Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich.
Wir haben einige Mitteilungen, bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten. Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt aus dem
Kuratorium des Deutschen Historischen Museums
ausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Reiner Deutschmann vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Patrick Kurth werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die genannten Kollegen gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5
Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf die
dringliche Frage Nr. 5 auf Drucksache 17/5468
({0})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 28
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde
- Drucksache 17/5493 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann ({3}), Patrick
Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU ({4})
- Drucksache 17/5492 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten
- Drucksache 17/5485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth ({7}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO
in der „Global Health Governance“ stärken
- Drucksache 17/5486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz in Public Privat Partnerships im
Verkehrswesen
- Drucksache 17/5258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 29
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 254 zu Petitionen
- Drucksache 17/5501 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 255 zu Petitionen
- Drucksache 17/5502 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 256 zu Petitionen
- Drucksache 17/5503 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 257 zu Petitionen
- Drucksache 17/5504 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 258 zu Petitionen
- Drucksache 17/5505 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 259 zu Petitionen
- Drucksache 17/5506 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 260 zu Petitionen
- Drucksache 17/5507 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 261 zu Petitionen
- Drucksache 17/5508 ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Pläne der EU-Kommission zur stärkeren
Besteuerung von Dieselkraftstoffen
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
Spatz, Michael Link ({18}), Heinz
Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Strategie der Europäischen Union für den
Donauraum effizient gestalten
- Drucksache 17/5495 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Programm für eine nachhaltige, bezahlbare
und sichere Energieversorgung
- Drucksache 17/5481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({20})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Aktuelle Äußerungen des Bundesfinanzminis-
ters zur Umschuldung von EU-Ländern, die
den bis 2013 geltenden „Rettungsschirm“ in
Anspruch genommen haben
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 12 und die weiteren Tages-
ordnungspunkte verschieben sich um jeweils einen Platz
nach hinten.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan-
den? - Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober,
Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse,
Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot
der Präimplantationsdiagnostik
- Drucksache 17/5450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({21})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten René
Röspel, Priska Hinz ({22}), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ({23})
- Drucksache 17/5452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({24})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike
Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann,
Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik
({25})
- Drucksache 17/5451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({26})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Diese
Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der
Unterzeichner dieser drei Gesetzentwürfe verteilt wer-
den, weil wir hier - ich sage das insbesondere für die
Zuhörer und Zuschauer - keine Gesetzentwürfe der Re-
gierung oder der Fraktionen, sondern überfraktionelle
Gesetzentwürfe beraten werden.
Es wird vorgeschlagen, dass die Reden der Kollegin-
nen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berück-
sichtigt werden kann, in einem der Redezeit von fünf
Minuten entsprechenden Umfang zu Protokoll gegeben
werden können.1)
1) Anlage 3
Ich hoffe, Sie sind auch damit einverstanden. - Das
sieht so aus. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Ulrike Flach.
({27})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ziel unseres Gesetzentwurfes, getragen von 215 Kollegen aus allen Fraktionen des Bundestages, ist es, Paaren
mit genetischer Disposition für schwere Krankheiten zu
helfen. Die PID ist dabei ein Instrument im Rahmen der
künstlichen Befruchtung, das Wissen über Erkrankungen
der befruchteten Eizelle vermittelt, bevor sie in die Gebärmutter eingepflanzt wird.
Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli
2010 ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID genannt, in Deutschland legalisiert worden. Der Bundesgerichtshof hat drei Argumente für seine Entscheidung angeführt:
Erstens. Das Embryonenschutzgesetz wird durch die
PID nicht verletzt; denn auch der Arzt, der eine PID
durchführt, strebt die Herbeiführung einer Schwangerschaft an.
Zweitens. Die Zellentnahme zu Testzwecken stellt
kein Verwenden dar, das dem Embryonenschutzgesetz
zuwiderläuft.
Drittens. Die PID verfolgt denselben Zweck, den
§ 218 a StGB als Indikation zum Schwangerschaftsabbruch anerkennt. Danach ist der Abbruch nicht rechtswidrig, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen
und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren
angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eine
Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.
Die PID verfolgt genau diesen Zweck, liebe Kollegen, und zwar - weil der Embryo noch in der Petrischale
ist - auf weniger belastende Weise, als es sonst der Fall
ist. Deshalb, so der Bundesgerichtshof, wäre es ein Wertungswiderspruch, sie bei Strafe zu verbieten, während
der spätere und physisch und psychisch natürlich belastendere Abbruch zum gleichen Zweck erlaubt ist.
Ein Verbot würde die Betroffene von Gesetz wegen
zwingen, zur Abwendung einer Gefahr - Fehl- oder Totgeburt - eine weitaus gefährlichere Maßnahme, nämlich
den Schwangerschaftsabbruch nach der Einpflanzung,
über sich ergehen zu lassen, als es die Verwerfung des
Embryos in der Petrischale wäre.
Wenn es aber, liebe Kollegen, eine mildere Abwehr
des Notstandes gibt, dann darf der Gesetzgeber die Betroffene nicht in eine noch schwerere Notlage bringen.
({0})
Die Argumentation des Bundesgerichtshofes ist nicht
nur rechtlich nicht von der Hand zu weisen. Sie ist auch
ethisch begründbar. Es ist ethisch nicht verantwortbar,
der Frau ein Wissen - sogar unter Strafe - vorzuenthalten, das sie in die Lage versetzen würde, eine selbstbestimmte Entscheidung über die Einpflanzung zu treffen.
Alles andere wäre eine Schwangerschaft auf Probe.
Bei der Entscheidung über die PID geht es aber nicht
nur um die richtige Anwendung von Recht. Es geht vor
allem - das ist wichtig für uns - um Menschen in großer
Not. Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail, die ich
gern im Auszug zitieren möchte:
Meine Frau und ich haben bereits ein gesundes
Kind, aber leider haben wir beide einen Gendefekt.
Die letzten zwei Schwangerschaftseinleitungen
mussten getätigt werden, da unser Kind nicht lebensfähig war ({1}). Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft
es ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehlgeburt zu haben. … Wir hätten kein Problem, wenn
wir ein behindertes Kind hätten, aber bei unserer
Erbkrankheit gibt es für das Überleben nur eine geringe Chance.
Liebe Kollegen, ich lese Ihnen das deshalb vor, weil
es deutlich macht, für wen diejenigen, die für eine begrenzte Zulassung der PID sind, eintreten: für Menschen, die sehr oft am Rande der Verzweiflung stehen,
die sich sehnlichst ein Kind wünschen, die Hoffnung in
eine Zulassung der PID setzen und die sehr wohl - oft
auch aus tiefer christlicher Überzeugung - verantwortungsbewusst mit dieser ethischen Frage umgehen.
Was aber wollen wir, die für eine begrenzte Zulassung
sind? Auch wir öffnen nicht alle Türen für die PID. Es
gibt kein Recht auf PID, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie bleibt grundsätzlich verboten, aber es soll Ausnahmen geben.
Die erste Ausnahme soll gelten, wenn bei Eltern oder
bei einem Elternteil aufgrund genetischer Veranlagung
eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende
Erbkrankheit besteht, die zu einer Tot- oder Fehlgeburt
führt. Als hohe Wahrscheinlichkeit gelten international
25 bis 50 Prozent.
Zweite Ausnahme: wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere Erbkrankheit besteht, die sich aber
erst später manifestiert, also erst später ausbricht. Hier
grenzen wir uns von anderen ab, die sagen, eine spätmanifestierende Krankheit soll nur dann eine PID legitimieren, wenn sie innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes ausbricht. Das halten wir für eine willkürliche
Grenzziehung, die in der Realität nicht umzusetzen ist,
weil es unterschiedliche Krankheitsverläufe ein und derselben Krankheit gibt.
Eine begrenzte Zulassung der PID bedeutet keinen
ethischen und quantitativen Dammbruch. Das belegen
die Erfahrungen aus vielen anderen Ländern, die uns
umgeben. In Großbritannien gab es im Jahre 2008 ganze
214 Fälle, in denen PID angewandt wurde. Das sind
0,42 Prozent aller künstlichen Befruchtungen im Jahr. In
Frankreich waren es 320 Fälle. Der Deutsche Ethikrat
hat zu Recht in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung für die PID nicht automatisch zu einer Ausweitung führt. Neue Erkenntnisse können - das hat Frankreich gezeigt - sogar zu einer
Einschränkung führen. Es ist eben nicht die Rutschbahn,
die wir, wie immer prophezeit wird, anstreben, sondern
es ist ein rechtlich sicherer und verlässlicher Weg für die
Familien in Not.
({2})
In unserem Gesetzentwurf gibt es keinen Automatismus für eine Zulassung der PID. Wir haben bewusst auf
eine Liste von Krankheitsbildern verzichtet. Vielmehr
wollen wir jede einzelne Entscheidung einer Ethikkommission überlassen, die an eigens dafür lizenzierten Zentren eingerichtet werden soll. Damit kann die Ethikkommission individuell - das ist für uns wichtig - auf jedes
Paar und seine Not eingehen. Auch medizinische Fortschritte in Therapie und Behandlung können berücksichtigt werden. Wir wollen keine zentrale Kommission,
sondern entsprechend der föderalen Tradition unseres
Landes mehrere eigens lizenzierte Zentren. Damit wird
auch die Gruppe derjenigen Fachleute, die in die Entscheidung eingebunden werden, verbreitert.
Wir sehen mit Freude, dass sich sowohl der Ethikrat
- in einer zwar knappen Mehrheit - als auch die Akademie der Wissenschaften für eine begrenzte Zulassung
ausgesprochen haben. Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer stützt diese Auffassung,
wenn Professor Hepp schreibt, die Zulassung der PID sei
ethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaft
auf Probe. Selbst in der evangelischen Kirche gibt es
deutliche Stimmen, die sich für eine begrenzte Zulassung aussprechen.
Liebe Kollegen, ich bitte Sie, sich für unseren Entwurf zu entscheiden, weil er Menschen wie dem Paar,
dessen E-Mail ich eben vorgelesen habe, hilft, weil er
eine konsistente Rechtslage schafft und nicht dazu führt,
dass wir erneut eine Diskussion über den § 218 führen
müssen, und weil er nicht zu einem Dammbruch führt,
weder von der Fallzahl her noch hinsichtlich einer Aufweichung ethischer Standards. Es ist eine Entscheidung
zugunsten der Frauen und ihrer Familien, es ist eine Entscheidung gegen die Qual der Abtreibung, und es erleichtert die Entscheidung genetisch belasteter Eltern für
ein Kind.
Herzlichen Dank.
({3})
Dr. Günter Krings ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich werbe heute für ein konsequentes Verbot der
Präimplantationsdiagnostik. Die Befürworter, die sich
sicherlich ebenso wenig wie wir, die Antragsteller eines
Verbotes, die Entscheidung leicht gemacht haben - immerhin haben sich über 400 Abgeordnete des Deutschen
Bundestages bereits heute für einen der drei Anträge entDr. Günter Krings
schieden -, begeben sich nach meiner, nach unserer
Überzeugung auf ein sehr abschüssiges Terrain. Das belegen aus unserer Sicht Erfahrungen in den allermeisten
europäischen und außereuropäischen Ländern. Das, was
einmal als eingegrenzte Zulassung der PID begonnen
hat, ist in vielen Ländern ein Stück weit zulasten der
Embryonen gegangen, weil die Grenzen verschoben
worden sind.
Frankreich galt in der Tat bis vor einiger Zeit noch als
Beispiel für eine restriktive Zulassung, bis wir vor wenigen Wochen zur Kenntnis nehmen mussten, dass in
Frankreich bereits die Erzeugung eines Rettungsgeschwisterkindes speziell zum Zwecke der Stammzellspende für sein Geschwisterkind zugelassen worden ist.
Deshalb wollen wir die Rechtslage wiederherstellen,
wie sie aufgrund der Überzeugung der allermeisten Juristen sowie der allermeisten Abgeordneten dieses Hauses bis in den Juli 2010, also vor der Entscheidung des
Bundesgerichtshofes, gegolten hat: das Verbot der PID.
Das schlagen wir vor, weil wir der Überzeugung sind,
dass weder der Gesetzgeber noch eine Kommission oder
Kammer noch der einzelne Arzt über lebenswertes oder
nicht lebenswertes Leben entscheiden darf.
({0})
Wir sind der festen Überzeugung, dass derjenige, der
meint, PID eingrenzen zu können, dann auch klar sagen
muss, wen er ganz konkret ausgrenzen will. Wer PID
eingegrenzt zulassen will, muss dann auch offenlegen,
welche Formen der Erkrankung und welche Behinderungen in Zukunft aussortiert werden sollen.
Für uns ist der Embryo keine verfügbare Sache, die
man nach der Feststellung von Mängeln einfach verwerfen darf. Wir halten es mit dem Bundesverfassungsgericht, das sehr klar festgestellt hat: „Wo menschliches
Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“ Entscheidend dabei ist der Zeitpunkt des Beginns des
menschlichen Lebens. Nach unserer Überzeugung, nach
meiner persönlichen Überzeugung, ist die Verschmelzung von Ei und Samenzelle immer noch die größte Zäsur in dem Entwicklungsprozess des menschlichen Lebens. Wir dürfen bei der Festlegung des Beginns von
menschlichem Leben kein Risiko eingehen. Es ist sozusagen eine ethische Klugheitsregel, im Zweifelsfall für
das Leben - in dubio pro vita - zu entscheiden, und nicht
einen späteren Zeitpunkt anzunehmen, nur weil er bequemer ist, um bestimmte medizinische Maßnahmen zulassen zu können.
({1})
Dieser Satz „in dubio pro vita“ gilt, wie ich finde, in besonderer Weise für den Embryo in der Petrischale. Er ist
von Natur aus, anders als der Embryo im Mutterleib, besonders schutzlos. Deswegen ist der Gesetzgeber, deswegen sind gerade wir besonders gefordert, ihm Schutz
zu gewähren.
Meine Damen und Herren, mit allen Kollegen in diesem Hause sehen wir auch die schwierige Situation der
Eltern, die, etwa nach einer Fehlgeburt, den Wunsch
nach einem gesunden Kind haben. Diesen Wunsch können wir natürlich verstehen. Das ist übrigens auch der
Grund, warum wir von Anfang an klar gesagt haben,
dass wir in Bezug auf die Eltern keine Strafandrohung
vorsehen wollen. Es gilt aber: Das Leid dieser Eltern
entspringt nicht einer existenziellen Konfliktsituation,
wie sie bei manchen Schwangerschaften vorliegt. Die
PID ist ein im Labor vorgenommener, von Medizinern
geplanter und gesteuerter Vorgang. Wer das mit den
Konfliktsituationen vergleicht, die Schwangere vielleicht auch bei ungeplanten Schwangerschaften erleben,
der geht an deren Situation voll vorbei.
({2})
Ebenfalls gilt: So verständlich der Wunsch nach einem
gesunden Kind ist - Wünsche gehen nicht vor Rechte.
Der Wunsch nach einem Kind kann nicht das Lebensrecht des Embryos überspielen.
Lassen Sie mich noch ein letztes Argument vortragen:
Das Embryonenschutzgesetz sieht aus gutem Grund vor,
dass in jedem Zyklus einer Schwangeren maximal drei
Eizellen befruchtet werden können. Alle Experten sagen
allerdings: Wenn man überhaupt die Chance haben will,
in den Fällen der PID erfolgreiche Einpflanzungen vorzunehmen, um später ein Kind gebären zu können,
müsste diese Zahl verdreifacht werden, also von drei auf
neun gehen.
Der Antrag des Kollegen Röspel sieht das in aller Offenheit vor. Das ist an dieser Stelle zumindest ein ehrlicher Ansatz. Ich befürchte allerdings Folgendes: Wenn
wir diesen Weg gehen, führt das dazu, dass wir die
Menge der sogenannten überschüssigen befruchteten Eizellen deutlich vermehren und dass die Begehrlichkeiten
aus der wissenschaftlichen Forschung, ja selbst aus der
Wirtschaft, stark anwachsen werden. Dem müssen wir
einen Riegel vorschieben.
({3})
Herr Kollege.
Lassen Sie uns gemeinsam verhindern, dass Menschen zu Richtern werden über lebenswertes und nicht
lebenswertes Leben. Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag auf ein Verbot der PID.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Uns wurden bisher zwei Gesetzentwürfe vorgestellt. Die ihnen zugrunde liegenden Positionen sind,
glaube ich, jede für sich sehr gut begründbar und nachvollziehbar. Diese Positionen stellen in dieser Debatte
aber auch zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Pole
dar. Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich hinzufügen:
Diese beiden Positionen spiegeln das Dilemma wider, in
dem ich mich seit vielen Jahren bewege.
Auf der einen Seite kann ich die Sorgen, die Nöte, die
Ängste und das Leid derjenigen sehr gut verstehen, die
bereits ein Kind wegen einer Behinderung oder einer
schweren Erkrankung verloren haben. Ich kann auch
verstehen, wenn diejenigen, die all ihre Kraft und Liebe
für das Leben mit einem behinderten Kind aufbringen
müssen und wollen, sagen: Wir haben keine Kraft für ein
zweites Kind mit einer Behinderung, aber wir wünschen
uns, noch ein gesundes Kind zu bekommen. Wie viele
andere habe auch ich lange mit mir gerungen, welche
Lösung wir diesen Menschen anbieten können. Das individuelle Leid ist nachvollziehbar.
Dieses Thema haben wir im Rahmen einer EnqueteKommission bereits vor einem Jahrzehnt behandelt. Wir
haben überlegt, wie wir Menschen mit bestimmten
schwerwiegenden Erkrankungen oder Erbkrankheiten
helfen können, ohne Grenzen zu überschreiten. Wir haben damals Betroffene gefragt. Einige haben gesagt: Ja,
wir haben eine schwerwiegende Erbkrankheit oder
Krankheit, aber das ist für uns kein Grund, die Präimplantationsdiagnostik zuzulassen. Vielleicht ist das
eine der zentralen Fragen: Aus wessen Sicht ist eine Erkrankung schwerwiegend? Aus der Sicht des Betroffenen, der mit dieser Krankheit zurechtkommen muss,
oder aus Sicht desjenigen bzw. derjenigen, der bzw. die
mit einem Betroffenen leben wird? Diese unterschiedlichen Sichtweisen führen zu einer großen Differenz bei
der Beurteilung der Frage, was schwerwiegend ist.
Ich finde nicht, dass der Gesetzentwurf von Frau
Flach und weiteren Kolleginnen und Kollegen eine Lösung des Problems darstellt. Auch die Enquete-Kommission hat dieses Problem nicht lösen können. Ich glaube,
dass die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in individuellen, nachvollziehbaren Fällen insgesamt zu einer
Ausweitung des Kataloges der Fälle führen wird, in denen eine Anwendung erlaubt ist. Ich glaube, dass das zu
einer Grenzüberschreitung führen wird, und ich verstehe
auch nicht, warum in § 3 a Abs. 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs der Gruppe Flach eine quantitative Ausweitung
vorgesehen ist. Demzufolge wollen Sie ohne jede Vorbedingung eine Präimplantationsdiagnostik bei dem Verdacht zulassen, dass eine Schädigung zu einer Fehl- oder
Totgeburt führen kann. Diese Regelung würde dazu führen, dass künftig bei jeder künstlichen Befruchtung die
PID anwendbar wäre. Allein deshalb halte ich Ihren Entwurf für ethisch nicht vertretbar.
Auf der anderen Seite bedeutet ein komplettes Verbot
der Präimplantationsdiagnostik, dass Menschen, bei denen aufgrund ihrer Veranlagung ein höheres Risiko besteht, eine Fehl- oder Totgeburt zu erleiden, keine Lösung angeboten werden kann. Insbesondere diese
Gruppe haben wir bei unserem Gesetzentwurf im Blick.
Wir vertreten keine mittlere Position. Vielleicht ist das
eher eine vermittelnde Position zwischen den beiden anderen Entwürfen. Uns geht es darum, dass Frauen, die
aufgrund ihrer genetischen Veranlagung ein höheres Risiko einer Fehl- oder Totgeburt in sich tragen, weil der
Embryo mit hoher Wahrscheinlichkeit geschädigt ist, die
Möglichkeit erhalten, ein lebensfähiges Kind auszutragen. Wir stellen nicht die Frage, ob ein Leben gelebt
werden darf, sondern wir stellen die Frage, ob ein Leben
gelebt werden kann. Nur in diesen und in keinen anderen
Fällen wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass der
Frau nicht der Embryo eingepflanzt wird, in dem unwiderruflich festgelegt ist, dass er nicht lebensfähig ist. Wir
wollen, dass der Embryo ausgesucht werden kann, der
eine Überlebenschance hat. Das bedeutet, dass nicht entschieden wird über die Frage „Lebenswert oder lebensunwert?“, sondern wir stellen die Frage der Lebensfähigkeit ins Zentrum.
({0})
Wir wollen mit unserem Entwurf Menschen, die von
Natur aus keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, einen
lebensfähigen Embryo zu bekommen, in die Lage versetzen, Eltern zu werden. Ich finde, das ist ethisch rechtfertigbar. Das ist eine begrenzte Anwendung der Präimplantationsdiagnostik, die wir als zulässig ansehen.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Grenzbereiche des menschlichen Lebens,
wo der Gesetzgeber zu äußerster Behutsamkeit aufgefordert ist. Ich glaube, unser Thema ist so ein Grenzbereich.
Wie viel Tragik, wie viele Tränen, wie viel Leid stehen
hinter dieser Debatte? Für uns, die Unterstützer des Entwurfs der Kolleginnen und Kollegen Flach, Reimann,
Hintze, Montag und Sitte, ist jedes Leben gleich wertvoll, egal ob es von sehr kurzer Dauer ist oder ob es
lange dauert, egal ob es durch schwerwiegende Behinderung beeinträchtigt ist oder ob ihm Gesundheit geschenkt ist.
Die Frage, die sich uns stellt, ist eine andere. Wir ringen um die Frage: Wie nehmen wir uns der Not von
Frauen an, die sich sehnlich ein Kind wünschen, aber
über denen das Verhängnis einer schweren erblichen
Vorbelastung schwebt, zum Beispiel der Not einer Frau,
die erlebt hat, wie ihr Bruder an einer genetisch bedingten Erstickungskrankheit gestorben ist, und die nun
große Angst vor einer Schwangerschaft hat? Diese
Angst bedrückt sie und macht ihren Konflikt aus. Wie
lösen wir diesen Konflikt auf? Der Deutsche Ethikrat hat
lange darüber beraten. Auch die Nationale Akademie der
Wissenschaften, die Juristen, die Biologen, die Mediziner und die Embryologen, haben lange darüber beraten.
Sie raten uns - der Ethikrat mit Mehrheit, die Nationale
Akademie der Wissenschaften einheitlich -: Lasst für
diesen Personenkreis diese wichtige medizinische Hilfe
zu. Ich sage uns im Deutschen Bundestag: Lassen Sie
uns diesem Rat folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung, unser Grundgesetz,
das Gebot der Nächstenliebe und unsere Verantwortung
gebieten es, die Chancen der Medizin zu erlauben und
diesen Frauen das Ja zum Kind zu erleichtern. Wir leben
in einem freiheitlichen Rechtsstaat; darauf sind wir stolz.
Ich meine, in einem freiheitlichen Rechtsstaat ist es ein
Gebot der Menschenwürde, dass es Frauen erlaubt ist,
verfügbares Wissen, das ihre seelische und körperliche
Gesundheit betrifft, zu erhalten. Stellen Sie sich vor, Sie
wären der verantwortliche Arzt und Sie wüssten, dass
der zu transferierende Embryo zur Totgeburt führen
würde. Ich glaube, Ihr eigenes Gewissen und das ärztliche Standesrecht würden es Ihnen verbieten, diesen
Embryo zu transferieren.
Was schließen die Befürworter des Totalverbotes daraus? Sie sagen: Wir müssen ihnen das Wissen verbieten.
Allen, die sich mit Geschichte beschäftigt haben, ist klar:
Verbot von Wissen ist in der Geschichte der Menschheit
oft versucht worden, und es ist immer gescheitert. Ich
finde es moralisch, ein Wissen, das für die körperliche
und seelische Gesundheit von Bedeutung ist, zuzulassen.
Ich finde, es steht einem Rechtsstaat gut an, etwas mehr
Vertrauen in die Selbstverantwortung der betroffenen
Frauen und Ärzte zu haben, als es bei den Verbotsbefürwortern der Fall ist.
({1})
Was sind das für Frauen? Das sind Frauen, die sich
sehnlich ein Kind wünschen. Das sind Frauen, die oft
schon eine oder zwei Totgeburten hinter sich haben. Das
sind Frauen, die den schweren Weg einer künstlichen
Befruchtung gehen. Manches in der Debatte klingt so,
als gäbe es in Zukunft überhaupt keine natürliche Zeugung mehr - das wäre ja ein Drama -, aber dazu kommt
es nicht. Es wird immer einen sehr kleinen Personenkreis betreffen. Auch bei all den Versuchen, Negativbeispiele zu finden - wir finden für alle Lebensbereiche Negativbeispiele, selbst für solche, die uns wichtig und
heilig sind -, muss man doch feststellen, dass nach zwei
Jahrzehnten dieser medizinischen Hilfe in den zivilisierten Ländern, in denen sie zugelassen ist, der Nutzen
überwiegt.
Es ist eben juristisch argumentiert worden, das
Grundgesetz unseres Rechtsstaates lege uns das Abwägungsverbot ans Herz. Dies ist eine Argumentation, die
mich geradezu erschreckt. Wir können doch nicht zulassen, zu sagen: Es gibt ja noch gar keinen Konflikt in der
Petrischale. - Natürlich gibt es ihn. Wir finden es nur
besser, dass dieser Konflikt aufgelöst wird, wenn er noch
aufzulösen ist. Wir wollen ihn gar nicht erst im Mutterleib entstehen und dann auf dem Rücken der Frauen und
des werdenden Kindes austragen lassen. Wir als Gesetzgeber haben, so denke ich, die Pflicht, den betroffenen
Frauen und Eltern diese Konfliktauflösung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu gestatten, und dürfen nicht das
Drama einer Abtreibung abwarten.
({2})
Ein letzter Gedanke. Man muss natürlich eine Entscheidung treffen; Kollege Krings hat das angesprochen.
Man muss die Entscheidung treffen, ob man einen Unterschied zwischen einem Menschen wie dir und mir und
einer entwicklungsfähigen Zelle macht. Wer diesen Unterschied nicht macht und sagt: „Eine entwicklungsfähige Zelle ist wie ein Mensch“, der muss sofort entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen
und die Spirale verbieten. Da werden nämlich jährlich
entwicklungsfähige Menschen zu Hunderttausenden aus
dem Körper gespült. Wer diesen Unterschied aber
macht, den übrigens auch die Biologie, die Medizin und
unser ethisches Empfinden machen,
({3})
der muss sagen: Das Gebot der Menschenwürde - um der
betroffenen Eltern und der betroffenen Frauen willen lässt uns zu einem verantwortlichen Umgang mit der
PID Ja sagen. - Dazu möchte ich Sie einladen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Birgitt Bender ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche
wundern sich, dass ich für ein Verbot der PID eintrete.
Denn ich bin bekannt als eine Frau, die immer dafür gekämpft hat, dass der Staat auf den Zwang verzichtet, aus
einer unerwünschten Schwangerschaft ein unerwünschtes Kind werden zu lassen, die also für das Entscheidungsrecht der Frau eingetreten ist. Inzwischen ist es sowohl Gesetz als auch gesellschaftlicher Konsens, dass
der Staat unter gewissen Rahmenbedingungen in den
ersten drei Monaten einer Schwangerschaft eine Abtreibung nicht kriminalisiert. Gleichzeitig bin ich für ein
Verbot des Genchecks im Reagenzglas. Ich sehe darin
keinen Widerspruch. Das eine ist die geduldete Entscheidung gegen unbekanntes Leben im eigenen Körper, weil
einer Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt das Leben
mit einem Kind nicht zumutbar erscheint. Das andere ist
die bewusste und gewollte, nämlich künstliche Erzeugung von mindestens acht Embryonen zu dem Zweck
des Aussortierens. Diejenigen Embryonen, die nicht gesund genug erscheinen, um dem Kinderwunsch zu genügen, werden verworfen, wie es heißt.
Ja, es geht dabei um den individuell durchaus nachvollziehbaren Wunsch nach einem gesunden Kind.
Aber das Verfahren der PID ist letztlich eine Entscheidung - darum sollte sich niemand herumdrücken - über
den Wert von jeweils mindestens achtfachem Leben.
Herr Hintze, es geht dabei nicht um das Wissen. Wir
wollen nicht die genetische Beratung, die potenzielle Eltern um ihr Risiko wissen lässt, verbieten. Worum es uns
geht, ist die Option auf Selektion. Diese würde unsere
Gesellschaft verändern. Deswegen wollen wir sie verhindern.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sollten näher hinschauen, was das Versprechen eines gesunden Kindes
für die betroffenen Frauen bedeutet. Die Hormonbehandlung ist mit hohen Risiken verbunden. Außerdem
ist sie intensiver als bei einer normalen Reagenzglasbefruchtung, weil man für dieses Verfahren mehr Eizellen
braucht. Höchstens zwei von zehn Frauen haben nachher
überhaupt ein Kind. Die wenigen Schwangerschaften,
die entstehen, sind häufig Mehrlingsschwangerschaften.
Das Risiko von Frühgeburten ist hoch. Machen wir uns
doch nichts vor: Es findet bei solchen Schwangerschaften eine engmaschige pränataldiagnostische Überwachung statt, und späte Abtreibungen sind mitnichten ausgeschlossen. Das sehen wir in anderen Ländern.
({1})
Wieso, frage ich die Befürworter der PID, soll eine Frau
in Zukunft eigentlich den Mut finden, sich für ein absehbar behindertes Kind zu entscheiden, wenn sie Anwürfe
fürchten muss, die da lauten: Das hätte doch nicht passieren müssen?
({2})
Einige hier im Haus mögen in der PID einen Zugewinn an Freiheit für die Frauen erkennen. Ich sehe in
erster Linie die Gefahr hohen sozialen Drucks für
Frauen, sich einem solchen Verfahren zu unterziehen,
und für die Gesellschaft als Ganzes den drohenden Verlust der Bereitschaft zum Miteinander, egal wie gesund,
krank oder behindert wir sind. Beide Tendenzen möchte
ich gerne verhindern.
({3})
Das Wort erhält die Kollegin Priska Hinz.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PID
ist seit dem Gerichtsurteil im letzten Jahr erlaubt und damit völlig ungeregelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wenn
man eine Regelung trifft, soll man dann wieder zu dem
Verbot zurückkehren, von dem wir alle annahmen, dass
es galt, oder soll man die PID zulassen? Ich tue mich
schwer, die PID wieder vollständig zu verbieten, weil
ich sehe, dass es durchaus einzelne Fälle von Paaren
gibt, denen man den medizinischen Fortschritt, den es
mit der PID gibt, nicht vorenthalten sollte. Es ist aber
eine schwierige Gratwanderung.
Ich möchte nicht, dass Frauen begründen müssen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt bringen, obwohl
die PID erlaubt ist. Außerdem möchte ich nicht, dass die
Auffassung bei uns gesellschaftsfähig wird, dass man
mit dieser Krankheit leben kann, mit jener nicht. Ich
möchte auch nicht, dass sich Behinderte in unserer Gesellschaft ausgegrenzt fühlen. Deswegen geht es in unserem Gesetzentwurf nicht um die Frage, ob das Leben mit
einer Krankheit oder Behinderung lebenswert ist, sondern um die Frage, ob ein Leben lebensfähig, überlebensfähig ist. Damit wollen wir Paaren die Möglichkeit
eröffnen, überhaupt Kinder zu bekommen, die sonst aufgrund einer genetischen Vorbelastung nur Fehl- oder
Totgeburten zu erleiden hätten.
Frau Flach, ich fand es interessant, dass Sie aus der
E-Mail, die auch wir bekommen haben, zitiert haben. Die
Frau, die da geschrieben hat, plädiert für die Variante unseres Gesetzentwurfs; denn sie hat eine genetische Vorbelastung, die zu Tot- und Fehlgeburten führt. Genau das
berücksichtigen wir in unserem Gesetzentwurf. Die betroffene Frau plädiert nicht für die PID, um generell
schwere Behinderungen auszuschließen.
({0})
Mit unserem Gesetz wären ihr die entsprechenden Möglichkeiten gegeben.
Ich finde, dass Ihr Gesetzentwurf, Frau Flach und
Herr Hintze - ich habe länger mit Ihnen darüber diskutiert -, deshalb zu weit geht, weil ich die Formulierung
„schwere Behinderungen zu erkennen“ für allzu dehnbar
halte. Was ist eine schwere Behinderung? In Großbritannien ist das inzwischen die erbliche Veranlagung für eine
Darmkrebserkrankung, die aber heilbar ist. Es kann doch
nicht in unserem Sinne sein, dass die PID bei solchen
Fällen angewendet wird.
({1})
Sie sollte auch nicht bei spätmanifestierenden Krankheiten angewendet werden, wie es in Ihrem Gesetzentwurf
steht. Das ist bei uns im Gendiagnostikgesetz aus guten
Gründen verboten. Wir hätten dann zwei Rechtssysteme,
die sich diametral gegenüberstünden. Es kann doch nicht
im Sinne des Gesetzgebers sein, dass die Diagnose einer
spätmanifestierenden Krankheit im Rahmen der Pränataldiagnostik ausgeschlossen wird - man kennt den
medizinischen Fortschritt gar nicht; wir wissen nicht, ob
diese Krankheit in 20 oder 30 Jahren therapierbar ist -,
während wir bei der PID Embryonen verwerfen. Das
halten wir für grundfalsch.
({2})
Ich möchte noch zu dem Argument kommen, dass
durch die Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen verhindert werden. Wenn wir ins Ausland sehen, dann erkennen wir: Dem ist mitnichten so. Wir wissen aufgrund
entsprechender Daten, dass in 52 Prozent der Fälle, in
denen die PID durchgeführt wird, hinterher auch die Pränataldiagnostik durchgeführt wird und dass in Ländern
Priska Hinz ({3})
wie Frankreich die Abbruchrate steigt, obwohl dort die
PID eingeführt wurde. Das heißt: Es ist nicht so, dass
Abbrüche dadurch vermieden werden.
