstieg würde für die Bürgerinnen und Bürger in den gesamten nächsten Jahren einen höheren Preis um vielleicht 0,5 Cent pro Kilowattstunde bedeuten. Lasst uns das einmal mit den Kostensteigerungen vergleichen, die wir in den letzten Jahren hatten: Seit 2005 ist der Strompreis um rund 7 Cent gestiegen. Die bei der Rückkehr zum Atomausstieg anfallenden 0,5 Cent sollte uns eine Energiewende doch wert sein. ({9}) Die zweite Frage bezieht sich auf die Energiesicherheit. Jede Sekunde muss Strom da sein. Ich finde es gut, dass auch Herr Röttgen heute sehr klar gesagt hat, dass es beim Atomausstieg nicht um die Frage der Energiesicherheit geht. Wir haben genügend Kapazitäten. Wir haben mit den acht Atomkraftwerken 10 Prozent unseres Stromanteils abgeschaltet, und der Stromimport liegt momentan bei 1 bis 2 Prozent. Das ist offensichtlich nicht das Problem, zumal die Experten sagen, dass der Import im Laufe des Jahres sogar wieder zurückgehen wird. Die Situation könnte allerdings im Mai schwieriger werden, wenn weitere fünf Atomkraftwerke zu Wartungszwecken vom Netz gehen. Das kommt einem sofortigen Atomausstieg gleich. Für das Netz - nicht für die Kapazität - stellt das ein Problem dar. Auch da gilt: Es ist wichtig, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Energieunternehmen - auch die müssen sich dazu verhalten - im Mai eine Lösung findet. Es ist machbar; das sagen alle Experten. Es liegt aber auch in der Verantwortung der Energieunternehmen, dass es im Mai nicht zu einem Blackout kommt. ({10}) Deshalb sagen wir: Die Energiewende ist möglich, ohne zu hohe Kosten und ohne Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die Bürger brauchen davor keine Angst zu haben. Die Einzigen, die Angst haben müssen, sind die Energiekonzerne; denn durch die Energiewende verlieren sie das Monopol, das sie jetzt noch haben und das ihnen den Freibrief gibt, die Energiepreise so hoch steigen zu lassen, wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben: Seit 2005 sind die Energiepreise um 40 Prozent gestiegen. Das liegt am Monopol, nicht an den erneuerbaren Energien. Ich sage Ihnen von CDU und FDP: Pfeifen Sie die Atomfreunde in Ihrer Fraktion zurück! Nehmen Sie den Konsens in der Bevölkerung wahr, und setzen Sie entsprechende Maßnahmen um! Dann sind wir an Ihrer Seite. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie am Ende der Atomlobby wieder folgen, dann werden wir Sie heftig kritisieren. Damit würden Sie eines machen, nämlich den Konsens, den wir jetzt in der Gesellschaft haben, aufkündigen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Höhn, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Konsens besagt eindeutig und klar: Raus aus der Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Nüßlein für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war von der Rede der Frau Höhn nur bis zu der Stelle angetan, an der Sie, Frau Kollegin, den Versorgern höchst präventiv und einseitig die Schuld für einen Blackout und für höhere Preise zugeschoben haben, was im Rahmen einer Energiewende passieren kann. So einfach können wir es uns politisch aber nicht machen. Wir haben letzten Herbst ein Energiekonzept beschlossen, das wohlüberlegt und aus unserer Sicht gut austariert war. ({0}) Es ging darum, mithilfe von Laufzeitverlängerungen den notwendigen und teuren Ausbau der erneuerbaren Energien gegenzufinanzieren. Wir haben nicht geglaubt, dass wir dafür viel Applaus und großen Zuspruch bekommen würden. Wir haben das Energiekonzept beschlossen, weil wir gesehen haben, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Bezug auf Netze und Speicher bei weitem noch nicht so weit sind, wie wir sein müssten, um eine Energiewende nicht nur rhetorisch herbeizuführen. Wir hatten es in der Vergangenheit versäumt - ich mache da keine Schuldzuweisung; deshalb sage ich an dieser Stelle bewusst „wir“ -, mit dem Aufbau und Ausbau von Kapazitäten eine Versorgung mit erneuerbaren Energien sicherzustellen. Wir sind da bei weitem nicht so weit - manchmal wird dies suggeriert -, wie wir gerne wären. Die Diskussion in den nächsten Wochen wird sich noch mehr der Frage widmen müssen, wie wir die erneuerbaren Energien sinnvoll weiter ausbauen können. Diese Diskussion muss man jenseits von Wahlkampfgetöse und parteipolitischem Kalkül führen. Ich habe Verständnis dafür, dass wir von der Union Prügel beziehen. ({1}) Das muss man mit Demut hinnehmen. Nichtsdestotrotz sind wir in unserer Auffassung bestärkt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({2}) - Wenn das so einfach wäre und wenn man nur sagen müsste, man habe sich geirrt! Was haben wir gemacht? Es gab einen gewissen Konsens. Ich erwähne dies, weil er von der SPD angemahnt wurde und weil ich der Meinung bin, man sollte sich an dieser Stelle auf einen Konsens beziehen. Es muss natürlich unser Ziel sein, einen ehrlichen Konsens zu erwirken. Tun wir doch nicht so, als ob wir alle unsere Hände in Unschuld waschen könnten. Es gab doch hier, was die Sicherheitsthematik angeht, offenkundig einen Konsens. ({3}) - Doch! Doch! Doch! ({4}) Sie haben in Ihrer Ausstiegsvereinbarung aus dem Jahr 2000 klar bestätigt, dass die Kernkraftwerke in Deutschland auf einem international hohen sicherheitstechnischen Niveau sind. ({5}) Aufgrund einer Änderung in Ihrer Parteipolitik wurde der Ausstieg auf das Jahr 2020 verschoben. Dabei sind Sie doch gemeinsam mit den Grünen davon ausgegangen, dass unsere Kernkraftwerke sicher sind. ({6}) - Frau Kollegin, wir haben dieses Regelwerk nicht außer Kraft gesetzt; das ist schlicht falsch. Ihre Minister haben sich nicht getraut, dieses Regelwerk in Kraft zu setzen; bis heute ist es in der Erprobungsphase. ({7}) Man kann jetzt nicht dem Kollegen Röttgen die Schuld in die Schuhe schieben, wenn Trittin und Gabriel es letztendlich nicht umgesetzt haben. Ich bitte schon um ein bisschen Lauterkeit in dieser Debatte. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kelber?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum kerntechnischen Regelwerk: Der Unterschied ist: Das neue Regelwerk wurde, bis Herr Röttgen kam, bereits parallel angewendet; Herr Röttgen hat dafür gesorgt, dass jetzt nur noch das alte Regelwerk angewandt wird. Jetzt zur Frage, die ich Ihnen stellen wollte: Haben Sie die Atomausstiegsvereinbarung von 2000 und das Gesetz von 2002 bis zum Ende gelesen? Hinter dem von Kollegen aus Ihren Reihen oft zitierten Teil, demzufolge man die Atomkraftwerke zu dem Zeitpunkt als sicher ansah, wird erstmals die gesetzliche Normierung der Pflicht zur periodischen Sicherheitsüberprüfung von Atomkraftwerken geregelt. Diese Überprüfung dauert übrigens etwa anderthalb Jahre für ein Kraftwerk, nicht sechs Wochen für 17 Kraftwerke. Außerdem ist die stetige Anpassung der Anforderungen an den Stand von Wissenschaft und Technik in der Vereinbarung zum Atomausstieg geregelt worden. Haben Sie den Teil gelesen? Würden Sie ihn in Zukunft bitte mit zitieren?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens habe ich das gelesen. Zweitens haben Sie, lieber Kollege Kelber, doch gemerkt, dass ich momentan keine konfrontative Rede halten will, sondern vom Konsens reden möchte. Drittens zwingen Sie mich jetzt, noch einmal zu sagen, dass Sie da eine klare Vereinbarung mit den Versorgern getroffen haben, in der steht: Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. ({0}) Nun sagen Sie, dass der Satz, der vorne steht, gegenstandslos sei, weil das, was weiter hinten steht, gelte. Ich möchte jetzt die Gegenfrage stellen - Sie können sie jetzt schlicht nicht beantworten; aber vielleicht können wir einmal bilateral darüber reden -, was der Passus im Vertrag eigentlich bedeutet. ({1}) Was wollten Sie denn damit sagen? Sie haben sich verpflichtet, nichts an den Sicherheitsstandards und der Sicherheitsphilosophie zu ändern. Es wird doch wohl irgendeinen Grund haben, dass das in diesem Vertrag steht. ({2}) Man kann doch jetzt nicht kommen und sagen: „Wir haben es einmal da vorne reingeschrieben und weiter hinten im Vertrag zurückgenommen!“ Es geht hier auch um Ehrlichkeit. ({3}) Ich will darauf hinaus, dass Sie offenkundig unsere Sicherheitseinschätzungen teilen, denn Sie haben auf Basis dieser Sicherheitseinschätzungen gesagt, dass wir die Kernkraft in diesem Land 20 Jahre länger nutzen können. Das ist doch Fakt; ich mache Ihnen da gar keinen Vorwurf, sondern stelle es nur fest. ({4}) Es ist auch für Sie etwas Neues, wenn wir nun die Restrisiken, die Sie damals in Kauf genommen haben, gemeinsam neu bewerten. Ich unterstreiche, dass das Thema Ausstieg für uns von der Union nichts Neues ist, auch wenn man jetzt so tut, als seien wir diejenigen gewesen, die die Kernenergie bis zum Sankt-NimmerleinsTag nutzen wollten. In unserem Energiekonzept und in unserem Koalitionsvertrag steht ganz klar: Wir werden aussteigen und keine neuen Anlagen bauen. Es ist also falsch, uns in Richtung der Atomlobby schieben zu wollen, ({5}) wenngleich ich das parteipolitische Kalkül dahinter natürlich nachvollziehen kann. Nun räume ich ein, dass es einen Unterschied gibt: Wir haben klipp und klar gesagt, dass wir die Laufzeiten verlängern, um den Ausbau der erneuerbaren Energien gegenzufinanzieren. Darum bitte ich, uns abzunehmen, dass wir uns bei den Erwägungen, die wir jetzt machen müssen, ein bisschen schwertun, weil jetzt plötzlich dieses Geld - zumindest das, was aus der Nutzung der Kernenergie kommen sollte - wegbrechen wird und am Schluss nur noch die heute schon angesprochenen Einnahmen aus dem Emmissionshandel übrig bleiben werden. Da ist es schon schwierig, eine Lösung zu finden, wenn die Finanzierung teilweise wegbricht, man aber gleichzeitig die erneuerbaren Energien schneller ausbauen will. Das ist keine leichte Übung; da braucht man eine ganze Menge Gehirnschmalz. Ich möchte, ohne dass Sie es gleich wieder als Vorwurf verstehen sollen, deutlich unterstreichen: Wir haben uns damals bei der Erstellung des Energiekonzepts immerhin Gedanken gemacht, wie man die Erforschung und den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Geld kosten werden, angesichts knapper Haushaltskassen finanziert. Das haben andere versäumt oder vernachlässigt. Es ist einigermaßen offensiv, Frau Kollegin Höhn, sich jetzt hier hinzustellen und zu sagen: Das kostet alles nichts, das geht zum Nulltarif. ({6}) Das ist nicht korrekt. Sie sagen, die Kosten je Kilowattstunde Strom steigen um 0,5 Cent. Ich bin mir nicht sicher, ob das das Ende der Fahnenstange ist, weil Sie den Emissionshandel berücksichtigen müssen, weil Sie die höheren Kosten für die Nutzung der erneuerbaren Energien berücksichtigen müssen usw. ({7}) - Ich will es nicht in Abrede stellen. Das Problem ist: Wenn man solche Themen kritisch beleuchtet, wird man sofort an den politischen Pranger gestellt. Es heißt dann: Der will doch eigentlich gar nicht wirklich aussteigen. - Das stimmt so nicht. Ich will nur sagen: Wir müssen uns natürlich mit folgenden Problemen beschäftigen: Was heißt das für die Verbraucher? Hier sitzt der angebliche Vertreter der Verbraucher, der morgen mit der Forderung nach Sozialtarifen kommt und dann uns und den Versorgern die Schuld für die Folgen der Ausstiegspolitik in die Schuhe schiebt. Was heißt das für die Wirtschaft? Was heißt das für die energieintensiven Betriebe? Das sind die Themen, die uns an dieser Stelle beschäftigen müssen. Über dem Ganzen steht ganz zentral das Thema „Bewahrung der Schöpfung“. Uns als Union hat Fukushima in der Tat mehr bewegt als Tschernobyl - nicht wegen der Kategorie oder der Zahl der Opfer; beides ist gleich erschütternd. Aber, lieber Kollege Gysi, das Reaktorunglück in Tschernobyl beruhte in der Tat ganz eindeutig auf menschlichem Versagen und dem Versagen eines menschenverachtenden Sowjetregimes. ({8}) Fukushima in Japan hat eine andere Dimension. Wir sehen ganz klar und deutlich die Probleme bei der Beherrschbarkeit dieser Technologie. Seien Sie versichert: Wir werden uns dieser Thematik wohlüberlegt und zielorientiert annehmen. Vielen herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Hempelmann hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Nüßlein, wer Ihre, wie Sie selbst sagen, auf Konsens getrimmte Rede gerade gehört und in Erinnerung hat, was Ihr Kollege Altmaier zu Beginn der Debatte gesagt hat, wer außerdem weiß, wie Herr Kauder oder Herr Brüderle oder Herr Röttgen zur Energiepolitik stehen, weiß, wie breit das Meinungsspektrum zu diesen Fragen allein in Ihrer Fraktion ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Sie zunächst einmal in Ihren eigenen Reihen an einem Energiekonsens arbeiten. ({0}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Einsetzung eines Sonderausschusses beantragt. Warum haben wir das getan? ({1}) Nicht, weil wir die Rechte der anderen Ausschüsse beschneiden wollen - das bei Gott nicht. ({2}) - Das ist nicht das Ergebnis. Hören Sie einfach einmal zu. Die vielen Einzelfragen, die es zu diskutieren gibt, werden unter unterschiedlichsten Federführungen in den einzelnen Ausschüssen diskutiert. Gerade bei Anträgen zur Energiepolitik gibt es so lange Listen von federführenden bzw. mitberatenden Ausschüssen, wie sonst selten. Vor diesem Hintergrund wollen wir zur Herstellung eines Konsenses zu den zentralen energiepolitischen Fragen einen solchen Querschnittsausschuss bilden. Dort kann man diese Themen bündeln und zu Ergebnissen kommen. Detailfragen sind natürlich wieder in den Fachausschüssen zu behandeln. ({3}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat nicht nur diesen Sonderausschuss beantragt, sondern hat ein mehr als 40 Seiten umfassendes Energieprogramm vorgelegt, das eine - ich betone: eine! - Grundlage für die Arbeit eines solchen Sonderausschusses sein kann. Es ist ein Vorschlag, der aufzeigt, wie wir möglichst im Konsens einen Weg finden können, den Umbau des Energiesystems, der jetzt ansteht, gemeinsam zügig voranzubringen. Frau Höhn hat eben gesagt, dass es schon so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Die Menschen wollen beschleunigt aus der Kernenergie aussteigen und beschleunigt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien einsteigen; das ist unbestreitbar. Ich glaube aber, dass es bei dem, was wir hier machen und was die Öffentlichkeit zu Recht von uns erwartet, um mehr geht. Es geht auch darum, einen Konsens darüber zu finden, wie wir den zügigen Umbau des Energiesystems hin zu einem System, das von erneuerbaren Energien dominiert wird, gestalten sollen. Hierbei geht es nicht um triviale Fragen. Es geht beispielsweise darum, wie wir das mit einem Höchstmaß an Versorgungssicherheit - und das zu jeder Sekunde im Jahr - verbinden. Es geht natürlich um die Frage, wie wir das mit dem Ziel verbinden, zu gewährleisten, dass Energie bezahlbar bleibt, Herr Gysi, und zwar nicht nur für die Industrie, sondern selbstverständlich auch für den privaten Endverbraucher, für den einzelnen Haushalt. Es geht auch um die Frage, wie wir das so klimaverträglich wie möglich hinbekommen. Diese Fragen erfordern eine Befassung im Detail und eine Verständigung zum Beispiel darüber, wie wir es in der Übergangsphase im Erzeugungsbereich mit Kohleund Gaskraftwerken halten; das hat heute explizit noch keiner angesprochen. Darüber werden wir uns verständigen müssen. Wie halten wir es mit der Industrie, und zwar nicht nur mit der Industrie, die wir als Zukunftsindustrie titulieren, sondern mit all den anderen Unternehmen in unserem Land? Wer sich mit den Unternehmen in Deutschland auskennt, der weiß, dass wir eine hochvernetzte Industrie haben, dass die Unterscheidung zwischen Alt und Neu eher in die Irre führt und dass wir sehr stromintensive Unternehmen haben, für die Energie bezahlbar bleiben muss. Diese Unternehmen sind die Basis für Wertschöpfungsketten in unserem Land, die nicht nur viele Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen, sondern die auch dafür sorgen, dass wir bei den Techniken der erneuerbaren Energien weit vorne liegen. Das sind Fragen, über die man dezidiert und qualifiziert reden muss. Man muss das Ganze bündeln und gemeinsam wenigstens Leitlinien festgelegen. Wir haben eine große Chance. Diese Chance sollten wir nicht ungenutzt lassen. ({4}) Wer den Zeitplan bis zum Juni dieses Jahres betrachtet, der hat Bedenken, dass die Koalitionsfraktionen diese Chance mit uns gemeinsam hier im Parlament tatsächlich nutzen wollen. Die Zeit, die uns am Ende bleibt, ist vergleichbar mit dem, was im letzten Jahr bei der Laufzeitverlängerung passiert ist. Diese Zeit reicht für eine Kopfbewegung: Das kann man nur noch abnicken. Das liegt weder im Interesse der Koalitionsfraktionen noch im Interesse des gesamten Parlaments. ({5}) Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: Wir brauchen zuerst den gesellschaftlichen Konsens, und dann vollziehen wir das im Parlament nach; dafür brauchen wir erst einmal den Input einer Ethikkommission. - Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass dort vernünftige Leute zusammensitzen. Es ist sicherlich auch interessant, was dort besprochen wird. Aber wichtig ist die ethische Frage. Sie hat uns geleitet. Sie war Grundlage für die Entscheidungen zum Energiekonsens, zum Atomkonsens Anfang dieses Jahrtausends. ({6}) Jetzt müssen die parlamentarische Befassung und die Lösung der konkreten Fragen, die ich gerade angesprochen habe, im Mittelpunkt stehen. Wir haben ein sehr seriöses Angebot unterbreitet, das in anderthalb Jahren von meiner Fraktion erarbeitet worden ist. Es wurde übrigens in einer Querschnittsarbeitsgruppe „Energie“ vorbereitet, in der Vertreter von zehn unterschiedlichen Fachausschüssen sitzen. Ich glaube, dieses Querschnittsdenken hat sich bewährt. Lassen Sie uns angesichts der zu beantwortenden Querschnittsfragen auch im Parlament so verfahren und den vorgeschlagenen Sonderausschuss einsetzen. Ich glaube, er bietet die große Chance, dass wir zügig zu einer Verständigung kommen. Alle Parteien, aber auch die Gesellschaft insgesamt, können dabei nur gewinnen. