Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2011
- Drucksache 17/5400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({1}), Brigitte Pothmer, Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aus- und Weiterbildung stärken, Abbrüche
verringern, Erfolgsquoten erhöhen
- Drucksache 17/5489 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Bundesministerin Annette Schavan das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der jährliche Berufsbildungsbericht der Bundesregierung informiert über die
Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Damit gibt er uns auch
wichtige Informationen über die Zukunftschancen der
jungen Generation. Denn wir wissen: Zwei Drittel aller
Jugendlichen gehen den Weg über die berufliche Bildung. Deshalb ist die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ein sensibles Thema, das im Jahr 2010 mit der
Frage verbunden war: Wie wird sich die Zahl der Ausbildungsplätze in Zeiten der Wirtschaftskrise entwickeln? Wird sie stark zurückgehen? Wie werden die Bewerberzahlen sein?
Kurz zusammengefasst sehen die Fakten in Bezug auf
das Jahr 2010 folgendermaßen aus:
Erstens. Prognostiziert war ein Rückgang der Zahl der
Ausbildungsangebote um 20 000. Diese Prognose hat
sich nicht bewahrheitet. Bezogen auf die Gesamtzahl der
abgeschlossenen Ausbildungsverträge von 560 000 beträgt der Rückgang 0,8 Prozent.
Aber - das ist der zweite wichtige Punkt - wir konnten die interessante Entwicklung beobachten, dass es
erstmals wieder ein Plus bei der Zahl der Ausbildungsverträge in den Betrieben gibt. Es geht hier also nicht um
die außerbetrieblichen und die vielen Maßnahmen, die
wir vor allem in den strukturschwachen Regionen auf
den Weg gebracht haben, in denen aufgrund der schwierigen Situation nicht genügend betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen.
Die Entwicklung bei den betrieblichen Ausbildungsverträgen ist ausgesprochen positiv. 2010 sind 519 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist ein Plus von
5,6 Prozent gegenüber 2005.
({0})
Das zeigt, dass die Unternehmen auch in Zeiten der
Wirtschaftskrise nicht nachgelassen haben, dass sie nicht
zurückgefahren, sondern zugelegt haben.
Redetext
Der dritte wichtige Punkt betrifft die Zahl der Altbewerber, die uns in diesem Hohen Hause schon vielfach
beschäftigt hat. Diese Zahl ist von 262 000 im Jahre
2008 auf 185 000 im Jahre 2010 zurückgegangen; das ist
ein Rückgang um knapp 30 Prozent. Auch das ist eine
überaus positive Entwicklung. Wir wollen, dass der
Übergang von der Schule in die Ausbildung direkt erfolgt und dass nicht viele junge Leute als Altbewerber
jahrelang in einem Übergangssystem warten müssen.
({1})
Der vierte wichtige Punkt bezieht sich auf das Übergangssystem selbst. Auch hier ist in den vergangenen
fünf Jahren, seit wir uns gezielt darum kümmern, indem
wir Veränderungen vornehmen, Kompetenzen zurückbringen und Maßnahmen bündeln, ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, nämlich um 22,5 Prozent. Das
heißt, junge Leute kommen schneller in Ausbildung als
noch vor einigen Jahren.
Das Resümee der Bundesagentur für Arbeit bezogen
auf das letzte Jahr ist - wir werden ein solches Resümee in
den kommenden Jahren noch häufiger erleben -: Es wurden mehr unbesetzte Ausbildungsplätze gemeldet, als es
unversorgte Bewerber gibt. In Zahlen bedeutet dies: Rund
20 000 Ausbildungsplätze - exakt sind es 19 605 - blieben unbesetzt. Es verblieben rund 12 000 unversorgte Bewerber.
Das macht deutlich, wie sich die Bevölkerungsentwicklung auswirkt. In Ostdeutschland konnte man diese
Auswirkung in den letzten Jahren schon sehr gut beobachten. Im übrigen Bundesgebiet wird es in den
nächsten Jahren eine ähnliche Entwicklung geben. Die
Schülerzahlen werden in den nächsten zehn Jahren
deutschlandweit deutlich zurückgehen. Die Frage ist
also nicht mehr: „Bekommt jeder Jugendliche einen
Ausbildungsplatz?“, sondern die Frage wird lauten:
„Was müssen wir tun, damit angebotene Ausbildungsstellen tatsächlich besetzt werden?“
Ich will Ihnen noch weitere Vergleichszahlen nennen:
Im Jahr 2005 gab es über 40 000 unversorgte Bewerber
auf ungefähr 12 000 unbesetzte Stellen. Das Verhältnis
hat sich also ins Gegenteil verkehrt.
Ausblick auf das Jahr 2011. Die Bundesagentur für
Arbeit verzeichnet in ihrer Halbjahresbilanz einen deutlichen Anstieg der Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze. Wir können davon ausgehen, dass es für den
Zeitraum September 2010 bis Ende März 2011 einen
Anstieg der gemeldeten Ausbildungsplätze um 14,3 Prozent gegeben hat. In absoluten Zahlen ausgedrückt:
48 000 Ausbildungsplätze mehr als im Vorjahr wurden
bis Ende März gemeldet. Das ist eine gute Perspektive
für dieses Jahr 2011.
({2})
Damit stellt sich die Frage: Was sind die zentralen
Aufgaben in der Berufsbildungspolitik, vor denen wir
stehen, damit wir diese neue Situation sinnvoll gestalten
können?
Der erste Punkt. Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, dessen Zeitraum wir bis 2014 verlängert haben,
liegt nicht mehr bei quantitativen, sondern bei qualitativen Größen. Im Mittelpunkt steht also die Qualifikation.
Dazu haben Bund und Länder die Qualifizierungsinitiative verabschiedet. Es ist jetzt wichtig, dass die darin
vereinbarten Maßnahmen auch auf der Seite der Länder
konsequent umgesetzt werden. Wir wollen erreichen,
dass jeder Jugendliche einen Abschluss bzw. eine Qualifikation erreicht, die den Einstieg in die Ausbildung ermöglicht.
Der zweite Punkt betrifft die Neuordnung des Übergangssystems. Wir sollten in dieser Frage nicht fahrlässig sein. Manchmal entsteht der Eindruck: Das Übergangssystem brauchen wir überhaupt nicht.
({3})
- So ist es. - Das ist aber keine Lösung. Man muss
manchmal auch über den Tellerrand schauen und darf
sich nicht nur auf Deutschland beziehen. Wer sich bei
den europäischen Nachbarn umschaut, der weiß: Der
Übergang von Bildung in Beschäftigung ist ein ganz
zentrales bildungspolitisches Thema. Die Jugendarbeitslosigkeit würde in Spanien nicht 40 Prozent, in Frankreich nicht 25 Prozent und in den skandinavischen Ländern nicht um die 20 Prozent betragen, wenn es in diesen
Ländern an der Stelle funktionieren würde. Der Übergang ist die sensible Stelle überhaupt. Wir haben in
Deutschland eine Jugendarbeitslosigkeit von 7 Prozent.
Darum werden wir beneidet. Bei uns ist die Jugendarbeitslosigkeit so viel niedriger als in anderen Ländern,
weil es die berufliche Bildung und die duale Ausbildung
gibt.
Jetzt müssen aber die nächsten Schritte gegangen
werden. Für mich beginnt das Übergangssystem nicht
da, wo die Schule endet. Daher sind für mich die Bildungsketten die wichtigste Maßnahme, die ab Klasse 7
mit der Potenzialanalyse beginnen. Begleitet werden
30 000 Schülerinnen und Schüler bis zur Ausbildung.
Ich bin davon überzeugt, dass es das Ziel der Neuordnung des Übergangssystems - es ist die entscheidende
Maßnahme, beginnend ab Klasse 7 - sein muss, mehr
Jugendlichen den Schulabschluss zu ermöglichen. Um
dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns sowohl auf der
Ebene der Länder wie auch auf der Ebene des Bundes einigen. Mein Ziel ist nicht, einfach Geld von A nach B,
also zur BA, zu schieben. Wir brauchen vielmehr eine
zentrale Maßnahme der Länder und des Bundes.
({4})
- Lieber Herr Schulz, genau das machen wir. Sie glauben das nicht? Das glaube ich Ihnen sofort. - Was will
ich sagen? Wir haben jetzt auf der Bundesebene genau
diesen Schritt getan: Wir haben diverse Maßnahmen zusammengefasst, solche im Kontext der Schule und solche im Kontext der beruflichen Bildung. Nach allem,
was ich aus den Schulen höre - es ist eine wichtige unterstützende Maßnahme für die Arbeit in den Schulen;
man kann das nicht einfach den Lehrerinnen und LehBundesministerin Dr. Annette Schavan
rern überlassen -, bin ich davon überzeugt, dass diese
Maßnahme von allen Maßnahmen, die wir vor allen Dingen auf der Ebene der Länder ausprobiert haben, die
wirksamste ist; sie gibt uns die Möglichkeit, tatsächlich
eine bessere Qualifikation der Jugendlichen zu erreichen, die sich schwertun.
Dritter Punkt. Die Gruppe, die uns in diesem Kontext
am meisten interessieren muss - auch was die Bildungsketten angeht -, bilden die Jugendlichen mit Migrationshintergrund; man braucht dafür keine eigenen, neuen
Maßnahmen. Wir wissen, dass die Ausbildungsquote in
dieser Gruppe geringer ist; die Quote derer, die ohne
Schulabschluss bleiben, ist höher. Deshalb ist die Maßnahme für diese Jugendlichen besonders wichtig.
Wichtig ist aber auch, dass es uns in den nächsten
Jahren gelingt, bei unserem Bemühen, Unternehmer mit
Migrationshintergrund in die Ausbildung einzubeziehen,
weiter voranzukommen. Die Unternehmer mit Migrationshintergrund kommen aus unterschiedlichen Kulturen und wissen um kulturelle Vorbehalte und klassisches
Bildungsverhalten in dieser oder jener Kultur; sie können uns auf dem Ausbildungsmarkt helfen. Auch da sind
wir einen guten Schritt vorangekommen; aber die Zahl
derer, die mitmachen, kann noch erhöht werden.
Letzter wichtiger Punkt. Im Laufe der nächsten Monate wird die Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens im Deutschen Qualifikationsrahmen vollendet; wir sind in der Endphase. Das ist ein zentraler
Schritt; denn damit kommt es bei der Frage, ob wir bei
der Umsetzung des Qualifikationsrahmens die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung akzeptieren, zur Stunde der Wahrheit. Ich bin der festen
Überzeugung: Jetzt ist der Moment, in dem wir europapolitisch einen wichtigen Impuls setzen können. Viele
beneiden uns um die duale Ausbildung. Mit der Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens im Deutschen Qualifikationsrahmen haben wir die große Chance
- wir werden sie nutzen -, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Ausbildung mit der Anerkennung von Ausbildungen und Abschlüssen zu belegen.
Insofern finde ich, dass das eine gute Situation für die
berufliche Bildung ist. Das ist mit Blick auf die Zukunftschancen der jungen Generation eine gute Botschaft.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sagen, es gebe
eine positive Entwicklung. Darin stimmen wir überein.
Diese positive Entwicklung kann uns dennoch nicht zufriedenstellen; darüber sind wir uns hoffentlich einig.
({0})
Dazu will ich Ihnen drei Zahlen nennen: 85 000 junge
Menschen haben im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz erhalten. Weitere 320 000 junge Menschen
stecken in einer der vielen Maßnahmen im Übergangsdschungel; auch die Frau Ministerin hat bemerkt, dass
dort unbedingt eine Lichtung erforderlich ist. Die bedrückendste Zahl ist für mich: 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen
Berufsabschluss und können deshalb die Schwelle zum
Berufsleben gar nicht überwinden.
({1})
Diese jungen Erwachsenen befinden sich nicht einmal in
einer Qualifizierungsmaßnahme. Diese erschreckend
hohe Zahl sinkt auch nicht, trotz des demografischen
Wandels, trotz des Fachkräftebedarfs und trotz der Erholung der Wirtschaft; das ist für mich das schlimmste Signal, das von dieser Zahl ausgeht.
Wenn ich auf die Website Ihres Hauses gehe, dann
lese ich über diese jungen Menschen:
Hierbei handelt es sich um ein weitere „Reserve“,
die für eine Steigerung der künftigen Zahl junger
Fachkräfte genutzt werden kann.
Das ist, freundlich gesagt, eine sehr unglückliche Beschreibung dieser jungen Menschen.
({2})
Das ist eben keine Reserve, die man für schlechte Zeiten anlegt. Diese Menschen haben einfach keine Startmöglichkeiten in das Berufsleben, weil ihnen die Berufsausbildung fehlt. Es ist zynisch, wenn man eine solche
Wortwahl trifft. Es handelt sich um Einzelschicksale, denen wir helfen müssen. Vielleicht haben Sie in den
nächsten drei Wochen der sitzungsfreien Zeit die Gelegenheit, diesen Terminus auf der Website zu entfernen.
Wir sind uns einig: Wir dürfen keinen der jungen
Menschen aufgeben und verloren geben. Wir müssen jeden jungen Menschen mit einem Schulabschluss und einem Berufsabschluss in das Leben entlassen. Als SPDBundestagsfraktion haben wir dazu drei konkrete Vorschläge gemacht.
Wir wollen erstens eine Berufsausbildungsgarantie.
Auch wenn Sie auf die Jugendarbeitslosigkeit bei uns in
Höhe von 7 Prozent verweisen und sagen, dass diese
Zahl im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern
gut aussieht, sind wir der Meinung, dass eine Ausbildungsgarantie ein Signal an die Jugendlichen in unserem
Land ist, dass es für sie eine sichere Perspektive beim
Start in das Berufsleben geben wird. Das ist etwas, was
wir unbedingt erreichen wollen. Das lehnen Sie leider
ab.
({3})
Zweitens halten wir an dem Ausbildungsbonus fest.
Auch wenn Sie sagen: „Die Wirtschaft hat bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen zugelegt“, ist es im
Moment das falsche Signal, auf dieses Instrument zu
verzichten. Durch diesen Bonus sind bisher rund 50 000
junge Menschen zu einer Ausbildungsstelle gekommen.
({4})
Davon abgehen zu wollen, ist das falsche Signal zum
falschen Zeitpunkt.
Drittens wollen wir das Programm „Zweite Chance“
erhalten, das Sie jetzt streichen wollen. Das ist kontraproduktiv.
({5})
- Sie wollen zumindest kürzen. - Sie sagten eben, die
Zahl der Ausbildungen im dualen Bereich sei gestiegen.
Wenn die Zahl der Ausbildungen insgesamt gesunken
ist, muss ja die Zahl der Ausbildungen in den staatlichen
Ausbildungseinrichtungen gesunken sein. Das ist der
Beleg dafür, dass man dort nicht kürzen darf, wenn wir
gemeinsam an dem Ziel festhalten, dass jede Schülerin
und jeder Schüler eine Berufsausbildung erhält. Genau
deshalb brauchen wir das Programm „Zweite Chance“ in
voller Höhe.
({6})
Aber das reicht auch nicht. Zweite und dritte Chancen
für Jugendliche in unserem Land einzuräumen, ist das
eine. Das alles sind Reparaturmaßnahmen. Das alles sind
Lösungen, wenn wir Jugendlichen aus einer Situation
heraushelfen, in die sie durch vielerlei Gründe hineingeraten sind. Wir haben - das ist das andere - einen ganzheitlichen Ansatz. Damit komme ich zu meinem letzten
Punkt. Wir brauchen eine sogenannte - ich nehme dieses
Wort, weil Sie es so gern benutzen - Exzellenzinitiative
für Kitas und für Ganztagsschulen. Das ist Bildung von
Anfang an. Hier müssen wir investieren, und zwar in
ganz Deutschland. Es ist der richtige Ansatz, dort viel
Geld hineinzugeben, damit Kinder von Anfang an, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, individuell gefördert
werden können und einen guten Start bekommen.
Beim Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen wissen
wir Sie eben leider nicht an unserer Seite. Genauso wie
Ihre Kollegin Familienministerin Schröder und die
ganze Regierung Merkel legen Sie dort eben keinen
Schwerpunkt Ihrer Politik.
({7})
Das ist der grundsätzliche Fehler in Ihrer Bildungspolitik. Wir fordern immer wieder und erneut einen Krippengipfel,
({8})
bei dem man sich mit den Ländern zusammensetzt,
({9})
um dafür zu sorgen,
({10})
dass der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 tatsächlich eingelöst werden kann. In dieser Frage lassen
Sie die Länder und Kommunen im Stich.
Sie haben auch keine neue Initiative - wie wir sie fordern - für den Ausbau der Ganztagsschulen gestartet.
Sie reden immer davon - mal die CDU, mal die FDP,
auch mal Frau Merkel -, dass Sie das Kooperationsverbot für eine falsche Entscheidung halten.
({11})
Wir teilen das in diesem Haus, glaube ich, unisono. Wo
bleibt Ihre Initiative, dieses Kooperationsverbot aufzuheben?
({12})
Ich kenne keine Initiative,
({13})
weder von der Regierung noch vom Parlament noch von
dieser Koalition.
({14})
Ich würde weniger Zeitung lesen wollen,
({15})
sondern hier in diesem Haus gern eine Gesetzesinitiative
sehen.
({16})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich im Kabinett zusammen und suchen Sie nach einem ganzheitlichen Ansatz für Bildung in unserem Lande, und machen Sie
nicht nur Stückwerk!
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Ziegler, man
kann Zahlen schlechtreden - die unter Ihrer Regierung
waren noch schlechter - und den Jugendlichen auf den
Rängen oder an den Bildschirmen jeglichen Mut und
jegliche Zuversicht nehmen, oder man liest den Bericht
richtig und versucht, die guten Zahlen zu deuten und
dem Publikum näherzubringen, um bei den Menschen
Mut und Zuversicht zu verbreiten.
({0})
Der Mensch, vor allem der junge Mensch, braucht
die Hoffnung auf Fortschritt. Älteren Menschen genügt es, wenn sie hoffen können, dass es nicht
schlechter wird.
Dieser Satz ist nicht von mir, sondern er wird dem langjährigen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel zugeschrieben. Ich glaube, in diesem Hause zählen
wir uns alle nicht nur nach dieser Definition zu den jüngeren Menschen, und das sollten wir auch.
Was den von der Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht 2011 angeht, dürfen wir uns zu den
jungen Menschen zählen und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Der Bericht zeigt, dass sich die Situation
auf dem Ausbildungsmarkt weiter verbessert. Die Ausbildungsbilanz kann sich wirklich sehen lassen. Die Anfang der Woche veröffentlichte Ausbildungsumfrage der
Industrie- und Handelskammern bestätigt diese erfreuliche Entwicklung. Die Chancen der Jugendlichen auf einen Ausbildungsplatz werden als glänzend angesehen.
Für ihren Bereich rechnen die Kammern mit einem Zuwachs an Ausbildungsverträgen von 5 Prozent. 40 000
zusätzliche Ausbildungsplätze wollen die Unternehmen
allein in diesem Bereich im Jahr 2011 anbieten. Das sind
ausgezeichnete Nachrichten für die jungen Leute, über
die wir uns freuen dürfen.
({1})
Auch der Berufsbildungsbericht rechnet angesichts
der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung mit einer
Zunahme der angebotenen Ausbildungsstellen. Die aktuellen Zahlen der Kammern sind ein erster empirischer
Beleg. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Bundesregierung die richtigen wirtschaftspolitischen Akzente
setzt. 2,6 Prozent prognostiziertes Wachstum in diesem
Jahr und ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf
2,9 Millionen sind hierfür ein Nachweis.
({2})
Die Unternehmen werden ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung gerecht und zeigen mit ihrer vorausschauenden Personalpolitik, dass sie mit Optimismus in
die Zukunft blicken. Diesen Optimismus können auch
die jungen Leute teilen. Sie profitieren von dem steigenden Angebot an Ausbildungsplätzen. Aufgrund der sinkenden Bewerberzahlen verbessern sich auch für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler die Chancen
auf einen Ausbildungsplatz. Diese Entwicklung wird vor
allem in den neuen Bundesländern besonders deutlich.
Dort ist die Zahl der Schulabgänger um 13,5 Prozent zurückgegangen. Darauf ist auch im Wesentlichen der geringfügige Rückgang an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im Bundesschnitt zurückzuführen; denn in den
alten Bundesländern wurden sogar mehr Verträge abgeschlossen als im Vorjahr.
Der erfreuliche Umstand, dass die Wehrpflicht endlich aufgehoben wird, schmälert die Chancen auf einen
Ausbildungsplatz keineswegs. Auch der große Abiturjahrgang wird kein Problem darstellen, ganz im Gegenteil: Der enorme Bewerbermangel wird dadurch kurzzeitig ein wenig abgemildert. Während in rot-grünen Zeiten
Ausbildungsplätze Mangelware waren, suchen Handwerk und Wirtschaft heutzutage händeringend Nachwuchs.
({3})
Für dieses zentrale Problem müssen wir Lösungen
finden, und zwar in einer gemeinsamen Anstrengung
von Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Gerade
vor Ort brauchen wir Kooperationen von Schulen und
Unternehmen. Die zahlreichen Einzelmaßnahmen können vielfach durch bessere Koordination eine größere
Wirkung entfalten. Jugendliche sollen früh ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten entdecken können.
Wir müssen alle Reserven für die berufliche Dualausbildung aktivieren. Dazu gehört, dass wir das vielfach
noch brachliegende Potenzial der oft nur vermeintlich
Leistungsschwächeren ausschöpfen. Pilotversuche einzelner Unternehmen zeigen deutlich, dass viele als
schwer vermittelbar eingestufte Bezieher von Transferleistungen mit einer Einstiegsqualifizierung tatsächlich
erfolgreich in die Ausbildung hereingeführt werden können. Es lohnt sich also für die Unternehmen, Chancen zu
geben. Den Unternehmen, die das tun, gebührt unser
Dank.
({4})
Wie im Vorjahr gab es auch am Ende dieses Berichtsjahres wieder mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als
unversorgte Bewerber. Ganz besonders freue ich mich
darüber, dass auch die Zahl der Altbewerber seit 2008
um rund ein Drittel zurückgegangen ist. Altbewerbern,
lernschwachen Jugendlichen und jungen Menschen mit
Migrationshintergrund müssen wir zu einer Qualifizierung verhelfen. Eine Ausbildung ist und bleibt die beste
Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und Integration
in den Arbeitsmarkt.
({5})
Dass es sich lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen,
zeigt die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zu
den gesellschaftlichen Folgekosten unzureichender Bildung.
Der fortgeschriebene Ausbildungspakt mit neuem
Schwerpunkt ist ein wichtiger Beitrag zu unseren Anstrengungen bei der Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Das Übergangssystem selbst gilt es zu optimieren.
Den unübersehbaren Maßnahmendschungel werden wir
lichten. Mit den Bildungsketten setzen wir in der Schule
an, indem wir Schulabbrüche verhindern und Übergänge
von der Schule in die duale Ausbildung verbessern. Die
Bildungslotsen leisten dabei kontinuierlich und individuell einen richtigen und wertvollen Beitrag auf dem Weg
förderbedürftiger Jugendlicher zum Ausbildungsabschluss.
Dabei beschreiten wir einen anderen Weg - jetzt hören Sie gut zu, Frau Ziegler - als der Regierende Bürgermeister Wowereit und seine hilflose Arbeits- und Sozialsenatorin Bluhm von der Linken. Beide beteuern
immerfort, wie wichtig das Schaffen neuer Lehrstellen
ist, und drohen der Wirtschaft und dem Handwerk.
({6})
Doch wenn es darauf ankommt, in der eigenen Verwaltung - sozusagen vor der eigenen Haustür - Ausbildungsplätze zu schaffen, versagen SPD und Linke kläglich.
({7})
Man muss sich das einmal vorstellen: In der Hauptstadt lässt der rot-rote Senat über 10 Millionen Euro an
Mitteln für Ausbildung verfallen.
({8})
Von eingeplanten 2 Millionen Euro im Haushalt der linken Sozial- und Arbeitssenatorin sind hierfür gerade einmal 350 000 Euro ausgegeben worden. Peinlich hoch
zehn, kann ich da nur sagen.
({9})
Wir arbeiten mit den jungen Leuten daran, dass es
weiter vorangeht. Rot-Rot-Grün begnügt sich damit, zu
hoffen, dass es nicht schlechter wird. Sie sind eben eines: von gestern.
({10})
FDP und Union werden weiter zukunfts- und fortschrittsorientierte Politik für die jungen Menschen und
unser Land gestalten.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Rosemarie Hein für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich kann den
Optimismus, den Sie hier verbreiten, nicht teilen.
({0})
- Ja, das ist schade. Ich würde es gern, aber es gibt keinen Grund dazu. - In der vergangenen Woche haben Sie
- auch Ihr Staatssekretär - von einer insgesamt ausgeglichenen Bilanz gesprochen. Die Zahl der Altbewerber,
das haben Sie auch zitiert, sei um 30 Prozent zurückgegangen. Fakt ist aber:
Erstens. Von einer Entspannung kann eigentlich nicht
die Rede sein. Vielmehr wurden insgesamt etwas weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr. Dabei geht die Schere zwischen Ost und West wieder auseinander. Während in den westlichen
Bundesländern ein leichter Zuwachs zu verzeichnen war,
ging die Zahl der Ausbildungsplätze im Osten um über
4 000, also um 7,4 Prozent, zurück. Hinzu kommt, dass
der Anteil der überbetrieblichen, also ausschließlich öffentlich finanzierten, Ausbildungsplätze mit 20 Prozent
im Osten viermal höher ist als im Westen. Im Westen ist
dafür das Übergangssystem anteilig wesentlich stärker.
Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die in diesem Bildungssystem stärker benachteiligt sind, dort größer ist. Die gibt es
im Osten nicht so reichlich.
Zweitens. Mehr als 184 000 Altbewerberinnen und
Altbewerber - ein schreckliches Wort - haben in den
vergangenen fünf Jahren vergeblich einen Ausbildungsplatz gesucht. Angesichts dieser Zahl ist es doch ein
Skandal, wenn von einem Fachkräftemangel geredet
wird und Unternehmen beklagen, dass sie Ausbildungsplätze nicht besetzen können.
({1})
Drittens. Auf die derzeit etwa 19 000 unbesetzten
Ausbildungsstellen kämen jeweils zehn Bewerberinnen
und Bewerber, wenn man allen Altbewerberinnen und
Altbewerbern und denen aus diesem Jahr eine Ausbildungsstelle anbieten würde. Es ergäbe sich, wie gesagt,
ein Verhältnis von eins zu zehn. Dieser Bilanz sollten Sie
sich stellen. Eine ausgeglichene Bilanz stelle ich mir wesentlich anders vor.
Die Ministerin sagte eben, dass es angesichts der
Wirtschaftslage noch schlimmer hätte kommen können.
Wenn die Statistik jetzt nicht ganz so schlimm aussieht
wie noch vor ein oder zwei Jahren, so ist das offensichtlich allein Folge der zurückgegangenen Zahl der Schulabsolventinnen und Schulabsolventen. Die geburtenschwachen Jahrgänge, die es nach der Wende im Osten
gab, sind jetzt altersmäßig vollständig in der Ausbildung. Damals ist die Geburtenzahl auf ein Drittel des
letzten Vorwendejahres zurückgegangen. Die Zahl der
Schulabgängerinnen und Schulabgänger, die einen Ausbildungsplatz suchen, hat sich infolge dessen im Osten
jetzt halbiert. Die Positivbilanz, die die Bundesregierung
nun einfährt, ist also dem Geburtentief im Osten geschuldet. Man gewinnt den Eindruck, man habe das einfach ausgesessen.
Die Bundesregierung setzt heute offensichtlich immer
noch auf das Prinzip Hoffnung. Sie hofft zum einen auf
weiter zurückgehende Schülerzahlen und zum anderen
auf einen überproportionalen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, was die Wirtschaft wohl animieren soll, mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Was bitte
ist das denn für ein Fortschrittsverständnis? Das können
wir nicht teilen. Wir haben den Eindruck, dass man sich
heftig in die Tasche lügt.
({2})
Hinzu kommt, dass es zugegebenermaßen eine große
Dunkelziffer gibt, weil die Statistik nur die Bewerberinnen und Bewerber erfasst, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit und den anderen sogenannten zugelassenen Trägern melden. Das ist aber nur gut die Hälfte eines
Absolventenjahrgangs. Wenn nun aber die Bundesregierung gar nicht so genau weiß, wer sich warum und wie
lange um einen Ausbildungsplatz bemüht und wer wann
einen findet, wie kann sie dann helfend eingreifen? Darum lese ich mit großem Interesse, dass es endlich Bemühungen um eine bessere Ausbildungsstatistik gibt.
Das haben wir in einem Antrag, den wir vor einigen Monaten in diesem Haus vorgelegt haben, bereits gefordert.
Ein weiteres Problem bleibt das Übergangssystem.
Unternehmen benennen heute die mangelnde Ausbildungsfähigkeit als Grund, weshalb nicht alle Ausbildungsplätze besetzt werden können. Aber woran bemisst
sich eigentlich die Ausbildungsfähigkeit? Im Bericht
kann man dazu keinerlei Aussagen finden. Auch der
Staatssekretär ist mir in der vergangenen Woche eine
Antwort auf meine Frage schuldig geblieben. Ich habe
erfahren, dass es ein entsprechendes Kästchen in den
Formularen der Bundesagentur für Arbeit gibt. Ich erfuhr, dass man da ein Kreuz mache oder eben nicht nach welchen Maßstäben bleibt sehr undurchsichtig.
Wer an dieser Stelle ein Kreuzchen hat, landet mit ziemlicher Sicherheit im Übergangssystem. Im Jahr 2010 haben sich 324 000 Jugendliche in irgendeiner Weise im
Übergangssystem wiedergefunden. Nicht alle von ihnen
galten als nichtausbildungsfähig. Sie haben trotzdem
keinen Ausbildungsplatz bekommen. Bekannt ist aber,
dass das ein- oder oftmals auch mehrmalige Durchlaufen
des Übergangssystems längst nicht das bringt, was das
System verspricht. Dadurch wird der Übergang in eine
Ausbildung in der Regel nicht erleichtert, sondern erschwert.
({3})
Mit der Zahl der Jahre, in denen man sich erfolglos
auf dem Ausbildungsmarkt beworben hat, sinkt zudem
die Chance auf eine erfolgreiche Vermittlung drastisch.
Darum ist der vorhin schon erwähnte Befund, dass
1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen
20 und 29 Jahren überhaupt keine Berufsausbildung haben, eines der schlimmsten Ergebnisse bundesdeutscher
Berufsbildungspolitik der letzten Jahre. Da kann sich
auch keine Vorgängerregierung ausnehmen. Für die Lösung dieses Problems gibt es bis heute überhaupt kein
überzeugendes Konzept.
({4})
Nun scheint ein neues Problem herangewachsen zu
sein: der vermeintliche oder tatsächliche Fachkräftemangel. Zunächst einmal ist festzuhalten: Wenn man in den
vergangenen Jahren ausreichend Ausbildungsplätze geschaffen hätte, gäbe es diesen Mangel heute nicht.
({5})
Heute stellt man fest, man könne auf keinen jungen
Menschen mehr verzichten. Konnte man das denn je?
Offensichtlich konnten sich Unternehmen in Zeiten starker Jahrgänge einfach die Besten aussuchen. Der Rest
wurde abgeschoben. Man konnte ja wählen.
({6})
Nun aber wählen die Bewerberinnen und Bewerber. Hören Sie einmal zu; ich habe etwas sehr Interessantes
gefunden. - Im Bericht findet sich das Schaubild 10.
Dort sind die Berufe aufgeführt, in denen schon jetzt ein
Bewerbermangel beklagt wird. Das sind Berufe in der
Gastronomie, Verkäuferinnen und Verkäufer, Bäcker,
Gebäudereiniger usw. All diese Berufe finden sich in einer Tabelle - es geht um Tarifverträge und Entgelte -, in
der die Berufe aufgeführt sind, in denen in meinem Bundesland ein Stundenlohn von unter 7,50 Euro gezahlt
wird.
({7})
Entsprechend dieser Tabelle wird im Gebäudereinigerhandwerk am meisten verdient. In Sachsen-Anhalt wird
in diesem Bereich ein Stundenlohn von 6,58 Euro gezahlt, und das ist ein Branchenmindestlohn. Hört! Hört!
({8})
Bedenkt man dann noch die Arbeitsbedingungen in diesen Berufsgruppen, dann ist verständlich, warum diese
Berufe zu diesen Konditionen heute von jungen Leuten
nicht mehr gewählt werden. Da funktioniert der Markt
eben einmal anders herum. Ich finde, das ist auch in Ordnung.
({9})
Ein anständiger gesetzlicher Mindestlohn könnte da helfen. Er würde die Attraktivität dieser Berufe erhöhen.
Es gibt im vorliegenden Berufsbildungsbericht sehr
viele beunruhigende Befunde. Ich frage mich: Was kann
man dagegen tun? Das Bundesministerium hat eine Abteilung „Programmerfindung“ - ich habe das hier schon
vor einigen Monaten erwähnt -, der es immer noch nicht
an Ideen mangelt. Die Programme, die ich jetzt nenne,
habe ich alle im Berufsbildungsbericht gefunden: Es gibt
den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs; er wurde bis 2014 verlängert. Es gibt die
Initiative „Abschluss und Anschluss - Bildungsketten
bis zum Ausbildungsabschluss“, die unter anderem die
Berufseinstiegsbegleiter beinhaltet; die Ministerin hat
dies angesprochen.
({10})
Weitere Programme heißen: EQ Plus, APO, BOP, ÜBS,
ARENA, VerA und Jobstarter Connect. Ich befürchte,
ich habe ein paar übersehen. Das alles hört sich lustig an,
aber es ist nicht lustig. Es wird immer unübersichtlicher.
Welches Programm läuft wie lange und richtet sich an
wen? Hinzu kommen noch die landeseigenen Modellprojekte und Programme. Wenn die Ministerin heute
sagt, man wolle das alles vereinheitlichen, dann warte
ich gespannt auf den Entwurf, der zeigt, wie diese Vereinheitlichung aussehen soll. Ich bin skeptisch. Das hier
riecht nach Vielfalt, klingt nach Vielfalt, aber ich glaube,
es ist nur Wirrwarr.
({11})
So wird das nichts werden. Auch die Programme, die
nun frühzeitig in den Schulen ansetzen sollen, um abschlussgefährdeten Jugendlichen zu helfen, sind nichts
weiter als Reparaturprogramme für ein verfehltes Bildungssystem. Wenn in Zukunft immer weniger Arbeitsplätze für Geringqualifizierte vorhanden sein werden,
dann muss man für bessere Bildung sorgen. Wir brauchen das Geld dort, wo die Bildung von Anfang an besser gemacht werden kann,
({12})
und das Kooperationsverbot muss fallen, damit die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern auch
gemeinsam wahrgenommen werden kann.
Als Erstes muss sich die Schule ändern, damit mehr
bessere Abschlüsse erworben werden können. Ein
Hauptschulabschluss reicht oft nicht mehr. Auch das
Übergangssystem hilft an dieser Stelle überhaupt nicht
weiter. Wir brauchen mindestens solide Realschulabschlüsse für die Mehrzahl der jungen Menschen und natürlich mehr Abiturienten.
Zweitens brauchen wir endlich einen Rechtsanspruch
auf eine qualitativ hochwertige berufliche Erstausbildung.
Drittens muss es in der Wirtschaft ein solidarisches
System der Ausbildungsfinanzierung nach dem Vorbild
der Bauindustrie geben. Es muss durchgesetzt werden,
dass sich alle Unternehmen daran beteiligen.
Viertens muss der Unsinn aufhören, dass die einen
eine Ausbildungsvergütung bekommen - nicht immer
eine besonders hohe, aber immerhin eine -, während die
anderen Schulgeld zahlen müssen, um überhaupt eine
Ausbildung zu erhalten. Darüber schweigt der Bericht
übrigens.
({13})
Das ist vor allem in den Gesundheitsberufen der Fall,
obwohl der Bedarf an Arbeitskräften in diesen Berufen
in den nächsten Jahren enorm zunehmen wird.
Fünftens muss das Berufsübergangssystem weitgehend überflüssig gemacht werden; ganz wird man es
nicht abschaffen können. Stattdessen brauchen wir ausbildungsbegleitende Hilfen in den Ausbildungsberufen,
beim Gang in die Berufsausbildung. Es ist sinnvoll, dort
anzusetzen; denn dort kann es tatsächlich helfen und
stellt nicht nur eine Warteschleife dar.
Sechstens bedarf es einer schnellen Lösung für die
20- bis 29-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung; denn hier geht es nicht nur um die individuellen
Lebensperspektiven - um die geht es natürlich auch -,
sondern auch um hohe Folgekosten bis ins Alter.
Das sind ganz sicher nur einige der wichtigsten
Schritte, die unbedingt gegangen werden müssen. Es
gibt sicher noch mehr. Man muss sie umsetzen. Wir
möchten eigentlich nicht bis zum nächsten Bericht warten, um dann festzustellen, dass sich wieder nichts getan
hat.
Ich danke.
({14})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kamp, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede die Jugendlichen vor dem Fernseher begrüßt. Ich gehe davon aus,
dass die meisten Jugendlichen um diese Uhrzeit, um
9.30 Uhr, entweder in der Schule oder bei der Ausbildung sind. Den Jugendlichen, die um 9.30 Uhr vor dem
Fernseher sitzen, hilft Ihr Schönreden nicht.
({0})
Sie wollen eine Perspektive, sie wollen eine Chance, und
sie wollen nicht nur demografische Daten hören, die
vielleicht irgendwann wirksam werden.
Die Zahlen sprechen für sich. Einige wurden genannt:
185 000 Altbewerberinnen und Altbewerber, 320 000 Jugendliche im Übergangssystem. Das ist noch nicht alles.
Die eigentlichen Zukunftsherausforderungen stehen unmittelbar bevor. Dazu gehört die Tatsache, dass in diesem Jahr die doppelten Jahrgänge - Stichwort: G 8 - auf
den Ausbildungsmarkt strömen. Die Aussetzung von
Wehrpflicht und Zivildienst führt dazu, dass es in
Deutschland bald 60 000 junge Männer geben wird, die
ausgebildet werden wollen.
({1})
Auf diese Personengruppen gehen Sie gar nicht ein. Auf
die Frage, was die Politik tut, damit diese jungen Männer nicht auf der Straße und nicht in einer Sackgasse landen, sondern eine qualifizierte Ausbildung bekommen,
haben Sie noch keine Antwort.
({2})
Das ist eine Herausforderung, der Sie sich annehmen
sollten.
({3})
Frau Schavan, Sie sagen, dass es günstige Rahmenbedingungen gibt. Aber günstige Rahmenbedingungen alleine helfen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen nur bedingt. All die Zahlen, die ich genannt habe
- es fehlen geschätzt 670 000 betriebliche Ausbildungsplätze in Deutschland -, machen deutlich: Wir brauchen
strukturelle Reformen, um in diesem Bereich voranzukommen. Darauf sind Sie leider gar nicht eingegangen.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie den Ausbildungspakt verlängert haben. Ja, das haben Sie getan.
Aber Sie haben keine überprüfbaren Ziele festgelegt.
({4})
Sie haben zum Beispiel nicht gesagt: Wir schaffen für
diese Jugendlichen 60 000 zusätzliche Ausbildungsplätze.
({5})
Das wäre messbar und überprüfbar. Das wäre eine Handlungsanweisung für alle Beteiligten gewesen. Davon
nehmen Sie aber Abstand. Damit sind wir wieder beim
Schönreden und bei leeren Versprechen.
Ein anderes Beispiel: die Bildungsketten. Ja, diese
Initiative ist eine sinnvolle, gute Idee. Aber wenn es so
ist, wie Sie sagen, warum statten Sie sie dann nicht vernünftig aus? Warum investieren Sie in diese Initiative
nicht so viel Geld, dass sie in ganz Deutschland flächendeckend wirken kann und nicht bei einigen wenigen
Leuchtturmprojekten steckenbleibt? Für Jugendliche
ohne Perspektive reichen einige wenige Vorzeigeprojekte nicht aus. Das ist eine Binsenweisheit.