In Deutschland erfolgten 2010 3 Prozent aller Abbrüche als Spätabbrüche aufgrund medizinischer Indikationen. Das heißt doch, dass - und das wissen wir auch sehr oft erst im Verlauf der Schwangerschaft spontane
Fehlbildungen entstehen. Diese kann man in der Petrischale überhaupt nicht erkennen. Von daher würde auch
in Deutschland, wenn die PID umfassend eingeführt
würde, hinterher eine Pränataldiagnostik stattfinden, und
Spätabbrüche wären trotzdem Alltag und Wirklichkeit.
Von daher ist die PID hier kein geeignetes Mittel.
({4})
Aus all dem folgt für mich: In einzelnen Fällen, dann,
wenn wir abgrenzen können - das ist medizinisch möglich -, dann, wenn Fehl- und Totgeburten entstehen würden, können wir aufgrund des medizinischen Fortschritts
helfen, und hier sollten wir Hilfe auch nicht verweigern.
Wir sollten aber keine Ausdehnung zulassen, und wir
sollten nicht entscheiden, was lebenswert oder nicht lebenswert ist. Vielmehr sollten wir uns für die Embryonen entscheiden, die lebensfähig sind. Ich glaube, eine
solche Entscheidung könnten wir als Gesetzgeber in der
Gesellschaft auch gut vertreten.
Danke schön.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Carola Reimann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Präimplantationsdiagnostik begleitet mich seit
Beginn meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete.
Meine allererste Rede habe ich im Oktober 2000 genau
zu diesem Thema gehalten, allerdings zu nachtschlafender Zeit und vor relativ leerem Haus. Seitdem hat sich
einiges in der Medizin, aber noch mehr in der Rechtsprechung getan. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes
vom Juli letzten Jahres ist in Deutschland in Sachen PID
derzeit alles erlaubt. Genau das wollen wir alle hier im
Hause nicht. Deswegen plädiert meine Gruppe für eine
begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Zu
diesem Zweck möchten wir das Embryonenschutzgesetz
ändern.
Unser Entwurf sieht Folgendes vor: Die PID wird im
Embryonenschutzgesetz grundsätzlich verboten. Davon
kann aber in zwei Ausnahmesituationen abgewichen
werden, und zwar erstens wenn aufgrund einer erblichen
Vorbelastung eines Elternteils eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Kind ebenfalls diese schwerwiegende Erberkrankung aufweisen wird, oder zweitens
wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Totgeburt oder
Fehlgeburt aufgrund einer schwerwiegenden genetischen Schädigung des Embryos droht. Dann soll die
Möglichkeit einer PID im Einzelfall gegeben werden,
wenn eine Ethikkommission nach Beratung des individuellen Falles zu einem positiven Votum kommt, und
dann auch nur unter restriktiven Bedingungen und natürlich nur in lizenzierten Zentren. Eine Präimplantationsdiagnostik darf nur nach einer medizinischen und
psychosozialen Beratung und natürlich nur durch entsprechend spezialisiertes Fachpersonal durchgeführt
werden.
Kolleginnen und Kollegen, ich bin für eine begrenzte
Zulassung der PID, weil ich es schon immer unangemessen und schwer erträglich fand, den betroffenen Paaren
keinerlei Hilfe anbieten zu können, auch dann nicht,
wenn sich die Frau auf die zusätzlich belastende künstliche Befruchtung einlässt. Das ist, Kollege Krings, kein
bequemer Weg. Denn es handelt sich um Paare, bei denen die Frauen auch auf „normalem“ Weg schwanger
werden könnten. Bisher lässt man diese Paare sehenden
Auges, was ihr Risiko angeht, in einen Schwangerschaftskonflikt laufen. Gerade solche Schwangerschaften werden dann intensiv mit Diagnostik begleitet, was
bei einem positiven Befund zu einem schwerwiegenden
Konflikt führt. Das ist nicht wegzudiskutieren. Ich finde,
eine Schwangerschaft auf Probe ist Frauen nicht zuzumuten. Das halte ich für frauenverachtend.
({0})
Das ist vermeidbares Leid.
Die Kollegen Röspel und Hinz wollen die Präimplantationsdiagnostik noch stärker als wir begrenzen. Diese
Begrenzung halte ich jedoch für höchst problematisch.
Mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Die Deutsche
Gesellschaft für Humangenetik beurteilt den Gesetzentwurf der Kollegen folgendermaßen - ich zitiere -:
Ein solcher Entwurf geht leider an der Realität der
genetischen Beratung und gänzlich an der Lebenssituation betroffener Familien vorbei. Es ist nicht
richtig, dass nur in seltensten Fällen zu erwarten ist,
dass eine genetische Disposition zum Tod des Kindes nach etwa zehn oder elf Monaten führt.
Das hätte nach Meinung der Humangenetiker eine nicht
vertretbare Ausgrenzung von hochbelasteten Familien
zur Folge. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, weder eine Liste von Erkrankungen zu erstellen noch Ausgrenzungen einzelner Erkrankungen - das gilt auch für
spätmanifestierende Erkrankungen - vorzunehmen. Eine
Begrenzung auf ein bestimmtes Lebensstadium ist meiner Meinung nach medizinisch unrealistisch und ethisch
oft problematisch.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, es gibt kein Recht auf ein
gesundes Kind; das ist klar. Es gibt aber auch die medizi11952
nischen Möglichkeiten. Für mich steht die Frage im
Raum, mit welchem Recht wir als Gesetzgeber die Nutzung medizinischer Möglichkeiten und Hilfe nicht nur
verweigern, sondern Ärzten und Paaren unter Strafe verbieten wollen. Ich meine, in diesem Fall haben wir als
Gesetzgeber dieses Recht nicht. Viele der Betroffenen
haben eine unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich.
Deswegen wollen wir Eltern mit genetischer Disposition, die einen Kinderwunsch haben und bereit sind, eine
zusätzlich belastende künstliche Befruchtung auf sich zu
nehmen, im Einzelfall die Nutzung der Präimplantationsdiagnostik ermöglichen.
Danke.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Schmidt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte gehört zu den Debatten, die am schwierigsten zu führen sind und in denen es sehr schwierig ist,
eine Entscheidung zu treffen. Denn keine einzige Entscheidung kann allen gerecht werden. Auf der einen
Seite steht das Leid der betroffenen Eltern, die genetisch
vorbelastet sind und den Wunsch nach einem gesunden
Kind haben. Auf der anderen Seite steht die Angst, dass
wir Grenzen überschreiten. Ich glaube, die Zerrissenheit
in der Debatte und auch die Breite dieser Debatte spiegeln sich in allen drei Gesetzentwürfen, die heute zur
Diskussion stehen, wider. Denn auch diejenigen, die für
die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sind, wollen keine unbegrenzte Zulassung; sie ringen vielmehr
um die Grenzen. Das bewegt alle in der Debatte. Es zeigt
sich, dass es sehr schwierig ist, die Entwürfe - auch die,
die eine begrenzte Zulassung vorsehen - mit dem geltenden Embryonenschutzgesetz in Einklang zu bringen.
1990 hat der Bundestag sich in der Debatte und mit
der Entscheidung über das Embryonenschutzgesetz genauso schwergetan wie in der heutigen Debatte. Aber
über 20 Jahre hat getragen, dass wir mit dieser Entscheidung den Beginn der Würde und der Schutzwürdigkeit
des menschlichen Lebens von Anfang an festgelegt haben. Das halte ich für richtig. Wenn man mich fragt, ob
von einer Entscheidung zur begrenzten Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik auch die Würde des einzelnen Embryos und damit des menschlichen Lebens, das
schließlich ein Prozess ist - es ist nicht einfach da, sondern es entwickelt sich -, betroffen ist, dann sage ich eindeutig Ja. Es ist die Würde der Embryonen betroffen, die
nach einer Untersuchung verworfen werden, weil sie ein
hohes Risiko von schweren Erkrankungen oder Behinderungen aufweisen. Aber es ist auch die Würde desjenigen
Embryos betroffen, der sich nach einer PID weiterentwickeln darf; denn er darf sich nur weiterentwickeln, weil
er keine genetischen Vorbelastungen und Einschränkungen aufweist. Für mich ist damit das Prinzip eingeschränkt, dass jedes Leben sich um seiner selbst willen
entwickeln darf.
({0})
Ich weiß, dass es schwierig ist, zu argumentieren - auch
die Kollegin Reimann hat das gesagt -, dass es kein
Recht auf ein gesundes Kind gibt. Die Eltern, die betroffen sind, wollen das nicht hören. Aber ich weiß wohl,
dass es ein Recht des Kindes gibt, um seiner selbst willen geliebt zu werden und um seiner selbst willen zur
Welt gekommen zu sein.
({1})
Deshalb bedeutet ein Abgehen von dem, was in den letzten 20 Jahren für uns gegolten hat, für mich einen Paradigmenwechsel in unserem Wertekanon. Ich negiere dabei überhaupt nicht die Wünsche von Eltern, die durch
diese Methode die Hoffnung haben, vielleicht ein erblich
nicht belastetes Kind zur Welt zu bringen.
Ich persönlich habe auch viele Briefe bekommen und
Gespräche mit Eltern behinderter Kinder geführt und deren Sorge und Furcht erfahren, ob denn ihr behindertes
Kind das gleiche Recht hat, zu leben wie andere, ob ihr
behindertes Kind die gleiche Wertigkeit hat, zu leben
wie andere. Ich habe auch schwerbehinderte und schwer
kranke Menschen getroffen, die sagen: Werden wir nicht
durch eine solche Diskussion auf unsere Defizite beschränkt? Haben wir nicht das Recht, genauso teilzuhaben? Wir betrachten unser Leben auch mit seinen Behinderungen und Einschränkungen als lebenswert. Wir
wollen leben, wir wollen teilhaben, und wir wollen mitmachen. - Ich gestehe Ihnen, Herr Hintze, zu und weiß,
dass auch Sie das nicht anders sehen. Wenn wir aber die
Präimplantationsdiagnostik nach Abwägung aller Argumente zulassen, dann ist für mich ganz eindeutig, dass
bei der Präimplantationsdiagnostik die Selektion am Anfang steht. Der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zu
bringen, setzt voraus, dass dem Leben, das nicht die entsprechenden Eigenschaften hat, das Recht genommen
wird, sich weiterzuentwickeln. Das ist für mich der
Hauptgrund, warum ich für ein generelles Verbot bin
und warum ich dafür bin, dass die bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt wird, und zwar in dem Geist, in
dem der Deutsche Bundestag 1990 das Embryonenschutzgesetz auf den Weg gebracht hat.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Patrick Meinhardt erhält nun das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Frage der Präimplantationsdiagnostik
ist ein ethisch hochsensibles Thema. Deswegen ist es
auch gut, dass wir uns im Deutschen Bundestag Zeit für
eine ausführliche, inhaltstiefe Debatte nehmen. Jeder
von uns ist bei dieser ganz schwierigen EntscheidungsPatrick Meinhardt
findung ein Suchender und ringt um eine Lösung, die
den Lebensschutz des Embryos als Grundlage seiner
ethischen Entscheidungsfindung sieht. Zugleich bringt
es aber auch der Präses der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Nikolaus Schneider, auf den Punkt, wenn
er formuliert - ich zitiere -:
Ich habe viel Sympathie für das Bestreben, die PID
unter eng gefassten Bedingungen zuzulassen, sie
also nur dann zu erlauben, wenn die Eltern die Anlage zu schwersten Erbkrankheiten in sich tragen
und die stark begründete Gefahr besteht, dass sie
diese Krankheiten an ihr Kind weitergeben.
Berechtigterweise formuliert er dann weiter:
Natürlich besteht die Gefahr, dass jede gesetzliche
Eingrenzung nach und nach ausgehöhlt wird, deshalb muss ein Gesetz in Sachen PID sehr sorgsam
bedacht werden.
Genau daran orientiert sich der Gesetzentwurf zur äußerst eng begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik; denn es ist ein Gebot der Menschlichkeit,
auch das harte Schicksal der Eltern zu berücksichtigen,
die die Anlagen schwerster Erbkrankheiten in sich tragen.
Vor diesem Hintergrund haben wir, die Initiatoren
dieses Gesetzentwurfs - René Röspel, Priska Hinz, Norbert Lammert und ich -, uns dafür entschieden, bei unserem Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit des Embryos in
den Mittelpunkt zu stellen. Bei Paaren, die die genetische Veranlagung dafür haben, dass die Gefahr einer
Totgeburt oder eines frühen Todes des Kindes besteht,
soll eine Präimplantationsdiagnostik ausnahmsweise,
unter strengen Auflagen, mit Beratungspflicht in einem
lizenzierten Zentrum und unter Beteiligung einer Ethikkommission ermöglicht werden.
Gerade für mich als Christ ist es bei dieser Frage zentral wichtig, die Balance zwischen der Ethik des Lebens
und der Ethik des Helfens zu finden. Genau deswegen
gilt: Es darf keine Büchse der Pandora geöffnet werden,
es geht nicht um Designerbabys, und es darf deswegen
auch keine Krankheitenkataloge geben. Für mich müssen
zwei Sachverhalte klar ausgeschlossen sein. Erstens. Es
darf keine Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik geben, wenn die Krankheit, die gesucht wird, erst im
späteren Lebensverlauf auftreten wird, sogenannte spätmanifestierende Krankheiten. Zweitens. Bei unserem
Entwurf ist die genetische Disposition der Eltern die
Grundvoraussetzung für die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik. Deswegen schließen wir in unserem Gesetzentwurf aus, aktiv nach Trisomien oder Monosomien zu suchen. Mit unserem Gesetzentwurf
wollen wir Ihnen allen einen dritten Weg für eine verantwortungsbewusste Anwendung der Präimplantationsdiagnostik in einem eng begrenzten Rahmen anbieten.
Schon bei meiner Rede zur Stammzellendebatte habe
ich auf Professor Klaus Tanner von der Universität
Halle-Wittenberg verwiesen, der in einer solch ethisch
sensiblen Debatte formuliert hat:
Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch
einer Situation kein schwächliches Kapitulieren,
sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen
Demokratie …
Wir alle haben auf diese Fragen keine Antworten, die
uns zu 100 Prozent zufriedenstellen. Vielmehr steht jeder von uns vor dem Dilemma, eine Wertung vornehmen
zu müssen. Nicht zuletzt die Debatte im Ethikrat, die von
innerer Tiefe getragen worden ist, hat deutlich gemacht,
wie schwer eine solche Entscheidungsfindung ist. Umso
dankbarer bin ich als Abgeordneter für die große Sachkenntnis, den gegenseitigen Respekt und das hohe Maß
an ethischer Sensibilität, mit dem wir heute die Debatte
führen. Es zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag der
tiefen gesellschaftlichen Dimension dieses Themas äußerst bewusst ist. Eine solche Debattenkultur - nicht an
Fraktionsgrenzen gebunden - bringt uns wieder zu dem
Kern unseres demokratischen Parlamentarismus, als frei
gewählte Abgeordnete um den bestmöglichen Weg zu
ringen.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der
Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom Juli 2010 die
PID als zulässig bewertet hat, sind in diesem Land bewegende Diskussionen dazu geführt worden. Bisweilen
entdecke ich dabei auch fehlerhafte Annahmen und fehlerhafte Bewertungen. Es ist nach wie vor viel aufzuklären. Mich trifft allerdings bis heute ins Mark, wenn Befürworter der PID-Zulassung in eine Traditionslinie mit
Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten gestellt
werden.
({0})
Ich habe mich mit dieser Problematik intensiv auseinandergesetzt; viele andere in diesem Haus haben das auch
getan. Daher weiß ich, dass dieser Vorwurf jeglicher differenzierter Diskussion die Grundlage entzieht. Und wie,
frage ich mich, muss das erst auf Menschen bzw. Paare
wirken, die eine PID erwägen?
({1})
Schließlich fällen sie doch eine höchst individuelle Entscheidung, der keinerlei populationsgenetische Motive
unterstellt werden können.
Meine Damen und Herren, ich glaube, Politikerinnen
und Politiker sollten nicht allein nach ihrer persönlichen
Haltung zur PID entscheiden. Vielmehr muss das von
uns zu beschließende Gesetz die Breite verschiedener
ethischer Positionen spiegeln, und diese reichen nun einmal von einem Verbot über eine begrenzte bis zur gänzlichen Freigabe der PID. Diese Positionen sind glaubensgebunden oder basieren auf naturphilosophischen oder
atheistischen Auffassungen von Natur und menschlichem Leben. So gibt es in diesem Haus gänzlich verschiedene Antworten auf die Fragen: Wann beginnt
menschliches Leben? Hat ein Embryo im Reagenzglas
einen höheren Lebensschutz als nach der Einnistung in
die Gebärmutter?
In all diesen Wertvorstellungen sind Menschlichkeit,
Freiheit, Toleranz und Respekt vor anderen Menschen
Eckpunkte sittlichen Handelns. Aber kein Wertekonzept
kann allein beanspruchen, Staat und Menschen allgemeinverbindliche Vorgaben zu machen. Staatliches
Recht hat nach meiner Auffassung insofern universelle
Menschenrechte und Menschenwürde als gemeinsamen
Nenner zu wählen.
Diese vielfältigen ethischen Vorstellungen finden sich
dabei auch bei den Paaren, die die PID für sich in Betracht ziehen. Für mich sind deren Schicksale bewegend;
wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ein Teil
der Eltern hat bereits erblich bedingt mehrfach Früh- und
Totgeburten ertragen müssen. Zwei Drittel der Betroffenen haben bereits Kinder mit schwersten erblichen Erkrankungen. Diese Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos und unternehmen alles Menschenmögliche, um
ihnen ein glückliches Leben mit möglichst wenig Einschränkungen und wenig Leid zu geben. Sie wünschen
aber auch weitere Kinder. Allerdings möchten sie diesen
Kindern, wie ich es immer wieder von Betroffenen gehört habe, die Folgen bzw. das Leid einer von ihnen vererbten Krankheit ersparen. Warum sollen wir das nicht
respektieren?
({2})
Es ist ihr grundgesetzlich geschütztes Recht. Das
Recht auf Fortpflanzung ist ein Menschenrecht. Die Gesellschaft respektiert doch längst verschiedene Wege und
Mittel der Geburtenkontrolle, und sie respektiert insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Paare, die
die PID ablehnen, werden vermutlich eben auch keine
Pränataldiagnostik anstreben, wie sie überhaupt skeptisch gegenüber künstlicher Befruchtung sein dürften.
Diese Paare werden in ihren Rechten durch unseren Gesetzentwurf allerdings nicht eingeschränkt. Wer dagegen
die PID vor dem eigenen Gewissen für verantwortbar
hält - diese Entscheidung hat jeweils eine lange Vorgeschichte; sie ist reflektiert; sie wird von den Paaren ganz
genau bedacht -, kann bei einem Verbot der PID seine
Entscheidungsrechte nicht mehr verwirklichen. Das
halte ich für höchst problematisch.
({3})
Meine Damen und Herren, ich unterstütze die Begrenzung der PID auf erbliche Chromosomenstörungen
und auf monogenetische Erbkrankheiten. Hierbei ist die
Sicherheit der Prognose vergleichsweise hoch. Andere
schwere und schwerste Krankheiten können durchaus
auch erblicher Natur sein. Bei ihnen ist aber erstens unklar, wie viele und welche Gene tatsächlich den Ausbruch verursachen. Zweitens gibt es zahlreiche weitere
äußere Einflussfaktoren wie Umwelt und Lebensweise
der Menschen.
Das menschliche Genom besteht aus über 3 Milliarden Bausteinen. Insofern werden wir wohl noch Jahrzehnte nicht in der Lage sein, sichere Prognosen zu
Krankheiten oder gar zu menschlichen Eigenschaften
abzugeben. Ebenso unzuverlässig sind ChromosomenScreenings für nichterbliche Krankheiten. Vor diesem
Hintergrund eignen sich beide, die PID und die Chromosomen-Screenings, anders als derzeit in der Diskussion
behauptet, eben nicht dazu, Designerbabys zu schaffen.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, all diese Argumente bei Ihrer Entscheidung ebenfalls zu bedenken.
Danke schön.
({4})
Der Kollege Johannes Singhammer erhält nun das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man eine PID zulässt, ob mit vielen Ausnahmen, mit wenigen oder nur mit einer einzigen, kommt
man an einer grundsätzlichen Entscheidung nicht vorbei:
an der Bewertung, welches Leben gelebt werden darf
und welches nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Qualitätskontrolle menschlichen Lebens, zu welchem Zeitpunkt auch
immer, gerade als Embryo, gelingen kann, weil es den
Menschen überfordert, vorgeburtliche Lebenseignungstests zu entwerfen und gesetzlich festzulegen. Welches
Gremium, welche Kommission, welche Einzelpersönlichkeit kann sich das letztlich zutrauen und verantworten? Welche Institution hat das Recht, vorgeburtliche
Qualitätskontrollen festzusetzen?
Kann die Prognose, ein Kind würde möglicherweise
nur ein Jahr oder zwei Jahre leben, eine Verwerfung des
Embryos rechtfertigen? Wie ist es - das ist hier schon
angesprochen worden - mit einer Lebensspanne, die
vielleicht 10, 20, 30 oder auch 40 Jahre reicht, wenn es
dann mit Sicherheit zu einer schrecklichen tödlichen
Krankheit kommt, beispielsweise dem sogenannten
Veitstanz, Chorea Huntington? Zählt nur das schreckliche Ende, das sichere Ende? Was ist mit den 40 Jahren
Leben, die vorher stattfinden? Welcher Wert wird diesem Leben zugemessen?
Ich meine, menschliches Leben entsteht mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Eine Differenzierung nach Lebenserwartung, eine Unterscheidung nach
möglichen oder tatsächlich eintretenden Krankheiten ist
wenig geeignet, vorhandenes Leid zu lösen, sondern
schafft das Risiko neuer Diskriminierungen, die niemand hier im Hause will.
Paare, die auf ein gesundes Kind hoffen, die Wechselbäder von Hoffnung und Enttäuschung erlebt haben, die
einem hohen Leidensdruck ausgesetzt sind, verdienen
Respekt, Beratung und Hilfe. Aber ich denke auch an
diejenigen Menschen, die mit einer Behinderung leben.
Ich denke an die Menschen, die eine Behinderung haben,
die in dem möglichen Katalog von Krankheiten enthalten ist, die zu einer Verwerfung des Embryos führen.
Wie muss sich ein Mensch fühlen, der eine der Krankheiten hat, die möglicherweise zu einer Verwerfung des
Embryos führen?
Ich möchte nicht, dass Eltern von behinderten Kindern einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Ich
bin mir auch nicht sicher, wie sich bei einer Zulassung
der PID dann möglicherweise ein Kind später fühlt,
wenn es erfährt, dass es im Zusammenhang mit einer
Auswahl geboren worden ist und die Geschwister nicht
geboren worden sind?
Viele fragen sich: Gibt es bei diesen schwierigen,
schwierigsten Entscheidungen die Möglichkeit, einen
Kompromiss zu finden? Viele denken darüber nach: Wie
könnte ein solcher Kompromiss aussehen? Ich fürchte,
es wird schwierig, es ist nicht möglich; denn die Entscheidung darüber, Embryonen - das ist menschliches
Leben - in den Mutterleib einzupflanzen oder zu verwerfen, ist endgültig, ist nicht korrigierbar. Deshalb werbe
ich für die Vermeidung jeglicher Art der Bewertung
menschlichen Lebens, für ein klares Verbot der PID.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In
den letzten Tagen haben wir alle zur Einstimmung auf
die heutige Debatte vom Kollegen Norbert Geis eine
Streitschrift des katholischen Moraltheologen Spieker
erhalten. Ich habe sie sorgfältig gelesen. Danach - so die
Quintessenz - widersprächen die künstliche Befruchtung
und die PID - ich zitiere - den Grundlagen jeder freiheitlichen Gesellschaft und jeder rechtsstaatlichen Demokratie und gefährdeten das friedliche Zusammenleben in
der Gesellschaft. - Ich widerspreche diesen Schlussfolgerungen. Aber ich widerstehe auch der Versuchung,
darauf in gleicher Weise zu antworten. Stattdessen will
ich Ihnen zu Beginn von einem Menschen erzählen, von
Frau Regina Streilein, Mutter von vier Kindern.
Als Frau Streilein elf Jahre alt war, starb ihr Bruder.
Er wurde neun Jahre alt. Er litt an einer schrecklichen
Erbkrankheit, einer genetisch bedingten Stoffwechselkrankheit, die unaufhaltsam und qualvoll das Nervensystem im Gehirn zerstört. Frau Streilein trägt in ihren Genen die Anlage zu dieser Krankheit; bei Frauen bricht sie
allerdings nicht aus. Frau Streilein wollte nicht, dass ihre
eigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Deshalb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung und
eine PID entschieden und ist zu diesem Zweck nach Belgien gefahren. Heute ist sie Mutter von vier Kindern,
und sie ist froh, dass in Belgien für solche Fälle die legale Möglichkeit einer PID besteht.
Belgien ist ein christliches Land, nicht weniger als
Deutschland. Auch in Belgien werden menschliches Leben und die menschliche Würde geschützt, nicht weniger als in Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten mit
unserem Gesetzentwurf Menschen wie Frau Streilein
helfen. Wir wollen sie nicht auf Möglichkeiten im Ausland verweisen. Wir wollen unter strengen Vorgaben die
Nutzung der PID in Deutschland erlauben, erstens, um
verzweifelten Paaren zu helfen, die nach Fehlgeburten
und Totgeburten keine Kraft mehr haben, diese Risiken
weiterhin zu tragen, und zweitens, um Paaren, Eltern,
Frauen zu helfen, die um in ihnen schlummernde
schwere vererbliche Krankheiten wissen und diese nicht
auf ihre Kinder übertragen wollen.
Wir schlagen vor, die PID zu verbieten: zur Auswahl
jeglicher krankheitsunabhängigen Eigenschaften - die
sogenannten Designerbabys -, zur krankheitsunabhängigen Auswahl eines Geschlechts, zur Auswahl von Kindern zum Nutzen Dritter - die sogenannten Rettungskinder - und schließlich auch zu Forschungszwecken. Dies
tun wir, weil - hier sind wir uns alle einig; das glaube ich
jedenfalls - extrakorporal erzeugte Embryonen beginnendes menschliches Leben sind, welches nach seiner
Entstehung im Reagenzglas rechtlichen Schutz verdient.
Aber Embryonen im Reagenzglas sind aus sich heraus
und in der Umgebung, in der sie sich befinden, nicht lebensfähig. Ihr Schutz ist ohne Mitwirkung eines anderen
Menschen, der möglichen zukünftigen Mutter, nicht denkbar. Wenn sie sich verweigert, entsteht ein Problem - ein
Problem, das wir als Gesetzgeber lösen müssen. Dabei
müssen wir die Rechte aller Seiten, aber auch die medizinisch-technische Entwicklung und Regelungen in anderen Staaten mit bedenken.
Welche Möglichkeiten gibt es? Man kann eine Frau,
die sich ein Ei hat entnehmen lassen und einer Befruchtung des Eis im Reagenzglas zugestimmt hat, zu zwingen versuchen, einer Einpflanzung des Embryos in ihre
Gebärmutter zuzustimmen. Das fordert niemand; das
wäre auch eklatant verfassungswidrig. Niemand bestreitet, dass eine Frau es zu jeder Zeit und mit jeder Begründung und selbstverständlich auch ohne jegliche Begründung ablehnen kann, den von ihr und ihrem Partner
stammenden lebenden Embryo am Leben zu erhalten.
Die Rechtsordnung kann den Schutz des Lebens des Embryos gegen den Willen der Mutter nicht durchsetzen.
Ich glaube, dass niemand von Ihnen dem widersprechen wird. Das Leben des extrakorporal erzeugten Embryos ist nur mit der Frau gemeinsam schützbar.
An dieser Stelle müssen wir eine politische Entscheidung treffen. Entweder wir sagen den betroffenen
Frauen: Du darfst dich dafür oder dagegen entscheiden,
dass dein Embryo weiterlebt; aber du darfst dich vor dieser Entscheidung nicht vergewissern, dass dein Embryo
keine Gendefekte hat, die zu seinem Tod oder einer
schweren Krankheit führen. Das ist der Gesetzentwurf,
der die PID ausnahmslos verbieten will. Dann sagen wir:
Ihr dürft euch entscheiden, aber es muss eine uninformierte Entscheidung sein. - Oder wir sagen den betroffenen Frauen: Wenn ihr euch vor der grundlegenden
Entscheidung, ob euer Embryo leben soll oder nicht, darüber informieren wollt, welche Eigenschaften der
Embryo hat, dann akzeptieren wir einige wenige Fragen
und andere akzeptieren wir nicht. - Das ist unser Vorschlag für eine PID-Untersuchung, für ein PID-Verbot
mit zwei gewichtigen Ausnahmen. Wir ermöglichen in
diesen Fällen eine informierte Entscheidung.
Herr Kollege!
Meine letzte Bemerkung, Herr Präsident.
Ich bin davon überzeugt, dass Menschen wie Frau
Streilein ein Recht darauf haben, sich informiert für ein
lebensfähiges und gesundes Kind zu entscheiden. Das ist
kein Recht auf ein gesundes Kind, aber ein Recht von
Frauen, in Selbstverantwortung eine Entscheidung zu
treffen, die für ihr zukünftiges Leben von existenzieller
Bedeutung ist.
Danke.
({0})
Der Kollege Pascal Kober erhält nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch als liberaler Politiker und auch aus einer liberalen
Grundhaltung heraus kann man sich aus guten Gründen
für eine Nichtzulassung der Präimplantationsdiagnostik
aussprechen. Denn Ausgangspunkt liberaler politischer
Philosophie ist die Überzeugung, dass dem Menschen
individuelle Freiheit unveräußerlich gegeben ist,
({0})
dass der Staat die individuelle Freiheit der Menschen
achten muss.
Ausgangspunkt des liberalen Staatsverständnisses ist
die Überzeugung, dass der Mensch dem Staat das Recht
auf Einschränkung seiner eigenen Freiheit zugesteht und
nicht etwa der Staat den Menschen seine Freiheit zubilligt. Zugespitzt heißt das: Der Mensch definiert den
Staat und nicht der Staat den Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Präimplantationsdiagnostik zulassen, droht dieser Grundsatz aber verloren zu gehen.
({1})
Denn Präimplantationsdiagnostik bedeutet, dass der
Staat, der Gesetzgeber, sich selbst oder andere, beispielsweise ein Expertengremium oder einen Ethikrat, dazu
ermächtigt, anhand von Wesensmerkmalen, die im Menschen selbst liegen, zu definieren, welchem Menschen er
zu welchem Maß an Schutz verpflichtet ist. Das würde
aber bedeuten, dass der Grundsatz, dass der Mensch den
Staat definiert und nicht der Staat den Menschen, nicht
mehr eindeutig gelten würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus liberaler Überzeugung sage ich, dass der Staat kein Recht hat, sich
selbst oder andere dazu zu ermächtigen, wertende - seien
es auf- oder abwertende - Entscheidungen über den
Menschen zu treffen.
({2})
Der Staat muss jeden Menschen, und zwar so wie er ist,
achten und sein Leben und damit seine Freiheit grundsätzlich und über die gesamte Lebenszeit hinweg schützen. Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu ermächtigen, zu entscheiden, ab wann ein menschliches
Leben zu achten ist und wann nicht. Es gilt das, was der
Kollege Dr. Krings vorhin schon gesagt hat: Wenn irgendein Zweifel besteht, dann kann nur gelten: im Zweifel für das Leben und für den weiter gehenden Schutz.
({3})
Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu ermächtigen, zu entscheiden, welches menschliche Leben
lebenswerter und damit schützenswerter ist als ein anderes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist berechtigt, ob diese Grenze nicht schon in der Frage des
Schwangerschaftsabbruches überschritten ist. Die Grenze
ist beim Schwangerschaftsabbruch dann nicht überschritten, wenn wir unterstellen, dass es sich bei Schwangerschaftskonflikten um eine zutiefst existenzielle Situation handelt, in der das Leben der Mutter - auch unter
psychisch-sozialen Aspekten - gegen das Leben des
Kindes steht und der Staat sich in dieser Frage eben nicht
anmaßt, strafrechtlich zu entscheiden, welchem Leben er
in seiner Schutzpflicht den Vorzug geben muss. Die Präimplantationsdiagnostik bedeutet demgegenüber aber,
dass auf der Basis von Wesensmerkmalen Lebensrecht
zuerkannt oder eben nur abgestuft zuerkannt wird. Das
ist etwas anderes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Zweifel: Wir
müssen die Not der Eltern, die sich ein Kind wünschen
und für die die Technik der Präimplantationsdiagnostik
hier gegenwärtig die einzige Möglichkeit zu sein
scheint, ernst nehmen. Wir haben aber auch eine VerantPascal Kober
wortung gegenüber den Grundfesten und Grundsätzen
unseres freiheitlichen Staatsverständnisses. Auch wenn
es im Angesicht der individuellen und persönlichen Betroffenheit und des Leids so schwierig erscheint, dass es
uns die Sprache zu verschlagen droht: Die Grundsätze
und die Grundfesten unseres freiheitlichen Staatsverständnisses müssen nach wie vor Geltung haben. Das bedeutet, dass der Mensch den Staat definiert, nicht der
Staat aufgrund von Wesensmerkmalen seine Menschen.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Gabriele Molitor.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich als
behindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion ist die Entscheidung über die Zulassung der PID
aus mehreren Gründen schwierig. Ich sehe die Sorgen
vieler Menschen mit Behinderung und natürlich auch die
Befürchtungen der Behindertenverbände. Es gibt keine
einfache Entscheidung zur PID, nicht für uns hier in diesem Hohen Haus, auch nicht für die Betroffenen selbst.
Bei meiner Entscheidungsfindung war die vom Rat
der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte
Position zur Präimplantationsdiagnostik sehr hilfreich.
Hier wird festgestellt:
Unter den Mitgliedern des Rates gibt es unterschiedliche Meinungen zur Bewertung von Konstellationen, bei denen die Anwendung der PID
nicht die Funktion hätte, zwischen behinderten und
nicht behinderten Embryonen zu unterscheiden,
sondern die Aufgabe, lebensfähige Embryonen zu
identifizieren. Die hier angesprochenen Fälle unterscheiden sich von anderen dadurch prinzipiell, dass
es nicht um die Frage von Krankheit und Gesundheit, von behindert und nicht behindert, von „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ geht, sondern um
Lebensfähigkeit und Lebensunfähigkeit.