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fand diese Debatte bislang in weiten Teilen wohltuend und relativ entspannend, abgesehen von einigen Spitzen. Wir sollten versuchen, weitgehend Einigkeit darüber zu erzielen, wie wir die Bürger einbeziehen und wie wir einen Wechsel hinbekommen können; das halte ich für eine vernünftige Sache. Hierüber müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen. Mir war nicht ganz klar, warum Herr Steinmeier meinte, alle Fragen seien schon beantwortet. Ich nehme für uns in Anspruch, dass jetzt nicht alle Fragen so beantwortet werden wie in der Vergangenheit. Man kann die Fragen mit gutem Gewissen neu beantworten. Frau Höhn hat selber darauf hingewiesen, dass sich seit Fukushima die Wahrnehmung der Restrisiken bei der Mehrheit der Bevölkerung verändert hat. Das nehme ich auch für mich in Anspruch. Bei Tschernobyl wurde damals noch darauf verwiesen, es handele sich ja um einen russischen Reaktortyp, und die UdSSR befinde sich gerade in der Endphase. Jetzt sagen manche: Japan ist nicht vergleichbar, weil es dort ein Erdbeben gab. - Das wussten wir aber vorher. All das führt zum Umdenken. Man sagt nun: Ein Land, das technologisch ähnlich hoch entwickelt ist wie unseres - wenn auch nach internationalen Standards die japanischen Kernkraftwerke nicht auf dem gleichen guten Stand sind wie die unseren -, hat mit Sicherheitsreserven kalkuliert. Diese haben aber nicht ausgereicht. Die Realität hat das Ganze überholt. In einem solchen Fall ist es nicht nur legitim, sondern dringend nötig, neu nachzudenken. Dazu dient das Moratorium. ({0}) Dieses Moratorium leistet für mich einen Beitrag zu mehr Glaubwürdigkeit und stellt keinen Kursschwenk um 180 Grad dar; das bitte ich anzuerkennen. Es ist nicht so, dass wir nicht wissen, was wir wollen. Wenn Sie das Ganze nicht nur politisch ausnutzen wollen, sondern auch Interesse an der Sache haben, wie es Herr Hempelmann oder Frau Höhn gezeigt haben, dann wäre ich sehr erfreut, wenn wir gemeinsam die Fragen beantworten: Was hat sich jetzt verändert, und was sind unsere Schlussfolgerungen? - Ich bin mir relativ sicher, dass wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen werden, wenn es um die Fragen geht, wie viele Offshorewindenergieanlagen, wie viele neue Kohlekraftwerke und wie viele neue Gaskraftwerke wir benötigen und was das dann für den Gebäudebestand bedeutet. Wenn wir mehr Gas verstromen, müssen wir überlegen, ob wir im Energiebereich im Hinblick auf Gebäudemanagement und -sanierung noch mehr investieren sollen, damit dort weniger verbraucht wird. Wir werden auch unterschiedlicher Meinung sein, wie sinnvoll es ist, kurzfristig Strom aus anderen Ländern zu importieren, weil wir das Leitungsnetz in Deutschland nicht so schnell ausbauen können. Bislang war unser Ansatz: Es macht für uns wenig Sinn, aus Frankreich, Polen oder Tschechien Atom- oder Kohlestrom zu importieren. Wir wollen angesichts unserer höheren Sicherheitsanforderungen dann lieber Strom selbst erzeugen. Dieser Meinung sind wir weiterhin. Wir müssen aber höhere Sicherheitsstandards als Maßstab anlegen. Höhere Sicherheitsstandards sind ebenfalls eine Folgerung aus Fukushima. Für mich ist auch nicht klar, dass alle alten Kraftwerke abgeschaltet bleiben. Möglicherweise ergibt sich aus der Untersuchung, die wir jetzt durchführen, dass die älteren Kraftwerke in einigen Punkten sicherer sind als die neuen. So gibt es getrennte Stromkreisläufe oder Sicherheitsreserven, die bei älteren Kraftwerken so oft aktualisiert worden sind, dass sie besser sind als bei den neueren. Das bedarf der genauen Untersuchung. Herr Hempelmann, in der Diskussion über unser Energiekonzept könnte man doch auch über das Energiekonzept der SPD, das genauso ausführlich ist wie unseres, debattieren. Man muss nicht immer einen neuen Ausschuss fordern und wieder von vorne anfangen. Bei der Debatte über unser Energiekonzept haben wir erstmals nicht nur den Atomausstieg als Ziel gesetzt - koste es, was es will -, sondern auch klar begründet, warum wir Milliardenbeträge von den großen, bösen Energieversorgern, Herr Gysi, einkassieren. Wir haben aufgezeigt, wie man schneller auf die Erneuerbaren umsteigen kann, und zwar auf einem Weg, der international durchsetzbar ist, der nicht zu Verlagerungen von Unternehmen und Arbeitsplätzen führt und der sicherstellt, dass wir in Deutschland auch technologisch an der Spitze bleiben. Ich bin überzeugt, dass diese Punkte vernünftig sind. Wenn wir jetzt allerdings schneller aus der Kernkraft aussteigen, dann fehlt etwas. Dann stellen wir fest, dass der Strom teurer wird und dass wir mehr importieren müssen. Sie können sagen: Das ist uns völlig egal. - Mir ist das aber nicht egal, weil das dazu führt, dass die Sicherheit international nicht zunimmt, sondern abnimmt. Wir brauchen andere Antworten. Der Strompreis darf in Deutschland nicht so stark ansteigen. Anderenfalls werden die Unternehmen versuchen - ob man das nun wahrhaben will oder nicht -, auf dem internationalen Markt den Strom vom günstigsten Anbieter zu bekommen. Das werden wir nicht verhindern können. Der gute Wille, im eigenen Häuschen und im eigenen Garten alles schön zu machen, ist das eine. Das andere ist, auf internationaler Ebene eine Energiewende einzuleiten. Dabei müssen wir die Wirtschaftlichkeit gerade der stromintensiven Industrie berücksichtigen. Eine Aluminiumhütte, die Gewässer mit irgendwelchen roten Flüssigkeiten verschmutzt, nutzt uns nichts. Wir müssen versuchen, das Problem bei uns zu lösen. ({1}) Dazu habe ich zu wenige Antworten gehört. Frau Höhn, ich habe auch nicht gehört, wie es gelingen soll, dass die erneuerbaren Energien grundlastfähig werden, wenn wir nicht auch bereit sind, mehr Pumpspeicherkraftwerke zu bauen, wenn wir nicht bereit sind, die Speichertechnologien hinsichtlich der Methanisierung weiterzuentwickeln, und wenn wir nicht bereit sind, beim Thema Elektromobilität - Stichwort „Zwischenspeicher“ - voranzugehen. ({2}) Wir brauchen technologische Antworten. Wir dürfen nicht nur sagen, was wir alles nicht wollen, sondern wir müssen den Leuten auch offen sagen, welche Auswirkungen das hat, und diese Auswirkungen sind nicht nur angenehm. ({3}) Es ist eben nicht angenehm, eine 380-kV-Leitung vor der Tür zu haben. Auch ein Pumpspeicherkraftwerk im schönen Schwarzwald ist keine angenehme Sache. Es ist auch nicht angenehm, zu überlegen, woher der Strom künftig kommen soll, nachdem jetzt acht Kernkraftwerke abgeschaltet wurden. Ich muss mir überlegen, wie es weitergehen soll, wenn andere Kernkraftwerke in die Revision kommen. Diese Revision wollen ja alle, damit es sicher ist. Vielleicht haben wir dann eine niedrigere Spannung im Netz, die dazu führt, dass die Sicherheit der anderen Kernkraftwerke nicht mehr garantiert werden kann. ({4}) Deshalb sage ich: Ein sofortiges Abschalten können wir uns nicht leisten, es sei denn, wir holen den Strom aus Fessenheim, das 30 Kilometer von Freiburg entfernt ist, oder aus Temelin, das direkt an der Grenze zu Bayern liegt. Wir müssen versuchen, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Wir brauchen keinen neuen Ausschuss. Dadurch, dass Wirtschafts- und Umweltausschuss beteiligt sind, fließen die Meinungen der Umwelt- und Wirtschaftspolitiker der verschiedenen Fraktionen ein. Auch bei Ihnen gibt es einen Unterschied zwischen Umweltund Wirtschaftspolitikern; das muss auch so sein. Wir müssen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Wir brauchen keinen Ausschuss, der für mehr Öffentlichkeit sorgt. Gleichzeitig wird die Arbeit der Ethikkommission in der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen. ({5}) Wir müssen uns schon darauf verständigen, dass wir gemeinsam zu Ergebnissen kommen wollen. Das gilt übrigens auch für die Endlagerfrage. Wenn Sie das Problem mit uns gemeinsam in Angriff nehmen wollen, dann sorgen Sie bitte dafür, dass wir in der Öffentlichkeit auch dann eine Mehrheit bekommen, wenn es um unangenehme Dinge wie die Kostenfrage, die Endlagerung oder Stromtrassen geht. Wenn uns das gelingt, machen wir wirklich einen großen Schritt nach vorne. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Oliver Krischer hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, heute auch das eine oder andere nachdenkliche Wort aus den Reihen der Regierungsfraktionen gehört zu haben. ({0}) Diese Debatte unterscheidet sich wohltuend von anderen Debatten, die wir sowohl vor als auch nach Fukushima geführt haben. Diese Debatte unterscheidet sich auch wohltuend von dem, was wir im November letzten Jahres erlebt haben, als Sie hier die Laufzeitverlängerung beschlossen haben. Das Energiekonzept, das Sie damals beschlossen haben, haben Sie als Jahrhundertwerk, als epochales Machwerk, als leuchtenden Pfad bezeichnet. Was habe ich damals nicht alles gehört! Es ist gut, dass Sie jetzt einsehen, dass Ihr Energiekonzept, dessen Kern die Laufzeitverlängerung ist - die Atomkraft sollte angeblich eine Brücke hin zu den erneuerbaren Energien darstellen -, in sich zusammengefallen ist. ({1}) Wir haben - das ist völlig richtig - in der Gesellschaft einen breiten Konsens: Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien. Die Frage ist jetzt doch nur: Sind wir, sind Sie, die Koalition und die Regierung, in der Lage, diesen Konsens umzusetzen? Das ist die entscheidende Frage, die wir jetzt stellen müssen. ({2}) - Darauf komme ich jetzt zu sprechen. - Ich habe da große Zweifel. Wir haben die Bundesregierung einmal konkret gefragt, welche Maßnahmen ihres Energiekonzepts sie außer der Laufzeitverlängerung umgesetzt hat. Die Antwort war entwaffnend ehrlich: Nichts. Außer der Laufzeitverlängerung haben Sie in den letzten Monaten keine andere Maßnahme ergriffen. Deshalb zweifelt die Gesellschaft daran, dass Sie den Konsens „Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien“ umsetzen. ({3}) Herr Röttgen und Herr Brüderle haben einen SechsPunkte-Plan vorgelegt. Er enthält viel Lyrisches, viele Ankündigungen, viel Unkonkretes, aber auch manches Richtige. Ich habe aber erhebliche Zweifel daran, dass das ernst gemeint ist. Statt weitere Pläne vorzulegen und Konzepte zu entwickeln, sollten Sie endlich Maßnahmen ergreifen. Es gibt viel Konkretes, was Sie machen könnten. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. In Deutschland gibt es Planungen für Windkraftanlagen in der Größenordnung von 1 400 Megawatt. Diese Anlagen werden nur deshalb nicht gebaut, weil die Bundeswehr das verhindert. Sie sagt, dass diese Anlagen das Radar stören würden. Das ist absurd; denn das Radar im Bereich des zivilen Luftverkehrs und das Radar der amerikanischen Streitkräfte wird dadurch nicht gestört. Der Bundesumweltminister müsste nur einmal mit dem Verteidigungsminister reden, um dieses Problem zu lösen. Das könnten Sie sofort tun. Damit könnten Sie deutlich machen, dass Sie bereit sind, zu handeln. ({4}) Ich nenne das Beispiel Onshorewindenergie. Der Bundesverband Wind-Energie hat vor einigen Tagen eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass wir, wenn wir die Ziele von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, nämlich 2 Prozent der Landesfläche - das ist wirklich nicht viel - für Windenergie zu nutzen, zugrunde legen würden, die installierte Leistung in Deutschland fast verachtfachen könnten. Aber - ich schaue in Richtung Unionsfraktion und FDP-Fraktion - wer blockiert denn in den Ländern den Ausbau der Windenergie? Wer ist das? Überall sind es Union und FDP, die blockieren. Hier könnten Sie sofort aktiv werden. ({5}) - Dann besuchen Sie einmal Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg; dort sehen Sie, dass die Union an vorderster Front bei den Blockierern steht. ({6}) Ein anderes Beispiel: die Kraft-Wärme-Kopplung. In der Großen Koalition wurde beschlossen, dass sie einen Anteil von 25 Prozent an der Stromversorgung haben soll. In Ihrem alten Energiekonzept taucht das überhaupt nicht mehr auf. Wir haben gemeinsam mit den Kollegen von der SPD viele Vorschläge gemacht, wie wir die Kraft-Wärme-Kopplung voranbringen können. Greifen Sie das auf! Das brauchen Sie nur umzusetzen. Dafür braucht man keine Kommissionen und keine Debatten. Das können Sie, wenn Sie es politisch wollen, sofort umsetzen. Tun Sie es einfach! Das wäre richtig, um raus aus der Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien und Energieeffizienztechnologien zu kommen. ({7}) Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Energiesparfonds, Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, CO2-Gebäudesanierungsprogramm, Energieleitungsausbaugesetz. Es gibt etliche Projekte, die wir anpacken können. Sie müssen es einfach nur tun, statt die Schuld - Herr Meierhofer, das habe ich eben bei Ihnen trotz aller Nachdenklichkeit wieder herausgehört - immer auf andere zu schieben. Sie müssen handeln. ({8}) Sie müssen den Menschen deutlich machen, dass Sie es mit der Energiewende ernst meinen. Sonst werden Sie scheitern und den Konsens, den es in der Gesellschaft gibt, nicht umsetzen. Das wäre das falsche Signal. Sorgen Sie für Konsens! Zeigen Sie, dass Sie ernsthaft handeln und nicht nur die Schuld auf andere schieben wollen! ({9}) - Auch wir handeln, Herr Meierhofer. ({10}) Zum Schluss noch einen kurzen Satz zum Energiekonzept der SPD. Ich habe darin viel Gutes und Richtiges gelesen. Vieles deckt sich mit dem, was meine Fraktion im Herbst letzten Jahres vorgeschlagen hat; da gibt es große Gemeinsamkeiten. Aber bei einem Punkt kann ich Ihnen nicht folgen: Nach wie vor reiten Sie das alte Grubenpony vom nationalen Steinkohlensockel. ({11}) Sie sind nicht bereit, sich von dieser Technologie zu verabschieden. Meine Damen und Herren von der SPD, das ist einfach nicht zukunftsweisend. Darunter sollten Sie einen Schlussstrich ziehen. Gestern haben wir hier im Parlament beschlossen, dass mit dem Steinkohlenbergbau in Deutschland, dass mit den Milliardensubventionen Schluss ist. Ein ehrlicher Schritt ins 21. Jahrhundert wäre bei Ihnen also angebracht. Danke schön. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jens Koeppen hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich mein ganzes Berufsleben lang mit Energiefragen beschäftigt, insbesondere mit elektrotechnischer Energie. Das ist natürlich nicht verwunderlich, da ich Elektrotechniker bin. Ich möchte einmal auf die Facetten dieser Energieform eingehen. Eine Facette ist natürlich die Energieerzeugung. Eine andere Facette ist die Energieverteilung; dies ist sehr spannend. Eine weitere Facette ist die Energienutzung direkt beim Verbraucher. Seit Mitte bzw. Ende der 90er-Jahre sind die erneuerbaren Energien und dann die Energieeffizienz hinzukommen. Ich habe festgestellt, dass die Verstromung der Gesellschaft jahrzehntelang - trotz aller Energieeffizienz, trotz aller Einsparungen - immer zugenommen hat. Ich prophezeie, dass das auch in Zukunft so sein wird, weil wir - die Erklärung ist ganz einfach - viele neue Anwendungen, viele neue Geräte und insbesondere auch die Elektromobilität nutzen werden. Deswegen wird der Anteil des Stroms an der Energie eher zunehmen als abnehmen. Das müssen wir vor dem Hintergrund von Japan beachten. Natürlich stellen die Ereignisse in Japan eine Zäsur dar. Ich spreche niemanden hier im Hohen Hause die Empathie für Japan ab, auch nicht die guten Absichten. Ich glaube, das Ziel ist uns allen klar: Wir wollen in das Zeitalter der regenerativen Energien, der erneuerbaren Energien, aber insbesondere in das Zeitalter der alternativen Energien. Wir sollten uns hier nicht einschränken. Nur, heute ist wieder einmal deutlich geworden, dass der Weg und die Zeitschiene nicht ganz klar sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Sonderausschuss dieses Problem letztendlich lösen wird. ({0}) Nach der Zäsur in Japan, die wir alle erleben mussten, müssen wir neu nachdenken. Wir müssen neu justieren und die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Nachdenken bedeutet aber nicht, dass wir das Denken einstellen sollten. ({1}) Es bedeutet nicht, dass wir in Aktionismus verfallen sollten. Es bedeutet auch nicht, dass wir populistisch handeln sollten. Es darf erst recht nicht bedeuten, dass wir das Leid der Japaner und die Katastrophe, die sich ereignet hat, für unseren partikularen Egoismus ausschlachten. Das darf nicht passieren. ({2}) Ich möchte darauf hinweisen - das sage ich an dieser Stelle immer wieder -: Dieses Nachdenken muss natürlich ergebnisoffen sein - sonst braucht man nicht nachzudenken -, und es muss technikoffen sein. Wir dürfen uns Techniken, die vielleicht noch nicht hinreichend erforscht sind, nicht verschließen. Die Akzeptanz von Kernkraftwerken ist in der deutschen Gesellschaft nicht mehr vorhanden; in Umfragen sprechen sich 86 Prozent der Befragten dagegen aus. Jetzt müssen wir die Frage beantworten: Welche Folgen hätte es, wenn wir 8 oder 17 Anlagen abschalten würden? Dabei geht es nicht um die Folgen in 50 Jahren - natürlich wird in unserer Gesellschaft bis dahin einiges passiert sein -, auch nicht um die Folgen in 20 Jahren oder in 15 Jahren. Die Frage, die ich stelle, lautet: Welche Folgen hätte der Ausstieg hier und heute, im April 2011? Diese Frage müssen wir beantworten. Dass wir bereit sind, aus der Kernenergie auszusteigen, habe ich von allen Seiten gehört. Sind wir gleichzeitig aber auch bereit - lassen wir die Merit Order einmal außen vor -, seit dem 17. März dieses Jahres jeden Tag 6 kW andere Energie - möglicherweise Kernenergie aus Frankreich und Temelin in Tschechien - einzukaufen? ({3}) Wenn wir dazu bereit sind, Herr Kelber, dann sollten wir den Menschen dies sagen; das sollten auch Sie tun. ({4}) - Gigawatt! Der nächste Punkt. Wir legen ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vor. Sind wir bereit, sind Sie bereit, in den Wahlkreisen dafür zu sorgen, dass so schnell wie möglich 4 500 Kilometer neue Leitungen gebaut werden? ({5}) - Ja. ({6}) Ich beziehe mich auf die dena-Netzstudie I und die dena-Netzstudie II, meine Damen und Herren; Sie müssen diese Studien auch einmal lesen. Diese Zahl gilt übrigens nur dann, wenn der Anteil erneuerbarer Energien lediglich 38 Prozent beträgt. Wenn wir einen höheren Anteil erneuerbarer Energien wollen, wird sich die Länge der benötigten Leitungen sogar verdoppeln. ({7}) Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Sind wir letztendlich auch bereit, den Zubau erneuerbarer Energien zuzulassen? Sie haben gerade gesagt, wir seien dagegen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Herrn Ott zulassen?

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Koeppen, vielen Dank. - Das Grundgesetz verlangt von uns Abgeordneten keine spezifische und vertiefte Sach- oder gar Fachkenntnis; das ist auch gut so. ({0}) Aber die Achtung vor dem Grundgesetz und der Respekt vor unserer Stellung als Abgeordnete erfordern, dass man sachgerechte Informationen aufnimmt und hier im Parlament wiedergibt. Sie haben gerade eine Horrorzahl genannt und gesagt, angeblich seien 4 500 Kilometer neue Hochspannungsleitungen erforderlich. Bisher war immer von einer Länge von 3 600 Kilometern die Rede; das ist die Zahl, die von der dena bzw. von der beteiligten Industrie genannt wurde. Diese Zahl ist die Wunschzahl einiger Unternehmen. ({1}) Ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchung im Auftrag des Wirtschaftsministeriums, also für Herrn Brüderle, gerade zu dem Schluss gekommen ist, dass vielleicht nur 250 Kilometer neue Hochspannungsleitungen gebraucht werden? ({2}) Ansonsten ist in seriösen Schätzungen von einer Länge von 1 000 bis 1 500 Kilometern die Rede. Operieren Sie bitte nicht immer mit Horrorzahlen, die die Leute nur verschrecken und Angst vor den hohen Kosten machen sollen!