({6})
Wenn 150 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz
haben, verursacht dies Folgekosten. Das DIW spricht davon, dass 150 000 nicht ausgebildete Jugendliche zu
jährlichen Folgekosten in Höhe von 1,5 Milliarden Euro
führen. Damit bin ich bei einem wichtigen Punkt: Es ist
nicht nur die Aufgabe des Staates - wir reden über ein
erfolgreiches duales System -, sondern auch die Aufgabe der Wirtschaft, in diesem Bereich zu agieren. Auch
hier muss ein Umdenken stattfinden. Aber dieses Umdenken fällt nicht vom Himmel. An dieser Stelle sind
wir wieder bei der Verantwortung der Politik. Wir müssen die Menschen überzeugen. Wenn Sie fordern, dass
sich gerade Unternehmen mit Migrationshintergrund
stärker auf dem Ausbildungsmarkt engagieren - diese
Ansicht teile ich -, dann bedeutet dies auch, dass wir es
ihnen ermöglichen müssen. Wenn es darum geht, Menschen zu einer Ausbildung zu befähigen und dafür die
richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, sind auch
die IHKs gefragt. Hier stehen wir noch halbwegs am Anfang.
Wir machen Ihnen einen Vorschlag. Unser Vorschlag
heißt „Dual Plus“. Mit diesem Vorschlag gehen wir nicht
nur die Umgestaltung des Übergangssystems an. Vielmehr haben wir vor allem folgende Fragen im Blick:
Wie schaffen wir es, dass sich auch kleine und mittlere
Betriebe am Ausbildungspakt beteiligen und die Ausbildungsverpflichtung eingehen? Wie können wir Qualifizierung so organisieren, dass sie überbetrieblich und
Hand in Hand mit dem dualen System funktioniert? Die
dritte wichtige Frage lautet: Wie können wir auch Jugendliche, die in einer Sackgasse stecken geblieben sind,
keine Perspektive haben und auf dem Ausbildungsmarkt
keine Angebote erhalten, erreichen? Auf diese Fragen
geben wir Antworten. Dabei setzen wir im Gegensatz zu
Ihnen nicht nur auf die demografische Entwicklung und
die Hoffnung, dass sich die Welt irgendwann verändert,
sondern wir machen ein konkretes Angebot, das sich an
die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Jugendlichen und
die Politik, die endlich handeln muss, richtet.
({7})
Eine letzte Bemerkung zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Zahlen zeigen: Sie sind die Verlierer unseres Ausbildungssystems; sie bleiben auf der
Strecke. Was diese Jugendlichen betrifft, sind wir bisher
nicht konkret genug. Auch Ihre Antworten sind nicht
konkret genug. Schlimmer noch: Sie entdecken und analysieren Probleme, geben aber keine einzige Antwort auf
die Frage, wie sie zu lösen sind. Die eine Seite der Medaille ist, dass wir passgenaue Angebote machen müssen. Die andere Seite der Medaille ist, dass sich auch in
der Kultur dieses Landes etwas verändern muss.
Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen ausländischen Namen haben, dauert es im Vergleich
zu deutschen Jugendlichen dreimal so lange, bis sie zu
einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden, und sie
bekommen viermal so oft Absagen. Es dauert bis zu
17 Monate, bis sie überhaupt eine Einladung zu einem
Bewerbungsgespräch bekommen. Wenn man den Jugendlichen die Tür vor der Nase schließt, braucht man
sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann frustriert
sind. Auch für diese Jugendlichen muss gelten: Sie sollten sich mit Optimismus bewerben können. Bis wir das
erreicht haben, müssen Sie noch jede Menge Hausaufgaben machen. Es reicht nicht aus, nur auf die demografische Entwicklung zu setzen, sondern man muss auch
politisch entschlossen handeln. Dazu haben Sie bis jetzt
noch keine Konzepte vorgelegt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Man kann immer nörgeln und Haare in der Suppe
finden, Frau Kollegin Ziegler. Wenn wir uns aber die
Zahlen bei den Altbewerbern und den jungen Menschen,
die im Übergangssystem sind, angucken, kann man
schon von einer rot-grünen Erblast sprechen.
({0})
Es ist eine echte rot-grüne Erblast, dass jeder zweite Migrant im Alter zwischen 25 und 34 Jahren in den Jahren
vor 2005 keinen Ausbildungsplatz gefunden hat. Neh12180
men Sie die Zahlen bei den Altbewerbern: Das waren
rund 300 000 im Jahr 2005. Im Jahr 2010 waren es
185 000. Die Zahl der jungen Menschen im Übergangssystem ist in den letzten fünf Jahren um fast 100 000 zurückgegangen. Allein im letzten Jahr ist sie um ein Viertel gesunken. Seitdem Frau Schavan für Bildung und
Forschung in Deutschland Verantwortung trägt, haben
wir Erfolge auf diesem Gebiet vorzuweisen. Vorher war
das eher ein Desaster.
({1})
Wenn Sie eine objektive Wertung der Politik des Bundesbildungsministeriums bzw. der Bundesregierung vornehmen wollen, dann müssen Sie sich gelegentlich einmal den OECD-Bericht aus dem Jahr 2010 vornehmen.
Da steht auf Seite 19:
Deutschland engagiert sich auf beeindruckende
Weise für die Bewältigung dieser Herausforderung.
Das bezieht sich auf die Herausforderung im Rahmen
des Übergangssystems. - Dann wird weiter auf folgende
Themen Bezug genommen: Initiative „Perspektive Berufsabschluss“, Koordinierung der Übergangsangebote
auf regionaler Ebene, Un- und Angelernte, voll berufsorientierte Abschlüsse. Das heißt, die OECD konstatiert,
dass die Bundesregierung bzw. die Bundesministerin genau den richtigen Weg geht.
({2})
Warum müssen wir diesen Weg gehen? Was hat uns
denn in der Krise so stark gemacht? In der Krise hat uns
doch stark gemacht, dass wir ein Industriestandort sind.
Wir sind nur deswegen ein erfolgreicher Industriestandort, weil die duale berufliche Ausbildung in der Welt
einmalig ist. Frau Schavan hat darauf hingewiesen: Wir
haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Industrieländer, andere haben eine viel höhere. Die duale Ausbildung ist eine Basis dafür, dass wir eine so niedrige Jugendarbeitslosigkeit haben.
({3})
Sie haben auch auf die Wirtschaft Bezug genommen.
Wenn uns die Wirtschaft mitteilt, dass sie für 60 000
Stellen keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber
hat finden können, und darauf hinweist, dass Erziehungsdefizite zu Ausbildungsdefiziten werden, dann ist
doch nicht nur an die Politik und die Schule, sondern an
die gesamte Gesellschaft die Frage zu stellen: Wie machen wir junge Menschen fit, damit sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind? Das ist
nicht nur eine Aufgabe von Schule und Politik, das ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
({4})
Was macht die Politik? Wir haben bis zum Jahr 2014
rund 620 Millionen Euro für diesen Bereich eingestellt.
Allein für das Jahr 2011 haben wir die Mittel für die Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung um
30 Millionen Euro erhöht. Was steckt dahinter? Ich will
das an zwei ganz konkreten Beispielen deutlich machen.
Erstens geht es um ein Projekt meines sehr geschätzten Kollegen Hagemann in der Stadt Worms. Dort wurde
aus dem Programm „Perspektive Berufsabschluss“ ein
regionales Übergangsmanagement finanziert, weil es
dort eine sehr hohe Arbeitslosigkeit gibt und 10 Prozent
der Hauptschulabgängerinnen und -abgänger den direkten Übergang von der Schule ins duale Ausbildungssystem nicht schaffen. Mit diesem regionalen Übergangsmanagement - in Güstrow gibt es ein ähnliches Projekt will man die Akteure zusammenführen, damit wirklich
keiner verloren geht. Frau Ministerin, ich darf vielleicht
zitieren, was Sie in Rostock auf dem Unternehmertag
gesagt haben: „Es gibt niemanden, der nichts kann.“ Genau das ist die Basis für das, was wir hier tun.
({5})
Zweitens kümmern wir uns nicht nur um die, die keinen Schulabschluss haben. Im Rahmen des Programms
„Perspektive Berufsabschluss“ kümmern wir uns auch
um diejenigen, die älter, angelernt oder ungelernt sind.
Es gibt zum Beispiel bei mir im Wahlkreis in der Stadt
Schwaan ein Projekt im Pflegebereich. In MecklenburgVorpommern gibt es mittlerweile große Defizite an
Fachkräften im Pflegebereich. Dort werden Module aufgebaut, sodass Ungelernte oder Angelernte als Altenpflegehelfer oder Altenpfleger arbeiten können.
Diese beiden Beispiele zeigen: Die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen stellen sich den Herausforderungen. Wir machen keine Politik im Kuckucksland,
sondern wir machen Realpolitik.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Willi Brase für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Es
gibt einen Zuwachs an Ausbildungsplätzen auf voraussichtlich 614 000, 615 000 bis Ende September. Es gibt
aber auch, wie schon erwähnt, 320 000 Menschen im
Übergangssystem und 1,5 Millionen junge Leute zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss und mit
möglicherweise nur schlechten Perspektiven. Darüber
hinaus gab es zum 31. März 2011 100 000 Bewerber, die
älter als 19 Jahre sind. Ich nenne diese Zahlen deshalb,
weil der Berufsbildungsbericht 2011 meiner Meinung
nach sowohl Licht als auch Schatten enthält und es unsere Aufgabe ist, darauf hinzuweisen, dass wir hier im
Parlament und in der Regierung noch eine Menge zu tun
haben, damit die jungen Leute eine vernünftige Zukunftsperspektive bekommen.
({0})
Kollege Rehberg hat bereits über Erziehungsdefizite
gesprochen. Wir wollen doch einmal festhalten, was uns
in Untersuchungen der unterschiedlichen Institute immer
wieder zum Besten gegeben wird: Junge Leute, die in
einem Haushalt mit einem Einkommen von bis zu
1 550 Euro leben, fallen hinsichtlich der Bildung sozusagen unter das wirtschaftliche Risiko. Wenn beide Elternteile nicht berufstätig sind, gibt es ein soziales Risiko,
und wenn die Eltern weder einen Schul- oder Hochschulabschluss noch einen Berufsabschluss haben, dann
gibt es ein Bildungsrisiko. Man kann das auch anders
formulieren: Die Chancen in der Bildung sind heute extrem davon abhängig, wie dick das Portemonnaie der Eltern ist. Das ist für eine Gesellschaft wie unsere eine
Schande, auf Deutsch gesagt.
({1})
Das bedeutet doch nichts anderes, als dass wir - alle
Fraktionen in diesem Hause tragen in Landesregierungen Verantwortung - in den letzten zehn Jahren offensichtlich eine Politik gemacht haben, die zumindest gegen einen Teil der Menschen in unserem Lande gerichtet
war. Eigentlich müssten wir ein Stück weit in Demut gehen, weil wir es nicht geschafft haben, allen jungen
Menschen eine vernünftige Bildung zu ermöglichen.
Es gibt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin
für Sozialforschung, in der es heißt: Sparen bei der Berufsbildung kostet den Staat Milliarden. - Wenn wir es
nicht schaffen, dass alle jungen Leute eine Berufsausbildung erhalten und einen Berufsabschluss machen, dann
werden wir in den nächsten zehn Jahren bis zu
15 Milliarden Euro an gesellschaftlichen Folgekosten zu
tragen haben. Allein diese Zahl sollte uns ermuntern,
endlich zu handeln und ein paar Dinge voranzubringen.
Die wirtschaftliche Situation ist gut. Was macht die
Regierung? Sie kürzt die Mittel für den Eingliederungstitel.
({2})
Das ist schlecht. Ich will Ihnen sagen, was aus unserer
Sicht notwendig ist:
Erstens. Ich glaube, dass das „Recht auf Ausbildung kein Abschluss ohne Anschluss“ absolut richtig ist. Allen jungen Leuten muss eine Perspektive gegeben werden.
({3})
Zweitens. Wir wollen die Berufsorientierung ab der
siebten Klasse für alle Schulen und nicht nur für die sogenannten Risikoschulen zur Pflicht machen. Teilweise
wird das schon auf den Weg gebracht. Bisher ist dabei an
30 000 Schülerinnen und Schüler gedacht; aber es gibt
noch viel mehr. Hier wäre es gut, wenn die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern endlich Initiativen ergreifen würde, damit alle Schülerinnen und Schüler von dieser Maßnahme profitieren.
({4})
Drittens. Wir wollen ein regionales Bildungsmanagement; denn wir wissen: Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte - das waren sie, das sind sie, und das werden sie immer bleiben. In den Kommunen weiß man am
besten, was zu tun ist. Wir sehen es vor allem als Aufgabe der Länder und Kommunen an, die Übergangsmaßnahmen gemäß dem Leitsatz „Kein Abschluss ohne Anschluss“ auf den Weg zu bringen.
Viertens. Wir wollen die Fachkräfte besser ausbilden
und den Fachkräftebedarf sichern. Wir wollen 1,5 Millionen Menschen eine Perspektive geben. Wenn es zutrifft, dass wir in diesem Bereich jedes Jahr Milliarden
verlieren, dann müssen wir mehr ausgeben als die
60 Millionen Euro für das Programm „Perspektive Berufsabschluss“, die derzeit für mehrere Jahre in den
Haushalt eingestellt sind. Das wäre ein guter und richtiger Weg.
({5})
Wir wollen fünftens, dass die Unternehmen auch
Schwächere und Ältere in Ausbildung nehmen. Allein in
diesem Jahr gibt es 100 000 junge Bewerber zwischen
20 und 25 Jahren. Wir beklagen, dass junge Menschen
nicht früh genug in die Berufstätigkeit kommen. Wir haben die Möglichkeit, ihnen eine Chance zu bieten. Lassen Sie uns diese Möglichkeit nutzen.
Sechstens sind wir der Auffassung, dass wir WeGebAU
ausbauen müssen. Ich gebe zu, dass dieses Programm in
der Praxis Anlaufschwierigkeiten hatte. Aber es stabilisiert sich und wird besser genutzt. Lassen Sie uns dieses
Programm verbessern und ausweiten, damit wir dann,
wenn künftig Fachkräfte gebraucht werden, auch den
Menschen, die schon in Arbeit sind, ob angelernt oder
ungelernt, eine Perspektive zu geben. Das halte ich für
richtig und notwendig.
({6})
Der Stern hat vor wenigen Tagen die Ergebnisse einer
Umfrage zum Thema „Steuern rauf für die Bildung!“
veröffentlicht. Auch wenn das für die FDP als Steuersenkungspartei etwas schwierig ist: 73 Prozent der Befragten - weit über 100 000 Personen - waren dafür.
({7})
- Jetzt wollen Sie die Steuern nicht mehr senken, sagt
Herr Rösler. Gestern hat Herr Brüderle, der „Weinkönig“, wieder gequakt: Wir wollen die Steuern wieder
senken. - Hören Sie auf! Werden Sie sich erst einmal
selbst einig!
73 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie
mit einer leichten Steuererhöhung einverstanden wären,
wenn in der Bildung endlich etwas auf den Weg gebracht
würde.
({8})
Dieselben Personen haben auf eine entsprechende Frage
geantwortet: Wir halten es für absolut notwendig, dass
sozial Benachteiligte in unserer Gesellschaft aufsteigen
können. - Es war einst ein Merkmal dieses Landes, dass
auch Kinder aus Arbeiterfamilien wussten, dass sie mit
etwas Anstrengung die Chance haben, nach oben zu
kommen. Diese Chance ist nicht mehr für alle gegeben.
({9})
70 Prozent der Befragten haben sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht, dass es richtig ist, den jungen Leuten
eine Berufsausbildungsgarantie zu geben. Lassen Sie
uns diesen Weg gehen.
Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun Sylvia Canel für die FDP-Fraktion.
({0})
Mein lieber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bildung ist ein lebendiger Prozess. So lebendig, wie
wir hier sitzen, so lebendig ist auch dieser Prozess.
({0})
Wir beginnen mit der frühkindlichen Bildung und brauchen Übergänge in Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Wir haben es mit einer riesigen rot-grünen Erblast zu
tun. Ja, Herr Rehberg, Sie haben völlig recht. Das darf
nicht bestritten werden; das muss hier einmal gesagt
werden.
({1})
Notwendig ist, dass die frühkindliche Bildung endlich
vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Das ist bisher in
keinem Bundesland wirklich gelungen. Selbstverständlich müssen wir zuallererst diejenigen fragen, die in den
Bundesländern in Regierungsverantwortung sind, warum das nicht geschehen ist.
({2})
Die grundlegenden Weichen des gesamten Bildungssystems bzw. der gesamten Bildungslaufbahn werden
deshalb ganz am Anfang gestellt, weil dadurch eine besonders gute Integration und frühkindliche Förderung
sozial schwacher Kinder möglich wird. Wir können sie
besonders gut erreichen und das ausgleichen, was die Elternhäuser nicht leisten. Wir müssen deshalb darauf ein
besonderes Augenmerk haben - und fördern, fördern,
fördern. Denn den Reparaturbetrieb, von dem zu lesen
ist, dürfen wir uns nicht länger erlauben.
({3})
Kinder früh stärken heißt, Perspektiven zu eröffnen.
Wenn wir Perspektiven eröffnen, gelingen auch die
Übergänge. Übergänge sind besonders kritische Situationen. In einer modernen und offenen Gesellschaft muss
es sehr viele Möglichkeiten geben, Übergänge im Bildungssystem zu schaffen. Die Leistungsfähigkeit des
Systems sichert ganz besonders die individuellen Aufstiegschancen. Leistungsfähigkeit erreichen wir, wenn
wir endlich aus Abschlüssen Anschlüsse machen; denn
Anschlüsse sind das, was uns weiterbringt, und es sind
die Übergänge, die wir verbessern müssen.
({4})
Der Berufsbildungsbericht erhebt die Herstellung von
Durchlässigkeit zur zentralen Forderung. Das ist auch
unsere zentrale Forderung. Gerade angesichts des zukünftigen Fachkräftemangels aufgrund des demografischen Wandels müssen wir in der frühkindlichen Bildung die Rahmenbedingungen schaffen, die nötig sind.
Das heißt, wir brauchen eine bessere Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher, und wir müssen qualitativ bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Eltern ihre
Kinder in den entsprechenden Einrichtungen abgeben
können.
Die Zahl der Schüler wird sich bis 2025 um knapp
20 Prozent verringern. Das steht im Bildungsbericht.
Man könnte meinen, Deutschland habe heute zu viele
Kinder; denn in Zukunft wird jedes fünfte Kind fehlen.
Wir können die Qualität im Bildungswesen nur dann sichern, wenn wir diese demografische Rendite dort belassen. Das ist unsere Forderung. Wir dürfen aus dem Bildungsbereich keine Gelder abziehen. Wir müssen
mindestens die Summe, die wir heute investieren, auch
weiterhin in die Bildung investieren.
Dass dies dringend notwendig ist, zeigt die DIHKAusbildungsumfrage, die in dieser Woche erschienen ist.
In dieser Ausbildungsumfrage wurde die mangelnde
Ausbildungsreife der Schulabgänger als Ausbildungshemmnis Nummer eins benannt. Mehr als drei Viertel
der Unternehmen beklagen die unzureichende schulische
Qualifikation und die mangelnden persönlichen Kompetenzen der Bewerber. Das heißt: Zu der schlechten
Schulausbildung kommt auch noch eine schlechte Erziehung hinzu. Das wiederum kennzeichnet den Reparaturbetrieb, den wir uns nicht länger leisten dürfen. Das Defizit beginnt bei der frühkindlichen Bildung, es setzt sich
in den Schulen fort und reicht bis hin in die weiterbildenden Anstalten. Wir müssen dazu kommen, am Anfang mehr zu investieren und die frühkindliche Bildung
zu fördern.
({5})
Wenn nun die Zahl der Auszubildenden rückläufig ist
und diese oftmals nicht ausbildungsreif sind, dann ergibt
sich eine doppelte Schieflage. Die individuelle Förderung in den Schulen muss gesteigert werden, damit jeder
Einzelne die Chance hat, einen Abschluss zu erreichen.
Dazu gehört die Erziehungsunterstützung in den Schulen, und dazu gehören Rahmenbedingungen, die viel
besser sein müssen als die, die wir heute in den Schulen
vorfinden.
({6})
Die Potenziale aller Schüler müssen gehoben werden.
Früh müssen Perspektiven entwickelt werden, und die
Berufsorientierung in den Schulen muss früher erfolgen
und deutlich gestärkt werden. Dazu gehören eine engere
Vernetzung der Schulen mit ihrem Umfeld und eine stärkere Kooperation mit den Unternehmen vor Ort. Das
muss - auch das sagt die PISA-Studie der OECD, und
auch wir haben das schon länger immer wieder erklärt Hand in Hand mit der Eigenständigkeit der Schulen gehen. Die erfolgreichsten Länder sind diejenigen Länder,
in denen die Schulen ein hohes Maß an Eigenständigkeit
haben, Eigenständigkeit zur individuellen Förderung, Eigenständigkeit, möglichst früh mit der Förderung zu beginnen, und Eigenständigkeit, um mit den Unternehmen
zu kooperieren, damit die Berufsbildung früher beginnen
kann.
({7})
Die Durchlässigkeit von der Lehre zur Hochschule
muss verbessert werden. Auch diejenigen, die aus nichtakademischen Berufen kommen, müssen die Möglichkeit erhalten, in der Universität einen höheren Abschluss
zu erlangen. Genau dieses Segment müssen wir stärken.
Wir müssen für all diejenigen offen sein, die in ihre eigene Bildung investieren; deshalb müssen auch wir in
Bildung investieren.
Die Wissensgesellschaft erfordert eine gute Bildung
für alle von Beginn an. Jedem einzelnen jungen Menschen muss die beste Bildung zuteilwerden. Den positiven Trend, der von diesem Bildungsbericht ausgeht,
müssen wir verstetigen. Es gibt viel zu tun. Ich denke,
dass wir auf dem richtigen Weg sind.
({8})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Schavan, Sie haben darauf hingewiesen, dass es eine
positive Entwicklung gibt. Ich bin die Letzte, die das
kleinreden will. Aber diese positive Entwicklung haben
wir im Wesentlichen der demografischen Entwicklung
und dem wirtschaftlichen Aufschwung zu verdanken. Es
ist mir sehr wichtig, Sie darauf hinzuweisen, dass alle
Experten davon ausgehen, dass wir es bei denjenigen,
die es in die Ausbildung geschafft haben, auch mit Creaming-Effekten zu tun haben.
Wir steuern auf eine verfestigte Jugendarbeitslosigkeit zu, wenn wir nichts tun.
({0})
Frau Schavan, wenn 17 Prozent einer Alterskohorte
keine Ausbildung haben, dann ist das ein riesiges volkswirtschaftliches Problem, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine kleine Kohorte junger
Leute eine große Kohorte alter Menschen unterstützen
muss. Wenn von dieser kleinen Kohorte junger Leute
noch 17 Prozent dazu nicht nur keinen Beitrag leisten
können, sondern selbst wahrscheinlich ein Leben lang
alimentiert werden müssen, dann ist das volkswirtschaftlich nicht mehr zu schultern.
Deswegen reicht es auch nicht aus, ein bisschen am
Übergangssystem zu verbessern. Nein, Frau Schavan,
das Übergangssystem in dieser Form ist nach wie vor ein
Dschungel. Es gibt immer noch mehr als 200 Maßnahmen in diesem Bereich. Es kostet uns jährlich 4 Milliarden Euro. Alle Evaluierungsergebnisse zeigen, dass das
Übergangssystem seine Aufgabe, nämlich die Jugendlichen, die nicht ausbildungsfähig sind, ausbildungsfähiger zu machen, nicht erfüllt. Deswegen muss dieses
Übergangssystem ersetzt werden.
({1})
Jetzt will ich als Erstes ein ganz deutliches Bekenntnis zum dualen System abgeben. Das duale System ist
gut, ja,
({2})
aber leider nicht für alle. Das duale System hat strukturelle Probleme. In einer Krise bilden Betriebe die Jugendlichen nicht als Fachkräfte aus, die wir für den Aufschwung brauchen.
({3})
Das ist ein strukturelles Problem.
Zweitens. Viele der kleinen Dienstleistungsbetriebe
und viele der Neugründungen sind gar nicht in der Lage,
das gesamte Spektrum einer Ausbildung zur Verfügung
zu stellen. Die fallen quasi als Beteiligte des dualen Systems heraus. Das ist ein strukturelles Problem.
Zu Recht beklagt die Wirtschaft immer wieder, dass
viele der Jugendlichen keine Ausbildungsreife mitbringen. Deswegen müssen wir dem dualen System eine Ergänzung an die Seite stellen.
({4})
Weil die Folgekosten extrem hoch sind - sie werden in
den nächsten Jahren 15 Milliarden Euro betragen -, sagen wir: Lassen Sie uns das Übergangssystem in eine
Berufsausbildung mit Kammerabschluss überführen.
Schieben Sie die Jugendlichen, die jetzt keinen Ausbildungsplatz im dualen System bekommen haben, nicht
weiter in dieses perspektivlose Übergangssystem ab,
sondern legen Sie ein Sofortprogramm auf, mit dem
diese Jugendlichen in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt nach einem ganz veränderten und neuen
System eine Ausbildung mit Kammerabschluss bekommen!
({5})
Die Ausbildung muss modularisiert werden. Die Ausbildung in den überbetrieblichen Ausbildungswerkstätten braucht sehr hohe Praxisanteile. Insgesamt muss jeder Jugendliche, der jetzt arbeitslos ist, vom Jobcenter
sofort ein Angebot für eine Ausbildung bekommen. Wir
steuern auf ein Problem zu, das lautet: extrem hoher
Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Jugendarbeitslosigkeit. Frau Schavan, das ist nicht im Sinne der Volkswirtschaft, und das können Sie im Hinblick auf die individuellen Chancen, die die Jugendlichen verdient haben,
nicht zulassen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Albert Rupprecht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Frau Pothmer, Ihre Zustandsanalyse war nichts,
was sich im Berufsbildungsbericht 2011 widerspiegelt.
Die wesentlichen Ergebnisse dieses Berichts sind: Es
gab 2010 deutlich mehr Ausbildungsplätze als erwartet.
Die Zahl der Jugendlichen in Warteschleifen ist dramatisch gesunken. Auch 2011 geht es aufwärts. Wir erwarten 14 Prozent mehr Ausbildungsplätze. Das sind sehr
gute Nachrichten für unsere Jugendlichen.
({0})
Die demografische Entwicklung ist eine Ursache für
die guten Ergebnisse, aber bei weitem nicht die einzige.
Wir erleben, dass in fast allen europäischen Ländern die
Zahl der Jugendlichen demografiebedingt sinkt. Wir erleben auch, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa
sehr unterschiedlich ist: In Deutschland liegt sie bei
7 Prozent; in Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien,
Belgien, Schweden und vielen anderen europäischen
Ländern beträgt sie dagegen 20 bis 40 Prozent. Man
spricht in diesen Ländern von verlorenen Generationen.
Während die Länder um uns herum in Schulden und
in Arbeitslosigkeit versinken, ist Deutschland unter der
Kanzlerschaft von Angela Merkel gestärkt aus den großen Krisen - aus der Wirtschaftskrise, der Finanzkrise
und der Euro-Krise - hervorgegangen.
({1})
Diese Stärke kommt am Ausbildungsmarkt an. Unsere
Jugendlichen werden gebraucht. Die Zukunftsaussichten
unserer Jugendlichen sind so gut wie selten zuvor.
Die zweite Ursache für die sehr guten Jugendarbeitslosigkeitswerte in Deutschland im Vergleich zu anderen
Ländern ist das nach wie vor exzellente duale Ausbildungssystem. An dieser Stelle muss ein Dank all denjenigen Unternehmern gesagt werden, die ausbilden. Darüber hinaus geht ein Dank an die Partner des
Ausbildungspaktes. Wir hätten uns gewünscht, dass die
Gewerkschaften mitmachen und nicht vor der Tür stehen
bleiben.
({2})
Wir haben zwei große Aufgaben am Ausbildungsmarkt zu erfüllen.
Es gibt zum einen immer mehr Unternehmer, die
keine ausbildungsgeeigneten Jugendlichen finden. Der
drohende Fachkräftemangel ist eines der großen Themen
der nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Für uns,
die Unionsfraktion, gilt ganz klar, dass die Qualifizierung der heimischen Bevölkerung Priorität gegenüber einem Mehr an Zuwanderung aus dem Ausland hat.
Es gibt zum Zweiten nach wie vor zu viele Jugendliche, die den Einstieg in die Ausbildung nicht schaffen.
Es ist richtig: 1,4 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss, das ist viel zu viel. Es ist aber auch richtig, Frau
Ziegler, dass diese Jugendlichen die Folgen der
Schröder’schen Ausbildungskrise zu ertragen haben.
Das sind im Grunde genommen Altlasten, die wir abzuarbeiten haben.
({3})
Wir konnten in den letzten beiden Jahren die Zahl der
Altbewerber zwar um 30 Prozent verringern - das ist ein
hervorragender Wert -, aber es sind in der Tat immer
noch zu viele. Beim Dresdner Bildungsgipfel haben die
Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten beschlossen, dass die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis
2015 von 8 auf 4 Prozent halbiert wird und dass ebenso
die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsabschluss von
17 auf 8,5 Prozent halbiert wird. Ich finde, das sind ehrgeizige Ziele.
Das Herzstück unserer Maßnahmen ist - Ministerin
Schavan hat es dargestellt - das Konzept der Bildungsketten. Wir nehmen die gefährdeten Kinder künftig bereits in der siebten Klasse an die Hand - wesentlich früher als bisher - und begleiten sie kontinuierlich und
individuell in die Ausbildungszeit hinein. Frühzeitig,
kontinuierlich und individuell, das ist die neue Qualität
der Bildungsketten.
({4})
Richtig ist auch, dass wir die Vielzahl der Programme
im Übergangssystem überarbeiten müssen. Deswegen
gilt es, nicht alles zur Seite zu schieben und kaputtzumachen, sondern, herauszufinden, was erfolgreich war.
({5})
Das muss ausgebaut werden. Darüber hinaus gilt, zu sortieren, welche Programme erfolglos waren, und die Kraft
aufzubringen, diese zu streichen. Wir erwarten von der
Bundesregierung zeitnahe, inhaltlich überzeugende Beschlüsse. Darüber hinaus erwarten wir von den Ländern
und von den Kommunen, dass sie sich gemeinsam mit
Albert Rupprecht ({6})
der Bundesregierung an einen Tisch setzen und den
Wildwuchs, der zu Recht kritisiert wurde, beenden.
Bei der Erreichung der Dresdner Ziele trägt der Bund
Verantwortung. Ganz klar ist: Die Länder haben die
Hauptverantwortung.
Wenn wir die Schulabbrecherquoten anschauen, dann
zeigt sich wieder das klassische Bild: Die besten Werte
haben die unionsgeprägten Länder Baden-Württemberg
und Bayern und in Ostdeutschland die unionsgeprägten
Länder Thüringen und Sachsen. Wenn wir bis 2015 die
Dresdner Ziele erreichen wollen, dann müssen auch die
schlechten Bundesländer massiv Gas geben.
Frau Ziegler, Sie hatten in Brandenburg über Jahre als
Ministerin Verantwortung. Brandenburg ist eines der
Länder, die absolut miserable Werte abgeliefert haben.
({7})
Die Kinder im SPD-geführten Brandenburg sind nicht
dümmer als die Kinder aus dem CDU-geprägten Sachsen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum letzten Satz. - Deswegen ist es Aufgabe der Länder, in die Pötte zu kommen. Ich sage es
noch einmal: Insbesondere die SPD-geführten Länder,
die bis dato miserable Werte abliefern, müssen ihre Arbeit in diesem Bereich verbessern.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade ist
der Satz gefallen, dass die Zukunftsaussichten für junge
Menschen selten so gut waren, wie das im Moment der
Fall ist. Das mag für einige zutreffen; die Lebenswirklichkeit für viele Jugendliche sieht aber leider anders
aus, und einige von denen wohnen auch in Bayern oder
Baden-Württemberg.
({0})
Deswegen nützt es nichts, wenn wir hier die Zahlen
schönreden und Erfolge betonen; wir müssen die Lebenswirklichkeit junger Menschen zur Kenntnis nehmen
und die Probleme benennen. Das will ich bei zwei Themen auch tun.
({1})
Erstens. Es ist hier schon benannt worden, dass die
Situation junger Menschen mit Migrationshintergrund
am Ausbildungsmarkt deutlich schlechter ist als die derjenigen ohne Migrationshintergrund.
({2})
Nur jedem Vierten gelingt der Übergang von der Schule
in die Ausbildung problemlos. Es gehört zu den gern zitierten Binsenwahrheiten, dass wir trotzdem auf keinen
von ihnen verzichten können. Ich glaube schon, dass der
Berufsbildungsbericht einige richtige Maßnahmen benennt, aber die Herausforderung ist weiter gehend. Wir
müssen noch entschlossener und vor allem rechtzeitig
darauf reagieren.
Ich will dazu ein Beispiel nennen. Frau Kollegin
Ziegler und auch Frau Kollegin Canel haben hier gerade
schon darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, frühzeitig
einzugreifen, etwa in der Schule spezifische Problemlagen anzupacken. Deshalb war und ist es richtig, mit
Schulsozialarbeitern die Schulen darin zu unterstützen,
ihre Integrationsarbeit und auch die Vorbereitung auf die
Arbeitswelt zu verbessern, zu intensivieren.
({3})
Es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir als SPD zu Beginn dieses Jahres die 3 000 Stellen im Vermittlungsausschuss nur durchsetzen konnten gegen den Widerstand
der Koalition und auch gegen den anfänglichen Widerstand der zuständigen Ministerin, die das noch auf dem
Bildungsgipfel 2008 abgetan hat. Wir müssen jetzt dafür
sorgen, dass die Kommunen nach 2013, wenn die Finanzierungszusage des Bundes ausläuft, diese Stellen erhalten können. Wir müssen die Zusage geben, dass die
Kommunen die Stellen weiter finanziert bekommen und
wir die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht im Stich
lassen.
({4})
Ausbildung und Arbeit sind zentrale Voraussetzungen
für gesellschaftliche Teilhabe. Gerade deshalb ist es
wichtig, politische Maßnahmen für junge Menschen mit
Migrationshintergrund zu ergreifen, um ihnen zu zeigen:
Ihr gehört zu uns. Ihr seid wichtig für unsere gemeinsame Zukunft. Deshalb helfen wir euch dabei, einen
Platz in der Gesellschaft und eine Zukunft in dieser Gesellschaft zu finden. - Das muss unser politischer Anspruch sein, und das ist unser politischer Ansatz. Da
nützt es nichts, die Zahlen ansonsten schönzureden; wir
müssen politisch handeln.
({5})
Ein zweites Thema. Viele Unternehmen haben den
Bedarf an Fachkräften erkannt und geben jungen Menschen nach der Ausbildung die Möglichkeit, in die Erwerbstätigkeit überzugehen. Aber wir dürfen die Augen
nicht davor verschließen, dass sich ein anderer Trend immer weiter verstärkt. Wie ist es denn mittlerweile für
junge Menschen, die mit 20 Jahren ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben, die vielleicht mit ihrer
Freundin oder ihrem Freund in die erste gemeinsame
Wohnung ziehen und die Grundlagen für die spätere Fa12186
milienplanung legen wollen? Wie ist das für sie im wirklichen Leben?
({6})
Für viele junge Menschen wird das Ende der Ausbildung zur Zitterpartie. Mehr als ein Drittel von ihnen
steht danach auf der Straße. Das ist die Wirklichkeit.
Viele bekommen nur einen befristeten Vertrag oder können lediglich als Leiharbeitnehmer zu schlechteren Konditionen im gleichen Betrieb bleiben. Das ist ein Zustand, der - das ist hier gerade schon benannt worden gesellschaftlich und volkswirtschaftlich nicht zulässig
sein sollte und den wir politisch ernsthaft diskutieren
müssen.
({7})
Die sogenannte zweite Schwelle nach der Ausbildung
ist ein Thema für den Deutschen Bundestag; das müssen
wir politisch konsequent in den Blick nehmen:
Erstens. Das Ziel ist natürlich die unbefristete Übernahme; denn nach einer mehrjährigen Ausbildung im
Betrieb braucht es eigentlich keine Probezeit mehr. Die
unbefristete Übernahme wäre für die jungen Menschen
eine vernünftige Perspektive.
({8})
Zweitens. Leih- und Zeitarbeit dürfen nicht zum Dauerzustand für einen immer größer werdenden Teil der
jungen Generation werden. Über dieses Thema haben
wir oft genug gesprochen.
Drittens. Es zeigt sich immer häufiger, dass insbesondere junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befristete Arbeitsverhältnisse angeboten bekommen - ohne
Begründung. Das geschieht nicht, weil es unternehmerisch notwendig wäre, sondern deshalb, weil es rechtlich
möglich ist. Aus diesem Grunde ist es wichtig und richtig - auch darüber haben wir im Plenum schon gesprochen -, dass die sogenannte sachgrundlose Befristung
endlich gestrichen wird.
({9})
Junge Menschen, deren Wunsch es ist, nach Bildung
und Ausbildung auf eigenen Füßen zu stehen, die eine
Familie gründen wollen - was sie auch sollen und was
wir politisch unterstützen -, die sich zugleich weiterbilden und für die Einhaltung des Generationenvertrages
einstehen sollen, die also am Beginn der sogenannten
Rushhour des Lebens stehen, brauchen Perspektiven und
Sicherheit. Wenn dieses zentrale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft - wenn du Leistung bringst, dann
bekommst du auch materielle Sicherheit - nicht eingehalten wird, dann wird die Akzeptanz sinken. Deswegen
ist politische Eile geboten.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Uwe Schummer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Zunächst eine gute Botschaft in dieser Berufsbildungsdebatte: Die heutige Debatte ist, glaube ich, seit 2002,
seit ich dem Bundestag angehöre, die erste, in der vonseiten der Oppositionsfraktionen nicht die Ausbildungsplatzabgabe gefordert wird.
({0})
Das zeigt: Auch Sie sind lernfähig. Das nehmen wir mit
großer Freude und Optimismus zur Kenntnis.
Eine Botschaft des Berufsbildungsberichts lautet: Die
duale Ausbildung ist in der Europäischen Union, wo sie
in der Anerkennungsrichtlinie negativ bewertet wurde,
auch dank Annette Schavan aus der Benachteiligtenecke
herausgeholt worden. Heute ist die duale Ausbildung,
wie sie in Deutschland existiert, ein Vorbild sowohl im
europäischen Bildungsraum als auch global. Durch die
Gleichstellung des Bachelors mit den Weiterbildungsberufen des Meisters und des Technikers, auch mit Blick
auf den europäischen Bildungsraum, wollen wir dafür
sorgen, dass Abitur und qualifizierte Ausbildungsberufe
wie Mechatroniker gleichwertige Chancen bieten.
({1})
Das sind unsere Maßnahmen, die dazu geführt haben,
dass unser System der dualen Ausbildung heute auch in
Brüssel als Vorbild gesehen wird.
Dass die duale Ausbildung einen gewissen Stellenwert in Deutschland und Akzeptanz bei den Unternehmen hat, zeigen die folgenden Zahlen: In Deutschland
liegt die Arbeitslosigkeit bei der Gruppe der Ungelernten
bei 30 Prozent; bei denen, die eine duale Ausbildung absolviert haben, liegt sie bei 5,1 Prozent; bei den Hochschulabsolventen liegt sie bei 3,2 Prozent; bei denen, die
eine duale Weiterbildung, zum Beispiel Meister oder
Techniker, absolviert haben, liegt sie bei 2,8 Prozent.
Das zeigt die Bildungsrendite, die mit der dualen Ausbildung einhergeht.
({2})
Wir wissen: Gut fördert, wer früh fördert. Wir haben
viele Themen, über die wir, auch mein geschätzter Kollege Willi Brase,
({3})
hier seit Jahren sprechen, in Angriff genommen. Wir haben ein Bildungspaket aufgelegt, um besonders die
2,5 Millionen Kinder und Jugendlichen zu fördern, die
aus Familien kommen, die ihre Kinder nicht entsprechend unterstützen können. Zu dem Paket gehören das
Schulstarterpaket, die Schulspeisung, unterstützender
Unterricht und weitere Maßnahmen. Mit dieser frühzeitigen Förderung über die Kommunen versuchen wir, zu
verhindern, dass negative Sozialkarrieren von einer Generation auf die nächste übergehen, und wir versuchen,
den Ausstieg aus Hartz IV und den Aufstieg durch Bildung zu organisieren. Unsere christlich-liberale Koalition hat dieses Thema verstärkt in Angriff genommen.
({4})
Wir, die wir leidend vom Niederrhein bei Düsseldorf
kommen, müssen feststellen: Nachdem der Bund die
Schulspeisung für Kinder und Jugendliche aus hilfebedürftigen Familien organisiert hat, streicht die rot-grüne
Landesregierung diese.