Nach Auffassung des Rates der EKD würde die In-vitro-Fertilisation in Verbindung mit der PID in diesen Fällen „allein dem Ziel dienen, Leben zu ermöglichen“. Genau diese Präzisierung ist es, die mir bei meiner
persönlichen Entscheidung geholfen hat, den Antrag für
eine begrenzte Zulassung zu unterstützen.
({0})
Wir müssen scharf trennen, worum genau es heute
geht: Eine Entscheidung für die PID hätte nicht zur
Folge, dass Menschen mit Behinderung an den Rand der
Gesellschaft gedrängt würden oder Behinderungen künftig vermieden werden könnten. Nur wenige Behinderungen sind genetischer Art. Die meisten Kinder werden
gesund geboren. Lediglich 3 bis 5 Prozent der Neugeborenen sind nach Angaben von Pro Familia behindert oder
krank. Die Ursachen hierfür sind komplizierte Entbindungen, Frühgeburten oder Krankheiten der Mutter. Ein
wiederum noch geringerer Anteil ist durch genetische
Defekte verursacht. Dieser geringe Prozentsatz, gepaart
mit der strengen Begrenzung der PID und einem sehr
kleinen Kreis von Paaren, die sich überhaupt testen lassen könnten, bedeutet nichts anderes, als dass Menschen
mit Behinderung auch in Zukunft zu unserer Gesellschaft gehören und unter uns leben werden; denn jeder
Mensch ist einmalig und unverwechselbar.
({1})
Er ist mit seinen Stärken und Schwächen als Ganzes zu
würdigen und muss in allen Lebensbereichen selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sein.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind in
der überwältigenden Mehrheit offen und aufgeschlossen
gegenüber Menschen mit Behinderung. Auch in unseren
europäischen Nachbarländern, in denen die PID zum
Teil seit Jahrzehnten erlaubt ist, gab und gibt es keine
Stigmatisierung von Behinderten aufgrund der PID.
Entscheidend ist daher auch nicht die potenzielle Untersuchung von einigen wenigen Hundert künstlich befruchteten Embryonen pro Jahr, sondern einzig und allein der Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen mit
Behinderung. Wir alle sind es, die mit unserem täglichen
Handeln über den Grad der Teilhabe von Menschen mit
Behinderung entscheiden. Die PID gibt Eltern mit
schweren Erbschäden lediglich die Sicherheit, dass ihr
Kind lebensfähig sein wird, und erspart den Paaren traumatisierende Erfahrungen einer Spätabtreibung.
({2})
Letztlich entscheidend für mich ist eine ganz einfache
Frage. Wenn jetzt hier vor mir ein Paar sitzen würde, das
den Kriterien entspräche, die dieser Gesetzentwurf vorsieht, und mich fragen würde, ob es eine PID vornehmen
lassen dürfe oder nicht, dann muss ich mir die Frage stellen: Habe ich das Recht dazu, diesem Paar diese Möglichkeit abzusprechen?
({3})
Ich bin zu dem Schluss gekommen: Nein, das darf ich
nicht tun. Deshalb werde ich für das Gesetz zur Regelung der PID stimmen.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Ilja Seifert erhält nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ob wir es wollen oder nicht: Jede Debatte über die
Präimplantationsdiagnostik stellt die Frage nach dem
Wert - oder eben auch nach dem Unwert - menschlichen
Lebens. Ich weiß, dass viele der Befürworterinnen und
Befürworter das weit von sich weisen. Ich unterstelle ihnen sogar subjektive Aufrichtigkeit. Aber das ändert
nichts an der objektiven Wirkung.
Insofern bin ich mir gar nicht sicher, ob wir heute im
Hohen Hause alle über das Gleiche reden. Drei Gesetzentwürfe liegen uns vor. Alle drei behaupten, die PID
verbieten zu wollen, und führen dafür gute Gründe an:
vorwiegend ethische, einige rechtliche. Dann aber öffnen sich zwei der Gesetzentwürfe für Ausnahmeregelungen. Diese begründen sie vornehmlich - das war auch
hier in der Debatte so - mit dem Leid, das sie denjenigen
potenziellen Eltern ersparen wollen, die bereits schwerbehinderte Kinder haben und/oder bei denen aufgrund
erblicher Anlagen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit
davon ausgegangen werden kann, dass sie keine genetisch eigenen Kinder haben können, die länger als ein
Jahr lebensfähig sind.
Was also tun wir hier eigentlich? Rechnen wir Leid
gegeneinander auf? Suchen wir einen Erträglichkeitsoder einen Unerträglichkeitskoeffizienten? Welchen Stellenwert hätte dabei die tief in das Bewusstsein und das
Unterbewusstsein vieler Menschen mit Behinderung eingegrabene tödliche Erfahrung der Euthanasie-Vergangenheit?
Der Deutsche Behindertenrat, DBR, das Aktionsbündnis aller bundesweiten Behindertenorganisationen,
wandte sich dieser Tage an jede und jeden von Ihnen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Vorsitzende des DBR-Sprecherrates, Barbara Vieweg, betont:
Wir berücksichtigen die Konfliktlage einzelner
Paare, welche die Nutzung der PID aus einer individuell schwierigen Situation erwägen. Jedoch hält
nicht alles, was medizinisch-technisch möglich ist
oder erscheint, ethischen Kriterien stand.
Auch ich achte den Kinderwunsch jedes Paares. Und
ich kenne die Aussage, dass sich diese Untersuchungsmethodik keineswegs gegen bereits lebende Menschen
mit Behinderung richte. Jedoch kenne ich Dutzende von
Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, die angesichts der aktuellen Debatten und der damit verbundenen
Erwartungen nichts anderes denken und sagen können
als: Hätte es diese Möglichkeiten schon vor meiner Geburt gegeben, gäbe es mich einfach nicht. - Sie nehmen
die PID - übrigens auch viele Auswirkungen der Pränataldiagnostik, PND - sehr persönlich. Sie haben
schlicht Angst, Angst, per Gesetz abgewertet zu werden.
Niemand bestreitet, dass ein Leben mit schweren Beeinträchtigungen nicht sonderlich wünschens- oder gar
erstrebenswert ist. Aber wer ein solches Leben hat, für
die- oder denjenigen gibt es nichts Wichtigeres: Es ist
nämlich das einzige.
({0})
Es hat gute und weniger gute Tage, traurige und weniger
traurige Momente, Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse.
So verwundert es nicht, dass es auch in dieser Personengruppe Einzelne gibt, denen ihr So-Sein und ihr Da-Sein
lästig ist, die sogar sagen, dass es besser wäre, wenn sie
nicht geboren worden wären. Ja, das sind tragische Situationen. Aber worin unterscheiden sich diese Menschen
von all den anderen, den nicht sichtbar - bzw. nicht anerkannt - behinderten Menschen, die sich, aus welchen
Gründen auch immer, selbst nicht leiden können, die
ständig mit sich hadern, die gegebenenfalls Selbstmord
begehen? Mir ist nicht bekannt, dass der Anteil solcherart unglücklicher Menschen unter denen mit Behinderungen größer wäre als unter Nichtbehinderten.
Ich argumentiere nicht mit der großen Anzahl von
Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.
Ich argumentiere auch nicht mit dem Verhältnis von
glücklichen Eltern mit gesunden Kindern und der Mühsal von Familien, denen die erforderliche Unterstützung
beim bedarfsgerechten Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile nach wie vor vorenthalten wird. Ich argumentiere mit dem Menschenbild, das unserem Gemeinwesen zugrunde liegen sollte. Egal ob jemand Gottes
Schöpfung verehrt oder die Evolution als wundersames
Glück bzw. glückbringendes Wunder genießt: Die jedem
Menschen unnehmbar innewohnende Würde, die Einzigartigkeit des Individuums, die Unausschöpfbarkeit
der Persönlichkeitsentfaltung sollten uns Achtung vor
der Fülle des Seienden gebieten, vor dem So-Seienden
und dem So-Werdenden.
({1})
Ich argumentiere mit diesem Menschenbild und der darauf fußenden Gesellschaftskonzeption des solidarischen
Miteinanders. Jede und jeder von uns ist einmalig, und
deshalb gehören wir zusammen. Erst die Vielfalt, die aus
uns allen besteht, macht die Menschheit aus. Das mag
pathetisch klingen. Aber darunter ist diese Debatte nicht
zu führen.
({2})
Es geht um unser humanes Selbstverständnis: Nehmen
wir uns an, oder sortieren wir einander aus?
Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe weiterer
guter Argumente für das uneingeschränkte Verbot der
PID. Durchaus auch einige, die die künstliche Befruchtung generell infrage stellen. Beispielsweise wegen der
enormen psychischen und physischen Belastung aufgrund der hormonellen Stimulierung und der keineswegs
gefahrlosen Eientnahme, denen sich die Frauen unterziehen müssen. Oder beispielsweise wegen der nach wie
vor geringen „Erfolgsquote“. Sie werden von anderen
Rednerinnen und Rednern vorgetragen und ausführlich
begründet.
Im Mittelpunkt meiner Argumentation steht das Menschenbild; das sagte ich bereits.
Herr Kollege, darf ich auch Sie an die Redezeit erinnern?
Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin gleich fertig. Welche Erwartungen werden denn geweckt, wenn auch
nur der Anschein entsteht, man könne die Geburt eines
gesunden Kindes garantieren? Ich sagte bereits, dass ich
jeden Kinderwunsch verstehe. Aber es gibt kein Recht
auf ein Kind, erst recht nicht auf ein makelloses Kind.
({0})
Ich meine, es gibt auch kein Recht auf ein genetisch „eigenes“ Kind, allenfalls den Anspruch auf Elternschaft.
Paaren, die Kinder wirklich lieben, muss ich sagen dürfen: Adoptionen sind alles andere als „zweite Wahl“. In
Heimen warten, ja hoffen viele Kinder auf liebevolle Eltern.
Leider muss ich meine Rede beenden, weil der Präsident mich schon gemahnt hat. Aber ich denke, vielleicht
habe ich einige Argumente genannt, die Sie berücksichtigen können.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter Steinmeier.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte ist spürbar, dass sich niemand die Entscheidung leicht macht. Ich finde, das gehört sich so.
Wenn ein Parlament Entscheidungen treffen will, die die
letzten Grenzfragen des Lebens berühren und die ihm
Selbstvergewisserung über die ethischen Grundhaltungen abverlangen, dann muss hier im Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit gerungen werden.
Gerungen habe ich auch mit mir selbst. Wenn mein
Name auf dem Gruppenantrag von Frau Flach, Herrn
Hintze und Frau Reimann steht, dann sieht das nach großer Selbstverständlichkeit aus - selbstverständlicher, als
es tatsächlich für mich war. In Wahrheit habe ich über
Jahre gezweifelt. Ich habe das strikte PID-Verbot sogar als
die scheinbar klarere, jedenfalls viel leichter in der Öffentlichkeit zu vermittelnde Haltung angesehen. Gleichwohl bin ich heute anderer Meinung. Aus meiner heutigen Sicht - und das nach vielen Gesprächen mit
betroffenen Familien, Ärzten, Medizinern und Ethikern ist das strikte Verbot nicht die höherwertige ethische
Haltung.
Was vielleicht noch wichtiger ist: Das strikte Verbot
löst keine der Fragen, die in der Realität für die Familien
bestehen - über die ist heute viel geredet worden - und
die wir uns nicht einfach hinwegwünschen können. Ich
will gleichwohl nicht verhehlen, dass die Argumente
derer, die am Ende zu einem anderen Ergebnis kommen
- auch die haben hier gesprochen -, schwer wiegen und
nicht einfach vom Tisch gewischt werden können.
Wenn ich also nach einem langen Entscheidungs- und
für mich auch Erfahrungsprozess zu einer anderen Haltung als zu dem strikten Verbot komme, wenn ich bei
meiner persönlichen Abwägung zu einer anderen Gewichtung als diejenigen komme, die das strikte Verbot
befürworten, dann folgt das einem Grundsatz, der einfach klingt. Dieser Grundsatz lautet für mich, dass wir
denjenigen, die in äußerster Seelennot auf Hilfe angewiesen sind - und um die geht es -, diese Hilfe nicht einfach mit Hinweis auf konkurrierende Grundsätze verweigern können.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden eben
nicht über das Alltägliche, sondern wir reden über Familien, in denen Eltern oder andere Angehörige eine eigene
schwerste Krankheit haben. Wir reden über Frauen, die
bereits eine oder mehrere Tot- oder Fehlgeburten hatten.
Wir reden über Menschen in verzweifelter Lage. Viele
von denen - das ist zuzugeben - meistern ihr persönliches Schicksal irgendwie, manchmal jenseits ihrer eigenen Kräfte. Es geht um diese Menschen, die das Risiko weiteren Leids vermindern wollen. Ich bin mir ganz
sicher - nach den Gesprächen, die ich geführt habe, erst
recht -: Gerade diesen Menschen geht es nicht darum, zu
selektieren oder gar zu töten - ganz im Gegenteil. Gerade
ihnen sollten wir glauben, dass es ihnen um Leben und
um ein lebensfähiges Kind geht. Das ist mein Plädoyer in
diesem Hause.
({1})
Die entscheidende Frage, die wir beantworten müssen, lautet doch: Haben diese Familien nicht das Recht,
das medizinisch Mögliche für sich in Anspruch zu nehmen? Gebietet uns nicht gerade der Respekt vor dem Leben, auch deren Lebens- und Leidensgeschichte mit in
den Blick zu nehmen? Ist es nicht gerade unsere Aufgabe, hier als verantwortliche Politiker den gesetzlichen
Rahmen dafür zu schaffen? Ich jedenfalls bin davon
überzeugt, dass wir einen solchen verlässlichen gesetzlichen Rahmen brauchen.
Der Abgeordnete Meinhardt hat vorhin gesagt: Wir
dürfen die Büchse der Pandora nicht öffnen. - Es ist
doch genau umgekehrt: Die Büchse der Pandora ist aufgrund der Rechtsprechung sperrangelweit offen. Wir
sind jetzt aufgerufen, den gesetzlichen Rahmen wiederherzustellen, und dafür ist niemand anders verantwortlich als dieses Haus, als genau dieses Parlament.
({2})
Verweigern wir uns der Aufgabe, diesen Rahmen zu
schaffen, dann verweigern wir - das wird klar, wenn
man genau hinschaut - nicht nur die mögliche Hilfe in
absoluten Notlagen, über die ich vorhin gesprochen
habe, sondern dann verweisen wir Menschen auch auf
Wege, sich die Hilfe dort zu suchen, wo es an einem
strengen gesetzlichen Rahmen, den ich mir für uns wünsche, fehlt.
Ein Wort zum Verweis auf die Gefahren des Missbrauchs. Darauf ist in vielen Redebeiträgen heute einge11960
gangen worden. Ich sehe die Gefahren des Missbrauchs;
nur, auch das entlässt uns Parlamentarier nicht aus der
Verantwortung, im Gegenteil. Ich würde sogar umgekehrt sagen: Verantwortung von Staat und Politik ist es
geradezu, den Missbrauch von Möglichkeiten, die der
Gesetzgeber schafft, zu verhindern. Das gelingt uns doch
auch tagtäglich im Umgang mit anderen medizinischen
Grenzfragen. Vielleicht gelingt uns das hier bei uns in
Deutschland sogar besser als anderswo.
Der Gesetzentwurf der Gruppe, der ich mich angeschlossen habe, steht für dieses Verantwortungsbewusstsein. Er formuliert ein generelles Verbot der Präimplantationsdiagnostik, definiert dennoch in sehr begrenzten
und sehr besonderen Einzelfällen Ausnahmen von diesem Verbot. Das geschieht nicht leichtfertig und nicht in
Verkennung unserer Verantwortung für den Lebensschutz, vielmehr in Verantwortung für die Menschen.
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.
({3})
Julia Klöckner ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, Sie sagten eben,
es bedarf einer klaren gesetzlichen Regelung. Da sind
wir uns alle einig. Es gibt allerdings unterschiedliche
Vorschläge für eine klare gesetzliche Regelung. Die
Frage ist: Wie soll die Regel aussehen?
Hauptsache gesund! Das ist wohl der normalste
Wunsch der Welt, den Eltern haben, wenn sie ein Kind
erwarten. Auch der Wunsch, die Politik möge Leid und
Tränen verhindern, ist ein hoher Wunsch. Die Politik
wird ihn aber niemals vollends erfüllen können; denn
zum Leben gehören auch Schattenseiten, gehört Leid.
Natürlich tun Eltern alles, damit ihr Kind gesund
bleibt. Wenn es krank wird, tun sie alles, damit es wieder
gesund wird, damit es geheilt wird. Wenn Heilung nicht
möglich ist, muss der Staat alles Mögliche tun, um Eltern mit beeinträchtigten Kindern so zu unterstützen,
dass Leben angenommen werden und gelingen kann.
Mich hat das Gespräch mit Vertretern der Behindertenverbände sehr berührt. Sie sagten: Frau Klöckner,
wenn es zu unseren Anfängen schon die PID gegeben
hätte, dann würden ganz viele von uns heute nicht vor
Ihnen sitzen. Wir wollen nicht die Krankheiten, die wir
haben, auf irgendwelchen Listen finden, die es erlauben,
dass unser Leben nicht gelebt werden darf.
({0})
Ich finde, es ist ein sehr wichtiges und richtiges Zeichen, dass heute der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, anwesend ist; denn auch in
diesen Bereich müssen wir den Blick wenden. Es geht
um Menschen mit Beeinträchtigungen, für die es einer
Lobby bedarf, die sich einsetzt; sie dürfen eben nicht infrage gestellt werden.
Ist die Tür erst einmal geöffnet, ist der Damm erst
einmal gebrochen, dann wird es sehr, sehr schwer sein.
Der Druck, der auf Frauen lastet, ein gesundes Kind zur
Welt zu bringen, wird steigen. Es wird sehr häufig von
der Entlastung der Frauen durch die PID gesprochen,
aber allzu selten hat man im Blick, was es für Frauen
heißt, wenn sie sich gegen eine PID entscheiden. Auch
dann könnten plötzlich Rechtfertigungen notwendig
werden. Wenn sich Eltern rechtfertigen müssen, warum
ein Kind geboren wird, das vermeintlich nicht perfekt ist
- was auch immer in unserer Gesellschaft „perfekt“ heißen soll -, dann macht mir das Sorge.
Die Frage danach, welches Leben glücklicher ist, das
Leben aus den Augen eines Kindes, das behindert ist, eines Kindes, das schwerwiegend beeinträchtigt ist, oder
aus den Augen eines Kindes, das nicht behindert ist,
kann ich und können wir alle nicht beantworten. Ich bezweifle auch, dass der Deutsche Bundestag eine Liste
von Krankheiten festlegen kann, die dann der Grund dafür sind, ob ein Leben gelebt werden darf oder nicht gelebt werden darf.
Bedenke das Ende! Wenn man den ersten Schritt geht,
sollte man auch im Auge haben, was daraus werden
könnte. Es gibt Krankheiten wie zum Beispiel Mukoviszidose. In früheren Zeiten haben Kinder mit dieser
Krankheit gerade einmal das Grundschulalter erreicht.
Heute gibt es Erwachsenenselbsthilfegruppen von Mukoviszidosekranken. Ich selbst stehe einer solchen
Gruppe als Schirmfrau vor. Man kann auch feststellen,
ob ein Mädchen, ob eine Tochter, die noch nicht geboren
ist, die genetische Veranlagung zu Brustkrebs hat. Aber
wer sagt denn, dass dieser Brustkrebs überhaupt ausbrechen wird oder ob man in 50 Jahren nicht eine Therapie
dagegen hat? Klar ist: Wenn man bei der PID, bei dem
Aussuchen und Aussortieren, Ja zu einem Kind sagt,
dann sagt man gleichzeitig Nein zu einem anderen Kind,
das nicht geboren werden soll. Das will ich nicht.
({1})
Ich möchte den Blick auch auf das, was Leben ausmacht, wenden. Mir sagen mein Glaube und meine Logik, dass das Leben ein Geschenk ist, ein Geschenk, das
nicht immer wieder neu gepackt werden darf, sondern
das angenommen werden sollte und angenommen werden muss. Da das Leben ein Geschenk ist, liegt auch
dort, wo es vermeintlich nicht so perfekt ist, eine große
Chance darin, dass wir Menschen begleiten und dass wir
das Antlitz der Gesellschaft so gestalten, dass sich Humanität im Nächsten zeigt und nicht im vermeintlich
Perfekten. Deshalb trete ich klar für ein Verbot der PID
ein.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ursula HeinenEsser.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt
Paare, die um ihre erbliche Vorbelastung wissen und sich
dennoch von ganzem Herzen ein Kind wünschen. Vielleicht haben sie keine andere Möglichkeit als die künstliche Befruchtung. Vielleicht haben sie schon eine Fehlgeburt erlebt, vielleicht haben sie schon eine Totgeburt
erlebt. Vielleicht haben sie schon ein oder sogar zwei
schwerstbehinderte Kinder, um die sie sich liebevoll
kümmern. Diese Eltern verstehen nicht, dass eine Untersuchung an einer befruchteten Eizelle, die außerhalb des
Mutterleibs nicht lebensfähig ist, verboten sein soll. Sie
verstehen nicht, dass aber die Untersuchung des Kindes
im Mutterleib trotz der etwaigen lebensbedrohlichen
Folgen für das Kind, etwa bei der Fruchtwasseruntersuchung, erlaubt, ja manchmal sogar notwendig ist. Diese
Eltern verstehen nicht, warum die Präimplantationsdiagnostik verboten werden soll, während die Abtreibung,
die Tötung des Kindes bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, gegebenenfalls sogar die Spätabtreibung,
erlaubt ist. Hier erleben wir doch einen ganz klaren Wertungswiderspruch unseres Rechtssystems, sollte sich ein
PID-Verbot durchsetzen. Die Untersuchung der befruchteten Eizelle nein, PND und Abtreibung ja - diesen Widerspruch empfinde ich als nicht akzeptabel, als menschenunwürdig.
({0})
Bei der Abtreibung
- so schreibt ein führender Befürworter des Totalverbots
in einem Namensartikel für den Tagesspiegel; dieses Argument klang auch hier immer wieder durch geht es … um die seelische Belastung der Mutter,
die sich in einem schweren Konflikt befindet.
Deshalb sei die Abtreibung unter bestimmten Umständen erlaubt, und deshalb seien PID und Abtreibung nicht
miteinander vergleichbar.
Lassen Sie mich dazu aber festhalten: Die seelische
Belastung der Mutter beginnt und endet doch nicht mit
einer Abtreibung. Die seelische Belastung der Mutter
und des Vaters, die erblich vorbelastet sind, beginnt viel
früher; Frau Flach hat vorhin ein sehr nahegehendes Beispiel genannt. Es geht um die seelische Belastung der
Mutter und des Vaters, die Sorge, ein nicht lebensfähiges
Kind wachsen zu sehen, die Angst, der Belastung durch
ein schwerstbehindertes Kind nicht gewachsen zu sein.
Diese Eltern wünschen sich ein Kind - sehnlichst -, das
eine Chance zum Leben bekommt. Sie wünschen sich
nicht blaue Augen, auch nicht, ob es dick, dünn, groß
oder klein sein wird.
Es geht darum, dass ein Kind eine Chance zum Leben
bekommt. Dafür unterziehen sich die Mütter enormen
körperlichen Belastungen, einer oft schmerzhaften, aufwendigen Behandlung, einer künstlichen Befruchtung.
Sie tun dies immer mit der Angst, das Kind zu verlieren.
Die seelische Belastung einer Mutter, die Fehl- oder Totgeburten erlebt hat, ist ebenso hoch wie die seelische Belastung einer Mutter, die eine Abtreibung durchführen
lassen muss.
Aber es gibt einen enormen Unterschied: Die PND,
verbunden mit einer Abtreibung, kann zu einem schweren Trauma führen. Die PID hilft, diesen Konflikt abzuwenden. Der Ethikrat hat in seinem Votum für eine begrenzte Zulassung der PID geschrieben - ich zitiere -:
Die PID eröffnet einen Weg, das Trauma eines
Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden …
Die Entscheidung steht für mich fest: Die PID ist ein
klares Ja zum Leben. Deshalb werbe ich für den Antrag
von Ulrike Flach, Peter Hintze, Carola Reimann und vielen weiteren Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen.
Danke.
({1})
Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt erhält nun das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Mutter eines behinderten Kindes fragt in Christ &
Welt: Was empfinden Menschen wie mein Sohn angesichts solcher Debatten - sie, die sich besonders mühen
müssen, in dieser Welt zurechtzukommen, gerade weil
sie etwas anders ticken, als es die Norm erfordert, die
sich enorm anstrengen, dazuzugehören, und dabei doch
immer wissen, dass sie Sonderfälle sind, gnädigerweise
alimentiert von der Gesellschaft? Mein Sohn muss zur
Kenntnis nehmen, dass er als Risiko definiert wird, dass
es als Fortschritt gilt, wenn möglichst wenige seiner Art
geboren werden. - Und gleichzeitig der Satz eines Paares, das schon zwei Kinder mit einer schweren Behinderung hat: Ein weiteres, das schaffen wir einfach nicht,
gerade weil wir die beiden so lieb haben.
Wer wollte heute schon entscheiden, was schwerer
wiegt? Kann das irgendjemand von uns denn wirklich?
Suchen wir also nach Objektivem.
Vielleicht hilft ein Blick auf die Zahlen. Noch geht es,
jedenfalls bis heute, um wenige Fälle. Auch dies kann
für beides sprechen. Als Argument für eine Zulassung
könnte man anführen: Die paar Fälle führen nicht zu einem Dammbruch; die PID hilft den wenigen Betroffenen, die es schwer haben. - Man könnte aber auch die
Frage stellen: Sollten wir für die wenigen Betroffenen in
unserer Gesellschaft so viel riskieren? Ich sage „so viel
riskieren“, weil es, lieber Frank-Walter Steinmeier, nicht
um einige wenige Grenzfälle geht, sondern um das, was
wir in der Mitte der Gesellschaft wollen bzw. zulassen
wollen.
({0})
Es geht auch nicht um die Frage, was öffentlich zu vermitteln wäre. Ich glaube, diese Frage wird hier keiner
diskutieren wollen. Warum also bin ich für ein Verbot?
Ja, ich bin überzeugt, hier möchte niemand ein Designerbaby, hier möchte keiner eine auseinanderfallende Gesellschaft oder eine diskriminierende. Also suchen wir
nach Anhaltspunkten!
Nein, die PID garantiert eben kein gesundes Kind. Sie
garantiert noch nicht einmal eine Schwangerschaft.
Nein, die PID ist nicht eine einfache Untersuchung, die
man halt über sich ergehen lassen muss, im Gegenteil:
Sie ist für Frauen extrem belastend. Sie bedeutet immer
wieder einen Eingriff, immer mehr Hormonbehandlung.
Und sie bedeutet natürlich auch dann, wenn aussortiert
wird, eine schwere seelische Belastung. Das, was
scheinbar unsichtbar in der Petrischale ist, ist eben für
die Seele des Menschen im Zweifelsfall doch nicht weniger als das, was bei einer Schwangerschaft geschieht.
Nein, Behinderung oder Krankheit werden nicht ausgeschlossen. Es kann auf einige wenige monogenetische
Erkrankungen und Chromosomenanomalien untersucht
werden. Allerdings weiß kein Mensch, ob sie jemals ausbrechen werden und, wenn ja, wie schwer sich die
Krankheit dann wirklich zeigt. Nein, PID wendet nicht
Leid von Eltern und Kind ab; PID wendet das Kind
selbst ab. Es wird aussortiert, weil es nicht der Norm
entspricht.
Und wichtig: Nein, die PID verhindert eben keine
Spätabbrüche. Natürlich habe ich Verständnis für die
Paare - sie begegnen uns zumindest in Berichten ganz
häufig -, die sagen: In dieses Risiko will ich mich nicht
begeben. - Aber gleichzeitig muss man sagen: Die allermeisten werden sich später einer Pränataldiagnostik unterziehen. Das ist übrigens eine Untersuchung, von der
wir, als sie eingeführt wurde, gesagt haben: Das ist nur
für ganz, ganz wenige Ausnahmefälle. - Heute ist das
eine Standarduntersuchung. Ich fürchte, dass es sich mit
der PID ganz ähnlich entwickelt.
({1})
Es gibt keine Garantie, dass nicht andere schwere, auch
erbliche Erkrankungen, eintreten. Und es gibt übrigens
auch keine Garantie, dass Schädigungen am Embryo
durch die PID selbst ausgeschlossen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, es wird nicht
bei wenigen Fällen bleiben - übrigens auch deswegen
nicht, weil wir diesen Unterschied gar nicht machen
können. Warum sollen die einen dann eigentlich das
Recht auf PID haben, und den anderen sprechen wir es
ab?
Und nein, ich halte auch die Grenzziehung bei der Lebenserwartung von einem Jahr nicht für möglich - übrigens auch deswegen nicht, weil ich es zu schwierig
finde, zu entscheiden: Ist denn ein Tag Leben, sind fünf
Tage Leben oder neun Monate Leben weniger wert als
eineinhalb Jahre oder 2 Jahre oder 20 Jahre oder
40 Jahre?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss darüber gesprochen werden, worum es tatsächlich geht, wie belastend die Untersuchungen sind, wie belastend die Entscheidung ist. Es darf nicht darüber geschwiegen
werden, was alles tatsächlich im Zweifelsfall untersucht
werden kann - eben auch die Krebserkrankung. Warum
soll man eigentlich dann das nicht wissen wollen?
Und zuletzt, ja, natürlich wird es Druck geben - so
wie es bei der PND Druck auf Frauen bzw. auf Paare
gibt, diese Untersuchung durchführen zu lassen. Mit diesem Druck wird ein Heilsversprechen verbunden, bei
dem wir abzuwägen haben. Wir haben abzuwägen, was
wir damit auf der anderen Seite belasten, zerstören, gefährden.
Verbieten wir die PID, die letztlich alles verspricht,
aber höchstens die Möglichkeit bietet, ein wenig die
Chancen auf ein Kind zu erhöhen! Verbieten wir die PID
und machen wir sehr deutlich, worum es eigentlich in
unserer Gesellschaft geht: die zu integrieren und dabeihaben zu wollen, die anders sind, oft glücklich sind, oft
ein gelingendes Leben haben und uns übrigens wissen
lassen, dass auch wir nicht vollkommen sind, sondern
darauf angewiesen sind, dass ein anderer uns anschaut
und sagt: Ja, du bist ein Mensch, und es ist gut, dass du
da bist.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Krista Sager ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte für den Gruppenantrag werben, für den auch
Frank-Walter Steinmeier heute geworben hat, nämlich
für die begrenzte Zulassung der PID bei einer künstlichen Befruchtung. Ich will ausdrücklich sagen: Vor einigen Jahren war ich gegen die Zulassung der PID, aber
ich habe meine Meinung geändert. Das möchte ich Ihnen
gerne erklären.
Bei meiner damaligen Ablehnung haben die Befürchtungen eine große Rolle gespielt, die auch heute hier von
vielen geäußert worden sind. Es ging um die Angst vor
einem moralischen Dammbruch, davor, dass man irgendwie auf eine schiefe Ebene kommt. Viele tun so, als
wüssten sie ganz genau, was passiert, wenn wir die PID
begrenzt zulassen würden. Nun leben wir ja nicht auf einer Insel, und wir können feststellen, was in den Ländern
passiert ist, in denen es seit Jahrzehnten Erfahrungen mit
einer begrenzten Zulassung gibt, was in fast allen anderen europäischen Ländern der Fall ist. Ob in Frankreich,
in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern:
Der befürchtete Werteverlust, vor dem ich selber Angst
gehabt habe, ist da nicht eingetreten. Das können wir sehen.
Herr Dr. Seifert, ich nehme das, was Sie hier gesagt
haben, sehr ernst. Aber die Teilhabechancen von behinderten Menschen sind in Deutschland nicht besser als in
Dänemark. Der Druck auf behinderte Menschen, ihr Dasein zu rechtfertigen, ist in den skandinavischen Nachbarländern nicht größer als in Deutschland.
({0})
Wir müssen doch einmal feststellen, dass es keinen
Grund gibt, einen deutschen Sonderweg des Totalverbots der PID aufgrund von Befürchtungen zu gehen, die
in unseren Nachbarländern offensichtlich schon widerlegt sind.
({1})
Wir können aufgrund der Erfahrungen in den Nachbarländern auch sehen: Es sind wenige Fälle, und es stehen ganz schwere persönliche Schicksale dahinter. Das
heißt, wir können davon ausgehen, dass es in Deutschland bei vielleicht 200 bis 300 Fällen bleiben wird. Jetzt
stellt sich doch die Frage: Wollen wir einen deutschen
Sonderweg gehen, um 200 bis 300 Frauen und ihren
Partnern die Möglichkeit zu verbieten, selbstbestimmt
zu entscheiden, ob sie einen Antrag stellen, dass bei ihnen aufgrund einer schweren erblichen Vorbelastung
eine PID durchgeführt wird? Wollen wir gleichzeitig in
Kauf nehmen, dass bei einzelnen der gleichen Frauen
nach der 22. Schwangerschaftswoche möglicherweise
eine Situation eintritt, in der sie dann selbstbestimmt entscheiden sollen, ob es eine Spätabtreibung gibt? Ich sage
Ihnen: Das ist nicht verhältnismäßig und - gesetzlich gedacht - auch nicht konsistent. Das müssen wir doch einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Wenn ich eine ganz persönliche moralische Bewertung
abgebe, dann muss das nicht verhältnismäßig und vielleicht auch nicht konsistent zu dem sein, was in den Gesetzen steht. Aber als Gesetzgeber muss ich anders vorgehen. Hier muss das Handeln konsistent sein. Eine
Spätabtreibung nach einer PND und ein Totalverbot der
PID stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis.
Noch etwas: Eine Religionsgemeinschaft kann von
ihren Anhängern verlangen, dass sie entweder ganz auf
Kinder verzichten oder das Risiko eingehen, weitere
Totgeburten oder weitere Fehlgeburten zu erleiden oder
eben ein mit einer schwersten Erbkrankheit belastetes
Kind auf die Welt zu bringen. Das kann eine Religionsgemeinschaft ihren Anhängern abverlangen. Ich bin aber
der Meinung, der Gesetzgeber sollte dies nicht tun.
Es geht um eine ganz persönliche Gewissensentscheidung von betroffenen Menschen in einer ganz schwierigen Konfliktsituation. Herr Dr. Krings, das kann man
den Leuten nicht ausreden; das ist für die Menschen so.