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben sicherlich die dena-Netzstudie I gelesen. Wir haben - Herr Hempelmann war aktiv dabei - in der vergangenen Legislaturperiode um 850 Kilometer gestritten. ({0}) Von diesen 850 Kilometern sind nicht einmal 100 Kilometer gebaut worden. Bei einem Anteil der erneuerbaren Energien von 38 Prozent werden laut dena-Netzstudie II 3 600 Kilometer Leitungen benötigt. Wir müssen aber die anderen Leitungen, die in der Netzstudie I genannt werden, noch hinzunehmen. Dann kommen wir auf die eben genannten 4 500 Kilometer. Das ist keine Horrorzahl, sondern eine ganz realistische Zahl. Das hat die dena uns in den letzten Tagen erneut bestätigt. ({1}) So viel zum Netzausbau, den wir vornehmen müssen. Herr Krischer hat gesagt, dass wir nicht bereit sind, den Zubau von erneuerbaren Energien zuzulassen. In meinem Wahlkreis geht es übrigens um 2,3 Prozent der regionalen Planungsfläche. Da stellt sich der NABU in die vorderste Reihe der Bewegung, die zum Ziel hat, den Bau von Windenergieanlagen zu verhindern. Als Bundesvereinigung sagt der NABU Ja zum Wind, vor Ort aber Nein. So kann es nicht gehen. Die Kosten - wir haben das immer wieder angesprochen - sind bei 46 Cent Steuern und Abgaben ein großes Problem. Wir müssen bedenken: Können wir es den Menschen zumuten, letztendlich noch mehr auf den Strompreis draufzusatteln, ({2}) oder soll es der Staat machen? Soll es - ich erinnere an unsere Schuldenbremse - dann letztendlich der Steuerzahler übernehmen, wie es heute Frau Nahles im Frühstücksfernsehen gesagt hat? Wir müssen auf jeden Fall darauf achten, dass die Belastung der Privathaushalte nicht zu groß wird und dass auch die Industrie nicht zu sehr belastet wird; denn wenn die Industrie wegbricht, bedeutet das gleichzeitig den Wegfall von Arbeitsplätzen. Wir müssen bereit sein, neue Gaskraftwerke zu bauen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie das durchsetzen wollen. Wir müssen außerdem neue Pipelines bauen. Ferner müssen wir bereit sein, neue Kohlekraftwerke zu bauen und CCS zuzulassen. Die Kraftwerke müssen nach einer EU-Richtlinie CCS-ready sein. Ich bin gespannt, was da passieren wird. ({3}) Natürlich müssen wir auch sehen, ob wir letztendlich die hohen Klimaschutzziele einhalten können. Natürlich können wir über das alles in den Ausschüssen beraten. Aber, meine Damen und Herren von der SPD, ich weiß nicht, ob ein Sonderausschuss wirklich das richtige Instrument ist. Es sollen Kompetenzen aus den Ausschüssen, die jetzt damit befasst sind - das sind der Umweltausschuss und der Wirtschaftsausschuss -, abgezogen werden, um einen neuen Ausschuss einzusetzen, der noch nicht einmal bei einem Ministerium angesiedelt ist. Dann müssen wir einen Schritt weitergehen und sagen: Wir brauchen auch auf administrativer Ebene ein Ministerium - das könnte vielleicht das Innenministerium sein -, bei dem alles gebündelt wird. Die Kompetenzen wären dann nicht im Umwelt-, Wirtschafts- oder Verbraucherschutzministerium, sondern woanders gebündelt, vielleicht in einem Energieministerium. Eine Ansiedlung des von Ihnen geforderten Sonderausschusses dort wäre dann logisch und sinnvoll. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken. Ich bin gerne dazu bereit. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf eine ganz elementare Frage zu sprechen kommen, die mir in vielen Wortbeiträgen ein bisschen zu kurz gekommen ist: Welchen Stellenwert haben wir als Parlamentarier eigentlich nach der deutschen Verfassung? Ich war erschrocken, als ich die Rede von Herrn Altmaier gehört habe; denn seine Beschreibung dieses Stellenwerts stellt eine Abwertung des deutschen Parlaments dar. Das kann nicht Realität in diesem Hause sein. ({0}) Ich führe viele Gespräche und sehe in Ihre Gesichter. Ich glaube, dass viele - auch von Ihnen - über die aktuelle Situation sehr unglücklich sind; denn sie haben im letzten Herbst erlebt, dass ein Gesetz eigentlich ohne Beratung durchgepeitscht worden ist und dass der Bundestagspräsident dies ausdrücklich kritisiert hat. Nun droht eine Wiederholung dieses Vorgangs. Das darf nicht passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die Verfassung bei der elementaren Frage der Energieversorgung der Zukunft auf den Kopf stellen. Diese Regierung formuliert neue Dinge, die es in der deutschen Verfassung nicht gibt. Fangen wir mit dem sogenannten Moratorium an. Wo steht in der Verfassung, dass der Deutsche Bundestag plötzlich ein Moratorium verhängen und aufhören kann, zu denken? Das kann doch nicht die Wahrheit sein! ({2}) Sie verweisen darauf, dass Sie hier regelmäßig, wöchentlich über das Thema diskutiert haben. Warum? Weil die Oppositionsfraktionen Anträge zu diesem Thema gestellt haben. Von Ihnen kommt aber nichts. Das ist die Wahrheit. ({3}) Als Nächstes ist verfassungsrechtlich hochproblematisch, dass diese Bundesregierung im Herbst einen Deal mit vier Energiekonzernen gemacht und einen Kaufvertrag geschlossen hat, dessen Rechtsform bis heute verfassungsrechtlich überhaupt nicht klar ist; denn Sie haben ein Gesetz für eine Einzahlung in den Fonds zur Förderung regenerativer Energien verkauft. Ich glaube, es ist in der deutschen Geschichte ein einmaliger Vorgang, dass jetzt vier Konzerne sagen: Wir haben uns zwar vertraglich verpflichtet, aber das Gesetz „kippt“, und deswegen stoppen wir die Zahlungen. Deswegen: Wiederholen Sie diesen Fehler nicht, sondern führen Sie diese Debatte im Deutschen Bundestag. Das darf dieser Regierung nicht alleine überlassen bleiben. ({4}) Was haben wir in der letzten Sitzung des Umweltausschusses miteinander besprochen? Der Vorsitzende der Reaktor-Sicherheitskommission war dort und hat über den Zwischenstand berichtet. Er hat gesagt, die Entscheidung darüber, welche Szenarien anzunehmen sind, werde nicht von der Reaktor-Sicherheitskommission getroffen, sondern Sie würden der Ethikkommission eine entsprechende Empfehlung vorlegen. Was passiert da eigentlich im Kanzleramt? Es ist zu lesen, dass die Ethikkommission am 28. April 2011 eine Anhörung durchführen will. Gehören diese Anhörungen nicht in den Deutschen Bundestag? Dann könnten wir uns eine Meinung bilden. ({5}) - Sie sagen „beides“. Was haben wir in der letzten Sitzung des Umweltausschusses besprochen? Auf der Grundlage unserer Gesetzentwürfe haben wir mit Ihnen besprochen, dass wir jetzt die Sachverständigenanhörung über diese Gesetzentwürfe wollen. Was haben Sie vorgeschlagen? Sie haben vorgeschlagen, am 27. Juni 2011 eine Anhörung durchzuführen, obwohl Sie wissen, dass dieses Gesetz Ende Juni „stehen“ soll. Dadurch offenbaren Sie doch alles. ({6}) Weil Sie gemerkt haben, dass Sie nun wirklich völlig danebenliegen, haben Sie sich korrigiert, sodass wir diese Anhörung, Herr Nüßlein, jetzt in der Tat am 6. Juni 2011 durchführen. ({7}) Ich sage Ihnen: Was könnten wir in diesen Wochen alles klären! Die Abschaltung, die Rücknahme der Laufzeitverlängerung, das Inkraftsetzen des Kerntechnischen Regelwerks: All dies wäre problemlos möglich, weil die unterschiedlichen Sachverständigen in den Anhörungen im Herbst alle Fakten auf den Tisch gelegt haben. ({8}) Weil Sie diesen Sonderausschuss abgelehnt haben, sollten Sie die Osterpause noch einmal dafür nutzen, sich das durch den Kopf gehen zu lassen; denn ich glaube, dass wir dieses große Problem tatsächlich nur lösen können, wenn wir interdisziplinär an dieses Thema herangehen. Herr Koeppen, das Beispiel von den Netzen war richtig, aber die Antwort auf die Frage, wie viele Netze wir wirklich brauchen, hängt zum Beispiel elementar von dem zukünftigen Energiemix ab. Deswegen müssen wir diese Frage beantworten, und ich behaupte: Wir brauchen viel, viel weniger Netze. Diese Debatte gehört in den Sonderausschuss. ({9}) Abschließend noch eines: Auch über die Finanzen und die Kosten würde ich gerne in aller Öffentlichkeit in diesem Sonderausschuss sprechen. Werfen wir vielleicht einen Blick auf die volkswirtschaftlichen Kosten der Super-GAUs in Fukushima und Tschernobyl, die bis jetzt jeweils 300 Milliarden Euro betragen. Was sind dagegen die Kosten, die jetzt für den Sonderausschuss auf uns zukämen? Sie sind ein Klacks. Deswegen wünsche ich mir, dass es diesen Sonderausschuss gibt und wir hier schnellstmöglich zu einem überparteilichen Konsens kommen. Ich danke Ihnen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann kann man feststellen: Abgesehen von der Rede des Herrn Kollegen Gysi, der alles weiß, alles schon durchdacht und im Voraus bestimmt hat, war es eine sehr interessante Debatte, weil alle Fraktionen deutlich gemacht haben, dass die Energiepolitik kein ausschließliches Thema von Schwarz, Rot, Grün, Weiß oder Gelb, sondern ein hochkomplexes Thema ist, in das sehr viele Fachpolitiken hineinspielen. Wir stehen vor komplizierten Herausforderungen. Das Problem ist, dass erst die Koalition im letzten Herbst überhaupt ein Energiekonzept vorgelegt hat. RotGrün hat jahrelang einen Energiedialog geführt. Es wurden Berge von Studien verfasst, aber das Ergebnis war null. Wir haben als CDU/CSU-FDP-Koalition erstmalig ein Konzept vorgelegt. ({0}) Daran kann man zwar Kritik üben - das mag schon sein; es war schließlich das Konzept der Koalition -, aber wir haben immerhin ein Konzept vorgelegt. Jetzt kommen Fragen auf: Muss dieses Energiekonzept jetzt weg? Müssen wir völlig neu diskutieren? Meine Antwort darauf ist: Nein, das Konzept muss nicht weg. Ein Mitglied der Ethikkommission hat uns letzte Woche mit auf den Weg gegeben, dass man in der Diskussion bestehende Risiken nicht durch neue Risiken ersetzen soll.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie das Risiko einer Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter eingehen?

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Moment nicht. - Wenn man in Zeiten des Aktionismus und der Hysterie Entscheidungen trifft, ist die Gefahr groß, dass sie sich letzten Endes als Risiko herausstellen. ({0}) Herr Kollege Dr. Miersch, Sie haben gesagt, dass wir ein Moratorium verkünden und aufhören, zu denken. Das ist ja wohl der größte Hohn. Das Moratorium ist gerade deswegen in Kraft gesetzt worden, um nachzudenken, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und uns zu fragen, wo die Stellschrauben sind und was wir tun müssen, um auch gesellschaftlich voranzukommen. ({1}) Ich denke, wir haben jetzt eine einmalige Chance. Auch das hat sich deutlich gezeigt. Sie waren früher einer der strengen Kritiker der Koalition, Frau Höhn. Aber ich habe aus Ihren Worten deutlich gehört, dass auch bei den Grünen das Nachdenken darüber angefangen hat, wie eine zukünftige Energiepolitik aussehen kann. ({2}) Denn Sie wissen selbst ganz genau, Frau Höhn: Es ist eben nicht mit einem „Raus aus der Atomenergie, rein in die Regenerativen, und die Welt ist heil“ getan. ({3}) Denn die Probleme, die wir jetzt zu bearbeiten haben - dazu kommen wir noch -, sind viel schwerwiegender. Deutschland ist keine Insel der Glückseligen. Wir müssen darauf achten, dass wir mit den Korrekturen am Energiekonzept auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben. Es nützt uns nichts, wenn wir die sauberste Luft, das grünste Gras und den teuersten Strom, aber keine Arbeitsplätze mehr haben. ({4}) Das alles unter einen Hut zu kriegen, ist, wie Sie wissen, nicht eine Sache von einer Woche; es geht vielmehr um die Frage, wie man jetzt in der Gesellschaft den Konsens über den richtigen Weg herbeiführen kann. Es geht ganz entscheidend um die Kosten der künftigen Energieversorgung. Man kann darüber streiten. Ich bin gegen Zahlenspiele. Ob 0,5 Cent, 0,1 Cent, 0,8 Cent oder 2 Cent: Keiner weiß genau, was die Stromversorgung in Deutschland in drei, fünf oder zehn Jahren kosten wird. Eines steht fest: Es wird nicht billiger. Das Konzept der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion sah den schnelleren und starken Einstieg in die Welt der erneuerbaren Energien vor. ({5}) Aber was hat sich denn zum Beispiel im Bereich der Offshorewinderzeugung gezeigt? Es gab technische Probleme, finanzielle Probleme und Akzeptanzprobleme. Sie wissen genau, dass es nicht darum geht, heute einen Beschluss zu fassen, den man morgen realisiert, und in drei Tagen ist die Welt wieder heil. Heute früh wurde im Deutschlandfunk eine Reportage über Windkraft gesendet. Es ging darum, dass sich die Bevölkerung im Raum Bremen massiv gegen Windkraft ausgesprochen hat, weil sie ihre Lebensqualität bedroht. Sie wissen also ganz genau, dass es diese Probleme vor Ort gibt. Kommen wir zum Planungsrecht. Ja, wir müssen das Planungsrecht ändern. Ich erinnere an die Diskussion über das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Das gab es in einer leicht lesbaren, dünnen Version für den Aufbau Ost. Dann wollten wir dieses Gesetz - das war Konsens - auf Gesamtdeutschland anwenden, um Infrastrukturinvestitionen zu beschleunigen. Was dabei herausgekommen ist, wissen Sie selbst. So sieht die Wahrheit aus, und die Wahrheit ist immer konkret. Das betrifft auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sie wissen ganz genau: Wenn wir noch stärker in den Ausbau der regenerativen Energien einsteigen, dann müssen wir auch die Mechanismen des EEG überdenken. Nicht umsonst haben Italien, Frankreich und Spanien - Spanien schon vor einem Jahr - das EEG gestoppt. ({6}) Diese Dinge müssen diskutiert werden. ({7}) Der schnelle Ausbau der Stromnetze ist schon diskutiert worden. Es ist nicht so einfach, heute in Deutschland Stromleitungen zu verlegen. Es geht nicht um 3 000 oder 3 500 Kilometer Stromleitungen, sondern es wäre gut, wenn wir wenigstens 1 000 Kilometer verlegt hätten. ({8}) Die Fragen, die sich uns stellen, sind wirklich schwer zu beantworten. Ich will noch ein Thema anschneiden: Smart Grids, also intelligente Stromnetze. Auch Sie wissen, dass in Holland und Kalifornien die Einführung von intelligenten Stromzählern am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist. Wir dürfen also auch in diesen Fragen nicht ideologisch handeln und das einfach durchziehen, sondern wir müssen der Bevölkerung das Thema vermitteln. Dazu brauchen wir aber keinen Sonderausschuss. Der Sonderausschuss, den die SPD gerne möchte, soll 17 Abgeordnete als Mitglieder haben. Darin würden von den Grünen wahrscheinlich zwei Abgeordnete sitzen, sicher Frau Höhn und noch jemand. ({9}) Von den Linken würde wahrscheinlich Herr Gysi und noch jemand darin sitzen. Herr Gysi als oberschlauer Besserwisser würde sicherlich große Beiträge zu einem Energiekonzept beisteuern. Daran können Sie doch schon sehen, dass Sie mit diesem Antrag die Diskussion auf einen kleinen Kreis von Abgeordneten verengen. Wir wollen genau das Gegenteil. ({10}) Wir wollen die Diskussion auf einer breiten Grundlage führen. Es sollen nicht nur Wirtschaftspolitiker und Umweltpolitiker die Energiepolitik gestalten; denn das ist ein Querschnittsthema. Deswegen ist aus unserer Sicht dieser Spezialausschuss nicht geeignet. ({11}) - Herr Hempelmann, ich kenne Ihre Überlegungen dazu. Ich frage Sie: Wie kann man ins Gespräch kommen und zu einem Konsens gelangen? Wir sind da nicht so weit auseinander. Ich habe aber noch nie gehört, dass die SPD zu anderen Themen einen Sonderausschuss wollte. ({12}) Wir sind der Auffassung, dass wir keinen Sonderausschuss brauchen. Wir brauchen vielmehr eine breite Diskussion hier im Hause und in der Öffentlichkeit. Deswegen werden wir den SPD-Antrag in die Ausschüsse überweisen. Dort können wir uns darüber unterhalten, ob es vielleicht andere Ideen gibt, wie man eine konsensorientierte Energiepolitik betreiben kann. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/5473 und 17/5481 an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen - Drucksache 17/4979 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 17/5519 Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5520 Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Johannes Kahrs Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Stephan Kühn Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu diesem Punkt zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer das Wort. ({2})

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen soll die Autobahnmaut für schwere Lkw auch auf Teile der Bundesstraßen ausgedehnt werden. Bei diesen handelt es sich um Straßen, die sich durch ihren autobahnähnlichen Ausbauzustand auszeichnen. Wichtig ist der Hinweis, dass nur das mautpflichtige Straßennetz erweitert werden soll. Alle anderen Merkmale wie Mautsätze oder Bemautung nur von Lkw ab 12 Tonnen bleiben unverändert. Es findet also keine Mauterhöhung statt, sondern das zu bemautende Netz wird einfach erweitert. Zu diesem Gesetz hat in der letzten Woche eine Anhörung stattgefunden. Die von den eingeladenen sechs Verbänden vorgetragenen Stellungnahmen lassen sich zu drei wesentlichen Punkten zusammenfassen. Ich möchte in diesem Zusammenhang hervorheben, dass wir im Verkehrsausschuss sehr sachorientiert diskutiert haben. Stellvertretend möchte ich dem Vorsitzenden dafür herzlich danken. Die Anhörung bot Raum für den breiten Dialog mit den Verbänden. Einige Verbände wünschen sich eine Ausdehnung der Maut, zumindest auf das gesamte Bundesstraßennetz. Die Verbände des Straßengüterkraftverkehrs befürchten eine zusätzliche Belastung ihrer Mitglieder, und mehrere Verbände gaben zu bedenken, dass sich die Ausdehnung der Maut auf Bundesstraßen nicht rechnen würden; sie stellen die Systemkosten der Mauterhebung zur Diskussion. Dazu folgende Anmerkungen: Ziel des Gesetzes ist es, die Bundesstraßenabschnitte zu bemauten, die autobahnähnlich ausgebaut sind, aber wegen einiger fehlender rechtlicher und technischer Voraussetzungen nicht zu einer Autobahn aufgestuft werden können. Zudem sollen die autobahnähnlichen Bundesstraßen an die Autobahnen angebunden sein, also einen räumlichen Bezug zur Autobahn aufweisen. Eine Bemautung aller Bundesstra12216 ßen war und ist gegenwärtig nicht beabsichtigt. Dazu gibt es auch verschiedene Meinungen im Fachgremium, dem Verkehrsausschuss. Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion und der Grünen gehen insofern noch einen Schritt weiter - aber das werden wir in dieser Debatte noch hören -, als sie das ganze Bundesfernstraßensystem bemauten wollen. Gemäß dem Ziel des Gesetzes waren nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf rund 2 000 Kilometer Bundesstraße zusätzlich zur Bemautung vorgesehen. Sie waren gesetzlich definiert als mindestens vierstreifige Bundesstraßen in der Baulast des Bundes mit unmittelbarer und mittelbarer Anbindung an die Autobahn. Entsprechend dem Wunsch der Bundesländer und auf Antrag der Koalitionsfraktionen werden zusätzliche Kriterien aufgenommen, nämlich Bemautung erst bei einer Mindestlänge von 4 Kilometern, Bemautung nur von Bundesstraßen mit einer durchgehenden baulichen Richtungstrennung und keine Bemautung innerorts. Auch sollen die mittelbar an die Autobahn angebundenen Strecken nicht mehr bemautet werden. Damit wird auch das Problem des derzeit reduzierten Speicherplatzes der Geräte gelöst. Somit gehen wir im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auch auf die Belange des mittelständischen Transportgewerbes ein. Mit diesen zusätzlichen Kriterien und der Streichung des mittelbaren Streckenbezugs stehen nunmehr anstelle von rund 2 000 Kilometern Bundesstraße nur noch 1 000 Kilometer zur Bemautung an. Damit wären wir beim Thema, ob sich das rechnet. Kollege Hofreiter hat dazu mehrere Fragen an die Experten gestellt. Zunächst einmal verbietet uns das Haushaltsrecht, unwirtschaftliche Projekte zu realisieren. Unsere Projekte sind wirtschaftlich gerechnet. ({0}) Das Projekt Maut auf Bundesstraßen und das Gesetzgebungsverfahren beruhen auf einer pflichtgemäßen Abschätzung von Einnahmen und Ausgaben. Hierzu sind die Erfahrungswerte aus der uns bekannten Kostenkalkulation von Mautbetreibern und die Einschätzung der mautpflichtigen Fahrleistungen durch einen Gutachter herangezogen worden. Danach ergibt sich, dass das Projekt auch nach aktuellem Stand wirtschaftlich ist. Was ich gesagt habe, lässt sich trotz des Lachens der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion definitiv nicht entkräften. Wir haben wirtschaftlich gerechnet. Dies ist auch dann richtig, wenn der Kollege Pronold über diese Aussage lächelt. ({1}) Gemäß ersten gutachterlichen Einschätzungen wird mit 1,288 Milliarden mautpflichtigen Fahrzeugkilometern bei einer Streckenlänge von ursprünglich 2 187 Kilometern gerechnet. Auch bei Reduzierung des ursprünglichen Streckennetzes um 50 Prozent können somit bei einem derzeit kalkulierten durchschnittlichen Mautsatz von 17 Cent pro Kilometer die in der mittelfristigen Finanzplanung ausgewiesenen Mehreinnahmen von 100 Millionen Euro erreicht werden. Noch ein Wort zu den Systemkosten - auch hierzu hat der Kollege Hofreiter nachgefragt -: Wir haben mit dem bestehenden Netz die Erfahrung gemacht, dass die Systemkosten bei etwa 12,5 Prozent liegen. Das wird bei den Bundesstraßen nicht anders sein. Damit ist die diesbezügliche Kritik entkräftet. Vor allem ist die Zuverlässigkeit des Toll-CollectSystems hervorzuheben; darüber wird medial sehr diskutiert. Ich möchte hier noch einmal hervorheben, dass unser System die dichteste Abdeckung aller Mautsysteme hat und mit am wenigsten Kosten verursacht. Das heißt, andere Mautsysteme verursachen bedeutend höhere Kosten. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir ein Interesse daran haben, dieses System weltweit zu vertreiben. Zur Zuverlässigkeit und Zulässigkeit der Vergabe haben wir ein externes Gutachten erstellen lassen. Der entsprechende Einwand ist im Fachausschuss diskutiert worden; ihm wurde Rechnung getragen. Wir haben also alles sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich geprüft. Hinzu kommt, dass das mittelständische Gewerbe die Möglichkeit hatte, Hinweise zu den Geräten vorzubringen. Auch das wurde berücksichtigt. Ich glaube, dieses System ist ausgewogen. Wir können somit den Einstieg in den Finanzierungskreislauf Straße vollziehen. Wir, das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, haben sämtliche Schattierungen dieses Systems getestet. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass wir die Ausdehnung auf 1 000 Kilometer verantworten können. Ich bedanke mich noch einmal für die konstruktive Diskussion. Mein Dank gilt auch den Experten, die uns bei der Anhörung mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Vielen herzlichen Dank für die parlamentarische Beratung. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Uwe Beckmeyer hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was im ersten Teil der Rede des Staatssekretärs gesagt wurde, war richtig: Wir haben uns im Ausschuss darüber unterhalten. ({0}) Aber Murks bleibt Murks. Das zu sagen, kann ich Ihnen nicht ersparen. Der Gesetzentwurf der Merkel-Regierung stammt vom 2. März 2011. Verantwortlich dafür ist das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Er ist uns mit einem Zuleitungsschreiben der Kanzlerin übersandt worden. Der Änderungsantrag der Koalition stammt vom 22. März 2011; er wurde also knapp drei Wochen später eingebracht. Durch ihn ist einiges verändert worden. Die Frage ist: Warum musste eigentlich einiges verändert werden? Haben Sie schlecht gearbeitet? Das, was abgeliefert worden ist, war also nicht so gut. Wenn man sich anschaut, was uns die Sachverständigen in ihren Stellungnahmen vermittelt haben, wird man feststellen: Überall ist deutliche Kritik geäußert worden. Wenn Sie schon der SPD-Fraktion nicht trauen, weil ihre Mitglieder einer anderen Partei angehören, dann trauen Sie doch bitte schön den Experten der Verbände und Gremien, in denen auch Ihre Parteikollegen Verantwortung tragen. Der Deutsche Städtetag zum Beispiel sagt, das, was vorgeschlagen wird, sei nicht zielführend. Er befürchtet eine Verdrängung. Ich zitiere Ihnen das alles ausweislich der entsprechenden Vorlage. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag rechnen mit Mautausweichverkehren und vielem mehr. Ich kann Ihnen all die Kritik zu Ihrem Entwurf eines Mautgesetzes vorlesen, die in diesen Stellungnahmen angeführt wird. ({1}) Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag mahnt die VIFG an. Außerdem sagt er: Durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs würde das Ziel, die Transportbranche zu entlasten, konterkariert. Er sagt auch, dass innerhalb dieses Gesetzentwurfes eine offene Vergabefrage enthalten ist, und erstellt eine bemerkenswerte Berechnung hinsichtlich der Systemkosten. Mittels der alten Rechnung auf der Grundlage von 2 000 Kilometern kommt er zu entsprechenden Mauteinnahmen und führt aus, dass sie pro Kilometer deutlich geringer ausfallen werden als auf Bundesautobahnen. Er vergleicht dann den entsprechenden Systemaufwand und kommt nicht nur auf 8,5 Millionen Euro an Vollzugskosten für das BAG, sondern auf weitere 24,3 Millionen Euro an Kosten, und das alles bei Einnahmen in Höhe von 100 Millionen Euro. Wollen Sie das wirklich verantworten? Mein nächster Punkt betrifft den BGL. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung, der eine entsprechende Position hat, fragt im Hinblick auf die Aufstellung, ob es ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Aufwand für Betrieb und Kontrolle und dem Ertrag gebe. Er fragt ferner, ob der Gesetzentwurf in dieser Weise gerechtfertigt sei. In der Stellungnahme des DSLV - die einzelnen Punkte kann man unter den Spiegelstrichen auf Seite 2 nachlesen - kommt auffällig oft das Wort „begrüßt“ vor. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass hier einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihre Änderungen bzw. einen zweiten Gesetzentwurf verfasst haben. ({2}) Der DSLV kommt in seiner Stellungnahme des Weiteren zu dem Ergebnis, dass der Gesetzentwurf keinerlei Aussagen über die zu erwartenden Systemkosten bei der Übertragung der Mauterhebung auf einen externen Dienstleister beinhaltet. Diese Systemkosten sollen aus unserer Sicht im Vorfeld ermittelt und bekanntgegeben werden, so heißt es, damit eine verlässliche Nutzen-Kosten-Aufstellung erstellt werden kann. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand haben wir erhebliche Zweifel, dass Aufwendungen und Einnahmen zur Bemautung auf vierund mehrspurigen Bundesstraßen in einem vernünftigen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen. Zum Bundesrat: Der federführende Ausschuss, der Verkehrsausschuss, und der Ausschuss für innere Angelegenheiten wünschen sich eindeutigere Kriterien hinsichtlich der bemauteten Bundesstraßen. Sie fordern zweckmäßigerweise die Einführung einer Rechtsverordnung mit der Zustimmung des Bundesrates. Sonst wäre bei jeder Veränderung des Streckennetzes immer ein Gesetzentwurf notwendig. ({3}) Der federführende Verkehrsausschuss sagt auch deut- lich, dass er sich gegen eine Zweckbindung der Mautein- nahmen nur für Bundesfernstraßen wendet. All das zeigt, dass von Ihnen aus unserer Sicht keine verlässliche und verantwortungsbewusste Politik ge- macht wird. Denn auf der einen Seite - das ist die Be- gründung - entsteht durch die entsprechende Aufhebung der Zweckbindungen in Bezug auf die Bundesfernstra- ßen eine sichere Grundlage. Auf der anderen Seite kommt es aber zur Zuweisung in die Haushaltszwänge des Bundes. Das kann man zwar so fortsetzen. Ich sage aber: Das, was Sie uns heute öffentlich vortragen, ist die Empfehlung eines Gesetzentwurfes, der große Mängel aufweist. Ich habe bereits im Ausschuss dazu gesagt, dass dieser Gesetzentwurf nicht ausgegoren und nicht beschlussfähig ist. Ein Letztes: Wir haben am Mittwoch um 13.31 Uhr per Fax die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD- Bundestagsfraktion bekommen, und zwar nach der Aus- schusssitzung. Das wurde schön getimt, damit wir diese Vorlage nicht auch schon während der Ausschusssitzung zur Beratung heranziehen konnten. Unsere Frage lautete: Auf welche rechtlichen Regelungen des deutschen und europäischen Vergaberechts bezieht sich die in der Öf- fentlichkeit zitierte Aussage der Bundesregierung, dass bei der Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bun- desstraßen keine Ausschreibung erfolgen muss und eine Direktvergabe der Erhebung der Lkw-Maut an ein Un- ternehmen möglich ist? Die Antwort lautet folgendermaßen: Die zitierte Aussage zur Zulässigkeit eines Ver- handlungsverfahrens ohne vorherigen Teilnahme- wettbewerb mit der Möglichkeit der Direktvergabe eines Auftrages zu Errichtung und Betrieb eines Systems zur Erhebung streckenbezogener Lkw- Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen be- zieht sich auf § 3 Abs. 4 Buchstabe c) EG VOL/A ({4}). Diese Norm setzt Art. 31 Nr. 1 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/18/EG vom 31.03.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge um. Wunderbar, denkt man, alles geregelt. Dann liest man aber in der Vorlage: Die Auftraggeber können Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben: … Dann kommen a, b, c usw.; c trifft wahrscheinlich genau auf Ihren Fall zu: wenn der Auftrag wegen seiner technischen oder künstlerischen Besonderheiten oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten ({5}) nur von einem bestimmten Unternehmen durchgeführt werden kann; Dazu gibt es entsprechende Rechtsprechungen in der Bundesrepublik Deutschland und der EU. Wenn man sich diese anschaut, wird man feststellen, dass Sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen, lieber Herr Staatssekretär. Voraussetzung für die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ist nicht nur, dass ein Ausschließlichkeitsrecht besteht; die Norm fordert zudem einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand und zusätzlich, dass aufgrund des Ausschließlichkeitsrechtes nur ein einziges Unternehmen in der gesamten EU den fraglichen Auftrag durchführen kann. Es geht weiter: Die bloße Behauptung, mit der fraglichen Lieferung habe nur ein bestimmter Lieferant beauftragt werden können, weil der auf nationaler Ebene vorhandene Wettbewerber kein Erzeugnis angeboten habe, das den notwendigen technischen Anforderungen entsprochen habe, kann nicht für den Nachweis genügen, dass die außergewöhnlichen Umstände … tatsächlich vorlagen. Was das angeht, kann ich nur sagen: Gute Nacht! Denn sobald irgendjemand in dieser Frage auch nur den Hauch einer Chance wittert, ist er vor Gericht, und dann haben Sie den Salat. ({6}) Ein letzter Punkt, Herr Präsident. Die Antwort auf unsere Frage 3 ist ziemlich verräterisch. Wir fragen nämlich, mit welcher rechtlichen Begründung die Bundesregierung die Bedenken des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie hinsichtlich der Frage, ob eine Direktvergabe möglich ist, fallengelassen hat. Darauf wird geantwortet: Das federführende Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist nach Prüfung der rechtlichen Fragen zu dem Ergebnis gekommen, dass das so ist. - Das heißt im Grunde, die anderen Ressorts haben heftigste Bedenken dagegen, aber das federführende Ressort ist anderer Meinung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Und ich habe heftige Bedenken, dass Sie weiterreden. Die Redezeit ist deutlich überschritten.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich sage an dieser Stelle: Murks bleibt Murks, und dieses Gesetz ist kein gutes Gesetz. Wir Sozialdemokraten werden es ablehnen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser wegweisenden Rede ist ja wenigstens klar, was die Sozialdemokraten wollen; das hat das deutsche Volk jetzt verstanden, lieber Kollege Beckmeyer. ({0}) Es ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten, wenn man, nachdem die rot-grüne Regierung uns diesen TollCollect-Vertrag hinterlassen hat, jetzt den Eindruck erweckt, wir wären in der rechtlichen Auslegung frei. ({1}) Dieser Vertrag, über den du, lieber Uwe, dich hier minutenlang ausgelassen hast, ist von einer rot-grünen Regierung geschlossen worden. Der Vertrag hat dem jetzigen Betreiber mehrfache umfangreiche Ausschließlichkeitsrechte eingeräumt. Der Bundesregierung und dieser Koalition jetzt vorzuwerfen, dass sie diese Ausschließlichkeitsrechte nicht wegverhandeln können, sondern damit leben müssen, ist wirklich bemerkenswert. ({2}) An dem zu dieser Frage gefertigten Gutachten gibt es keinen Zweifel: Man kann wegen der vorhandenen Ausschließlichkeitsrechte des Betreibers nicht ausschreiben. Das ist in einem 31-seitigen Rechtsgutachten zweifelsfrei geklärt. Das ist die Grundlage, auf der wir dieses Gesetz machen. ({3}) Es ist auch ein bemerkenswertes Parlamentsverständnis, lieber Kollege, wenn Sie darauf hinweisen, dass die Koalitionsfraktionen Änderungen hätten vornehmen müssen, um einen besseren Gesetzentwurf hinzubekommen. Das ist die Aufgabe des Parlaments. Es ist unsere Aufgabe, die Gesetze, die von der Regierung kommen, besser zu machen. ({4}) Deswegen braucht man hier nicht den Eindruck zu erwecken, das sei fehlerhaft. Wir haben mit der klaren Definition jedenfalls dafür gesorgt, dass die Einwände des Bundesrates ausgeräumt werden konnten. Denn die Stellungnahme des Bundesrats - auch das muss man den Zuhörern einmal sagen ist ja zu dem noch nicht geänderten Gesetzentwurf erfolgt. Es war ein Webfehler, dass diesem Gesetz eine lange Liste von zu bemautenden Bundesstraßenabschnitten angehängt werden sollte. Solche Gesetze will die christlich-liberale Koalition dem Parlament nicht vorlegen. Darum haben wir auf diese lange Liste verzichtet. Der Bundesrat hat keinen Grund, sich jetzt zu beschweren; denn wir haben eine klare Norm gefunden, mit der geregelt wird, welche Strecken bemautet werden und welche nicht, ohne dass wir komplizierte und lange Listen an das Gesetz anhängen müssen. Auch das ist die Aufgabe des Parlaments. Da haben wir richtig gehandelt. ({5}) Die Gemengelage hier im Haus - das darf man bei dem Thema einmal sagen - ist relativ einfach. Die Linken und die Grünen tendieren in der Verkehrspolitik Richtung Schwerverkehrsabgabe nach - ich sage es einmal so - Schweizer Modell. Das bedeutet eine Belastung von Fuhrunternehmen und Gewerbe weit über die derzeitige Lkw-Maut hinaus. Die Abgabe betrifft Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen Gewicht und soll für alle Bundesautobahnen und alle Bundesstraßen gelten. Das kann man politisch vertreten. Wir glauben aber, dass ein solches Modell für eine polyzentrische Struktur wie die in Deutschland mit viel Wirtschaftsgeschehen auch in der Fläche zu sehr viel größeren Schäden für die heimische Wirtschaft führt, als wir verantworten können. Deshalb ist ein solches System von uns nicht angedacht. ({6}) Die Sozialdemokraten allerdings haben in der letzten Ausschusssitzung gesagt, dass wir eine Infrastrukturkommission einrichten und darüber sprechen müssen, wie es weitergeht. ({7}) An dieser Stelle muss ich sagen: Die damalige rot-grüne Regierung mit einem sozialdemokratischen Verkehrsminister hat eine Kommission dieser Art schon einmal einberufen. Das war die Pällmann-Kommission. ({8}) Sie hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, das gerade anlässlich des zehnjährigen Jubiläums in zweiter Auflage erschienen ist und in unsere Büros verschickt wurde. Jeder kann also darin nachschauen. Von allen Maßnahmen, die in diesem Werk vorgeschlagen wurden, hat die damalige Regierung nur einen einzigen Punkt umgesetzt. Das war die Einführung der Lkw-Maut mit dem Vertrag, über dessen Schwächen der Kollege Beckmeyer, der daran beteiligt war, vorhin ausführlich referiert hat. ({9}) Man muss keine neuen Kommissionen bilden, sondern man muss einfach nur das beachten, was uns damals die Experten gesagt haben, und das Punkt für Punkt politisch bewerten und abarbeiten. Das ist die Aufgabe eines Parlaments. Wenn man so vorgeht, nimmt man eine Kommission auch ernst. ({10}) Es geht aber nicht - darin liegt der Unterschied -, dass man in Deutschland benutzerfinanzierte Systeme für Bundesautobahnen in Deutschland einführt, diese sinnvollerweise auf vierstreifige Bundesstraßen, die unmittelbar an Autobahnen anschließen, erweitert, aber die Einnahmen nicht für Straßeninfrastrukturmaßnahmen, sondern für irgendetwas anderes verwendet. Deshalb hat die Koalition richtigerweise den geschlossenen Finanzierungskreislauf Straße eingerichtet. Damit finanzieren die Nutzer das, was sie benutzen. So kommt Ehrlichkeit, Transparenz und Zuverlässigkeit in das System. Diesen Webfehler von Rot-Grün zu beseitigen, war in der Tat richtig. ({11}) Wer sich hier und heute der Beteiligung an dieser sinnvollen und moderaten Erweiterung verweigert, der muss eine Antwort darauf geben, wie zum Beispiel das Thema Systemkosten - das ist der einzige Punkt, bei dem ich dem Herrn Staatssekretär widersprechen will; ({12}) die Kosten für dieses System sind im Vergleich zu den Kosten für alle anderen Systeme am höchsten - bei einer kommenden Ausschreibung behandelt werden soll. Diese politische Aufgabe werden wir dann wahrnehmen, wenn es so weit ist. Am Ende dieser Wahlperiode werden wir darüber sprechen, wie wir ausschreiben. Wir wollen die Belastung für das Gewerbe verringern und mehr Geld zur Verfügung haben, das wir in die Infrastruktur investieren können. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Florian Pronold hat nun das Wort für eine Kurzintervention.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Döring, ich war überrascht, wie viel Redezeit Sie auf die Vergangenheit verwendet haben, anstatt über Ihre eigenen Pläne zu reden. Sie sprechen davon, dass zu wenig Geld für die Finanzierung der Infrastruktur zur Verfügung steht. ({0}) Es war die schwarz-gelbe Koalition, die eine bereits beschlossene Mauterhöhung ausgesetzt und damit der Infrastruktur Geld entzogen hat. Jetzt gehen Sie einen zweiten Schritt, indem Sie sagen: Die vierspurigen Bundesstraßen beziehen wir mit ein. - Die Länge wurde zunächst mit 2 000 Kilometer veranschlagt. Jetzt kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eigentlich nur 1 000 Kilometer braucht. Sie wollen aber den gleichen Betrag einnehmen. Diese Milchmädchenrechnung wird nicht aufgehen. ({1}) - Gerne auch Milchbubenrechnung. Sie machen wieder einen Kniefall vor der Lkw-Lobby und präsentieren uns heute wieder den alten Vorschlag. ({2}) Stattdessen wollen Sie die Autofahrer abzocken: Sie haben heute wieder eine Pkw-Maut gefordert. ({3}) - Doch! Das kann man nachlesen. ({4}) - Ich beziehe mich auf die Agenturmeldungen; Sie können das ja richtigstellen. Sagen Sie doch, dass Sie dieses Ansinnen, das im schwarz-gelben Lager immer wieder zu hören ist, ablehnen. Auch Herr Scheuer hat das immer gefordert; seit er in Regierungsverantwortung ist, tut er das nicht mehr. Sagen Sie doch endlich, woher Sie das Geld nehmen wollen. Lügen Sie die Menschen nicht an, wie Sie es hier tun, indem Sie behaupten, dass Sie mit dem, was Sie hier vorlegen, einen sinnvollen Beitrag zur Finanzierung der Infrastruktur leisten! Mit dieser halbherzigen Lösung machen Sie nur eines: Sie generieren Mautausweichverkehr. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Döring, bitte.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, man soll sagen, was man denkt, wenn man denkt. Ich versuche wirklich noch einmal, es zu erläutern: Erstens. Unmittelbar an Bundesautobahnen angeschlossene vierstreifige Bundesstraßen können nicht zu Mautausweichverkehr führen, weil es keine Alternativstrecken in unmittelbarer Nähe gibt, die Kreis- und Landesstraßen wären. ({0}) Zweitens. Ich habe heute darauf hingewiesen - Sie müssen schon ein bisschen mehr lesen als zwei Zeilen einer Agenturmeldung -, dass wir bei der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung eben kein Einnahmeproblem haben, sondern der Verkehr mehr als 50 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt aufbringt. Deshalb müssen wir uns im Verteilungskampf der Ressorts um mehr Geld für die Infrastruktur bemühen. Eine Mehrbelastung der Autofahrer ist jedenfalls mit dieser Koalition nicht zu machen. Drittens. Ja, wir haben in einer konjunkturell schwierigen Lage die falsche Ausweitung der Spreizung der Mauthöhe für Fahrzeuge nach den Abgasnormen Euro 3 bzw. Euro 5 zurückgenommen, um dem mittelständischen Gewerbe in einer der größten wirtschaftlichen Krisen dieses Landes keine zusätzlichen Steine in den Weg zu legen. ({1}) Wir von der Koalition haben dieses Gesetz geändert. Sie müssen einmal die Vorurteile, die Sie im Kopf haben, beiseiteräumen. Ich habe gerade gesagt, dass wir das nicht tun, um irgendjemandem irgendwie entgegenzukommen, sondern um ein klar anwendbares Gesetz mit klaren Definitionen und ohne seitenlange Aufzählungen von Straßenabschnitten zu schaffen, ein Gesetz, das klar und deutlich definiert, was bemautet wird. Es ging um ein gutes Gesetz, nicht darum, wer mehr oder weniger zahlt; wir wollten die Erweiterung sachlogisch vornehmen. Für uns war folgende Eingrenzung sachlogisch: vierstreifige Bundesstraßen, die unmittelbar an Autobahnen anschließen und länger als 4 Kilometer sind. Das kann jeder definieren; dafür braucht man keinen Bundesrat und keine Verwaltung. Unser Ziel war eine gute Gesetzgebung, so wie es die Aufgabe des Parlaments ist. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Hier wird viel Lärm gemacht; aber wenn man auf den Gesetzestext schaut, dann weiß man: Es ist viel Lärm um nichts. Vor vier Wochen wurde hier angekündigt, dass möglicherweise 2 000 Kilometer Bundesstraße bemautet werden sollen. Heute haben wir festgestellt, dass 1 000 Kilometer übrig geHerbert Behrens blieben sind. Gut, dass wir heute und nicht erst in vier Wochen darüber abstimmen; dann wären wohl nur noch 500 Kilometer übrig geblieben und es hätte nichts gebracht. ({0}) Die Regierung hat uns wortreich erklärt, warum all das nicht geht, was eigentlich notwendig wäre. Sie legen uns hier einen Gesetzentwurf vor, der finanziell kaum etwas bringt; er bringt schon gar nichts für die vielen Menschen, die von Mautausweichverkehr geplagt sind. Während die Mauteinnahmen früher auf Straße, Schiene und Wasserwege verteilt worden sind, führen Sie heute ein System zur reinen Straßenfinanzierung ein. Im Klartext: Sie verwenden die zusätzlichen Mauteinnahmen ausschließlich für das System Straße. Das ist falsch. ({1}) Die hier schon zitierten Experten aus der Anhörung, nämlich die Vertreter des Automobilclubs Europa, ACE, und des Verkehrsclubs Deutschland, haben darauf hingewiesen, dass diese Einschränkung nicht in Ordnung ist; dem schließen wir uns an. ({2}) Ich bleibe dabei: Die Maut für schwere Lkw muss nicht auf ein paar wenige Bundesstraßen, sondern auf alle Bundesstraßen ausgeweitet werden. Dies fordern auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag; Kollege Beckmeyer hat darauf hingewiesen. Die kommunalen Spitzenverbände - auch das haben wir schon gehört; ich betone es, weil es so bedeutsam ist und für uns in der Anhörung überraschend war - fordern, dass das bemautete Straßennetz umfassend ausgeweitet wird. Schließlich nutzten die schweren Lkw auch die Straßen ab, die nicht in der Nähe der Autobahnen liegen. Wenn Sie schon Experten zu einer Anhörung einladen, dann sollten Sie, bitte schön, die Ergebnisse heranziehen und die Gesetzesvorlagen entsprechend verändern. ({3}) So geht es nicht. Wieder einmal sehen wir: Das ist Klientelpolitik, das ist keine Verkehrspolitik. Dabei ist eine verantwortungsvolle Verkehrspolitik dringend erforderlich. Lärm an den Straßen - wir haben gestern darüber diskutiert -, Staus auf den Autobahnen, aber auch Klimakiller aus den Auspuffrohren der Brummis - alles das macht den Menschen schwer zu schaffen. Ich erinnere Sie daran: Die Lkw-Maut ist eingeführt worden, weil der Güterverkehr auf der Straße große Schäden anrichtet und er daher zur Deckung der Kosten herangezogen werden sollte. Die Maut sollte außerdem helfen, dass Dreckschleudern von den Straßen verschwinden und der Verkehr ökologischer wird. Das Aussetzen der vereinbarten Mauterhöhung für umweltschädliche Lkw hat dazu geführt, dass der Verkehr eben nicht ökologischer geworden ist. Auch da haben Sie auf die Spediteure und das, was ihnen gefällt oder nicht gefällt, gehört. Diese Art der Klientelpolitik führt zu solch schwachen Gesetzesvorlagen, wie wir sie heute vorliegen haben. Das ist ein Armutszeugnis und sonst nichts. ({4}) Die Linke hat Ihnen ganz konkrete Vorschläge für ein gutes Gesetz gemacht. Die Lkw-Maut ist notwendig für den sozial-ökologischen Umbau des Verkehrswesens. Deshalb fordern wir, dass schwere Lkw auf allen Bundesstraßen Maut zahlen müssen, nicht nur auf 2,5 Prozent der Strecken, wie Sie es jetzt vorhaben. Wir wollen auch, dass Lastwagen ab 7,5 Tonnen herangezogen werden und nicht erst ab 12 Tonnen. Schließlich müssen auch Länder und Kommunen Vorschläge machen dürfen, welche anderen Strecken einbezogen werden müssen, um typische Mautausweichstrecken zur Schadensbeseitigung heranzuziehen. Das würde gleich doppelt helfen: Sie hätten mehr Geld in der Kasse und weniger Lärm vor der Haustür. Die Bundesregierung sagt selbst, dass es diese Mautausweichverkehre auf circa 11 000 Kilometern gibt - natürlich nicht direkt an der Autobahn. Das wissen wir alle; dieses Hinweises hätte es nicht bedurft. Wir fordern, dass ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, der den Bürgern etwas bringt, der dafür sorgt, dass die schweren Lkw nicht mehr durch ihre Ortschaften brettern, und keinen Gesetzentwurf, der ausschließlich den Logistikunternehmen dient. Uns geht es um die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger und um eine Wende hin zu einer ökologischen Verkehrspolitik. Deshalb ist es notwendig, dass die Bundesregierung an einer vernünftigen Ausweitung der Maut für schwere Lkw arbeitet. Wir wollen gern daran mitwirken. Wenn Sie uns zugehört haben, haben Sie schon ausreichend Ansatzpunkte, wie man Gesetze besser machen kann. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Anton Hofreiter.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf ist, betrachtet man seine Genese - darauf ist schon hingewiesen worden -, schon amüsant zu lesen. Wir haben ursprünglich einmal mit 3 000 Kilometern angefangen; dann waren es 2 000 Kilometer. Jetzt sind wir bei 1 000 Kilometern. Und immer sind es 100 Millionen Euro Einnahmen geblieben. Dann ist noch gesagt worden, Sie hätten scharf und exakt nachgerechnet. ({0}) Wenn man scharf und exakt nachrechnet und es immer bei 100 Millionen Euro bleibt, stellt man sich schon die Frage: Warum beziehen Sie nicht einfach nur 500 Kilometer mit ein? Das würde vielleicht Systemkosten sparen, und wir blieben dennoch bei 100 Millionen Euro Einnahmen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das kann so einfach nicht stimmen. Entweder waren es früher, als Sie mehr Kilometer Bundesstraßen einbeziehen wollten, mehr Einnahmen, oder jetzt sind es keine 100 Millionen Euro. Es kann schlichtweg nicht stimmen. Letztlich ist der Grund auch bekannt, warum Sie sich mit 1 000 Kilometern begnügen. Der Grund ist ganz einfach der, dass die alten OBUs nicht mehr Speicherkapazität haben. Der Grund liegt nicht darin, dass Sie das Gesetz sauberer oder schöner machen wollten. Vielmehr verfügen die alten OBUs nicht über ausreichend Speicherkapazität. Die Aussage, dass man ein anderes System nicht zur Anwendung hätte bringen können, ist auch falsch. Denn wir haben ja zwei Systeme in der Anwendung: einerseits das satellitengestützte OBU-System und auf der anderen Seite das manuelle Einwahlsystem. Man hätte selbstverständlich ein anderes System mit entsprechend niedrigen Systemkosten zur Anwendung bringen können. Eines zumindest war in der Rede von Patrick Döring richtig, nämlich als er dem Staatssekretär bezüglich der 12 Prozent Systemkosten widersprochen hat. Selbstverständlich sind die Systemkosten höher. Das wissen auch alle. In die Systemkosten müssen nämlich zum Beispiel die Kosten des BAG für die Kontrolle und eine ganze Reihe weiterer Kosten eingerechnet werden. Was sind unsere Forderungen? Unsere Forderungen sind ganz einfach: In einer ersten Stufe ist die Maut auf alle Bundesstraßen auszuweiten. In einer weiteren Stufe ist die Maut auf alle Lkw ab 3,5 Tonnen auszuweiten. Was sind die Vorteile? Erstens. Wir haben weitaus mehr Geld. Zweitens. Es ist ein gerechtes, sauberes System. Drittens. Mit einem guten System, zum Beispiel mit Mikrowellentechnik, gelangt man bei extrem niedrigen Systemkosten zu wunderschönen Einnahmen. ({2}) Ein weiterer großer Fehler, den Sie begangen haben - allerdings nicht im vorliegenden Gesetzentwurf -, ist, dass Sie die Einnahmen ausschließlich für Straßenbau verwenden wollen. Für uns ist die Abgabe eine Logistikabgabe. Für einen Logistiker ist es entscheidend, dass er seine Waren verlässlich mit dem Schiff zum Hafen, dann mit der Eisenbahn und die letzte Meile mit dem Lkw zum Kunden bringt. Für ihn ist es nicht entscheidend, dass die Güter ausschließlich auf der Straße oder ausschließlich auf der Schiene transportiert werden. Vielmehr ist es für unsere Wirtschaft, für unsere Logistiker und für unseren Wohlstand entscheidend, dass wir vernünftige Transportketten organisieren, dass wir die Rahmenbedingungen für vernünftige Transportketten abstecken. Zu einer vernünftigen Transportkette gehört ein vernünftiges intermodales Angebot: Schiff, Eisenbahn, Straße und Umschlagterminals. ({3}) Deshalb müssen die Einnahmen aus dieser Logistikabgabe vernünftig investiert werden: in die Transportketten bzw. die Infrastruktur für die Transportketten. Das haben Sie zerschlagen. Sie nehmen eine sektorale Betrachtung vor. Damit wird eine der entscheidenden Voraussetzungen für unseren Wohlstand, nämlich eine vernünftige Transportinfrastruktur, nicht genutzt. Ich rufe Sie auf: Kehren Sie um! Folgen Sie unseren Vorschlägen: Ausweitung der Maut auf alle Bundesstraßen und Verwendung der Einnahmen aus der Logistikabgabe für eine integrierte Verkehrspolitik. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in dieser Debatte ist Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Debatte, in der zumindest einige Unterschiede deutlich werden. Kollege Hofreiter hat uns gerade erklärt - den Widerspruch müsste er einmal auflösen -, dass die On-Board-Units nicht in der Lage wären, mehr als diese 1 000 Kilometer abzubilden. Gleichzeitig fordert er, dass wir die Lkw-Maut auf das gesamte Streckennetz ausdehnen müssen. Wie das zusammengehen soll, ist mir unklar. Entweder stimmt die eine Aussage nicht oder die andere. ({0}) Was wir heute als Regierung vorlegen müssen, unterscheidet sich von dem, was Sie tun müssen. ({1}) - Ja, wir sind die regierungstragende Koalition. Das ist sehr spitzfindig bemerkt. - Was wir tun müssen, das muss auch funktionieren. Der Vorschlag, 1 000 Kilometer Bundesstraßen in die Mautpflicht mit einzubeziehen, der heute beraten wird, wird funktionieren. Wir können sie mit dem System und den vorhandenen Software- und Speicherkapazitäten abbilden. Sie wissen genau, wie die Situation ist. Durch eine Umprogrammierung der Software kann man eine Erweiterung der Streckenkilometer aufnehmen. Das können wir vielleicht im nächsten Jahr, aber nicht jetzt. Deshalb ist es ein Zeichen von Klugheit, wenn man sich im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens daran orientiert, was technisch überhaupt möglich ist. Deshalb hat sich die Zahl von 2 000 auf 1 000 Kilometer reduziert. Sie fragen, wie es sein kann, dass wir trotzdem mit 100 Millionen Euro Einnahmen rechnen; das war verschiedentlich die Frage. Es ist die Logik des ehrlichen Kaufmanns: Man arbeitet nach dem Niederstwertprinzip - es ist im HGB festgelegt -, was bedeutet, dass man erst einmal Vorsicht walten lässt, ({2}) solange man noch keine Verträge abgeschlossen hat. An dieser Stelle können Sie nachrechnen - ({3}) - Bitte, fragen Sie, Herr Kollege Pronold! ({4}) - Wollen Sie etwas fragen, oder nicht? Dann stehen Sie auf und drücken auf den Knopf! ({5}) - Sie trauen sich nicht zu fragen. Das ist interessant. ({6}) Wir nehmen zur Kenntnis: Kollege Pronold traut sich nicht zu fragen. 26 Milliarden Mautkilometer führten zuletzt zu knapp 5 Milliarden Euro Mauteinnahmen in einem Jahr. Wenn Sie die 1,3 Milliarden Mautkilometer aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf halbieren, dann kommen Sie auf 2,5 Prozent der Mautkilometer, die vorgesehen sind. Wenn Sie das auf die entsprechenden Einnahmen beziehen, kommen Sie auf Mehreinnahmen von 121 Millionen Euro. Insofern ist die Rechnung, die hier angestellt wurde, nicht ganz verkehrt. ({7}) - Natürlich ist das brutto. Davon können Sie die Systemkosten in Höhe von 12,5 Prozent abziehen und haben immer noch einen Sicherheitspuffer. ({8}) Sie kommen so auf die entsprechenden Zahlen. Insofern ist das, was wir hier vorgelegt haben, sehr seriös. Herr Kollege Beckmeyer, Sie üben sich darin, auch in dieser Plenarsitzung Waldorf und Statler nachzueifern. Im Ergebnis ist es aber so, dass Sie keinen Vorschlag gemacht haben, wie Sie mit der Sache umgehen wollen. ({9}) Sie kritisieren die Vergabe an Toll Collect, sagen aber nicht, wie man das Ganze anders regeln kann. Der Kollege Döring hat eindrucksvoll dargestellt, dass alle Gesetze, die wir hier beachten müssen, damals von RotGrün verabschiedet worden sind. Sie können nicht europaweit ein neues Mautsystem für diese zusätzlichen Straßen ausschreiben. Und ganz ehrlich: Wer drei Jahre gebraucht hat, das bestehende System zu etablieren - der Spiegel hat im Jahr 2003 vom „Maut-Propheten Stolpe“ gesprochen; die Überschrift lautete „Chronologie der gebrochenen Versprechen“; das manager magazin hat 2003 vor der „Stolper-Gefahr“ gewarnt -, der sollte, glaube ich, kleinere Brötchen backen. Derjenige sollte ein bisschen bescheidener sein und nicht so harsch über das urteilen, was wir hier tun. ({10}) Grüne und Linke sind in dem, was sie tun, wenigstens ehrlich. Sie wollen die Maut ausweiten auf alle Strecken. Das ist in Ordnung, wenngleich es derzeit technisch nicht möglich ist. Die Linkspartei - Herr Behrens, Sie gehen noch einen Schritt weiter - will sogar eine Maut für den Linienfernbusverkehr einführen, obwohl das noch gar nicht zugelassen ist. Das ist auf jeden Fall flott, so viel kann ich sagen. ({11}) Ich glaube aber, dass gerade die Linienfernbusse für die Menschen mit geringerem Einkommen ein sehr attraktiver Mobilitätsfaktor sein werden. Ob Sie diese direkt belasten mögen, müssen Sie Ihrer eigenen Klientel erst einmal erklären. Weiterhin haben Sie darauf hingewiesen, dass Sie es für falsch halten, dass wir die von Ihnen vorgesehenen Erhöhungen bei den Euro-3-Lkw zurückgenommen haben. Hier geht es um die kleinen Spediteure. Wir reden nicht über die großen Speditionen mit den großen Flotten, die permanent modernisieren, sondern über die kleinen Speditionen. Ich habe es bei der letzten Debatte schon einmal gesagt: Ein Drittel der Lkw sind Euro-3Lkw, die aber nur 16 Prozent der Streckenkilometer generieren. Das sind die Wenigfahrer unter den Lkw. Zumeist handelt es sich um kleinere Betriebe. Die kleinen Betriebe und der Mittelstand sind uns als Union wichtig, Ihnen offenbar nicht. ({12}) Am Ende der Debatte hat Herr Beckmeyer alles zusammengenommen. Es gab noch nie eine Anhörung, bei der es nur Lob gab; das habe ich noch nie erlebt. Sie haben in einer Sisyphusarbeit sämtliche Kritik zusammengetragen. ({13}) Zum Abschluss lese ich Ihnen noch vor, was Herr Stecker vom BGL gesagt hat - damit spricht er für viele Spediteure -: Nichtsdestotrotz haben wir uns öffentlich mit der Kritik an der Ausweitung der Maut auf die mehrstreifen Bundesstraßen zurückgehalten, weil wir zum einen die Zwänge angesichts der Sparbemühungen der Bundesregierung sahen, zum anderen aber auch den Finanzierungskreislauf Straße begrüßt haben und das für einen Schritt in die richtige Richtung halten und in diesem Zusammenhang auch jedem Transportunternehmen plausibler ist, Maut für diese Strecken zu bezahlen. Das ist Lob. ({14}) - Wenn Sie mittelständische Transportunternehmer als Lobby ansehen, dann können Sie sich gerne weiter mit den Großen unterhalten. Ich danke Ihnen vielmals. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5519, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4979 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 17/5531? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Agrarförderung in Deutschland und Europa geschlechtergerecht gestalten - Drucksache 17/5477 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Junge Frauen sehen in Dörfern und kleinen Städten immer öfter keine Perspektive mehr für sich; das wissen wir seit Jahren. Das hat auch politische Gründe: Es fehlt an existenzsichernder bezahlter Arbeit. Der Lohnabstand zu Männern ist hier noch größer als in Großstädten. Familie und Beruf sind noch schwieriger zu vereinbaren. Familiäre Betreuungs- und Versorgungswege zur Schule, zum Einkauf und zu den Ärzten werden immer länger, und sie müssen meistens von den Frauen übernommen werden. - Der Preis des Bleibens ist unter diesen Bedingungen oft mit dem Verzicht auf eigene Lebensperspektiven verbunden. Darum wandern junge Frauen in die Großstädte ab. Der Politik fehlt der Blickwinkel der Frauen. Gerade in Deutschland ist die Agrarpolitik männerdominiert, ebenso wie der Berufsstand und die Verbände. Das ist in der EU-27 nicht überall so. Zum Beispiel im Baltikum wird fast die Hälfte der Landwirtschaftsbetriebe von Frauen geleitet. In Deutschland sind das nicht einmal magere 10 Prozent, und wenn, dann sind das eher Betriebe in Ostdeutschland oder kleinere Betriebe. Ein Bauernverbandsfunktionär hat neulich in einer Veranstaltung der Linken gesagt: Für Gleichstellung sind bei uns die Landfrauen zuständig. - Nichts gegen Landfrauen - im Gegenteil, sie arbeiten sehr engagiert vor Ort -; aber wenn die Gleichstellung gelingen soll, müssen sich alle verantwortlich fühlen. ({0}) Deshalb sagt die Linke: Agrarpolitik muss endlich Frauen in alle Entscheidungen einbeziehen, und zwar nicht nur formal, sondern wirkungsvoll; denn Gleichstellung ist ein Grundrecht. Es geht nicht um eine großzügige Gewährung, sondern um einen Anspruch. Das ist mehr als die alte Leier von gleichen Bedingungen für alle. Die Bundesregierung antwortete auf eine Kleine Anfrage der Linken zur Agrarförderung, sie sei „geschlechtsDr. Kirsten Tackmann neutral“. Sie meint damit, sie sei nicht diskriminierend. Das zeigt aber nur eine gravierende Gleichstellungsinkompetenz; denn so werden ungleiche Verhältnisse nicht gerechter, sondern so werden sie zementiert. ({1}) Man darf deswegen nicht geschlechtsneutral fördern, sondern man muss geschlechtergerecht fördern. ({2}) Die Linke fordert: Die 58 Milliarden Euro im EUAgrarhaushalt für Agrarbetriebe und ländliche Räume müssen geschlechtergerecht verteilt werden. Wie das geht, steht in den 19 Forderungen unseres Antrags. Dabei geht es nicht einfach darum, jeden zweiten Euro an Frauen zu überweisen. Wir wollen einen grundlegenden Wandel. Vor allen Dingen geht es uns um die Überwindung diskriminierend wirkender Strukturen. Zwei Schwerpunkte unserer Vorschläge möchte ich nennen: Erstens. Wir müssen mehr wissen über die Lebenssituation der Frauen auf dem Land. Die Gleichstellungspolitik muss im Agrarbericht einen größeren Raum einnehmen. Bis Ende 2011 soll dem Bundestag ein Bericht zum Stand der Gleichstellung in den ländlichen Räumen vorgelegt werden. Zweitens. Frauen brauchen mehr wirksame Mitsprache bei den Entscheidungen. Zum Beispiel beim ELERFonds zur Förderung der ländlichen Räume müssen Frauen aktiv in die Entwicklung und Umsetzung der Programme eingebunden werden. Die Leader-Arbeitsgruppen, die diese Arbeit vor Ort planen und koordinieren, brauchen Frauenbeiräte, die über ein Vorschlagsrecht verfügen. ({3}) In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die die nationalen Förderprogramme plant, muss die Bundesfrauenministerin mit Stimmrecht vertreten sein, damit sie schon in der Programmplanungsphase eingreifen kann. Die Gleichstellungsdefizite auf dem Land benennen übrigens nicht nur wir Linken, sondern auch der Bericht über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum des Europäischen Parlaments vom Januar. Auch der Weltagrarbericht weist ausdrücklich auf die große Bedeutung von Frauen bei der Lösung der Probleme auf dem Land hin. Die Diskriminierung von Frauen als Kleinbäuerinnen oder Händlerinnen oder Hauptverantwortliche der Familien ist eine wesentliche Ursache der Armut. Die Agrarexportförderung der EU ist an dieser Situation nicht unschuldig. Deshalb sagen wir Linken: Auch damit muss Schluss sein. ({4}) Um zusammenzufassen: Nur eine geschlechtergerechte Agrarpolitik wird die Probleme auf dem Land lösen. Das gilt für Deutschland, für Europa und für die ganze Welt. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christoph Poland für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Christoph Poland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004130, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Heiterkeit ist ohne Ernst nicht zu begreifen“, meinte Loriot. Also versuche ich, bei der Debatte über diesen Antrag, der mich sehr erheitert hat, ernst zu bleiben. ({0}) Das Thema ruft und rief bei Frauen in der Landwirtschaft, mit denen ich gesprochen habe - ich spreche täglich mit ihnen -, große Verwunderung und Heiterkeit hervor. Aber ich verspreche den Damen und Herren von der Linken, dass wir das Thema ernst nehmen. Frauenförderung findet bei uns in allen Politikbereichen ihren Niederschlag. ({1}) Dieser Antrag, den Sie diese Woche mit heißer Nadel gestrickt haben und uns nun im Plenum vor die Füße werfen, ist eigentlich überflüssig. Ich sage Ihnen auch, warum: ({2}) Sie haben von der Bundesregierung bereits eine Antwort auf eine Kleine Anfrage zu diesem Thema erhalten. ({3}) Insofern gilt für Sie das, was Norbert Blüm einmal gesagt hat: Der Vorteil der Opposition ist, dass sie Fragen stellen kann, die sie nicht beantworten muss. ({4}) Ich kann Ihnen gerne noch einmal darlegen, was wir für die Frauen in ländlichen Gebieten tun. Zuallererst möchte ich Ihnen aber sagen, dass die CDU/CSU von den Linken keine Nachhilfe in Sachen Frauenförderung braucht. ({5}) 1961 holte Konrad Adenauer die erste Frau als Ministerin in das Bundeskabinett. ({6}) Sie erinnern sich sicherlich an Elisabeth Schwarzhaupt. Heute steht eine Frau an der Regierungsspitze. ({7}) - Verehrte Frau Tackmann, ich komme gleich dazu. Sie zitieren ja gerne die Kommunistin Clara Zetkin. ({8}) Ich wünsche mir allerdings inständig, dass Sie nicht die Möglichkeit haben, Ihren Glauben an die überlegene Macht des Kommunismus weiter als etwas Gutes zu deklarieren. ({9}) Angesichts der Diskussion, ob Oskar Lafontaine in Ihrer Partei wieder eine wichtige Rolle spielen soll, würde ich Ihnen empfehlen, ({10}) eher das Frauenbild der Linken und ihrer Mitglieder zu klären, als sich über das Frauenbild anderer Parteien erhaben zu fühlen. ({11}) - Ich komme gleich dazu. Sie beklagen in Ihrem Antrag die Landflucht der Frauen. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis, dass die Landflucht der Frauen keine neue Erscheinung ist. Schon seit Jahrzehnten, also auch in der früheren DDR und in der alten Bundesrepublik, gibt es eine Landflucht von Frauen. Das hat etwas mit der Entwicklung und der Industrialisierung der Landwirtschaft zu tun. ({12}) Frauen streben in die Städte, in die Dienstleistungsberufe und haben keine Lust mehr, auf dem Lande zu leben. Sie wollen die Agrarförderung auch in Europa geschlechtergerecht gestalten; so haben Sie es in Ihrem Antrag formuliert. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass wir auf europäischer Ebene bereits federführend einen Bericht eingebracht haben mit dem Titel „Bericht über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum“. ({13}) Dieser Bericht ist, wie Sie wissen, ohne Änderungsantrag vom Europäischen Parlament angenommen worden. ({14}) Außerdem darf ich Sie darauf hinweisen, dass die Gleichstellung der Geschlechter Fundament der EU und in den nationalen Verfassungen niedergelegt ist. Niemand hier braucht Ihren Antrag, Ihre Nachhilfe zum Thema Frauenförderung. ({15}) Die multifunktionale Rolle der Frau im ländlichen Raum ({16}) leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, in der Gesellschaft ein modernes Frauenbild zu prägen. Meist sind es die Frauen, die in der Erschließung zusätzlicher Einkommensquellen Zukunftsperspektiven sehen und neue Wege gehen. Durch ihr unternehmerisches Engagement leisten Frauen einen wesentlichen Beitrag zum Familieneinkommen, zur Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe und zur regionalen Wirtschaftskraft. Dies gilt in besonderem Maße für den ländlichen Tourismus, die Direktvermarktung, den Dienstleistungsbereich und andere unternehmerische Initiativen. ({17}) In meinem Wahlkreis gibt es starke Unternehmerinnen im landwirtschaftlichen Bereich. ({18}) Im Bereich der Rinderzucht hat Frau Dr. Sabine Krüger in Woldegk zum Wohle der Landwirte und einer eigenständigen Zucht eine einheitliche, wirtschaftlich starke Zucht- und Besamungsorganisation aufgebaut. Frau Carola Lehmann gebietet als Vorstandsvorsitzende über 2 000 Hektar. ({19}) Es gibt dort auch Fischerinnen, die ihren eigenen Betrieb eröffnet haben, zum Beispiel Frau Sabine ReimerMeißner, und junge Frauen, die einen Agrarbetrieb mit Gourmetrestaurant, Hofladen und Ähnlichem aufgebaut haben. ({20}) - Ich weiß nicht, ob Sie glauben, dass dann, wenn 50 Prozent einen Hofladen hätten, alle davon leben könnten. ({21}) Den unterschiedlichsten Anforderungen begegnen Frauen sehr kreativ, ({22}) vor allem im Rahmen familiärer Unterstützungsnetzwerke. Das Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut hat festgestellt, was Frauen Kreatives leisten. ({23}) Sie spielen für die ländliche Entwicklung eine wesentliche Rolle, auch wenn dies von der Öffentlichkeit häufig nicht wahrgenommen wird. Den EU-Bericht über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum, den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, verstehe ich ganz anders als Sie. ({24}) Sie schreiben: In vielen Regionen droht mittel- bis langfristig eine weitere Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. ({25}) Das ist nicht richtig. ({26}) Vielmehr wird in dem Bericht hervorgehoben, dass die Rollenvielfalt, der sich Frauen im ländlichen Umfeld stellen, einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt und zu Innovationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und zu einem Anstieg der Lebensqualität insbesondere im ländlichen Raum leistet. ({27}) Denken Sie nur an die Frauen in Verbänden, in Feuerwehren, im Landfrauenverband. Es gibt bereits erste Feuerwehrführerinnen, ({28}) weil Männermangel herrscht. ({29}) Außerdem schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass das Seminar „Frauen in der nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raums“ lediglich einen begrenzten Sensibilisierungseffekt hatte. Diese Einschätzung kann ich so nicht teilen. Im Bericht wurde vielmehr festgehalten, dass es in der letzten Dekade im Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen von Frauen einen positiven Trend gegeben hat. Nehmen Sie diese positiven Arbeitsmarktzahlen doch einmal zur Kenntnis! 2011 werden in Deutschland mehr Menschen Arbeit haben als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. ({30}) Natürlich kommen Sie auch mit Ihrem Lieblingsthema um die Ecke, dem Mindestlohn. ({31}) Da machen wir nicht mit. ({32}) Wir als CDU sind gegen den Mindestlohn. Wir wollen nicht, dass durch die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns Arbeitsplätze im landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich vernichtet werden. ({33}) Meine Damen und Herren, in ihrem Antrag fordern die Linken - hören Sie jetzt gut zu - deutlich höhere Anteile des europäischen Agrarfonds für Frauen. Ich finde, das geht über Gleichbehandlung hinaus. ({34}) Hier überdrehen Sie das Rad gewaltig. ({35}) Zusammenfassend will ich ganz klar sagen: Wir lehnen Ihren Antrag ab. ({36}) Ich schenke Ihnen allerdings ein paar Minuten meiner Redezeit. Frohe Ostern! ({37})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Danke schön. - Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege Poland, Ihre Bemerkung zu Heiterkeit und Ernst nehme ich als gegeben hin. Aber die Sachlichkeit war in Ihrer Rede nicht besonders stark ausgeprägt. ({0}) Insofern hat es auch entsprechende Bemerkungen gegeben. Ich glaube, das Thema, um das es geht, hat gravierende Auswirkungen auf den gesamten ländlichen Raum und die demografische Entwicklung im ländlichen Raum. ({1}) Die Gleichstellungsstrategie ist ein Kernziel der Strategie „Europa 2020“. Insofern hat sich Ihre Kollegin Frau Jeggle im Europaparlament besondere Verdienste erworben. Sie hat nämlich den Bericht aufgegriffen und am 4. April dieses Jahres einen wirklich hervorragenden Entschließungsantrag - Sie haben ihn vielleicht noch nicht gelesen -, der 39 Forderungen enthält, durch das Europaparlament gebracht. In diesem Antrag wurden viele Dinge, die im Antrag der Linken stehen, thematisiert und fast wortgleich eingefordert. ({2}) Insofern würde ich mir das - was moderne Politik für Frauen im ländlichen Raum und auch was die Möglichkeiten betrifft, den Agrarhaushalt dort mit einzusetzen zumindest einmal vor Augen führen und unter Umständen zum Konzept machen. ({3}) Wir Sozialdemokraten wollen natürlich die Rolle der Frauen in den ländlichen Räumen stärken, damit diese lebenswert bleiben. Deshalb unterstützen wir nachdrücklich alle 39 Forderungen dieses Entschließungsantrags. Wir haben allerdings auch die Aufgabe, die Forderungen, die für Europa formuliert sind, an Deutschland und seine Strukturen anzupassen. Die Bundesregierung bekennt sich ebenfalls zur Gleichstellungspolitik. An der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken erkennt man aber, dass sie bislang keine Vorschläge erarbeitet und offensichtlich auch keine konkreten Vorstellungen im Hinblick auf die Umsetzung hat. Im Rahmen der Ausgestaltung der zweiten Säule nach ELER gibt es einen relativ großen Spielraum an Möglichkeiten, dort spezifische Frauenförderung zu verankern. Schauen Sie sich doch einmal an, wie sich der ländliche Raum darstellt. Schauen Sie vor allem in die ländlichen Räume der neuen Bundesländer: nach Nordostvorpommern, in die Prignitz oder nach Sachsen. Dann erkennen Sie, dass dort mittlerweile ein Missverhältnis zwischen den Geschlechtern besteht - ein Verhältnis im Extremfall von 100 zu 75, im Regelfall von 100 zu 80. Das heißt, 20 Prozent der Frauen in den Altersgruppen zwischen 18 und 29 Jahren fehlen, und es werden weniger Kinder geboren. Auch das führt dazu, dass diese Räume sozial instabil werden. Die Wanderungsbewegung - das haben Sie richtig bemerkt - ist sicherlich eine Erscheinung, die wir seit 100 oder 200 Jahren haben. Das ist so, seitdem die Städte wachsen. Bislang waren wir aber immer in der Lage, dies durch einen entsprechenden Bevölkerungszuwachs in den ländlichen Räumen auszugleichen. Das passiert schon lange nicht mehr. Wenn ich meinen eigenen Wahlkreis bzw. meine eigene Kommune anschaue, sehe ich dort ein charakteristisches Beispiel. Wir hatten, als ich anfing, Kommunalpolitik zu machen, etwa 11 500 Einwohner. Heute haben wir noch 9 800 Einwohner. Im letzten Jahr sind in dieser Kommune - ich habe bei meinem Bürgermeister nachgefragt - 48 Kinder geboren worden. Das ist die Perspektive, die wir in ländlichen Räumen haben. Aktive Frauenpolitik, das Fördern von Frauen im ländlichen Raum ist ein zentrales Instrument, um dem demografischen Wandel, der sich in den ländlichen Räumen vollzieht, etwas entgegenzusetzen und ihn zu bewältigen. ({4}) Für uns ist aktive Gleichstellungspolitik eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen die Agrarpolitik davon nicht ausnehmen. Es geht sicherlich nicht um einen Ansatz in Richtung „Bauer sucht Frau“ zur Finanzierung des Projekts. Es geht viel weiter. Aber wenn Sie in solchen Regionen leben, ist die Wahrscheinlichkeit, eine adäquate Lebenspartnerin zu finden, geringer, als wenn Sie am Polarkreis lebten. Man muss auch sehen, welche Entwicklungen sich in Bezug auf das Wahlverhalten abspielen. Es gibt eine Untersuchung - ich kann sie Ihnen vorlegen -, in der der Nachweis geführt wird, dass rechtsradikales Wählerverhalten unmittelbar mit dem Phänomen der Abwanderung korreliert. Das sollte uns allen zu denken geben. Wir müssen versuchen, dort aktiv gegenzusteuern. Wir müssen versuchen, jungen Frauen Perspektiven zu bieten. Denn wer wandert ab? Es wandern die ab, die am besten ausgebildet sind und die besten Voraussetzungen haben. Es ist uns mittlerweile gelungen, in unserem Bildungssystem dafür zu sorgen, dass die Zahl der weiblichen Hochschulzugangsberechtigten fast 60 Prozent eines Jahrgangs ausmacht. Wenn wir auf der anderen Seite schauen, wer einen Hauptschulabschluss oder keinen Schulabschluss hat, dann sind 60 Prozent der Betroffenen männlich. Das sollte uns zu denken geben. Es hat in diesen Räumen unmittelbare Auswirkungen. Jemand, der für sich eine adäquate Lebensperspektive sucht, der sucht auch eine adäquate Arbeit und ein adäquates Beschäftigungsverhältnis. Insofern ist es gerechtfertigt, dass man sich diesem Thema im Rahmen der Diskussion über die Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik in ganz besonderer Weise widmet und die Demografie im ländlichen Raum zu einem zentralen Thema bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik in der zweiten Säule macht. Darum kommen wir gar nicht herum; denn allen Veränderungen, die sich in diesen Räumen abspielen, müssen wir zumindest begleitend etwas entgegenstellen, wenn wir diesen Prozess schon nicht verhindern können. Darum ist der Ansatz, der von der Kollegin eingefordert wird, richtig. ({5}) Ich kann nicht alle Ihre Forderungen unterschreiben; aber es besteht durchaus die Notwendigkeit, das politisch anzuerkennen und auch in politisches Handeln umzusetzen. Darüber, ob gerade Frau Schröder als Familienministerin an den PLANAK-Verhandlungen beteiligt werden muss, kann man sich trefflich streiten. Was wir auch brauchen, ist - das ist hier ebenfalls thematisiert worden - Entgeltsicherheit und Entgeltgleichheit für Männer und Frauen. Bislang ist es so, dass Frauen im Regelfall - besonders aber in den ländlichen Räumen - erheblich schlechter bezahlt werden. Es gilt dem etwas entgegenzusetzen. Deshalb bedauere ich, dass Sie unseren Antrag mit dem Titel „Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen gesetzlich durchsetzen“ in der letzten Woche abgelehnt haben. ({6}) Damit haben Sie den Frauen und auch den ländlichen Räumen weiß Gott keinen Dienst erwiesen. Die Lohndiskriminierung von Frauen auf dem Lande sollte längst der Vergangenheit angehören. ({7}) Ich garantiere Ihnen: Hinsichtlich der Forderungen nach Lohn- bzw. Entgeltgleichheit und Mindestlöhnen auch in der Landwirtschaft und in den ländlichen Räumen stehen wir an der Seite der Gewerkschaften; wir unterstützen dies. Ich glaube, Gender Budgeting, also das Einfließen dieser Grundüberlegungen in alle Politik- und Haushaltsbereiche, sollte in Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein. Wir als Sozialdemokraten werden uns dafür einsetzen, dass diese Selbstverständlichkeit zur Realität wird. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Kollegin Christel Happach-Kasan von der FDP- Fraktion hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass jetzt Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als letzte Rednerin in dieser Debatte das Wort erhält.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, sehr geehrter Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Poland, Ihre Rede war wahrlich sehr schwer zu ertragen. Dass Sie von den Koalitionsfraktionen so viel Beifall bekommen haben, spricht Bände hinsichtlich Ihrer Geisteshaltung in dieser Frage. ({0}) Es wird niemand leugnen wollen, dass die Chancengleichheit von Frauen in unserer Gesellschaft besonders in ländlichen Regionen eine besondere Herausforderung darstellt. ({1}) Ich blicke hier insbesondere auf Ostdeutschland. Die Forschung weist seit Jahren auf die prekäre Situation der Frauen dort hin, die eine massive Abwanderung zur Folge hat. ({2}) Die formalrechtliche Gleichstellung der Frauen ist zwar auf dem Papier vorhanden, die Wirklichkeit sieht aber leider häufig anders aus. Frauen werden schlechter be- zahlt, sie haben schlechtere Aufstiegschancen, und sie 1) Anlage 2 haben nach wie vor mit einem tradierten Rollenverständnis zu kämpfen, das ihren eigenen Vorstellungen in keiner Weise entspricht. Die Linksfraktion greift diese Problematik in ihrem Antrag dankenswerterweise auf. Ein klares politisches Handlungskonzept, wie wir diese Herausforderung meistern können, bleiben Sie allerdings schuldig. Das liegt vor allem daran, dass man ländliche Räume und Landwirtschaft wieder einmal in einen Topf geworfen hat. Die Bedeutung der Agrarbranche für die ländliche Entwicklung ist zwar unstrittig. Wenn wir aber die Situation von Frauen auf dem Lande nachdrücklich verbessern wollen - und das sollte ja ein wesentliches Ergebnis von Gleichstellung sein -, dann kommen wir mit einer Beschränkung auf Landwirtschaft und Agrarförderung nicht weit. Arbeitsplätze, gute Löhne, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch familienfreundliche Infrastrukturen das sind die Knackpunkte für mehr Chancengleichheit und gelebte Geschlechtergerechtigkeit gerade für Frauen auf dem Lande. Im Forderungsteil des Antrags der Linksfraktion findet sich dazu nichts. Da hilft auch die Aufnahme des Bundesfamilienministeriums in den PLANAK nicht wirklich weiter. Meinen Sie, dass sich dadurch etwas an der falschen Prioritätensetzung bei der GAK ändert? ({3}) Selbst wenn wir uns auf den Agrarbereich beschränken, sind die Vorstellungen der Linken nicht wirklich ambitioniert. „Mehr Frauen in die Führungsetagen der großen Agrargenossenschaften und GmbHs“ lautet eine Ihrer Forderungen. Das wäre sicherlich ein wichtiges Zeichen. Vielen gestandenen Landwirten erschiene es wahrlich als eine Art Kulturrevolution. Aber reicht uns das? ({4}) Die Stärkung der ökologischen und bäuerlichen Landwirtschaft würde uns viel weiter bringen; denn diese schafft Arbeitsplätze. ({5}) Sie ist im Gegensatz zu den großen Betrieben innovativ, wenn es um mehr Beschäftigung und neue, gleichberechtigte Einkommensmöglichkeiten gerade auch für Frauen geht. Aber dazu findet sich im Antrag der Linken leider nichts. Ich will das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der Ansatz ist gut. Jetzt kommt es aber auf konkrete Instrumente an. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: die Hofabgabeklausel. Nach der geltenden Regelung gilt: Wenn ein Landwirt mit 65 Jahren nicht seinen Hof abgibt, verliert er seinen Rentenanspruch. Will er ihn aber an seine jüngere Ehefrau abgeben, so darf diese nicht jünger als 55 Jahre sein. Ist sie beispielsweise 53 oder 48, hat sie Pech gehabt. Der Gesetzgeber verbietet ihr die Übernahme des Hofes und entzieht ihr damit die Lebensgrundlage als Bäuerin. Ein weiteres Beispiel: Ist die Bäuerin 65, ihr Ehemann aber nicht bereit, den Hof mit Eintritt ins Rentenalter abzugeben, verweigert ihr der Gesetzgeber die Rente. Es ist ihr somit gesetzlich verwehrt, eigenständig über ihr Leben im Rentenalter zu entscheiden. Das müssen wir ändern, und zwar jetzt. Zusammengefasst heißt das: Um die Diskriminierung von Frauen auf dem Lande zu beenden, reicht es nicht, sie stärker an Förderprogrammen zu beteiligen, und schon gar nicht, Aktionsprogramme zu machen und Beiräte zu berufen. Das Feld, das es zu beackern gilt, ist groß und steinig. Die Regierungskoalition sollte endlich die Kraft zusammennehmen, nicht nur vor Ort bei den Betroffenen schöne Worte zu machen, sondern wenigstens die schwersten Steine - damit meine ich beispielsweise die Hofabgabeklausel - aus dem Weg zu räumen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5477 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdaten Richtlinienvorschlag über die Verwendung von Fluggastdatensätzen, KOM({0}) 32 endg., Ratsdok. 6007/11 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 EUZBBG - Drucksache 17/5490 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 101 889 000 Passagiere wurden nach Angaben von Eurostat im Jahr 2008 in der EU auf dem Luftweg befördert. Von einem erheblichen Teil dieser Passagiere sollen nun jeweils 19 Datenkategorien ohne Anlass und auf Vorrat gespeichert werden: Anschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Kreditkartennummer, Zahl und Name der Mitreisenden, ({0}) der Name des Sachbearbeiters im Reisebüro, der sogenannte Vielfliegervermerk, die Sitzplatznummern und - ein Meisterwerk der Unbestimmtheit - sogenannte allgemeine Hinweise. Um hier gar keinen großen Spannungsbogen aufzubauen und den Tenor unseres Antrags gleich offen zu benennen: So geht es nicht, meine Damen und Herren. ({1}) Schon das allein ist eine riesige Menge äußerst aussagekräftiger personenbezogener Daten. Aber zu allem Überfluss ist in der jetzt vorliegenden Richtlinie eine Verknüpfung dieser Daten, eine Abgleichung oder, um es konkreter zu sagen, eine Rasterung verpflichtend vorgesehen. Hier entsteht ein unüberschaubarer, staatlich kontrollierter Datenpool, der nicht nur mit anderen europäischen und nationalen Datensammlungen abgeglichen werden kann und soll, sondern aus dem sich zusätzlich verschiedenste Polizei- und Strafverfolgungsbehörden aller 27 Mitgliedstaaten bedienen sollen. ({2}) - Das will ich Ihnen jetzt erklären, Herr Kollege. - Wie lange diese Behörden wiederum die abgerufenen Daten speichern ({3}) - Herr Binninger, Sie haben eine Frage gestellt, hören Sie jetzt auch zu! -, ({4}) wozu sie die Daten, die sie abrufen, genau verwenden und an welche weiteren Länder - ohne ausreichendes Datenschutzniveau - sie sie weitergeben, ist nach der vorliegenden Richtlinie völlig unklar. ({5}) Diese Vorratsdatenspeicherung ist ein weiterer Baustein in einem völlig unkontrollierbaren Gewirr von untereinander verbundenen Datenpools in Europa. Meine Fraktion und ich sehen hier - das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit - ein massives datenschutzrechtliches und verfassungsrechtliches Problem. ({6}) Weil das Bundesministerium des Innern vor Monaten schon selbst erhebliche Zweifel an der verfassungskonformen Umsetzung dieser unausgegorenen Richtlinie angemeldet hat, ist es mir völlig unverständlich, warum die Bundesregierung in Kenntnis dieser Zweifel und in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei den Verhandlungen zum Kommissionsentwurf am Anfang dieser Woche nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass eine solche Vorratsdatenspeicherung - um nichts anderes handelt es sich hier - mit dem deutschen Grundgesetz überhaupt nicht vereinbar ist. Schon in seinem Urteil zur Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten fiel es dem Bundesverfassungsgericht auffallend schwer, die zugrunde liegende EU-Richtlinie unangetastet zu lassen und nur Teile des Umsetzungsgesetzes für verfassungswidrig zu erklären. Es wurden engste Grenzen gesetzt, die den Gesetzgeber zu großer Zurückhaltung zwingen. Der Richtlinienvorschlag aber, der uns heute vorliegt, übt gar keine Zurückhaltung; ganz im Gegenteil: Es wird gespeichert, so lange es geht, so umfassend es geht und von so vielen Menschen, wie es geht. Gleich eine ganze Reihe von Regelungen des Richtlinienvorschlags widersprechen diametral den klaren Vorgaben unseres Bundesverfassungsgerichts. ({7}) Ich sage Ihnen heute voraus: Müsste das Bundesverfassungsgericht über ein Gesetz zur Umsetzung der Fluggastdatenrichtlinie entscheiden, könnte das massive negative Folgen für den rechtlichen Zusammenhalt der Europäischen Union haben; denn eines der zentralen Gebote unserer Verfassung lautet: Die Freiheitswahrnehmung der Bürger darf nicht total erfasst und registriert werden. - Hierfür muss sich - ich zitiere das Bundesverfassungsgericht - „die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen“. Das haben Sie bisher allenfalls kosmetisch, aber leider überhaupt nicht ernsthaft getan. Fangen Sie endlich damit an! ({8}) Denn sonst stellen Sie das Bundesverfassungsgericht vor folgende Wahl, Herr Kollege Binninger

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- ich komme zum Ende -: entweder erstmals Europarecht direkt anzugreifen oder aber sich in direkten Widerspruch zu der eigenen jüngsten Rechtsprechung und damit dem deutschen Verfassungsrecht zu begeben. Ich fordere Sie daher auf: Ersparen Sie uns diese Niederlage für die Grundrechte des Grundgesetzes oder die europäische Integration! Wir Grüne bieten Ihnen an: Lassen Sie uns das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Europa tragen, statt weiter den politischen Grundrechteabbau durch die europäische Hintertür zu betreiben. Ganz herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/ CSU-Fraktion.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorneweg eine klarstellende Bemerkung, Herr Kollege von Notz: Die Richtlinie liegt im Entwurf vor. Über sie wird etwa ein Jahr verhandelt werden. Sie ist noch nicht beschlossen. Wir alle sind aufgefordert, gute Beiträge zur Formulierung der Richtlinie zu leisten. Ihre Rede war leider kein guter Beitrag dazu. ({0}) Die Erwartungshaltung der Bevölkerung, der Medien und der Politik, wenn es um die Notwendigkeit der Speicherung von Passagierdaten und um die Luftsicherheit geht, lässt sich am besten mit einem Blick in die Realität beantworten. 25. September 2009: Es gelingt einem Terrorverdächtigen, von Nigeria über Amsterdam nach Detroit zu fliegen. ({1}) Es gibt Hinweise auf sein Verhalten: Er bezahlt bar; er bucht nur ein One-Way-Ticket; er reist ohne Gepäck in die USA. All das bleibt unbemerkt. Er versucht, im Landeanflug auf Detroit eine Flüssigkeit zu entzünden, um das Flugzeug zum Absturz zu bringen. Als das passierte, kam aus allen Parteien - von der Linken über die Grünen, bei uns sowieso - zu Recht die klare Aussage, dass es nicht sein kann, dass ein Terrorverdächtiger unerkannt ein Flugzeug besteigt. Da müsse doch irgendwo eine Warnlampe angehen. Wenn die Warnlampe angehen soll, brauchen wir auch eine Passagierdatenspeicherung. Alles andere ist Unfug und Sand, der den Leuten in die Augen gestreut wird. ({2}) Was wir unter Rot-Grün hatten, will ich lieber nicht näher erläutern. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass in den Bereichen von Terrorismus und organisierter Kriminalität - um nichts anderes geht es hier - die Sicherheitsbehörden darauf angewiesen sind, Daten über Reisebewegungen, Kommunikationsbeziehungen und Finanzströme zu erhalten. Das PNR-Abkommen, das jetzt im Entwurf vorliegt, schafft einen einheitlichen Rahmen innerhalb der EU. ({3}) Es wird jetzt ein Jahr verhandelt werden. Die Richtlinien haben drei Ziele. Erstens. Es soll - ich glaube, noch nicht einmal Sie sind da anderer Meinung - verhindert werden, dass Terrorverdächtige, die einen Anschlag planen, überhaupt erst ein Flugzeug besteigen. Wer dagegen etwas hat, soll es sagen. Es gibt gegen die Forderung, das zu verhindern, ernsthaft nichts einzuwenden. ({4}) Zweiter Punkt: Es soll gelingen, schwere Straftaten aufzuklären. Dritter Punkt: Es soll gelingen, Verdächtige zu erkennen. Wenn wir die Richtlinie jetzt ansehen, stellen sich natürlich einige - auch datenschutzrechtliche - Fragen. Das bestreite ich überhaupt nicht. Wir sind erst am Beginn der Debatte. Eine Frage, die sich auch für mich stellt, ist, ob die Speicherdauer - 30 Tage offen, dann pseudonymisiert für fünf Jahre - notwendig oder zu lange ist. ({5}) Ich bin durchaus der Auffassung, dass wir sehr genau überlegen müssen, warum es fünf Jahre sein sollen. Es könnten auch weniger sein. Ich will aber auch darauf hinweisen - das gehört zur Ehrlichkeit dazu -: Diese Daten werden nicht gespeichert, weil der Staat es will. Diese Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften vorhanden und werden auch dort heute schon mehrere Jahre gespeichert. ({6}) Es geht um die Frage, ob wir unter bestimmten Voraussetzungen den Sicherheitsbehörden diese Daten zur Verfügung stellen, um Anschläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklären oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit der Bürger etwas wert ist, der kann diese Frage nicht mit Nein beantworten. ({7}) Trotzdem glaube ich, dass wir über das Thema Speicherdauer reden müssen. Die zweite Frage, die sich stellt, ist, ob wir nur Flüge von außerhalb in die EU erfassen wollen oder auch Flüge innerhalb der EU. Da gibt es unterschiedliche Positionen. Das will ich nicht bestreiten. Wir müssen uns darüber klar werden, dass die Gefährlichkeit von Personen nicht geringer wird, weil sie von Barcelona nach Berlin fliegen statt von Nigeria nach Berlin. Wir müssen versuchen, diese Frage eher an der Gefährlichkeit der Personen zu orientieren. ({8}) - Nein, das ist eine Frage, die sich stellt. ({9}) Wir debattieren darüber. Machen Sie einen Vorschlag! Für mich ganz persönlich stellt sich auch eine dritte Frage, da greife ich sogar Ihre Bedenken ein Stück weit auf. Zu verhindern, dass ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug besteigt, ist oberstes Ziel. Daran kann es für mich keinen Zweifel geben. ({10}) Wer das ablehnt, macht keine seriöse Sicherheitspolitik. Auch schwere Straftaten aufzuklären, halte ich für absolut berechtigt. Die dritte Zielrichtung des Abkommens ist, anhand der Daten Kriterien zu erkennen, mit denen Verdächtige identifiziert werden können, also eine Art Rasterfahndung. Da hat uns das Bundesverfassungsgericht ganz klar aufgegeben: Die Rasterfahndung ist zulässig, sie muss aber an eine konkrete Gefahr geknüpft sein. Das heißt, eine pauschale Ermächtigung, diese Daten quasi jede Woche auf irgendwelche Auffälligkeiten hin zu durchleuchten, ist rechtlich nach unserem Verständnis schwer abzubilden. Deshalb müssen wir darauf achten, dass wir hier, wenn es dabei bleibt, auch den Bezug zur konkreten Gefahr haben. Insgesamt können wir aber nicht darüber hinweggehen, dass wir an einem solchen Instrument nicht vorbeikommen, wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, wenn wir verhindern wollen, dass Passagiermaschinen Ziele von Anschlägen werden, und wenn wir wollen, dass wir in der Lage sind, schwere Verbrechen - es geht auch um organisierte Kriminalität, es geht um Menschenhandel - aufzuklären und Strukturen zu erkennen. Durch die PNR-Richtlinie wird zumindest ein einheitlicher Rahmen geschaffen. Es gab zwischen einzelnen Staaten lange einen bilateralen Wildwuchs. Es war völlig unklar, wer wie viele Daten bekommt. Insofern ist eine Richtlinie, durch die Einheitlichkeit hergestellt wird, zu begrüßen. Wir können über das Thema Speicherdauer reden. Wir können auch über das Thema „Was alles soll man mit den Daten machen dürfen?“ sprechen. Ich glaube, an den zwei Grundzielen braucht man nicht zu rütteln. Herr Kollege von Notz, ich finde, das, was Sie von den Grünen in Ihrem Antrag geschrieben haben, ist ein bisschen Wischiwaschi: ({11}) von allem ein wenig, aber keine klare Position. ({12}) Sie müssten schon sagen, ob Sie grundsätzlich gegen die Passagierdatenspeicherung sind - auch wenn Sie damit in Kauf nehmen, dass Terrorverdächtige Flugzeuge besteigen - oder ob Sie unter bestimmten Bedingungen daClemens Binninger für sind. Dazu äußern Sie sich in Ihrem Antrag nicht. Die häufigste Formulierung in Ihrem Antrag lautet - viermal kommt das vor -: Falls ein Verzicht auf die Normierung einer Verpflichtung zur Speicherung von Fluggastdaten nicht durchsetzbar sein sollte … Sagen Sie doch klipp und klar, ob Sie für diese Datenspeicherung sind - bringen Sie dann Ihre Kritikpunkte vor - oder ob Sie dagegen sind. Dann wissen die Menschen in Deutschland, was Ihnen die Sicherheit wert ist offensichtlich sehr wenig. Beziehen Sie Position! ({13}) Es geht nicht an, dass Sie sich einmal so und einmal so äußern, nur weil Sie einer bestimmten Klientel gefallen wollen. Wir brauchen diese Richtlinie, um mehr Sicherheit zu bekommen. Sie sind herzlich eingeladen, auf unserem Weg mitzumachen. Beziehen Sie aber bitte eine klare Position. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Gunkel für die SPDFraktion. ({0})

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die PNR-Daten ist nicht neu; wir haben sie schon in der vorigen Legislaturperiode geführt. Ich erinnere daran, dass der damalige EU-Kommissar für Justiz, Frattini, einen Vorschlag eingebracht hat, der sich an den Fluggastdatenvereinbarungen mit den USA orientiert hat. Damals waren horrende Speicherfristen und ähnliche Dinge vorgesehen. Bis auf die CDU/CSU haben wir damals einheitlich festgestellt, dass Frattinis Vorschlag nicht akzeptabel ist. Die Unionsfraktion hat dann mitgeteilt, man versuche, zu verhandeln und entsprechend nachzubessern. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen, weil Frattini gehen musste und die Sache auf Eis lag. Jetzt taucht dieser Vorschlag wieder auf. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass eine einheitliche Datenerhebung in der Europäischen Union außerordentlich schwierig ist. Das wird klar, wenn man sich anschaut, welche Daten bisher schon erhoben werden. Da setze ich an: Wenn wir schon ein Schengener Informationssystem, ein Visa-Informationssystem und API-Dateien haben, warum brauchen wir dann noch zusätzlich etwas? Auch die EU-Kommission hat nicht erklärt, warum die bisher vorhandenen Dateien nicht ausreichen, um ein System zu installieren, durch das das ermöglicht wird, was Sie, Herr Binninger, hier vorhin vorgestellt haben. Diese Frage ist für mich nach wie vor unbeantwortet. ({0}) Ich kann nur sagen: Das, was Sie vorgetragen haben, ist in vollem Umfang zu unterstützen. Es kollidiert zum Teil mit deutschem Recht. Es kollidiert auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das wir seinerzeit noch nicht kannten. Es ist also berechtigt, das Ganze zu hinterfragen. Unter Umständen kommt man zu dem Ergebnis, dass man das, was geplant ist, nicht benötigt. Ich biete an, zu prüfen, was umsetzbar ist. ({1}) Herr Wieland, ich nenne Ihnen ein Beispiel. Herr Binninger hat nicht so unrecht. Sie schreiben in Ihrem Antrag viermal: Wenn das alles nicht geht, dann soll das und das gemacht werden. - Das ist außerordentlich geschickt gemacht - das gebe ich zu -: Man stellt eine Maximalforderung, räumt ein, dass die Erfüllung dieser Forderung nicht sehr realistisch ist, und arbeitet sich schrittweise an den Punkten ab, die kritikwürdig sind. Clever gemacht; das muss man Ihnen lassen. ({2}) - Siehste, ein bisschen was drauf haben muss man. Es geht hier darum, zu sagen, was konkret gefordert werden soll. ({3}) Wir haben das im Innenausschuss schon diskutiert. Die Bundesregierung hat dazu Stellung genommen: Sie will Teile übernehmen. Ich zum Beispiel bin grundsätzlich gegen die Vorratsdatenspeicherung. Sie ist meiner Meinung nach an dieser Stelle total verfehlt, weil bereits genügend andere Daten vorhanden sind. ({4}) Das Verfassungsgerichtsurteil besagt, dass Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen Vorratsdatenspeicherungen vorzunehmen hat. Das Verfassungsgericht hat solche Speicherungen mit hohen Eingriffsschwellen versehen. Es müssten zumindest konkrete erhebliche Gefahren bestehen oder Rechtsgüter von hohem Wert betroffen sein. Auch das ist in diesem Falle zu berücksichtigen. Diesbezüglich fehlt in der Richtlinie der EUKommission ein klarer Hinweis, was Kriterium sein soll und wie die Umsetzung vonstatten gehen soll. Schwere Kriminalität: Ja. Terrorismusbekämpfung: auch Ja. Aber mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck soll das erhoben werden? Wir denken, dass darüber noch einmal gesprochen werden muss. Nach unserer Auffassung kann die Richtlinie so nicht bleiben. Es ist klar, dass für die Erfassung der Daten bestimmte Zentralstellen vorgesehen sind. Es würden dann 27 Staaten nationale Zentralstellen haben. Die Fluggesellschaften würden in diesen 27 Staaten Daten erheben und sie an die jeweilige nationale Zentralstelle weiter12234 geben. Schon allein deswegen wird man unter datenrechtlichen Gesichtspunkten zu unterschiedlichen Behandlungsweisen kommen. Was daran einheitlich sein soll, verstehe ich nicht ganz. Es steht sogar noch geschrieben, dass die Daten an Drittstaaten weitergegeben werden sollen. Es wird aber nicht auf die Verfahrensweise eingegangen und dargelegt, nach welchen Kriterien die Daten verwendet werden dürfen und wer überhaupt erfasst werden soll. All das bleibt völlig unklar. Insofern können wir diese Richtlinie nicht mittragen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die Frage der Nutzung innerhalb der Europäischen Union. Da stellt sich mir die Frage, wozu wir dann überhaupt einen Raum der Freiheit geschaffen haben, ({5}) in dem 470 Millionen Menschen in 27 Staaten zusammengefasst werden. Es handelt sich doch nur noch um eine Freiheit auf dem Landwege, wenn wir anfangen, jeden Einzelnen zu registrieren, der innerhalb der Europäischen Union auf dem Luftwege reist. ({6}) Das ist ein Punkt, über den man nachdenken sollte. Herr Binninger, der geschilderte Fall und das Beispiel mit Barcelona waren okay. Aber sehen Sie: Der Herr Minister Friedrich - jetzt sitzt der Herr Staatssekretär Dr. Schröder hier - war gerade erst, am 14. dieses Monats, in Brüssel und hat diesen Sachverhalt im Justizrat besprochen. Was hat er getan? Er hat sich eindeutig gegen die innereuropäische Erfassung ausgesprochen. ({7}) Folgen Sie doch Ihrem Minister, Herr Binninger! ({8}) Sehen Sie doch ein, dass zumindest er erkannt hat, um was es geht. ({9}) - Ja, gut. Manchmal orientiert man sich aber auch an Ministern und Staatssekretären. Das machen Sie auch. Richtig, Frau Piltz? Ich muss sagen: Das haben Sie locker drauf. Ich will sagen: Es ist deutlich zu erkennen, dass es im europäischen Rahmen sehr, sehr große Diskrepanzen gibt. Es haben sich neuerdings weitere Länder angeschlossen. Früher waren es fünf Länder plus Deutschland. Nach der letzten Sitzung sind zwei weitere Länder dazugekommen, die erhebliche Bedenken haben, die PNR-Richtlinie in europäisches Recht umzusetzen. Ich meine, dass das auch inhaltlich begründet ist. Sie haben angeboten, ein Jahr darüber zu diskutieren. Dann diskutieren sie darüber aber auch wirklich. Wenn tatsächlich Ratschläge der Opposition in Ihre Überlegungen einfließen, kann ich Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie den Beitrag von Herrn von Notz, meinen Beitrag und die, die noch kommen, wahr und verarbeiten Sie sie. Dann wären wir schon sehr zufrieden. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist auch richtig so, Herr Korte. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr von Notz, Sie haben uns mit auf den Weg gegeben, wir sollen die Grundrechte nach Europa tragen. Ganz ehrlich: Ihren Hinweis dazu hätten wir nicht gebraucht. Das tun wir nämlich schon selber. ({0}) Ich will Ihnen zugestehen - Sie sind um einiges jünger -, dass Sie sich nicht so daran erinnern können, dass 2004 der damalige Außenminister - Sie wissen vielleicht noch, wie er hieß und welcher Partei er angehörte -, Joschka Fischer von den Grünen ({1}) - unvergessen deswegen, weil er einen Sündenfall im Datenschutz begangen hat, an dem wir heute noch knabbern; das liegt auch in Ihrer Verantwortung -, ({2}) im Rat einem Abkommen zur Übermittlung von Fluggastdaten zugestimmt hat. Das war der Sündenfall. Das war übrigens ein Abkommen, für das Datenschutz ein absolutes Fremdwort war. Erst dem massiven Druck des Europäischen Parlamentes war es zu verdanken, dass überhaupt nachgebessert worden ist. ({3}) Der Sündenfall war die Zustimmung des grünen Außenministers und im Weiteren die Unterstützung für das PNR-Abkommen unter Missachtung aller datenschutzrechtlichen Erwägungen und ohne jegliche Rechtsschutzmöglichkeiten. Herr Kollege Gunkel von der SPD, ich frage mich: Wo war da eigentlich die SPD? ({4}) Sie waren doch damals in der Regierung. ({5}) Deshalb hätte ich hier gerne eine entsprechende Aussage gehört. Wenn Sie schreiben, dass der Speicherzeitraum von 30 Tagen unverhältnismäßig lang sei, möchte ich daran erinnern, dass die Grünen es damals als großen Erfolg gefeiert haben, dass bei dem ersten PNR-Abkommen mit den USA eine Speicherfrist, ({6}) und zwar ohne Pseudonymisierung, von dreieinhalb Jahren verhandelt wurde. Das wurde damals als Erfolg verkauft. ({7}) Wenn man alte Plenarprotokolle liest, merkt man, dass der Inhalt der Reden manchmal wirklich von der Rolle im Parlament abhängt. ({8}) - Ich lese sie nicht, weil ich zu viel Zeit habe, sondern weil ich mich ernsthaft auf die Debatten vorbereite; das ist vielleicht der Unterschied zwischen Ihnen und mir. ({9}) Die Grünen haben in der Debatte am 27. Mai 2004 vorgetragen, dass sie den damals debattierten Antrag der FDP-Fraktion, in dem rechtsstaatliche Garantien und Datenschutz gefordert wurden, ablehnen. ({10}) Ich will jetzt gar nicht darüber spekulieren, was Ihnen die Bundesregierung, insbesondere Ihr damaliger Außenminister, dafür versprechen musste. ({11}) Aber ich finde es vor diesem Hintergrund schon drollig, was Sie heute hier aufführen. ({12}) Es ist wirklich nicht so, dass wir als FDP ein EU-System zur Nutzung von Fluggastdaten in diesem Umfang begrüßen würden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Notz?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber immer gerne.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Piltz, während Sie so viel über Joschka Fischer reden, verrinnt Ihre kostbare Redezeit. Ehre, wem Ehre gebührt; aber es geht ja um die Zukunft. Deswegen ist die entscheidende Frage, wie sich die FDP in Regierungsverantwortung konkret mit der Verfassungswidrigkeit der augenblicklichen Richtlinie auseinandersetzt; entscheidend ist nicht, was Joschka Fischer vor vielen Jahren gemacht hat. ({0}) Da war ich ja noch ein Kind. ({1}) Ich bitte also um Aufklärung, was die Zukunft angeht; Vergangenheitsbewältigung ist nicht erforderlich.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens, Herr von Notz: Wenn Sie damals noch ein Kind waren, dann sind Sie heute - denn so lange ist es noch nicht her - bestenfalls ein Heranwachsender. ({0}) Ob Sie damit leben möchten, müssen Sie für sich selber klären. ({1}) - Sie wissen: Die Antwort bestimmt derjenige, der am Rednerpult steht. Zweitens. Natürlich ist das, was Sie uns damals eingebrockt haben, im Hinblick auf das, was wir in Zukunft tun, von Bedeutung. Das Problem ist: Wenn man in der Geschichte einen Sündenfall herbeiführt - dafür gibt es vielfältige, auch biblische, Beispiele -, begleitet einen das ein Leben lang. Deshalb müssen Sie sich den Rückblick in die Vergangenheit gefallen lassen. Unser Problem ist, dass es in der Vergangenheit ein Abkommen gegeben hat. ({2}) - Ich kann mich nicht erinnern, dass die USA einen von uns erpresst hätten. ({3}) Zur Wahrheit gehört, dass von Ihrer Bundesregierung ein klares Nein zum Irakkrieg erfolgt ist. Deshalb mussten Sie damals den USA an anderer Stelle entgegenkommen. ({4}) Das war die Konsequenz Ihrer verfehlten Politik. ({5}) - Warum setzen Sie sich jetzt einfach, Herr von Notz? ({6}) - Von mir oder von ihm? Auf jeden Fall unterstützen wir die Bundesregierung sehr darin, in Brüssel - damit hat sie ja schon begonnen - klarzumachen, dass sie einer Ausweitung auf innereuropäische Flüge nicht zustimmen wird. Darauf haben wir frühzeitig hingewiesen, und darauf legen wir auch Wert. Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in Sachen Datenschutz oder Vorratsdatenspeicherung. ({7}) Denn Sie wissen, dass es in unserer Fraktion Menschen gegeben hat, die dieses Urteil, genau wie das bei Ihnen der Fall ist, erst erkämpft haben. ({8}) - Nein, von der SPD habe ich dabei keinen gesehen, übrigens in dem ganzen Verfahren nicht, lieber Kollege Gunkel. In dem ganzen Verfahren bezüglich der Vorratsdatenspeicherung war die SPD komplett abgetaucht. Das muss man hier sagen dürfen. ({9}) Wir als FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag hingegen haben uns immer für einen hohen Datenschutzstandard bei der Nutzung von Fluggastdaten eingesetzt, und das tun wir auch heute noch. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass, sollte die EUKommission, wie im Stockholm-Programm angekündigt, einen Vorschlag vorlegen, das EU-US-Abkommen gerade nicht der Maßstab sein darf, sondern dass wir darüber hinaus tätig werden müssen. Natürlich kann man immer über das Datenschutzniveau streiten. ({10}) Aber - wenn ich mir noch einen Blick in die Geschichte erlauben darf - ich muss feststellen, dass es eigentlich nur besser werden kann, egal, was passiert. Daran arbeiten wir. Der Bundesrat hat im Übrigen auf Initiative unter anderem von Baden-Württemberg und Hessen einen, wie ich finde, sehr guten Beschluss gefasst, in dem der Bundesrat die EU-Kommission auffordert, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erneut zu prüfen. Die Länder haben es ebenso wie wir und die Bundesregierung erkannt: Nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdaten-Richtlinie ist der verfassungsrechtliche Spielraum für solche anlasslosen Datenerhebungen minimal. ({11}) Für uns ist deshalb klar: Die anlasslose Erfassung der Fluggastdaten ist ein weiterer Fall einer Vorratsdatenspeicherung. ({12}) Deshalb müssen wir sehr genau hinschauen, wie und ob das überhaupt geht. ({13}) Die liberale Fraktion im Europaparlament hat bereits Bedenken angemeldet. Deswegen werden wir hier gemeinsam mit den Ländern und mit der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament dafür eintreten, dass noch einmal grundsätzlich überprüft wird, ob dieser Vorschlag der Kommission weiterverfolgt werden kann. ({14}) Wir brauchen keine Nachhilfe in Sachen Datenschutz und Grundrechte in Europa. ({15}) Uns wäre es lieber gewesen, Sie hätten 2004 unsere Nachhilfe angenommen. Sie hätten sie nämlich gebraucht. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Piltz, Ihr jetzt geschasster Parteivorsitzender hat vor ein paar Jahren gesagt, Ihre Partei wolle die Freiheitsstatue der Republik sein, und jetzt sind Sie da angekommen, dass Sie sich die Vorratsdatenspeicherung einmal anschauen wollen. Von Ihrem Freiheitsdenken ist nichts übrig geblieben. Es handelt sich nicht unbedingt um ein neues Problem. Seit Jahren gibt es schon die Übermittlung von sensibelsten Fluggastdaten an die USA, Australien und Kanada. Jetzt soll das Ganze auf die nächsthöhere Stufe gehoben werden. Bei den Verhandlungen werden auf schauspielerisch mittelprächtige Weise Bedenken vorgetragen. Sie brauchen bei den Verhandlungen aber einen klaren Standpunkt, um etwas durchzusetzen. Das Problem ist, dass Sie diesen Standpunkt nicht haben. Unser Standpunkt hingegen ist klar: Wir lehnen eine Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich ab. So muss man in die Verhandlungen hineingehen. ({0}) Trotz aller Datensammelorgien, über die wir hier immer wieder sprechen, ist bis heute nicht belegt - das gilt auch für die Vorratsspeicherung von Fluggastdaten -, dass ein solches Vorgehen substanziell mehr Sicherheit bringt. Diese Richtlinie bewirkt nicht nur eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, sondern eine Kombination mit einer Rasterfahndung. Das ist mit Blick auf Bürgerrechte ein doppelter Horror. Deswegen müssen Sie diesen Vorschlag ablehnen und dürfen nicht so herumeiern. ({1}) Bei der jetzigen Fluggastdatensammlung ist es so - es ist so weit richtig beschrieben worden -, dass die Daten bei den Fluggesellschaften dezentral gespeichert werden. Die neue Qualität ist, dass die Speicherung nun staatlich zentral erfolgen soll. Die Vorstellung, was man mit diesen Datenmengen machen kann, ist der blanke Horror. Welche Begehrlichkeiten damit geweckt werden, kann man sich ausmalen. Das kennen wir von vielen anderen Datensammlungen. Auch deswegen muss man diesen Vorschlag ablehnen. Die Linke unterstützt daher den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. ({2}) Es ist ganz interessant, dass sich die Bundesregierung jetzt kritisch gibt. Sie sagt, die Sache sei schwierig und man müsse darüber nachdenken. Sie haben sich im Innenausschuss allerdings stets geweigert, Ihre Verhandlungstaktik offenzulegen und darzulegen, wie Sie in die Verhandlungen beispielsweise mit den USA hineingehen. Damals sind Sie reihenweise eingeknickt und sind bis heute nicht bereit, Ihre Verhandlungstaktik offenzulegen. Es wäre eine gute Sache, Sie würden die Unterstützung des Parlamentes und der Opposition einholen. Dann würden Sie nicht ganz so alleine dastehen. Wenn Sie es ernst meinen würden, würden Sie es tun. ({3}) Kollege Binninger, Sie haben noch eine Schippe draufgelegt und gesagt - Sie haben es in Frageform gekleidet; es ist aber klar, was Sie wollen -, dass man als nächsten Schritt eine innereuropäische Regelung anstrebt und das umsetzt, was Großbritannien will: Auch der Bahnverkehr und der Schiffsverkehr sollen mit aufgenommen werden. Von der FDP hört man diesbezüglich gar nichts. Von der selbst ernannten Freiheitsstatue ist dazu kein einziges Wort an die Adresse der Hardliner in der CDU/CSU zu hören. ({4}) Kollegin Piltz, Ihre Partei hat im Moment ein paar Probleme. Hier hätte die FDP wirklich die Chance, mit einer klaren und nachvollziehbaren Linie ihr Profil zu schärfen. Das bedeutet aber, dass Sie sich gegen Ihren Koalitionspartner stellen müssen. Das trauen Sie sich nicht. Sie trauen sich sowieso überhaupt gar nichts. Das ist das Problem, das wir jetzt haben. ({5}) Kollegin Piltz, einen aufmunternden Satz kurz vor Ostern: Sie haben in der Tat damit recht, dass die Liberalen im Europaparlament geschlossen - ich hoffe, das bleibt so - angekündigt haben, dass sie das Ganze ablehnen werden. Das ist erfreulich. Das gilt übrigens auch für die Vereinte Europäische Linke und die grüne Fraktion im Europaparlament. Die Sozialdemokraten müssten in diesem Punkt dazu beitragen - da haben Sie recht -, dass auch die Sozialdemokraten im Europaparlament dagegen stimmen. Dann könnte man eine Mehrheit dagegen erreichen; das wäre mehr als sinnvoll. ({6}) Peter Schaar hat recht: Er hat in dieser Woche sinngemäß gesagt, dass diese Koalition im Bereich des Datenschutzes - von anderen Bereichen ganz zu schweigen nichts Substanzielles auf den Weg gebracht hat. Deswegen ist es bald Zeit, diese Regierung abzulösen, auch aus Datenschutzgründen. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag, den die Grünen heute vorlegen, dient nur einem Zweck und einem Ziel, nämlich dem der Effekthascherei und Skandalisierung. ({0}) Ihnen geht es nicht um einen sachlichen Problemaufriss; Ihnen geht es nur darum, bewusst den Eindruck zu vermitteln, dass der Staat einer Sammelwut nachgehen würde Stephan Mayer ({1}) ({2}) und einen riesigen „Datenpool“ - so haben Sie es wortwörtlich genannt - anlegen würde, um im Bedarfsfall darauf zurückgreifen zu können. ({3}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, worum geht es konkret? Wenn man potenziellen islamistischen Terroristen rechtzeitig auf die Schliche kommen will, gibt es nur zwei Möglichkeiten: ({4}) Man muss entweder ihre Kommunikationswege oder ihre Reisewege ausfindig machen. Das sind die beiden Möglichkeiten, denen man sich intensiv zuwenden muss. Es ist aus meiner Sicht nach wie vor unerlässlich, dass der Staat, insbesondere die Sicherheitsbehörden des Staates, sowohl auf Telekommunikationsverbindungsdaten als auch auf Reiseverkehrsdaten zugreifen kann. ({5}) Es ist doch nicht so, dass Fluggastdaten noch nie gespeichert wurden. Ganz im Gegenteil: Fluggastdaten werden schon heute gespeichert; es gibt bilaterale Abkommen der Europäischen Union mit den USA, Kanada und Australien. ({6}) Jetzt ist die Frage, ob man die Speicherung der Fluggastdaten entsprechend erweitert. ({7}) Es gibt auch nationale Lösungen: Zum Beispiel unterhält Großbritannien ein eigenes System zur Fluggastdatenspeicherung. Ich glaube, man muss sich jetzt ohne Schaum vorm Mund mit sachlichen Argumenten auseinandersetzen; darum geht es. ({8}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, es ist verfehlt, wenn Sie hier den Eindruck erwecken, dass ein Vergleich mit den Telekommunikationsverbindungsdaten angemessen ist. Das trifft nicht zu; Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. Man muss sich wirklich einmal vor Augen halten, worum es geht: Jeder Deutsche reist im Schnitt zweimal im Jahr mit dem Flugzeug. Dagegen gibt es in Deutschland 147 Millionen Telefonanschlüsse; das heißt, jeder Deutsche verfügt im Schnitt über knapp zwei Telefonanschlüsse. In Deutschland fallen knapp 200 Milliarden Telefonminuten an. ({9}) Das heißt, jeder Deutsche telefoniert im Schnitt sechseinhalb Minuten pro Tag. Bei der Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten geht es also um eine weitaus größere Menge als bei den Fluggastdaten. ({10}) Dies sollte man bei der Abwägung berücksichtigen. ({11}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht um die Frage, ob sich die Europäische Union eine Richtlinie zur Speicherung von Fluggastdaten gibt, ({12}) sondern ausschließlich um die Frage, wie sie gestaltet sein wird. Es liegt jetzt noch keine fertige Richtlinie vor, sondern ein Entwurf der Europäischen Kommission vom 3. Februar. ({13}) Jetzt wird man sich in aller Sachlichkeit und Ausgewogenheit und mit der notwendigen Zeit mit diesem Richtlinienentwurf auseinandersetzen. ({14}) Ich möchte ganz offen sagen: Ich bin dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich sehr dankbar, dass seine ersten Einlassungen zu diesem Thema, insbesondere bei der Innenministerkonferenz am vergangenen Montag, sehr ausgewogen und sachlich waren. Bestimmte Fragen sind nun in aller Offenheit zu diskutieren: Ist es notwendig, auch die Daten von innereuropäischen Flügen zu speichern? Es gibt Argumente dafür, und es gibt Argumente dagegen. Dabei ist sicherlich vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit auch zu berücksichtigen, um welche Menge von Daten es geht. Sind dies überhaupt die entscheidenden Verkehrswege? Oder gibt es, wenn jemand Übles im Schilde führt, nicht alternative Verkehrswege oder Reisewege zum Fliegen, Stichwort „Bahnverkehr“, Stichwort „Pkw“? Ich frage also: Was bringt es überhaupt, die Fluggastdaten von innereuropäischen Flügen zu speichern? Natürlich muss man auch offen über die Kostenfrage sprechen. Die Speicherung pro Passagier pro Flug kostet die Fluggesellschaft 10 Cent. Das sind, auf den Passagier bezogen, relativ geringe Kosten, aber in der Summe durchaus bemerkenswerte Kosten. Also auch die Kostenfrage ist in diesem Zusammenhang zu eruieren. Stephan Mayer ({15}) Auch die Speicherfrist ist ins Kalkül zu ziehen; das ist schon angesprochen worden. Die schon jetzt vorhandenen bilateralen Abkommen sehen unter der Pseudonymisierung im Einzelfall sogar eine Speicherfrist von bis zu 15 Jahren vor. Meines Erachtens - ich mache keinen Hehl aus meiner Meinung - ist eine Speicherfrist von 15 Jahren vollkommen überdimensioniert. ({16}) Abgesehen davon bringen auch die Daten, wenn sie einmal 10, 12, 13 Jahre alt sind, wenn es um die Präventionsarbeit oder die Ermittlungstätigkeit geht, aus meiner Sicht ganz konkret relativ wenig. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es besteht überhaupt kein Grund, sich in irgendeiner Aufgeregtheit oder Skandalisierung über diesen Richtlinienentwurf zu echauffieren. ({17}) Wir haben genügend Zeit, uns sowohl im Innenausschuss als auch mit der Bundesregierung mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Deswegen ist aus meiner Sicht der Antrag der Grünen zum einen, was den Zeitpunkt anbelangt, vollkommen verfehlt, und zum anderen, was die inhaltliche Schärfe anbelangt, vollkommen deplatziert. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Mai 2011, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen eine fröhliche, eine schöne Osterzeit. Die Sitzung ist geschlossen.