({5})
51 Millionen Euro werden ersatzlos gestrichen. Das ist
Ihre Doppelstrategie: In Berlin fordern Sie Geld, und in
Düsseldorf, wo Sie regieren, streichen Sie die Mittel ersatzlos.
({6})
In der Opposition den Lautsprecher machen und sich
dort, wo Sie regieren, als Leisetreter aus dem Staube machen: Das ist Ihre Mentalität, Herr Schulz. Das erleben
wir nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Berlin.
Gut fördert, wer systematisch fördert. Deshalb gibt es
die Bildungsketten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Oppermann?
Ich weiß, Herr Kollege Oppermann, dass Sie mir
mehr Redezeit gönnen. Aber ich komme mit meiner Redezeit aus. Vielen Dank für Ihr Angebot.
({0})
Wir organisieren mit den Ausbildungsketten endlich
eine systematische Förderung beim Übergang von der
Schule in den Beruf. Das wirkt natürlich motivierend:
Der Jugendliche merkt, dass er durch eine berufsqualifizierende Maßnahme eine Perspektive bekommt und dass
er kein Hartzer wird. Er wird deswegen in der Schule
stärkere Anstrengungen unternehmen, um den Abschluss zu schaffen.
Wir müssen gemeinsam organisieren, dass die Abbrecherquote bei den Auszubildenden von derzeit 22 Prozent abgesenkt wird. Die Hälfte derer, die ihre Ausbildung abbrechen, tun dies deswegen, weil sie den
falschen Beruf gewählt oder weil sie den falschen Betrieb gefunden haben.
Die Ausbildungsketten bedeuten einen systematischen Übergang zur beruflichen Qualifizierung und sind
daher bitter notwendig. Wir fördern frühzeitig mit dem
Bildungspaket, und wir fördern systematisch mit den
Bildungsketten. Das ist die Botschaft des Berufsbildungsberichts, die wir gemeinsam unterstützen sollten.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Thomas Oppermann.
Lieber Herr Kollege Schummer, ich habe mich zu
dieser Kurzintervention gemeldet, weil Sie vorhin geschummelt haben. Sie haben davon berichtet, dass in den
Ländern die Mittel für die Schulspeisung gekürzt werden. Dabei haben Sie unterschlagen, dass in den Gesetzen, die wir nach Vermittlungsverfahren hier gemeinsam
verabschiedet haben, der Vorrang der Bundesleistung
beim Essensgeldzuschuss des Bundes für Kinder von
Hartz-IV-Empfängern festgeschrieben wird. Das heißt,
die Länder müssen keine Mittel für den Essensgeldzuschuss bereitstellen. Sie können diese Mittel einsetzen,
um beispielsweise Schulsozialarbeiter einzustellen, um
die Qualität der Ausbildung zu verbessern oder um Unterrichtsausfall zu bekämpfen.
Das war der Sinn der Sache. Sie dürfen also nicht von
willkürlichen Einsparungen sprechen. Dass die Länder
keine Mittel mehr für den Essensgeldzuschuss geben
müssen, ist von uns gewollt. Denn in dem Gesetz, das
Sie gemeinsam mit uns verabschiedet haben, steht, dass
der Essensgeldzuschuss des Bundes vorrangig ist und
von den Ländern nicht gezahlt werden muss.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege Schummer.
Die Kritik, die ich geäußert habe, bezog sich auf das
ersatzlose Streichen. Wir sind uns doch darin einig, dass
wir mit dem Bildungspaket die Bildungsausgaben von
Bund, Ländern und Kommunen insgesamt erhöhen wollen. Wenn also durch das Ausweiten von Bundesmitteln
auf Landesebene Gelder eingespart werden, dann ist unsere Erwartung als Bildungs- und Forschungspolitiker,
dass die so eingesparten Mittel - in Düsseldorf sind es
51 Millionen Euro - beispielsweise für den Förderunterricht oder für andere Maßnahmen zur Unterstützung von
Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden
({0})
und nicht ersatzlos gestrichen werden. Sie aber streichen
diese Mittel in Düsseldorf ersatzlos.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir von der SPD führen die Diskussion über den Berufsbildungsbericht mit dem Ziel: Keiner darf verloren gehen; kein Jugendlicher darf ohne Schulabschluss und
ohne Berufsabschluss ins Leben entlassen werden. Das
ist unser Ziel, und das unterscheidet uns von Ihnen.
({0})
1,5 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und
29 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Das wurde
heute schon mehrfach erwähnt. Aber ich habe keine Antwort von der Bundesregierung auf die Frage gehört, wie
dieses Problem behoben werden soll. Wir fordern ein
Bundesprogramm, das diesen jungen Menschen eine
zweite Chance gibt, damit die Wirtschaft die Fachkräfte,
die sie braucht, um unseren Wohlstand zu erhalten, findet und qualifiziert. Was aber machen Sie als Bundespolitiker gegen den Fachkräftemangel?
Ich finde es wirklich sehr bedauerlich, dass ausschließlich Frau Ministerin Schavan hier ist; Frau von
der Leyen, die bei diesem Thema ebenfalls viel Verantwortung trägt, ist heute nicht anwesend.
({1})
Herr Fuchtel, ich sehe schon, dass Sie da sitzen; aber das
Thema ist mir so wichtig, dass ich gerne die „Führungsattention“ der Ministerin hätte und nicht nur die des
Staatssekretärs.
({2})
Warum sage ich das? Wir Bundestagsabgeordnete tragen
die Verantwortung für den Bundeshaushalt; sehr viel Bildungs- und Weiterbildungspolitik wird nicht im Haushalt von Frau Schavan verantwortet, sondern im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Schauen wir uns an, was in den nächsten Jahren passieren soll: Im Zeitraum von vier Jahren sollen 22,5 Milliarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik gespart
werden.
({3})
Das heißt, Sie wollen in der Arbeitsmarktpolitik das Fördern abschaffen und es beim Fordern belassen: Sie wollen die Schaffung von Ausbildungsplätzen und die berufliche Weiterbildung nicht mehr unterstützen;
({4})
Sie wollen kein Programm der zweiten Chance für die
angesprochenen 1,5 Millionen jungen Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren. Das ist die Konsequenz Ihrer
Sparpolitik im Bund.
({5})
Lassen Sie uns einmal schauen, was Sie bei der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf den
Tisch gelegt haben. Heute gibt es 1 200 Berufseinstiegsbegleiter an den Schulen; Olaf Scholz hat sie eingeführt.
Sie begleiten Jugendliche an der Schwelle zwischen
Schule und Ausbildung. Jetzt gibt es im Haushalt des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung Mittel
für weitere 1 000 Berufseinstiegsbegleiter. Das ist eine
Parallelstruktur; aber das ist nicht so schlimm, Hauptsache, es gibt Berufseinstiegsbegleiter. Jetzt schreiben Sie
im Zusammenhang mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf, dass Sie die Berufseinstiegsbegleiter toll finden und es sie an jeder Schule geben soll.
Aber Sie geben nicht das Geld, das nötig ist, damit es sie
an jeder Schule geben kann.
({6})
Sie sagen, es solle hier eine Kofinanzierung der Kommunen geben; aber Sie haben die Kommunen vorher mit
Ihren ganzen Steuersenkungen geschröpft.
({7})
Woher soll denn das Geld für die Unterstützung der Ausbildungsfähigkeit der jungen Leute kommen? Das ist
doch die Frage; das ist ein Thema, über das wir diskutieren müssen, wenn es darum geht, Jugendlichen eine
Chance zu geben. Keiner darf verlorengehen.
Wir müssen den Blick nach vorne richten und eine
Allianz für Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland schaffen. Da versagt Ihre Regierung. Es ist schön,
sich hinzustellen und zu sagen: Wir haben viele Einzelprojekte. Wir brauchen aber ein Programm zur Stärkung
der zweiten Chance. Wir brauchen ein System des Übergangs. Diese Übergangszeit sollte auf die Ausbildung
angerechnet werden; sie sollte nicht additiv vor die Ausbildung geschoben werden.
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass kein Jugendlicher in Deutschland mehr
die Schule ohne Schulabschluss verlässt. 2009 gab es bei
uns 60 000 Jugendliche, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen haben. Die Bertelsmann-Stiftung hat festgestellt: Davon finden nur 20 000 einen
Ausbildungsplatz. Das sind die Hilfeempfänger von
morgen; hier sind Ihre Investitionen notwendig. Wir
brauchen nicht nur schöne Worte und kalte Taten, wie
wir sie bei dieser Regierung leider viel zu oft erleben.
({8})
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum: Das haben
Nadine Schön ({0})
die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für das laufende Jahr vorausgesagt. Das sollte uns alle freuen. Denn
ein robustes und gesundes Wachstum sichert die Zukunftsfähigkeit unseres Landes; darüber waren wir uns
am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss bei der Diskussion des Frühjahrsgutachtens fast alle einig.
({1})
Wir waren uns einig: Es gibt einige Risiken, die diese
positive Entwicklung abbremsen und gefährden können.
Eines dieser Risiken ist der drohende Fachkräftemangel.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren eines der entscheidenden
Themen für unsere gesamte deutsche Wirtschaft werden vom kleinen Schlosserbetrieb bis zum großen Chemiekonzern. Wir alle wissen, es braucht ein Bündel von
Maßnahmen, um diesem Fachkräftemangel zu begegnen. Eine ganz entscheidende Maßnahme ist mit Sicherheit die berufliche Bildung. Fachkräftesicherung durch
berufliche Bildung, das heißt Ausbildung, und das heißt
auch lebenslange Fort- und Weiterbildung.
Zum Thema Ausbildung ist vieles gesagt worden. Es
gibt viel Licht, und ja, es gibt auch Schatten. Das ist in
dieser Debatte deutlich geworden. Die positive Nachricht ist aber doch, dass uns auch der demografische
Wandel mit dem drohenden Fachkräftemangel dabei
hilft, noch mehr Licht dahin zu bringen, wo vorher
Schatten war. Der demografische Wandel gibt uns die
Chance, auf die jungen Menschen zuzugehen und ihnen
eine Ausbildungsperspektive zu geben, die es vorher
schwerer hatten. Liebe Kollegin Pothmer, ich weiß gar
nicht, was daran schlecht sein soll.
({2})
Das betrifft in erster Linie die Altbewerber, das betrifft Jugendliche mit besonderen Problemen, und das
betrifft Jugendliche mit Migrationshintergrund. Diese
drei Gruppen stehen noch stärker als zuvor im Fokus der
Bemühungen. Nicht nur die Politik, sondern auch die
Wirtschaft sieht sich diesen jungen Menschen gegenüber
in der Pflicht. Deshalb bilden sie einen Schwerpunkt
beim nationalen Ausbildungspakt, der im letzten Jahr
verlängert wurde. Das sind nicht nur Lippenbekenntnisse. Das sieht man an den Zahlen.
Die Zahl der Altbewerber ist in den vergangenen Jahren um ein Drittel reduziert worden. Ja, es gibt noch
185 000 Altbewerber. Für jeden dieser 185 000 ist es
schlimm, wiederholt keinen Ausbildungsplatz gefunden
zu haben. Das will ich gar nicht kleinreden. Aber 2008
waren es noch über 260 000. Jeder dieser jungen Menschen, der nun eine Perspektive hat, ist eine Erfolgsgeschichte, und hinter jedem dieser jungen Menschen stehen ein engagierter Betrieb und ein Team von
Pädagogen und engagierten Sozialarbeitern, die diesen
Weg ermöglicht haben. All denjenigen sollten wir heute
Morgen ein großes Dankeschön senden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in unseren
Anstrengungen für diese Jugendlichen nicht nachlassen
wollen, wurde bei meinen Vorrednern deutlich. Ich ärgere mich schon, liebe Kollegen, wenn Sie in Ihren Pressemeldungen und in Ihren Reden kontinuierlich die Erfolge verschweigen und bei den Problemen so tun, als
seien sie erst unter CDU-Regierungen aufgetaucht und
wir würden nichts dagegen tun.
({4})
Dass wir trotz Wirtschaftskrise eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit haben, niedriger als in allen anderen europäischen Ländern, und dass wir Jahr für Jahr mehr Jugendliche in betriebliche Ausbildung vermitteln, ist ein
großer Erfolg. Das dürfen Sie gern auch einmal anerkennen.
({5})
Wenn wir über Fachkräfte sprechen, dann geht es
auch darum, leistungsstarke Jugendliche für eine Ausbildung zu begeistern. Das Handwerk hat mit einer sehr guten Kampagne vorgelegt, in der es darauf aufmerksam
macht, dass es gerade in Handwerksbetrieben innovative
und zukunftsträchtige Berufe und viele Chancen gibt.
„460 000 Innovationen. Und das Patentamt haben wir
auch gebaut“ - das ist einer der Slogans, der für die Innovationskraft des Handwerks mit seinen attraktiven Berufen wirbt. Diese Attraktivität zu erhöhen, ist auch Aufgabe der Politik. Hier können wir unterstützen: zum
Ersten durch eine bessere Durchlässigkeit des Systems,
zum Zweiten durch bessere Berufsorientierung auch an
Gymnasien und zum Dritten vor allem dadurch, dass wir
Ausbildung im dualen System wertschätzen und als
wichtigen Baustein unserer Wirtschaft auf Augenhöhe
mit den Akademikern anerkennen. Die Ministerin hat es
gesagt: Dazu gibt der Nationale Qualifikationsrahmen
Gelegenheit.
({6})
Abschließend will ich einen Teil der beruflichen Bildung erwähnen, der heute leider nicht angesprochen
wurde, aber sehr wichtig ist. Das ist das Thema der Fortund Weiterbildung. Der Berufsbildungsbericht widmet
sich diesem Bereich mit einem eigenen Kapitel. Während der Kurzarbeit haben beispielsweise bei uns im
Saarland viele Arbeitnehmer Weiterbildungsangebote
genutzt. Das hat mit dazu geführt, dass wir stärker aus
der Krise herausgekommen sind, als wir hineingegangen
sind.
({7})
Weiterbildung und lebenslanges Lernen sollen in
Deutschland selbstverständlich sein. Die Politik muss
dazu Rahmenbedingungen schaffen, Anreize setzen. Der
Berufsbildungsbericht stellt die Initiativen dar. Reinschauen lohnt sich. Die Fort- und Weiterbildung ist
ebenfalls ein wichtiger Faktor gegen Fachkräftemangel.
Das sollten wir noch stärker forcieren.
({8})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Liebe Kollegen, ich komme zum Schluss. - In einem
dynamischen Land mit einem hohen Bedarf an Fachkräften brauchen wir alle Menschen. Deshalb sollten wir uns
gemeinsam dafür einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Michael Kretschmer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Ende dieser Debatte ist es gut, die Sachen
noch einmal zurechtzurücken
({0})
und auf die Realitäten und die wirklichen Fakten zurückzukommen.
Die Situation im Bereich der Ausbildung in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend
verändert. Vor fünf, sechs Jahren mussten wir noch häufig darüber sprechen, dass große Teile eines Jahrgangs
- vor allen Dingen, wie die Bundesministerin richtigerweise sagte, in den neuen Ländern - ohne Ausbildung
geblieben sind. Es gab belastende Gespräche in Schulklassen. Ein Jugendlicher hat 30 bis 40 Bewerbungen
geschrieben, und am Ende gab es nur Absagen. Das gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Wir haben
heute eine grundlegend andere Situation. Heute kann jeder, der die Leistung erbringt, einen Ausbildungsplatz
bekommen. Das ist eine gute Nachricht.
({1})
Die Feindbilder, die die linke Opposition in der Vergangenheit aufgebaut hat, haben schon früher nicht getaugt, um die Probleme und die Situation richtig zu beschreiben, geschweige denn, sie zu lösen. Heute sind sie
absurd. Deswegen muss man auf den Kern zurückkommen: Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft, sowohl für den jungen Menschen als auch für den Unternehmer. Deswegen kann man Bildungspolitik, berufliche
Bildung, nicht ohne Wirtschaftspolitik denken. Deswegen war das, was wir vor Jahren erlebt haben - auch in
den alten Bundesländern -, das Ergebnis einer verfehlten
rot-grünen Wirtschaftspolitik.
({2})
Es ist so, wie Anette Hübinger immer sagt: Die SPD
schafft zuerst den Missstand, um ihn später zu beklagen.
Damit ist glücklicherweise Schluss.
({3})
Ich halte nichts - heute wurde es angesprochen - von
Ausbildungsgarantien und einer Zwangsübernahme. Wir
haben heute vor einer Woche ein Gespräch mit dem Präsidium des DGB geführt. Ich musste feststellen: Man
muss wirklich häufiger mit diesen Menschen reden,
denn man stellt fest, dass die Gewerkschaften viel vernünftiger sind als die linke Opposition hier in diesem
Haus.
({4})
Ich finde es bemerkenswert, dass eine frühere Arbeitsministerin aus Brandenburg sich hier hinstellt und
schimpft wie ein Rohrspatz, aber nicht über das, was Sie
in Brandenburg falsch gemacht haben, weswegen es dort
so viele Schulabbrecher gibt und so viele schlechte Leistungen herauskommen.
({5})
Das wäre das richtige Thema für Ihre Rede bzw. für Ihre
Kritik gewesen, Frau Kollegin.
({6})
Was wir heute einfordern müssen, ist: Leistung. Wir
brauchen Leistungsorientierung.
({7})
Die Zahlen belegen zwar, dass jeder Jugendliche eine
Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, aber wir brauchen auch vernünftige Ergebnisse nach Abschluss der
Realschule oder der Hauptschule. Ich finde schon, dass
von diesem Platz aus gesagt werden muss: In Deutschland hat jeder eine Chance auf einen Aufstieg, wenn er
die Leistung erbringt, und dies ist auch möglich.
({8})
Dass die linke Opposition sich hier als Anwalt der
kleinen Leute aufspielt,
({9})
gefällt mir per se nicht. Ich glaube, so wie Sie es betreiben, sind Sie keine Anwälte, sondern Sie wollen Vormund sein, Sie wollen selbst bestimmen.
({10})
Sie machen den Leuten keinen Mut, sondern Sie sagen:
Es ist alles furchtbar. - Aber es ist nicht furchtbar. Jeder
hat eine Chance in unserem Land!
({11})
Ich sage ganz klar: Wir brauchen Eigenverantwortung. Ich bin froh, dass endlich einmal ein Gericht eine
Mutter zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt
hat,
({12})
weil der eigene Sohn 477 Tage nicht in die Schule gegangen ist. Das Gericht hat gesagt: Das kann ja wohl
nicht wahr sein. Die Eltern sind dafür verantwortlich.
({13})
Es sind nicht die Unternehmen oder die Wirtschaft oder
die Politik oder die Lehrer, die daran schuld sind, dass
dieser junge Mensch keinen Ausbildungsplatz bekommt,
sondern es sind die Eltern und der Jugendliche selbst,
und das muss auch so benannt werden.
({14})
Nicht das geringe Einkommen ist das Problem. Das
Problem entsteht, wenn sich jemand nicht kümmert. Es
ist eine Beleidigung für alle Menschen - auch für solche
mit einem kleinen Einkommen -, die sich redlich um Arbeit bemühen, wenn Sie sich hinstellen und sagen: Die
haben ja keine Chance. Aus denen wird sowieso nichts.
({15})
Nein, meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist
eine Aufstiegsgesellschaft, in der jeder eine Chance hat,
wenn er sich Mühe gibt.
({16})
Unsere Arbeit der vergangenen Monate und Jahre mit
dem Bildungsgipfel, den Bildungsketten und dem Bildungs- und Teilhabepaket führt zu einem Punkt, an dem
Ernst damit gemacht wird, denjenigen zu helfen, die
wirklich Schwierigkeiten haben. Ich bin froh darüber,
dass wir hierfür in den vergangenen Monaten hohe Geldsummen bereitgestellt haben. Das muss man anerkennen
und akzeptieren. Wir sind auf einem guten Weg, den wir
weiter gemeinsam gehen sollten.
Vielen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5400 und 17/5489 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dr. Matthias Miersch, Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Einsetzung eines Sonderausschusses „Atomausstieg und Energiewende“
- Drucksache 17/5473 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Programm für eine nachhaltige, bezahlbare
und sichere Energieversorgung
- Drucksache 17/5481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Allgemeinen bin ich ein gelassener Mensch; aber diese
Gelassenheit fehlt mir in diesen Tagen, wenn ich die öffentlichen Erklärungen von Herrn Brüderle und Herrn
Röttgen zur Energiepolitik lese. Das ist schon dreist, was
ich da in diesen Tagen lese.
Dabei sage ich Ihnen: Wer im Regierungsamt handelt,
der kann falsch liegen. Wer nicht handelt, kann erst recht
falsch liegen. Aber wer sich so katastrophal irrt wie Sie,
wer sich absichtsvoll, verantwortungslos über alle Bedenken zur Kernkraft hinweggesetzt hat, wer sich noch
vor einem halben Jahr öffentlich damit gebrüstet hat,
dem Energiekonsens in diesem Land das Genick zu brechen und sich dafür feiern zu lassen, von dem erwarte
ich auch einen Moment der Demut.
({0})
Ich finde es unerträglich, dass Sie gerade einmal drei
Wochen nach dem energiepolitischen Super-GAU Ihrer
Parteien so tun, als hätten Sie immer an der Spitze der
Bewegung für eine neue Energiepolitik in diesem Lande
gestanden. Aber das passt am Ende auch zu der Kanzlerin.
Glauben Sie mir: Ich schätze Herrn Töpfer. Ich vermute sogar, ich schätze ihn mehr als einige aus den Reihen der Regierungsparteien.
({1})
Aber ich sage Ihnen auch: Was ist das für eine Dreistigkeit, wenn ausgerechnet diejenigen, die den bestehenden
Konsens über die Zukunft der Energiepolitik - Ausstieg
aus der Kernenergie, Einstieg in erneuerbare Energien erst in die Tonne treten und dann, ein halbes Jahr später,
nach den Ereignissen in Japan, eine Ethikkommission
gründen!
Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren von den
Regierungsparteien, ob Ihnen das bewusst ist: Aber was
ist die Gründung der Ethikkommission denn anderes als
die Behauptung, die Energiepolitik der Vorgängerregierungen sei nicht nur falsch oder unvollständig, zu viel
oder zu wenig ambitioniert? Nein, sie ist der in eine Institution gegossene Vorwurf, die Energiepolitik der Vorgängerregierungen habe ethische Anforderungen verletzt. Das lasse ich mir von keinem in diesem Lande
sagen, meine Damen und Herren.
({2})
- Da kommen schon andere drauf. Sie können es, glaube
ich, in diesen Tagen auch nachlesen. ({3})
Ich lasse mir das von keinem sagen, aber erst recht nicht
von denjenigen, die den politischen und ethischen
Grundkonsens, den es gab, mutwillig, absichtsvoll, ohne
Rücksicht auf die Folgen gebrochen haben. Ich sage Ihnen: Die ethischen Fragen des Atomausstiegs waren in
diesem Lande beantwortet. Sie haben die Fragen wieder
offen gestellt. Das ist Ihre Bilanz.
({4})
Sie wollten nicht lernen, und Sie wollten nicht hören.
Die Geschichte der Atomkraft in der Welt hat Namen:
Harrisburg, Sellafield und Tschernobyl. Den Jahrestag
dieser schrecklichen Katastrophe werden wir in wenigen
Tagen zum 25. Mal begehen. Das ruft auch die Bilder
von vor 25 Jahren wieder wach: 1,5 Millionen Hektar
Bodenfläche sind verseucht, 4 000 Menschen sind unmittelbar nach der Katastrophe gestorben, 350 000 Menschen wurden evakuiert - viele von ihnen sind später an
Krebs gestorben -, Kinder mit schweren Missbildungen,
die in ein Leben im Abseits hineingeboren wurden.
Meine Damen und Herren, nicht Japan, nicht Fukushima war der Lernort für Politik. Es waren die Unglücke vor Japan, die gezeigt haben, dass dies eine Hochrisikotechnologie ist, die letztlich von den Menschen
nicht beherrschbar ist.
({5})
Das ist die traurige Botschaft, die wir seit mindestens
25 Jahren kennen. Aber Ihre Bundeskanzlerin hat sich
noch 2009 vor das Deutsche Atomforum gestellt und
Tschernobyl als den Betriebsunfall eines verlotterten
Sowjetkommunismus bezeichnet. Ein paar Monate später hat sie sogar vollmundig angekündigt, die Laufzeitverlängerungen als energiepolitische Mitgift in die
schwarz-gelbe Regierungsehe einzubringen.
({6})
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich in dieser Ehe noch
alle wohlfühlen. Ich bin mir nur sicher: Was Sie da angerichtet haben, das ist das Komplettchaos in der deutschen Energiewirtschaft.
({7})
Wer uns mit einer doppelten Kehrtwende innerhalb
von sechs Monaten da hineingeführt hat, der kann für
sich nicht beanspruchen, den Weg aus diesem Chaos heraus zu kennen. Dazu braucht man Glaubwürdigkeit, und
die, meine Damen und Herren, haben Sie nicht.
({8})
Es kommt eines hinzu: Fehlende Glaubwürdigkeit kann
man sich am Ende auch nicht leihen, die kann man sich
auch nicht bei großen Persönlichkeiten einer Ethikkommission leihen, im Übrigen auch deshalb nicht, weil
diese Persönlichkeiten für unlautere Ziele nicht zur Verfügung stehen. Was ich sehe: Das Vorgehen der Regierung ist unlauter.
({9})
Sie ahnen das doch miteinander: Dieses Parlament ist
der ungeliebte Ort der Kanzlerin. Ob Euro-Rettung, ob
Aussetzung der Wehrpflicht, ob Moratorium bei der
Laufzeitverlängerung: alles an diesem Parlament vorbei!
Damit, meine Damen und Herren, muss Schluss sein.
({10})
Der einzige Ort, an dem verbindlich über die Zukunft
der Energiepolitik in diesem Lande entschieden wird, ist
der Deutsche Bundestag und nirgendwo sonst.
({11})
Kaum eine Frage ist für die künftige Entwicklung dieses Landes so entscheidend wie die nach der Zukunft der
Energiepolitik. Wenn ich das so sage, dann auch, weil
ich weiß, dass das in der Vergangenheit immer Ihre
Worte waren. Wenn Sie das ernst meinen, dann darf
doch gar nicht umstritten sein, dass diese wichtige Zukunftsfrage intensivster Diskussion und intensivster Begleitung durch das Parlament bedarf. Nur deshalb haben
wir die Einrichtung eines parlamentarischen Sonderausschusses verlangt.
Ich habe Ihnen das in einem Brief an alle Fraktionen
vorgeschlagen. Ich nehme zur Kenntnis: Das muss Sie
bei den Regierungsfraktionen tief verschreckt haben.
Die Antwort kam ja schon, fast noch bevor der Brief von
mir bei Ihnen eingegangen war. Die Antwort lautete, die
Botschaft war: auf keinen Fall so etwas. Ich zitiere:
„Nach unserer Auffassung“, schreiben Herr Kauder,
Frau Hasselfeldt und Frau Homburger, „ist die Einrichtung eines solchen Sonderausschusses nicht erforderlich.“
Ich frage mich: Was ist das eigentlich? Ist das Angst
oder Ignoranz? Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, über meinen Brief und die Antwort darauf in den
Fraktionen zu diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass Sie alle miteinander wirklich der Meinung sind,
dass wir über diese existenzielle Frage, über die Zukunft
der Energiepolitik, im Deutschen Bundestag und seinen
Ausschüssen und in einem Sonderausschuss nicht wirklich vertieft beraten müssen.
({12})
- Ja, das frage ich auch Sie. - Warum lassen Sie das eigentlich mit sich machen, meine Damen und Herren?
Haben Sie gelesen, was Thomas Hanke im Handelsblatt
geschrieben hat, und haben Sie nicht gemerkt: Das richtet sich an Sie, wenn er schreibt: „Steht auf, wenn ihr
freie Abgeordnete seid!“
({13})
Was zu entscheiden ist, das müssen wir jetzt entscheiden, nicht in einem Monat, nicht in einem Jahr. Sie sind
die Mehrheit hier in diesem Hause, und Sie können, wie
im letzten Jahr, versuchen, energiepolitische Grundsatzentscheidungen mit Ihrer Mehrheit hier im Bundestag
durchzudrücken. Ich sage Ihnen nur eines voraus: Die
Methode „Friss oder stirb!“ wird Ihnen nicht bekommen.
Ihnen muss einfach klar sein: So viel Chaos, so viel Unsicherheit in der Energiepolitik war nie in Deutschland.
Darauf lässt sich keine Zukunft bauen.
Schauen Sie doch gelegentlich einfach einmal auf die
letzten Tage zurück. Schauen Sie, was Sie angerichtet
haben. Ihre doppelte Kehrtwende in der Energiepolitik
gefährdet doch alles, was in der Energiewende schon auf
dem Weg war. Nach der Verlängerung der Laufzeiten haben die Stadtwerke Investitionen in Höhe von 7 Milliarden Euro storniert. Jetzt storniert auch der Rest der Energiewirtschaft Investitionen. Unternehmen, die extrem
energieabhängig sind, wissen nicht, ob es sich noch
lohnt, in diesem Lande Arbeitsplätze zu schaffen. Meine
Damen und Herren, das ist Ihre energiepolitische Bilanz
nach 17 Monaten. „Herzlichen Glückwunsch!“, kann ich
dazu sagen. Herzlichen Glückwunsch!
({14})
In einer solchen Situation - auch das in aller Offenheit - ist es für eine Opposition verführerisch, zu sagen:
Dann lasst doch diese Regierung in ihrem selbstgepflanzten Irrgarten weiter herumirren, im Zweifel nützt
uns das vielleicht sogar parteipolitisch. Aber hier geht es
eben um mehr, hier geht es um Zukunft, und das ist nicht
nur die Zukunft der Regierungsparteien. Es geht um Lebensqualität, Umwelt, Wirtschaft und Arbeitsplätze. Das
können wir ganz offenbar Ihnen allein nicht überlassen.
Das ist der Grund, weshalb wir Ihnen einen konkreten
Vorschlag auf den Tisch legen, wie wir aus unserer Sicht
aus der Sackgasse herauskommen.
Ich danke ausdrücklich allen Mitgliedern meiner
Fraktion, die in den letzten Tagen mit aller Kraft und mit
großem Ehrgeiz an diesem Vorschlag gearbeitet haben.
Was da auf dem Tisch liegt, das ist kein Traumschloss.
Wir wissen um die Folgen fortschreitender Erderwärmung auf der einen Seite, und wir wissen um die Notwendigkeit, dass dieses Land ein Industriestandort bleiben muss, auf der anderen Seite. Deshalb sind unsere
Prioritäten klar:
Erstens. Energie muss so erzeugt werden, dass wir
ehrgeizige Klimaschutzziele weiter erreichen.
Zweitens. Energie muss für Verbraucher bezahlbar
sein, für private Verbraucher ebenso wie für produzierendes Gewerbe.
Drittens. Schlafende Riesen wie die Energieeffizienz
müssen geweckt werden. Weniger Energieverbrauch ist
das Gebot der Stunde.
Viertens. Wir brauchen einen weiteren Ausbau der
Regenerativen bei beschleunigtem Ausstieg aus der
Kernenergie.
Fünftens. Wir brauchen - auch das steht in unserem
Vorschlag - eine ehrliche Diskussion darüber, welchen
Anteil welche Energieerzeugung in welcher Zeit wirklich beitragen kann.
Wer sich dazu nicht ehrlichmacht, der wird keinen belastbaren Grundkonsens über die Zukunft der Energiepolitik in diesem Lande zustande bringen,
({15})
wer die Glaubwürdigkeit verloren hat, erst recht nicht.
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien,
Sie können so weitermachen wie in den letzten Wochen,
schwankend zwischen den wechselnden Zurufen von
Verbänden, Medien und Zeitgeist. Aber das ist nicht die
Verantwortung, wie ich sie verstehe. So werden Sie
scheitern. Wenn Sie das verhindern wollen, dann greifen
Sie unsere Vorschläge auf.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Peter Altmaier für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben soeben eine engagierte, etwas polemische Wahlkampfrede des Kollegen Steinmeier gehört.
Nur, sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, zunächst
einmal ist festzuhalten: Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sind vorbei.
({0})
Ihre Partei hat in Rheinland-Pfalz etwa 10 Prozentpunkte
verloren, und in Baden-Württemberg sind Sie hinter die
Grünen auf den dritten Platz abgefallen.
({1})
Wenn Sie weiter so am Thema vorbeireden, wird sich an
diesem Trend so schnell auch nichts ändern.
({2})
Der zweite Punkt. Ich glaube, dass Sie eigentlich gar
nicht vorhatten, so zu reden. Sie wollten wahrscheinlich
darüber reden, wie wir die Debatten der nächsten Wochen und Monate so strukturieren, dass wir die Chance,
die in der schrecklichen Tragödie von Fukushima liegt,
gemeinsam ergreifen
({3})
und einen der letzten großen gesellschaftlichen Konflikte der letzten Jahrzehnte beenden.
Wir haben in der Nachkriegszeit öfter solche Debatten geführt. Ich erinnere an die Debatte über die Westintegration, über die soziale Marktwirtschaft, über die
NATO-Nachrüstung,
({4})
über Auslandseinsätze der Bundeswehr am Beispiel des
Kosovo-Krieges.
({5})
Es waren im Übrigen die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, die häufiger als unsere Fraktion
Anlass hatten, ihre Positionen zu korrigieren.
({6})
Aber Tatsache ist doch, dass derjenige, der immer schon
der Auffassung war, er habe von Anfang an alles gewusst und alles richtig gemacht, an der praktischen Politik scheitert. Tatsache ist: Wir alle müssen unser Verhalten und unser Handeln überprüfen und danach
ausrichten, was sich in der Realität abspielt.
({7})
Ich sage für meine Fraktion: Wir sind bereit, vor dem
Hintergrund dessen, was in Fukushima geschehen ist,
mutig und entschlossen
({8})
die Diskussion über einen gesamtgesellschaftlichen
Konsens in der Frage der künftigen Energiepolitik aufzunehmen. Diese Koalition
({9})
und die sie tragenden Fraktionen werden das Ihre dazu
beitragen, dass dieser Konsens in den nächsten Wochen
unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen erarbeitet wird und auch zustande kommt.
({10})
Wenn ich sage: „Wir wollen einen gesellschaftlichen
Konsens“, dann meine ich damit ausdrücklich auch einen parlamentarischen Konsens. Aber der gesellschaftliche Konsens steht doch an erster Stelle. Das ist der
Grund, warum wir unmittelbar nach dem Unglücksfall
von Fukushima die Ethikkommission einberufen haben.
({11})
Die Ethikkommission ist aus hervorragenden, maßgeblichen Vertretern aller gesellschaftlich relevanten Gruppierungen zusammengesetzt: der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Wissenschaft, des Umweltbereichs.
({12})
Ich glaube, wenn Sie ein Interesse an der Sache haben
und nicht nur den Versuch unternehmen wollen, parteipolitisches Kapital aus einer wichtigen Debatte zu schlagen, dann müssen Sie auch ein Interesse daran haben,
dass die Arbeit der Ethikkommission gelingt, und dann
müssen Sie anders über die Ethikkommission reden, als
Sie es in den letzten Wochen getan haben.
({13})
Kollege Altmaier, es gibt zwei Wünsche nach einer
Zwischenfrage, einmal von der Kollegin BullingSchröter und einmal vom Kollegen Heil.
Sehr gerne.
Vielen Dank. - Sie haben gesagt, dass es einen gesellschaftlichen Konsens geben soll und dass in der Ethikkommission alle relevanten Verbände vertreten sind.
Meine Frage an Sie: Warum wurden dazu keine Umweltverbände eingeladen? Warum dürfen deren Vertreter
nicht teilnehmen?
({0})
Doch. - Wir haben die Ethikkommission so zusammengesetzt, dass sie überschaubar ist,
({0})
dass sie arbeitsfähig ist und dass sie imstande ist, eine
Debatte zu führen, die in weiten Teilen öffentlich geführt
werden wird,
({1})
auch unter Einbeziehung der Umweltverbände und der
Bürgerinnen und Bürger. Dass wir imstande sind, eine
solche Debatte zu organisieren, haben Sie im Rahmen
von Stuttgart 21 gesehen. Es hätte der Politik niemand
zugetraut, dass wir eine solche Debatte zustande bringen. Und Sie haben ja auch gesehen, dass die Öffentlichkeit honoriert hat, dass wir diese Debatte geführt haben.
({2})
Kollege Heil.
Sehr geehrter Kollege Altmaier, hätten Sie, wenn Sie
jetzt von Umdenken und Umlernen unter Hinweis auf
das, was Frank-Walter Steinmeier eben ausführte - dabei
ging es darum, wie glaubwürdig das ist -, sprechen, vielleicht einmal die Größe, einzuräumen, dass Sie im
Herbst letzten Jahres einen Energiekonsens zwischen der
Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und der
Energiewirtschaft kaputtgemacht und damit einen gesellschaftlichen Großkonflikt aufgerissen haben? Ich
frage Sie, Herr Altmaier: Ist Ihnen entgangen, was im
Herbst letzten Jahres in der Wirtschaft passiert ist? Da
gab es nämlich Investitionsstau und Attentismus, bedingt durch die Unsicherheit wegen der Laufzeitverlängerungen.
Weiterhin können Ihnen doch die Proteste auf den
Straßen, die wir schon vor Fukushima erlebt haben, nicht
entgangen sein. Deshalb wäre es, bevor Sie einen solchen Konsens wiederherstellen wollen, ein Zeichen von
Größe und Anstand, zu sagen, dass Sie sich im Herbst
geirrt haben. Haben Sie die Größe, das zuzugeben?
({0})
Herr Kollege Heil, ich kann verstehen, dass Sie versuchen, das, was die rot-grüne Regierung damals gemacht
hat, als Großtat darzustellen. Sie haben damals übrigens
im Einvernehmen den Energieproduzenten Nachrüstungen erlassen und keine zusätzlichen Sicherheitsauflagen
durchgesetzt.
({0})
Allerdings bestand damals nicht dieser Konsens wie
heute. Damals haben Sie ein Gesetz beschlossen.
Als wir im letzten Jahr vor der Frage standen, wie wir
einen vernünftigen Übergang zu erneuerbaren Energien
gestalten, haben wir festgestellt, dass Sie im Zeitplan für
den Ausbau der Netze und der Speicherkapazitäten, also
mit all dem, was notwendig ist, damit ein Land von
80 Millionen Einwohnern in das Zeitalter der erneuerbaren Energien kommt, um Jahre zurück lagen.
({1})
Sie haben zwar ein großes Schild vor sich her getragen.
Hinter diesem Schild befanden sich aber lauter ungelöste
Fragen und Probleme.
({2})
Deshalb frage ich Sie, Herr Heil: Sind Sie denn bereit, zuzugeben, dass Sie damals zwar eine große Überschrift produziert haben, bei der Umsetzung aber
schmählich und kläglich versagt haben?
({3})
Ich komme, lieber Kollege Hubertus Heil, darauf zurück, wie wir diesen Prozess parlamentarisch gestalten.
Die Wirklichkeit ist nämlich viel weiter, als Sie in der
Bundestagsfraktion offenbar sind. Heute um 13 Uhr treffen sich die Ministerpräsidenten aller Bundesländer mit
der Bundeskanzlerin,
({4})
um darüber zu reden, welche Voraussetzungen wir im
Zuständigkeitsbereich der Länder schaffen müssen, damit der Übergang gelingt.
({5})
Es wird nicht das einzige Treffen dieser Art sein.
Weil wir den Konsens wollen, werden wir selbstverständlich auch für eine angemessene parlamentarische
Beratung Sorge tragen.
({6})
Die Frage ist nur, ob der Vorschlag, den Sie mit heißer
Nadel gestrickt haben, der Weisheit letzter Schluss ist
und ob er wirklich dazu angetan ist, dieses Problem bzw.
diese Herausforderung in angemessener Weise zu behandeln. Ich will Ihnen dazu drei Überlegungen vortragen.
Kollege Altmaier, es gibt eine Frage des Kollegen
Kelber.
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben ja gerade erwähnt, dass Sie für eine angemessene Beteiligung des
Parlaments und damit der Öffentlichkeit an den Beratungen sorgen wollen. Ich hoffe, das wird anders als damals
ablaufen, als Sie persönlich als Parlamentarischer Geschäftsführer in die Sitzung des Umweltausschusses gegangen sind, um dort für einen Abbruch der Beratungen
zu sorgen.
Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen der eineinhalb Seiten
umfassende Zeitplan der Bundesregierung für die Beratung bekannt ist. Das Bundeskanzleramt schreibt vor
dem Hintergrund, dass am 15. Juni das Moratorium ausläuft - ich zitiere nur den letzten Satz -:
Ein Gesetz zur Stilllegung, das bis Ende des Moratoriums in Kraft tritt, setzt Kabinettsbefassung am
7. Juni voraus.
Da der Deutsche Bundestag das Gesetz am 9. Juni beschließen müsste, sähe nach Meinung der von Ihnen gestellten Bundesregierung die Parlamentsbefassung so
aus: keine Befassung der Fachausschüsse, keine Anhörung, kein Änderungsantrag, Verzicht auf die Fristen,
Abstimmung zwei Tage später.
Werden Sie diesen Zeitplan umsetzen, oder wird das
Gesetz im Mai oder gar noch im April in dieses Parlament kommen?
Herr Kollege Kelber, im ersten Teil Ihrer Frage bezogen Sie sich auf die parlamentarischen Beratungen im
letzten Herbst. Weil sehr viele Bürgerinnen und Bürger
heute Morgen zuhören,
({0})
will ich noch einmal ausdrücklich sagen:
Erstens. Ich kam damals nicht in die Sitzung des Umweltausschusses, um für einen Abbruch zu sorgen, sondern um für einen zeitgerechten Abschluss zu sorgen,
({1})
weil dieses Parlament ein Recht darauf hat, dass man die
parlamentarischen Beratungen nicht durch Filibustern
und willkürlich gestellte Anträge verzögert und unmöglich macht.
({2})
Das ist Ihnen und den Grünen damals ja auch nicht gelungen, wie die Abläufe gezeigt haben.
({3})
Zweiter Punkt. Der Ausgangspunkt unserer Unterhaltung über die Strukturierung der parlamentarischen Arbeit in diesem Frühjahr ist doch ganz klar: Wir sollten
die Arbeiten der Ethikkommission gemeinsam abwarten.
({4})
Das gebietet der Respekt vor der Ethikkommission und
der gesellschaftlichen Debatte.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle im Auftrag meiner Fraktion und auch der gesamten Koalition sagen, dass wir davon überzeugt sind, dass durch die Person des Vorsitzenden der Ethikkommission, Professor Klaus Töpfer, nicht
nur die Gewähr dafür geboten wird, dass in dieser Kommission seriös gearbeitet wird, sondern auch dafür, dass
die großen Fragen und Weichenstellungen angemessen
behandelt werden.
({6})
Die Ethikkommission wird ihren Bericht gegen Ende
Mai 2011 vorlegen. Etwa zur gleichen Zeit wird die Reaktor-Sicherheitskommission ihren Bericht vorlegen.
Dann müssen wir uns die Frage stellen, wie wir im Bundestag den Prozess so strukturieren, dass wir die nötigen
Anhörungen durchführen können, dass wir die nötigen
Ausschussberatungen durchführen können und dass wir
die nötigen Plenarberatungen durchführen können.
({7})
Lieber Kollege Heil, ich will hier die Frage stellen,
um die es heute Morgen in der Debatte geht:
({8})
Glauben Sie angesichts der Fülle der Entscheidungen,
um die es im Bereich der Netze, im Bereich der Speichermöglichkeiten, im Bereich des Planungsrechts und
auch im Bereich der Laufzeiten am Ende dieser Debatte
geht, wirklich, dass es sinnvoll ist, die Zuständigkeiten
und Kompetenzen der Ausschüsse, die sich in den letzten Monaten auf hohem Niveau mit diesen Fragen beschäftigt haben und weiterhin beschäftigen, durch einen
Sonderausschuss außer Kraft zu setzen, der naturgemäß
aus einigen wenigen Kolleginnen und Kollegen besteht,
({9})
und all diese Aufgaben im Sonderausschuss zu lösen?
({10})
In einem Punkt sind wir uns doch einig: Wenn die
Ethikkommission Ende Mai ihre Ergebnisse vorlegt,
({11})
dann wollen wir natürlich auch eine parlamentarische
Entscheidung zustande bringen, mit der dafür gesorgt
wird, dass mit dem Ablauf des Moratoriums klar ist, wie
die Zukunft der Kernenergie und der Energiepolitik in
Deutschland aussieht.
({12})
- Das sind keine drei Tage, sondern wir haben ein angemessenes, aber anspruchsvolles zeitliches Konzept.
Ich sage Ihnen: So wie Sie in der Vergangenheit in
ähnlichen Situationen aus guten Gründen keine Sonderausschüsse eingesetzt haben, so ist es die Auffassung unserer Fraktion und Koalition, dass es sinnvoll ist, diese
Debatte im Umweltausschuss, im Wirtschaftsausschuss,
im Verkehrsausschuss und in allen anderen zuständigen
Ausschüssen auf breiter Front zu führen, und wir werden
dafür sorgen, dass sie unter angemessener Beteiligung
der Öffentlichkeit stattfindet.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube
nicht, dass irgendjemand Verständnis dafür hätte, wenn
wir uns über technische Detailfragen wie die Frage, ob
es einen Sonderausschuss gibt, oder die Frage, wie er zusammengesetzt ist, zerstreiten würden.
({14})
Wenn wir einen Konsens herbeiführen wollen, dann darf
es doch nicht nur um einen Konsens darüber gehen, wie
lange Kernkraft in Deutschland noch unverzichtbar und
hinnehmbar ist, sondern dann muss es doch auch um die
Frage gehen, was im Rahmen eines Gesamtkonzeptes
geschehen muss, damit tatsächlich ein schnellerer Übergang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien möglich
wird.
Liebe Frau Höhn, ich habe mit Respekt zur Kenntnis
genommen, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
als ein Ergebnis der Debatten im letzten Jahr ihre Position in der Frage der Stromtrassen für die 380-kV-Leitungen überdacht und modifiziert hat.
({15})
Das ist ein klarer Hinweis, dass niemand in diesem Haus
sagen kann: Wir haben keinen Grund, unsere Positionen
kritisch zu hinterfragen und zu überdenken.
Meine Fraktion hat diese Woche in insgesamt drei Sitzungen stundenlang über die Fragen diskutiert, die im
Zusammenhang mit der Energiepolitik in den nächsten
Monaten zu beantworten sind. Wir werden das in den
nächsten Wochen fortsetzen. Ich weiß, dass es auch in
anderen Fraktionen, wie bei der FDP und anderswo in
diesem Haus, ein ähnliches Ringen gibt.
Von den Kolleginnen und Kollegen Sozialdemokraten
habe ich als einzige substanzielle Äußerung bisher die
Forderung nach einem Sonderausschuss vernommen.
({16})
Wenn Sie die Begründung für die Einsetzung eines solchen Ausschusses lesen, dann werden Sie feststellen,
dass zu den inhaltlichen Herausforderungen wenig oder
nichts gesagt wird.
Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal das Angebot
unterbreiten - das richtet sich an das gesamte Haus -, die
nächsten Wochen und Monate für einen wirklichen Dialog zu nutzen.
({17})
Es geht nämlich nicht nur um die Glaubwürdigkeit einer
einzelnen Fraktion; es geht vielmehr um die Glaubwürdigkeit des politischen Systems und des Parlamentarismus.
Ich bin davon überzeugt, dass die vor uns liegenden
Beratungen eine große Chance sind, die Glaubwürdigkeit und die Zustimmung zum politischen Handeln auch
in der Öffentlichkeit zu erhöhen.
({18})
Ich möchte uns alle aufrufen, dass wir dazu einen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gysi für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Altmaier, es nutzt nichts, wenn man versucht, eine zwingend notwendige Entscheidung durch Verzögerung hinauszuschieben. Es bringt Ihnen nichts, es schadet Ihnen
nur. Sie kommen aus der Sache sowieso nicht heraus.
Der Ausschluss der Öffentlichkeit wird nicht funktionieren.
({0})
Wir haben eine japanische Atomkatastrophe erlebt.
Erst jetzt haben die Behörden eingeräumt, dass es doch
der höchste Schadensfall ist und dass ein Super-GAU
vorliegt. Auch das hat sehr lange gedauert. Aber jetzt ist
es eingestanden worden. Selbstverständlich werden wir
der japanischen Bevölkerung jede uns mögliche Hilfe
zukommen lassen.
Eines hat sich aber in Deutschland herumgesprochen:
Ein Atomkraftwerk ist im Falle einer Katastrophe nicht
beherrschbar, durch niemanden, auch nicht in Deutschland. Deshalb sind nun plötzlich alle Parteien für den
Atomausstieg - irgendwann und irgendwie. Aber dafür
brauchen wir keine Ethikkommission der Regierung,
Herr Altmaier, die auch noch geschlossen tagen soll
({1})
und von einer Regierung eingesetzt wird, die diesbezüglich völlig unglaubwürdig und inzwischen auch unberechenbar ist.
Welche Konsequenzen werden denn gezogen? Der
FDP-Generalsekretär Lindner hat zum Beispiel gefordert: Alle alten Meiler müssen dauerhaft geschlossen
werden. - Jetzt nimmt er das wieder zurück. Dann äußern sich Herr Röttgen und Herr Brüderle und legen einen Sechs-Punkte-Ausstiegsplan vor, der alles Mögliche
ist, aber kein Plan. Darin geht es zum Beispiel um den
rascheren Ausbau der regenerativen Energien, aber so
gut wie ausschließlich auf der Basis von Offshorewindenergie. Doch diese großen Parks können nur von den
vier Energieriesen gebaut und finanziert werden.
({2})
Zugleich wird aber so gut wie nichts zu Photovoltaik
oder Erdwärme gesagt, in die auch kleine und mittlere
Unternehmen investieren könnten. Das fällt auf.
Aber selbst diese Absichtserklärung der beiden Bundesminister trifft vor allem auf Ablehnung in der Union,
und zwar vonseiten der Herren Schäuble und Kauder.
Sie führen drei Argumente an: Das erste Argument ist,
dass es dann keine Versorgungssicherheit mehr gäbe.
Das zweite ist, dass die Schuldenbremse dagegenspräche, und das dritte ist, dass die Strompreise in unzumutbarem Maße stiegen. Mit diesen drei Argumenten
möchte ich mich kurz auseinandersetzen.
Das Argument der Versorgungssicherheit von Herrn
Kauder ist schon deshalb falsch, weil selbst der Umweltbeirat Ihres Bundesumweltministeriums festgestellt hat,
dass wir die acht alten Atomkraftwerke nicht brauchen,
weil sie nur Überschüsse produzieren. Das Argument ist
also falsch.
({3})
Das zweite Argument ist die Schuldenbremse. Das
finde ich spannend. Union und SPD haben die Schuldenbremse in das Grundgesetz geschrieben - wir hielten das
immer für falsch -, und jetzt wird gesagt, die Schuldenbremse hindere uns daran, Fortschritte zu machen.
({4})
Das ist genau das, worauf wir immer hingewiesen haben.
Indirekt bestätigt uns Herr Schäuble; denn er sagt: Wir
können leider nichts mehr machen. Die Politik ist handlungsunfähig. - Aber in diesem Fall ist das Argument
falsch, und zwar deshalb, weil die vier Energieriesen
über solche Reserven verfügen, dass das Ganze sehr
wohl finanzierbar ist. Darauf komme ich noch zurück.
Das dritte Argument ist das Argument der höheren
Strompreise. Die FDP spricht von einem Sparpaket. Sie
sagt, es müsse noch mehr Sozialabbau geben und gerade
die ärmeren Schichten und die durchschnittlich Verdienenden hätten das alles zu bezahlen. Das ist der einfachste und unsozialste Weg; für uns kommt der überhaupt nicht infrage.
({5})
Aber dahinter steckt doch etwas ganz anderes: Sie
drohen mit Strompreiserhöhungen, um die Zustimmung
gerade der ärmeren Schichten der Bevölkerung zur
Atomenergie zurückzugewinnen. Ich sage Ihnen: Das ist
übel. Mit solchen Katastrophen darf man nicht spielen,
und man darf auch nicht eine solche Stimmung erzeugen.
({6})
Die Grünen äußern sich zur sozialen Frage überhaupt
nicht, und die SPD denkt in erster Linie an die Großverbraucher. Wir denken an alle Verbraucherinnen und Verbraucher.
({7})
- Ja. Sie können uns doch nicht verbieten, zu denken.
({8})
Wir denken sowohl an die durchschnittlich Verdienenden als auch an die Armen sowie an die kleinen und
mittleren Unternehmen, die alle davon betroffen sind.
Was wir brauchen, ist die Wiedereinführung einer staatlichen Preisregulierung.
({9})
- Ich wusste, dass die FDP von Planwirtschaft redet.
Wissen Sie, auch in der Bundesrepublik Deutschland
herrschte in diesem Bereich Planwirtschaft; denn bis zur
Großen Koalition hatten wir eine staatliche Preisregulierung in der Bundesrepublik Deutschland.
({10})
Das haben Sie bloß nicht mitgekriegt. Waren Sie nicht
im Bundestag, oder was?
Erst die Große Koalition, bestehend aus Union und
SPD, hat beschlossen, die staatliche Preisregulierung abzuschaffen, und zwar mit der Begründung, dass es einen
topfunktionierenden Markt gebe, der ohnehin dafür
sorge, dass die Preise sinken. Nun haben aber alle Bürgerinnen und Bürger und alle Unternehmen mitbekommen, dass die Preise in der ganzen Zeit nicht gesunken,
sondern ständig gestiegen sind, weil die vier Riesen sich
abgesprochen haben, wie sie die Bevölkerung abzocken.
So einfach ist das.
({11})
Jetzt müsste doch auch die SPD einräumen, dass das
gerade genannte Argument für die Abschaffung der
Preisregulierung falsch war. Es bleibt auch falsch. RWE
hat übrigens durch falsche Preise sogar 2,3 Milliarden
Euro abgezockt. Wo blieb da eigentlich Ihr Protest? Der
wäre meines Erachtens wichtig gewesen.
Also: Wir müssen zurück zur staatlichen Strompreisregulierung. Es gibt jetzt eine große Chance für eine
grundlegende Neuorientierung der ökonomischen, ökologischen, demokratischen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft. Weder die Verlängerung der Laufzeiten durch die jetzige Bundesregierung noch der rotgrüne Atomkompromiss aus dem Jahr 2002 sind heute
noch die Verhandlungsbasis. Wir brauchen jetzt fünf
Schritte für eine sozialökologische Energiewende.
Erstens. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche
Debatte. Es kann nicht bei der Ethikkommission der Regierung bleiben. Wir brauchen, wie von der SPD beantragt, einen Sonderausschuss des Bundestages.
({12})
Entgegen dem Willen der SPD darf aber auch dieser
Ausschuss nicht geschlossen tagen. Es reicht auch nicht,
alles im Internet zu veröffentlichen. Das ist wichtig, und
das können wir machen. Auch der Ausschuss muss jedoch die breiteste Öffentlichkeit zulassen, Fragen von
den Betroffenen aufnehmen und Gespräche mit ihnen
führen. Das ist das Wichtige. Wir brauchen einen wirklichen gesellschaftlichen Konsens. Die Konzepte des
BUND und von Greenpeace, die keinen Platz in Ihrer
Ethikkommission haben, zeigen doch, welch fundiertes
Wissen und welches Ideenpotenzial in der Gesellschaft
vorhanden sind. Lassen Sie es uns doch endlich nutzen,
statt es ständig auszuschließen!
({13})
Zweitens. Wir brauchen einen Atomausstieg mit einem Ausstiegsgesetz, damit das Ganze juristisch wasserdicht wird. Außerdem soll der Ausstieg unumkehrbar
werden. Deshalb brauchen wir eine Ergänzung des
Grundgesetzes.
({14})
Wir haben drei Anträge hierzu eingebracht. Herr
Lindner, lesen Sie diese; das bildet.
Im ersten Antrag geht es um die dauerhafte Stilllegung der sieben alten AKW und des AKW Krümmel.
Im zweiten Antrag geht es um den Ausschluss der
Übertragung der früher zugesicherten Reststrommengen
für diese acht AKW auf die dann noch verbleibenden
neun weiterlaufenden AKW. Das ist ganz wichtig; denn
wenn diese neun AKW die Reststrommengen übernehmen, dann bedeutet das für diese eine Laufzeitverlängerung. Genau so etwas planen Sie. Das darf es auf gar keinen Fall geben. Dieser Trick darf nicht funktionieren.
({15})
Als Drittes haben wir beantragt, dass ein Verbot der
Nutzung der Atomtechnologie für energetische Zwecke
und für Waffen ins Grundgesetz aufgenommen wird.
Das ist besonders wichtig, denn wenn wir das einmal im
Grundgesetz stehen haben - geben Sie sich doch wirklich einen Ruck -, garantiere ich Ihnen, dass es nie wieder eine Zweidrittelmehrheit geben wird, die dieses Verbot abschaffen kann. Das ist das Entscheidende daran.
({16})
Zurück zu den fünf Schritten: Wir brauchen drittens
eine staatliche Preisregulierung und kein Sparpaket, wie
es die FDP will. Was wir wirklich brauchen, ist Steuergerechtigkeit.
Jetzt sage ich Ihnen etwas zu den Kosten für die Energiewende: In erster Linie müssen das meines Erachtens
die vier Energieriesen bezahlen. Die von diesen gebildeten Rückstellungen für den Abbau der AKW in Höhe
von 29 Milliarden Euro sind jetzt in einen öffentlichrechtlichen Fonds überzuleiten, damit das Geld auch
wirklich für den Abbau der AKW zur Verfügung steht.
({17})
Aber das ist nur das eine. Außerdem müssen sie ihre Extraprofite abführen, um die Umstellung auf erneuerbare
Energien zu gewährleisten.
Jetzt sage ich einmal etwas zu den Profiten dieser vier
Energieriesen, damit die Bevölkerung es auch weiß:
Eon, EnBW, RWE und Vattenfall haben seit 2002 einen
Profit von über 100 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dort
gibt es also genügend Geld, denn die Bürgerinnen und
Bürger und die Unternehmen wurden und werden von
den vier Energieriesen abgezockt.
Kleine und mittlere Unternehmen haben dagegen im
Jahre 2009 - vor der fälschlich durch Ihre Regierung beschlossenen Verlängerung der Laufzeiten - 26,7 Milliarden Euro in die erneuerbaren Energien investiert. Wenn
Sie Ihre Laufzeitverlängerung, die diese so schockiert
hat, wieder zurücknehmen, sind diese auch bereit, wieder zu investieren und Mittel für die Erneuerbaren zur
Verfügung zu stellen.
({18})
Übrigens noch zur Ergänzung: Ich habe gesagt, dass
die vier Konzerne über 100 Milliarden Euro Profit seit
2002 erwirtschaftet haben. Allein in der Krise im Jahr
2009 waren es 23 Milliarden Euro, und im Jahre 2010
waren es 30 Milliarden Euro. Solche finanziellen Reserven haben die! Da müssen Sie einmal den Mumm haben
und umgekehrt auch einmal ein bisschen abzocken, und
zwar durch gerechte Steuern. Das ist das, was wir fordern.
({19})
Selbstverständlich muss auch der Bund investieren.
Erst ganz zuletzt darf man an die Verbraucherinnen und
Verbraucher denken, und das muss angemessen geschehen: Das bedeutet, dass man finanziell schwachen Haushalten einen Sozialtarif gewähren muss.
Viertens. Die überkommenen Konzernstrukturen und
die marktbeherrschende Stellung der vier Stromkonzerne stehen einer wirklichen Energiewende entgegen.
Die Regierung hat bewiesen, dass sie erpressbar ist. Jetzt
erpressen die Konzerne erneut - mit einem Stopp der
Zahlungen in den Ökofonds. Ich sage: Wer so erpresst,
darf kein Verhandlungspartner sein.
({20})
Die Energiewende gelingt dezentral oder gar nicht.
Die Linke wird das Erbe von Hermann Scheer aufnehmen, das die SPD leider ausschlägt.
({21})
Der notwendige Netzausbau muss zum Einstieg in die
dezentrale kommunale Energieversorgung genutzt werden. Die Stromnetze müssen endlich in öffentliche
Hand, und zwar deshalb, weil ich möchte, dass die Politik zuständig ist. In der Politik haben wir Demokratie,
bei den vier Konzernen haben wir keine Demokratie. Sie
wollen die Zuständigkeit der Konzerne, wir wollen die
Zuständigkeit der öffentlichen Hand.
({22})
Fünftens und Letztens. Wir brauchen höchste Energieeffizienz. Das ist auch eine soziale Frage. Darauf
muss sich auch die Forschung konzentrieren. Wir haben
schon vor Jahren 2,5 Milliarden Euro für einen Fonds
beantragt, um Bürgerinnen und Bürgern mit einer Effizienzprämie bei der Anschaffung energiesparender Geräte zu helfen. Das gilt übrigens auch für Unternehmen;
denen soll damit ebenfalls geholfen werden. Über den
Fonds ist auch zusätzliche Hilfe für finanziell, das heißt
sozial Schwache möglich. Wenn der Sonderausschuss
gebildet würde und dazu dienen würde, den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie zu begleiten
und den Einstieg in das nachatomare Industriezeitalter
mit vorzubereiten, wenn er mit dazu beitrüge, eine breite
und offene gesellschaftliche Debatte zu organisieren, bekäme er einen hohen gesellschaftlichen Gebrauchswert.
Hören Sie auf, zu verdunkeln! Hören Sie auf, zu vertuschen!
({23})
Lassen Sie uns die dringend notwendigen Entscheidungen hier im Bundestag treffen.
({24})
Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Gysi, wir wissen, dass Sie Experte für alle Themen sind
und dass Ihre Fachpolitiker hier fast nie reden dürfen.
Dass Sie sich hier jetzt aber erdreisten, einen toten Kollegen, Hermann Scheer, für Ihre antikapitalistischen Reflexe, für etwas, was Hermann Scheer nie vertreten hat,
zu vereinnahmen, all das, was Sie hier abgeliefert haben,
ist so unterirdisch, so grottenschlecht und auch unfair
gegenüber den Sozialdemokraten, das kann man hier im
Parlament nicht akzeptieren.
({0})
Herr Gysi, Sie haben wieder einmal schwadroniert:
Im Zweifel ist die Großindustrie schuld am Elend der
Welt; sie muss ihre Extraprofite abführen. - Offensichtlich ist Ihnen nicht klar: Ab 2013 muss die Großindustrie
ihre Extraprofite aus dem Emissionshandel abführen,
nämlich in den Energie- und Klimafonds.
({1})
Diese Koalition hat beschlossen, dass diese Mittel in die
Nutzung erneuerbarer Energien investiert und nicht vom
Finanzminister eingesackt werden. Das ist eine Leistung
dieser Koalition, die Sie an dieser Stelle einmal wahrnehmen sollten, Herr Gysi.
({2})
Wir reden heute über das Thema Einsetzung eines
Sonderausschusses „Atomausstieg und Energiewende“.
Man hat den Eindruck, es geht bei der SPD inzwischen
kaum noch um die Inhalte.
({3})
Man gewinnt nämlich den Eindruck, dass man von der
Koalition in dem Bemühen überholt wird, in das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu kommen. Da Sie der
Koalition offensichtlich inhaltlich nichts entgegenzusetzen haben,
({4})
echauffieren Sie sich hier während der Kernzeitdebatte
über eine formale Frage.
({5})
Angeblich wird in diesem Parlament nicht diskutiert.
Wenn ich zurückschaue, was ich in den letzten Wochen
getan habe, dann stelle ich fest, dass ich an jedem
Plenarfreitag hier im Parlament über das Thema Atomausstieg diskutiert habe.
({6})
Wir diskutieren permanent darüber. Es ist doch ein Märchen, dass diese Diskussion unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiere.
({7})
Es ist völlig aberwitzig, zu glauben: Wenn man einen
Sonderausschuss einsetzt, dann kommen plötzlich bessere Ergebnisse zustande. Wir haben einen Wirtschaftsausschuss, wir haben einen Umweltausschuss und einen
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, der
sich beispielsweise mit Fragen der Gebäudesanierung
beschäftigt. In all diesen Ausschüssen kümmert man
sich um die Fragen, um die es hier geht, und zwar nicht
erst seit gestern. In diesen drei Ausschüssen sitzen diejenigen Experten in diesem Parlament, die zu diesen Fragen beraten sollen.
({8})
Wenn wir einen neuen Ausschuss einsetzen, dann ist
er in den ersten vier Wochen nur mit Formalia beschäftigt. In dieser Zeit können wir in diesem Parlament Entscheidungen treffen.
({9})
Das will diese Koalition: Entscheidungen treffen und
nicht neue Gremien institutionalisieren.
({10})
Das war beim Energiekonzept so, und es wird bei der
Weiterentwicklung des Energiekonzeptes so sein.
Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne. Von wem denn?
Von Herrn Schwabe. - Herr Schwabe, bitte.
({0})
Herr Kollege Kauch, Sie haben gerade gesagt, dass
wir keine zusätzlichen Ausschüsse und keine zusätzlichen Gremien brauchen. Wie bewerten Sie, dass die
Bundesregierung die Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ - das ist eine Art Ausschuss - einberufen hat? Ist das ebenfalls ein überflüssiges Gremium?
Schließlich meinen Sie, dass wir solche Fragen hier im
Parlament zu klären haben.
Diese Ethikkommission berät die Regierung. Wir als
Parlament müssen am Schluss über die Vorlagen der Regierung, also über das, was die Regierung vorschlägt,
entscheiden.
({0})
Am Schluss wird im Parlament und nirgendwo sonst entschieden.
({1})
Wie beim Energiekonzept sind die Koalitionsfraktionen schon im Vorfeld in Regierungsentscheidungen eingebunden.
({2})
Es ist nicht so, dass wir darauf warten, dass uns Frau
Merkel, Herr Brüderle oder Herr Röttgen Vorlagen geben, und dass wir uns hinstellen und abnicken. Das haben wir beim Energiekonzept im letzten Jahr nicht getan,
und das werden wir auch in diesem Jahr nicht tun, meine
Damen und Herren.
({3})
Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in der Frage,
was selbstbewusste Parlamentarier sind.
({4})
Wir brauchen von Ihnen auch keine Nachhilfe in der
Frage, wie Vorlagen im Parlament behandelt werden. Ich
erinnere mich an meine Zeit in der Opposition. Da wurden bei der Gesundheitsreform Hunderte von Seiten Ge12202
setzestext hier innerhalb von zwei Tagen durchgepeitscht. Da wurden zig Seiten Änderungsanträge mal
eben als Tischvorlage eingereicht. Das war die SPD!
Deswegen brauchen wir von Ihnen hier überhaupt keine
Nachhilfe. Wir machen die Verfahren korrekt.
({5})
Wir brauchen auch keine Nachhilfe von Herrn
Steinmeier. Herr Steinmeier sagt, wegen unserer Politik
würden - angeblich - Investitionen zurückgehen und
keine Arbeitsplätze geschaffen. Gestern haben wir die
Zahlen bekommen. Seit der Wiedervereinigung waren in
Deutschland noch nie so viele Menschen beschäftigt wie
jetzt unter Schwarz-Gelb.
({6})
Das ist der Erfolg dieser Regierung. Da brauchen wir
von Ihnen keine Nachhilfe, meine Damen und Herren.
Die SPD muss sich schon entscheiden, was sie will.
Herr Steinmeier sagt: Wir müssen ein Industrieland bleiben; wir brauchen Klimaschutz und Versorgungssicherheit. - Alles richtig! Heute Morgen stellt sich Frau
Nahles ins Fernsehen, und auf die Frage, wie sie denn sicherstellen wolle, dass das, was sie fordere, nämlich dass
die Armen nicht belastet würden, durchgeführt werde,
kam als einzige Antwort: Das muss die Regierung vorlegen. - So viel zu den sozialpolitischen Konzepten der
Sozialdemokratischen Partei! Das ist peinlich.
({7})
Die FDP will schneller aus der Kernkraft aussteigen,
als das bisher vorgesehen ist. Deshalb werden wir aber
nicht alles über Bord werfen, was wir in den letzten Jahren für wichtig gehalten haben.
({8})
Deshalb werden wir nicht zulassen, dass das Problem
einfach verlagert wird, indem man dauerhaft Kernkraftstrom aus Frankreich und Tschechien importiert oder indem man die Klimaschutzziele oder die Versorgungssicherheit gefährdet.
({9})
Deshalb muss ein Ausstieg aus der Kernkraft so gestaltet
sein, dass die Netzstabilität gewährleistet wird, dass wir
unsere Klimaschutzziele erreichen und dass wir unsere
Importabhängigkeit nicht vergrößern.
({10})
Zur Ehrlichkeit gehört dazu, den Menschen auch zu
sagen: Diese Reformen gibt es nicht zum Nulltarif. Man kann nicht zum Nulltarif aus der Kernkraft aussteigen und gleichzeitig alle anderen Ziele - Versorgungssicherheit, Klimaschutz usw. - erreichen. Unsere Verantwortung als Parlamentarier ist, dafür zu sorgen, dass die
Menschen nicht unnötig mehr bezahlen. Ihnen Sand in
die Augen zu streuen und zu sagen: „Das kostet gar
nichts; wir machen das mal eben so mit einem Schnipp“,
({11})
geht einfach an der Sache vorbei.
Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land auch sagen, dass es weitere Kosten gibt, nämlich
Kosten nichtmonetärer Art, dass insbesondere die ländlichen Räume stärker als bisher ihren Beitrag zur Energieversorgung leisten müssen und dass sich auch dort viele
Dinge, viele Landschaftsbilder beispielsweise, verändern werden.
({12})
Das ist unumgänglich, das ist notwendig in einem vernetzten Industrieland. Wir sollten nicht so tun, als würde
das überhaupt nicht stattfinden.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Höhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hatten wir eine sehr ernsthafte Debatte zur PID.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Debatte zur
Energie genauso ernsthaft führen würden und nicht so
krähenhaft und so lautstark, wie Sie, Herr Kauch, das
eben getan haben.
({0})
Nach der Katastrophe von Fukushima gibt es in der
Gesellschaft mittlerweile einen breiten Konsens. Herr
Gysi, wir brauchen also nicht einen breiten Konsens,
sondern wir haben einen breiten Konsens.
({1})
Über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind einer
Meinung. Die Kirchen, die Umweltschützer, die Gewerkschaften, die Jungunternehmer, Greenpeace, die
Katholische Landjugend und seit neuestem auch der
Bundesverband der Energiewirtschaft sind dabei. Dieser
breite Konsens lässt sich auf eine ganz einfache Formel
bringen: Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien! Es ist unsere Aufgabe, das umzusetzen.
({2})
Denn wir sind die Volksvertreter. Die Umsetzung muss
sachlich und fachlich und ohne Übertreibung und
Schwarzmalerei erfolgen.
({3})
Bei der Umsetzung dieses gesellschaftlichen Konsenses in Politik sind drei wichtige Punkte zu bedenken:
Erstens. Wir müssen raus aus den alten Atomanlagen.
Das heißt, die sieben alten Reaktoren und Krümmel
müssen abgeschaltet werden, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern endgültig, ein für alle Mal.
({4})
Der zweite wichtige Punkt ist, dass die im letzten
Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung endlich vollständig zurückgenommen werden muss,
({5})
denn sie war ein großer Fehler. Dieser Fehler muss jetzt
korrigiert werden.
({6})
Der dritte wichtige Punkt ist, dass wir eine konsequente Politik des Energiesparens, der Energieeffizienz
und der erneuerbaren Energien machen müssen, um auch
die verbleibenden Atomkraftwerke so schnell wie möglich überflüssig zu machen und abschalten zu können.
Wir Grünen sagen: Das können wir in der nächsten Legislaturperiode schaffen.
({7})
Wir freuen uns, dass das Bundesumweltamt uns da recht
gibt.
({8})
Wenn wir diesen Konsens politisch umsetzen wollen,
haben wir allerdings einige Fragen zu beantworten. Die
Bürger fragen: Wie teuer ist das? Über diese Frage können wir nicht einfach hinweggehen. Es wäre falsch, an
diesem Punkt Angst zu machen. Aber das tun viele,
selbst aus diesem Hause. Wir sollten uns einmal ganz ruhig anschauen, was die Bundesregierung selber im letzten Herbst an Gutachten zu diesem Thema auf den Tisch
gelegt hat. Ich erinnere an das Gutachten vom EWI-Institut. EWI wird vor allen Dingen von Energiekonzernen
bezahlt; das heißt, es steht nicht im Verdacht einer besonderen Nähe zu den erneuerbaren Energien. Das Gutachten von EWI kommt zu dem Ergebnis: Die Rückkehr
zum rot-grünen Atomausstieg würde für die Bürgerinnen
und Bürger in den gesamten nächsten Jahren einen höheren Preis um vielleicht 0,5 Cent pro Kilowattstunde bedeuten. Lasst uns das einmal mit den Kostensteigerungen vergleichen, die wir in den letzten Jahren hatten:
Seit 2005 ist der Strompreis um rund 7 Cent gestiegen.
Die bei der Rückkehr zum Atomausstieg anfallenden
0,5 Cent sollte uns eine Energiewende doch wert sein.
({9})
Die zweite Frage bezieht sich auf die Energiesicherheit. Jede Sekunde muss Strom da sein. Ich finde es gut,
dass auch Herr Röttgen heute sehr klar gesagt hat, dass
es beim Atomausstieg nicht um die Frage der Energiesicherheit geht. Wir haben genügend Kapazitäten. Wir
haben mit den acht Atomkraftwerken 10 Prozent unseres
Stromanteils abgeschaltet, und der Stromimport liegt
momentan bei 1 bis 2 Prozent. Das ist offensichtlich
nicht das Problem, zumal die Experten sagen, dass der
Import im Laufe des Jahres sogar wieder zurückgehen
wird.
Die Situation könnte allerdings im Mai schwieriger
werden, wenn weitere fünf Atomkraftwerke zu Wartungszwecken vom Netz gehen. Das kommt einem sofortigen Atomausstieg gleich. Für das Netz - nicht für
die Kapazität - stellt das ein Problem dar. Auch da gilt:
Es ist wichtig, dass die Bundesregierung gemeinsam mit
den Energieunternehmen - auch die müssen sich dazu
verhalten - im Mai eine Lösung findet. Es ist machbar;
das sagen alle Experten. Es liegt aber auch in der Verantwortung der Energieunternehmen, dass es im Mai nicht
zu einem Blackout kommt.
({10})
Deshalb sagen wir: Die Energiewende ist möglich,
ohne zu hohe Kosten und ohne Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die Bürger brauchen davor keine Angst
zu haben. Die Einzigen, die Angst haben müssen, sind
die Energiekonzerne; denn durch die Energiewende verlieren sie das Monopol, das sie jetzt noch haben und das
ihnen den Freibrief gibt, die Energiepreise so hoch steigen zu lassen, wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben: Seit 2005 sind die Energiepreise um 40 Prozent
gestiegen. Das liegt am Monopol, nicht an den erneuerbaren Energien.
Ich sage Ihnen von CDU und FDP: Pfeifen Sie die
Atomfreunde in Ihrer Fraktion zurück! Nehmen Sie den
Konsens in der Bevölkerung wahr, und setzen Sie entsprechende Maßnahmen um! Dann sind wir an Ihrer
Seite. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie am Ende der
Atomlobby wieder folgen, dann werden wir Sie heftig
kritisieren. Damit würden Sie eines machen, nämlich
den Konsens, den wir jetzt in der Gesellschaft haben,
aufkündigen.
Frau Kollegin Höhn, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Der Konsens besagt eindeutig und klar: Raus aus der
Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Nüßlein für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
von der Rede der Frau Höhn nur bis zu der Stelle angetan, an der Sie, Frau Kollegin, den Versorgern höchst
präventiv und einseitig die Schuld für einen Blackout
und für höhere Preise zugeschoben haben, was im Rahmen einer Energiewende passieren kann.
So einfach können wir es uns politisch aber nicht machen. Wir haben letzten Herbst ein Energiekonzept beschlossen, das wohlüberlegt und aus unserer Sicht gut
austariert war.
({0})
Es ging darum, mithilfe von Laufzeitverlängerungen den
notwendigen und teuren Ausbau der erneuerbaren Energien gegenzufinanzieren. Wir haben nicht geglaubt, dass
wir dafür viel Applaus und großen Zuspruch bekommen
würden.
Wir haben das Energiekonzept beschlossen, weil wir
gesehen haben, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Bezug auf Netze und Speicher bei weitem noch nicht so weit sind, wie wir sein müssten, um
eine Energiewende nicht nur rhetorisch herbeizuführen.
Wir hatten es in der Vergangenheit versäumt - ich mache
da keine Schuldzuweisung; deshalb sage ich an dieser
Stelle bewusst „wir“ -, mit dem Aufbau und Ausbau von
Kapazitäten eine Versorgung mit erneuerbaren Energien
sicherzustellen. Wir sind da bei weitem nicht so weit
- manchmal wird dies suggeriert -, wie wir gerne wären.
Die Diskussion in den nächsten Wochen wird sich
noch mehr der Frage widmen müssen, wie wir die erneuerbaren Energien sinnvoll weiter ausbauen können.
Diese Diskussion muss man jenseits von Wahlkampfgetöse und parteipolitischem Kalkül führen. Ich habe Verständnis dafür, dass wir von der Union Prügel beziehen.
({1})
Das muss man mit Demut hinnehmen. Nichtsdestotrotz
sind wir in unserer Auffassung bestärkt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind.
({2})
- Wenn das so einfach wäre und wenn man nur sagen
müsste, man habe sich geirrt!
Was haben wir gemacht? Es gab einen gewissen Konsens. Ich erwähne dies, weil er von der SPD angemahnt
wurde und weil ich der Meinung bin, man sollte sich an
dieser Stelle auf einen Konsens beziehen. Es muss natürlich unser Ziel sein, einen ehrlichen Konsens zu erwirken. Tun wir doch nicht so, als ob wir alle unsere Hände
in Unschuld waschen könnten. Es gab doch hier, was die
Sicherheitsthematik angeht, offenkundig einen Konsens.
({3})
- Doch! Doch! Doch!
({4})
Sie haben in Ihrer Ausstiegsvereinbarung aus dem Jahr
2000 klar bestätigt, dass die Kernkraftwerke in Deutschland auf einem international hohen sicherheitstechnischen Niveau sind.
({5})
Aufgrund einer Änderung in Ihrer Parteipolitik wurde
der Ausstieg auf das Jahr 2020 verschoben. Dabei sind
Sie doch gemeinsam mit den Grünen davon ausgegangen, dass unsere Kernkraftwerke sicher sind.
({6})
- Frau Kollegin, wir haben dieses Regelwerk nicht außer
Kraft gesetzt; das ist schlicht falsch. Ihre Minister haben
sich nicht getraut, dieses Regelwerk in Kraft zu setzen;
bis heute ist es in der Erprobungsphase.
({7})
Man kann jetzt nicht dem Kollegen Röttgen die Schuld
in die Schuhe schieben, wenn Trittin und Gabriel es
letztendlich nicht umgesetzt haben. Ich bitte schon um
ein bisschen Lauterkeit in dieser Debatte.
({8})
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kelber?
Ja, gern.
Zum kerntechnischen Regelwerk: Der Unterschied
ist: Das neue Regelwerk wurde, bis Herr Röttgen kam,
bereits parallel angewendet; Herr Röttgen hat dafür gesorgt, dass jetzt nur noch das alte Regelwerk angewandt
wird.
Jetzt zur Frage, die ich Ihnen stellen wollte: Haben
Sie die Atomausstiegsvereinbarung von 2000 und das
Gesetz von 2002 bis zum Ende gelesen? Hinter dem von
Kollegen aus Ihren Reihen oft zitierten Teil, demzufolge
man die Atomkraftwerke zu dem Zeitpunkt als sicher ansah, wird erstmals die gesetzliche Normierung der
Pflicht zur periodischen Sicherheitsüberprüfung von
Atomkraftwerken geregelt. Diese Überprüfung dauert
übrigens etwa anderthalb Jahre für ein Kraftwerk, nicht
sechs Wochen für 17 Kraftwerke. Außerdem ist die stetige Anpassung der Anforderungen an den Stand von
Wissenschaft und Technik in der Vereinbarung zum
Atomausstieg geregelt worden. Haben Sie den Teil gelesen? Würden Sie ihn in Zukunft bitte mit zitieren?