Herr Dr. Seifert, diese Menschen haben zum Teil schon
schwerstkranke Kinder, die sozusagen dem Tod geweiht
sind. Sie haben zum Teil schon durch eine schwere Erbkrankheit Angehörige verloren. Glauben Sie, Herr
Dr. Seifert, dass diese Menschen, wenn sie gerne die
Möglichkeit zur PID hätten, damit ein Werturteil darüber
abgeben, dass zum Beispiel das Leben ihres Bruders
oder ihres eigenen geliebten Kindes bis zu seinem Tod
nichts wert war?
Es ist keine Wertentscheidung über behindertes oder
Leben mit schweren Krankheiten. Es ist vielmehr die
Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung aus
einer tiefen Konfliktsituation heraus. Ich bin der Meinung, es gibt hierbei nicht nur eine einzige wahre Moral
für jeden Einzelfall, die der Gesetzgeber durch ein Verbot wenigen Betroffenen aufoktroyieren muss.
({3})
Das ist meine persönliche Überzeugung in diesem Fall.
Nach meiner Überzeugung sollten wir diesen wenigen
Betroffenen mit guter Beratung, guter Information und
medizinischer Begleitung in kompetenten und lizensierten Zentren so gut es irgend geht zur Seite stehen, aber
auch einen kleinen Türöffner für die Selbstbestimmung
erhalten. Ich finde, sie haben das verdient.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Sager, diejenigen in diesem
Hause, die die Präimplantationsdiagnostik zulassen wollen, argumentieren häufig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Das treibt auch mich um, und ich finde,
es ist ein Wert, den wir hier verteidigen sollten. Sie meinen, ein Verbot würde unverhältnismäßig stark in das
Selbstbestimmungsrecht der Frau über die eigene Fortpflanzung eingreifen. Dieser Auffassung bin ich nicht.
Das möchte ich erklären.
Wir reden doch hier über ein medizinisch-technisches
Verfahren, in dem letzten Endes Medizinerinnen und
Mediziner und Ethikkommissionen die Entscheidungen
treffen. Ich bin davon überzeugt: Je mehr Macht die Reproduktionstechnologie über den Körper der Frau erhält,
desto geringer wird ihre Selbstbestimmung. Ich empfehle, die Erfahrungsberichte betroffener Frauen zu lesen. Dann kann man nur schlucken.
({0})
Oft wird auch argumentiert, dass die PID Frauen vor
Schwangerschaftsabbrüchen bewahren könnte. Dafür
gibt es aber keinen Beleg. Schwangerschaften nach PID
- das haben wir schon mehrfach gehört - gelten grundsätzlich als Risikoschwangerschaften. Etwa die Hälfte
der Frauen wird einer invasiven Pränataldiagnostik unterzogen, zum Beispiel einer Fruchtwasserpunktion. Am
Ende bekommt nur eine von fünf Frauen nach einer PID
tatsächlich ein Kind, und das nach all diesen Torturen.
Auch unterstellen Sie damit, dass Ärztinnen und
Ärzte in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich wegen einer möglichen Behinderung des
Kindes durchführen würden. Das wäre aber rechtswidrig. Vor dieser Unterstellung muss ich die Ärztinnen und
Ärzte in Schutz nehmen. Das tun sie nicht leichtfertig.
In der Stellungnahme des Ethikrates, die heute schon
mehrfach zitiert worden ist, wird viel differenzierter argumentiert, als es hier teilweise dargestellt wird. Der
Ethikrat hinterfragt nämlich sehr genau, ob die Fortpflanzungsentscheidungen der einzelnen Frau tatsächlich als selbstbestimmt gelten können bzw. inwieweit
dies der Fall ist. Denn schon bei der Frage, ob eine Frau
überhaupt ein Kind will, spielen gesellschaftliche Standards, ökonomische Zwänge und Erwartungen des Umfelds eine entscheidende Rolle. Die von außen auf die
Frau einwirkenden Erwartungen und Zwänge beeinträchtigen die Selbstbestimmung. Mit den Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik werden meiner Auffassung nach diese fremdbestimmenden Elemente noch
erweitert. Auch kritische Feministinnen warnen vor
wachsendem Druck auf Frauen. Immer mehr würde ihnen sogar so etwas wie eine Schuld zugeschrieben, wenn
sie trotz medizinischen Fortschritts beispielsweise ein
Kind mit Downsyndrom geboren haben.
Wir alle kennen Beispiele für diesen Druck. So etwas
sei doch heute nicht mehr nötig, hat beispielsweise ein
Vater aus meinem Wahlkreis zu hören bekommen. Mit
„so etwas“ war sein Kind gemeint. Seiner Frau war während der Schwangerschaft ein schwerstbehindertes Kind
vorhergesagt worden. Wohl niemals werde es laufen
können, und vermutlich werde es die ersten Jahre nicht
überleben. Dieses Kind ist heute sieben Jahre alt und
läuft mitsamt seiner Behinderung munter durchs Leben.
Eine andere Mutter erzählte mir von ihrer Tochter, die
heute 28 Jahre ist und alleine selbstständig in einer Wohnung lebt - mit Trisomie 18, einer Chromosomenstörung, die als klassisches Beispiel für eine früh zum Tode
führende genetische Veränderung gilt.
Diese Beispiele zeigen doch, dass wir uns bei dieser
ganzen Debatte nicht auf Medizin oder Biologie als exakte Wissenschaften verlassen können, sondern dass wir
die gesellschaftliche Dimension dieser Technik in den
Mittelpunkt der Diskussion stellen müssen. Eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik bedeutet eben nicht
nur eine weitere Wahlmöglichkeit für Frauen, sondern
sie verändert auch unser gesellschaftliches Umfeld. Sie
verändert unsere ganze Haltung gegenüber Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft. Sie weckt hohe Erwartungen und Hoffnungen, die in den meisten Fällen bitter
enttäuscht werden. Sie verschärft die gesellschaftliche
Erwartungshaltung gegenüber den Frauen, wirklich alles
für ein biologisch eigenes, gesundes Kind zu tun. Das ist
aus meiner Sicht ein überholtes Frauen- und Familienbild.
({1})
Statt nun die Verantwortung für die Herstellung gleicher Rechte und Teilhabechancen zu übernehmen und
eine gerechtere und vor allem geschlechtergerechtere
Verteilung von unbezahlter Reproduktions-, Erziehungsund Pflegearbeit sowie die Abwehr von Diskriminierung
als gemeinschaftliche sozialstaatliche Aufgabe zu betrachten, bürden wir diese Aufgabe den betroffenen
Frauen individuell auf. Dazu muss ich sagen: Selbstbestimmung sieht für mich anders aus. Deshalb möchte ich
Sie bitten, den Gesetzentwurf für ein uneingeschränktes
Verbot der Präimplantationsdiagnostik zu unterstützen.
Danke sehr.
({2})
Christine Aschenberg-Dugnus hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
menschliche Dasein ist bestimmt durch körperliche
Existenzbedürfnisse wie Atmung, Schlaf, Nahrung und
Wärme, auch durch das Streben nach Sicherheit, Familie
und Anerkennung und durch das Streben nach Realisierung eigener Wünsche und Sehnsüchte. In diesem Kontext spielt das Streben nach Erkenntnis eine extrem
große Rolle. Das steckt in jedem von uns. Ein Verbot
dieses Erkenntnisstrebens kann nur scheitern, genauso
wie man damit scheitern würde, den Wunsch nach Fortpflanzung, den Wunsch nach Kindern zu unterdrücken.
Bereits Erkanntes kann man nicht unerkannt machen;
denn das Rad der Erkenntnis kann man nicht zurückdrehen. Nun sind wir seit geraumer Zeit an einem Punkt angelangt, an dem es die Wissenschaft möglich macht, eine
PID durchzuführen. Wir können jetzt nicht einfach auf
„Löschen“ drücken und dieses Wissenschaftskapitel verschwinden lassen, schon gar nicht, wenn das Verfahren
der PID in fast allen europäischen Ländern etabliert und
zugelassen ist.
({0})
Vielmehr ist es jetzt geboten, mit den möglichen Untersuchungsmethoden verantwortungsvoll umzugehen verantwortungsvoll und in engen Grenzen; denn nicht alles, was möglich ist, ist ethisch vertretbar. Nur deshalb
führen wir heute diese Debatte.
Müssen wir uns dem Wunsch einer Frau mit einer genetischen Vorbelastung verweigern, die weiß, dass sie
mithilfe eines Arztes herausfinden kann, ob bei dem
künstlich erzeugten Embryo eine solche schwere genetische Erkrankung vorliegt? Müssen wir das wirklich tun?
Können wir einer Frau verwehren, den Embryo zu untersuchen, wenn sie in der Vergangenheit bereits eine Totgeburt in der 26. Schwangerschaftswoche hatte und auch
schon ein Kind aufgrund einer schweren genetischen Erkrankung im Alter von drei Jahren verloren hat? Das
sind ganz konkrete Beispiele. Alle, die wir hier sitzen,
haben in den letzten Wochen und Monaten sehr viele
dieser Beispiele gesehen, darüber gelesen und mit Betroffenen gesprochen.
Muss man als Arzt wissentlich und absichtlich einen
Embryo einpflanzen, wenn man nicht ausschließen kann,
dass es bei der Frau erneut zu einer körperlich wie seelisch qualvollen Totgeburt kommt, obwohl es die PID
gibt? Ich denke, nein. Ein Untersuchungsverbot würde
einen Wertewiderspruch bewirken; denn eine pränatale
Diagnostik mit anschließender Spätabtreibung ist sowohl ethisch als auch rechtlich erlaubt. Ein PID-Verbot
wäre eine Verschiebung des ethisch-moralischen Konflikts, den jede Frau erlebt, auf die Zeit der Schwangerschaft. Im Mutterleib wird dieser Konflikt dann zu lösen
versucht, allerdings zulasten der Frau, die dann gezwungen ist, eine mögliche Totgeburt hinzunehmen oder eine
Spätabtreibung vornehmen zu lassen. Denn das ist rechtlich und ethisch erlaubt, aber eben für die Frau erheblich
belastender. Deshalb sieht unser Entwurf vor, die PID in
ganz engen Grenzen zuzulassen.
Wenn von Teilen der Gesellschaft vorgebracht wird,
man würde mit der PID Selektion betreiben, dann wird
die konkrete Situation der betroffenen Frauen verkannt;
denn diese Frauen haben in den meisten Fällen schon einen sehr langen Leidensweg hinter sich. Denken Sie an
das Beispiel, das ich Ihnen eben genannt habe. Nein, mit
der PID verfolgen wir ganz andere Ziele. Es geht einzig
und allein darum, schweres Leid von Frauen abzuwenden
und ihnen Totgeburt und Spätabtreibung zu ersparen. Es
geht gerade nicht darum, vollends gesunde Kinder zu
schaffen, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie - zu welchem Zeitpunkt auch immer - an irgendeinem Leiden erkranken werden. Es geht einzig und allein darum, ganz
bestimmte schwere Erbkrankheiten des Kindes zu erkennen, Erbkrankheiten, die in der jeweiligen Familie möglicherweise bereits aufgetreten sind. Es geht darum, unsägliches Leid, seelische und körperliche Belastung von
den Frauen abzuwenden. Das ist meines Erachtens
ethisch vertretbar und im Sinne der Nächstenliebe vernünftig und human. Ich möchte Sie herzlich bitten, unseren Entwurf zu unterstützen.
Danke.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es sind viele Argumente
vorgetragen, es sind viele juristische Aspekte beleuchtet,
es sind viele medizinische Sachverhalte genannt worden.
Ich will auf drei Punkte zu sprechen kommen, von denen
ich glaube, dass sie für jeden, der später in diesem Haus
die Entscheidung treffen muss, zentral sein werden.
Der erste Punkt betrifft die Frage der Würde. Die
Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob Würde teilbar
ist, ob sie abstufbar ist, ob unser Grundgesetz vorsieht,
dass Würde dadurch erworben werden muss, dass man
bestimmte Qualitäten, Merkmale oder Eigenschaften
aufweist. Professor Klaus Diedrich, der Direktor der
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Universität Lübeck, einer der Befürworter der Präimplantationsdiagnostik, hat in dieser Woche in einem Zeitungsinterview im Südkurier klar gesagt:
Das menschliche Leben fängt für mich durchaus
mit der Befruchtung an. Deshalb hat auch ein Embryo Würde. Aber es gibt Situationen, in denen die
Würde des Embryos zurücktritt hinter die Würde
der Mutter.
Ist das nicht die Aufforderung, zwischen unterschiedlichen Graden von Würde abzuwägen, die dem Menschen
zukommt? - Ich möchte das nicht.
({0})
Nun sagen die Befürworter des Gesetzentwurfs zur
Zulassung der PID - das war auch in der Rede, die gerade gehalten worden ist, deutliches Votum -: Wir wollen die Zulassung der PID in ganz engen Grenzen. Ich
frage: Wird es möglich sein, den Anspruch auf Zulassung „in ganz engen Grenzen“ in Einklang zu bringen
mit der Selbstbestimmung der Mutter, mit der Selbstbestimmung des Vaters? Wie geht es Eltern, wenn sie gefragt werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind
ohne Downsyndrom? Wie geht es Eltern, die gefragt
werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind ohne
Mukoviszidose? Willst du lieber ein Kind, das mit hoher
Wahrscheinlichkeit später an die Dialyse muss, weil es
eine polyzystische Nierenerkrankung erbt, oder willst du
lieber, dass das Kind das nicht erbt? Willst du lieber ein
Kind, das mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit Brustkrebs bekommt, oder lieber ein Kind, bei dem diese
Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist? - Das sind doch
die Fragen, die, wenn das Wissen nicht ausgeschaltet
werden kann, zu beantworten sind.
Ich glaube - zweiter Punkt -, Eltern können immer
nur die besten Chancen für das Kind wollen, und sie
können die beste Chance nicht nur in einer spezifischen
Situation wollen. Deswegen glaube ich nicht, dass es
möglich ist, diese „ganz engen Grenzen“ so zu definieren, dass sie wirklich greifen und wirksam sind.
({1})
Dritter Punkt: Ich weise darauf hin, dass zwar der Gesetzentwurf, den Frau Flach uns vorgestellt hat, dafür
wirbt, dass wir eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine
schwerwiegende Erbkrankheit als Voraussetzung haben
müssen. Aber was ist eine schwerwiegende Erbkrankheit? Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass in dem zustimmend zitierten Text des Wissenschaftlichen Beirats
der Bundesärztekammer steht:
Die Bundesärztekammer wird in einer „({2})
Richtlinie zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik“ Regelungen zum Indikationsspektrum
- und zu Weiterem treffen.
Das heißt, es wird dann Festlegungen über das Indikationsspektrum geben. Sie werden auch nötig sein, weil
es doch nicht zu tolerieren sein wird, dass in dem einen
Bundesland eine Ethikkommission sagt: „Du darfst leben“, und in einem anderen Bundesland eine Ethikkommission sagt: Du darfst nicht leben, obwohl du die gleiche Diagnose, die gleiche Lebenserwartung hast. - Wir
werden Indikationslisten bekommen.
({3})
Diese Indikationslisten werden sich darauf zurückführen
lassen, dass wir hier diese Frage offengelassen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie für eine Begrenzung eintreten: Vielleicht ist diese Diskussion noch
nicht weit genug geführt. Vielleicht ist es wirklich notwendig, noch nach einem Weg zu dieser Begrenzung zu
suchen; ich weiß das nicht. Vielleicht ist man in zehn
Jahren bei einer Begrenzung, die im Konsens gefunden
werden kann. Aber jetzt, in dieser Situation - der Bundesgerichtshof hat jedes Handeln zugelassen -, muss
eine Entscheidung getroffen werden, die die Möglichkeit
der Präimplantationsdiagnostik ausschließt. Das, meine
ich, müsste auch diejenigen überzeugen, die im Prinzip
für enge Grenzen eintreten, solange kein Weg beschrieben ist, wie diese ganz engen Grenzen wirklich zustande
kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Hubertus Heil hat das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass diese Debatte unserem Hause gut ansteht. Man kann hier zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen. Es ist ein gutes Signal,
auch für unsere parlamentarische Demokratie, dass wir
heute gemäß Art. 38 unseres Grundgesetzes diskutieren.
Das macht uns, den Abgeordneten, in unserer Verantwortung deutlich, dass wir nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind, sondern Gewissensentscheidungen zu treffen haben.
Es ist gut, dass wir eine Debatte führen, wie ich finde,
mit durchaus hohem Niveau, die deutlich macht, um was
wir ringen und um welche Abwägung es geht. Ich will
an dieser Stelle das, was mich umtreibt und was dazu geführt hat, dass ich die Meinung, die ich zu diesem
Thema hatte, revidiert habe, darlegen. Ohne vertiefte
Kenntnis, vor allen Dingen aber ohne persönliche Berührung hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, dass
das Verbot der Präimplantationsdiagnostik, das durch die
Entscheidung des Bundesgerichtshofs aufgehoben
wurde, richtig und nachvollziehbar ist. Was mich bewogen hat, umzudenken, ist nicht das Urteil gewesen, sondern was mich bewogen hat, umzudenken, ist eine persönliche Erfahrung gewesen. Ich weiß, dass Politik nicht
immer nur aus Einzelschicksalen und persönlicher Erfahrung Schlussfolgerungen ziehen kann, aber sie sind
eben manchmal Anlass zum Umdenken.
In diesem Fall geht es um ein befreundetes Paar, das
ich vor einigen Jahren begleiten musste. Die beiden, die
nach wie vor meine Freunde sind, hatten und haben
sehnlichst einen Kinderwunsch, waren hocherfreut, als
sich dieser Kinderwunsch erfüllte, wussten aber nicht,
dass das Kind eine Erbkrankheit hatte, erblich vorbelastet war, und mussten miterleben, dass dieses Kind aufgrund einer fortschreitenden unheilbaren Muskelerkrankung wenige Wochen nach der Geburt qualvoll sterben
musste. Ich war bei der Beerdigung, und das war etwas,
was mich tief erschüttert hat.
Ich habe erlebt, wie es diesem Paar im Weiteren ergangen ist und ergeht. Die beiden haben nach wie vor einen Kinderwunsch. Sie haben aufgrund dessen, was sie
erlebt haben, feststellen müssen, dass sie beide unglücklicherweise eine genetische Disposition haben, nach der
die Wahrscheinlichkeit, dass das wieder passiert, ungefähr 80 : 20 beträgt. In der Realität des Lebens haben sie
nun drei Optionen: Erstens können sie es noch einmal
versuchen - mit der Wahrscheinlichkeit von 80 : 20 und
übrigens unter Inkaufnahme dessen, dass man es in diesem Wissen im Zweifelsfall auf eine Spätabtreibung ankommen lassen muss. Die zweite Möglichkeit ist - das
hat etwas mit Lebensrealität zu tun; das wäre bei uns
rechtswidrig und bliebe nach den Gesetzesvorschlägen,
die vorliegen, rechtswidrig -, mit dem entsprechenden
Geld nach Belgien oder nach Israel zu gehen, wie es - reden wir offen darüber! - viele Paare in Deutschland in
der Vergangenheit getan haben. Die dritte Möglichkeit
ist, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu versagen.
Meine Damen und Herren, ich bin für eine begrenzte
Zulassung der Präimplantationsdiagnostik genau aus
dieser Lebensrealität heraus. Ich finde, dass man zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen kann. Mich
lässt nicht unberührt, was Behindertenverbände an Befürchtungen und Erwägungen genannt haben - viele
Kolleginnen und Kollegen haben es zitiert -; ich bin nur
der festen Überzeugung, dass wir als deutsches Parlament diesen Befürchtungen nicht entgegentreten, indem
wir das, was in der begrenzten Zahl solcher Fälle an Hilfen notwendig und menschlich vertretbar ist, verweigern.
Es ist etwas anderes, was notwendig ist, um Menschen mit Behinderungen in diesem Land eine diskriminierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu
ermöglichen. Der Blick in Länder, in denen die PID zugelassen ist - ich glaube, die Kollegin Sager hat es vorhin zitiert -, macht deutlich, dass es nicht die PID ist, die
Druck auf behinderte Menschen macht. Es gibt darunter
Länder, in denen Menschen mit Behinderungen besser
leben können und weniger Diskriminierung ausgesetzt
sind als in unserer deutschen Gesellschaft. Vielleicht
geht es um ein paar andere Themen der Teilhabe, um die
wir uns miteinander kümmern müssen - von der Antidiskriminierungsgesetzgebung bis hin zur Teilhabe am
Hubertus Heil ({0})
schulischen und beruflichen Leben. Das ist eine Verantwortung. Ich bitte alle, die dieses Argument nennen, aus
berechtigten Erwägungen, sich mit uns gemeinsam diesen anderen Themen zuzuwenden.
Für mich ist entscheidend, dass wir in der Präambel
unseres Grundgesetzes gemahnt werden, uns unserer
Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst zu
sein. Nun geht es hier um sehr persönliche Überzeugungen. Ich weiß, dass hier auch viele Christen gesprochen
haben - auch ich bin evangelischer Christ -, die auf der
Grundlage ihres gemeinsamen Glaubens zu unterschiedlichen Schlüssen in dieser Frage kommen. Das ist zu akzeptieren. Meine Bitte ist nur, dass wir in diesem Parlament weiterhin die Fairness wahren und uns nicht
gegenseitig die Argumente absprechen.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Frau Flach, Frau
Reimann, Herrn Hintze und anderen, die diesen Gesetzentwurf zustande gebracht haben.
Zum Schluss habe ich einen Appell. Heute ist die
erste Lesung der Gesetzentwürfe, dann folgen die Ausschussberatungen, und am Ende werden wir im Plenum
zu einer Entscheidung kommen müssen. Meine Bitte an
die Kollegen Hinz und Röspel ist, darüber nachzudenken, ob die Unterzeichner beider Gesetzentwürfe nicht
noch einmal miteinander ins Gespräch kommen können.
Der Fall, den ich genannt habe, wäre von dem Gesetzentwurf von Röspel und Hinz übrigens abgedeckt.
Herr Kollege!
Ich habe aus anderen Gründen dem anderen Gesetzentwurf zugestimmt. Aber bevor es zu einem absoluten
Verbot der PID in Deutschland kommt, bitte ich, dass
wir noch einmal miteinander sprechen.
Herzlichen Dank.
({0})
Markus Kurth hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben gerade in der Rede von Herrn Heil wie auch
in einigen anderen Beiträgen von Befürwortern einer
Freigabe der PID die Schilderung eines tragischen individuellen Elternschicksals gehört, das - so will ich hier
ganz deutlich sagen - auch mich nicht unberührt lässt.
Ich war in den letzten Wochen und Monaten bei mehreren Diskussionsveranstaltungen und Versammlungen,
wo ich mit Eltern zusammengetroffen bin, die eine erbliche Vorbelastung und gleichzeitig einen starken Kinderwunsch haben. Ich habe diesen Eltern auch gesagt, dass
ich als Teil des Gesetzgebers ihre Perspektive nicht unhinterfragt komplett übernehmen kann, sondern dass ich
eine Abwägung vornehmen muss: zwischen ihrem
Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, und der - ich
führe das noch aus - Infragestellung der Menschenwürde durch die Entscheidung, ob ein Leben lebenswert
ist oder nicht.
({0})
Im Verlauf dieser Debatte ist diese Abwägung von
den Befürwortern einer begrenzten Freigabe der PID aus
meiner Sicht nicht vorgenommen worden, obwohl Herr
Hintze eingangs davon gesprochen hat. Sie blieben vielfach bei der rhetorischen Frage stehen, mit welchem
Recht man den Eltern verbieten könne, die medizinischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen.
Man hätte auf diese rhetorische Frage durchaus eine
Antwort finden können, und zwar in Art. 1 Abs. 1 des
Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die Frage ist, ob die Würde des Menschen teilbar ist
oder nicht. Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand in
dieser Debatte gesagt hätte, ein Embryo, auch wenn er
sich extrakorporal in der Petrischale befindet, habe keine
Menschenwürde. Jerzy Montag hat ausgeführt, die
Menschwerdung sei abhängig von dem Zusammenwirken der Frau und des Embryos; aber er hat nicht gesagt,
dass dem Embryo keine Menschenwürde zuerkannt werden würde. Wenn es so ist, dass wir auch diesem Embryo
die Menschenwürde zuerkennen, dann müssen wir fragen: Welche Folgen hat es, wenn wir gegenüber einem
menschlichen Leben, das die Menschenwürde genießt,
Lebenszustände beschreiben, die wir als lebenswert oder
nichtlebenswert definieren? Aus meiner Sicht wird hier
der Rubikon überschritten und eine noch gar nicht abzusehende, bahnbrechende Wertentscheidung vorgenommen, die nicht nur das Leben an seinem Anfang betrifft,
sondern auch Folgen haben wird für das Ende des Lebens.
({1})
Wenn wir uns erst einmal anmaßen, Lebenszustände
als lebenswert oder nichtlebenswert zu definieren, dann
werden wir - das ist meine Überzeugung und auch Befürchtung - die Folgen nicht eingrenzen können. Durch
keine Ethikkommission und keine Beschreibung von
Einzelfallentscheidungen wird das in den Griff zu bekommen sein.
Frau Sitte, ich nehme Ihnen ja ab, dass die betroffenen Eltern, wie Sie es sagten, keine populationsgenetischen Überlegungen anstellen. Ich will Ihnen natürlich
auch nicht unterstellen, dass Sie der Euthanasie oder dergleichen nahestünden. Aber die Frage ist doch, ob sich
nicht ein gesellschaftliches Bild vom menschlichen Leben Bahn bricht, auf dessen Grundlage am Ende Nützlichkeitsentscheidungen getroffen werden.
({2})
Der Druck auf das Gesundheitssystem - Stichwort
„knappe Ressourcen“ - wird möglicherweise ein Übriges tun. Dies ist schon jetzt bei der PND der Fall, wo,
mehr oder minder unausgesprochen, bestimmte Fragen
von Ärztinnen und Ärzten gestellt werden. Wenn wir
einmal die Menschenwürde infrage gestellt haben, dann
gibt es gegenüber denjenigen, die aus gesundheitsökonomischen Überlegungen die PID vorantreiben wollen,
keine Haltelinie mehr.
In Bezug auf Menschen mit Behinderung befürchte
ich eine Perspektivverschiebung. Frau Molitor hat völlig
zu Recht gesagt, dass nur ein Bruchteil der Behinderungen von genetischen Defekten abhängig ist. Die Frage
ist, wie wir mit dem Thema Behinderungen in der gesellschaftlichen Diskussion zukünftig umgehen wollen,
wenn wir die PID als Möglichkeit haben. Behinderungen
werden dann als vermeidbares Leid thematisiert, als etwas Defizitäres, Mangelhaftes und Auszusortierendes.
Ich befürchte, dass dieser Perspektivwechsel, was Menschen mit Behinderungen angeht, eine Gesellschaft bewirkt, die den Begriff der Menschenwürde nicht mehr
vorbehaltlos trägt und die uns dann allen möglicherweise
nicht mehr die Lebensqualität und die Würde bietet, die
wir eigentlich von ihr verlangen.
Ich bitte um Unterstützung für ein vollständiges Verbot der PID.
({3})
Das Wort hat Dr. Helge Braun.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist keine einfache Debatte, auch nicht für mich; denn
in meinem beruflichen Leben als Narkosearzt habe ich
es stets abgelehnt, an Abtreibungen teilzunehmen.
Das Lebensrecht von Menschen hat selbstverständlich auch für mich eine hohe Bedeutung. Vieles, was hier
über Menschen mit Behinderungen und über deren Lebensfreude und Lebensrecht gesagt worden ist, teile ich
uneingeschränkt. Ich sehe auch den Rechtfertigungsdruck von Eltern, die ein Kind mit Behinderung angenommen haben.
Wir müssen natürlich zunächst vom Embryo ausgehen und über sein Lebensrecht sprechen. Die Rechtslage
in Deutschland ist heute so - das ist der Grund, warum
es ein entsprechendes Urteil gegeben hat -, dass es ein
Abtreibungsrecht, das eine Fristenregelung und eine soziale Indikation vorsieht, gibt. Das bedeutet: Das Lebensrecht eines Embryos, den wir im Rahmen der PID
nicht untersucht haben, aber dann im Rahmen einer Pränataldiagnostik untersucht haben, kann beschnitten werden und eine Abtreibung zur Folge haben. Diese Abtreibung gilt es zu vermeiden. Es gilt auch, eine hohe Zahl
von Tot- und Fehlgeburten zu vermeiden. Für diese gelten in Deutschland zwar keine absolut gesehen hohen
Zahlen; sie kommen aber besonders häufig bei Eltern
mit einem spezifischen erblichen Vorbelastungsprofil
vor.
Es ist natürlich nicht so, dass die PID heilsbringend
ist. Sie wird sich auch aufgrund der geringen Zahl der
Betroffenen nicht positiv auf die Gesamtstatistik in
Deutschland auswirken. Sie bedeutet eine ganz individuelle Verbesserung und Linderung von Leid aufgrund von
Fehl- und Totgeburten und bewirkt die Vermeidung von
Abtreibungen in einem ganz konkreten Indikationskonzept.
Einige sprechen hier von einem Dammbruch. Im Verhältnis zur Abtreibung muss man sagen: Der Dammbruch ist garantiert nicht die PID; denn die PID wird in
dem Gesetzentwurf deutlich schärfer reguliert, als dies
im allgemeinen Recht der Fall ist. Dies gilt in dreifacher
Hinsicht: Erstens. Der im Gesetzentwurf genannte Personenkreis ist im Vergleich zum Abtreibungsrecht deutlich stärker eingegrenzt. Zweitens. Die Gründe, die zur
Nichteinpflanzung führen könnten, sind im Gesetzentwurf deutlich strenger geregelt als die Gründe, nach denen eine Abtreibung möglich wäre. Drittens. Das Stadium, in dem die PID durchgeführt wird, ist das
Vorembryonalstadium, nicht das Embryonalstadium.
Das sind drei Punkte, die zeigen, dass die vorgelegte Regelung zur PID aus ethischer Sicht ein weniger starker
Eingriff ist als die Regelungen zur Abtreibung.
Meine Damen und Herren, deshalb muss man sich nur
noch mit der Frage beschäftigen: Wird die Anwendung
der PID irgendwann ausgeweitet, kommt es irgendwann
dazu, dass sie in einem deutlich breiteren Spektrum angewendet wird? Wer sich die Zahlen anschaut und sieht,
welche Beschwernisse mit einer künstlichen Befruchtung - mit der Gewinnung der Eizellen, der Befruchtung
und der Implantation - verbunden sind, der weiß, dass es
hier überhaupt nicht darum geht, ein gesundes Kind zu
garantieren. Vielmehr ist es der Versuch, eine höhere
Wahrscheinlichkeit zu erzielen, ein lebensfähiges Kind
zu bekommen. Auch mit der PID - das ist hier gesagt
worden - liegt die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene
Paare ein lebensfähiges Kind bekommen, nur bei einem
Drittel bis 50 Prozent. Das heißt, die befürchtete schöne
neue Welt, in der Kinder in wundervoller Weise gezeugt
werden, ist mit der Technologie der PID nicht umsetzbar.
Schon deshalb gibt es eine Begrenzung.
Wir haben heute viele Argumente zu diesem Thema
gehört. Mir ist wichtig, eine weitere Frage in den Mittelpunkt zu stellen: Ist es die Aufgabe des Deutschen Bundestages, diese Gewissensentscheidung für die Bevölkerung insgesamt zu treffen, oder steht hier eine
individuelle Gewissensentscheidung im Vordergrund?
({0})
Ich sage: Es ist eine individuelle Gewissensentscheidung. Sie korrespondiert mit dem bestehenden Abtreibungsrecht.
Eine Fristenregelung, die Ärzte in die Verantwortung
bringt, über Studien Erkenntnisse zur Lebenserwartung
zu ermitteln, die quasi rechtsetzenden Charakter erhalten, halte ich für falsch. Deshalb ist eine Einjahresfrist
nicht geeignet. Vielmehr muss es, selbstverständlich auf
der Grundlage von Leitlinien der Ärztekammer, zu einer
individuellen Beratung, einem individuellen Gespräch
und einer individuellen Gewissensentscheidung kommen. Deshalb bitte ich um Zustimmung zum Gesetzentwurf von Frau Flach und Kollegen.
({1})
Elke Ferner hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Auch wenn man wie ich für ein sehr weit gehendes
Selbstbestimmungsrecht der Frau ist - da geht es mir
ganz ähnlich wie Biggi Bender -, kann man für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik eintreten.
({0})
Es wurde auf die Praxis in anderen Ländern und die
sicherlich unbestreitbar schwierige Situation der Frauen
verwiesen, die bereits mehrere Fehlgeburten hatten und
sich trotz ihrer eigenen genetischen Disposition oder der
des Partners ein gesundes Kind wünschen. Die PID ist
aber nur scheinbar geeignet, dieses individuelle Leid zu
vermeiden. Durch die In-vitro-Befruchtung besteht die
Möglichkeit, die künstlich erzeugten Embryonen zuerst
auf mögliche genetische Schäden zu untersuchen, um
dann der Frau nur gesunde Embryonen zu implantieren.
Die Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik ist
die In-vitro-Befruchtung. Die Indikation hierfür ist zumindest bisher die Unfruchtbarkeit der Frau, in besonderen, eingeschränkten Fällen auch die Unfruchtbarkeit
des Mannes; die genetische Disposition müsste erst hinzutreten.
Die nächste Frage, die zu beantworten ist: Käme diese
Methode dann für alle Frauen mit einer entsprechenden
genetischen Disposition in Betracht? Das ist nicht der
Fall; denn unverheiratete Frauen haben derzeit, zumindest wenn sie in der gesetzlichen Krankenversicherung
versichert sind, keinen Zugang zur In-vitro-Befruchtung.
({1})
Wenn man die Präimplantationsdiagnostik befürwortet,
darf man aus meiner Sicht keinen Unterschied machen
zwischen Frauen, die verheiratet sind, und Frauen, die
nicht verheiratet sind;
({2})
denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leid von unverheirateten Frauen, ihr Kinderwunsch und ihr Wunsch,
ein gesundes Kind zu bekommen, sind doch nicht dadurch geringer, dass sie keinen Trauschein haben.
Das Nächste, was man sich fragen muss: Was passiert
denn, wenn die drei Versuche, die bisher von den Kassen
bezahlt werden, ausgeschöpft sind, ohne dass es zu einer
Schwangerschaft oder einem Kind, das gesund geboren
worden ist, gekommen ist? Was ist denn mit den Paaren,
die nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrund
haben? Auch die werden die PID nicht in Anspruch nehmen können.
Die Behandlung - das ist eben schon gesagt worden ist für die Frauen eine sehr, sehr große psychische und
physische Belastung, und sie ist auch nicht frei von
Komplikationen. Wie einer Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses zu entnehmen ist, haben Kinder, die mit der In-vitro-Befruchtung gezeugt werden,
statistisch ein signifikant höheres Fehlbildungsrisiko als
Kinder, die auf normalem Wege gezeugt worden sind.
Insofern, glaube ich, ist das auch ein Punkt, der zu dieser
Debatte gehört.
Die Frage ist aber auch: Wie wird es weitergehen? Ich
bin der festen Überzeugung, dass Paare mit einer entsprechenden genetischen Disposition genauso wie
Frauen, die heute ein gewisses Lebensalter überschritten
haben, dann quasi mehr oder weniger in die PID hineingedrängt werden, so wie Frauen, die älter als 30 sind,
heute in vielen Fällen in die Pränataldiagnostik hineingedrängt werden, ob sie das nun wollen nicht.
({3})
Eines sage ich Ihnen auch voraus: Schon allein aus
Gründen des Haftungsrechts bei den Ärzten wird nach
der PID, wenn es zu einer Schwangerschaft gekommen
ist, die PND als Kontrollmethode, als Kontrolldiagnose
weiterhin stattfinden.
({4})
Insofern werden mit dieser Diagnostik auch keine Spätabbrüche vermieden.
({5})
Deshalb sollten diejenigen, die das befürworten, sich
noch einmal überlegen, was da passiert. Nicht alle
Frauen in Deutschland werden den Zugang zu der Diagnostik haben, also zum Beispiel Nichtverheiratete,
Frauen, die drei Versuche ausgeschöpft haben. Nicht alle
Behinderungen können ausgeschlossen werden, nicht
alle sogenannten Spätabbrüche vermieden werden. Der
Tourismus wird nicht ausgeschlossen werden können,
und es ist auch keine selbstbestimmte Entscheidung der
Frau. Es ist keine selbstbestimmte Entscheidung, wenn
am Ende eine Kommission darüber entscheidet, ob eine
Frau diese Diagnostik in Anspruch nehmen darf.
({6})
Nicht die Frau entscheidet darüber, sondern eine Kommission entscheidet darüber, unter welchen Bedingungen die Diagnostik angewandt werden darf.
Das viel Schwierigere aus meiner Sicht sind Fragen
wie: Wie stehen wir zu Menschen mit Behinderung in
unserem Land? Das ist für mich am Ende der ausschlaggebende Punkt. Ich sage: Zu der Vielfalt in unserer Gesellschaft gehört eben auch menschliches Leid. Es gehören auch Menschen mit Behinderung dazu. Ich möchte
nicht, dass sich Eltern, die sich bewusst für ein Kind mit
Behinderung entscheiden, dafür rechtfertigen müssen.
({7})
Ich möchte nicht, dass Menschen mit Behinderung, die
Teil unserer Gesellschaft sein wollen oder es sind, oder
ihre Eltern sich rechtfertigen müssen und ihnen vorgehalten wird, dass das alles unter Anwendung der PID
nicht hätte sein müssen. Das gehört mit dazu, auch wenn
damit menschliches Leid verbunden ist. Das gehört aus
meiner Sicht zur Vielfalt unserer Gesellschaft dazu. Wir
sind keine perfekte Gesellschaft. Ich finde, wir sollten
auch nicht eine Gesellschaft wollen, die nur aus perfekten Menschen besteht.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Fast am Ende der Debatte scheinen zur Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik fast alle Argumente
vorgetragen zu sein. Ich stehe hier auch, um den Antrag
von Frau Flach und vielen anderen zu unterstützen. Fasst
man die Vielfalt der Meinungen zusammen, mag man
dem Deutschen Ethikrat in seiner einhelligen Feststellung zustimmen, dass der verfassungsrechtliche Status
des Embryos in vitro, auf den es bei der Problematik der
PID ankommt, derzeit nicht streitfrei bestimmt werden
kann. Oder anders ausgedrückt: Die Problematik der
PID ist nicht durch Rückgriff auf einen eindeutigen verfassungsrechtlichen Status des Embryos zu klären.
({0})
Zu sehr ist der Diskurs zur PID und zum Rechtsstatus
des Embryos in vitro von vorrechtlichen, metaphysischen, ja religiösen Festlegungen, Erwägungen und Vorstellungen durchsetzt, als dass er derzeit einem breiten
gesellschaftlichen Konsens zugänglich wäre.
Wenn auch nicht ganz unerwartet, so erstaunt diese
Uneinigkeit insofern, als gerade wir, der deutsche Gesetzgeber, im Rahmen der letzten Neufassung des § 218
des Strafgesetzbuches den Schutzbedarf und den Schutzumfang des Embryos in vivo in einer Weise zur rechtlichen Geltung gebracht hatten, die ausweislich des entsprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit
den Forderungen des Grundgesetzes in Einklang steht.
Auch das 1991 und zuletzt 2001 geänderte Embryonenschutzgesetz folgt dieser offensichtlich verfassungskonformen Linie. Genau auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Juli 2010.
Obgleich, wie der Bundesgerichtshof darlegt, dem Wortlaut des geltenden Rechts weder eine eindeutige Ablehnung noch eine eindeutige Billigung der PID zu entnehmen ist, schließt der Bundesgerichtshof - das möchte ich
noch einmal betonen; nach meiner Ansicht zu Recht aus der in § 3 Abs. 2 des Embryonenschutzgesetzes normierten Ausnahme vom Verbot der Geschlechterauswahl
durch Verwendung ausgewählter Samenzellen, dass der
Gesetzgeber sehr wohl den aus den Risiken von Erbkrankheiten resultierenden Konfliktlagen der Eltern
Rechnung tragen wollte.
Damals formulierten wir, der Gesetzgeber, unmissverständlich, es könne einem Ehepaar nicht zugemutet
werden, sehenden Auges das Risiko einzugehen, ein
krankes Kind zu bekommen, wenn künftig die Möglichkeit bestehen sollte, durch Spermienselektion ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Der urteilende Senat des
Bundesgerichtshofs konnte wegen der insoweit vom Gesetzgeber schon damals getroffenen Werteentscheidung
und dazu gegebenen Begründungen eben nicht annehmen, dass der Gesetzgeber, der die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft im
Embryonenschutzgesetz ohne weitere Voraussetzungen
erlaubt hat, die zur Verminderung gravierender Gesundheitsrisiken geeignete PID an pluripotenten Zellen verboten hätte, wenn sie seinerzeit schon zur Verfügung gestanden hätte.
Es ist ein weiterer Blick notwendig auf § 15 Abs. 1
Satz 1 des im Wesentlichen am 1. Februar 2010 in Kraft
getretenen Gendiagnostikgesetzes, wonach vorgeburtliche genetische Untersuchungen während der Schwangerschaft ausdrücklich erlaubt sind. Auch daraus war der
Bundesgerichtshof ein gesetzliches Verbot der PID herzuleiten nicht in der Lage; denn sonst hätte es der Gesetzgeber auch damals, 2010, ausdrücklich gesagt.
Nach diesen einschlägigen Entscheidungen folgt meiner Auffassung nach, dass das der bestehenden Rechtslage zugrunde liegende Embryonenschutzkonzept und
der Rechtsstatus des Embryos auf die zur Herbeiführung
einer Schwangerschaft strikt begrenzte und deshalb zulässige PID übertragbar ist. Aus meiner Sicht kann ein
PID-Gesetz nur den Sinn haben, auf der Basis des vom
geltenden Recht umfassten Schutzkonzeptes die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen die PID rechtmäßig zur Anwendung kommen darf, zu präzisieren.
({1})
Mein letzter Satz: Ein Verbot der PID würde die bestehende Rechtslage gravierend ändern, würde unerklärbare, höchst problematische Wertungswidersprüche im
Fortpflanzungsrecht erzeugen und würde genau das tun,
was der deutsche Gesetzgeber doch eigentlich als unzumutbar ausschließen wollte,
({2})
nämlich hartherzig die Augen vor dem unsäglichen Leid
der Eltern zu verschließen, die dann ihren legitimen
Kinderwunsch aufgeben oder nur durch künstliche Befruchtung unter dem Risiko schwerer und schwerster,
zuweilen tödlicher Erbkrankheiten des Kindes erfüllen
könnten.
Deshalb unterstütze ich den Gesetzentwurf von Frau
Flach und vielen anderen aus tiefster Überzeugung.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Ende einer langen und sehr ernsthaften Debatte
möchte ich noch einmal ein paar zentrale Fragen aufgreifen.
Erstens. Wann ist der Mensch ein Mensch? Jeder von
uns, die wir hier sitzen, war einmal ein Zellhaufen, auch
wenn der uns, so wie wir jetzt aussehen, völlig unähnlich
ist. Aber: Wie ähnlich werde ich eigentlich als 90-jährige
Greisin dem neugeborenen Säugling sein, der ich einmal
war? Deshalb: Das Leben des Menschen beginnt mit der
Verschmelzung von Ei und Samenzelle.
({0})
Daher kommt dieser ersten und frühesten Lebensphase
der uneingeschränkte Schutz des Grundgesetzes zu.
Zweitens. Kann PID Paaren mit genetischer Vorbelastung wirklich und sicher dabei helfen, ein gesundes Kind
zu bekommen? Die Antwort lautet ganz klar: Nein. Das
Verfahren hat eine sehr geringe Erfolgsquote, das haben
wir schon gehört. Die sogenannte Baby-take-home-Rate
beträgt 15 bis 20 Prozent; das heißt, nur jedes fünfte Paar
bekommt nach dieser sehr belastenden Prozedur überhaupt ein Kind.
Herr Kollege Braun, wenn Sie sagen: Überlassen wir
diese Entscheidung doch dem Gewissen der Eltern - je
nachdem und individuell -, dann widerspricht das zum
einen der Forderung in Ihrem Antrag, eine Ethikkommission einzusetzen.
({1})
Das heißt: entweder Ethikkommission oder individuelle
Entscheidung. Zum anderen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass es um eine grundsätzliche Angelegenheit des
Lebensschutzes geht. Die gehört in dieses Haus, in dieses Parlament. Wir können uns vor dieser Verantwortung
nicht drücken.
({2})
Drittens. Ist die PID tatsächlich auf wenige bestimmte
Fälle eingrenzbar? Meine ganz bestimmte Antwort ist
auch hier: Nein. Was passiert denn, wenn der Arzt Auffälligkeiten sieht, die nicht untersucht werden sollen, wie
zum Beispiel leichte Behinderungen oder leicht behandelbare Krankheiten? Die Bundesärztekammer will in
ihrem jüngsten Richtlinienentwurf sogar die Untersuchung auf spätmanifestierende Krankheiten zulassen.
Glauben Sie denn wirklich, dass solche Embryonen dann
implantiert werden würden?
Bei den Untersuchungskits gibt es derzeit den Trend
zu Genchips, die nicht nur einzelne Gene, sondern ganze
Gensequenzen untersuchen. Das ist nämlich deutlich
kostengünstiger. Es wird keine Testkits geben, die an die
individuelle genetische Situation einzelner Paare angepasst wären. Das ist schlicht zu teuer. Es werden Standardkits sein.
({3})
Erst im Januar ist ein neuer Test von Kingsmore et al.
publiziert worden, der sage und schreibe 448 Anlagen
für Erbkrankheiten auf einmal testet. Deshalb bin ich mir
ganz sicher: Wenn wir PID auch nur für wenige Einzelfälle zulassen, wird letztlich eine Tür geöffnet, die wir
niemals wieder schließen können.
({4})
Zudem: Wie ist denn unsere Erfahrung mit engen Indikationen? In den 90er-Jahren hat der Deutsche Bundestag - auch das ist hier schon angesprochen worden die embryopathische Indikation abgeschafft, weil Behinderung kein Grund dafür sein darf, nicht leben zu dürfen.
Aber wir haben Abtreibungen bis in die späte Schwangerschaft straffrei gestellt für die wenigen Fälle, in
denen der Mutter durch die Behinderung des Kindes Gefahr für Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit droht, die nur durch einen Schwangerschaftsabbruch abgewendet werden kann.
Was aber ist die traurige Realität der pränatalen Diagnostik? Die Fruchtwasseruntersuchung - eine Kassenleistung, gedacht für wenige Einzelfälle - wird heute
praktisch jeder schwangeren Frau ab dem 35. Lebensjahr
geraten. Wir müssen davon ausgehen, dass ungefähr die
Hälfte aller Kinder mit Trisomie 21, also dem Downsyndrom, abgetrieben werden.
Wer kann eine ähnliche Entwicklung bei der PID ausschließen? Wer glaubt daran, dass Eltern sich dafür entscheiden, dass ein Embryo mit einem diagnostizierten
weniger schwerwiegenden Chromosomendefekt implantiert wird? Ganz zu schweigen von den haftungsrechtlichen Konsequenzen, die wir in der sogenannten Kindals-Schaden-Rechtsprechung in aller Radikalität kennengelernt haben.
Deshalb: Der Staat ist durch das Grundgesetz zum
Schutz des Lebens verpflichtet; danach ist unsere Gesetzgebung auszurichten. PID bedeutet immer, dass wir
eine Entscheidung darüber treffen, dass Leben in seiner
frühesten Form nur unter der Bedingung weitergelebt
werden darf, dass es keine genetischen Auffälligkeiten
aufweist. Das dürfen wir nicht zulassen. Behinderung
darf niemals Grund für weniger Lebensschutz sein.
({5})
Der Verfassungsrechtler Professor Hillgruber schrieb
in einem Artikel in der FAZ in der letzten Woche - ich
zitiere -:
Kein Mensch ist allein aufgrund seiner Existenz,
mag sie noch so defizitär sein, für einen anderen
Menschen unzumutbar.
({6})
Genau das - das darf ich hier vielleicht zum Abschluss sagen - trifft eine Grundüberzeugung für mich
als Christin. Ich glaube daran, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens von Gott angenommen ist,
und zwar unabhängig davon, wie klein, wie verletzlich
oder wie fehlerhaft er auch sein mag. Deshalb ist meine
Entscheidung ganz klar: Gegen die PID.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor gut 20 Jahren habe ich als Ärztin in der Beratung
Paare erlebt, bei denen ein sehr hohes, genetisch bedingtes Erkrankungsrisiko für zukünftige Kinder bestand.
Nicht selten hatten diese Paare bereits schwer erkrankte
Kinder, oder sie mussten den Tod ihrer betroffenen Kinder erleben, und das war häufig im Schulalter der Fall.
Die Eltern haben über lange Zeit das Leiden ihrer Kinder
mit durchlitten. Diese Eltern befanden sich immer dann
in einer außerordentlich belastenden Konfliktsituation,
wenn sie sich mit dem Gedanken trugen, doch noch ein
Kind haben zu wollen. Sollten sie sich auf eine erneute
Schwangerschaft einlassen mit der Gefahr, dass die Mutter erneut ein Kind zur Welt bringt, das schwer erkranken wird, oder sollten sie auf eine Schwangerschaft ganz
verzichten? Eine andere Möglichkeit bestand damals
nicht.
1989 wurde im Ausland erstmals eine PID durchgeführt. Viele Länder haben die PID danach zugelassen. In
Deutschland wurde sie als mit dem Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar angesehen. Nun hat der Bundesgerichtshof in zwei konkreten Fällen anders entschieden
und damit die Diskussion über die PID befördert. Viele
Menschen erhoffen sich jetzt vom Bundestag, also von
uns, eine rechtliche Regelung, die ihre belastende Situation verbessert.
Die derzeitige Situation bedeutet für Paare mit einem
schwerwiegenden genetischen Risiko, die sich dennoch
für eine Schwangerschaft entscheiden, Folgendes: Die
werdende Mutter unterzieht sich der inzwischen üblichen vorgeburtlichen Diagnostik mit der möglichen, einkalkulierten Folge eines Schwangerschaftsabbruchs,
auch eines Spätabbruchs; es sei denn, das Paar geht mit
einem schlechten Gewissen ins Ausland - das können
nur diejenigen, die sich das leisten können -, um dort
eine PID durchführen zu lassen.
Beides ist meines Erachtens inhuman, weil mit der
PID eine Methode zur Verfügung steht, die auch in unserem Land angewendet werden könnte und mit der das
Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs verhindert
werden könnte. Dieses Trauma ist natürlich umso größer, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist.
Eine Pränataldiagnostik mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch wird in unserer Gesellschaft ethisch toleriert und ist rechtlich zugelassen. Es kann einer Frau
nicht zugemutet werden, bei schwerwiegender familiärer
genetischer Belastung als Alternative zur PID eine Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Hier schließe ich
mich ganz klar dem Memorandum der Bundesärztekammer zur PID vom Februar dieses Jahres an.
Nun ist auch heute wieder die Sorge vorgetragen worden, mit der von uns vorgeschlagenen Begrenzung der
PID sei die Tür für eine grenzenlose Ausweitung der
PID geöffnet, und dies könne sogar die Gefahr bergen, in
letzter Konsequenz zum Designerbaby zu führen.
({0})
Wir stellen heute einen Gesetzentwurf vor, der die PID
unter strengen Rahmenbedingungen ermöglicht. Die
PID wird nur für wenige Paare infrage kommen, auch
deswegen, weil vor einer PID eine In-vitro-Fertilisation
notwendig ist und keine Frau eine solche leichtfertig
über sich ergehen lässt.
Ich bin der Meinung, dass sich die PID auch zukünftig begrenzen und kontrollieren lässt. Natürlich sind
zahlreiche wissenschaftlich-technische Entwicklungen
und auch die PID zu missbrauchen. Ein möglicher Missbrauch rechtfertigt aber ihr kategorisches Verbot nicht.
Vielmehr ist einem eventuellen Missbrauch der PID
durch den Gesetzgeber Einhalt zu gebieten. Wir tun das
dadurch, dass wir die PID in Deutschland nur in lizenzierten Zentren und nach umfassender Aufklärung und
psychosozialer Beratung in eng indizierten Fällen zulassen wollen. Die PID kann sich damit - im Gegensatz zur
schon erlaubten und ethisch tolerierten Pränataldiagnostik - nicht zu einem Standardverfahren der vorgeburtlichen Diagnostik entwickeln, wie es manche befürchten.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 17/5450, 17/5452 und 17/5451 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das
so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern
- Drucksache 17/5461 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gustav Herzog für
die SDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bringe für die SPD-Fraktion den Antrag „Für einen
neuen Infrastrukturkonsens - Schutz der Menschen vor
Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern“
ein. Ich glaube, es wäre gut - ohne das jetzt als Kritik
anzubringen -, wenn an der Anzeigetafel auch der erste
Teil des Titels unseres Antrags stehen würde. Ich glaube
nämlich, der Infrastrukturkonsens ist die viel tiefer gehende Frage, die wir in diesem Zusammenhang beraten
müssen.
Ich will, auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sagen: Wir haben uns in den letzten Sitzungswochen schon
öfter mit dem Thema Verkehrslärm beschäftigt; ich darf
nur an die Debatte in der letzten Sitzungswoche zum
Mittelrheintal erinnern. Dieses Thema hat bei uns also
einen hohen Stellenwert. Dass meine Fraktion diesen
Antrag in der Kernzeit einbringt, mit über einer Stunde
Debattenzeit, zeigt, wie ich glaube, auch, welch hohen
Stellenwert dieses Thema bei uns, der SPD-Fraktion,
hat.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich mehr mit
diesem Thema beschäftigt und sich die Zahlen anschaut,
wie groß die empfundene Belastung durch Verkehrslärm
für die Menschen ist, der wird feststellen: Dies ist ein
flächendeckendes Thema mit großen Schwerpunkten.
Über 20 Prozent der Menschen fühlen sich durch Schienenlärm erheblich beeinträchtigt. Das UBA nennt die
Zahl von über 13 Millionen Menschen, die sich insbesondere im städtischen Bereich durch Straßenlärm beeinträchtigt fühlen. Allein 12 Milliarden Euro sollen
durch den Straßenlärm an gesellschaftlichen, insbesondere gesundheitlichen Schäden entstehen. Das ist also
ein Thema ersten Ranges.
Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Frage
der Mobilität und der Belastungen, die daraus erwachsen, nicht mehr nur eine Frage der Technik im Hinblick
auf Fahrweg und Fahrzeug oder einfach nur eine Frage
von Grenzwerten, sondern auch eine existenzielle Frage
der Lebensqualität und der Gesundheit. Die rheinlandpfälzische Messstation im Mittelrheintal, in Oberwesel,
hat für September 2010 folgende Werte ermittelt: über
50 Fahrten von Güterzügen in der Nacht, ein Mittelungspegel von 75 Dezibel und in der Spitze ein Pegel von
über 103 Dezibel. Ich habe mir die Lärmkartierung
des EBA ausgedruckt.
({1})
Wie Sie wissen, habe ich die Farbe Rot sehr gern. Aber
in diesem Falle bedeutet sie für die Menschen wirklich
eine Riesenbelastung. Sie werden jede Nacht durch
Lärm und Erschütterungen gestört.
({2})
Ich komme auf den Begriff „Infrastrukturkonsens“
zurück. Was heißt es denn, wenn die Menschen sagen:
„Wir sind zwar für die Schiene, wir wollen auch Auto
fahren; aber wir wollen keine Trasse, sondern ein Nachtfahrverbot“? Es stellt sich die Frage: Wie schaffen wir
hier einen neuen Konsens, der notwendig ist, weil wir in
unserer arbeitsteiligen Industriegesellschaft in hohem
Maße darauf angewiesen sind, dass Personen und Güter
transportiert werden, dass Energie- und Datenströme
fließen? Dabei macht uns insbesondere der Güterverkehr
Sorgen.
Gegenüber Prognosen bin ich sehr skeptisch. Dies gilt
insbesondere im Hinblick auf die Verflechtungsprognose
2025, weil sie davon ausgeht: Der Energiepreis wird sich
nicht erhöhen. Wir werden in den nächsten 15 Jahren
alle Projekte des vordringlichen Bedarfs realisieren. Das sind eher Spekulationen als Prognosen.
Trotzdem: Sollen wir vor die Menschen im Mittelrheintal und in anderen hochbelasteten Brennpunkten
treten und ihnen sagen: „Das, was ihr heute erleiden
müsst, ist nur ein Teil dessen, was in den nächsten Jahren
auf euch zukommt“? Ich glaube, dies macht deutlich,
wie wichtig es ist, dass wir einen neuen Konsens für die
Planung, den Bau und den Betrieb von Infrastruktur herbeiführen.
({3})
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich erlebe in
meinem Wahlkreis, dass die Leute selbst bei kleinen
Bauvorhaben wie dem Bau einer Biogasanlage anfangen, zu berechnen, wie viele zusätzliche Traktoren im
Fall der Realisierung des Vorhabens durch die Gemeinde
fahren würden, mit dem Ergebnis, dass sie eine Anlage,
die eigentlich alle wollen, aus diesem Grund ablehnen.
Wir erleben ein ähnliches Phänomen auch im Rheintal.
Die Menschen dort sind für den Gütertransport. Aber sie
wollen ihn nicht in der Form, in der wir ihn in den letzten Jahrzehnten organisiert haben. Ich glaube, unsere
Herausforderung besteht darin, neue Konzepte, einen
neuen Konsens bei der Infrastruktur zu organisieren.
Wir sollten auch einmal daran denken, welche Kosten
es verursacht, wenn wir in diesem Bereich nicht vorankommen. Wir müssen die Beteiligungsrechte der Men11974
schen verbessern; denn es wird nicht - wie aus den Reihen der Koalitionsfraktionen zu hören ist - reichen,
Beschleunigungsgesetze zu machen und pro forma die
Bürgerbeteiligung auszuweiten. Wir müssen die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes bei der Absicht, der
Planung, dem Bau und dem Betrieb mitnehmen. Nur
dann haben wir eine Chance, dass es nicht zu Aufständen in diesem Land kommt.
({4})
Dabei haben wir schon viel geleistet. Ich blicke sowohl auf die rot-grüne Regierung als auch auf das zurück, was wir in der Großen Koalition gemacht haben.
Ich blicke aber auch auf das zurück, was Sie im letzten
Jahr geleistet haben, und zitiere aus dem Investitionsbericht der Bundesregierung: Im Lärmschutz bei den Bundesfernstraßen sind im Jahr 2009 133 Millionen Euro
auf dem Gebiet der Vorsorge und 43 Millionen Euro bei
der Sanierung verbaut worden. - Bei den Schienenwegen haben wir 1999, um es einmal deutlich zu sagen, mit
der Lärmsanierung angefangen. Davon betroffen waren
550 Ortsdurchfahrten, 800 Kilometer Streckenlänge, 280 Kilometer Schallschutzwände und über 40 000 Wohnungen.
Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, empfinden die
Menschen immer noch: Es ist mehr geworden, es ist
schlimmer geworden. All das viele Geld - ich bemerke
das nur am Rande -, das in hohem Maße in Planung und
nicht in wirksamen Lärmschutz geflossen ist, hat wohl
nicht gereicht. Deswegen müssen wir verstärkt und engagiert da herangehen. Mich würde deswegen zum Beispiel, Herr Bundesminister, auch interessieren, wann Sie
die Aktualisierung der Gesamtkonzeption zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen vorlegen wollen. So haben Sie es im Investitionsbericht geschrieben.
Wird diese neue Gesamtkonzeption dieses Jahr kommen? Können wir damit zu den Menschen an den Schienenwegen gehen?
Ich glaube, es gibt eine Reihe von weiteren Punkten,
wo wir gemeinsam anpacken können, beispielsweise bei
der Lärmwirkungsforschung, die uns das Handwerkszeug geliefert hat, den Schienenbonus abzuschaffen.
Und es gibt eine Reihe von technischen Fortschritten,
die wir umsetzen müssen.
In der letzten Sitzungswoche hatte ich die gute Gelegenheit, bei der Havelländischen Eisenbahn zu erleben,
wie eine richtig große, schwere Lokomotive, die bei der
Anschaffung etwa 2 bis 3,5 Millionen Euro kostet, für
ganze 40 000 Euro von einer lauten, dröhnenden Maschine zu einer leisen Lokomotive umgebaut wurde, die
die neuesten europäischen Lärmanforderungen erfüllt.
Solche Dinge müssen wir mit Nachdruck verfolgen und
den Betreibern mit auf den Weg geben. Da reicht es
nicht, wenn Staatssekretär Scheurle mit dem LL-Zug
durch die Republik unterwegs ist und die Leute auf 2012
und später vertröstet. Das muss alles viel früher passieren.
({5})
Ich will noch einmal das Thema Schienenbonus ansprechen; denn in allem, was Sie bisher gesagt haben,
kommt immer wieder vor, dass Sie die Abschaffung
schrittweise einführen wollen. Auch in der Ausschussberatung ist gesagt worden, dass es insbesondere um finanzielle Gründe geht.
({6})
Überlegen Sie einmal, was es heißt, wenn wir eine
Strecke planen, sie in verschiedene Abschnitte einteilen
und Sie dann den Schienenbonus schrittweise abschaffen. Wir haben dann drei oder vier verschiedene Werte.
Wie wollen Sie das den Menschen vermitteln? Deswegen nehmen Sie einmal ein bisschen Mut und Kraft zusammen und sagen Sie: Wir setzen ein Datum und schaffen ihn auf einmal ab. Ich glaube, das wäre das richtige
Signal, das wir gemeinsam zu den Menschen senden
könnten.
({7})
Es wäre sicherlich hilfreich für die ganze Debatte,
wenn Sie - vielleicht können Sie das auch schon in dieser Aussprache leisten - jetzt präzisieren würden, wann
denn endlich der lärmabhängige Trassenpreis kommt.
({8})
Nach der Antwort des Staatssekretärs Scheuer in der
letzten Fragestunde und nach Informationen der DB
Netz wird er für 2012 der Bundesnetzagentur vorgelegt.
Herr Minister, vielleicht sagen Sie Ihren Kolleginnen
und Kollegen in der Koalition einmal ein festes Datum.
Sie können sich dann hier hinstellen und sagen: Wir garantieren, dass es zu diesem bestimmten Zeitpunkt kommen wird. Ich glaube, das wäre ein gutes Signal für die
Menschen. Geben Sie sich einen Ruck! Helfen Sie mit,
dass unsere Botschaft für die Mobilität der Zukunft
heißt: So leise wie möglich und maximal so laut, wie wir
es erlauben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Ludwig für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, wir sind uns in einem in diesem Haus einig:
Mobilität ist uns allen wichtig und gehört untrennbar zu
unser aller alltäglichem Leben, sowohl privat wie auch
bei der Arbeit. Sie umfasst sowohl die Fortbewegung zu
Fuß und per Rad - hier müssen wir uns über Lärm jetzt
nicht allzu viele Gedanken machen - als auch natürlich
den Schiffsverkehr genauso wie das Auto, die Bahn, von
der Sie jetzt hauptsächlich gesprochen haben, und das
Flugzeug.
Für dieses allzu natürliche Bedürfnis der Menschen
brauchen wir eine Infrastruktur, die es vorzuhalten gilt.
Dieser Vorhalt wird von uns auch berechtigterweise erwartet. Es gilt, diese Infrastruktur da, wo es notwendig
ist, auszubauen, zu verbessern oder eben auch neu zu erstellen. Dies alles muss immer unter der Prämisse geschehen, dass dabei auch andere wichtige Aspekte berücksichtigt werden. Der Schutz der Umwelt ist dabei
nur ein Thema; es geht eben auch um den Lärm und den
Schutz vor Lärm, was wir heute debattieren.
Auch das hat natürlich mit der Gesundheit des Menschen zu tun. Herr Kollege, Sie haben durchaus richtig
ausgeführt, wie subjektiv Lärm empfunden wird und
welche gesundheitlichen Auswirkungen er unbestritten
hat. Ich glaube, in diesem Haus herrscht auch kein Dissens darüber. Wir müssen eben versuchen, bei jedem
Projekt immer wieder von neuem die Notwendigkeit der
Mobilität und der Erschließung all unserer Regionen mit
dem Schutz vor Lärm zusammenbringen.
Natürlich ist klar: Je höher der Lärmschutz, je höherwertiger und besser er ist, umso stärker ist die Akzeptanz
für die Sanierung alter oder bestehender Projekte und
umso stärker ist auch die Akzeptanz für neue Projekte.
Ich kann Ihnen eines sagen - das haben Sie schon erwähnt -: Hier ist in der Großen Koalition einiges vorangegangen, und ich glaube, wir haben auch im Ausschuss
durchaus überzeugend darüber gesprochen, dass auch
von der jetzigen Bundesregierung bei diesem Thema einiges getan wird.
Ich verstehe natürlich, dass man immer noch sehr viel
mehr fordern kann und dass man sich immer noch sehr
viel mehr wünschen kann. Wir haben uns nun vorerst
einmal zum Ziel gesetzt, das Nationale Verkehrslärmschutzpaket II weiterzuführen, das auf dem Nationalen
Verkehrslärmschutzpaket aus dem Jahr 2007 aufbaut.
Darin werden laufende und neue Maßnahmen zur Vermeidung von und zum Schutz vor Verkehrslärm gebündelt und weitere Maßnahmen aus unserem Koalitionsvertrag mit unserem Partner aufgeführt. Es geht hier zum
Beispiel um die lärmabhängigen Trassenpreise - das ist
ein ganz, ganz wichtiges Thema bei der Bahn - genauso
wie um die Revision der entsprechenden dazugehörigen
EU-Richtlinie für ein solches Trassenpreissystem.
Dieses Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthält
erstmals auch quantitative Lärmminderungsziele und
nicht nur hehre Ankündigungen. So soll die Belästigung
durch Verkehrslärm bezogen auf Lärmbrennpunkte in
besiedelten Bereichen bis 2020 im Vergleich zu 2008
deutlich abnehmen. Hierbei hat man sich sehr hohe Ziele
gesetzt: Beim Lärm im Flugverkehr, der bei Ihnen anscheinend gar nicht vorkommt
({0})
- das finde ich in Ihrem Antrag nirgends -, wollen wir
eine Reduzierung um 20 Prozent, im Straßenverkehr und
in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent und im Schienenverkehr um 50 Prozent.
Die Umsetzung genau dieser Ziele befindet sich auf
einem exzellenten Weg. Ich bedanke mich hier ausdrücklich bei unserem Haus, bei unserem Verkehrsminister und beim Koalitionspartner. Ich glaube, wir ziehen hier sehr erfolgreich an einem Strang.
({1})
Wünsche kann man gut aufschreiben, Ihr Papier und
Ihr Antrag sind auch geduldig, finanziert werden muss
das aber halt auch. Hier befinden wir uns sicherlich an
einem sensiblen Punkt, zu dem ich später noch komme.
Konkret zum Lärmschutz an der Schiene. Wir kennen
das alle: Aus einem freiwilligen Programm des Bundes
stehen jährlich 100 Millionen Euro für die Lärmsanierung zur Verfügung. Diese Mittel wollen wir zumindest
konstant halten. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt.
Im Rahmen des Konjunkturpakets II wurden weitere
innovative Maßnahmen auf den Weg gebracht, um
Lärmreduzierung zu erproben und neue Wege zu beschreiten. Hierfür stehen ebenfalls 100 Millionen Euro
zusätzlich zur Verfügung.
Die neuen Techniken sollen unser Maßnahmenportfolio zum Lärmschutz erweitern. Hierfür sind bundesweit
91 Einzelmaßnahmen verortet worden.
Die Nutzung innovativer Techniken und die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems als weitere Mittel zur Lärmreduzierung wurden bereits erwähnt.
Wir wollen damit den Wagenhaltern den Anreiz bieten,
ihre Bestandsgüterwagen möglichst schnell auf lärmmindernde Beläge umzurüsten. Wir setzen auch weiterhin auf unser Pilot- und Innovationsprogramm „Leiser
Güterverkehr“. Ich glaube, hier geht einiges. Wir müssen
uns auch auf europäischer Ebene - denn Verkehr ist immer international - für die entsprechenden analogen
Maßnahmen einsetzen. Aber wir gehen mit gutem Beispiel voran.
Sie fordern in Ihrem Antrag völlig zu Recht die Abschaffung des Schienenbonus. Darin sind wir uns einig.