Erstens habe ich das gelesen. Zweitens haben Sie, lieber Kollege Kelber, doch gemerkt, dass ich momentan
keine konfrontative Rede halten will, sondern vom Konsens reden möchte. Drittens zwingen Sie mich jetzt,
noch einmal zu sagen, dass Sie da eine klare Vereinbarung mit den Versorgern getroffen haben, in der steht:
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um
diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
({0})
Nun sagen Sie, dass der Satz, der vorne steht, gegenstandslos sei, weil das, was weiter hinten steht, gelte. Ich
möchte jetzt die Gegenfrage stellen - Sie können sie
jetzt schlicht nicht beantworten; aber vielleicht können
wir einmal bilateral darüber reden -, was der Passus im
Vertrag eigentlich bedeutet.
({1})
Was wollten Sie denn damit sagen? Sie haben sich verpflichtet, nichts an den Sicherheitsstandards und der
Sicherheitsphilosophie zu ändern. Es wird doch wohl irgendeinen Grund haben, dass das in diesem Vertrag
steht.
({2})
Man kann doch jetzt nicht kommen und sagen: „Wir haben es einmal da vorne reingeschrieben und weiter hinten im Vertrag zurückgenommen!“ Es geht hier auch um
Ehrlichkeit.
({3})
Ich will darauf hinaus, dass Sie offenkundig unsere
Sicherheitseinschätzungen teilen, denn Sie haben auf
Basis dieser Sicherheitseinschätzungen gesagt, dass wir
die Kernkraft in diesem Land 20 Jahre länger nutzen
können. Das ist doch Fakt; ich mache Ihnen da gar keinen Vorwurf, sondern stelle es nur fest.
({4})
Es ist auch für Sie etwas Neues, wenn wir nun die
Restrisiken, die Sie damals in Kauf genommen haben,
gemeinsam neu bewerten. Ich unterstreiche, dass das
Thema Ausstieg für uns von der Union nichts Neues ist,
auch wenn man jetzt so tut, als seien wir diejenigen gewesen, die die Kernenergie bis zum Sankt-NimmerleinsTag nutzen wollten. In unserem Energiekonzept und in
unserem Koalitionsvertrag steht ganz klar: Wir werden
aussteigen und keine neuen Anlagen bauen. Es ist also
falsch, uns in Richtung der Atomlobby schieben zu wollen,
({5})
wenngleich ich das parteipolitische Kalkül dahinter natürlich nachvollziehen kann.
Nun räume ich ein, dass es einen Unterschied gibt:
Wir haben klipp und klar gesagt, dass wir die Laufzeiten
verlängern, um den Ausbau der erneuerbaren Energien
gegenzufinanzieren. Darum bitte ich, uns abzunehmen,
dass wir uns bei den Erwägungen, die wir jetzt machen
müssen, ein bisschen schwertun, weil jetzt plötzlich dieses Geld - zumindest das, was aus der Nutzung der
Kernenergie kommen sollte - wegbrechen wird und am
Schluss nur noch die heute schon angesprochenen Einnahmen aus dem Emmissionshandel übrig bleiben werden. Da ist es schon schwierig, eine Lösung zu finden,
wenn die Finanzierung teilweise wegbricht, man aber
gleichzeitig die erneuerbaren Energien schneller ausbauen will. Das ist keine leichte Übung; da braucht man
eine ganze Menge Gehirnschmalz.
Ich möchte, ohne dass Sie es gleich wieder als Vorwurf verstehen sollen, deutlich unterstreichen: Wir haben uns damals bei der Erstellung des Energiekonzepts
immerhin Gedanken gemacht, wie man die Erforschung
und den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Geld
kosten werden, angesichts knapper Haushaltskassen
finanziert. Das haben andere versäumt oder vernachlässigt.
Es ist einigermaßen offensiv, Frau Kollegin Höhn,
sich jetzt hier hinzustellen und zu sagen: Das kostet alles
nichts, das geht zum Nulltarif.
({6})
Das ist nicht korrekt. Sie sagen, die Kosten je Kilowattstunde Strom steigen um 0,5 Cent. Ich bin mir nicht sicher, ob das das Ende der Fahnenstange ist, weil Sie den
Emissionshandel berücksichtigen müssen, weil Sie die
höheren Kosten für die Nutzung der erneuerbaren Energien berücksichtigen müssen usw.
({7})
- Ich will es nicht in Abrede stellen.
Das Problem ist: Wenn man solche Themen kritisch
beleuchtet, wird man sofort an den politischen Pranger
gestellt. Es heißt dann: Der will doch eigentlich gar nicht
wirklich aussteigen. - Das stimmt so nicht. Ich will nur
sagen: Wir müssen uns natürlich mit folgenden Problemen beschäftigen: Was heißt das für die Verbraucher?
Hier sitzt der angebliche Vertreter der Verbraucher, der
morgen mit der Forderung nach Sozialtarifen kommt
und dann uns und den Versorgern die Schuld für die Folgen der Ausstiegspolitik in die Schuhe schiebt. Was
heißt das für die Wirtschaft? Was heißt das für die energieintensiven Betriebe? Das sind die Themen, die uns an
dieser Stelle beschäftigen müssen.
Über dem Ganzen steht ganz zentral das Thema „Bewahrung der Schöpfung“. Uns als Union hat Fukushima
in der Tat mehr bewegt als Tschernobyl - nicht wegen
der Kategorie oder der Zahl der Opfer; beides ist gleich
erschütternd. Aber, lieber Kollege Gysi, das Reaktorunglück in Tschernobyl beruhte in der Tat ganz eindeutig
auf menschlichem Versagen und dem Versagen eines
menschenverachtenden Sowjetregimes.
({8})
Fukushima in Japan hat eine andere Dimension. Wir
sehen ganz klar und deutlich die Probleme bei der Beherrschbarkeit dieser Technologie. Seien Sie versichert:
Wir werden uns dieser Thematik wohlüberlegt und zielorientiert annehmen.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Hempelmann hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Nüßlein, wer Ihre, wie Sie selbst sagen, auf Konsens getrimmte Rede gerade gehört und in Erinnerung
hat, was Ihr Kollege Altmaier zu Beginn der Debatte gesagt hat, wer außerdem weiß, wie Herr Kauder oder Herr
Brüderle oder Herr Röttgen zur Energiepolitik stehen,
weiß, wie breit das Meinungsspektrum zu diesen Fragen
allein in Ihrer Fraktion ist. Vielleicht wäre es an der Zeit,
dass Sie zunächst einmal in Ihren eigenen Reihen an einem Energiekonsens arbeiten.
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Einsetzung eines
Sonderausschusses beantragt. Warum haben wir das getan?
({1})
Nicht, weil wir die Rechte der anderen Ausschüsse beschneiden wollen - das bei Gott nicht.
({2})
- Das ist nicht das Ergebnis. Hören Sie einfach einmal
zu. Die vielen Einzelfragen, die es zu diskutieren gibt,
werden unter unterschiedlichsten Federführungen in den
einzelnen Ausschüssen diskutiert. Gerade bei Anträgen
zur Energiepolitik gibt es so lange Listen von federführenden bzw. mitberatenden Ausschüssen, wie sonst selten. Vor diesem Hintergrund wollen wir zur Herstellung
eines Konsenses zu den zentralen energiepolitischen
Fragen einen solchen Querschnittsausschuss bilden.
Dort kann man diese Themen bündeln und zu Ergebnissen kommen. Detailfragen sind natürlich wieder in den
Fachausschüssen zu behandeln.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat nicht nur diesen
Sonderausschuss beantragt, sondern hat ein mehr als
40 Seiten umfassendes Energieprogramm vorgelegt, das
eine - ich betone: eine! - Grundlage für die Arbeit eines
solchen Sonderausschusses sein kann. Es ist ein Vorschlag, der aufzeigt, wie wir möglichst im Konsens
einen Weg finden können, den Umbau des Energiesystems, der jetzt ansteht, gemeinsam zügig voranzubringen.
Frau Höhn hat eben gesagt, dass es schon so etwas
wie einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Die Menschen wollen beschleunigt aus der Kernenergie aussteigen und beschleunigt in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien einsteigen; das ist unbestreitbar. Ich glaube
aber, dass es bei dem, was wir hier machen und was die
Öffentlichkeit zu Recht von uns erwartet, um mehr geht.
Es geht auch darum, einen Konsens darüber zu finden,
wie wir den zügigen Umbau des Energiesystems hin zu
einem System, das von erneuerbaren Energien dominiert
wird, gestalten sollen. Hierbei geht es nicht um triviale
Fragen. Es geht beispielsweise darum, wie wir das mit
einem Höchstmaß an Versorgungssicherheit - und das zu
jeder Sekunde im Jahr - verbinden. Es geht natürlich um
die Frage, wie wir das mit dem Ziel verbinden, zu gewährleisten, dass Energie bezahlbar bleibt, Herr Gysi,
und zwar nicht nur für die Industrie, sondern selbstverständlich auch für den privaten Endverbraucher, für den
einzelnen Haushalt. Es geht auch um die Frage, wie wir
das so klimaverträglich wie möglich hinbekommen.
Diese Fragen erfordern eine Befassung im Detail und
eine Verständigung zum Beispiel darüber, wie wir es in
der Übergangsphase im Erzeugungsbereich mit Kohleund Gaskraftwerken halten; das hat heute explizit noch
keiner angesprochen. Darüber werden wir uns verständigen müssen. Wie halten wir es mit der Industrie, und
zwar nicht nur mit der Industrie, die wir als Zukunftsindustrie titulieren, sondern mit all den anderen Unternehmen in unserem Land? Wer sich mit den Unternehmen in
Deutschland auskennt, der weiß, dass wir eine hochvernetzte Industrie haben, dass die Unterscheidung zwischen Alt und Neu eher in die Irre führt und dass wir
sehr stromintensive Unternehmen haben, für die Energie
bezahlbar bleiben muss. Diese Unternehmen sind die
Basis für Wertschöpfungsketten in unserem Land, die
nicht nur viele Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen,
sondern die auch dafür sorgen, dass wir bei den Techniken der erneuerbaren Energien weit vorne liegen.
Das sind Fragen, über die man dezidiert und qualifiziert reden muss. Man muss das Ganze bündeln und gemeinsam wenigstens Leitlinien festgelegen. Wir haben
eine große Chance. Diese Chance sollten wir nicht ungenutzt lassen.
({4})
Wer den Zeitplan bis zum Juni dieses Jahres betrachtet,
der hat Bedenken, dass die Koalitionsfraktionen diese
Chance mit uns gemeinsam hier im Parlament tatsächlich nutzen wollen. Die Zeit, die uns am Ende bleibt, ist
vergleichbar mit dem, was im letzten Jahr bei der Laufzeitverlängerung passiert ist. Diese Zeit reicht für eine
Kopfbewegung: Das kann man nur noch abnicken. Das
liegt weder im Interesse der Koalitionsfraktionen noch
im Interesse des gesamten Parlaments.
({5})
Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: Wir brauchen zuerst den gesellschaftlichen Konsens, und dann vollziehen wir das im Parlament nach; dafür brauchen wir erst
einmal den Input einer Ethikkommission. - Ich will gar
nicht in Abrede stellen, dass dort vernünftige Leute zusammensitzen. Es ist sicherlich auch interessant, was
dort besprochen wird. Aber wichtig ist die ethische
Frage. Sie hat uns geleitet. Sie war Grundlage für die
Entscheidungen zum Energiekonsens, zum Atomkonsens Anfang dieses Jahrtausends.
({6})
Jetzt müssen die parlamentarische Befassung und die
Lösung der konkreten Fragen, die ich gerade angesprochen habe, im Mittelpunkt stehen.
Wir haben ein sehr seriöses Angebot unterbreitet, das
in anderthalb Jahren von meiner Fraktion erarbeitet worden ist. Es wurde übrigens in einer Querschnittsarbeitsgruppe „Energie“ vorbereitet, in der Vertreter von zehn
unterschiedlichen Fachausschüssen sitzen. Ich glaube,
dieses Querschnittsdenken hat sich bewährt. Lassen Sie
uns angesichts der zu beantwortenden Querschnittsfragen auch im Parlament so verfahren und den vorgeschlagenen Sonderausschuss einsetzen. Ich glaube, er bietet
die große Chance, dass wir zügig zu einer Verständigung
kommen. Alle Parteien, aber auch die Gesellschaft insgesamt, können dabei nur gewinnen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich fand diese Debatte bislang in weiten Teilen wohltuend und relativ entspannend, abgesehen von einigen
Spitzen. Wir sollten versuchen, weitgehend Einigkeit darüber zu erzielen, wie wir die Bürger einbeziehen und
wie wir einen Wechsel hinbekommen können; das halte
ich für eine vernünftige Sache. Hierüber müssen wir uns
ernsthaft Gedanken machen. Mir war nicht ganz klar,
warum Herr Steinmeier meinte, alle Fragen seien schon
beantwortet. Ich nehme für uns in Anspruch, dass jetzt
nicht alle Fragen so beantwortet werden wie in der Vergangenheit. Man kann die Fragen mit gutem Gewissen
neu beantworten. Frau Höhn hat selber darauf hingewiesen, dass sich seit Fukushima die Wahrnehmung der
Restrisiken bei der Mehrheit der Bevölkerung verändert
hat. Das nehme ich auch für mich in Anspruch.
Bei Tschernobyl wurde damals noch darauf verwiesen, es handele sich ja um einen russischen Reaktortyp,
und die UdSSR befinde sich gerade in der Endphase.
Jetzt sagen manche: Japan ist nicht vergleichbar, weil es
dort ein Erdbeben gab. - Das wussten wir aber vorher.
All das führt zum Umdenken. Man sagt nun: Ein Land,
das technologisch ähnlich hoch entwickelt ist wie unseres - wenn auch nach internationalen Standards die japanischen Kernkraftwerke nicht auf dem gleichen guten
Stand sind wie die unseren -, hat mit Sicherheitsreserven
kalkuliert. Diese haben aber nicht ausgereicht. Die
Realität hat das Ganze überholt. In einem solchen Fall ist
es nicht nur legitim, sondern dringend nötig, neu nachzudenken. Dazu dient das Moratorium.
({0})
Dieses Moratorium leistet für mich einen Beitrag zu
mehr Glaubwürdigkeit und stellt keinen Kursschwenk
um 180 Grad dar; das bitte ich anzuerkennen. Es ist nicht
so, dass wir nicht wissen, was wir wollen. Wenn Sie das
Ganze nicht nur politisch ausnutzen wollen, sondern
auch Interesse an der Sache haben, wie es Herr
Hempelmann oder Frau Höhn gezeigt haben, dann wäre
ich sehr erfreut, wenn wir gemeinsam die Fragen beantworten: Was hat sich jetzt verändert, und was sind unsere Schlussfolgerungen? - Ich bin mir relativ sicher,
dass wir zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen werden, wenn es um die Fragen geht, wie viele Offshorewindenergieanlagen, wie viele neue Kohlekraftwerke und wie viele neue Gaskraftwerke wir benötigen
und was das dann für den Gebäudebestand bedeutet.
Wenn wir mehr Gas verstromen, müssen wir überlegen,
ob wir im Energiebereich im Hinblick auf Gebäudemanagement und -sanierung noch mehr investieren sollen, damit dort weniger verbraucht wird.
Wir werden auch unterschiedlicher Meinung sein, wie
sinnvoll es ist, kurzfristig Strom aus anderen Ländern zu
importieren, weil wir das Leitungsnetz in Deutschland
nicht so schnell ausbauen können. Bislang war unser
Ansatz: Es macht für uns wenig Sinn, aus Frankreich,
Polen oder Tschechien Atom- oder Kohlestrom zu importieren. Wir wollen angesichts unserer höheren Sicherheitsanforderungen dann lieber Strom selbst erzeugen.
Dieser Meinung sind wir weiterhin. Wir müssen aber höhere Sicherheitsstandards als Maßstab anlegen. Höhere
Sicherheitsstandards sind ebenfalls eine Folgerung aus
Fukushima. Für mich ist auch nicht klar, dass alle alten
Kraftwerke abgeschaltet bleiben. Möglicherweise ergibt
sich aus der Untersuchung, die wir jetzt durchführen,
dass die älteren Kraftwerke in einigen Punkten sicherer
sind als die neuen. So gibt es getrennte Stromkreisläufe
oder Sicherheitsreserven, die bei älteren Kraftwerken so
oft aktualisiert worden sind, dass sie besser sind als bei
den neueren. Das bedarf der genauen Untersuchung.
Herr Hempelmann, in der Diskussion über unser
Energiekonzept könnte man doch auch über das Energiekonzept der SPD, das genauso ausführlich ist wie unseres, debattieren. Man muss nicht immer einen neuen
Ausschuss fordern und wieder von vorne anfangen. Bei
der Debatte über unser Energiekonzept haben wir erstmals nicht nur den Atomausstieg als Ziel gesetzt - koste
es, was es will -, sondern auch klar begründet, warum
wir Milliardenbeträge von den großen, bösen Energieversorgern, Herr Gysi, einkassieren. Wir haben aufgezeigt, wie man schneller auf die Erneuerbaren umsteigen
kann, und zwar auf einem Weg, der international durchsetzbar ist, der nicht zu Verlagerungen von Unternehmen
und Arbeitsplätzen führt und der sicherstellt, dass wir in
Deutschland auch technologisch an der Spitze bleiben.
Ich bin überzeugt, dass diese Punkte vernünftig sind.
Wenn wir jetzt allerdings schneller aus der Kernkraft
aussteigen, dann fehlt etwas. Dann stellen wir fest, dass
der Strom teurer wird und dass wir mehr importieren
müssen. Sie können sagen: Das ist uns völlig egal. - Mir
ist das aber nicht egal, weil das dazu führt, dass die Sicherheit international nicht zunimmt, sondern abnimmt.
Wir brauchen andere Antworten. Der Strompreis darf
in Deutschland nicht so stark ansteigen. Anderenfalls
werden die Unternehmen versuchen - ob man das nun
wahrhaben will oder nicht -, auf dem internationalen
Markt den Strom vom günstigsten Anbieter zu bekommen. Das werden wir nicht verhindern können. Der gute
Wille, im eigenen Häuschen und im eigenen Garten alles
schön zu machen, ist das eine. Das andere ist, auf internationaler Ebene eine Energiewende einzuleiten. Dabei
müssen wir die Wirtschaftlichkeit gerade der stromintensiven Industrie berücksichtigen. Eine Aluminiumhütte,
die Gewässer mit irgendwelchen roten Flüssigkeiten verschmutzt, nutzt uns nichts. Wir müssen versuchen, das
Problem bei uns zu lösen.
({1})
Dazu habe ich zu wenige Antworten gehört. Frau
Höhn, ich habe auch nicht gehört, wie es gelingen soll,
dass die erneuerbaren Energien grundlastfähig werden,
wenn wir nicht auch bereit sind, mehr Pumpspeicherkraftwerke zu bauen, wenn wir nicht bereit sind, die
Speichertechnologien hinsichtlich der Methanisierung
weiterzuentwickeln, und wenn wir nicht bereit sind,
beim Thema Elektromobilität - Stichwort „Zwischenspeicher“ - voranzugehen.
({2})
Wir brauchen technologische Antworten. Wir dürfen
nicht nur sagen, was wir alles nicht wollen, sondern wir
müssen den Leuten auch offen sagen, welche Auswirkungen das hat, und diese Auswirkungen sind nicht nur
angenehm.
({3})
Es ist eben nicht angenehm, eine 380-kV-Leitung vor der
Tür zu haben. Auch ein Pumpspeicherkraftwerk im
schönen Schwarzwald ist keine angenehme Sache. Es ist
auch nicht angenehm, zu überlegen, woher der Strom
künftig kommen soll, nachdem jetzt acht Kernkraftwerke abgeschaltet wurden. Ich muss mir überlegen, wie
es weitergehen soll, wenn andere Kernkraftwerke in die
Revision kommen. Diese Revision wollen ja alle, damit
es sicher ist. Vielleicht haben wir dann eine niedrigere
Spannung im Netz, die dazu führt, dass die Sicherheit
der anderen Kernkraftwerke nicht mehr garantiert werden kann.
({4})
Deshalb sage ich: Ein sofortiges Abschalten können wir
uns nicht leisten, es sei denn, wir holen den Strom aus
Fessenheim, das 30 Kilometer von Freiburg entfernt ist,
oder aus Temelin, das direkt an der Grenze zu Bayern
liegt.
Wir müssen versuchen, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Wir brauchen keinen neuen Ausschuss.
Dadurch, dass Wirtschafts- und Umweltausschuss beteiligt sind, fließen die Meinungen der Umwelt- und Wirtschaftspolitiker der verschiedenen Fraktionen ein. Auch
bei Ihnen gibt es einen Unterschied zwischen Umweltund Wirtschaftspolitikern; das muss auch so sein. Wir
müssen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Wir
brauchen keinen Ausschuss, der für mehr Öffentlichkeit
sorgt. Gleichzeitig wird die Arbeit der Ethikkommission
in der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen.
({5})
Wir müssen uns schon darauf verständigen, dass wir gemeinsam zu Ergebnissen kommen wollen. Das gilt übrigens auch für die Endlagerfrage.
Wenn Sie das Problem mit uns gemeinsam in Angriff
nehmen wollen, dann sorgen Sie bitte dafür, dass wir in
der Öffentlichkeit auch dann eine Mehrheit bekommen,
wenn es um unangenehme Dinge wie die Kostenfrage,
die Endlagerung oder Stromtrassen geht. Wenn uns das
gelingt, machen wir wirklich einen großen Schritt nach
vorne.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Oliver Krischer hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh, heute auch das eine oder andere nachdenkliche Wort aus den Reihen der Regierungsfraktionen gehört zu haben.
({0})
Diese Debatte unterscheidet sich wohltuend von anderen
Debatten, die wir sowohl vor als auch nach Fukushima
geführt haben. Diese Debatte unterscheidet sich auch
wohltuend von dem, was wir im November letzten Jahres erlebt haben, als Sie hier die Laufzeitverlängerung
beschlossen haben. Das Energiekonzept, das Sie damals
beschlossen haben, haben Sie als Jahrhundertwerk, als
epochales Machwerk, als leuchtenden Pfad bezeichnet.
Was habe ich damals nicht alles gehört! Es ist gut, dass
Sie jetzt einsehen, dass Ihr Energiekonzept, dessen Kern
die Laufzeitverlängerung ist - die Atomkraft sollte angeblich eine Brücke hin zu den erneuerbaren Energien
darstellen -, in sich zusammengefallen ist.
({1})
Wir haben - das ist völlig richtig - in der Gesellschaft
einen breiten Konsens: Raus aus der Atomkraft, rein in
die erneuerbaren Energien. Die Frage ist jetzt doch nur:
Sind wir, sind Sie, die Koalition und die Regierung, in
der Lage, diesen Konsens umzusetzen? Das ist die entscheidende Frage, die wir jetzt stellen müssen.
({2})
- Darauf komme ich jetzt zu sprechen. - Ich habe da
große Zweifel. Wir haben die Bundesregierung einmal
konkret gefragt, welche Maßnahmen ihres Energiekonzepts sie außer der Laufzeitverlängerung umgesetzt hat.
Die Antwort war entwaffnend ehrlich: Nichts. Außer der
Laufzeitverlängerung haben Sie in den letzten Monaten
keine andere Maßnahme ergriffen. Deshalb zweifelt die
Gesellschaft daran, dass Sie den Konsens „Raus aus der
Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien“ umsetzen.
({3})
Herr Röttgen und Herr Brüderle haben einen SechsPunkte-Plan vorgelegt. Er enthält viel Lyrisches, viele
Ankündigungen, viel Unkonkretes, aber auch manches
Richtige. Ich habe aber erhebliche Zweifel daran, dass
das ernst gemeint ist. Statt weitere Pläne vorzulegen und
Konzepte zu entwickeln, sollten Sie endlich Maßnahmen
ergreifen. Es gibt viel Konkretes, was Sie machen könnten. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen.
In Deutschland gibt es Planungen für Windkraftanlagen in der Größenordnung von 1 400 Megawatt. Diese
Anlagen werden nur deshalb nicht gebaut, weil die Bundeswehr das verhindert. Sie sagt, dass diese Anlagen das
Radar stören würden. Das ist absurd; denn das Radar im
Bereich des zivilen Luftverkehrs und das Radar der amerikanischen Streitkräfte wird dadurch nicht gestört. Der
Bundesumweltminister müsste nur einmal mit dem Verteidigungsminister reden, um dieses Problem zu lösen.
Das könnten Sie sofort tun. Damit könnten Sie deutlich
machen, dass Sie bereit sind, zu handeln.
({4})
Ich nenne das Beispiel Onshorewindenergie. Der
Bundesverband Wind-Energie hat vor einigen Tagen
eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass wir, wenn wir die
Ziele von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, nämlich 2 Prozent der Landesfläche - das ist wirklich nicht
viel - für Windenergie zu nutzen, zugrunde legen würden, die installierte Leistung in Deutschland fast verachtfachen könnten. Aber - ich schaue in Richtung
Unionsfraktion und FDP-Fraktion - wer blockiert denn
in den Ländern den Ausbau der Windenergie? Wer ist
das? Überall sind es Union und FDP, die blockieren.
Hier könnten Sie sofort aktiv werden.
({5})
- Dann besuchen Sie einmal Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg; dort sehen Sie, dass die
Union an vorderster Front bei den Blockierern steht.
({6})
Ein anderes Beispiel: die Kraft-Wärme-Kopplung. In
der Großen Koalition wurde beschlossen, dass sie einen
Anteil von 25 Prozent an der Stromversorgung haben
soll. In Ihrem alten Energiekonzept taucht das überhaupt
nicht mehr auf. Wir haben gemeinsam mit den Kollegen
von der SPD viele Vorschläge gemacht, wie wir die
Kraft-Wärme-Kopplung voranbringen können. Greifen
Sie das auf! Das brauchen Sie nur umzusetzen. Dafür
braucht man keine Kommissionen und keine Debatten.
Das können Sie, wenn Sie es politisch wollen, sofort
umsetzen. Tun Sie es einfach! Das wäre richtig, um raus
aus der Atomkraft und rein in die erneuerbaren Energien
und Energieeffizienztechnologien zu kommen.
({7})
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Energiesparfonds, Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, CO2-Gebäudesanierungsprogramm, Energieleitungsausbaugesetz. Es gibt etliche Projekte, die wir anpacken können.
Sie müssen es einfach nur tun, statt die Schuld - Herr
Meierhofer, das habe ich eben bei Ihnen trotz aller Nachdenklichkeit wieder herausgehört - immer auf andere zu
schieben. Sie müssen handeln.
({8})
Sie müssen den Menschen deutlich machen, dass Sie es
mit der Energiewende ernst meinen. Sonst werden Sie
scheitern und den Konsens, den es in der Gesellschaft
gibt, nicht umsetzen. Das wäre das falsche Signal. Sorgen Sie für Konsens! Zeigen Sie, dass Sie ernsthaft handeln und nicht nur die Schuld auf andere schieben wollen!
({9})
- Auch wir handeln, Herr Meierhofer.
({10})
Zum Schluss noch einen kurzen Satz zum Energiekonzept der SPD. Ich habe darin viel Gutes und Richtiges gelesen. Vieles deckt sich mit dem, was meine Fraktion im Herbst letzten Jahres vorgeschlagen hat; da gibt
es große Gemeinsamkeiten. Aber bei einem Punkt kann
ich Ihnen nicht folgen: Nach wie vor reiten Sie das alte
Grubenpony vom nationalen Steinkohlensockel.
({11})
Sie sind nicht bereit, sich von dieser Technologie zu verabschieden. Meine Damen und Herren von der SPD, das
ist einfach nicht zukunftsweisend. Darunter sollten Sie
einen Schlussstrich ziehen. Gestern haben wir hier im
Parlament beschlossen, dass mit dem Steinkohlenbergbau in Deutschland, dass mit den Milliardensubventionen Schluss ist. Ein ehrlicher Schritt ins 21. Jahrhundert
wäre bei Ihnen also angebracht.
Danke schön.
({12})
Jens Koeppen hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mich mein ganzes Berufsleben lang mit Energiefragen beschäftigt, insbesondere mit elektrotechnischer Energie. Das ist natürlich nicht verwunderlich, da
ich Elektrotechniker bin. Ich möchte einmal auf die Facetten dieser Energieform eingehen. Eine Facette ist natürlich die Energieerzeugung. Eine andere Facette ist die
Energieverteilung; dies ist sehr spannend. Eine weitere
Facette ist die Energienutzung direkt beim Verbraucher.
Seit Mitte bzw. Ende der 90er-Jahre sind die erneuerbaren Energien und dann die Energieeffizienz hinzukommen. Ich habe festgestellt, dass die Verstromung der Gesellschaft jahrzehntelang - trotz aller Energieeffizienz,
trotz aller Einsparungen - immer zugenommen hat. Ich
prophezeie, dass das auch in Zukunft so sein wird, weil
wir - die Erklärung ist ganz einfach - viele neue Anwendungen, viele neue Geräte und insbesondere auch die
Elektromobilität nutzen werden. Deswegen wird der Anteil des Stroms an der Energie eher zunehmen als abnehmen. Das müssen wir vor dem Hintergrund von Japan
beachten.
Natürlich stellen die Ereignisse in Japan eine Zäsur
dar. Ich spreche niemanden hier im Hohen Hause die
Empathie für Japan ab, auch nicht die guten Absichten.
Ich glaube, das Ziel ist uns allen klar: Wir wollen in das
Zeitalter der regenerativen Energien, der erneuerbaren
Energien, aber insbesondere in das Zeitalter der alternativen Energien. Wir sollten uns hier nicht einschränken.
Nur, heute ist wieder einmal deutlich geworden, dass der
Weg und die Zeitschiene nicht ganz klar sind. Ich bin
mir nicht sicher, ob ein Sonderausschuss dieses Problem
letztendlich lösen wird.
({0})
Nach der Zäsur in Japan, die wir alle erleben mussten,
müssen wir neu nachdenken. Wir müssen neu justieren
und die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Nachdenken bedeutet aber nicht, dass wir das Denken einstellen
sollten.
({1})
Es bedeutet nicht, dass wir in Aktionismus verfallen
sollten. Es bedeutet auch nicht, dass wir populistisch
handeln sollten. Es darf erst recht nicht bedeuten, dass
wir das Leid der Japaner und die Katastrophe, die sich
ereignet hat, für unseren partikularen Egoismus ausschlachten. Das darf nicht passieren.
({2})
Ich möchte darauf hinweisen - das sage ich an dieser
Stelle immer wieder -: Dieses Nachdenken muss natürlich ergebnisoffen sein - sonst braucht man nicht nachzudenken -, und es muss technikoffen sein. Wir dürfen
uns Techniken, die vielleicht noch nicht hinreichend erforscht sind, nicht verschließen.
Die Akzeptanz von Kernkraftwerken ist in der deutschen Gesellschaft nicht mehr vorhanden; in Umfragen
sprechen sich 86 Prozent der Befragten dagegen aus.
Jetzt müssen wir die Frage beantworten: Welche Folgen
hätte es, wenn wir 8 oder 17 Anlagen abschalten würden? Dabei geht es nicht um die Folgen in 50 Jahren
- natürlich wird in unserer Gesellschaft bis dahin einiges
passiert sein -, auch nicht um die Folgen in 20 Jahren
oder in 15 Jahren. Die Frage, die ich stelle, lautet: Welche Folgen hätte der Ausstieg hier und heute, im
April 2011? Diese Frage müssen wir beantworten. Dass
wir bereit sind, aus der Kernenergie auszusteigen, habe
ich von allen Seiten gehört. Sind wir gleichzeitig aber
auch bereit - lassen wir die Merit Order einmal außen
vor -, seit dem 17. März dieses Jahres jeden Tag 6 kW
andere Energie - möglicherweise Kernenergie aus
Frankreich und Temelin in Tschechien - einzukaufen?
({3})
Wenn wir dazu bereit sind, Herr Kelber, dann sollten wir
den Menschen dies sagen; das sollten auch Sie tun.
({4})
- Gigawatt! Der nächste Punkt. Wir legen ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vor. Sind wir bereit, sind Sie
bereit, in den Wahlkreisen dafür zu sorgen, dass so
schnell wie möglich 4 500 Kilometer neue Leitungen gebaut werden?
({5})
- Ja.
({6})
Ich beziehe mich auf die dena-Netzstudie I und die
dena-Netzstudie II, meine Damen und Herren; Sie müssen diese Studien auch einmal lesen. Diese Zahl gilt übrigens nur dann, wenn der Anteil erneuerbarer Energien
lediglich 38 Prozent beträgt. Wenn wir einen höheren
Anteil erneuerbarer Energien wollen, wird sich die
Länge der benötigten Leitungen sogar verdoppeln.
({7})
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Sind wir
letztendlich auch bereit, den Zubau erneuerbarer Energien zuzulassen? Sie haben gerade gesagt, wir seien dagegen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Herrn Ott
zulassen?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Koeppen, vielen Dank. - Das Grundgesetz verlangt von uns Abgeordneten keine spezifische
und vertiefte Sach- oder gar Fachkenntnis; das ist auch
gut so.
({0})
Aber die Achtung vor dem Grundgesetz und der Respekt
vor unserer Stellung als Abgeordnete erfordern, dass
man sachgerechte Informationen aufnimmt und hier im
Parlament wiedergibt. Sie haben gerade eine Horrorzahl
genannt und gesagt, angeblich seien 4 500 Kilometer
neue Hochspannungsleitungen erforderlich. Bisher war
immer von einer Länge von 3 600 Kilometern die Rede;
das ist die Zahl, die von der dena bzw. von der beteiligten Industrie genannt wurde. Diese Zahl ist die Wunschzahl einiger Unternehmen.
({1})
Ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchung im Auftrag
des Wirtschaftsministeriums, also für Herrn Brüderle,
gerade zu dem Schluss gekommen ist, dass vielleicht nur
250 Kilometer neue Hochspannungsleitungen gebraucht
werden?
({2})
Ansonsten ist in seriösen Schätzungen von einer Länge
von 1 000 bis 1 500 Kilometern die Rede. Operieren Sie
bitte nicht immer mit Horrorzahlen, die die Leute nur
verschrecken und Angst vor den hohen Kosten machen
sollen!
Sie haben sicherlich die dena-Netzstudie I gelesen.
Wir haben - Herr Hempelmann war aktiv dabei - in der
vergangenen Legislaturperiode um 850 Kilometer gestritten.
({0})
Von diesen 850 Kilometern sind nicht einmal 100 Kilometer gebaut worden. Bei einem Anteil der erneuerbaren
Energien von 38 Prozent werden laut dena-Netzstudie II
3 600 Kilometer Leitungen benötigt. Wir müssen aber
die anderen Leitungen, die in der Netzstudie I genannt
werden, noch hinzunehmen. Dann kommen wir auf die
eben genannten 4 500 Kilometer. Das ist keine Horrorzahl, sondern eine ganz realistische Zahl. Das hat die
dena uns in den letzten Tagen erneut bestätigt.
({1})
So viel zum Netzausbau, den wir vornehmen müssen.
Herr Krischer hat gesagt, dass wir nicht bereit sind,
den Zubau von erneuerbaren Energien zuzulassen. In
meinem Wahlkreis geht es übrigens um 2,3 Prozent der
regionalen Planungsfläche. Da stellt sich der NABU in
die vorderste Reihe der Bewegung, die zum Ziel hat, den
Bau von Windenergieanlagen zu verhindern. Als Bundesvereinigung sagt der NABU Ja zum Wind, vor Ort
aber Nein. So kann es nicht gehen.
Die Kosten - wir haben das immer wieder angesprochen - sind bei 46 Cent Steuern und Abgaben ein großes
Problem. Wir müssen bedenken: Können wir es den
Menschen zumuten, letztendlich noch mehr auf den
Strompreis draufzusatteln,
({2})
oder soll es der Staat machen? Soll es - ich erinnere an
unsere Schuldenbremse - dann letztendlich der Steuerzahler übernehmen, wie es heute Frau Nahles im Frühstücksfernsehen gesagt hat? Wir müssen auf jeden Fall
darauf achten, dass die Belastung der Privathaushalte
nicht zu groß wird und dass auch die Industrie nicht zu
sehr belastet wird; denn wenn die Industrie wegbricht,
bedeutet das gleichzeitig den Wegfall von Arbeitsplätzen.
Wir müssen bereit sein, neue Gaskraftwerke zu
bauen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie das durchsetzen
wollen. Wir müssen außerdem neue Pipelines bauen.
Ferner müssen wir bereit sein, neue Kohlekraftwerke zu
bauen und CCS zuzulassen. Die Kraftwerke müssen
nach einer EU-Richtlinie CCS-ready sein. Ich bin gespannt, was da passieren wird.
({3})
Natürlich müssen wir auch sehen, ob wir letztendlich die
hohen Klimaschutzziele einhalten können.
Natürlich können wir über das alles in den Ausschüssen beraten. Aber, meine Damen und Herren von der
SPD, ich weiß nicht, ob ein Sonderausschuss wirklich
das richtige Instrument ist. Es sollen Kompetenzen aus
den Ausschüssen, die jetzt damit befasst sind - das sind
der Umweltausschuss und der Wirtschaftsausschuss -,
abgezogen werden, um einen neuen Ausschuss einzusetzen, der noch nicht einmal bei einem Ministerium angesiedelt ist. Dann müssen wir einen Schritt weitergehen
und sagen: Wir brauchen auch auf administrativer Ebene
ein Ministerium - das könnte vielleicht das Innenministerium sein -, bei dem alles gebündelt wird. Die Kompetenzen wären dann nicht im Umwelt-, Wirtschafts- oder
Verbraucherschutzministerium, sondern woanders gebündelt, vielleicht in einem Energieministerium. Eine
Ansiedlung des von Ihnen geforderten Sonderausschusses dort wäre dann logisch und sinnvoll. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken. Ich bin gerne dazu bereit.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf eine ganz elementare Frage zu sprechen
kommen, die mir in vielen Wortbeiträgen ein bisschen zu
kurz gekommen ist: Welchen Stellenwert haben wir als
Parlamentarier eigentlich nach der deutschen Verfassung? Ich war erschrocken, als ich die Rede von Herrn
Altmaier gehört habe; denn seine Beschreibung dieses
Stellenwerts stellt eine Abwertung des deutschen Parlaments dar. Das kann nicht Realität in diesem Hause sein.
({0})
Ich führe viele Gespräche und sehe in Ihre Gesichter.
Ich glaube, dass viele - auch von Ihnen - über die aktuelle Situation sehr unglücklich sind; denn sie haben im
letzten Herbst erlebt, dass ein Gesetz eigentlich ohne Beratung durchgepeitscht worden ist und dass der Bundestagspräsident dies ausdrücklich kritisiert hat. Nun droht
eine Wiederholung dieses Vorgangs. Das darf nicht passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die Verfassung bei der elementaren Frage der Energieversorgung
der Zukunft auf den Kopf stellen. Diese Regierung formuliert neue Dinge, die es in der deutschen Verfassung
nicht gibt.
Fangen wir mit dem sogenannten Moratorium an. Wo
steht in der Verfassung, dass der Deutsche Bundestag
plötzlich ein Moratorium verhängen und aufhören kann,
zu denken? Das kann doch nicht die Wahrheit sein!
({2})
Sie verweisen darauf, dass Sie hier regelmäßig, wöchentlich über das Thema diskutiert haben. Warum?
Weil die Oppositionsfraktionen Anträge zu diesem
Thema gestellt haben. Von Ihnen kommt aber nichts.
Das ist die Wahrheit.
({3})
Als Nächstes ist verfassungsrechtlich hochproblematisch, dass diese Bundesregierung im Herbst einen Deal
mit vier Energiekonzernen gemacht und einen Kaufvertrag geschlossen hat, dessen Rechtsform bis heute verfassungsrechtlich überhaupt nicht klar ist; denn Sie haben ein Gesetz für eine Einzahlung in den Fonds zur
Förderung regenerativer Energien verkauft. Ich glaube,
es ist in der deutschen Geschichte ein einmaliger Vorgang, dass jetzt vier Konzerne sagen: Wir haben uns
zwar vertraglich verpflichtet, aber das Gesetz „kippt“,
und deswegen stoppen wir die Zahlungen. Deswegen:
Wiederholen Sie diesen Fehler nicht, sondern führen Sie
diese Debatte im Deutschen Bundestag. Das darf dieser
Regierung nicht alleine überlassen bleiben.
({4})
Was haben wir in der letzten Sitzung des Umweltausschusses miteinander besprochen? Der Vorsitzende der
Reaktor-Sicherheitskommission war dort und hat über
den Zwischenstand berichtet. Er hat gesagt, die Entscheidung darüber, welche Szenarien anzunehmen sind,
werde nicht von der Reaktor-Sicherheitskommission getroffen, sondern Sie würden der Ethikkommission eine
entsprechende Empfehlung vorlegen. Was passiert da eigentlich im Kanzleramt?