Selbstverständlich wollen auch wir die Abschaffung des
Schienenbonus; denn Schienenlärm ist nicht besser als
anderer Lärm und rechtfertigt deswegen keine andere
und privilegiertere Behandlung. Wir sagen aber: Das
muss wohlüberlegt sein. Eine Abschaffung von heute
auf morgen ist nach unserer Einschätzung nicht möglich.
Wir müssen darauf achten, in welchem Projektstadium
wir den Schnitt machen. Wir müssen uns auch fragen,
wie sich das auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei künftigen Projekten auswirkt. Das will wohlüberlegt und gut
durchgerechnet sein.
({2})
- Wenn wir hier einen Schnellschuss machen, lieber
Herr Beckmeyer, nutzt das weder den Bürgern, die von
Lärm geplagt sind, noch uns, wenn wir darauf setzen,
immer mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern.
Hier müssen wir glaubwürdig bleiben - deswegen an
dieser Stelle keine ruckartigen Schnellschüsse, sondern
wohlüberlegtes Vorgehen.
({3})
Beim Straßenlärm gelingt uns derzeit Ähnliches. Mir
ist es sehr wichtig, dass wir auch auf diese Lärmquelle
eingehen. Es gibt schließlich nicht nur die Schiene als
Lärmerzeuger, sondern auch die Straße.
Die Bundesregierung hat die Mittel für die Lärmsanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen verdoppelt
und somit eine Steigerung der Ausgaben im Jahr 2010
auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Ich denke, das
ist ein richtiger Weg.
Frau Ludwig, der Kollege Hartmann hat sich zu einer
Zwischenfrage gemeldet.
Ich würde gerne weitermachen. - Wir greifen dabei in
der Regel auf aktive und passive Lärmschutzmaßnahmen zurück. Sie kennen das alles. Es funktioniert in der
Praxis durchaus gut.
Für einen ausgesprochen wichtigen Schritt - darauf
können wir ein Stück weit stolz sein - halte ich, dass wir
die sogenannten Auslösewerte für die Lärmsanierung im
letzten Jahr um 3 dB gesenkt haben. Das wirkt sich
bei jedem direkt persönlich aus, der an einer Bundesstraße wohnt.
({0})
- Bislang ist es nur Papier? Das gilt eher für Ihren Antrag als für unser Handeln. Aber ich komme noch darauf
zu sprechen, keine Sorge. - Die Absenkung um 3 dB
merkt jeder, der an einer Straße wohnt, direkt und
höchstpersönlich.
Auf den öffentlichen Personennahverkehr und Ähnliches will ich nicht weiter eingehen. Das geht auch Ihrem
Antrag leider ein Stück weit ab. Wir sind bereit, mit dem
Bundesverkehrsministerium neue Wege zu gehen, insbesondere was den Einsatz von Photovoltaik in Kombination mit Lärmschutzanlagen an Bundesstraßen angeht.
Hier bringen wir zwei hehre Ziele zusammen: Ökologie
und die Gesundheit der Menschen mit dem Schutz vor
Lärm.
Jetzt komme ich zu den Punkten, die mich an Ihrem
Antrag stören. Sie haben gerade gesagt, das alles sei bislang nur Papier. Das gilt, wie gesagt, überwiegend für
Ihren Antrag. Fluglärm kommt bei Ihnen nicht.
({1})
Die SPD sieht also nur Schutz gegen Straßenlärm und
Schienenlärm vor. Fluglärm kommt nicht vor. Wie gestalten Sie denn in diesem Punkt Ihren sogenannten
neuen Infrastrukturkonsens aus? Diese Frage müssen Sie
erst einmal beantworten, wenn Sie einen Antrag vorlegen.
Des Weiteren: Papier ist geduldig. Sie können wünschen, fordern, anprangern und dieses oder jedes wollen.
Es gibt aber auch die Frage der Finanzierbarkeit. Die hat
die Sozialdemokraten bisher immer am allerwenigsten
interessiert.
({2})
Zur Finanzierung Ihrer wunderbaren Wünsche und Vorschläge schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts, aber auch
gar nichts. Sie machen keinerlei Vorschläge zur alternativen Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Sie halten
schöne Sonntagsreden darüber, dass wir die Menschen
vor Lärm schützen wollen. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Dafür muss ich keinen fünfseitigen Forderungskatalog
aufstellen. Es ist selbstverständlich, dass die Menschen
vor Lärm geschützt werden sollen. Ich muss aber die
Frage beantworten, wie das zu finanzieren ist.
({4})
Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf, bei Ihnen offensichtlich auch die guten Ideen. Das finde ich
brutal schwach.
({5})
- Sie waren es auch schon lange genug.
Wer sich als verantwortungsvolle Oppositionspartei
begreift, macht sich nicht so leicht vom Acker, indem er
nur gute Wünsche und schöne Worte äußert;
({6})
er stellt sich vielmehr seiner politischen Verantwortung
und beantwortet die Frage nach der Finanzierbarkeit
gleich mit.
({7})
Wenn Sie sie nicht beantworten können, was ich aus Ihrem Antrag schließe, dann - das tut mir leid für Sie - ist
der Antrag nicht das Papier wert, auf dem er steht.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Herbert Behrens erhält das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lärm nervt uns, Lärm stört, Lärm macht aber auch
krank. Das wissen wir. Wir müssen alles tun, damit das
vermieden wird, wo immer es geht.
Die SPD-Fraktion fordert einen neuen Infrastrukturkonsens, damit die Lärmbelästigung sinkt. Das ist ein
gutes Unterfangen. Aber gleich vorne im Antrag kapituliert sie schon ein Stück: „In den nächsten Jahren werden
die Verkehre in Deutschland massiv zunehmen“, heißt es
gleich zu Beginn. Wenn wir das so akzeptieren, dann haben wir, wie ich meine, schon verloren.
({0})
Wir kommen doch wohl nur weiter, wenn wir auch das
Verkehrswachstum infrage stellen. Das gehört in einen
solchen Antrag hinein. Lastwagen dürfen nicht mehr die
rollenden Lager der großen Industrie sein; der Klimawandel muss der Maßstab für unsere Verkehrspolitik
werden.
({1})
Ja, das wird sicherlich manchem wehtun. Das wissen
wir. Aber ich bleibe dabei: Lärmvermeidung ist Verkehrsvermeidung. Für mich muss das der Grundgedanke
eines Antrags sein, der so weitgehend ist wie der der
SPD.
Um das Ziel „Weniger Lärm durch weniger Verkehr“
zu erreichen, müssen wir allerdings schon heute handeln.
Das ist klar.
({2})
Deshalb brauchen wir mehr Geld für den Lärmschutz im
Schienenverkehr. Wir wollen die Einbeziehung der Bevölkerung in die Planung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte. Wir brauchen Beteiligung auch bei der Stadtplanung. Es gibt viele Maßnahmen, die wir schon heute
umsetzen können. In der Umgebungslärmrichtlinie der
Europäischen Union werden beispielsweise Aktionspläne gegen den Lärm gefordert. Würden wir diese Forderung ernst nehmen und umsetzen, dann könnte Lärm
schon heute effektiv bekämpft werden, und zwar überall
in Deutschland.
({3})
In Darmstadt zum Beispiel gibt es eine Lärmminderungsplanung und eine Lärmaktionsplanung für den Bezirk einschließlich der Ballungsräume Frankfurt und
Wiesbaden. Bei der Erarbeitung der Planungen war die
Bevölkerung maßgeblich beteiligt. Sie arbeitete an den
Lärmkarten mit und machte viele Vorschläge, wie der
Lärm in ihrer Stadt vermieden werden kann. Viele Vorschläge von dieser Seite sind nicht grundlegend neu: Es
geht um Tempolimit, um Verkehrsverlagerung, um
Nachtfahrtverbot für Lkws oder Durchfahrtsverbote.
Aber die Bevölkerung will wirksame Maßnahmen, die
ihr Lärm und Dreck vom Halse halten. Es werden auch
viele Vorschläge gemacht, wie man das mit baulichen
Maßnahmen erreichen kann. Bürgerinnen und Bürger
wissen am besten, was bei ihnen um die Ecke los ist, wo
es Handlungsbedarf gibt und wo etwas verändert werden
muss. Das müssen wir ernst nehmen.
({4})
Bürgerideen kosten Geld. Die Kommunen sind gefragt, wenn sie die Baulast haben und für die Finanzierung zuständig sind. Aber ihnen sind die Hände gebunden, wenn Schuldenbremse und Finanznot um sich
greifen. So werden viele gute Vorschläge vom Tisch gefegt. Fest steht: Zukunftsinvestitionen lassen sich nicht
aus laufenden Einnahmen finanzieren; für sie braucht
man einen besonderen Topf. Bürgerideen können dann
nicht umgesetzt werden, wenn die Schuldenbremse
droht. Was würde passieren, wenn Bürgerideen nicht
mehr nachgefragt werden? Dann melden sich die Bürger
nicht mehr zu Wort; denn sie wissen: Solange kein Geld
da ist, um ihre Pläne zu verwirklichen, laufen sie vor die
Finanzwand, die aufgestellt worden ist. Es beschädigt
die Demokratie, wenn wir Bürgerinnen und Bürger vor
diese Wand laufen lassen. Das können wir nicht zulassen.
({5})
Wo liegt die Verantwortung auf der Bundesebene?
Die Linke fordert: Vorrang für die Bahn! Dieser Vorrang
wird aber nur akzeptiert, wenn der zusätzliche Verkehr
nicht zu zusätzlichem Lärm führt. Deshalb brauchen wir
aus meiner Sicht viel mehr Geld für das Verkehrssystem
Schiene. Die Trassenpreise für leise Züge müssen günstiger werden - das wurde schon angesprochen -;
({6})
sie müssen günstiger sein als für laute. Die Waggons
müssen zügig umgerüstet werden. Dazu ist es unter Umständen nötig, ein effektiveres Förderprogramm auf den
Weg zu bringen, als wir es jetzt haben.
({7})
Beim Straßenverkehr muss die unsinnige Trennung
zwischen dem Lärmschutz bei Neubaustrecken und dem
bei bestehenden Straßen aufgehoben werden. Heute gelten für Neubaustrecken höhere Anforderungen als für
Straßen im Bestand. Das geht nicht.
Viele Forderungen im SPD-Antrag sind nicht neu. Im
Gegenteil, sie sind uns seit Jahren bekannt.
Für den Erfolg eines neuen Infrastrukturkonsenses
brauchen wir eigentlich einen Konsens bei der Finanzierung. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung ohne Wenn und Aber.
({8})
Aber das wird nur schwer erreichbar sein, solange beispielsweise die FDP alles der Regulierung des freien
Marktes überlassen will. Das geht so nicht.
({9})
Die CDU widerspricht an der Stelle auch nicht laut und
eindeutig.
Die Linke dagegen sagt: Verkehr vermeiden, einschränken, umlenken. Wir brauchen mehr Geld für den
sozial-ökologischen Umbau des Verkehrssystems.
({10})
Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, und nicht
die Interessen derjenigen, die auf Teufel komm raus die
Gewinne einstreichen wollen. Das wird Streit geben. Wir
werden wie immer Widerstand von denen erfahren, die
den Nutzen für sich haben und die Belastung auf die Gesellschaft abwälzen wollen. Das wissen wir doch alle. So
stehen wir auf jeden Fall immer eng an der Seite von
Bürgerinitiativen, die mit ihren Kenntnissen und ihrem
Know-how in die Planung eingreifen wollen und am
besten wissen, wie man Lärm in der Zukunft vermeiden
kann.
Vielen Dank.
({11})
Werner Simmling hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Behrens, bei allem Respekt: Mit den Verboten, die Sie
hier genannt haben, lösen wir das Problem sicher nicht.
Dafür ist es einfach zu ernst.
({0})
„Herzinfarkt durch Verkehrsinfarkt“ - zu diesem
Schluss kommt Auto Bild in einem Artikel, in dem aus
einer aktuellen Studie der WHO zum Verkehrslärm zitiert wird. Daran sehen Sie den Ernst des Themas. Verkehrslärm ist nämlich rechnerisch für 50 000 Herzinfarkte in Europa verantwortlich. Das ist in der Tat
alarmierend. Es muss unser aller Ziel sein, den Verkehrsinfarkt und damit den Herzinfarkt zu verhindern. Dies
erreichen wir nur mit dem gezielten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, und nicht mit einer Infragestellung,
wie Sie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, in Ihrem Antrag formulieren.
({1})
Es ist doch in Wirklichkeit so, dass wir durch eine intelligente Verkehrsinfrastruktur Verkehrslärm vermindern. Nehmen Sie doch zum Beispiel Ortsumfahrungen:
Gerade der Bau von Ortsumgehungsstraßen schafft eine
Entlastung von Verkehrslärm, von Abgasemissionen und
von Verkehrsunfällen.
({2})
- Nein. - Ortsumgehungen machen viele Ortschaften
erst wieder bewohnbar.
({3})
Das Gleiche gilt für die Schiene. Hier ist exemplarisch die Rheintalbahn zu nennen. Wir wollen die Güterverkehrstrassen weitestgehend aus den Ortschaften
herausnehmen und dadurch eine wirksame Lärmreduzierung erreichen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, den Lärmschutz zu verbessern und auszuweiten. Diese Absicht ist
auch von der Erkenntnis geleitet, dass die Akzeptanz für
einen weiteren und notwendigen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zur Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse
entscheidend davon abhängt. Wir haben die entsprechenden Maßnahmen im Koalitionsvertrag festgelegt, die Sie
alle kennen und die ich jetzt nicht zu wiederholen brauche.
Zum Stichwort Schienenlärm bzw. Schienenbonus:
Wir sind in den vergangenen Wochen in dieser Frage einen entscheidenden Schritt weitergekommen. So haben
wir am 18. März 2011 in unserem Antrag zum anwohnerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn die Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schienenbonus zügig
vorzulegen.
({5})
Das BMVBS hat die Prüfung und Überarbeitung der
rechtlichen Regelungen zum Schienenbonus auf Arbeitsebene bereits aufgenommen.
({6})
Eine Reduzierung des Schienenbonus setzt aber auch voraus, dass die Verkehrslärmschutzverordnung geändert
wird; und diese Änderung ist im Bundesrat zustimmungspflichtig.
({7})
Ebenso haben wir die Einführung lärmabhängiger
Trassenpreise beschlossen.
({8})
Damit sind wichtige Punkte zum Schutz vor Schienenlärm, die Sie in Ihrem Antrag fordern, bereits beschlossen.
({9})
- Herr Herzog, eins nach dem anderen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
dürfen aber auch nicht vergessen, dass Schienenlärmschutz nicht zum Nulltarif zu bekommen ist; das wurde
schon ausgeführt. Die Erfolge werden sich auch nicht
von heute auf morgen einstellen. Besonders deutlich
wird dies bei der Umrüstung der Güterwagen. Hier ist in
der EU von bis zu 600 000 Wagen die Rede.
Stichwort Straßenlärm: Bezüglich Straßenverkehrslärm zitieren Sie im Wesentlichen aus dem Nationalen
Verkehrslärmschutzpaket II. Wie Sie wissen, hat der Parlamentarische Staatssekretär Ferlemann bereits im Januar im Ausschuss über den Stand der Umsetzung des
NVLP II informiert. Viele Ihrer Forderungen sind also
schon Bestandteil des Regierungshandelns oder bereits
umgesetzt.
({10})
Herausgreifen möchte ich dabei die Mittel für Lärmsanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen; auch darauf wurde vorhin schon hingewiesen. Die Verdoppelung
des Mittelansatzes für Lärmsanierungsmaßnahmen an
Bundesfernstraßen hat eine Steigerung der Ausgaben im
Jahr 2010 auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Durch
den Vorrang von aktiven gegenüber passiven Schutzmaßnahmen und die Senkung der Auslösewerte für die
Lärmsanierung um 3 dB im Jahr 2010 werden Bürgerinnen und Bürger besser als bisher vor Lärm geschützt.
Zum Schluss holen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, noch eine alte Kamelle, nämlich die
Forderung, Tempo-30-Zonen einzurichten, wieder aus
der Schublade. Da bin ich wirklich sehr enttäuscht; denn
ich hatte von Ihnen eigentlich etwas Intelligenteres erwartet. Das Tempolimit von 50 km/h in geschlossenen
Ortschaften hat sich bewährt. Es gibt daher keine Notwendigkeit zu einer Änderung. Bereits heute gibt es genügend Möglichkeiten zu Ausnahmen und zur Einführung von Tempo-30-Zonen, zum Beispiel an sensiblen
Stellen wie Kindergärten und Krankenhäusern. Der
Spielraum für bürgernahe Lösungen ist also schon jetzt
vorhanden. Durch intelligente Verkehrsleitsysteme können deutlich größere Verbesserungen für die Verkehrssicherheit und die Umwelt erzielt werden als durch ein
Tempolimit von 30 km/h in Ortschaften. Das lehnen wir
ab.
Ihr Antrag ist also - ich möchte meine Kollegin Ludwig zitieren - nicht das Papier wert, auf dem er steht.
({11})
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({12})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Vorwurf vonseiten der Koalitionsfraktionen gegenüber der Opposition, dass der Antrag das Papier nicht wert sei, auf dem er stehe, ist natürlich wohlfeil. Es gibt eine ganz einfache Maßnahme, wie man aus
den Anträgen der Opposition Handeln entstehen lassen
kann: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! In diesem Fall
würde gelten - der vorliegende Antrag ist auch unserer
Meinung nach wirklich gut -: Stimmen Sie dem Antrag
der SPD zu!
({0})
Tun Sie dies, und schon wird aus diesem Antrag, der im
Moment selbstverständlich nicht viel mehr als Papier ist,
Regierungshandeln.
({1})
Wenn Sie zustimmen, muss die Regierung nur noch die
vom Bundestag beschlossenen Anträge umsetzen.
({2})
Zu den Anmerkungen von Herrn Simmling, dass mit
dem Verkehrsinfarkt Herzinfarkte einhergehen: Selbstverständlich ist Verkehrslärm eine große gesundheitliche
Gefahr. Aber diese gesundheitliche Gefahr tritt im Straßenverkehr nicht nur auf, wenn Stau ist, sondern insbesondere auch dann, wenn mit hohen Geschwindigkeiten
gefahren wird. Sie haben da also etwas missverstanden.
({3})
Es geht beim Schutz der Menschen vor Verkehrslärm
nicht darum, möglichst viele Autobahnen und Straßen zu
bauen, damit möglichst schnell gefahren werden kann,
sondern darum, diejenigen, die an besonders belasteter
Verkehrsinfrastruktur leben, vor Verkehrslärm zu schützen. Das ist ein großer Unterschied.
({4})
Warum ist es von großer Bedeutung, dass wir das Problem des Verkehrslärms in den Griff bekommen? Es ist
einmal von ganz großer Bedeutung für die Gesundheit
der Betroffenen. Das ist aber nicht nur eine Gesundheitsfrage, sondern auch - das stellt man fest, wenn man sich
das in den Städten einmal in aller Ruhe anschaut - eine
eminent soziale Frage.
({5})
Wer wohnt denn insbesondere an den Verkehrsinfrastrukturen und ist meist nicht nur von Lärm, sondern
auch von schlechterer Luft und Feinstaubpartikeln betroffen? Selbstverständlich wohnen da die Menschen,
die ein niedrigeres Einkommen haben, die sich vielleicht
schlechter in Bürgerinitiativen organisieren können, weil
sie keine Rechtsanwälte in ihren Reihen haben, die es
nicht so gewohnt sind, zu reden und ihre Interessen
durchzusetzen. Deshalb ist es auch eine soziale Frage,
dafür zu sorgen, dass die negativen Auswirkungen der
Mobilität begrenzt werden:
({6})
Den Nutzen der Mobilität hat unsere gesamte Gesellschaft, aber die Lasten sind eindeutig unterschiedlich
verteilt. Die Lasten tragen insbesondere die Menschen,
die an der Verkehrsinfrastruktur leben, und das sind insbesondere ärmere Menschen, Menschen mit niedrigerem
Einkommen, die sich noch dazu in der Regel schlechter
wehren können.
Es gibt noch einen weiteren ganz entscheidenden
Grund dafür, dass wir die Problematik des Verkehrslärms in den Griff bekommen müssen. Das betrifft
insbesondere die Schiene. Warum haben wir im Moment
so heftige Auseinandersetzungen über den Schienenverkehrslärm? Weil der Schienengüterverkehr eine Renaissance erlebt und eine Rückverlagerung von Verkehren
auf die Schiene stattfindet. Das finden wir positiv, das
schätzen wir, das begrüßen wir. Das brauchen wir aus
Klimaschutzgründen, wir brauchen es aber auch, um die
Chancen unseres Wirtschaftsstandorts in Zukunft zu
wahren; denn die Schiene ist vom knapper und teurer
werdenden Rohöl viel einfacher unabhängig zu machen
als der Lkw.
({7})
Das alles wird für unsere Gesellschaft aber nicht
funktionieren, wenn es nicht gelingt, an den bestehenden
Schienenverkehrstrassen die Lärmbelastung stark zu
vermindern. Da reicht es nicht, wenn wir immer nur auf
passiven Lärmschutz setzen. Da reicht es nicht, wenn
wir immer nur auf höhere Lärmschutzwände setzen.
({8})
Es gibt inzwischen in vielen Kommunen Proteste unter
dem Motto: Wenn die Wände 7 oder 8 Meter hoch sein
müssen, dann verzichten wir lieber auf den passiven
Lärmschutz und hoffen, dass vielleicht die Politik irgendwann handelt und das Problem an der Quelle bekämpft wird.
({9})
Was ist dafür notwendig? Dringend notwendig ist die
Umrüstung der Güterwagen. Das ist natürlich kein ganz
triviales Problem; denn die Güterwagen sind international unterwegs; die Güterwagen werden ausgetauscht.
Aber es gibt Ansätze, zum Beispiel den lärmabhängigen
Trassenpreis, zum Beispiel die Abschaffung des Schienenbonus, zum Beispiel eine Förderung zur Einführung
von lärmärmeren Bremsen.
Andere Bremsen hätten auch erhebliche Vorteile für
die Infrastruktur. Wie sieht hier nämlich die Situation bei
der Schiene aus? Die Bremssysteme sind unendlich alt.
Sie funktionieren seit bald über 100 Jahren so, dass ein
Grauklotz auf den Radreifen gedrückt wird, um zu bremsen. Das verursacht nicht nur erheblichen Lärm, sondern
es zerstört auch die Lauffläche des Rades. Durch kaputte
Laufflächen wird wiederum die Gleisinfrastruktur zerstört. Das führt nicht nur zu weiterem Lärm, sondern das
führt auch zu erheblichen Kosten für den Gleisunterhalt.
Das kostet uns Geld, das uns im Bundeshaushalt dann an
anderer Stelle fehlt. Wenn man da schnell und zügig umsteuern würde, würde das nicht nur den Menschen helfen, sondern mittel- und langfristig im Haushalt erhebliche Mittel für den Unterhalt des Schienennetzes
freisetzen.
({10})
Diese erheblichen Mittel benötigen wir auch; denn es
muss uns gelingen, den Güterverkehr stärker von der
Straße auf die Schiene zu verlagern. Das muss uns nicht
nur aus Umweltschutzgründen gelingen, das muss uns
nicht nur aus Klimaschutzgründen gelingen, sondern daran müssen wir auch ein ureigenes Interesse haben; denn
unser Wohlstand hängt ganz erheblich davon ab, dass
unsere Verkehrsinfrastruktur zukünftig weiter gut funktioniert. Wir können nicht einfach darauf setzen, dass es
schon irgendwie klappen wird und irgendjemand eine
Idee entwickelt, wie man die Lkw auf Agrotreibstoffe
oder auch auf Batteriebetrieb - manche träumen ja davon - umstellen kann. All das, sagt die Wissenschaft,
mag beim Pkw, wo man vielleicht 1,5 bis 2 Tonnen bewegen muss, noch funktionieren; beim Lkw mit 40 Tonnen wird das schon weitaus komplizierter. Deshalb ist es
eminent wichtig für unseren Wohlstand, dass es gelingt,
die Schiene für mehr Güterverkehr zu ertüchtigen. Dass
die Schiene zum Rückgrat eines modernen Güterverkehrs wird, ist für einen modernen Wirtschaftsstandort
wie die Bundesrepublik dringend notwendig.
Da genügt es nicht, wenn Sie sich das bloß wünschen
und davon träumen. Wir haben die Bundesregierung ja
schon einmal aufgefordert, das umzusetzen. So kompliziert ist die Abschaffung des Schienenbonus eigentlich
nicht. Die Abschaffung dieser Privilegierung der
Schiene ließe sich sehr schnell umsetzen. Es ist auch
keine große intellektuelle Herausforderung, diesen Bonus zu streichen.
({11})
Deswegen: Tun Sie es einfach! Sorgen Sie dafür, dass
die Regierung das umsetzt!
({12})
Da Sie gerade schreien, mache ich einmal einen ganz
einfachen Vorschlag: Wenn Sie das in den nächsten vier
Wochen nicht hinbekommen haben, dann schreiben wir
Ihnen einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schienenbonus, und Sie stimmen diesem Gesetzentwurf zu.
({13})
Abgemacht? - Nein. Jetzt machen Sie wieder einen
Rückzieher; das kennen wir schon.
({14})
Sorgen Sie dafür, dass den Ankündigungen endlich
Taten folgen. Dann werden wir Sie unterstützen. Denn
vergessen Sie eines nie: Sie sind die Parteien, die die Regierung stellen, und wir sind die Opposition. Wenn Sie
wollen, dass unseren Worten Taten folgen, dann stimmen Sie unseren Anträgen zu.
Danke.
({15})
Der Kollege Thomas Jarzombek hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Möglicherweise hat mich meine Fraktion heute als Redner benannt, weil ich bei diesem Thema eine gewisse
Kompetenz habe.
({0})
Denn vor meinem Wohnzimmerfenster donnert die gerade aus dem Untergrund kommende Stadtbahn entlang,
von meinem Schlafzimmerfenster blicke ich auf den
Ausläufer einer Autobahnbrücke, und außerdem kann
ich alle Starts und Landungen auf dem Düsseldorfer
Flughafen von meiner Wohnung aus beobachten.
({1})
Aber Ihr Antrag hat mich aufgeschreckt; das kann ich
nicht anders sagen. Sie schreiben nämlich Folgendes:
Lärm hat … eine schwerwiegende soziale Komponente. Verlärmte Orte werden von wohlhabenden
Bevölkerungsgruppen gemieden.
Sie haben „gesundheitlich negative Auswirkungen“, lösen eine „Negativspirale“ aus und sind der „Nährboden
für die Bildung sozialer Brennpunkte“. - Mein Gott, ich
kann heute Nacht nicht mehr schlafen, nachdem ich das
gelesen habe! Ich scheine in einem Getto zu wohnen.
({2})
Meine Damen und Herren, bereits der Anfang Ihres
Antrages zeigt den ersten Grund, warum Ihr Antrag
nicht seriös ist: Sie verallgemeinern.
Mein lieber Kollege Herzog, ich habe Ihnen gut zugehört. Sie haben in Ihrem Antrag das Gutachten von
Infras zitiert: 12,3 Milliarden Euro an volkswirtschaftlichen Kosten durch Verkehrslärm. - Sie haben allerdings
vergessen, dazuzuschreiben, dass dieselbe Studie zu dem
Schluss kommt, dass von diesen 12,3 Milliarden Euro
nur 0,83 Milliarden Euro auf Schienenlärm entfallen. Sie
haben aber 100 Prozent Ihrer Rede dem Schienenlärm
gewidmet. Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in meinem Wahlkreis mit dem drittgrößten Flughafen in
Deutschland haben von Ihrem Papier - sieben Seiten,
kein Wort zum Fluglärm - vielleicht den Eindruck, dass
den Sozialdemokraten der Fluglärm egal ist.
({3})
Ich kann Ihnen weiterhin sagen, was Ihr Parteifreund,
der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Herr
Voigtsberger, am 8. April dieses Jahres in der WAZ erklärt hat: Er hat da nämlich gesagt, dass er die Flugbewegungen dort ausweiten möchte. Das ist der zweite
Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Was Sie hier
predigen, halten Sie dort, wo Sie in der Regierung sind,
nicht ein.
({4})
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Herzog zulassen wollen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, bevor Sie sich weiter darüber aufregen,
dass wir in unserem Antrag keine Aussage zum Fluglärm getroffen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Das hängt damit zusammen, dass die Verantwortung des Bundes insbesondere dort greift, wo der Bund
Eigentümer ist, was nun einmal auf die Bundesfernstraßen und die Bundesschienenwege zutrifft, und dass die
Kompetenz bezüglich des Lärms der Flughäfen insbesondere bei den Ländern liegt. Wir haben gedacht,
({0})
wir helfen der Regierung, indem wir den Finger in die
Wunde legen und insbesondere die Probleme an den
Stellen aufzeigen, wo die Verantwortung beim Bund und
nicht bei den Ländern liegt. Ich glaube, das ist intellektuell durchaus nachvollziehbar.
({1})
Ich danke Ihnen für Ihre Belehrung in intellektuellen
Dingen. Aber, Herr Kollege, wenn Sie einen Antrag mit
einem Umfang von sieben Seiten schreiben und eine Debattendauer von anderthalb Stunden während der Kernzeit beantragen, aber nicht ein Wort über den Fluglärm
verlieren, obwohl der Bund an Flughäfen beteiligt ist,
dann zeigt dies ganz klar, dass für Sie der Fluglärm hier
und heute keine Rolle spielt. Das nehmen die betroffenen Menschen durchaus zur Kenntnis.
({0})
Als ich Ihren Antrag das erste Mal gelesen habe, habe
ich mich gefragt, wie alt denn das Nationale
Verkehrslärmschutzpaket II sein mag. Sie benennen in
Ihrem Antrag 32 Punkte, bei denen Nachholbedarf besteht. Doch Überraschung: Das Nationale Verkehrslärmschutzpaket II wurde während der Amtszeit Ihres letzten
Verkehrsministers, Herrn Tiefensee, vier Wochen vor der
Bundestagswahl im Herbst 2009 beschlossen. Jetzt führen Sie nach etwas über einem Jahr 32 Mängel auf. Jetzt
frage ich mich: War Ihr eigenes Konzept mangelhaft?
({1})
Oder ist es so - das ist der dritte Grund, warum der Antrag nicht seriös ist -, dass Ihre Forderungen in der Opposition ganz andere sind als in Zeiten des Regierungshandelns?
({2})
Oder war das NVP II nur mit heißer Nadel gestrickt und
dem Wahlkampf geschuldet?
({3})
Was steht nun in Ihrem heutigen Antrag? Sie fordern
Dinge, die schon längst beschlossen sind. Ich nenne beispielsweise die um 3 dB reduzierten Geräuschgrenzwerte für Reifen und die Kennzeichnung umweltrelevanter Eigenschaften. Das ist alles schon beschlossen.
({4})
Sie haben dazu auch eine Vorlage der Bundesregierung
bekommen. Das ist der vierte Grund, warum Ihr Antrag
nicht seriös ist: Sie fordern Dinge ein, die es schon
längst gibt.
Es gibt weitere Dinge, die Sie einfordern, die aber
schon längst im wahrsten Sinne des Wortes auf die
Schiene gesetzt worden sind; sie wurden hier schon verschiedentlich besprochen. Wir haben am 18. März im
Plenum einen Antrag verabschiedet, in dem gefordert
wird, den Schienenbonus abzuschaffen und lärmabhängige Trassenentgelte einzuführen. Insofern sind die
Dinge auf den Weg gebracht. Sie stehen ebenfalls im
Koalitionsvertrag. Das ist der fünfte Grund, warum Ihr
Antrag nicht seriös ist: Sie reiten auf Dingen herum, die
schon längst beschlossen und auf den Weg gebracht worden sind.
({5})
Was ich aber, lieber Kollege Beckmeyer, an Ihrem
Antrag besonders spannend finde - das hat mir wirklich
zu denken gegeben - und was sich hier wundervoll beobachten lässt, ist: Mit jedem weiteren Jahr in der Opposition wächst die Entfernung zur Wirklichkeit massiv.
({6})
Vielleicht kommen Sie uns heute deshalb mit Ihren
32 Punkten - Sie haben sie kurz vor der Wahl offenbar
vergessen -, weil deren Umsetzung nur durch massive
Kürzungen an anderen Stellen zu finanzieren ist. Sie
wollen die Ausgaben des Bundes für Lärmschutzmaßnahmen erhöhen, 155 000 Güterwaggons umrüsten, die
personelle und finanzielle Ausstattung des EBA erhöhen, Elektrofahrzeuge noch mehr steuerlich begünstigen,
die Lärmsanierungsmittel für den Schienenverkehr erhöhen und die Beteiligung des Bundes an der kommunalen
Lärmkartierung erhöhen. Das ist nur eine Auswahl.
({7})
Liebe Freunde von der SPD, wer hier das Geld mit
vollen Händen aus dem Fenster werfen möchte, der
muss an anderer Stelle sparen. Wir haben doch gemeinsam die Schuldenbremse beschlossen.
({8})
Auch Sie haben dafür in namentlicher Abstimmung votiert. Wo wollen Sie also sparen? Ich habe Ihren Antrag
immer und immer wieder gelesen, aber eines habe ich
nicht gefunden, nämlich das Wort „sparen“; das steht
nirgendwo.
({9})
Ich fordere Sie also auf: Sagen Sie uns einmal konkret,
wo Sie zur Finanzierung des vorliegenden Antrags kürzen wollen!
({10})
Welche Ortsumgehung wollen Sie konkret streichen?
Dann müssen Sie die betreffenden Orte, wo die Verkehrslawine mittendurch geht, besuchen und mit den
Menschen vor Ort über Lärmschutz reden. Das ist der
sechste Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Er ist
überhaupt nicht finanzierbar.
({11})
Am Ende will ich versöhnlich sein und bemerken,
dass Sie den Lesern Ihres Antrags auch Freude bereiten.
Es gibt dort nämlich ganz herrliche Stilblüten. Auf
Seite 6 findet sich meine Lieblingsstelle. Sie fordern dort
den Ausbau der Elektromobilität. Das tun wir übrigens
auch, da wir das sehr gut finden. Sie schreiben, dass die
Antriebsgeräusche vor allen Dingen innerorts im Geschwindigkeitsbereich bis 30 km/h reduziert werden.
Keine zehn Zeilen weiter fordern Sie aber: Es müssten
auch „akustische Warnsignale zur besseren Erkennbarkeit der geräuscharmen Elektrofahrzeuge“ eingeführt
werden - wunderbar! -,
({12})
„um die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf
das neue Hören im Straßenverkehr zu schärfen“.
({13})
Das soll aber nicht nur ein bisschen geschehen. Denn
weiter heißt es: Die Signale sollten bitte so laut sein,
dass „insbesondere Hörgeschädigten“ Rechnung getragen wird.
Meine Damen und Herren, auf diese Fahrzeuge freue
ich mich.
({14})
Ich kann nur sagen: Ich finde es lustig. - Das ist der
siebte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie widersprechen sich selbst.
Liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie haben
uns mit Ihrem Antrag zwar Freude bereitet; aber das
Thema Lärm ist ein ernstes Thema, und zwar in der
Breite; es geht nicht nur um den Lärm an der Schiene
und auf der Straße, sondern auch um den Fluglärm. Wir
haben doch in der Großen Koalition gemeinsam zwei nationale Verkehrslärmschutzkonzepte beschlossen. Sie
sind gut; daran gibt es keinen Zweifel.
Die Kollegin Ludwig hat es sehr ausführlich dargestellt: Bis 2020 soll die Belästigung durch Verkehrslärm
bezogen auf Lärmbrennpunkte in besiedelten Bereichen
abnehmen: im Flugverkehr um 20 Prozent, im Straßenverkehr und in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent, im
Schienenverkehr sogar um 50 Prozent. Ich würde mich
freuen, wenn wir das konstruktiv und gemeinsam umsetzen könnten. Denn den Betroffenen vor Ort ist nicht dadurch geholfen, dass hier Schaufensteranträge gestellt
werden; sie erwarten von uns konkretes Handeln und
Lösungen für die Probleme vor Ort. Lassen Sie uns das
gemeinsam tun! Wir laden Sie gerne dazu ein. Ich freue
mich auf die weitere Diskussion.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier
jemand eine Schaufensterrede gehalten hat und sich von
der Realität der Menschen, die von Lärm betroffen sind,
entfernt hat, dann war es mein Vorredner.
({0})
Wir reden über ein Problem, das Hunderttausende Menschen in Deutschland betrifft. Herr Kollege, selbst wenn
Sie die Ausnahme sind, geht es hier tatsächlich auch um
eine soziale Frage. Wer lebt denn an den stark belasteten
Straßen in den Großstädten? Führen diese Straßen durch
die Villenviertel?
({1})
- Das möchte ich einmal sehen.
({2})
- Wer ist denn wirklich von Lärm betroffen? Nehmen
Sie doch einmal die Realität zur Kenntnis.
({3})
Egal, wie lange Sie schon an der Regierung sind: Sie
können sich nicht noch weiter von der Realität entfernen
als Sie es mit dem, was Sie gerade von sich gegeben haben, bereits getan haben. Sie verspotten Menschen, die
jeden Tag unter Lärm leiden; das war der Inhalt Ihrer
Rede.
({4})
Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jarzombek?
Immer.
Herr Kollege, Sie haben gerade behauptet, dass laute
Straßen in Villenvierteln die absolute Ausnahme seien
und Lärm eigentlich immer dazu führe, dass Viertel absteigen, aber Villenviertel davon nicht betroffen seien.
Ich hörte im Hintergrund den Zuruf: „Kommen Sie mal
in meinen Wahlkreis!“ Auch ich lade Sie ein. Gerade
dort, wo Verkehrsflughäfen sind - Sie haben sich offenbar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt -, liegen
häufig Villenviertel.
({0})
In Düsseldorf ist das so: In der Nähe des Flughafens gibt
es allein stehende Häuser und große Grundstücke; denn
die Tatsache, dass dort der Flughafen ist, hat dazu geführt, dass es keine Verdichtung der Bebauung gab.
({1})
Das gibt es auch an anderen Stellen. Insofern sind alle
Schichten der Gesellschaft von Lärm betroffen. Ich
stelle Ihnen die Frage: Ist Ihnen das egal oder stimmen
Sie zu, dass Lärm alle betrifft? Ist es auch für einen Sozialdemokraten interessant, dort etwas gegen Lärm zu tun,
wo Einfamilienhäuser stehen? Ist das für Sie auch eine
Zielgruppe?
({2})
Schauen Sie: Sie haben Ihre ganze Redezeit - zehn
Minuten - nur damit verbracht, sich über Leute lustig zu
machen, die von Lärm betroffen sind, dies ins Lächerliche zu ziehen.
({0})
- Das haben Sie gemacht.
({1})
Wir haben übrigens schon in unserer Regierungszeit damit angefangen: Das zweite Lärmschutzpaket, das von
Frau Ludwig angesprochen wurde, ist von Wolfgang
Tiefensee auf den Weg gebracht worden. Wir kümmern
uns um die Probleme.
Ich lade Sie gerne ein, mich bei all meinen Terminen
vor Ort zu begleiten, bei denen es um Menschen geht,
die an einer lauten Straße oder - überhaupt keine Frage an einem Flughafen leben. Lärm ist ein Problem, das die
ganze Gesellschaft betrifft; das ist überhaupt keine
Frage.
({2})
In den Innenstädten betrifft es aber überwiegend diejenigen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können.
({3})
- Ja, natürlich. Schauen Sie sich die Realitäten an.
({4})
- Ich habe gesagt: „überwiegend“. Man kann immer für
alles ein Beispiel finden.
Ich spreche hier von der Mehrheit der Betroffenen.
Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
Lärmbelastung auch eine soziale Frage ist.
({5})
Eines verstehe ich nicht. Auf der einen Seite beschimpfen Sie uns dafür, dass wir zu viel aufschreiben.
Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, dass wir zu
wenig aufschreiben, weil wir den Fluglärm in den Antrag nicht mit aufgenommen haben. Sie müssen sich einmal entscheiden.
Der Herr Kollege hat deutlich gemacht, warum wir
diesen Ansatz bzw. Schwerpunkt gewählt haben, nämlich, weil er nicht primär in den Zuständigkeitsbereich
der Länder, sondern in den des Bundes fällt.
({6})
Wie wir zukünftig mit den Lärmbelastungen für die
Menschen umgehen, hat sehr viel mit der zukünftigen Entwicklung unseres Wirtschaftsstandortes zu tun. Deutschland ist auf eine starke Infrastruktur angewiesen. Jetzt
seien wir doch einmal ehrlich: Infrastrukturplanung wird
heute von den meisten Menschen als Bedrohung aufgefasst.
({7})
Es geht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Heiliger Sankt
Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!
({8})
Und warum ist das so? Das ist deswegen so, weil die
Menschen der Politik insgesamt nicht mehr abnehmen,
dass sie tatsächlich Lösungen für ihre Probleme bekommen, selbst dann nicht, wenn sie vorher an Planungen
stärker beteiligt werden. Die Hauptsorge von Menschen
bezogen auf Infrastrukturmaßnahmen betrifft den Lärm,
der daraus hervorgeht. Wenn Politik insgesamt darauf
keine glaubhafte Antwort findet, sondern sich - wie Sie hier zehn Minuten hinstellt und versucht, ein bisschen
Kabarett zu machen, ist das ein Schlag ins Gesicht der
Menschen,
({9})
die Hoffnung darauf haben, dass sich Lebensverhältnisse
verbessern.
({10})
Zur Verbesserung der Lebensverhältnisse gehört eine
vernünftige Infrastruktur, die den Lärmschutz der Menschen entsprechend berücksichtigt.
({11})
- Ich war ja so froh, dass Sie alles das, was wir machen
wollen, aufgezeigt und entsprechend kommentiert haben.
({12})
Aber ich komme jetzt zu den Dingen, die entsprechend zu machen sind.
Herr Kollege Pronold, wollen Sie auch noch eine
Frage des Kollegen Willsch beantworten?
Wenn mir meine Redezeit verlängert wird, Herr Kollege, gern.
({0})
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich denke, wir
sind uns einig, dass es, wenn es um die Bürger und ihre
Belastung geht, vor allen Dingen darauf ankommt, dass
Maßnahmen, wenn sie denn beschlossen werden, auch
umgesetzt werden. Ist Ihnen bekannt, dass das, was wir
in der Großen Koalition gemeinsam angestoßen haben,
nämlich die Förderung der Umrüstung von Bahnwaggons, die bei uns durch den schönen Rheingau rollen
und eine wirklich unerträgliche Lärmkulisse verursachen, durch Bezuschussung aus dem Bundeshaushalt,
zwei Jahre lang nicht in Kraft treten konnte, weil Ihr Minister Tiefensee die Notifizierung nicht fertiggebracht
hat? Ist Ihnen das bekannt?
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass wir - Gegenfrage - in der letzten Sitzungswoche einen Antrag beschlossen haben, in
dem Sie als Koalitionsfraktionen Ihre eigene Bundesregierung auffordern, bei der Rheintalbahn endlich etwas
zu tun?
({0})
Das ist auch eine spannende Frage. Wann kommt denn
da etwas? Die Menschen haben diese Ankündigungen
doch satt.
({1})
Wir haben europaweit 400 000 Waggons, die auf veränderte Bremsen umrüstbar wären. Es fahren ja nicht nur
deutsche Waggons durchs Rheintal. Wir brauchen also
erstens eine europäische Initiative. Zweitens weigern Sie
sich, endlich lärmabhängige Trassenpreise durchzusetzen. Das wäre eine Lösung, die sehr schnell zu Verbesserungen führen würde.
({2})
Es geht auch darum, dort für entsprechende finanzielle
Mittel zu sorgen.
({3})
Aber was war denn in der letzten Sitzungswoche vor
der Wahl in Baden-Württemberg die Botschaft des Herrn
Bundesverkehrsministers an die Menschen dort? Er hat
die Menschen damit beruhigt, dass er gesagt hat: Jawohl,
es gibt für vernünftigen Lärmschutz auch entsprechend
Geld. Der Herr Bundesverkehrsminister war in Brasilien, hat dort einen Caipirinha oder zwei getrunken und
hat dann gleich nach Bekanntgabe der Wahlergebnissee
mitgeteilt,
({4})
dass es kein Geld mehr für Länder gibt, in denen falsch
gewählt wird. Dummerweise liegt ein großes Stück der
Rheintaltrasse in Baden-Württemberg. Die brauchen das
Geld für Lärmschutzmaßnahmen. Gibt es dafür jetzt zukünftig nichts mehr? Wenn ich die Worte des Bundesverkehrsministers ernst nehme, ist das so. Was ist in diesem Zusammenhang mit Ihrem Antrag? Bitte geben Sie
darauf eine Antwort.
Es geht darum, was wir tatsächlich tun können. Es besteht hier im Haus Einigkeit darüber, was man tun kann
und was man tun muss. Die Frage ist nun, wie man den
Ankündigungen Taten folgen lassen kann. Das ist die
entscheidende Frage.
({5})
Ich höre bisher nur Ankündigungen und sehe keine Taten. Es stellt sich beispielsweise die spannende Frage,
wie es bei der Rheintalbahn weitergehen soll. Auch Frau
Ludwig hat eine entsprechende Frage aufgeworfen.
Wir müssen über mehr Lärmschutz reden. Wenn wir
zukünftig einen Konsens mit den Bürgerinnen und Bürgern hinbekommen wollen, dass Verkehrsinfrastruktur
auch zukünftig gebaut wird, dann brauchen wir einen
spürbar höheren Lärmschutz, und der kostet Geld. Jeder
höhere Lärmschutz wird Geld kosten. Deswegen muss
man eine seriöse Antwort darauf geben, woher man das
nötige Geld bekommt.
({6})
- Warten Sie einmal ab.
({7})
- Es ist schön, dass Sie noch Hoffnung haben.
({8})
Frau Ludwig, die Regierungsparteien kritisieren uns dafür, dass wir Schnellschüsse machen. Sie regieren nun
fast zwei Jahre und können in diesem Bereich nichts vorweisen.
({9})
Es wäre gar nicht schlecht, zumindest einen kleineren
schnelleren Schuss zu machen und nicht nur hier im Parlament Anforderungen an die Bundesregierung zu formulieren, sondern Gesetze zu ändern. Das ist beim
Schienenbonus doch überhaupt nicht schwierig.
({10})
Wo liegt denn da das Problem? Wenn Sie es wollen, tun
Sie es!
({11})
Warum machen Sie es denn nicht? Sie könnten schnell
schießen, wenn Sie wollten.
Zur Infrastrukturfinanzierung. Sie behaupten, die
SPD macht keine Vorschläge, wie man höhere Infrastrukturausgaben finanzieren kann. Waren es nicht Sie,
die den Hoteliers 1 Milliarde Euro in den Rachen geworfen hat?
({12})
Waren es nicht Sie, die den reichen Erben Hunderte von
Millionen Euro hinterhergeworfen haben?
({13})
Verzichten nicht Sie auf eine Erhöhung der Lkw-Maut
und auf eine vernünftige Ausweitung der Mautpflicht?
({14})
Sie unterlassen alles, um mehr Geld in die Infrastrukturmaßnahmen zu geben, um den Menschen und ihren berechtigten Sorgen Rechnung zu tragen.
({15})
Es gibt noch eine andere Form von Lärm, die wir
heute noch nicht behandelt haben - sie ist auch ziemlich
gefährlich -,
({16})
nämlich den Lärm um nichts. Ihre heutigen Reden waren
nichts anderes als Lärm um nichts. Sie verletzen damit
das Vertrauen, das die Politik in dieser Gesellschaft insgesamt braucht, um zukünftig Infrastrukturprojekte im
Konsens durchzubekommen. Es wäre nicht nur bei der
Rheintalbahn und nicht nur beim Schienenbonus wichtig, dass Sie anfangen, zu handeln, statt nur Ankündigungen zu machen. Die Menschen haben ein Recht darauf, dass sie weiterhin gut und sicher leben können.
Dazu gehört es auch, dass wir nicht nur von Lärmvermeidung sprechen, sondern auch handeln.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn das alles so furchtbar einfach wäre,
wie es die SPD-Fraktion dargestellt hat, dann frage ich
mich: Warum haben Sie die Vorhaben zum Lärmschutz
während Ihrer Regierungszeit nicht einfach umgesetzt?
({0})
Wenn die Forderung so alt ist, wie Sie sagen, dann hätten
Sie die ersten Schritte eigentlich schon längst machen
können. Ich muss Ihnen sagen: Sie waren einfach nicht
der Motor.
({1})
Sie haben 90 Prozent der Forderungen aus dem Koalitionsvertrag übernommen. Insofern nehme ich das als
Würdigung dessen, was wir, übrigens schon vor einem
Jahr, beschlossen und als richtig erkannt haben.
({2})
Infrastruktur ist wichtig für Wirtschaft, Wohlstand
und Wachstum. Wachstum, Wirtschaft und Wohlstand
brauchen wir nicht als Selbstzweck, sondern um unser
Gesundheitssystem, unser Sozialsystem und unser Rentensystem am Laufen zu halten. Insofern ist die Infrastruktur wichtig für die sozial Schwachen, weil gerade
sie es sind, die von diesen Systemen profitieren.
Die Infrastruktur muss jedoch mit Rücksicht auf Umwelt und Menschen umgesetzt werden. Zur Umwelt:
Rein theoretisch könnten wir natürlich alle Infrastrukturprojekte ins freie Feld planen, nur wohnen dort in aller
Regel Hamster, Frosch und Fledermaus. Wenn wir diese
Naturschutzaspekte berücksichtigen und näher an die
Wohnbebauung herangehen, dann belasten wir wiederum Menschen. Wenn wir sagen, wir erhöhen die Anforderungen beispielsweise an den Lärmschutz - was ja
auch gewollt ist -, dann werden Infrastrukturprojekte
verzögert. Sie werden teurer.
Die Linke sagt: Klar, dann machen wir einfach mehr
Schulden. - Das kann man wollen.
({3})
- Ihre Aussage war: Bürgerideen werden von der Schuldenbremse bedroht. - Das heißt: Scheiß auf den Haushalt - Entschuldigung.
({4})
Sie sagen also: Der Haushalt ist egal, wir machen mehr
Schulden. - Wir sagen: Das geht nicht. Das belastet die
zukünftigen Generationen.
({5})
Deswegen wird bereits seit einem Jahr hinter den Kulissen heftig darüber gestritten, wie wir die Umsetzung
vornehmen wollen. Dass es den Regierungsfraktionen in
dem einen oder anderen Punkt vielleicht schneller gehen
könnte, ist, glaube ich, kein Geheimnis. Darum haben
wir im März diesen Antrag gestellt.
Wenn wir allerdings Ihrem Antrag zustimmen würden, dann kämen wir wieder an den Punkt, an dem wir
bereits vor einem Jahr waren, nämlich dorthin, wo im
Prinzip nur heiße Luft erzeugt wird. Wir aber sind einen
Schritt weiter. Wir wollen den Gesetzentwurf vorgelegt
haben. Ich sage: Dieses Gesetz kommt trotz allen Streits
und unter Abwägung aller Aspekte bis Ende dieses Jahres.
({6})
Wir haben darüber gesprochen, dass die sozial
Schwachen diejenigen sind, die sich am wenigsten wehren können. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Bürgermeinung
zur Rheintalbahn tatsächlich so gut bekannt ist. Denn sowohl bei Stuttgart 21 als auch insbesondere bei der
Rheintalbahn ist es die bürgerliche Mitte, die sich für die
Schiene, zugleich aber auch für eine Abwägung einsetzt.
Sie bringen sich ein und fordern Lärmschutz.
({7})
Hier sind nicht nur die sozial Schwachen, die von der
Linken vertreten werden, sondern tatsächlich alle davon
betroffen.
({8})
Deswegen setzen sich wirklich alle für eine vernünftige
Umsetzung ein. Deswegen sind die Regierungsparteien,
die CDU, CSU und FDP, diejenigen, die auf diesem Gebiet ganz stark geworden sind - als Motor die FDP; nicht
die SPD, sonst hätten wir es schon -,
({9})
um die Umsetzung der Rheintalbahn möglichst zügig
hinzubekommen. Wir haben den Antrag im März gestellt, damit dort die Planungen auch unter Berücksichtigung, dass der Schienenbonus nicht mehr existiert - übrigens erstmalig -, weitergeführt werden.
({10})
Auch das haben frühere Regierungskoalitionen in dieser
Form nicht hinbekommen. Das möchte ich einmal sagen.
({11})
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind längst so
weit, wie Sie es eigentlich sein wollten. Sie haben es nur
noch nicht gemerkt. Und wenn Sie meinen, die Koalitionsparteien vor sich hertreiben zu müssen oder zu können, müssten Sie etwas früher aufstehen.
({12})
Mit diesem Antrag ist es Ihnen jedenfalls nicht gelungen.
({13})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ralph
Lenkert von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Geld schützt vor Straßen- und Schienenlärm. Wer genügend besitzt, baut sein Haus in ruhigen
Regionen. Der Rest der Bevölkerung hat entweder
Glück oder ist auf Lärmschutz angewiesen, der Geld erfordert.
Die SPD stellt in ihrem Antrag treffend fest, dass die
Höhe der volkswirtschaftlichen Schäden durch Lärm
mehr als 12 Milliarden Euro jährlich beträgt. Die durch
den von Straße und Schienen verursachten Lärm ausgelösten Krankheiten, die geringeren Arbeitsleistungen
nach gestörter Nachtruhe verursachen dies. 1,2 Millionen Bundesbürger müssen täglich bei mehr als 60 Dezibel schlafen. Umfangreiche Gesetze und Verordnungen
in der EU und in der Bundesrepublik befassen sich folgerichtig mit Lärm. Ausreichend sind sie nicht.
Wieso wird die Lärmbelastung der Bevölkerung zur
Planung des Lärmschutzes eigentlich nur rechnerisch ermittelt und nicht zwingend mit Messungen überprüft?
Ob vom Zug, vom Flugzeug oder vom Lkw verursacht,
jede Lärmart wird einzeln bewertet. Dem Idealmodell
folgende Kalkulationen ignorieren die Situation vor Ort.
Das führt zu Fehleinschätzungen und damit zu fehlenden, nicht ausreichenden, mitunter aber überdimensionierten Lärmschutzbauten. Deshalb fordert die Linke als
einen Schritt zu effektiverem Lärmschutz, die Lärmkartierung durch zwingende Lärmmessungen zu verbessern.
({0})
Was stört einen erholsamen Schlaf eigentlich mehr:
das gleichmäßige Rauschen rollenden Verkehrs oder das
Scheppern eines Tiefladers im Schlagloch? Nicht der
durchschnittliche Lärm allein ist entscheidend, sondern
auch die Höhe und die Häufigkeit von Lärmspitzen.
Daraus folgt unser nächster Schritt: Lärmspitzen müssen in die Lärmbetrachtung einfließen. Das größte Problem bei der Lärmbekämpfung ist unsere Art und Weise,
zu wirtschaften. Das Motto „Höher, schneller, weiter!“
führt zu immer mehr Verkehr. Da sind unnötige Transporte. Muss man Joghurt von Flensburg nach München
transportieren und umgekehrt? Muss man allein aus Profitgründen Nordseekrabben in Marokko puhlen lassen?
Aus betriebswirtschaftlichen Gründen vielleicht, aus
volkswirtschaftlichen jedoch nicht, weil die Folgen, zum
Beispiel die Lärmprobleme, zulasten der Gemeinschaft
gehen. Deshalb setzt die Linke auf Verkehrsvermeidung
und regionale Wirtschaftskreisläufe.
({1})
Der unvermeidbare Verkehr muss leiser werden. Dazu
brauchen die Kommunen Aktionspläne und Geld. Wo
Lkws über die Straße poltern, muss das Tempo reduziert
werden. Das ist billiger und hilft etwas. Besser wäre aber
eine Straße ohne Schlaglöcher und ohne Querschläge,
verursacht durch mangelnde Instandhaltung, durch Aufhacken und Verschließen der Straßendecke aus verschiedenen Gründen.
({2})
Oft werden Baumaßnahmen unzureichend geplant und
durchgeführt. Daher schlagen wir vor, Lärmmessungen
in die Abnahmeprüfung und Garantiebewertung nach jeder Baumaßnahme aufzunehmen.
({3})
Das zwingt Baufirmen zu mehr Qualität, und Qualitätsarbeit erfordert Facharbeiter.
({4})
So kann die Abnahmeprüfung dazu führen, dass prekäre
Arbeitsverhältnisse in gute Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden. Das ist linke Politik.
({5})
Ob Schiene oder Straße, ohne Lärmschutzwälle werden wir nicht immer auskommen. Wegen Geldmangel ist
vorbeugender Lärmschutz aber nur bei Neubauten vorgesehen. Wir fordern, dass auch die deutliche Zunahme
des Verkehrs eine wesentliche Änderung darstellt und
zwingend vorbeugende Lärmschutzmaßnahmen erfolgen
müssen.
Wie man mit weniger Geld mehr Lärmschutz erreichen kann, können Sie in Brandenburg sehen. Da regiert
übrigens die Linke.
({6})
Bei Michendorf ist im Zusammenhang mit dem Ausbau
der A 10 die Anbringung von Photovoltaikanlagen vorgesehen. Würde man alle Lärmschutzbauten in der Bundesrepublik mit Photovoltaikanlagen ausstatten, könnte
dadurch der gesamte Strombedarf der Deutschen Bahn
gedeckt werden. Die dadurch frei werdenden Gelder
müssten zweckgebunden in den Lärmschutz fließen. Das
ist Umweltschutz.
Der Antrag der SPD ist unserer Ansicht nach richtig.
Er ist zwar etwas zu allgemein, aber wir stimmen ihm
trotzdem zu, weil er der Umsetzung unserer Ziele dient.
Zum Abschluss ein Wort an die Koalitionsfraktionen:
Nehmen Sie nicht immer nur die Anträge der anderen
auseinander, sondern legen Sie selbst etwas vor.
({7})
- Ich habe nur Ankündigungen gehört. Ich habe gehört,
was Sie bis 2020 alles machen wollen.
({8})
Handeln Sie! Übernehmen Sie die konkreten Vorschläge
der Oppositionsparteien! Dann können wir etwas für den
Lärmschutz, für unser Land und für die Demokratie erreichen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Patrick Schnieder.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir befassen uns heute in der Tat mit einem sehr ernsten
Thema. Wenn man genau hinhört, stellt man fest, dass
wir uns hinsichtlich der großen Richtung, hinsichtlich
der Analyse dessen, was schon getan worden ist, und
hinsichtlich der Frage, was noch zu tun ist, eigentlich einig sind. Wir sind uns einig, dass Lärm die mit am
stärksten empfundene Umweltbeeinträchtigung ist. Mit
Ausnahme der Linken sind wir uns einig, dass wir auf
Mobilität angewiesen sind und, sofern wir nicht unter
Realitätsverlust leiden, den Ausbau von Mobilität vorantreiben müssen.
Es gibt immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und dem Lärm. Deshalb hat diese Bundesregierung den Lärmschutz zu einem zentralen Anliegen ihrer Verkehrspolitik gemacht,
und zwar sowohl, was den Aspekt des Gesundheitsschutzes angeht, als auch, was die Akzeptanz der Folgen
von Mobilität angeht. Auch an dieser Stelle sind wir uns
im Grunde einig, lieber Kollege Herzog.
Mich verwundert nur, dass Sie einen neuen Konsens
in der Verkehrsinfrastruktur- bzw. Lärmschutzpolitik suchen. Das klingt, als hätte es in der Vergangenheit keine
Große Koalition gegeben, als wäre die Verkehrspolitik
nicht elf Jahre lang auch durch die Sozialdemokraten geprägt worden. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich mit
diesem Antrag ein Stück weit von der eigenen Politik
verabschieden, die Sie elf Jahre lang gemacht haben.
({0})
- Es ist ein Eindruck, der sich hier allerdings aufdrängt;
denn das, was Sie als Antrag stellen, ist in weiten Teilen
bereits Beschlusslage, ist in weiten Teilen auf den Weg
gebracht und wird von dieser Koalition und der BundesPatrick Schnieder
regierung umgesetzt. Sie haben manches davon mit auf
den Weg gebracht.
({1})
- Sie zweifeln an sich selbst.
({2})
Ich bin dankbar für das Eingeständnis Ihrer gescheiterten
Verkehrspolitik der letzten Jahre.
({3})
Ich bin auch sehr erstaunt über Ihr Verständnis von
der Zuständigkeit des Bundes in Bezug auf Fluglärm.
({4})
Gerade ist geleugnet worden, dass wir auf Bundesebene
Einwirkungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben.
({5})
Ich nenne als Beispiele das Bundes-Immissionsschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung. Dies sind Bundesgesetze. Sie ignorieren eine der ganz wichtigen
Lärmquellen, die wir ebenso in den Griff bekommen
müssen, nämlich den Fluglärm. Auch dazu hätten wir
uns einige Vorschläge von Ihnen erwünscht.
({6})
Das sind die Ankündigungen, die Sie vorher in den
Mund genommen haben. Der Unterschied zwischen uns
in dieser Politik ist: Wir handeln, unser Minister handelt,
die Koalition handelt,
({7})
und Sie kündigen an, dass es Ankündigungen gibt.
({8})
Unser Ziel ist klar formuliert, und wir haben die ersten Schritte unternommen. Wir wollen die Lärmbelastung bezogen auf Lärmbrennpunkte in Deutschland reduzieren. Wir leugnen auch nicht das, was wir mit dem
Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II aus dem Jahre
2009 gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Es bildet
die Grundlage für Maßnahmen zur Vermeidung von und
zum Schutz vor Verkehrslärm. Wir haben das Ganze mit
Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag ergänzt, vor allem mit der Einführung lärmabhängiger Trassenpreisgestaltungen bei der Bahn. Auch da verstehe ich Ihre
Aufregung nicht. Alles wurde auf den Weg gebracht, alles wird kommen. Dies gilt auch für die stufenweise Abschaffung des Schienenbonus.
Die Koalition hat eindeutig Schwerpunkte gesetzt,
und einer der Schwerpunkte, den wir gesetzt haben, betrifft die Lärmemissionen im Schienenverkehr. Wir müssen feststellen, dass man dies nicht durch eine einzelne
Maßnahme in den Griff bekommen kann. Vielmehr sind
wir auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen angewiesen.
Dieses beinhaltet die Reduzierung und Abschaffung des
Schienenbonus, das Lärmsanierungsprogramm, das übrigens mit jährlich 100 Millionen Euro dotiert ist, und
Lärmreduzierung an der Quelle; dies ist übrigens die
wirksamste und effizienteste Lärmvorsorge, die es im
Bereich der Schiene gibt. Deshalb sind die Maßnahmen,
die zur Einführung der Flüsterbremse ergriffen worden
sind, egal, ob es sich um die K-Sohle oder LL-Sohle
handelt, der richtige Weg, um Lärm zu vermeiden.
Ich habe wenig Verständnis dafür, wenn man nur sagt,
dass man Mobilität möchte und dabei Verkehre, vor allem Güterverkehre, auf die Bahn verlagern möchte. Zunächst einmal ist das mit mehr Lärm verbunden. Wir
müssen uns ganz klar dazu bekennen, dass wir den so
entstehenden Lärm in den Griff bekommen wollen. Deshalb müssen wir mit allem Nachdruck an der Lärmreduzierung an der Quelle weiterarbeiten. Mit einem großen
Maßnahmenpaket im Rheintal ist ein wichtiger Schritt
geschehen. Der Minister hat ein deutliches Zeichen gesetzt. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen.
Das muss Hand in Hand mit einer Trassenpreisdifferenzierung gehen. Nur mit der lärmabhängigen Differenzierung der Trassenpreise bei der Bahn schaffen wir den
Anreiz, schnellstmöglich umzurüsten, und zwar im europäischen Maßstab. Wir haben natürlich Verkehre, die
durch ganz Europa gehen und von den verschiedensten
Eigentümern gestellt werden. Daher müssen wir eine europäische Lösung finden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf zusammenfassend feststellen: Wir haben mit dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II und den Festlegungen
im Koalitionsvertrag die richtigen Instrumente in der
Hand. Wir haben eine gute Grundlage für die notwendigen weiteren Schritte beim Verkehrslärmschutz. Wir dokumentieren auch mit unseren Handlungen, mit den
Maßnahmen, die wir ergreifen, und mit dem Geld, das
wir in die Hand nehmen, dass Verkehrslärmschutz für
diese Koalition ein wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Verkehrspolitik ist. Ich darf feststellen: Wir sind
bei der Umsetzung der Maßnahmen auf einem guten
Weg.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5461 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordne-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzli-
chen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai
2011 einführen
- Drucksachen 17/4038, 17/5499 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke,
Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung
flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld
der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ({1})
- Drucksache 17/4435 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 17/5499 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern
- Drucksachen 17/1408, 17/5101 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gitta Connemann das Wort.
({4})
- Gut. - Dann erteile ich dem Kollegen Peter Weiß das
Wort, wenn er anwesend ist.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema „Gute Löhne für gute Arbeit“ beschäftigt zu
Recht das Parlament und auch die Bürgerinnen und Bürger. Um es klar und deutlich zu sagen: Zu einer sozialen
Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, gehört auch das
Prinzip „Gute Löhne für gute Arbeit“. Daran darf es keinen Zweifel geben. Die Frage ist nur: Wie?
In dieser Debatte beantragen die heutigen Oppositionsfraktionen, Mindestlohnregelungen für Deutschland
zu beschließen. Für die Öffentlichkeit sollte aber Folgendes gelten: Wichtig ist nicht, was man in den Zeiten,
in denen man in der Opposition ist, beantragt, sondern
wichtig ist, was man in den Zeiten, in denen man in Regierungsverantwortung ist bzw. gewesen ist, tut bzw. getan hat.
({0})
Es kommt auf das Tun und nicht auf das Reden an.
({1})
Nun zum Tun. Die Sozialdemokraten, die ihren Parteivorsitzenden als Redner in diese Debatte schicken,
und die Grünen haben sieben Jahre lang eine Koalition
gebildet und die Bundesregierung gestellt.
({2})
In dieser Zeit ist gerade einmal ein branchenspezifischer
Mindestlohn in Kraft gesetzt worden. Alle anderen sieben
branchenbezogenen Mindestlöhne, die es in Deutschland
gibt, sind in Zeiten, in denen die Union den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin gestellt hat, eingeführt
worden.
({3})
Es ist schön, dass Sie in Zeiten, in denen Sie in der Opposition sind, solche Anträge stellen. Es kommt aber auf
das Handeln an. Beim Handeln ist eindeutig die Union
diejenige politische Kraft, die durch ihre Gesetzgebung
branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland ermöglicht und sie faktisch und praktisch eingeführt hat.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Christdemokraten
und Sozialdemokraten haben sich in der Großen Koalition, in der die Sozialdemokraten in der Tat den Bundesarbeitsminister gestellt haben, mit der Novellierung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes gemeinsam auf den Weg gemacht,
branchenbezogene Mindestlöhne zu ermöglichen. Die Tarifpartner können - und wenn es keine Tarifverträge
gibt, dann kann das auf der Grundlage des Mindestarbeitsbedingungengesetzes in einer Kommission geschehen - für die jeweilige Branche Mindestlöhne beantragen. Ich finde, dass dieser Weg in der Tradition der
tariflichen Autonomie steht, die wir grundgesetzlich
schützen. Es ist richtig, dass wir Politiker, bevor wir etwas zum Thema Löhne sagen und entscheiden, zuallererst diejenigen, die etwas von Löhnen verstehen, nämlich Arbeitgeber und Gewerkschaften, etwas aushandeln
lassen.
({5})
Deshalb betone ich den Vorrang von Tarifautonomie und
branchenbezogenen Mindestlöhnen. Das ist der Weg,
den wir zusammen mit den Sozialdemokraten eingeschlagen haben, der nach wie vor richtig ist und den wir
auch in der neuen Koalition verteidigen und weiter
durchsetzen wollen.
({6})
Mein Wunsch ist, dass die Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz bieten, besser genutzt werden. In der
Tat könnte ich mir vorstellen, dass in weiteren Branchen
branchenbezogene Mindestlöhne festgelegt werden, um
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping und - das ist genauso wichtig - Unternehmen vor
Schmutzkonkurrenz mit niedrigen Löhnen zu schützen.
({7})
Viele Arbeitgeber - gerade auch im Handwerk - sagen
uns: Es wäre gut, wenn wir beim Thema Löhne eine
klare Regelung nach unten hätten, also eine untere Lohngrenze,
({8})
damit es bei der Konkurrenz darum geht, wer die beste
Arbeitsleistung erbringt, und nicht darum, wer seinen
Leuten den geringsten Lohn zahlt. Darum darf es nicht
gehen.