Es ist zu lesen, dass die Ethikkommission am
28. April 2011 eine Anhörung durchführen will. Gehören diese Anhörungen nicht in den Deutschen Bundestag? Dann könnten wir uns eine Meinung bilden.
({5})
- Sie sagen „beides“. Was haben wir in der letzten Sitzung des Umweltausschusses besprochen? Auf der
Grundlage unserer Gesetzentwürfe haben wir mit Ihnen
besprochen, dass wir jetzt die Sachverständigenanhörung über diese Gesetzentwürfe wollen. Was haben Sie
vorgeschlagen? Sie haben vorgeschlagen, am 27. Juni
2011 eine Anhörung durchzuführen, obwohl Sie wissen,
dass dieses Gesetz Ende Juni „stehen“ soll. Dadurch offenbaren Sie doch alles.
({6})
Weil Sie gemerkt haben, dass Sie nun wirklich völlig danebenliegen, haben Sie sich korrigiert, sodass wir diese
Anhörung, Herr Nüßlein, jetzt in der Tat am 6. Juni 2011
durchführen.
({7})
Ich sage Ihnen: Was könnten wir in diesen Wochen alles klären! Die Abschaltung, die Rücknahme der Laufzeitverlängerung, das Inkraftsetzen des Kerntechnischen Regelwerks: All dies wäre problemlos möglich,
weil die unterschiedlichen Sachverständigen in den Anhörungen im Herbst alle Fakten auf den Tisch gelegt haben.
({8})
Weil Sie diesen Sonderausschuss abgelehnt haben,
sollten Sie die Osterpause noch einmal dafür nutzen,
sich das durch den Kopf gehen zu lassen; denn ich
glaube, dass wir dieses große Problem tatsächlich nur lösen können, wenn wir interdisziplinär an dieses Thema
herangehen.
Herr Koeppen, das Beispiel von den Netzen war richtig, aber die Antwort auf die Frage, wie viele Netze wir
wirklich brauchen, hängt zum Beispiel elementar von
dem zukünftigen Energiemix ab. Deswegen müssen wir
diese Frage beantworten, und ich behaupte: Wir brauchen viel, viel weniger Netze. Diese Debatte gehört in
den Sonderausschuss.
({9})
Abschließend noch eines: Auch über die Finanzen
und die Kosten würde ich gerne in aller Öffentlichkeit in
diesem Sonderausschuss sprechen. Werfen wir vielleicht
einen Blick auf die volkswirtschaftlichen Kosten der Super-GAUs in Fukushima und Tschernobyl, die bis jetzt
jeweils 300 Milliarden Euro betragen. Was sind dagegen
die Kosten, die jetzt für den Sonderausschuss auf uns zukämen? Sie sind ein Klacks. Deswegen wünsche ich mir,
dass es diesen Sonderausschuss gibt und wir hier
schnellstmöglich zu einem überparteilichen Konsens
kommen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Der Kollege Andreas Lämmel hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann kann man feststellen: Abgesehen von der Rede des Herrn Kollegen
Gysi, der alles weiß, alles schon durchdacht und im Voraus bestimmt hat, war es eine sehr interessante Debatte,
weil alle Fraktionen deutlich gemacht haben, dass die
Energiepolitik kein ausschließliches Thema von
Schwarz, Rot, Grün, Weiß oder Gelb, sondern ein hochkomplexes Thema ist, in das sehr viele Fachpolitiken hineinspielen.
Wir stehen vor komplizierten Herausforderungen.
Das Problem ist, dass erst die Koalition im letzten
Herbst überhaupt ein Energiekonzept vorgelegt hat. RotGrün hat jahrelang einen Energiedialog geführt. Es wurden Berge von Studien verfasst, aber das Ergebnis war
null.
Wir haben als CDU/CSU-FDP-Koalition erstmalig
ein Konzept vorgelegt.
({0})
Daran kann man zwar Kritik üben - das mag schon sein;
es war schließlich das Konzept der Koalition -, aber wir
haben immerhin ein Konzept vorgelegt.
Jetzt kommen Fragen auf: Muss dieses Energiekonzept jetzt weg? Müssen wir völlig neu diskutieren?
Meine Antwort darauf ist: Nein, das Konzept muss nicht
weg.
Ein Mitglied der Ethikkommission hat uns letzte Woche mit auf den Weg gegeben, dass man in der Diskussion bestehende Risiken nicht durch neue Risiken ersetzen soll.
Herr Kollege, möchten Sie das Risiko einer Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter eingehen?
Im Moment nicht. - Wenn man in Zeiten des Aktionismus und der Hysterie Entscheidungen trifft, ist die
Gefahr groß, dass sie sich letzten Endes als Risiko herausstellen.
({0})
Herr Kollege Dr. Miersch, Sie haben gesagt, dass wir
ein Moratorium verkünden und aufhören, zu denken. Das ist ja wohl der größte Hohn. Das Moratorium ist gerade deswegen in Kraft gesetzt worden, um nachzudenken, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und
uns zu fragen, wo die Stellschrauben sind und was wir
tun müssen, um auch gesellschaftlich voranzukommen.
({1})
Ich denke, wir haben jetzt eine einmalige Chance.
Auch das hat sich deutlich gezeigt. Sie waren früher einer der strengen Kritiker der Koalition, Frau Höhn. Aber
ich habe aus Ihren Worten deutlich gehört, dass auch bei
den Grünen das Nachdenken darüber angefangen hat,
wie eine zukünftige Energiepolitik aussehen kann.
({2})
Denn Sie wissen selbst ganz genau, Frau Höhn: Es ist
eben nicht mit einem „Raus aus der Atomenergie, rein in
die Regenerativen, und die Welt ist heil“ getan.
({3})
Denn die Probleme, die wir jetzt zu bearbeiten haben
- dazu kommen wir noch -, sind viel schwerwiegender.
Deutschland ist keine Insel der Glückseligen. Wir
müssen darauf achten, dass wir mit den Korrekturen am
Energiekonzept auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig
bleiben. Es nützt uns nichts, wenn wir die sauberste Luft,
das grünste Gras und den teuersten Strom, aber keine
Arbeitsplätze mehr haben.
({4})
Das alles unter einen Hut zu kriegen, ist, wie Sie wissen,
nicht eine Sache von einer Woche; es geht vielmehr um
die Frage, wie man jetzt in der Gesellschaft den Konsens
über den richtigen Weg herbeiführen kann.
Es geht ganz entscheidend um die Kosten der künftigen Energieversorgung. Man kann darüber streiten. Ich
bin gegen Zahlenspiele. Ob 0,5 Cent, 0,1 Cent, 0,8 Cent
oder 2 Cent: Keiner weiß genau, was die Stromversorgung in Deutschland in drei, fünf oder zehn Jahren kosten wird. Eines steht fest: Es wird nicht billiger.
Das Konzept der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion
sah den schnelleren und starken Einstieg in die Welt der
erneuerbaren Energien vor.
({5})
Aber was hat sich denn zum Beispiel im Bereich der
Offshorewinderzeugung gezeigt? Es gab technische Probleme, finanzielle Probleme und Akzeptanzprobleme.
Sie wissen genau, dass es nicht darum geht, heute einen
Beschluss zu fassen, den man morgen realisiert, und in
drei Tagen ist die Welt wieder heil.
Heute früh wurde im Deutschlandfunk eine Reportage über Windkraft gesendet. Es ging darum, dass sich
die Bevölkerung im Raum Bremen massiv gegen Windkraft ausgesprochen hat, weil sie ihre Lebensqualität bedroht. Sie wissen also ganz genau, dass es diese Probleme vor Ort gibt.
Kommen wir zum Planungsrecht. Ja, wir müssen das
Planungsrecht ändern. Ich erinnere an die Diskussion
über das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz.
Das gab es in einer leicht lesbaren, dünnen Version für
den Aufbau Ost. Dann wollten wir dieses Gesetz - das
war Konsens - auf Gesamtdeutschland anwenden, um
Infrastrukturinvestitionen zu beschleunigen. Was dabei
herausgekommen ist, wissen Sie selbst. So sieht die
Wahrheit aus, und die Wahrheit ist immer konkret.
Das betrifft auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Sie wissen ganz genau: Wenn wir noch stärker in den
Ausbau der regenerativen Energien einsteigen, dann
müssen wir auch die Mechanismen des EEG überdenken. Nicht umsonst haben Italien, Frankreich und Spanien - Spanien schon vor einem Jahr - das EEG gestoppt.
({6})
Diese Dinge müssen diskutiert werden.
({7})
Der schnelle Ausbau der Stromnetze ist schon diskutiert worden. Es ist nicht so einfach, heute in Deutschland Stromleitungen zu verlegen. Es geht nicht um 3 000
oder 3 500 Kilometer Stromleitungen, sondern es wäre
gut, wenn wir wenigstens 1 000 Kilometer verlegt hätten.
({8})
Die Fragen, die sich uns stellen, sind wirklich schwer zu
beantworten.
Ich will noch ein Thema anschneiden: Smart Grids,
also intelligente Stromnetze. Auch Sie wissen, dass in
Holland und Kalifornien die Einführung von intelligenten Stromzählern am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist. Wir dürfen also auch in diesen Fragen nicht
ideologisch handeln und das einfach durchziehen, sondern wir müssen der Bevölkerung das Thema vermitteln.
Dazu brauchen wir aber keinen Sonderausschuss. Der
Sonderausschuss, den die SPD gerne möchte, soll
17 Abgeordnete als Mitglieder haben. Darin würden von
den Grünen wahrscheinlich zwei Abgeordnete sitzen, sicher Frau Höhn und noch jemand.
({9})
Von den Linken würde wahrscheinlich Herr Gysi und
noch jemand darin sitzen. Herr Gysi als oberschlauer
Besserwisser würde sicherlich große Beiträge zu einem
Energiekonzept beisteuern. Daran können Sie doch
schon sehen, dass Sie mit diesem Antrag die Diskussion
auf einen kleinen Kreis von Abgeordneten verengen.
Wir wollen genau das Gegenteil.
({10})
Wir wollen die Diskussion auf einer breiten Grundlage
führen. Es sollen nicht nur Wirtschaftspolitiker und Umweltpolitiker die Energiepolitik gestalten; denn das ist
ein Querschnittsthema. Deswegen ist aus unserer Sicht
dieser Spezialausschuss nicht geeignet.
({11})
- Herr Hempelmann, ich kenne Ihre Überlegungen dazu. Ich frage Sie: Wie kann man ins Gespräch kommen und
zu einem Konsens gelangen? Wir sind da nicht so weit
auseinander. Ich habe aber noch nie gehört, dass die SPD
zu anderen Themen einen Sonderausschuss wollte.
({12})
Wir sind der Auffassung, dass wir keinen Sonderausschuss brauchen. Wir brauchen vielmehr eine breite Diskussion hier im Hause und in der Öffentlichkeit. Deswegen werden wir den SPD-Antrag in die Ausschüsse
überweisen. Dort können wir uns darüber unterhalten, ob
es vielleicht andere Ideen gibt, wie man eine konsensorientierte Energiepolitik betreiben kann.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/5473 und 17/5481 an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften
für Bundesfernstraßen
- Drucksache 17/4979 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/5519 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5520 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Stephan Kühn
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu diesem
Punkt zu debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Neuregelung mautrechtlicher
Vorschriften für Bundesfernstraßen soll die Autobahnmaut für schwere Lkw auch auf Teile der Bundesstraßen ausgedehnt werden. Bei diesen handelt es sich
um Straßen, die sich durch ihren autobahnähnlichen
Ausbauzustand auszeichnen.
Wichtig ist der Hinweis, dass nur das mautpflichtige
Straßennetz erweitert werden soll. Alle anderen Merkmale wie Mautsätze oder Bemautung nur von Lkw ab
12 Tonnen bleiben unverändert. Es findet also keine
Mauterhöhung statt, sondern das zu bemautende Netz
wird einfach erweitert.
Zu diesem Gesetz hat in der letzten Woche eine Anhörung stattgefunden. Die von den eingeladenen sechs
Verbänden vorgetragenen Stellungnahmen lassen sich zu
drei wesentlichen Punkten zusammenfassen. Ich möchte
in diesem Zusammenhang hervorheben, dass wir im Verkehrsausschuss sehr sachorientiert diskutiert haben.
Stellvertretend möchte ich dem Vorsitzenden dafür herzlich danken. Die Anhörung bot Raum für den breiten
Dialog mit den Verbänden.
Einige Verbände wünschen sich eine Ausdehnung der
Maut, zumindest auf das gesamte Bundesstraßennetz.
Die Verbände des Straßengüterkraftverkehrs befürchten
eine zusätzliche Belastung ihrer Mitglieder, und mehrere
Verbände gaben zu bedenken, dass sich die Ausdehnung
der Maut auf Bundesstraßen nicht rechnen würden; sie
stellen die Systemkosten der Mauterhebung zur Diskussion.
Dazu folgende Anmerkungen: Ziel des Gesetzes ist
es, die Bundesstraßenabschnitte zu bemauten, die autobahnähnlich ausgebaut sind, aber wegen einiger fehlender rechtlicher und technischer Voraussetzungen nicht zu
einer Autobahn aufgestuft werden können. Zudem sollen
die autobahnähnlichen Bundesstraßen an die Autobahnen angebunden sein, also einen räumlichen Bezug zur
Autobahn aufweisen. Eine Bemautung aller Bundesstra12216
ßen war und ist gegenwärtig nicht beabsichtigt. Dazu
gibt es auch verschiedene Meinungen im Fachgremium,
dem Verkehrsausschuss. Die Kolleginnen und Kollegen
der Linksfraktion und der Grünen gehen insofern noch
einen Schritt weiter - aber das werden wir in dieser Debatte noch hören -, als sie das ganze Bundesfernstraßensystem bemauten wollen.
Gemäß dem Ziel des Gesetzes waren nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf rund 2 000 Kilometer Bundesstraße zusätzlich zur Bemautung vorgesehen. Sie waren gesetzlich definiert als mindestens vierstreifige
Bundesstraßen in der Baulast des Bundes mit unmittelbarer und mittelbarer Anbindung an die Autobahn. Entsprechend dem Wunsch der Bundesländer und auf
Antrag der Koalitionsfraktionen werden zusätzliche Kriterien aufgenommen, nämlich Bemautung erst bei einer
Mindestlänge von 4 Kilometern, Bemautung nur von
Bundesstraßen mit einer durchgehenden baulichen Richtungstrennung und keine Bemautung innerorts. Auch
sollen die mittelbar an die Autobahn angebundenen Strecken nicht mehr bemautet werden. Damit wird auch das
Problem des derzeit reduzierten Speicherplatzes der Geräte gelöst.
Somit gehen wir im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung auch auf die Belange des mittelständischen Transportgewerbes ein. Mit diesen zusätzlichen
Kriterien und der Streichung des mittelbaren Streckenbezugs stehen nunmehr anstelle von rund 2 000 Kilometern
Bundesstraße nur noch 1 000 Kilometer zur Bemautung
an.
Damit wären wir beim Thema, ob sich das rechnet.
Kollege Hofreiter hat dazu mehrere Fragen an die Experten gestellt. Zunächst einmal verbietet uns das Haushaltsrecht, unwirtschaftliche Projekte zu realisieren. Unsere Projekte sind wirtschaftlich gerechnet.
({0})
Das Projekt Maut auf Bundesstraßen und das Gesetzgebungsverfahren beruhen auf einer pflichtgemäßen Abschätzung von Einnahmen und Ausgaben. Hierzu sind
die Erfahrungswerte aus der uns bekannten Kostenkalkulation von Mautbetreibern und die Einschätzung der
mautpflichtigen Fahrleistungen durch einen Gutachter
herangezogen worden. Danach ergibt sich, dass das Projekt auch nach aktuellem Stand wirtschaftlich ist. Was
ich gesagt habe, lässt sich trotz des Lachens der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion definitiv nicht
entkräften. Wir haben wirtschaftlich gerechnet. Dies ist
auch dann richtig, wenn der Kollege Pronold über diese
Aussage lächelt.
({1})
Gemäß ersten gutachterlichen Einschätzungen wird
mit 1,288 Milliarden mautpflichtigen Fahrzeugkilometern bei einer Streckenlänge von ursprünglich 2 187 Kilometern gerechnet. Auch bei Reduzierung des ursprünglichen Streckennetzes um 50 Prozent können somit bei
einem derzeit kalkulierten durchschnittlichen Mautsatz von
17 Cent pro Kilometer die in der mittelfristigen Finanzplanung ausgewiesenen Mehreinnahmen von 100 Millionen
Euro erreicht werden.
Noch ein Wort zu den Systemkosten - auch hierzu hat
der Kollege Hofreiter nachgefragt -: Wir haben mit dem
bestehenden Netz die Erfahrung gemacht, dass die Systemkosten bei etwa 12,5 Prozent liegen. Das wird bei
den Bundesstraßen nicht anders sein. Damit ist die diesbezügliche Kritik entkräftet.
Vor allem ist die Zuverlässigkeit des Toll-CollectSystems hervorzuheben; darüber wird medial sehr diskutiert. Ich möchte hier noch einmal hervorheben, dass unser System die dichteste Abdeckung aller Mautsysteme
hat und mit am wenigsten Kosten verursacht. Das heißt,
andere Mautsysteme verursachen bedeutend höhere
Kosten. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir
ein Interesse daran haben, dieses System weltweit zu
vertreiben. Zur Zuverlässigkeit und Zulässigkeit der Vergabe haben wir ein externes Gutachten erstellen lassen.
Der entsprechende Einwand ist im Fachausschuss diskutiert worden; ihm wurde Rechnung getragen. Wir haben
also alles sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich geprüft.
Hinzu kommt, dass das mittelständische Gewerbe die
Möglichkeit hatte, Hinweise zu den Geräten vorzubringen. Auch das wurde berücksichtigt. Ich glaube, dieses
System ist ausgewogen. Wir können somit den Einstieg
in den Finanzierungskreislauf Straße vollziehen. Wir,
das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, haben sämtliche Schattierungen dieses Systems getestet. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass wir
die Ausdehnung auf 1 000 Kilometer verantworten können.
Ich bedanke mich noch einmal für die konstruktive
Diskussion. Mein Dank gilt auch den Experten, die uns
bei der Anhörung mit Rat und Tat zur Seite gestanden
haben. Vielen herzlichen Dank für die parlamentarische
Beratung.
({2})
Uwe Beckmeyer hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Was im ersten Teil der Rede des Staatssekretärs
gesagt wurde, war richtig: Wir haben uns im Ausschuss
darüber unterhalten.
({0})
Aber Murks bleibt Murks. Das zu sagen, kann ich Ihnen
nicht ersparen.
Der Gesetzentwurf der Merkel-Regierung stammt
vom 2. März 2011. Verantwortlich dafür ist das Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Er ist uns
mit einem Zuleitungsschreiben der Kanzlerin übersandt
worden. Der Änderungsantrag der Koalition stammt
vom 22. März 2011; er wurde also knapp drei Wochen
später eingebracht. Durch ihn ist einiges verändert worden. Die Frage ist: Warum musste eigentlich einiges verändert werden? Haben Sie schlecht gearbeitet? Das, was
abgeliefert worden ist, war also nicht so gut.
Wenn man sich anschaut, was uns die Sachverständigen in ihren Stellungnahmen vermittelt haben, wird man
feststellen: Überall ist deutliche Kritik geäußert worden.
Wenn Sie schon der SPD-Fraktion nicht trauen, weil ihre
Mitglieder einer anderen Partei angehören, dann trauen
Sie doch bitte schön den Experten der Verbände und
Gremien, in denen auch Ihre Parteikollegen Verantwortung tragen.
Der Deutsche Städtetag zum Beispiel sagt, das, was
vorgeschlagen wird, sei nicht zielführend. Er befürchtet
eine Verdrängung. Ich zitiere Ihnen das alles ausweislich
der entsprechenden Vorlage. Der Deutsche Städte- und
Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag rechnen
mit Mautausweichverkehren und vielem mehr. Ich kann
Ihnen all die Kritik zu Ihrem Entwurf eines Mautgesetzes vorlesen, die in diesen Stellungnahmen angeführt
wird.
({1})
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
mahnt die VIFG an. Außerdem sagt er: Durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs würde das Ziel, die
Transportbranche zu entlasten, konterkariert. Er sagt
auch, dass innerhalb dieses Gesetzentwurfes eine offene
Vergabefrage enthalten ist, und erstellt eine bemerkenswerte Berechnung hinsichtlich der Systemkosten. Mittels der alten Rechnung auf der Grundlage von 2 000 Kilometern kommt er zu entsprechenden Mauteinnahmen
und führt aus, dass sie pro Kilometer deutlich geringer
ausfallen werden als auf Bundesautobahnen. Er vergleicht dann den entsprechenden Systemaufwand und
kommt nicht nur auf 8,5 Millionen Euro an Vollzugskosten für das BAG, sondern auf weitere 24,3 Millionen
Euro an Kosten, und das alles bei Einnahmen in Höhe
von 100 Millionen Euro. Wollen Sie das wirklich verantworten?
Mein nächster Punkt betrifft den BGL. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung, der
eine entsprechende Position hat, fragt im Hinblick auf
die Aufstellung, ob es ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Aufwand für Betrieb und Kontrolle und dem
Ertrag gebe. Er fragt ferner, ob der Gesetzentwurf in dieser Weise gerechtfertigt sei.
In der Stellungnahme des DSLV - die einzelnen
Punkte kann man unter den Spiegelstrichen auf Seite 2
nachlesen - kommt auffällig oft das Wort „begrüßt“ vor.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass hier einige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihre Änderungen bzw.
einen zweiten Gesetzentwurf verfasst haben.
({2})
Der DSLV kommt in seiner Stellungnahme des Weiteren zu dem Ergebnis, dass der Gesetzentwurf keinerlei
Aussagen über die zu erwartenden Systemkosten bei der
Übertragung der Mauterhebung auf einen externen
Dienstleister beinhaltet. Diese Systemkosten sollen aus
unserer Sicht im Vorfeld ermittelt und bekanntgegeben
werden, so heißt es, damit eine verlässliche Nutzen-Kosten-Aufstellung erstellt werden kann. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand haben wir erhebliche Zweifel, dass
Aufwendungen und Einnahmen zur Bemautung auf vierund mehrspurigen Bundesstraßen in einem vernünftigen
Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen.
Zum Bundesrat: Der federführende Ausschuss, der
Verkehrsausschuss, und der Ausschuss für innere Angelegenheiten wünschen sich eindeutigere Kriterien hinsichtlich der bemauteten Bundesstraßen. Sie fordern
zweckmäßigerweise die Einführung einer Rechtsverordnung mit der Zustimmung des Bundesrates. Sonst wäre
bei jeder Veränderung des Streckennetzes immer ein Gesetzentwurf notwendig.
({3})
Der federführende Verkehrsausschuss sagt auch deut-
lich, dass er sich gegen eine Zweckbindung der Mautein-
nahmen nur für Bundesfernstraßen wendet.
All das zeigt, dass von Ihnen aus unserer Sicht keine
verlässliche und verantwortungsbewusste Politik ge-
macht wird. Denn auf der einen Seite - das ist die Be-
gründung - entsteht durch die entsprechende Aufhebung
der Zweckbindungen in Bezug auf die Bundesfernstra-
ßen eine sichere Grundlage. Auf der anderen Seite
kommt es aber zur Zuweisung in die Haushaltszwänge
des Bundes. Das kann man zwar so fortsetzen. Ich sage
aber: Das, was Sie uns heute öffentlich vortragen, ist die
Empfehlung eines Gesetzentwurfes, der große Mängel
aufweist. Ich habe bereits im Ausschuss dazu gesagt,
dass dieser Gesetzentwurf nicht ausgegoren und nicht
beschlussfähig ist.
Ein Letztes: Wir haben am Mittwoch um 13.31 Uhr
per Fax die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-
Bundestagsfraktion bekommen, und zwar nach der Aus-
schusssitzung. Das wurde schön getimt, damit wir diese
Vorlage nicht auch schon während der Ausschusssitzung
zur Beratung heranziehen konnten. Unsere Frage lautete:
Auf welche rechtlichen Regelungen des deutschen und
europäischen Vergaberechts bezieht sich die in der Öf-
fentlichkeit zitierte Aussage der Bundesregierung, dass
bei der Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bun-
desstraßen keine Ausschreibung erfolgen muss und eine
Direktvergabe der Erhebung der Lkw-Maut an ein Un-
ternehmen möglich ist?
Die Antwort lautet folgendermaßen:
Die zitierte Aussage zur Zulässigkeit eines Ver-
handlungsverfahrens ohne vorherigen Teilnahme-
wettbewerb mit der Möglichkeit der Direktvergabe
eines Auftrages zu Errichtung und Betrieb eines
Systems zur Erhebung streckenbezogener Lkw-
Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen be-
zieht sich auf § 3 Abs. 4 Buchstabe c) EG VOL/A
({4}). Diese Norm setzt Art. 31 Nr. 1 Buchstabe b)
der Richtlinie 2004/18/EG vom 31.03.2004 über
die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge um.
Wunderbar, denkt man, alles geregelt. Dann liest man
aber in der Vorlage:
Die Auftraggeber können Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben: …
Dann kommen a, b, c usw.; c trifft wahrscheinlich genau
auf Ihren Fall zu:
wenn der Auftrag wegen seiner technischen oder
künstlerischen Besonderheiten oder aufgrund des
Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten ({5}) nur von einem bestimmten Unternehmen durchgeführt werden kann;
Dazu gibt es entsprechende Rechtsprechungen in der
Bundesrepublik Deutschland und der EU. Wenn man
sich diese anschaut, wird man feststellen, dass Sie sich
auf sehr dünnem Eis bewegen, lieber Herr Staatssekretär.
Voraussetzung für die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ist nicht
nur, dass ein Ausschließlichkeitsrecht besteht; die Norm
fordert zudem einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand und zusätzlich, dass aufgrund des Ausschließlichkeitsrechtes nur ein einziges Unternehmen in der gesamten EU den fraglichen Auftrag durchführen kann.
Es geht weiter:
Die bloße Behauptung, mit der fraglichen Lieferung habe nur ein bestimmter Lieferant beauftragt
werden können, weil der auf nationaler Ebene vorhandene Wettbewerber kein Erzeugnis angeboten
habe, das den notwendigen technischen Anforderungen entsprochen habe, kann nicht für den Nachweis genügen, dass die außergewöhnlichen Umstände … tatsächlich vorlagen.
Was das angeht, kann ich nur sagen: Gute Nacht!
Denn sobald irgendjemand in dieser Frage auch nur den
Hauch einer Chance wittert, ist er vor Gericht, und dann
haben Sie den Salat.
({6})
Ein letzter Punkt, Herr Präsident. Die Antwort auf unsere Frage 3 ist ziemlich verräterisch. Wir fragen nämlich, mit welcher rechtlichen Begründung die Bundesregierung die Bedenken des Bundesministeriums der
Justiz und des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie hinsichtlich der Frage, ob eine Direktvergabe möglich ist, fallengelassen hat. Darauf wird geantwortet: Das federführende Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist nach Prüfung der
rechtlichen Fragen zu dem Ergebnis gekommen, dass
das so ist. - Das heißt im Grunde, die anderen Ressorts
haben heftigste Bedenken dagegen, aber das federführende Ressort ist anderer Meinung.
Und ich habe heftige Bedenken, dass Sie weiterreden.
Die Redezeit ist deutlich überschritten.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Ich sage an dieser Stelle: Murks bleibt Murks, und
dieses Gesetz ist kein gutes Gesetz. Wir Sozialdemokraten werden es ablehnen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dieser wegweisenden Rede ist ja wenigstens klar,
was die Sozialdemokraten wollen; das hat das deutsche
Volk jetzt verstanden, lieber Kollege Beckmeyer.
({0})
Es ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten, wenn man,
nachdem die rot-grüne Regierung uns diesen TollCollect-Vertrag hinterlassen hat, jetzt den Eindruck erweckt, wir wären in der rechtlichen Auslegung frei.
({1})
Dieser Vertrag, über den du, lieber Uwe, dich hier minutenlang ausgelassen hast, ist von einer rot-grünen Regierung geschlossen worden. Der Vertrag hat dem jetzigen
Betreiber mehrfache umfangreiche Ausschließlichkeitsrechte eingeräumt. Der Bundesregierung und dieser Koalition jetzt vorzuwerfen, dass sie diese Ausschließlichkeitsrechte nicht wegverhandeln können, sondern damit
leben müssen, ist wirklich bemerkenswert.
({2})
An dem zu dieser Frage gefertigten Gutachten gibt es
keinen Zweifel: Man kann wegen der vorhandenen Ausschließlichkeitsrechte des Betreibers nicht ausschreiben.
Das ist in einem 31-seitigen Rechtsgutachten zweifelsfrei geklärt. Das ist die Grundlage, auf der wir dieses Gesetz machen.
({3})
Es ist auch ein bemerkenswertes Parlamentsverständnis, lieber Kollege, wenn Sie darauf hinweisen, dass die
Koalitionsfraktionen Änderungen hätten vornehmen
müssen, um einen besseren Gesetzentwurf hinzubekommen. Das ist die Aufgabe des Parlaments. Es ist unsere
Aufgabe, die Gesetze, die von der Regierung kommen,
besser zu machen.
({4})
Deswegen braucht man hier nicht den Eindruck zu erwecken, das sei fehlerhaft.
Wir haben mit der klaren Definition jedenfalls dafür
gesorgt, dass die Einwände des Bundesrates ausgeräumt
werden konnten. Denn die Stellungnahme des Bundesrats - auch das muss man den Zuhörern einmal sagen ist ja zu dem noch nicht geänderten Gesetzentwurf erfolgt. Es war ein Webfehler, dass diesem Gesetz eine
lange Liste von zu bemautenden Bundesstraßenabschnitten angehängt werden sollte. Solche Gesetze will die
christlich-liberale Koalition dem Parlament nicht vorlegen. Darum haben wir auf diese lange Liste verzichtet.
Der Bundesrat hat keinen Grund, sich jetzt zu beschweren; denn wir haben eine klare Norm gefunden, mit der
geregelt wird, welche Strecken bemautet werden und
welche nicht, ohne dass wir komplizierte und lange Listen an das Gesetz anhängen müssen. Auch das ist die
Aufgabe des Parlaments. Da haben wir richtig gehandelt.
({5})
Die Gemengelage hier im Haus - das darf man bei
dem Thema einmal sagen - ist relativ einfach. Die Linken und die Grünen tendieren in der Verkehrspolitik
Richtung Schwerverkehrsabgabe nach - ich sage es einmal so - Schweizer Modell. Das bedeutet eine Belastung
von Fuhrunternehmen und Gewerbe weit über die derzeitige Lkw-Maut hinaus. Die Abgabe betrifft Fahrzeuge
ab 3,5 Tonnen Gewicht und soll für alle Bundesautobahnen und alle Bundesstraßen gelten. Das kann man politisch vertreten. Wir glauben aber, dass ein solches Modell für eine polyzentrische Struktur wie die in
Deutschland mit viel Wirtschaftsgeschehen auch in der
Fläche zu sehr viel größeren Schäden für die heimische
Wirtschaft führt, als wir verantworten können. Deshalb
ist ein solches System von uns nicht angedacht.
({6})
Die Sozialdemokraten allerdings haben in der letzten
Ausschusssitzung gesagt, dass wir eine Infrastrukturkommission einrichten und darüber sprechen müssen,
wie es weitergeht.
({7})
An dieser Stelle muss ich sagen: Die damalige rot-grüne
Regierung mit einem sozialdemokratischen Verkehrsminister hat eine Kommission dieser Art schon einmal einberufen. Das war die Pällmann-Kommission.
({8})
Sie hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, das gerade anlässlich des zehnjährigen Jubiläums in zweiter
Auflage erschienen ist und in unsere Büros verschickt
wurde. Jeder kann also darin nachschauen. Von allen
Maßnahmen, die in diesem Werk vorgeschlagen wurden,
hat die damalige Regierung nur einen einzigen Punkt
umgesetzt. Das war die Einführung der Lkw-Maut mit
dem Vertrag, über dessen Schwächen der Kollege
Beckmeyer, der daran beteiligt war, vorhin ausführlich
referiert hat.
({9})
Man muss keine neuen Kommissionen bilden, sondern man muss einfach nur das beachten, was uns damals die Experten gesagt haben, und das Punkt für Punkt
politisch bewerten und abarbeiten. Das ist die Aufgabe
eines Parlaments. Wenn man so vorgeht, nimmt man
eine Kommission auch ernst.
({10})
Es geht aber nicht - darin liegt der Unterschied -,
dass man in Deutschland benutzerfinanzierte Systeme
für Bundesautobahnen in Deutschland einführt, diese
sinnvollerweise auf vierstreifige Bundesstraßen, die unmittelbar an Autobahnen anschließen, erweitert, aber die
Einnahmen nicht für Straßeninfrastrukturmaßnahmen,
sondern für irgendetwas anderes verwendet. Deshalb hat
die Koalition richtigerweise den geschlossenen Finanzierungskreislauf Straße eingerichtet. Damit finanzieren
die Nutzer das, was sie benutzen. So kommt Ehrlichkeit,
Transparenz und Zuverlässigkeit in das System. Diesen
Webfehler von Rot-Grün zu beseitigen, war in der Tat
richtig.
({11})
Wer sich hier und heute der Beteiligung an dieser
sinnvollen und moderaten Erweiterung verweigert, der
muss eine Antwort darauf geben, wie zum Beispiel das
Thema Systemkosten - das ist der einzige Punkt, bei
dem ich dem Herrn Staatssekretär widersprechen will;
({12})
die Kosten für dieses System sind im Vergleich zu den
Kosten für alle anderen Systeme am höchsten - bei einer
kommenden Ausschreibung behandelt werden soll.
Diese politische Aufgabe werden wir dann wahrnehmen,
wenn es so weit ist. Am Ende dieser Wahlperiode werden wir darüber sprechen, wie wir ausschreiben. Wir
wollen die Belastung für das Gewerbe verringern und
mehr Geld zur Verfügung haben, das wir in die Infrastruktur investieren können.
Vielen Dank.
({13})
Der Kollege Florian Pronold hat nun das Wort für
eine Kurzintervention.
Sehr geehrter Herr Kollege Döring, ich war überrascht, wie viel Redezeit Sie auf die Vergangenheit verwendet haben, anstatt über Ihre eigenen Pläne zu reden.
Sie sprechen davon, dass zu wenig Geld für die Finanzierung der Infrastruktur zur Verfügung steht.
({0})
Es war die schwarz-gelbe Koalition, die eine bereits beschlossene Mauterhöhung ausgesetzt und damit der Infrastruktur Geld entzogen hat.
Jetzt gehen Sie einen zweiten Schritt, indem Sie sagen: Die vierspurigen Bundesstraßen beziehen wir mit
ein. - Die Länge wurde zunächst mit 2 000 Kilometer
veranschlagt. Jetzt kommen Sie zu dem Ergebnis, dass
man eigentlich nur 1 000 Kilometer braucht. Sie wollen
aber den gleichen Betrag einnehmen. Diese Milchmädchenrechnung wird nicht aufgehen.
({1})
- Gerne auch Milchbubenrechnung.
Sie machen wieder einen Kniefall vor der Lkw-Lobby
und präsentieren uns heute wieder den alten Vorschlag.
({2})
Stattdessen wollen Sie die Autofahrer abzocken: Sie haben heute wieder eine Pkw-Maut gefordert.
({3})
- Doch! Das kann man nachlesen.
({4})
- Ich beziehe mich auf die Agenturmeldungen; Sie können das ja richtigstellen. Sagen Sie doch, dass Sie dieses
Ansinnen, das im schwarz-gelben Lager immer wieder
zu hören ist, ablehnen. Auch Herr Scheuer hat das immer
gefordert; seit er in Regierungsverantwortung ist, tut er
das nicht mehr.
Sagen Sie doch endlich, woher Sie das Geld nehmen
wollen. Lügen Sie die Menschen nicht an, wie Sie es
hier tun, indem Sie behaupten, dass Sie mit dem, was Sie
hier vorlegen, einen sinnvollen Beitrag zur Finanzierung
der Infrastruktur leisten! Mit dieser halbherzigen Lösung
machen Sie nur eines: Sie generieren Mautausweichverkehr.
({5})
Kollege Döring, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, man soll sagen,
was man denkt, wenn man denkt. Ich versuche wirklich
noch einmal, es zu erläutern:
Erstens. Unmittelbar an Bundesautobahnen angeschlossene vierstreifige Bundesstraßen können nicht zu
Mautausweichverkehr führen, weil es keine Alternativstrecken in unmittelbarer Nähe gibt, die Kreis- und Landesstraßen wären.
({0})
Zweitens. Ich habe heute darauf hingewiesen - Sie
müssen schon ein bisschen mehr lesen als zwei Zeilen
einer Agenturmeldung -, dass wir bei der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung eben kein Einnahmeproblem haben, sondern der Verkehr mehr als 50 Milliarden Euro
für den Bundeshaushalt aufbringt. Deshalb müssen wir
uns im Verteilungskampf der Ressorts um mehr Geld für
die Infrastruktur bemühen. Eine Mehrbelastung der
Autofahrer ist jedenfalls mit dieser Koalition nicht zu
machen.
Drittens. Ja, wir haben in einer konjunkturell schwierigen Lage die falsche Ausweitung der Spreizung der
Mauthöhe für Fahrzeuge nach den Abgasnormen Euro 3
bzw. Euro 5 zurückgenommen, um dem mittelständischen Gewerbe in einer der größten wirtschaftlichen Krisen dieses Landes keine zusätzlichen Steine in den Weg
zu legen.
({1})
Wir von der Koalition haben dieses Gesetz geändert.
Sie müssen einmal die Vorurteile, die Sie im Kopf haben, beiseiteräumen. Ich habe gerade gesagt, dass wir
das nicht tun, um irgendjemandem irgendwie entgegenzukommen, sondern um ein klar anwendbares Gesetz
mit klaren Definitionen und ohne seitenlange Aufzählungen von Straßenabschnitten zu schaffen, ein Gesetz,
das klar und deutlich definiert, was bemautet wird. Es
ging um ein gutes Gesetz, nicht darum, wer mehr oder
weniger zahlt; wir wollten die Erweiterung sachlogisch
vornehmen. Für uns war folgende Eingrenzung sachlogisch: vierstreifige Bundesstraßen, die unmittelbar an
Autobahnen anschließen und länger als 4 Kilometer
sind. Das kann jeder definieren; dafür braucht man keinen Bundesrat und keine Verwaltung. Unser Ziel war
eine gute Gesetzgebung, so wie es die Aufgabe des Parlaments ist.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Hier wird viel Lärm gemacht; aber wenn man auf den Gesetzestext schaut, dann
weiß man: Es ist viel Lärm um nichts. Vor vier Wochen
wurde hier angekündigt, dass möglicherweise 2 000 Kilometer Bundesstraße bemautet werden sollen. Heute
haben wir festgestellt, dass 1 000 Kilometer übrig geHerbert Behrens
blieben sind. Gut, dass wir heute und nicht erst in vier
Wochen darüber abstimmen; dann wären wohl nur noch
500 Kilometer übrig geblieben und es hätte nichts gebracht.
({0})
Die Regierung hat uns wortreich erklärt, warum all
das nicht geht, was eigentlich notwendig wäre. Sie legen
uns hier einen Gesetzentwurf vor, der finanziell kaum etwas bringt; er bringt schon gar nichts für die vielen Menschen, die von Mautausweichverkehr geplagt sind.
Während die Mauteinnahmen früher auf Straße,
Schiene und Wasserwege verteilt worden sind, führen
Sie heute ein System zur reinen Straßenfinanzierung ein.
Im Klartext: Sie verwenden die zusätzlichen Mauteinnahmen ausschließlich für das System Straße. Das ist
falsch.
({1})
Die hier schon zitierten Experten aus der Anhörung,
nämlich die Vertreter des Automobilclubs Europa, ACE,
und des Verkehrsclubs Deutschland, haben darauf hingewiesen, dass diese Einschränkung nicht in Ordnung ist;
dem schließen wir uns an.
({2})
Ich bleibe dabei: Die Maut für schwere Lkw muss
nicht auf ein paar wenige Bundesstraßen, sondern auf
alle Bundesstraßen ausgeweitet werden. Dies fordern
auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag; Kollege Beckmeyer hat darauf hingewiesen.
Die kommunalen Spitzenverbände - auch das haben wir
schon gehört; ich betone es, weil es so bedeutsam ist und
für uns in der Anhörung überraschend war - fordern,
dass das bemautete Straßennetz umfassend ausgeweitet
wird. Schließlich nutzten die schweren Lkw auch die
Straßen ab, die nicht in der Nähe der Autobahnen liegen.
Wenn Sie schon Experten zu einer Anhörung einladen,
dann sollten Sie, bitte schön, die Ergebnisse heranziehen
und die Gesetzesvorlagen entsprechend verändern.
({3})
So geht es nicht. Wieder einmal sehen wir: Das ist
Klientelpolitik, das ist keine Verkehrspolitik. Dabei ist
eine verantwortungsvolle Verkehrspolitik dringend erforderlich. Lärm an den Straßen - wir haben gestern darüber diskutiert -, Staus auf den Autobahnen, aber auch
Klimakiller aus den Auspuffrohren der Brummis - alles
das macht den Menschen schwer zu schaffen.
Ich erinnere Sie daran: Die Lkw-Maut ist eingeführt
worden, weil der Güterverkehr auf der Straße große
Schäden anrichtet und er daher zur Deckung der Kosten
herangezogen werden sollte. Die Maut sollte außerdem
helfen, dass Dreckschleudern von den Straßen verschwinden und der Verkehr ökologischer wird. Das Aussetzen der vereinbarten Mauterhöhung für umweltschädliche Lkw hat dazu geführt, dass der Verkehr eben nicht
ökologischer geworden ist. Auch da haben Sie auf die
Spediteure und das, was ihnen gefällt oder nicht gefällt,
gehört. Diese Art der Klientelpolitik führt zu solch
schwachen Gesetzesvorlagen, wie wir sie heute vorliegen haben. Das ist ein Armutszeugnis und sonst nichts.
({4})
Die Linke hat Ihnen ganz konkrete Vorschläge für ein
gutes Gesetz gemacht. Die Lkw-Maut ist notwendig für
den sozial-ökologischen Umbau des Verkehrswesens.
Deshalb fordern wir, dass schwere Lkw auf allen Bundesstraßen Maut zahlen müssen, nicht nur auf 2,5 Prozent der Strecken, wie Sie es jetzt vorhaben. Wir wollen
auch, dass Lastwagen ab 7,5 Tonnen herangezogen werden und nicht erst ab 12 Tonnen. Schließlich müssen
auch Länder und Kommunen Vorschläge machen dürfen,
welche anderen Strecken einbezogen werden müssen,
um typische Mautausweichstrecken zur Schadensbeseitigung heranzuziehen. Das würde gleich doppelt helfen:
Sie hätten mehr Geld in der Kasse und weniger Lärm vor
der Haustür. Die Bundesregierung sagt selbst, dass es
diese Mautausweichverkehre auf circa 11 000 Kilometern gibt - natürlich nicht direkt an der Autobahn. Das
wissen wir alle; dieses Hinweises hätte es nicht bedurft.
Wir fordern, dass ein Gesetzentwurf vorgelegt wird,
der den Bürgern etwas bringt, der dafür sorgt, dass die
schweren Lkw nicht mehr durch ihre Ortschaften brettern, und keinen Gesetzentwurf, der ausschließlich den
Logistikunternehmen dient.
Uns geht es um die Lebensqualität der Bürgerinnen
und Bürger und um eine Wende hin zu einer ökologischen Verkehrspolitik. Deshalb ist es notwendig, dass
die Bundesregierung an einer vernünftigen Ausweitung
der Maut für schwere Lkw arbeitet. Wir wollen gern daran mitwirken. Wenn Sie uns zugehört haben, haben Sie
schon ausreichend Ansatzpunkte, wie man Gesetze besser machen kann.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
Anton Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Gesetzentwurf ist, betrachtet man seine
Genese - darauf ist schon hingewiesen worden -, schon
amüsant zu lesen. Wir haben ursprünglich einmal mit
3 000 Kilometern angefangen; dann waren es 2 000 Kilometer. Jetzt sind wir bei 1 000 Kilometern. Und immer
sind es 100 Millionen Euro Einnahmen geblieben. Dann
ist noch gesagt worden, Sie hätten scharf und exakt
nachgerechnet.
({0})
Wenn man scharf und exakt nachrechnet und es immer
bei 100 Millionen Euro bleibt, stellt man sich schon die
Frage: Warum beziehen Sie nicht einfach nur
500 Kilometer mit ein? Das würde vielleicht Systemkosten sparen, und wir blieben dennoch bei 100 Millionen
Euro Einnahmen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das kann so einfach nicht stimmen. Entweder waren es früher, als Sie mehr Kilometer Bundesstraßen einbeziehen wollten, mehr Einnahmen, oder jetzt
sind es keine 100 Millionen Euro. Es kann schlichtweg
nicht stimmen.
Letztlich ist der Grund auch bekannt, warum Sie sich
mit 1 000 Kilometern begnügen. Der Grund ist ganz einfach der, dass die alten OBUs nicht mehr Speicherkapazität haben. Der Grund liegt nicht darin, dass Sie das Gesetz sauberer oder schöner machen wollten. Vielmehr
verfügen die alten OBUs nicht über ausreichend Speicherkapazität.
Die Aussage, dass man ein anderes System nicht zur
Anwendung hätte bringen können, ist auch falsch. Denn
wir haben ja zwei Systeme in der Anwendung: einerseits
das satellitengestützte OBU-System und auf der anderen
Seite das manuelle Einwahlsystem. Man hätte selbstverständlich ein anderes System mit entsprechend niedrigen
Systemkosten zur Anwendung bringen können.
Eines zumindest war in der Rede von Patrick Döring
richtig, nämlich als er dem Staatssekretär bezüglich der
12 Prozent Systemkosten widersprochen hat. Selbstverständlich sind die Systemkosten höher. Das wissen auch
alle. In die Systemkosten müssen nämlich zum Beispiel
die Kosten des BAG für die Kontrolle und eine ganze
Reihe weiterer Kosten eingerechnet werden.
Was sind unsere Forderungen? Unsere Forderungen
sind ganz einfach: In einer ersten Stufe ist die Maut auf
alle Bundesstraßen auszuweiten. In einer weiteren Stufe
ist die Maut auf alle Lkw ab 3,5 Tonnen auszuweiten.
Was sind die Vorteile? Erstens. Wir haben weitaus mehr
Geld. Zweitens. Es ist ein gerechtes, sauberes System.
Drittens. Mit einem guten System, zum Beispiel mit Mikrowellentechnik, gelangt man bei extrem niedrigen
Systemkosten zu wunderschönen Einnahmen.
({2})
Ein weiterer großer Fehler, den Sie begangen haben
- allerdings nicht im vorliegenden Gesetzentwurf -, ist,
dass Sie die Einnahmen ausschließlich für Straßenbau
verwenden wollen. Für uns ist die Abgabe eine Logistikabgabe. Für einen Logistiker ist es entscheidend, dass er
seine Waren verlässlich mit dem Schiff zum Hafen, dann
mit der Eisenbahn und die letzte Meile mit dem Lkw
zum Kunden bringt. Für ihn ist es nicht entscheidend,
dass die Güter ausschließlich auf der Straße oder ausschließlich auf der Schiene transportiert werden. Vielmehr ist es für unsere Wirtschaft, für unsere Logistiker
und für unseren Wohlstand entscheidend, dass wir vernünftige Transportketten organisieren, dass wir die Rahmenbedingungen für vernünftige Transportketten abstecken. Zu einer vernünftigen Transportkette gehört ein
vernünftiges intermodales Angebot: Schiff, Eisenbahn,
Straße und Umschlagterminals.
({3})
Deshalb müssen die Einnahmen aus dieser Logistikabgabe vernünftig investiert werden: in die Transportketten bzw. die Infrastruktur für die Transportketten. Das
haben Sie zerschlagen. Sie nehmen eine sektorale Betrachtung vor. Damit wird eine der entscheidenden
Voraussetzungen für unseren Wohlstand, nämlich eine
vernünftige Transportinfrastruktur, nicht genutzt.
Ich rufe Sie auf: Kehren Sie um! Folgen Sie unseren
Vorschlägen: Ausweitung der Maut auf alle Bundesstraßen und Verwendung der Einnahmen aus der Logistikabgabe für eine integrierte Verkehrspolitik.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Thomas
Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Debatte, in der zumindest einige Unterschiede deutlich werden. Kollege Hofreiter hat uns gerade erklärt - den Widerspruch müsste er einmal
auflösen -, dass die On-Board-Units nicht in der Lage
wären, mehr als diese 1 000 Kilometer abzubilden.
Gleichzeitig fordert er, dass wir die Lkw-Maut auf das
gesamte Streckennetz ausdehnen müssen. Wie das zusammengehen soll, ist mir unklar. Entweder stimmt die
eine Aussage nicht oder die andere.
({0})
Was wir heute als Regierung vorlegen müssen, unterscheidet sich von dem, was Sie tun müssen.
({1})
- Ja, wir sind die regierungstragende Koalition. Das ist
sehr spitzfindig bemerkt. - Was wir tun müssen, das
muss auch funktionieren. Der Vorschlag, 1 000 Kilometer Bundesstraßen in die Mautpflicht mit einzubeziehen, der heute beraten wird, wird funktionieren. Wir
können sie mit dem System und den vorhandenen Software- und Speicherkapazitäten abbilden. Sie wissen genau, wie die Situation ist. Durch eine Umprogrammierung der Software kann man eine Erweiterung der
Streckenkilometer aufnehmen. Das können wir vielleicht
im nächsten Jahr, aber nicht jetzt. Deshalb ist es ein Zeichen von Klugheit, wenn man sich im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens daran orientiert, was technisch
überhaupt möglich ist. Deshalb hat sich die Zahl von
2 000 auf 1 000 Kilometer reduziert.
Sie fragen, wie es sein kann, dass wir trotzdem mit
100 Millionen Euro Einnahmen rechnen; das war verschiedentlich die Frage. Es ist die Logik des ehrlichen
Kaufmanns: Man arbeitet nach dem Niederstwertprinzip
- es ist im HGB festgelegt -, was bedeutet, dass man erst
einmal Vorsicht walten lässt,
({2})
solange man noch keine Verträge abgeschlossen hat. An
dieser Stelle können Sie nachrechnen - ({3})
- Bitte, fragen Sie, Herr Kollege Pronold!
({4})
- Wollen Sie etwas fragen, oder nicht? Dann stehen Sie
auf und drücken auf den Knopf!
({5})
- Sie trauen sich nicht zu fragen. Das ist interessant.
({6})
Wir nehmen zur Kenntnis: Kollege Pronold traut sich
nicht zu fragen.
26 Milliarden Mautkilometer führten zuletzt zu knapp
5 Milliarden Euro Mauteinnahmen in einem Jahr. Wenn
Sie die 1,3 Milliarden Mautkilometer aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf halbieren, dann kommen Sie auf
2,5 Prozent der Mautkilometer, die vorgesehen sind.
Wenn Sie das auf die entsprechenden Einnahmen beziehen, kommen Sie auf Mehreinnahmen von 121 Millionen Euro. Insofern ist die Rechnung, die hier angestellt wurde, nicht ganz verkehrt.
({7})
- Natürlich ist das brutto. Davon können Sie die Systemkosten in Höhe von 12,5 Prozent abziehen und haben
immer noch einen Sicherheitspuffer.
({8})
Sie kommen so auf die entsprechenden Zahlen. Insofern
ist das, was wir hier vorgelegt haben, sehr seriös. Herr
Kollege Beckmeyer, Sie üben sich darin, auch in dieser
Plenarsitzung Waldorf und Statler nachzueifern. Im Ergebnis ist es aber so, dass Sie keinen Vorschlag gemacht
haben, wie Sie mit der Sache umgehen wollen.
({9})
Sie kritisieren die Vergabe an Toll Collect, sagen aber
nicht, wie man das Ganze anders regeln kann. Der Kollege Döring hat eindrucksvoll dargestellt, dass alle Gesetze, die wir hier beachten müssen, damals von RotGrün verabschiedet worden sind. Sie können nicht europaweit ein neues Mautsystem für diese zusätzlichen
Straßen ausschreiben.
Und ganz ehrlich: Wer drei Jahre gebraucht hat, das
bestehende System zu etablieren - der Spiegel hat im
Jahr 2003 vom „Maut-Propheten Stolpe“ gesprochen;
die Überschrift lautete „Chronologie der gebrochenen
Versprechen“; das manager magazin hat 2003 vor der
„Stolper-Gefahr“ gewarnt -, der sollte, glaube ich, kleinere Brötchen backen. Derjenige sollte ein bisschen bescheidener sein und nicht so harsch über das urteilen,
was wir hier tun.
({10})
Grüne und Linke sind in dem, was sie tun, wenigstens
ehrlich. Sie wollen die Maut ausweiten auf alle Strecken.
Das ist in Ordnung, wenngleich es derzeit technisch
nicht möglich ist. Die Linkspartei - Herr Behrens, Sie
gehen noch einen Schritt weiter - will sogar eine Maut
für den Linienfernbusverkehr einführen, obwohl das
noch gar nicht zugelassen ist. Das ist auf jeden Fall flott,
so viel kann ich sagen.
({11})
Ich glaube aber, dass gerade die Linienfernbusse für die
Menschen mit geringerem Einkommen ein sehr attraktiver Mobilitätsfaktor sein werden. Ob Sie diese direkt belasten mögen, müssen Sie Ihrer eigenen Klientel erst einmal erklären.
Weiterhin haben Sie darauf hingewiesen, dass Sie es
für falsch halten, dass wir die von Ihnen vorgesehenen
Erhöhungen bei den Euro-3-Lkw zurückgenommen haben. Hier geht es um die kleinen Spediteure. Wir reden
nicht über die großen Speditionen mit den großen Flotten, die permanent modernisieren, sondern über die kleinen Speditionen. Ich habe es bei der letzten Debatte
schon einmal gesagt: Ein Drittel der Lkw sind Euro-3Lkw, die aber nur 16 Prozent der Streckenkilometer generieren. Das sind die Wenigfahrer unter den Lkw. Zumeist handelt es sich um kleinere Betriebe. Die kleinen
Betriebe und der Mittelstand sind uns als Union wichtig,
Ihnen offenbar nicht.
({12})
Am Ende der Debatte hat Herr Beckmeyer alles zusammengenommen. Es gab noch nie eine Anhörung, bei
der es nur Lob gab; das habe ich noch nie erlebt. Sie haben in einer Sisyphusarbeit sämtliche Kritik zusammengetragen.
({13})
Zum Abschluss lese ich Ihnen noch vor, was Herr
Stecker vom BGL gesagt hat - damit spricht er für viele
Spediteure -:
Nichtsdestotrotz haben wir uns öffentlich mit der
Kritik an der Ausweitung der Maut auf die mehrstreifen Bundesstraßen zurückgehalten, weil wir
zum einen die Zwänge angesichts der Sparbemühungen der Bundesregierung sahen, zum anderen
aber auch den Finanzierungskreislauf Straße begrüßt haben und das für einen Schritt in die richtige
Richtung halten und in diesem Zusammenhang
auch jedem Transportunternehmen plausibler ist,
Maut für diese Strecken zu bezahlen.
Das ist Lob.
({14})
- Wenn Sie mittelständische Transportunternehmer als
Lobby ansehen, dann können Sie sich gerne weiter mit
den Großen unterhalten.
Ich danke Ihnen vielmals.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5519, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4979 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Linken auf
Drucksache 17/5531? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Cornelia Möhring, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Agrarförderung in Deutschland und Europa
geschlechtergerecht gestalten
- Drucksache 17/5477 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Junge Frauen sehen in Dörfern und kleinen
Städten immer öfter keine Perspektive mehr für sich; das
wissen wir seit Jahren. Das hat auch politische Gründe:
Es fehlt an existenzsichernder bezahlter Arbeit. Der
Lohnabstand zu Männern ist hier noch größer als in
Großstädten. Familie und Beruf sind noch schwieriger
zu vereinbaren. Familiäre Betreuungs- und Versorgungswege zur Schule, zum Einkauf und zu den Ärzten werden immer länger, und sie müssen meistens von den
Frauen übernommen werden. - Der Preis des Bleibens
ist unter diesen Bedingungen oft mit dem Verzicht auf
eigene Lebensperspektiven verbunden. Darum wandern
junge Frauen in die Großstädte ab.
Der Politik fehlt der Blickwinkel der Frauen. Gerade
in Deutschland ist die Agrarpolitik männerdominiert,
ebenso wie der Berufsstand und die Verbände. Das ist in
der EU-27 nicht überall so. Zum Beispiel im Baltikum
wird fast die Hälfte der Landwirtschaftsbetriebe von
Frauen geleitet. In Deutschland sind das nicht einmal
magere 10 Prozent, und wenn, dann sind das eher Betriebe in Ostdeutschland oder kleinere Betriebe. Ein
Bauernverbandsfunktionär hat neulich in einer Veranstaltung der Linken gesagt: Für Gleichstellung sind bei
uns die Landfrauen zuständig. - Nichts gegen Landfrauen
- im Gegenteil, sie arbeiten sehr engagiert vor Ort -; aber
wenn die Gleichstellung gelingen soll, müssen sich alle
verantwortlich fühlen.
({0})
Deshalb sagt die Linke: Agrarpolitik muss endlich Frauen
in alle Entscheidungen einbeziehen, und zwar nicht nur
formal, sondern wirkungsvoll; denn Gleichstellung ist ein
Grundrecht. Es geht nicht um eine großzügige Gewährung, sondern um einen Anspruch. Das ist mehr als die
alte Leier von gleichen Bedingungen für alle.
Die Bundesregierung antwortete auf eine Kleine Anfrage der Linken zur Agrarförderung, sie sei „geschlechtsDr. Kirsten Tackmann
neutral“. Sie meint damit, sie sei nicht diskriminierend.
Das zeigt aber nur eine gravierende Gleichstellungsinkompetenz; denn so werden ungleiche Verhältnisse
nicht gerechter, sondern so werden sie zementiert.
({1})
Man darf deswegen nicht geschlechtsneutral fördern,
sondern man muss geschlechtergerecht fördern.
({2})
Die Linke fordert: Die 58 Milliarden Euro im EUAgrarhaushalt für Agrarbetriebe und ländliche Räume
müssen geschlechtergerecht verteilt werden. Wie das
geht, steht in den 19 Forderungen unseres Antrags. Dabei geht es nicht einfach darum, jeden zweiten Euro an
Frauen zu überweisen. Wir wollen einen grundlegenden
Wandel. Vor allen Dingen geht es uns um die Überwindung diskriminierend wirkender Strukturen. Zwei
Schwerpunkte unserer Vorschläge möchte ich nennen:
Erstens. Wir müssen mehr wissen über die Lebenssituation der Frauen auf dem Land. Die Gleichstellungspolitik muss im Agrarbericht einen größeren Raum einnehmen. Bis Ende 2011 soll dem Bundestag ein Bericht
zum Stand der Gleichstellung in den ländlichen Räumen
vorgelegt werden.
Zweitens. Frauen brauchen mehr wirksame Mitsprache bei den Entscheidungen. Zum Beispiel beim ELERFonds zur Förderung der ländlichen Räume müssen
Frauen aktiv in die Entwicklung und Umsetzung der
Programme eingebunden werden. Die Leader-Arbeitsgruppen, die diese Arbeit vor Ort planen und koordinieren, brauchen Frauenbeiräte, die über ein Vorschlagsrecht verfügen.
({3})
In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die die nationalen
Förderprogramme plant, muss die Bundesfrauenministerin mit Stimmrecht vertreten sein, damit sie schon in der
Programmplanungsphase eingreifen kann.
Die Gleichstellungsdefizite auf dem Land benennen
übrigens nicht nur wir Linken, sondern auch der Bericht
über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum des Europäischen Parlaments vom Januar. Auch der Weltagrarbericht weist ausdrücklich auf
die große Bedeutung von Frauen bei der Lösung der Probleme auf dem Land hin.
Die Diskriminierung von Frauen als Kleinbäuerinnen
oder Händlerinnen oder Hauptverantwortliche der Familien ist eine wesentliche Ursache der Armut. Die Agrarexportförderung der EU ist an dieser Situation nicht unschuldig. Deshalb sagen wir Linken: Auch damit muss
Schluss sein.
({4})
Um zusammenzufassen: Nur eine geschlechtergerechte Agrarpolitik wird die Probleme auf dem Land lösen. Das gilt für Deutschland, für Europa und für die
ganze Welt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Christoph Poland für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
„Heiterkeit ist ohne Ernst nicht zu begreifen“, meinte
Loriot. Also versuche ich, bei der Debatte über diesen
Antrag, der mich sehr erheitert hat, ernst zu bleiben.
({0})
Das Thema ruft und rief bei Frauen in der Landwirtschaft, mit denen ich gesprochen habe - ich spreche täglich mit ihnen -, große Verwunderung und Heiterkeit
hervor. Aber ich verspreche den Damen und Herren von
der Linken, dass wir das Thema ernst nehmen. Frauenförderung findet bei uns in allen Politikbereichen ihren
Niederschlag.
({1})
Dieser Antrag, den Sie diese Woche mit heißer Nadel
gestrickt haben und uns nun im Plenum vor die Füße
werfen, ist eigentlich überflüssig. Ich sage Ihnen auch,
warum:
({2})
Sie haben von der Bundesregierung bereits eine Antwort
auf eine Kleine Anfrage zu diesem Thema erhalten.
({3})
Insofern gilt für Sie das, was Norbert Blüm einmal gesagt hat:
Der Vorteil der Opposition ist, dass sie Fragen stellen kann, die sie nicht beantworten muss.
({4})
Ich kann Ihnen gerne noch einmal darlegen, was wir
für die Frauen in ländlichen Gebieten tun. Zuallererst
möchte ich Ihnen aber sagen, dass die CDU/CSU von
den Linken keine Nachhilfe in Sachen Frauenförderung
braucht.
({5})
1961 holte Konrad Adenauer die erste Frau als Ministerin in das Bundeskabinett.
({6})
Sie erinnern sich sicherlich an Elisabeth Schwarzhaupt.
Heute steht eine Frau an der Regierungsspitze.
({7})
- Verehrte Frau Tackmann, ich komme gleich dazu.
Sie zitieren ja gerne die Kommunistin Clara Zetkin.
({8})
Ich wünsche mir allerdings inständig, dass Sie nicht die
Möglichkeit haben, Ihren Glauben an die überlegene
Macht des Kommunismus weiter als etwas Gutes zu deklarieren.
({9})
Angesichts der Diskussion, ob Oskar Lafontaine in Ihrer
Partei wieder eine wichtige Rolle spielen soll, würde ich
Ihnen empfehlen,
({10})
eher das Frauenbild der Linken und ihrer Mitglieder zu
klären, als sich über das Frauenbild anderer Parteien erhaben zu fühlen.
({11})
- Ich komme gleich dazu.
Sie beklagen in Ihrem Antrag die Landflucht der
Frauen. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis,
dass die Landflucht der Frauen keine neue Erscheinung
ist. Schon seit Jahrzehnten, also auch in der früheren
DDR und in der alten Bundesrepublik, gibt es eine Landflucht von Frauen. Das hat etwas mit der Entwicklung
und der Industrialisierung der Landwirtschaft zu tun.
({12})
Frauen streben in die Städte, in die Dienstleistungsberufe und haben keine Lust mehr, auf dem Lande zu leben.
Sie wollen die Agrarförderung auch in Europa geschlechtergerecht gestalten; so haben Sie es in Ihrem
Antrag formuliert. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis,
dass wir auf europäischer Ebene bereits federführend einen Bericht eingebracht haben mit dem Titel „Bericht
über die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum“.
({13})
Dieser Bericht ist, wie Sie wissen, ohne Änderungsantrag vom Europäischen Parlament angenommen worden.
({14})
Außerdem darf ich Sie darauf hinweisen, dass die
Gleichstellung der Geschlechter Fundament der EU und
in den nationalen Verfassungen niedergelegt ist. Niemand hier braucht Ihren Antrag, Ihre Nachhilfe zum
Thema Frauenförderung.
({15})
Die multifunktionale Rolle der Frau im ländlichen
Raum
({16})
leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, in der Gesellschaft ein modernes Frauenbild zu prägen. Meist sind es
die Frauen, die in der Erschließung zusätzlicher Einkommensquellen Zukunftsperspektiven sehen und neue
Wege gehen. Durch ihr unternehmerisches Engagement
leisten Frauen einen wesentlichen Beitrag zum Familieneinkommen, zur Existenz der landwirtschaftlichen
Betriebe und zur regionalen Wirtschaftskraft. Dies gilt in
besonderem Maße für den ländlichen Tourismus, die Direktvermarktung, den Dienstleistungsbereich und andere
unternehmerische Initiativen.
({17})
In meinem Wahlkreis gibt es starke Unternehmerinnen im landwirtschaftlichen Bereich.
({18})
Im Bereich der Rinderzucht hat Frau Dr. Sabine Krüger
in Woldegk zum Wohle der Landwirte und einer eigenständigen Zucht eine einheitliche, wirtschaftlich starke
Zucht- und Besamungsorganisation aufgebaut. Frau
Carola Lehmann gebietet als Vorstandsvorsitzende über
2 000 Hektar.
({19})
Es gibt dort auch Fischerinnen, die ihren eigenen Betrieb
eröffnet haben, zum Beispiel Frau Sabine ReimerMeißner, und junge Frauen, die einen Agrarbetrieb mit
Gourmetrestaurant, Hofladen und Ähnlichem aufgebaut
haben.
({20})
- Ich weiß nicht, ob Sie glauben, dass dann, wenn
50 Prozent einen Hofladen hätten, alle davon leben
könnten.
({21})
Den unterschiedlichsten Anforderungen begegnen
Frauen sehr kreativ,
({22})
vor allem im Rahmen familiärer Unterstützungsnetzwerke. Das Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut hat
festgestellt, was Frauen Kreatives leisten.
({23})
Sie spielen für die ländliche Entwicklung eine wesentliche Rolle, auch wenn dies von der Öffentlichkeit häufig
nicht wahrgenommen wird.
Den EU-Bericht über die Rolle der Frauen in der
Landwirtschaft und im ländlichen Raum, den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, verstehe ich ganz anders als Sie.
({24})
Sie schreiben:
In vielen Regionen droht mittel- bis langfristig eine
weitere Verschlechterung der sozialen Infrastruktur.
({25})
Das ist nicht richtig.
({26})
Vielmehr wird in dem Bericht hervorgehoben, dass die
Rollenvielfalt, der sich Frauen im ländlichen Umfeld
stellen, einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt und
zu Innovationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und
zu einem Anstieg der Lebensqualität insbesondere im
ländlichen Raum leistet.
({27})
Denken Sie nur an die Frauen in Verbänden, in Feuerwehren, im Landfrauenverband. Es gibt bereits erste
Feuerwehrführerinnen,
({28})
weil Männermangel herrscht.
({29})
Außerdem schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass das
Seminar „Frauen in der nachhaltigen Entwicklung des
ländlichen Raums“ lediglich einen begrenzten Sensibilisierungseffekt hatte. Diese Einschätzung kann ich so
nicht teilen. Im Bericht wurde vielmehr festgehalten,
dass es in der letzten Dekade im Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen von Frauen einen positiven Trend gegeben hat. Nehmen Sie diese positiven Arbeitsmarktzahlen
doch einmal zur Kenntnis! 2011 werden in Deutschland
mehr Menschen Arbeit haben als jemals zuvor seit dem
Zweiten Weltkrieg.
({30})
Natürlich kommen Sie auch mit Ihrem Lieblingsthema um die Ecke, dem Mindestlohn.
({31})
Da machen wir nicht mit.
({32})
Wir als CDU sind gegen den Mindestlohn. Wir wollen
nicht, dass durch die Einführung eines flächendeckenden
Mindestlohns Arbeitsplätze im landwirtschaftlichen und
ländlichen Bereich vernichtet werden.
({33})
Meine Damen und Herren, in ihrem Antrag fordern
die Linken - hören Sie jetzt gut zu - deutlich höhere Anteile des europäischen Agrarfonds für Frauen. Ich finde,
das geht über Gleichbehandlung hinaus.
({34})
Hier überdrehen Sie das Rad gewaltig.
({35})
Zusammenfassend will ich ganz klar sagen: Wir lehnen Ihren Antrag ab.
({36})
Ich schenke Ihnen allerdings ein paar Minuten meiner
Redezeit. Frohe Ostern!
({37})
Danke schön. - Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege
Poland, Ihre Bemerkung zu Heiterkeit und Ernst nehme
ich als gegeben hin. Aber die Sachlichkeit war in Ihrer
Rede nicht besonders stark ausgeprägt.
({0})
Insofern hat es auch entsprechende Bemerkungen gegeben.
Ich glaube, das Thema, um das es geht, hat gravierende Auswirkungen auf den gesamten ländlichen Raum
und die demografische Entwicklung im ländlichen
Raum.
({1})
Die Gleichstellungsstrategie ist ein Kernziel der Strategie „Europa 2020“. Insofern hat sich Ihre Kollegin Frau
Jeggle im Europaparlament besondere Verdienste erworben. Sie hat nämlich den Bericht aufgegriffen und am
4. April dieses Jahres einen wirklich hervorragenden
Entschließungsantrag - Sie haben ihn vielleicht noch
nicht gelesen -, der 39 Forderungen enthält, durch das
Europaparlament gebracht. In diesem Antrag wurden
viele Dinge, die im Antrag der Linken stehen, thematisiert und fast wortgleich eingefordert.
({2})
Insofern würde ich mir das - was moderne Politik für
Frauen im ländlichen Raum und auch was die Möglichkeiten betrifft, den Agrarhaushalt dort mit einzusetzen zumindest einmal vor Augen führen und unter Umständen zum Konzept machen.
({3})
Wir Sozialdemokraten wollen natürlich die Rolle der
Frauen in den ländlichen Räumen stärken, damit diese
lebenswert bleiben. Deshalb unterstützen wir nachdrücklich alle 39 Forderungen dieses Entschließungsantrags.
Wir haben allerdings auch die Aufgabe, die Forderungen, die für Europa formuliert sind, an Deutschland und
seine Strukturen anzupassen.
Die Bundesregierung bekennt sich ebenfalls zur
Gleichstellungspolitik. An der Antwort auf die Kleine
Anfrage der Linken erkennt man aber, dass sie bislang
keine Vorschläge erarbeitet und offensichtlich auch
keine konkreten Vorstellungen im Hinblick auf die Umsetzung hat.
Im Rahmen der Ausgestaltung der zweiten Säule nach
ELER gibt es einen relativ großen Spielraum an Möglichkeiten, dort spezifische Frauenförderung zu verankern. Schauen Sie sich doch einmal an, wie sich der
ländliche Raum darstellt. Schauen Sie vor allem in die
ländlichen Räume der neuen Bundesländer: nach Nordostvorpommern, in die Prignitz oder nach Sachsen. Dann
erkennen Sie, dass dort mittlerweile ein Missverhältnis
zwischen den Geschlechtern besteht - ein Verhältnis im
Extremfall von 100 zu 75, im Regelfall von 100 zu 80.
Das heißt, 20 Prozent der Frauen in den Altersgruppen
zwischen 18 und 29 Jahren fehlen, und es werden weniger Kinder geboren. Auch das führt dazu, dass diese
Räume sozial instabil werden.
Die Wanderungsbewegung - das haben Sie richtig bemerkt - ist sicherlich eine Erscheinung, die wir seit
100 oder 200 Jahren haben. Das ist so, seitdem die
Städte wachsen. Bislang waren wir aber immer in der
Lage, dies durch einen entsprechenden Bevölkerungszuwachs in den ländlichen Räumen auszugleichen. Das
passiert schon lange nicht mehr.
Wenn ich meinen eigenen Wahlkreis bzw. meine eigene Kommune anschaue, sehe ich dort ein charakteristisches Beispiel. Wir hatten, als ich anfing, Kommunalpolitik zu machen, etwa 11 500 Einwohner. Heute haben
wir noch 9 800 Einwohner. Im letzten Jahr sind in dieser
Kommune - ich habe bei meinem Bürgermeister nachgefragt - 48 Kinder geboren worden. Das ist die Perspektive, die wir in ländlichen Räumen haben. Aktive
Frauenpolitik, das Fördern von Frauen im ländlichen
Raum ist ein zentrales Instrument, um dem demografischen Wandel, der sich in den ländlichen Räumen vollzieht, etwas entgegenzusetzen und ihn zu bewältigen.
({4})
Für uns ist aktive Gleichstellungspolitik eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen die Agrarpolitik davon
nicht ausnehmen. Es geht sicherlich nicht um einen Ansatz in Richtung „Bauer sucht Frau“ zur Finanzierung
des Projekts. Es geht viel weiter. Aber wenn Sie in solchen Regionen leben, ist die Wahrscheinlichkeit, eine
adäquate Lebenspartnerin zu finden, geringer, als wenn
Sie am Polarkreis lebten.
Man muss auch sehen, welche Entwicklungen sich in
Bezug auf das Wahlverhalten abspielen. Es gibt eine Untersuchung - ich kann sie Ihnen vorlegen -, in der der
Nachweis geführt wird, dass rechtsradikales Wählerverhalten unmittelbar mit dem Phänomen der Abwanderung
korreliert. Das sollte uns allen zu denken geben. Wir
müssen versuchen, dort aktiv gegenzusteuern. Wir müssen versuchen, jungen Frauen Perspektiven zu bieten.
Denn wer wandert ab? Es wandern die ab, die am besten
ausgebildet sind und die besten Voraussetzungen haben.
Es ist uns mittlerweile gelungen, in unserem Bildungssystem dafür zu sorgen, dass die Zahl der weiblichen Hochschulzugangsberechtigten fast 60 Prozent eines Jahrgangs ausmacht. Wenn wir auf der anderen Seite
schauen, wer einen Hauptschulabschluss oder keinen
Schulabschluss hat, dann sind 60 Prozent der Betroffenen männlich. Das sollte uns zu denken geben. Es hat in
diesen Räumen unmittelbare Auswirkungen.
Jemand, der für sich eine adäquate Lebensperspektive
sucht, der sucht auch eine adäquate Arbeit und ein adäquates Beschäftigungsverhältnis. Insofern ist es gerechtfertigt, dass man sich diesem Thema im Rahmen
der Diskussion über die Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik in ganz besonderer Weise widmet und
die Demografie im ländlichen Raum zu einem zentralen
Thema bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik in der zweiten Säule macht. Darum kommen wir
gar nicht herum; denn allen Veränderungen, die sich in
diesen Räumen abspielen, müssen wir zumindest begleitend etwas entgegenstellen, wenn wir diesen Prozess
schon nicht verhindern können. Darum ist der Ansatz,
der von der Kollegin eingefordert wird, richtig.
({5})
Ich kann nicht alle Ihre Forderungen unterschreiben;
aber es besteht durchaus die Notwendigkeit, das politisch anzuerkennen und auch in politisches Handeln umzusetzen. Darüber, ob gerade Frau Schröder als Familienministerin an den PLANAK-Verhandlungen beteiligt
werden muss, kann man sich trefflich streiten.
Was wir auch brauchen, ist - das ist hier ebenfalls thematisiert worden - Entgeltsicherheit und Entgeltgleichheit für Männer und Frauen. Bislang ist es so, dass
Frauen im Regelfall - besonders aber in den ländlichen
Räumen - erheblich schlechter bezahlt werden. Es gilt
dem etwas entgegenzusetzen. Deshalb bedauere ich,
dass Sie unseren Antrag mit dem Titel „Entgeltgleichheit
zwischen Männern und Frauen gesetzlich durchsetzen“
in der letzten Woche abgelehnt haben.
({6})
Damit haben Sie den Frauen und auch den ländlichen
Räumen weiß Gott keinen Dienst erwiesen.
Die Lohndiskriminierung von Frauen auf dem Lande
sollte längst der Vergangenheit angehören.
({7})
Ich garantiere Ihnen: Hinsichtlich der Forderungen nach
Lohn- bzw. Entgeltgleichheit und Mindestlöhnen auch in
der Landwirtschaft und in den ländlichen Räumen stehen
wir an der Seite der Gewerkschaften; wir unterstützen
dies. Ich glaube, Gender Budgeting, also das Einfließen
dieser Grundüberlegungen in alle Politik- und Haushaltsbereiche, sollte in Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein. Wir als Sozialdemokraten werden uns dafür
einsetzen, dass diese Selbstverständlichkeit zur Realität
wird.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Christel Happach-Kasan von der FDP-
Fraktion hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass
jetzt Kollegin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als letzte Rednerin in dieser Debatte
das Wort erhält.
Vielen Dank, sehr geehrter Herr Präsident. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Poland, Ihre Rede war
wahrlich sehr schwer zu ertragen. Dass Sie von den Koalitionsfraktionen so viel Beifall bekommen haben,
spricht Bände hinsichtlich Ihrer Geisteshaltung in dieser
Frage.
({0})
Es wird niemand leugnen wollen, dass die Chancengleichheit von Frauen in unserer Gesellschaft besonders
in ländlichen Regionen eine besondere Herausforderung
darstellt.
({1})
Ich blicke hier insbesondere auf Ostdeutschland. Die
Forschung weist seit Jahren auf die prekäre Situation der
Frauen dort hin, die eine massive Abwanderung zur
Folge hat.
({2})
Die formalrechtliche Gleichstellung der Frauen ist zwar
auf dem Papier vorhanden, die Wirklichkeit sieht aber
leider häufig anders aus. Frauen werden schlechter be-
zahlt, sie haben schlechtere Aufstiegschancen, und sie
1) Anlage 2
haben nach wie vor mit einem tradierten Rollenverständnis zu kämpfen, das ihren eigenen Vorstellungen in keiner Weise entspricht.
Die Linksfraktion greift diese Problematik in ihrem
Antrag dankenswerterweise auf. Ein klares politisches
Handlungskonzept, wie wir diese Herausforderung
meistern können, bleiben Sie allerdings schuldig. Das
liegt vor allem daran, dass man ländliche Räume und
Landwirtschaft wieder einmal in einen Topf geworfen
hat. Die Bedeutung der Agrarbranche für die ländliche
Entwicklung ist zwar unstrittig. Wenn wir aber die Situation von Frauen auf dem Lande nachdrücklich verbessern wollen - und das sollte ja ein wesentliches Ergebnis
von Gleichstellung sein -, dann kommen wir mit einer
Beschränkung auf Landwirtschaft und Agrarförderung
nicht weit. Arbeitsplätze, gute Löhne, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf durch familienfreundliche Infrastrukturen das sind die Knackpunkte für mehr Chancengleichheit
und gelebte Geschlechtergerechtigkeit gerade für Frauen
auf dem Lande.
Im Forderungsteil des Antrags der Linksfraktion findet sich dazu nichts. Da hilft auch die Aufnahme des
Bundesfamilienministeriums in den PLANAK nicht
wirklich weiter. Meinen Sie, dass sich dadurch etwas an
der falschen Prioritätensetzung bei der GAK ändert?
({3})
Selbst wenn wir uns auf den Agrarbereich beschränken, sind die Vorstellungen der Linken nicht wirklich
ambitioniert. „Mehr Frauen in die Führungsetagen der
großen Agrargenossenschaften und GmbHs“ lautet eine
Ihrer Forderungen. Das wäre sicherlich ein wichtiges
Zeichen. Vielen gestandenen Landwirten erschiene es
wahrlich als eine Art Kulturrevolution. Aber reicht uns
das?
({4})
Die Stärkung der ökologischen und bäuerlichen Landwirtschaft würde uns viel weiter bringen; denn diese
schafft Arbeitsplätze.
({5})
Sie ist im Gegensatz zu den großen Betrieben innovativ,
wenn es um mehr Beschäftigung und neue, gleichberechtigte Einkommensmöglichkeiten gerade auch für
Frauen geht. Aber dazu findet sich im Antrag der Linken
leider nichts.
Ich will das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
Der Ansatz ist gut. Jetzt kommt es aber auf konkrete Instrumente an.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition: die Hofabgabeklausel.
Nach der geltenden Regelung gilt: Wenn ein Landwirt
mit 65 Jahren nicht seinen Hof abgibt, verliert er seinen
Rentenanspruch. Will er ihn aber an seine jüngere Ehefrau abgeben, so darf diese nicht jünger als 55 Jahre sein.
Ist sie beispielsweise 53 oder 48, hat sie Pech gehabt.
Der Gesetzgeber verbietet ihr die Übernahme des Hofes
und entzieht ihr damit die Lebensgrundlage als Bäuerin.
Ein weiteres Beispiel: Ist die Bäuerin 65, ihr Ehemann aber nicht bereit, den Hof mit Eintritt ins Rentenalter abzugeben, verweigert ihr der Gesetzgeber die
Rente. Es ist ihr somit gesetzlich verwehrt, eigenständig
über ihr Leben im Rentenalter zu entscheiden. Das müssen wir ändern, und zwar jetzt.
Zusammengefasst heißt das: Um die Diskriminierung
von Frauen auf dem Lande zu beenden, reicht es nicht,
sie stärker an Förderprogrammen zu beteiligen, und
schon gar nicht, Aktionsprogramme zu machen und Beiräte zu berufen. Das Feld, das es zu beackern gilt, ist
groß und steinig. Die Regierungskoalition sollte endlich
die Kraft zusammennehmen, nicht nur vor Ort bei den
Betroffenen schöne Worte zu machen, sondern wenigstens die schwersten Steine - damit meine ich beispielsweise die Hofabgabeklausel - aus dem Weg zu räumen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5477 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdaten Richtlinienvorschlag über die Verwendung von
Fluggastdatensätzen, KOM({0}) 32 endg.,
Ratsdok. 6007/11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4
EUZBBG
- Drucksache 17/5490 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1 101 889 000 Passagiere wurden nach Angaben von Eurostat im Jahr 2008 in der EU auf dem Luftweg befördert. Von einem erheblichen Teil dieser Passagiere sollen nun jeweils 19 Datenkategorien ohne Anlass
und auf Vorrat gespeichert werden: Anschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Kreditkartennummer, Zahl
und Name der Mitreisenden,
({0})
der Name des Sachbearbeiters im Reisebüro, der sogenannte Vielfliegervermerk, die Sitzplatznummern und
- ein Meisterwerk der Unbestimmtheit - sogenannte allgemeine Hinweise.
Um hier gar keinen großen Spannungsbogen aufzubauen und den Tenor unseres Antrags gleich offen zu benennen: So geht es nicht, meine Damen und Herren.
({1})
Schon das allein ist eine riesige Menge äußerst aussagekräftiger personenbezogener Daten. Aber zu allem
Überfluss ist in der jetzt vorliegenden Richtlinie eine
Verknüpfung dieser Daten, eine Abgleichung oder, um
es konkreter zu sagen, eine Rasterung verpflichtend vorgesehen. Hier entsteht ein unüberschaubarer, staatlich
kontrollierter Datenpool, der nicht nur mit anderen europäischen und nationalen Datensammlungen abgeglichen
werden kann und soll, sondern aus dem sich zusätzlich
verschiedenste Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
aller 27 Mitgliedstaaten bedienen sollen.
({2})
- Das will ich Ihnen jetzt erklären, Herr Kollege. - Wie
lange diese Behörden wiederum die abgerufenen Daten
speichern
({3})
- Herr Binninger, Sie haben eine Frage gestellt, hören
Sie jetzt auch zu! -,
({4})
wozu sie die Daten, die sie abrufen, genau verwenden
und an welche weiteren Länder - ohne ausreichendes
Datenschutzniveau - sie sie weitergeben, ist nach der
vorliegenden Richtlinie völlig unklar.
({5})
Diese Vorratsdatenspeicherung ist ein weiterer Baustein
in einem völlig unkontrollierbaren Gewirr von untereinander verbundenen Datenpools in Europa. Meine
Fraktion und ich sehen hier - das sage ich Ihnen in aller
Deutlichkeit - ein massives datenschutzrechtliches und
verfassungsrechtliches Problem.
({6})
Weil das Bundesministerium des Innern vor Monaten
schon selbst erhebliche Zweifel an der verfassungskonformen Umsetzung dieser unausgegorenen Richtlinie angemeldet hat, ist es mir völlig unverständlich, warum die
Bundesregierung in Kenntnis dieser Zweifel und in
Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei den Verhandlungen zum Kommissionsentwurf
am Anfang dieser Woche nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass eine solche Vorratsdatenspeicherung
- um nichts anderes handelt es sich hier - mit dem deutschen Grundgesetz überhaupt nicht vereinbar ist.
Schon in seinem Urteil zur Umsetzung der Richtlinie
zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten fiel es dem Bundesverfassungsgericht
auffallend schwer, die zugrunde liegende EU-Richtlinie
unangetastet zu lassen und nur Teile des Umsetzungsgesetzes für verfassungswidrig zu erklären. Es wurden
engste Grenzen gesetzt, die den Gesetzgeber zu großer
Zurückhaltung zwingen. Der Richtlinienvorschlag aber,
der uns heute vorliegt, übt gar keine Zurückhaltung;
ganz im Gegenteil: Es wird gespeichert, so lange es geht,
so umfassend es geht und von so vielen Menschen, wie
es geht. Gleich eine ganze Reihe von Regelungen des
Richtlinienvorschlags widersprechen diametral den klaren Vorgaben unseres Bundesverfassungsgerichts.
({7})
Ich sage Ihnen heute voraus: Müsste das Bundesverfassungsgericht über ein Gesetz zur Umsetzung der
Fluggastdatenrichtlinie entscheiden, könnte das massive
negative Folgen für den rechtlichen Zusammenhalt der
Europäischen Union haben; denn eines der zentralen Gebote unserer Verfassung lautet: Die Freiheitswahrnehmung der Bürger darf nicht total erfasst und registriert
werden. - Hierfür muss sich - ich zitiere das Bundesverfassungsgericht - „die Bundesrepublik in europäischen
und internationalen Zusammenhängen einsetzen“. Das
haben Sie bisher allenfalls kosmetisch, aber leider überhaupt nicht ernsthaft getan. Fangen Sie endlich damit an!
({8})
Denn sonst stellen Sie das Bundesverfassungsgericht vor
folgende Wahl, Herr Kollege Binninger
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- ich komme zum Ende -: entweder erstmals Europarecht direkt anzugreifen oder aber sich in direkten Widerspruch zu der eigenen jüngsten Rechtsprechung und
damit dem deutschen Verfassungsrecht zu begeben. Ich
fordere Sie daher auf: Ersparen Sie uns diese Niederlage
für die Grundrechte des Grundgesetzes oder die europäische Integration! Wir Grüne bieten Ihnen an: Lassen Sie
uns das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Europa tragen, statt weiter den politischen
Grundrechteabbau durch die europäische Hintertür zu
betreiben.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vorneweg eine klarstellende Bemerkung, Herr Kollege
von Notz: Die Richtlinie liegt im Entwurf vor. Über sie
wird etwa ein Jahr verhandelt werden. Sie ist noch nicht
beschlossen. Wir alle sind aufgefordert, gute Beiträge
zur Formulierung der Richtlinie zu leisten. Ihre Rede
war leider kein guter Beitrag dazu.
({0})
Die Erwartungshaltung der Bevölkerung, der Medien
und der Politik, wenn es um die Notwendigkeit der Speicherung von Passagierdaten und um die Luftsicherheit
geht, lässt sich am besten mit einem Blick in die Realität
beantworten.
25. September 2009: Es gelingt einem Terrorverdächtigen, von Nigeria über Amsterdam nach Detroit zu fliegen.
({1})
Es gibt Hinweise auf sein Verhalten: Er bezahlt bar; er
bucht nur ein One-Way-Ticket; er reist ohne Gepäck in
die USA. All das bleibt unbemerkt. Er versucht, im Landeanflug auf Detroit eine Flüssigkeit zu entzünden, um
das Flugzeug zum Absturz zu bringen.
Als das passierte, kam aus allen Parteien - von der
Linken über die Grünen, bei uns sowieso - zu Recht die
klare Aussage, dass es nicht sein kann, dass ein Terrorverdächtiger unerkannt ein Flugzeug besteigt. Da müsse
doch irgendwo eine Warnlampe angehen. Wenn die
Warnlampe angehen soll, brauchen wir auch eine Passagierdatenspeicherung. Alles andere ist Unfug und Sand,
der den Leuten in die Augen gestreut wird.
({2})
Was wir unter Rot-Grün hatten, will ich lieber nicht näher erläutern.
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass in
den Bereichen von Terrorismus und organisierter
Kriminalität - um nichts anderes geht es hier - die Sicherheitsbehörden darauf angewiesen sind, Daten über
Reisebewegungen, Kommunikationsbeziehungen und
Finanzströme zu erhalten.
Das PNR-Abkommen, das jetzt im Entwurf vorliegt,
schafft einen einheitlichen Rahmen innerhalb der EU.
({3})
Es wird jetzt ein Jahr verhandelt werden. Die Richtlinien
haben drei Ziele. Erstens. Es soll - ich glaube, noch
nicht einmal Sie sind da anderer Meinung - verhindert
werden, dass Terrorverdächtige, die einen Anschlag planen, überhaupt erst ein Flugzeug besteigen. Wer dagegen
etwas hat, soll es sagen. Es gibt gegen die Forderung,
das zu verhindern, ernsthaft nichts einzuwenden.
({4})
Zweiter Punkt: Es soll gelingen, schwere Straftaten aufzuklären. Dritter Punkt: Es soll gelingen, Verdächtige zu
erkennen.
Wenn wir die Richtlinie jetzt ansehen, stellen sich natürlich einige - auch datenschutzrechtliche - Fragen.
Das bestreite ich überhaupt nicht. Wir sind erst am Beginn der Debatte. Eine Frage, die sich auch für mich
stellt, ist, ob die Speicherdauer - 30 Tage offen, dann
pseudonymisiert für fünf Jahre - notwendig oder zu
lange ist.
({5})
Ich bin durchaus der Auffassung, dass wir sehr genau
überlegen müssen, warum es fünf Jahre sein sollen. Es
könnten auch weniger sein. Ich will aber auch darauf
hinweisen - das gehört zur Ehrlichkeit dazu -: Diese Daten werden nicht gespeichert, weil der Staat es will.
Diese Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften vorhanden und werden auch dort heute schon
mehrere Jahre gespeichert.
({6})
Es geht um die Frage, ob wir unter bestimmten Voraussetzungen den Sicherheitsbehörden diese Daten zur Verfügung stellen, um Anschläge zu verhindern, schwere
Straftaten aufzuklären oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit der Bürger etwas wert ist, der
kann diese Frage nicht mit Nein beantworten.
({7})
Trotzdem glaube ich, dass wir über das Thema Speicherdauer reden müssen.
Die zweite Frage, die sich stellt, ist, ob wir nur Flüge
von außerhalb in die EU erfassen wollen oder auch
Flüge innerhalb der EU. Da gibt es unterschiedliche
Positionen. Das will ich nicht bestreiten. Wir müssen uns
darüber klar werden, dass die Gefährlichkeit von Personen nicht geringer wird, weil sie von Barcelona nach
Berlin fliegen statt von Nigeria nach Berlin. Wir müssen
versuchen, diese Frage eher an der Gefährlichkeit der
Personen zu orientieren.
({8})
- Nein, das ist eine Frage, die sich stellt.
({9})
Wir debattieren darüber. Machen Sie einen Vorschlag!
Für mich ganz persönlich stellt sich auch eine dritte
Frage, da greife ich sogar Ihre Bedenken ein Stück weit
auf. Zu verhindern, dass ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug besteigt, ist oberstes Ziel. Daran kann es für mich
keinen Zweifel geben.
({10})
Wer das ablehnt, macht keine seriöse Sicherheitspolitik.
Auch schwere Straftaten aufzuklären, halte ich für absolut berechtigt. Die dritte Zielrichtung des Abkommens
ist, anhand der Daten Kriterien zu erkennen, mit denen
Verdächtige identifiziert werden können, also eine Art
Rasterfahndung. Da hat uns das Bundesverfassungsgericht ganz klar aufgegeben: Die Rasterfahndung ist zulässig, sie muss aber an eine konkrete Gefahr geknüpft
sein. Das heißt, eine pauschale Ermächtigung, diese Daten quasi jede Woche auf irgendwelche Auffälligkeiten
hin zu durchleuchten, ist rechtlich nach unserem Verständnis schwer abzubilden. Deshalb müssen wir darauf
achten, dass wir hier, wenn es dabei bleibt, auch den Bezug zur konkreten Gefahr haben.
Insgesamt können wir aber nicht darüber hinweggehen, dass wir an einem solchen Instrument nicht vorbeikommen, wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen,
wenn wir verhindern wollen, dass Passagiermaschinen
Ziele von Anschlägen werden, und wenn wir wollen,
dass wir in der Lage sind, schwere Verbrechen - es geht
auch um organisierte Kriminalität, es geht um Menschenhandel - aufzuklären und Strukturen zu erkennen.
Durch die PNR-Richtlinie wird zumindest ein einheitlicher Rahmen geschaffen. Es gab zwischen einzelnen
Staaten lange einen bilateralen Wildwuchs. Es war völlig
unklar, wer wie viele Daten bekommt. Insofern ist eine
Richtlinie, durch die Einheitlichkeit hergestellt wird, zu
begrüßen. Wir können über das Thema Speicherdauer
reden. Wir können auch über das Thema „Was alles soll
man mit den Daten machen dürfen?“ sprechen. Ich
glaube, an den zwei Grundzielen braucht man nicht zu
rütteln.
Herr Kollege von Notz, ich finde, das, was Sie von
den Grünen in Ihrem Antrag geschrieben haben, ist ein
bisschen Wischiwaschi:
({11})
von allem ein wenig, aber keine klare Position.
({12})
Sie müssten schon sagen, ob Sie grundsätzlich gegen die
Passagierdatenspeicherung sind - auch wenn Sie damit
in Kauf nehmen, dass Terrorverdächtige Flugzeuge besteigen - oder ob Sie unter bestimmten Bedingungen daClemens Binninger
für sind. Dazu äußern Sie sich in Ihrem Antrag nicht.
Die häufigste Formulierung in Ihrem Antrag lautet
- viermal kommt das vor -:
Falls ein Verzicht auf die Normierung einer Verpflichtung zur Speicherung von Fluggastdaten nicht
durchsetzbar sein sollte …
Sagen Sie doch klipp und klar, ob Sie für diese Datenspeicherung sind - bringen Sie dann Ihre Kritikpunkte
vor - oder ob Sie dagegen sind. Dann wissen die Menschen in Deutschland, was Ihnen die Sicherheit wert ist offensichtlich sehr wenig. Beziehen Sie Position!
({13})
Es geht nicht an, dass Sie sich einmal so und einmal so
äußern, nur weil Sie einer bestimmten Klientel gefallen
wollen. Wir brauchen diese Richtlinie, um mehr Sicherheit zu bekommen. Sie sind herzlich eingeladen, auf unserem Weg mitzumachen. Beziehen Sie aber bitte eine
klare Position.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Wolfgang Gunkel für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die PNR-Daten ist nicht neu; wir haben sie
schon in der vorigen Legislaturperiode geführt. Ich erinnere daran, dass der damalige EU-Kommissar für Justiz,
Frattini, einen Vorschlag eingebracht hat, der sich an den
Fluggastdatenvereinbarungen mit den USA orientiert
hat. Damals waren horrende Speicherfristen und ähnliche Dinge vorgesehen. Bis auf die CDU/CSU haben wir
damals einheitlich festgestellt, dass Frattinis Vorschlag
nicht akzeptabel ist. Die Unionsfraktion hat dann mitgeteilt, man versuche, zu verhandeln und entsprechend
nachzubessern. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen,
weil Frattini gehen musste und die Sache auf Eis lag.
Jetzt taucht dieser Vorschlag wieder auf. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang, dass eine einheitliche Datenerhebung in der Europäischen Union außerordentlich
schwierig ist. Das wird klar, wenn man sich anschaut,
welche Daten bisher schon erhoben werden. Da setze ich
an: Wenn wir schon ein Schengener Informationssystem,
ein Visa-Informationssystem und API-Dateien haben,
warum brauchen wir dann noch zusätzlich etwas? Auch
die EU-Kommission hat nicht erklärt, warum die bisher
vorhandenen Dateien nicht ausreichen, um ein System
zu installieren, durch das das ermöglicht wird, was Sie,
Herr Binninger, hier vorhin vorgestellt haben. Diese
Frage ist für mich nach wie vor unbeantwortet.
({0})
Ich kann nur sagen: Das, was Sie vorgetragen haben,
ist in vollem Umfang zu unterstützen. Es kollidiert zum
Teil mit deutschem Recht. Es kollidiert auch mit dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das wir seinerzeit
noch nicht kannten. Es ist also berechtigt, das Ganze zu
hinterfragen. Unter Umständen kommt man zu dem Ergebnis, dass man das, was geplant ist, nicht benötigt. Ich
biete an, zu prüfen, was umsetzbar ist.
({1})
Herr Wieland, ich nenne Ihnen ein Beispiel. Herr
Binninger hat nicht so unrecht. Sie schreiben in Ihrem
Antrag viermal: Wenn das alles nicht geht, dann soll das
und das gemacht werden. - Das ist außerordentlich geschickt gemacht - das gebe ich zu -: Man stellt eine Maximalforderung, räumt ein, dass die Erfüllung dieser
Forderung nicht sehr realistisch ist, und arbeitet sich
schrittweise an den Punkten ab, die kritikwürdig sind.
Clever gemacht; das muss man Ihnen lassen.
({2})
- Siehste, ein bisschen was drauf haben muss man.
Es geht hier darum, zu sagen, was konkret gefordert
werden soll.
({3})
Wir haben das im Innenausschuss schon diskutiert. Die
Bundesregierung hat dazu Stellung genommen: Sie will
Teile übernehmen. Ich zum Beispiel bin grundsätzlich
gegen die Vorratsdatenspeicherung. Sie ist meiner Meinung nach an dieser Stelle total verfehlt, weil bereits genügend andere Daten vorhanden sind.
({4})
Das Verfassungsgerichtsurteil besagt, dass Deutschland
unter bestimmten Voraussetzungen Vorratsdatenspeicherungen vorzunehmen hat. Das Verfassungsgericht hat solche Speicherungen mit hohen Eingriffsschwellen versehen. Es müssten zumindest konkrete erhebliche
Gefahren bestehen oder Rechtsgüter von hohem Wert
betroffen sein. Auch das ist in diesem Falle zu berücksichtigen. Diesbezüglich fehlt in der Richtlinie der EUKommission ein klarer Hinweis, was Kriterium sein soll
und wie die Umsetzung vonstatten gehen soll. Schwere
Kriminalität: Ja. Terrorismusbekämpfung: auch Ja. Aber
mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck soll das erhoben werden? Wir denken, dass darüber noch einmal
gesprochen werden muss. Nach unserer Auffassung
kann die Richtlinie so nicht bleiben.
Es ist klar, dass für die Erfassung der Daten bestimmte Zentralstellen vorgesehen sind. Es würden dann
27 Staaten nationale Zentralstellen haben. Die Fluggesellschaften würden in diesen 27 Staaten Daten erheben
und sie an die jeweilige nationale Zentralstelle weiter12234
geben. Schon allein deswegen wird man unter datenrechtlichen Gesichtspunkten zu unterschiedlichen Behandlungsweisen kommen. Was daran einheitlich sein
soll, verstehe ich nicht ganz. Es steht sogar noch geschrieben, dass die Daten an Drittstaaten weitergegeben
werden sollen. Es wird aber nicht auf die Verfahrensweise eingegangen und dargelegt, nach welchen Kriterien die Daten verwendet werden dürfen und wer überhaupt erfasst werden soll. All das bleibt völlig unklar.
Insofern können wir diese Richtlinie nicht mittragen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die
Frage der Nutzung innerhalb der Europäischen Union.
Da stellt sich mir die Frage, wozu wir dann überhaupt einen Raum der Freiheit geschaffen haben,
({5})
in dem 470 Millionen Menschen in 27 Staaten zusammengefasst werden. Es handelt sich doch nur noch um
eine Freiheit auf dem Landwege, wenn wir anfangen, jeden Einzelnen zu registrieren, der innerhalb der Europäischen Union auf dem Luftwege reist.
({6})
Das ist ein Punkt, über den man nachdenken sollte. Herr
Binninger, der geschilderte Fall und das Beispiel mit
Barcelona waren okay. Aber sehen Sie: Der Herr Minister Friedrich - jetzt sitzt der Herr Staatssekretär
Dr. Schröder hier - war gerade erst, am 14. dieses Monats, in Brüssel und hat diesen Sachverhalt im Justizrat
besprochen. Was hat er getan? Er hat sich eindeutig gegen die innereuropäische Erfassung ausgesprochen.
({7})
Folgen Sie doch Ihrem Minister, Herr Binninger!
({8})
Sehen Sie doch ein, dass zumindest er erkannt hat, um
was es geht.
({9})
- Ja, gut. Manchmal orientiert man sich aber auch an
Ministern und Staatssekretären. Das machen Sie auch.
Richtig, Frau Piltz? Ich muss sagen: Das haben Sie
locker drauf.
Ich will sagen: Es ist deutlich zu erkennen, dass es im
europäischen Rahmen sehr, sehr große Diskrepanzen
gibt. Es haben sich neuerdings weitere Länder angeschlossen. Früher waren es fünf Länder plus Deutschland. Nach der letzten Sitzung sind zwei weitere Länder
dazugekommen, die erhebliche Bedenken haben, die
PNR-Richtlinie in europäisches Recht umzusetzen. Ich
meine, dass das auch inhaltlich begründet ist. Sie haben
angeboten, ein Jahr darüber zu diskutieren. Dann diskutieren sie darüber aber auch wirklich. Wenn tatsächlich
Ratschläge der Opposition in Ihre Überlegungen einfließen, kann ich Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie den
Beitrag von Herrn von Notz, meinen Beitrag und die, die
noch kommen, wahr und verarbeiten Sie sie. Dann wären wir schon sehr zufrieden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
({0})
Das ist auch richtig so, Herr Korte. - Herr Präsident!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr von Notz, Sie haben uns mit auf den Weg gegeben, wir sollen die Grundrechte nach Europa tragen. Ganz ehrlich: Ihren Hinweis
dazu hätten wir nicht gebraucht. Das tun wir nämlich
schon selber.
({0})
Ich will Ihnen zugestehen - Sie sind um einiges jünger -,
dass Sie sich nicht so daran erinnern können, dass 2004
der damalige Außenminister - Sie wissen vielleicht
noch, wie er hieß und welcher Partei er angehörte -,
Joschka Fischer von den Grünen
({1})
- unvergessen deswegen, weil er einen Sündenfall im
Datenschutz begangen hat, an dem wir heute noch knabbern; das liegt auch in Ihrer Verantwortung -,
({2})
im Rat einem Abkommen zur Übermittlung von Fluggastdaten zugestimmt hat. Das war der Sündenfall. Das
war übrigens ein Abkommen, für das Datenschutz ein
absolutes Fremdwort war. Erst dem massiven Druck des
Europäischen Parlamentes war es zu verdanken, dass
überhaupt nachgebessert worden ist.
({3})
Der Sündenfall war die Zustimmung des grünen Außenministers und im Weiteren die Unterstützung für das
PNR-Abkommen unter Missachtung aller datenschutzrechtlichen Erwägungen und ohne jegliche Rechtsschutzmöglichkeiten.
Herr Kollege Gunkel von der SPD, ich frage mich:
Wo war da eigentlich die SPD?
({4})
Sie waren doch damals in der Regierung.
({5})
Deshalb hätte ich hier gerne eine entsprechende Aussage
gehört.
Wenn Sie schreiben, dass der Speicherzeitraum von
30 Tagen unverhältnismäßig lang sei, möchte ich daran
erinnern, dass die Grünen es damals als großen Erfolg
gefeiert haben, dass bei dem ersten PNR-Abkommen mit
den USA eine Speicherfrist,
({6})
und zwar ohne Pseudonymisierung, von dreieinhalb Jahren verhandelt wurde. Das wurde damals als Erfolg verkauft.
({7})
Wenn man alte Plenarprotokolle liest, merkt man,
dass der Inhalt der Reden manchmal wirklich von der
Rolle im Parlament abhängt.
({8})
- Ich lese sie nicht, weil ich zu viel Zeit habe, sondern
weil ich mich ernsthaft auf die Debatten vorbereite; das
ist vielleicht der Unterschied zwischen Ihnen und mir.
({9})
Die Grünen haben in der Debatte am 27. Mai 2004
vorgetragen, dass sie den damals debattierten Antrag der
FDP-Fraktion, in dem rechtsstaatliche Garantien und
Datenschutz gefordert wurden, ablehnen.
({10})
Ich will jetzt gar nicht darüber spekulieren, was Ihnen
die Bundesregierung, insbesondere Ihr damaliger Außenminister, dafür versprechen musste.
({11})
Aber ich finde es vor diesem Hintergrund schon drollig,
was Sie heute hier aufführen.
({12})
Es ist wirklich nicht so, dass wir als FDP ein EU-System zur Nutzung von Fluggastdaten in diesem Umfang
begrüßen würden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Notz?
Aber immer gerne.
Frau Kollegin Piltz, während Sie so viel über Joschka
Fischer reden, verrinnt Ihre kostbare Redezeit. Ehre,
wem Ehre gebührt; aber es geht ja um die Zukunft. Deswegen ist die entscheidende Frage, wie sich die FDP in
Regierungsverantwortung konkret mit der Verfassungswidrigkeit der augenblicklichen Richtlinie auseinandersetzt; entscheidend ist nicht, was Joschka Fischer vor
vielen Jahren gemacht hat.
({0})
Da war ich ja noch ein Kind.
({1})
Ich bitte also um Aufklärung, was die Zukunft angeht;
Vergangenheitsbewältigung ist nicht erforderlich.
Erstens, Herr von Notz: Wenn Sie damals noch ein
Kind waren, dann sind Sie heute - denn so lange ist es
noch nicht her - bestenfalls ein Heranwachsender.
({0})
Ob Sie damit leben möchten, müssen Sie für sich selber
klären.
({1})
- Sie wissen: Die Antwort bestimmt derjenige, der am
Rednerpult steht.
Zweitens. Natürlich ist das, was Sie uns damals eingebrockt haben, im Hinblick auf das, was wir in Zukunft
tun, von Bedeutung. Das Problem ist: Wenn man in der
Geschichte einen Sündenfall herbeiführt - dafür gibt es
vielfältige, auch biblische, Beispiele -, begleitet einen
das ein Leben lang. Deshalb müssen Sie sich den Rückblick in die Vergangenheit gefallen lassen. Unser Problem ist, dass es in der Vergangenheit ein Abkommen
gegeben hat.
({2})
- Ich kann mich nicht erinnern, dass die USA einen von
uns erpresst hätten.
({3})
Zur Wahrheit gehört, dass von Ihrer Bundesregierung ein
klares Nein zum Irakkrieg erfolgt ist. Deshalb mussten
Sie damals den USA an anderer Stelle entgegenkommen.
({4})
Das war die Konsequenz Ihrer verfehlten Politik.
({5})
- Warum setzen Sie sich jetzt einfach, Herr von Notz?
({6})
- Von mir oder von ihm?
Auf jeden Fall unterstützen wir die Bundesregierung
sehr darin, in Brüssel - damit hat sie ja schon begonnen - klarzumachen, dass sie einer Ausweitung auf
innereuropäische Flüge nicht zustimmen wird. Darauf
haben wir frühzeitig hingewiesen, und darauf legen wir
auch Wert. Wir brauchen von Ihnen keine Nachhilfe in
Sachen Datenschutz oder Vorratsdatenspeicherung.
({7})
Denn Sie wissen, dass es in unserer Fraktion Menschen
gegeben hat, die dieses Urteil, genau wie das bei Ihnen
der Fall ist, erst erkämpft haben.
({8})
- Nein, von der SPD habe ich dabei keinen gesehen,
übrigens in dem ganzen Verfahren nicht, lieber Kollege
Gunkel. In dem ganzen Verfahren bezüglich der Vorratsdatenspeicherung war die SPD komplett abgetaucht. Das
muss man hier sagen dürfen.
({9})
Wir als FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag hingegen haben uns immer für einen hohen Datenschutzstandard bei der Nutzung von Fluggastdaten eingesetzt,
und das tun wir auch heute noch. Deshalb haben wir im
Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass, sollte die EUKommission, wie im Stockholm-Programm angekündigt, einen Vorschlag vorlegen, das EU-US-Abkommen
gerade nicht der Maßstab sein darf, sondern dass wir darüber hinaus tätig werden müssen. Natürlich kann man
immer über das Datenschutzniveau streiten.
({10})
Aber - wenn ich mir noch einen Blick in die Geschichte
erlauben darf - ich muss feststellen, dass es eigentlich
nur besser werden kann, egal, was passiert. Daran arbeiten wir.
Der Bundesrat hat im Übrigen auf Initiative unter anderem von Baden-Württemberg und Hessen einen, wie
ich finde, sehr guten Beschluss gefasst, in dem der Bundesrat die EU-Kommission auffordert, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erneut zu prüfen. Die Länder haben es ebenso wie wir und die Bundesregierung erkannt:
Nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Vorratsdaten-Richtlinie ist der verfassungsrechtliche
Spielraum für solche anlasslosen Datenerhebungen minimal.
({11})
Für uns ist deshalb klar: Die anlasslose Erfassung der
Fluggastdaten ist ein weiterer Fall einer Vorratsdatenspeicherung.
({12})
Deshalb müssen wir sehr genau hinschauen, wie und ob
das überhaupt geht.
({13})
Die liberale Fraktion im Europaparlament hat bereits
Bedenken angemeldet. Deswegen werden wir hier gemeinsam mit den Ländern und mit der liberalen Fraktion
im Europäischen Parlament dafür eintreten, dass noch
einmal grundsätzlich überprüft wird, ob dieser Vorschlag
der Kommission weiterverfolgt werden kann.
({14})
Wir brauchen keine Nachhilfe in Sachen Datenschutz
und Grundrechte in Europa.
({15})
Uns wäre es lieber gewesen, Sie hätten 2004 unsere
Nachhilfe angenommen. Sie hätten sie nämlich gebraucht.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Piltz, Ihr jetzt geschasster Parteivorsitzender hat vor ein paar Jahren gesagt, Ihre Partei wolle
die Freiheitsstatue der Republik sein, und jetzt sind Sie
da angekommen, dass Sie sich die Vorratsdatenspeicherung einmal anschauen wollen. Von Ihrem Freiheitsdenken ist nichts übrig geblieben.
Es handelt sich nicht unbedingt um ein neues Problem. Seit Jahren gibt es schon die Übermittlung von
sensibelsten Fluggastdaten an die USA, Australien und
Kanada. Jetzt soll das Ganze auf die nächsthöhere Stufe
gehoben werden.
Bei den Verhandlungen werden auf schauspielerisch
mittelprächtige Weise Bedenken vorgetragen. Sie brauchen bei den Verhandlungen aber einen klaren Standpunkt, um etwas durchzusetzen. Das Problem ist, dass
Sie diesen Standpunkt nicht haben. Unser Standpunkt
hingegen ist klar: Wir lehnen eine Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich ab. So muss man in die Verhandlungen hineingehen.
({0})
Trotz aller Datensammelorgien, über die wir hier immer wieder sprechen, ist bis heute nicht belegt - das gilt
auch für die Vorratsspeicherung von Fluggastdaten -,
dass ein solches Vorgehen substanziell mehr Sicherheit
bringt. Diese Richtlinie bewirkt nicht nur eine anlasslose
Vorratsdatenspeicherung, sondern eine Kombination mit
einer Rasterfahndung. Das ist mit Blick auf Bürgerrechte
ein doppelter Horror. Deswegen müssen Sie diesen Vorschlag ablehnen und dürfen nicht so herumeiern.
({1})
Bei der jetzigen Fluggastdatensammlung ist es so - es
ist so weit richtig beschrieben worden -, dass die Daten
bei den Fluggesellschaften dezentral gespeichert werden. Die neue Qualität ist, dass die Speicherung nun
staatlich zentral erfolgen soll. Die Vorstellung, was man
mit diesen Datenmengen machen kann, ist der blanke
Horror. Welche Begehrlichkeiten damit geweckt werden,
kann man sich ausmalen. Das kennen wir von vielen anderen Datensammlungen. Auch deswegen muss man
diesen Vorschlag ablehnen. Die Linke unterstützt daher
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Es ist ganz interessant, dass sich die Bundesregierung
jetzt kritisch gibt. Sie sagt, die Sache sei schwierig und
man müsse darüber nachdenken. Sie haben sich im Innenausschuss allerdings stets geweigert, Ihre Verhandlungstaktik offenzulegen und darzulegen, wie Sie in die
Verhandlungen beispielsweise mit den USA hineingehen. Damals sind Sie reihenweise eingeknickt und sind
bis heute nicht bereit, Ihre Verhandlungstaktik offenzulegen. Es wäre eine gute Sache, Sie würden die Unterstützung des Parlamentes und der Opposition einholen.
Dann würden Sie nicht ganz so alleine dastehen. Wenn
Sie es ernst meinen würden, würden Sie es tun.
({3})
Kollege Binninger, Sie haben noch eine Schippe
draufgelegt und gesagt - Sie haben es in Frageform gekleidet; es ist aber klar, was Sie wollen -, dass man als
nächsten Schritt eine innereuropäische Regelung anstrebt und das umsetzt, was Großbritannien will: Auch
der Bahnverkehr und der Schiffsverkehr sollen mit aufgenommen werden. Von der FDP hört man diesbezüglich gar nichts. Von der selbst ernannten Freiheitsstatue
ist dazu kein einziges Wort an die Adresse der Hardliner
in der CDU/CSU zu hören.
({4})
Kollegin Piltz, Ihre Partei hat im Moment ein paar Probleme. Hier hätte die FDP wirklich die Chance, mit einer
klaren und nachvollziehbaren Linie ihr Profil zu schärfen. Das bedeutet aber, dass Sie sich gegen Ihren Koalitionspartner stellen müssen. Das trauen Sie sich nicht.
Sie trauen sich sowieso überhaupt gar nichts. Das ist das
Problem, das wir jetzt haben.
({5})
Kollegin Piltz, einen aufmunternden Satz kurz vor
Ostern: Sie haben in der Tat damit recht, dass die Liberalen im Europaparlament geschlossen - ich hoffe, das
bleibt so - angekündigt haben, dass sie das Ganze ablehnen werden. Das ist erfreulich. Das gilt übrigens auch für
die Vereinte Europäische Linke und die grüne Fraktion
im Europaparlament. Die Sozialdemokraten müssten in
diesem Punkt dazu beitragen - da haben Sie recht -, dass
auch die Sozialdemokraten im Europaparlament dagegen stimmen. Dann könnte man eine Mehrheit dagegen
erreichen; das wäre mehr als sinnvoll.
({6})
Peter Schaar hat recht: Er hat in dieser Woche sinngemäß gesagt, dass diese Koalition im Bereich des Datenschutzes - von anderen Bereichen ganz zu schweigen nichts Substanzielles auf den Weg gebracht hat. Deswegen ist es bald Zeit, diese Regierung abzulösen, auch aus
Datenschutzgründen.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag, den die Grünen
heute vorlegen, dient nur einem Zweck und einem Ziel,
nämlich dem der Effekthascherei und Skandalisierung.
({0})
Ihnen geht es nicht um einen sachlichen Problemaufriss;
Ihnen geht es nur darum, bewusst den Eindruck zu vermitteln, dass der Staat einer Sammelwut nachgehen
würde
Stephan Mayer ({1})
({2})
und einen riesigen „Datenpool“ - so haben Sie es wortwörtlich genannt - anlegen würde, um im Bedarfsfall
darauf zurückgreifen zu können.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, worum geht es konkret? Wenn man potenziellen islamistischen Terroristen rechtzeitig auf die Schliche kommen
will, gibt es nur zwei Möglichkeiten:
({4})
Man muss entweder ihre Kommunikationswege oder
ihre Reisewege ausfindig machen. Das sind die beiden
Möglichkeiten, denen man sich intensiv zuwenden muss.
Es ist aus meiner Sicht nach wie vor unerlässlich, dass
der Staat, insbesondere die Sicherheitsbehörden des
Staates, sowohl auf Telekommunikationsverbindungsdaten als auch auf Reiseverkehrsdaten zugreifen kann.
({5})
Es ist doch nicht so, dass Fluggastdaten noch nie gespeichert wurden. Ganz im Gegenteil: Fluggastdaten
werden schon heute gespeichert; es gibt bilaterale Abkommen der Europäischen Union mit den USA, Kanada
und Australien.
({6})
Jetzt ist die Frage, ob man die Speicherung der Fluggastdaten entsprechend erweitert.
({7})
Es gibt auch nationale Lösungen: Zum Beispiel unterhält Großbritannien ein eigenes System zur Fluggastdatenspeicherung. Ich glaube, man muss sich jetzt ohne
Schaum vorm Mund mit sachlichen Argumenten auseinandersetzen; darum geht es.
({8})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, es ist verfehlt, wenn Sie hier den Eindruck
erwecken, dass ein Vergleich mit den Telekommunikationsverbindungsdaten angemessen ist. Das trifft nicht
zu; Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. Man muss sich
wirklich einmal vor Augen halten, worum es geht: Jeder
Deutsche reist im Schnitt zweimal im Jahr mit dem
Flugzeug. Dagegen gibt es in Deutschland 147 Millionen Telefonanschlüsse; das heißt, jeder Deutsche verfügt
im Schnitt über knapp zwei Telefonanschlüsse. In
Deutschland fallen knapp 200 Milliarden Telefonminuten an.
({9})
Das heißt, jeder Deutsche telefoniert im Schnitt sechseinhalb Minuten pro Tag. Bei der Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten geht es also um eine
weitaus größere Menge als bei den Fluggastdaten.
({10})
Dies sollte man bei der Abwägung berücksichtigen.
({11})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
geht nicht um die Frage, ob sich die Europäische Union
eine Richtlinie zur Speicherung von Fluggastdaten gibt,
({12})
sondern ausschließlich um die Frage, wie sie gestaltet
sein wird. Es liegt jetzt noch keine fertige Richtlinie vor,
sondern ein Entwurf der Europäischen Kommission vom
3. Februar.
({13})
Jetzt wird man sich in aller Sachlichkeit und Ausgewogenheit und mit der notwendigen Zeit mit diesem Richtlinienentwurf auseinandersetzen.
({14})
Ich möchte ganz offen sagen: Ich bin dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich sehr dankbar, dass seine ersten Einlassungen zu diesem Thema, insbesondere bei der
Innenministerkonferenz am vergangenen Montag, sehr
ausgewogen und sachlich waren. Bestimmte Fragen sind
nun in aller Offenheit zu diskutieren: Ist es notwendig,
auch die Daten von innereuropäischen Flügen zu speichern? Es gibt Argumente dafür, und es gibt Argumente
dagegen. Dabei ist sicherlich vor dem Hintergrund der
Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit auch zu
berücksichtigen, um welche Menge von Daten es geht.
Sind dies überhaupt die entscheidenden Verkehrswege?
Oder gibt es, wenn jemand Übles im Schilde führt, nicht
alternative Verkehrswege oder Reisewege zum Fliegen,
Stichwort „Bahnverkehr“, Stichwort „Pkw“? Ich frage
also: Was bringt es überhaupt, die Fluggastdaten von innereuropäischen Flügen zu speichern?
Natürlich muss man auch offen über die Kostenfrage
sprechen. Die Speicherung pro Passagier pro Flug kostet
die Fluggesellschaft 10 Cent. Das sind, auf den Passagier bezogen, relativ geringe Kosten, aber in der Summe
durchaus bemerkenswerte Kosten. Also auch die Kostenfrage ist in diesem Zusammenhang zu eruieren.
Stephan Mayer ({15})
Auch die Speicherfrist ist ins Kalkül zu ziehen; das ist
schon angesprochen worden. Die schon jetzt vorhandenen bilateralen Abkommen sehen unter der Pseudonymisierung im Einzelfall sogar eine Speicherfrist von bis zu
15 Jahren vor. Meines Erachtens - ich mache keinen
Hehl aus meiner Meinung - ist eine Speicherfrist von
15 Jahren vollkommen überdimensioniert.
({16})
Abgesehen davon bringen auch die Daten, wenn sie einmal 10, 12, 13 Jahre alt sind, wenn es um die Präventionsarbeit oder die Ermittlungstätigkeit geht, aus meiner
Sicht ganz konkret relativ wenig.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
besteht überhaupt kein Grund, sich in irgendeiner Aufgeregtheit oder Skandalisierung über diesen Richtlinienentwurf zu echauffieren.
({17})
Wir haben genügend Zeit, uns sowohl im Innenausschuss als auch mit der Bundesregierung mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Deswegen ist aus meiner
Sicht der Antrag der Grünen zum einen, was den Zeitpunkt anbelangt, vollkommen verfehlt, und zum anderen, was die inhaltliche Schärfe anbelangt, vollkommen
deplatziert.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Mai 2011, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen eine fröhliche, eine schöne Osterzeit.
Die Sitzung ist geschlossen.