Unsere Politik hat zum Ziel - ich rufe Sie auf, dies zu
unterstützen -, die Möglichkeiten für branchenbezogene
Mindestlöhne in Deutschland noch mehr zu nutzen, als
es bisher der Fall ist. Das ist der Weg, den wir eingeschlagen haben. Er ist besser als jedwede staatliche
Lohnfestsetzung und besser als jeder per Gesetzgeber
dekretierte Mindestlohn. Denn wir wollen nicht, dass die
zum Teil sehr guten Mindestlohnregelungen in einigen
Branchen - manchmal liegt der Stundenlohn über
10 Euro - eines Tages einkassiert werden, weil Arbeitgeber bzw. Unternehmen sagen: Da gibt es doch vom Staat,
per Gesetz dekretiert, einen gesetzlichen Mindestlohn,
an den wir die Löhne - auch nach unten - anpassen.
Es geht in der Debatte nicht nur um die Frage, ob es
bei den Löhnen eine Bewegung von unten nach oben
gibt, sondern auch darum, ob möglicherweise die
Schleuse geöffnet wird, um Löhne zu senken, wie es leider in vielen Ländern geschieht, in denen Mindestlohnregelungen existieren.
({9})
Zur sozialen Marktwirtschaft gehört, dass gute Löhne
für gute Arbeit gezahlt werden. Wir treten für branchenbezogene Mindestlöhne ein. Damit haben wir bisher
schon Erfolg gehabt. Wir glauben, dass wir damit weiter
Erfolg haben werden und eine sinnvolle Alternative zu
einem gesetzlich dekretierten Mindestlohn anbieten.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir freuen uns deshalb auf den 1. Mai, weil
gerade die Herstellung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die betreffenden Staaten so wichtig ist.
Sie ist deshalb so wichtig, weil damit auch ein ganz klein
wenig vom Eisernen Vorhang weggeräumt wird. Deshalb ist es gut und richtig, was da kommt. Wir dürfen bei
diesem Thema allerdings nicht völlig blauäugig sein und
die voraussichtlichen Arbeitsmarktprobleme ausblenden. Halten wir uns vor Augen, was dort geschehen
wird: Arbeitnehmer aus den sogenannten MOE-Staaten
können zuwandern. Sie können aus diesen Ländern zu
uns einpendeln. Vor allen Dingen ist auch grenzüberschreitende Leiharbeit möglich. Sämtliche Beschränkungen bei der sogenannten Dienstleistungsfreiheit fallen
weg. Das heißt, Unternehmen aus den MOE-Staaten
können nunmehr ihre Leistungen bei uns vollständig erbringen.
Es ist schwierig, die ökonomischen Folgen vollumfänglich zu erfassen. Die Forschung stößt hier an ihre
Grenzen. Wir haben sicherlich nicht mit einer Völkerwanderung zu rechnen. Trotzdem wird es keine unbeachtliche Größenordnung von Arbeitnehmern sein, die
wir hier zu erwarten haben. Das IAB geht davon aus,
dass eine jährliche Zuwanderung von 130 000 Personen
möglich ist. Bis zum Jahr 2020 werden es möglicherweise sogar 1,5 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sein. Der DGB geht davon aus, dass es vor allen Dingen eine Zuwanderung in den Bereich der
prekären Beschäftigung gibt, nachdem der Arbeitsmarkt
für Akademiker durch den Wegfall der sogenannten Vorrangprüfung im Prinzip schon vollständig geöffnet ist.
Die Folgen der sogenannten Dienstleistungsfreiheit sind
noch weitaus schwieriger zu kalkulieren.
Deutschland ist auf die neuen Regelungen gänzlich
unvollständig vorbereitet:
({0})
Wir haben keinen generellen Mindestlohn, der für zugewanderte und entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gleichermaßen gilt. Möglicherweise gilt nicht
einmal die sogenannte Schranke der Sittenwidrigkeit.
Herr Professor Bayreuther hat dies in der Sachverständigenanhörung beleuchtet. Die Mindestlohnregelung für
die Leiharbeit, die wir kürzlich erst in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aufgenommen haben, wird durch
Dienst- und Werkverträge möglicherweise umgangen
werden. Für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen,
die auf der Grundlage von Werk- und Dienstverträgen
hierhin kommen, gelten nämlich die Entlohnungsbedingungen des Heimatlandes. Darüber hinaus besteht auch
die Gefahr, dass die beschränkten Mindestlohnregelungen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits durch
Scheinselbstständigkeit und andererseits durch falsche
Tätigkeitsbezeichnungen umgangen werden.
Wir müssen registrieren: Seitens der Regierung ist
nichts unternommen worden. Wir haben im Zuge der
Verhandlungen über die Regelsätze ernsthaft versucht,
die Einführung eines generellen Mindestlohns zu erreichen und das Prinzip des Equal Pay bei der Leiharbeit zu
verankern.
Meines Erachtens benötigen wir hier zwingend vier
Regelungen:
Zuerst benötigen wir einen generellen Mindestlohn
und eine sogenannte Equal-Pay-Regelung für die Leiharbeit.
Vor allen Dingen brauchen wir effektive Sanktionsregelungen zur Einhaltung des Mindestlohnes in der
Leiharbeit. Hier stehen entsprechende Regelungen noch
aus.
Zudem brauchen wir eine angemessene Ausstattung
der Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“. Die Aufgaben der
Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“ haben in den letzten
Jahren durch die Ausdehnung der Bedingungen für einen
Mindestlohn stark zugenommen. Aber eine entsprechende Zunahme der Zahl der dort Beschäftigten hat es
nicht gegeben. Es gab eine aktuelle Anfrage. Die Antwort war: Es besteht keinerlei Bereitschaft, dort mehr
Personal zur Verfügung zu stellen.
Zu guter Letzt brauchen wir eine Beratungstätigkeit.
Wir werden es mit Arbeitnehmern zu tun haben, die
schlechte Sprachkenntnisse und schlechte Informationen
über das Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutschland haben. Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese
Menschen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland
ausgenutzt und ausgebeutet werden. Natürlich dürfen
wir es auch nicht zulassen, dass sich der Niedriglohnsektor, der sich in der Bundesrepublik Deutschland so verheerend entwickelt hat, noch weiter ausdehnt.
Meine Damen und Herren der Regierung, deshalb
kann ich nur sagen: Im Herbst wird es mit Sicherheit die
ersten Missbrauchsfälle geben. Die Verantwortung dafür
liegt ausschließlich bei Ihnen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man jetzt im Frühling, kurz vor Ostern, durch
Stadt und Land streift, dann schärft sich unwillkürlich
der Blick.
({0})
Man sucht nach Neuem, nach Überraschendem, nach
Verborgenem. Stellen Sie sich vor: Ich habe ein Mindestlohnnest mit drei Eiern - ein rotes, ein grünes und ein
dunkelrotes - entdeckt. Sie sahen zunächst einmal ziemlich ähnlich aus. Bei näherer Untersuchung stellte ich
fest: Sie waren ein bisschen hohl und teilweise ein bisschen faul.
Rechtzeitig zum 1. Mai - früher hieß es „Hinaus zum
Kampfmai“; der Reflex scheint jedenfalls auf der linken
Seite dieses Hauses noch zu funktionieren - stellen Sie
die Forderung nach einem gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn. Weil Sie anscheinend doch kein gutes
Gefühl dabei haben - ein flächendeckender Mindestlohn
wirkt eben in allen Teilen des Landes und in allen Branchen sehr undifferenziert -, soll er auf eine Art und
Weise festgelegt werden, dass sich die Politik möglichst
heraushalten kann. Die Kommissionslösung feiert Urstände. Aber Sie alle haben Ihre Vorstellungen, was am
Ende herauskommen soll. Die Grünen wollen einen
Mindestlohn von 7,50 Euro. Die SPD legt sich nicht fest,
sondern fordert in ihrem Antrag „zum Beispiel
8,50 Euro“. Die Linken gehen von mindestens 10 Euro
bis 2013 aus.
({1})
- Ich weiß nicht, ob das ein Grund zum Klatschen ist. Ich habe unlängst von einem SPD-Landesminister gelernt: Löhne müssen der Wertschöpfung entsprechen.
({2})
Wenn Sie, egal was die unabhängige Kommission empfehlen wird, schon heute wissen, dass auf jeden Fall ein
Mindestlohn von 10 Euro herauskommen muss, dann
frage ich mich, ob die Wertschöpfung wirklich in allen
Branchen und allen Teilen unseres Landes mithalten
kann und ob nicht letzten Endes Arbeitsplätze verloren
gehen werden. Das würde ich bedauern. Das Beispiel
Postdienstleistungen hat gezeigt, dass Arbeitsplätze in
sehr kurzer Frist und großer Zahl - dort waren 8 000 bis
10 000 Arbeitsplätze betroffen - verloren gehen können.
Ich glaube, wir sind besser beraten, wenn wir, wie es
die schwarz-gelbe Koalition getan hat, mit Branchenmindestlöhnen operieren, die von Tarifpartnern festgelegt werden. Diese können einschätzen, welche Größenordnung in den jeweiligen Branchen richtig ist. Ich
weise darauf hin, dass sich die Koalition in den letzten
Monaten bewegt hat. Wir haben da, wo es sich anbot, in
nahezu allen Branchen, die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgeführt sind, den Weg für eine Lohnuntergrenze freigemacht, auch im Bereich der Zeitarbeit. Hier
hatten viele im Haus große Bedenken, obwohl alle namhaften Forschungsinstitute einschließlich des IAB gesagt
haben: So schlimm wird es nicht werden; es wird in einer überschaubaren Größenordnung bleiben. Ich kann
Sie beruhigen, Frau Kramme: Wir werden auch rechtzeitig die Kontrollinstrumente einführen. Daran wird es
nicht scheitern.
Ich rate dazu, dass wir, nachdem wir jetzt einen derart
vernünftigen Weg eingeschlagen haben, abwarten, was
die Evaluierung bringt, die sich die Regierung für die
zweite Hälfte dieses Jahres vorgenommen hat. Wir sollten in Ruhe und ohne Zorn und Eifer abwarten, wie sich
Mindestlöhne tatsächlich auswirken. Dann kann man sehen, ob weiterer Handlungsbedarf besteht. Ich glaube,
das ist ein Vorgehen mit Augenmaß.
Ich bin anscheinend im Gegensatz zu vielen von Ihnen optimistisch, was den 1. Mai anbelangt. Ich glaube,
dass in der Freizügigkeit eine große Chance für unser
Land und unsere Wirtschaft besteht.
({3})
- Auch Sie sollten optimistisch sein, Kollegin Pothmer,
und mit Freude diesen weiteren Schritt des Zusammenwachsens in Europa gehen.
Was die Mindestlohnfrage anbelangt, glaube ich sagen zu können: Wir sind gut vorbereitet, und es besteht
kein Grund zur Sorge. Wenn Sie sich ein bisschen öffnen
und lockerer geben, als es aus Ihren Anträgen spricht, erleben Sie vielleicht mit der Freizügigkeit eine angenehme Überraschung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kolb, es freut mich, dass Sie Osterspaziergänge machen und Eier suchen.
({0})
Ich habe einen Tipp für Sie: Versuchen Sie es mit einem
Spaziergang bei Ihrem Arbeitsminister Heiner Garg
- Mitglied der FDP -, der Ihnen in dieser Frage einen
Rat gibt. Diesen Rat möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben, weil Sie ihn Ostern vielleicht nicht treffen. Er hat
am 7. April dem Tagesspiegel gesagt:
Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit heranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im
Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe …
Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Menschen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und
sich und ihre Familien davon nicht ernähren können. „Zwei Euro Stundenlohn sind weder sozial
noch liberal“, sagte Garg. Genauso wenig sei es für
einen liberalen Politiker hinnehmbar, dass der Staat
Unternehmen dauerhaft subventioniere, die den
Wettbewerb mit Niedrigstlöhnen aushebelten.
({1})
So weit Ihr Parteifreund, Herr Kolb. Wenn Sie meinen
Tipp für einen Spaziergang befolgten, würde das Ihre
Partei weiterbringen. Dann müssten Sie kein Personal
auswechseln, sondern Sie müssten einfach den Kurs
wechseln. Dann kämen Sie einen Schritt weiter.
({2})
Die Realität in unserem Lande ist bedrückend. Das
Callcenterunternehmen Teleperformance - offensichtlich eines der Großen der Branche weltweit - hat Niederlassungen in Deutschland und zahlt Löhne zwischen
5,61 Euro und 7,50 Euro. In den ostdeutschen Ländern
verdient kaum jemand über 6 Euro, Herr Kolb. Gehaltserhöhungen finden dort seit Jahren nicht mehr statt. Das
Unternehmen - diese Information ist an Herrn Weiß gerichtet - ist nicht tarifgebunden. Die Betreiber von Callcentern haben zwischen 1998 und 2009 ihre Renditen
um mehr als 20 Prozent gesteigert. Sie werden übrigens
mit 19 Millionen Euro subventioniert. Ich denke, es gibt
einen engen Zusammenhang zwischen den niedrigen
Löhnen in den Callcentern und den Extraprofiten, die offensichtlich in diesen Unternehmen üblich sind.
Mein nächstes Beispiel ist die Firma KiK, ein Textildiscounter. Diese Firma zahlt Aushilfen Stundenlöhne
von 5,20 Euro. Diese Löhne waren sogar dem Arbeitsgericht zu niedrig. Es hat diese für sittenwidrig erklärt. Das
Problem ist allerdings: Die Firma hätte mindestens
7,80 Euro zahlen müssen. Hätten wir einen Mindestlohn,
und zwar einen flächendeckenden, Herr Weiß, wäre das
Risiko, dass die Menschen mit einem solchen Lohn abgespeist werden, bei weitem geringer. Zu den Fragen der
Kontrollen komme ich noch. Aber Sie, Herr Weiß, akzeptieren offensichtlich - da Sie keine flächendeckenden
Mindestlöhne einführen wollen -, dass Niedriglöhne
- wie gerade dargelegt - in der Bundesrepublik Deutschland üblich sind und üblich bleiben.
Sie erlauben eine Zwischenfrage von Herrn Weiß?
Mit großer Freude.
Bitte schön, Herr Weiß. Herr Ernst erlaubt eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Ernst, Sie haben mich persönlich angesprochen und die Branchen Callcenter und Einzelhandel
erwähnt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die dbb tarifunion für Callcenter einen Mindestlohnantrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt
hat, der dem Hauptausschuss vorliegt? Würden Sie
freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass im Bereich des Einzelhandels die Arbeitgeberseite, der HDE,
mit der Arbeitnehmerseite über einen Mindestlohntarifvertrag verhandelt? Würden Sie schließlich zur Kenntnis
nehmen, dass ich mich freuen würde, wenn in beiden
Branchen Mindestlohnregelungen in Kraft treten würden?
Herr Weiß, ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass
Sie offensichtlich das bestätigen, was ich sage; denn Sie
sind nicht bereit, gesetzgeberisch zu handeln. Sie akzeptieren, dass Löhne in dieser Republik gezahlt werden,
von denen man nicht leben kann.
({0})
Das ist der Skandal in diesem Land. Ihre Partei weigert
sich zusammen mit der FDP hartnäckig, dafür zu sorgen,
dass die Menschen einen Lohn erhalten, von dem sie leben können. Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Weiß.
({1})
Wir können gern bei Ihrem Argument bleiben. Es ist
bekannt, dass der Einstiegslohn im Hotel- und Gaststättengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern bei 5,39 Euro
und in Sachsen-Anhalt bei 6,75 Euro liegt. Dort gelten
Tarifverträge, in denen offensichtlich so niedrige Löhne
festgelegt sind, dass man davon nicht leben kann. Herr
Weiß, jetzt können wir so tun, als ob uns das nicht interessierte. Aber wir sind hier nicht nur zum Beobachten
und zum Appellieren da; Sie als Regierungspartei sind
vielmehr zum Regieren da. Wenn Sie richtig regieren
würden, würden Sie solch niedrige Löhne verhindern
und dazu beitragen, dass die Menschen Löhne beziehen,
von denen sie leben können. Das aber tun Sie nicht, Herr
Weiß.
({2})
Sie sind mittlerweile relativ isoliert mit Ihrer Position.
Am vergangenen Dienstag hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Entschließung mit dem
Titel „Bekämpfung der Armut in Europa“ verabschiedet.
In dieser Entschließung heißt es in Punkt 5.9: Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, - ich zitiere wörtlich -,
durch die Gewährung eines angemessenen Mindestlohns das Recht auf faire Entlohnung zu sichern
und das Recht der Arbeitnehmer auf einen Lohn,
der ihnen und ihren Familien einen angemessenen
Lebensstandard ermöglicht, anzuerkennen.
Herr Weiß, diesem Antrag hat auch Ihre Partei, die
Mitglied in der Europäischen Volkspartei ist, zugestimmt. - Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich bei
diesem Thema lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten,
als sich die Argumente eines politischen Konkurrenten
anzuhören.
({3})
Ich möchte hinzufügen: Sie sind offensichtlich mit
der Position, die Sie einnehmen, auch in der Union vollkommen alleine. Ihr Kollege im Europarat ist offensichtlich schon deutlich weiter; denn Sie werden nicht abstreiten können, Herr Weiß, dass man mit dem Lohn,
über den Sie gerade diskutieren, keinesfalls das erreicht,
was hier gefordert wird, nämlich den Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.
({4})
Das ist nur möglich, wenn wir Mindestlöhne in Höhe
von mindestens 10 Euro einführen, Herr Weiß. Das ist
die Wahrheit.
({5})
Wir wissen, dass jeder Lohn unter 9,46 Euro im Ergebnis dazu führt, dass ein Mensch, der diesen Lohn sein
Leben lang erhält, eine Rente bezieht, die unter der
Grundsicherung im Alter liegt. Bei 9,46 Euro ist die
Grenze. Wir wissen, dass - je nach Arbeitszeit - bei
7,50 Euro oder 7,80 Euro die Grenze ist, unterhalb derer
man einen Lohn bekommt, den man aufstocken muss.
Die Löhne vieler Menschen in unserem Land liegen darunter. Sie akzeptieren, dass Arbeitgeber Löhne zulasten
Dritter vereinbaren können. Denn wenn die Löhne so
niedrig sind, dass der Staat die Löhne zahlen muss, oder
die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Renten zahlen muss, handelt es sich um Löhne und Vereinbarungen
zulasten Dritter, die aus meiner Sicht als sittenwidrig abgelehnt gehören. Das ist die Situation, in der wir uns befinden.
({6})
Meine Damen und Herren, ein Thema, das in diesem
Zusammenhang auch noch von Bedeutung ist, sind die
Kontrollen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das Landgericht Magdeburg im Juni 2010 einen Reinigungsunternehmer zu nur 1 000 Euro - nur 1 000 Euro! - Geldstrafe verurteilt hat, weil er statt des Mindestlohns von
damals 7,68 Euro einen Stundenlohn von weniger als
1 Euro gezahlt hat. Bei einer solch geringen Bestrafung
von Leuten, die Hungerlöhne offensichtlich für akzeptabel halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sich
der Niedriglohnsektor ausweitet und dass sich ein Teil
unserer Bürger an Gesetze, die hier verabschiedet werden, nicht mehr hält. Wir brauchen drastische Strafen für
die Menschen, die Hungerlöhne zahlen. Dafür treten wir
Linken ein.
({7})
Besonders betroffen sind Frauen. Sie sind deshalb besonders betroffen, weil sie nach wie vor die schlechteren
Jobs haben und nach wie vor schlechter bezahlt werden.
Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im
Monat verdienen, sind Frauen. Ich wiederhole: Zwei von
drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat verdienen, sind Frauen. Frau von der Leyen, Sie machen
sich immer für die Frauenrechte stark; das begrüßen wir.
Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnten Sie dazu
beizutragen, dass einer Vielzahl von Frauen in diesem
Land wenigstens ein anständiger Lohn gezahlt wird.
({8})
33 Prozent aller weiblichen Vollzeitkräfte sind Geringverdienerinnen. 33 Prozent aller weiblichen Vollzeitbeschäftigten! Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, dass man sich auf der einen
Seite berechtigterweise für einen höheren Frauenanteil
in den oberen Etagen unserer Wirtschaft starkmacht,
aber gleichzeitig offensichtlich den Blick nach unten
vollkommen vergisst. Dass insbesondere Frauen mit
Hungerlöhnen abgespeist werden, ist ein Skandal, genauso wie die Tatsache, dass Sie das akzeptieren, Frau
von der Leyen.
({9})
Ein weiteres Argument. Wir haben 6,7 Millionen atypisch Beschäftigte in unserem Land. 74 Prozent davon
sind Frauen. Frau von der Leyen, es ist nicht akzeptabel,
dass Sie in diesem Bereich schlichtweg nur durch Zuschauen glänzen. Ich möchte Ihnen sagen: Wir isolieren
uns nicht nur in Europa - in Luxemburg gibt es einen
Mindestlohn von 10,16 Euro; in Frankreich liegt er bei
9 Euro -, sondern auch weltweit. In Australien liegt der
Mindestlohn bei 10,40 Euro. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland befürworten die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns, übrigens auch 61 Prozent der Selbstständigen. Warum? Weil es inzwischen auch die Selbstständigen satthaben, von einer Schmutzkonkurrenz von
Unternehmen bedroht zu werden, die Niedrigst- und Billigstlöhne zahlen. Tun Sie etwas dagegen!
({10})
Sie sind Regierungspartei, also appellieren Sie nicht,
sondern regieren Sie. Es wird Zeit, dass wir endlich Ergebnisse sehen.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit
vielen Jahren ist die Bevölkerung für einen gesetzlichen
Mindestlohn; das wissen wir alle. Ich gebe zu: Ich hatte
zeitweise wirklich die Illusion, wir könnten auch hier in
diesem Hohen Hause eine parlamentarische Mehrheit für
den gesetzlichen Mindestlohn erreichen. Nach den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg und RheinlandPfalz schien es mir so, als würde der Schock, den die
FDP dort erfahren hat, tatsächlich dazu führen, dass sie
auch sozialpolitisch ein bisschen Vernunft annimmt. Es
hieß nach diesen Landtagswahlen tatsächlich: Es ist jetzt
unsere Aufgabe, unser soziales Profil zu schärfen.
Als bekannt wurde, dass an die Spitze der Partei Herr
Rösler gesetzt werden soll, dachte ich: Vielleicht liegt
darin auch eine Chance für den Mindestlohn. Herr Rösler hatte nämlich, was den Mindestlohn in der Pflege angeht, die Kurve gekriegt und sich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Als dann noch der Kieler Arbeitsminister
presseöffentlich gesagt hat - Herr Ernst hat es schon zitiert -: „Wir müssen uns für Lohnuntergrenzen öffnen“;
„2 Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal“, da
dachte ich: Das findet vielleicht Gehör in der FDP-Bundestagsfraktion.
Aber seit dem letzten Wochenende lässt es sich nicht
leugnen: Das marktliberale Beharrungsvermögen hat
sich in der FDP ganz offensichtlich durchgesetzt.
({0})
Die Erneuerung ist abgeblasen. Der Parteivorsitzende
sagt nämlich: Der liberale Kompass stimmt.
({1})
- Ich will Ihnen einmal etwas sagen, lieber Herr Kolb:
Wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, dann ist es vollkommen egal, wer bei Ihnen regelt oder segelt, dann wird die
FDP weiterhin Schiffbruch erleiden.
({2})
Sagen Sie doch einmal ganz im Ernst: Sie müssten
jetzt doch eigentlich ein bisschen spüren, was es heißt, in
einer prekären Lage zu sein.
({3})
Ich dachte, dass die prekäre Lage, in der Sie sich befinden, dazu führen könnte, dass Sie wenigstens ein bisschen für die Situation derjenigen Menschen sensibilisiert
werden, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt
sind.
({4})
Aber nichts davon scheint der Fall zu sein. Nein, Sie haben ein kaltes Herz, und Sie haben keinen sozialpolitischen Verstand.
({5})
Die Fakten sind lange bekannt: 6,6 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor,
Tendenz steigend. 3,4 Millionen arbeiten für weniger als
7 Euro die Stunde. Mehr als 1 Million arbeiten für
Löhne unter 5 Euro die Stunde brutto. Eine Friseurin in
Sachsen bekommt 3,06 Euro die Stunde. Dafür kann
man sich nicht die Haare schneiden lassen; da kann man
sich wirklich nur die Haare raufen.
({6})
Mehr als 350 000 Menschen arbeiten Vollzeit und bekommen trotzdem ergänzend Hartz IV. Ich finde, das ist
beschämend für eine Regierung, das ist entwürdigend
für die Betroffenen, und das ist für die Steuerzahler verdammt teuer. Denn allein ein Mindestlohn von 7,50 Euro
würde für den Staat Einsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bedeuten.
({7})
Diese 1,5 Milliarden Euro nehmen Sie, um skrupellose
Unternehmer zu subventionieren, die sich gegenüber
denjenigen Wettbewerbsvorteile verschaffen, die faire
Löhne zahlen. Das ist Wettbewerb à la FDP. Dem geben
Sie Ihren Segen.
({8})
Mit der Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
werden die Probleme zunehmen; das hat die Anhörung
eindeutig ergeben. Es wird nicht zu einem allgemeinen
Problem kommen, aber es wird Druck auf die unteren
Löhne ausgeübt werden.
Liebe Kollegen von der FDP-Fraktion, Sie sind einmal angetreten mit dem Grundsatz: Arbeit muss sich
wieder lohnen. - Jetzt müssen Sie uns hier im Parlament
erklären: Warum gilt das eigentlich nicht für die untersten Lohngruppen? Die Lohnspreizung hat in den letzten
Jahren immer weiter zugenommen. Im letzten Jahr hat es
auf den Veranstaltungen zum 1. Mai schon viele Transparente gegeben, auf denen stand: Habe Arbeit, brauche
Geld. - Es ist auch Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
die Menschen für ihre Arbeit einen vernünftigen Lohn
bekommen.
({9})
Das Arbeitsplatzvernichtungsargument ist seit Jahren
widerlegt. Wenn Sie bei der Anhörung zugehört hätten,
hätten Sie mitbekommen, dass das IAB noch einmal
deutlich darauf hingewiesen hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn positive Arbeitsplatzeffekte haben
würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
könnte es vielleicht sein, dass Sie, nachdem Sie in der
Energiepolitik einen Scherbenhaufen produziert haben,
gerade dabei sind, den nächsten Polterabend, jetzt in der
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, zu organisieren?
({10})
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
alle sozial- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen
erfüllt. Sie wissen das im Prinzip genau. Herr Weiß, ich
spreche Sie noch einmal an. Sie sind in Ihrer CDU-Arbeitnehmerorganisation doch seit Jahren unterwegs im
Kampf für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ({11})
bisher leider ohne Erfolg. Sie haben jetzt die Chance!
Machen Sie den Rücken gerade und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Ich appelliere an Sie: Folgen Sie Ihrem sozialpolitischen Verstand und verstecken Sie sich nicht länger
hinter branchenspezifischen Mindestlöhnen! Branchenspezifische Mindestlöhne sind eine sinnvolle Ergänzung
- das will ich gar nicht bestreiten -, wenn sie oberhalb
der allgemeinen Mindestlohngrenze liegen, aber sie taugen wirklich nicht als Ersatz. Selbst wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber in einer Branche auf einen Mindestlohn verständigt haben,
zelebrieren sofort die Hohepriester um Rainer Brüderle
ihr Hochamt der Ideologie und blockieren die Einführung dieses Mindestlohns. Das haben wir nun wirklich
hinlänglich erfahren müssen.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, der
Mindestlohn wird kommen. Vielleicht können Sie diese
historische Gewissheit noch für eine bestimmte Zeit verdrängen. Vielleicht können Sie diesen Prozess noch etwas verzögern. Eines ist sicher: Aufhalten können Sie
ihn nicht.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/
CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte vorab dem Kollegen Markus Kurth von den
Grünen zum heutigen Geburtstag ganz herzlich auch in
unserem Namen gratulieren.
({0})
Herzlich willkommen zur Mobilmachung für den
1. Mai! Diese Debatte scheint mir dazu zu dienen, die
leeren Säle bei DGB, Linken und SPD vielleicht wieder
ein bisschen zu füllen. Der 1. Mai ist ein Sonntag. Ich
freue mich auf Sonne und Bayern.
({1})
Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag planen
Sie in erster Linie eines: Sie wollen in die Tarifautonomie eingreifen,
({2})
die die Väter des Grundgesetzes aus gutem Grund so definiert und aufgeschrieben haben. Wir sind mit dieser Tarifautonomie in den vergangenen über 60 Jahren in
Deutschland sehr gut gefahren, wie ich glaube. Überall
dort, wo es soziale Ungleichgewichte gab, wo es ein
strukturelles Funktionsdefizit der Tarifautonomie gab,
haben wir - in verschiedenen Konstellationen - gehandelt, zuletzt bei der Zeitarbeitsbranche - wie ich finde,
sehr schlüssig -, aber auch bei der Pflege.
({3})
Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben zu Recht den zukünftigen FDP-Vorsitzenden gelobt. Sie sehen also: Die
schwarz-gelbe Koalition weiß sehr wohl, was Sozial-,
Lohn- und Arbeitsmarktpolitik ist.
({4})
Deswegen werden wir beim Prinzip der branchenbezogenen Mindestlöhne bleiben. Mindestlöhne gibt es
derzeit in acht Branchen. Fünf davon sind unter
Schwarz-Gelb aufgenommen worden, nur eine einzige
unter Rot-Grün. Deswegen bitte ich, das Ganze in dieser
Relation zu sehen.
Lieber Kollege Ernst, Sie kommen ja aus der Gewerkschaft. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es in
Deutschland zwei starke Pole, zwei starke Blöcke gibt:
zum einen die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum anderen die Arbeitgeberverbände. Genau das macht Tarifpolitik aus.
Jetzt muss ich fast annehmen, dass Sie der eigenen Gewerkschaft nicht mehr vertrauen.
({5})
Oder ist der Vertrauensverlust schon so weit fortgeschritten, wie es bei Ihrer Partei in Bezug auf Ihre Person der
Fall ist?
({6})
Ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen, dann
gerne; meine Redezeit ist sehr knapp.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sitzen an
einem Tisch. Sie wissen um die Probleme der Betriebe
und der Branche, sie kennen die Sichtweisen und tauschen sich auf Augenhöhe aus. Wir befinden uns eben
nicht in einer Planwirtschaft, wo der Staat losgelöst von
Produktivität und Realität die Löhne in den Betrieben
festsetzt. Genau das macht das Wesen der Tarifautonomie aus.
({0})
Jetzt bitte ich um die Verlängerung der Redezeit.
Bitte schön, Herr Ernst.
Ich habe folgende Fragen. Erstens. Ist Ihnen bekannt,
dass der Deutsche Gewerkschaftsbund, die IG Metall,
Verdi, NGG und andere Gewerkschaften den Mindestlohn fordern und sogar Kampagnen dafür veranstalten?
Es steht also durchaus nicht im Widerspruch zu meiner
Gewerkschaft, wenn ich hier den Mindestlohn fordere.
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, dass es insbesondere im
Niedriglohnbereich Unternehmen gibt, in denen es aus
unterschiedlichen Gründen, die nicht bei den Arbeitnehmern zu suchen sind, kaum gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter gibt, dass also von den beiden erwähnten Polen einer fehlt, sodass Tarifergebnisse, wie Sie sie
fordern, nicht zustande kommen können? Könnte das
vielleicht der Grund sein, warum die Gewerkschaften,
obwohl sie an der Tarifautonomie festhalten, gesetzliche
Mindestlöhne fordern?
({0})
Lieber Kollege Ernst, könnte es sein, dass die Menschen das Vertrauen in die Gewerkschaften so sehr verloren haben, dass sie nicht mehr glauben, dass diese in
der Lage sind, den einen Pol darzustellen und diese
Löhne durchzusetzen? Ich glaube, dass meine Argumentation insoweit sehr schlüssig ist.
({0})
Was Sie letztlich wollen und machen, ist, den Tarifparteien ihr Recht zu beschneiden und staatlichen Einfluss
auf die Löhne zu fordern. Das wird am Ende, auch wenn
Sie es nicht glauben, Arbeitsplätze kosten. Denn ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird regionalen Unterschieden nicht gerecht. Das müssten Sie eigentlich selber erkennen. In einer Region wie derjenigen, aus
der ich komme, mit weniger als 3 Prozent Arbeitslosen,
ist die Situation völlig anders als beispielsweise in
Mecklenburg-Vorpommern.
Ich glaube, dass wir mit branchenspezifischen Mindestlöhnen und mit den vorhandenen gesetzlichen Regelungen, mit denen soziale Unwuchten ausgeglichen
werden können, den richtigen Weg gehen. Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz - es wurde schon genannt und mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verhindern wir Lohndumping. Wir haben
auch - Sie glauben nicht daran, aber ich setze auf unsere
Gerichte - die Rechtsprechung zu sittenwidrigen Löhnen, und wir haben noch andere Instrumentarien wie das
Tariftreuegesetz und vieles andere mehr.
({1})
Setzen wir weiter auf die Systemstimmigkeit und
Übersichtlichkeit gesetzlicher Vergütungsregulierungen
dort, wo wir sie brauchen! Setzen wir aber auch auf das
Koalitionsgrundrecht, auf die Tarifautonomie und auf
das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft und staatlichen Eingriff.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden uns an den letzten Beitrag gern erinnern und einmal
einen Gesetzentwurf über Tariftreue in den Deutschen
Bundestag einbringen. Der Kollege Lange wird dann
erstens erstaunt feststellen, dass es dieses Gesetz bisher
nicht gibt.
({0})
Zweitens wird er ihm, nachdem er es gerade angesprochen hat, bestimmt zustimmen. Dieses Gesetz ist also
eine gute Idee.
({1})
Herr Kollege, man muss schon eine Menge Humor
haben - die Menschen, die es betrifft, können diesen Humor aber nicht mehr aufbringen, weil sie in Verhältnissen leben, in denen ihnen der Spaß am Leben genommen
wird -, um das zu ertragen, was Sie gerade vorgetragen
haben. Die rechte Seite des Hauses hat sich 20 Jahre lang
Mühe gegeben, der Öffentlichkeit zu erklären, warum
Flächentarifverträge abgeschafft werden müssen und
warum betriebliche Bündnisse besser sind.
({2})
- Was? Ihre Arbeitsministerin ist doch eine der Protagonistinnen gewesen für die Abschaffung des Flächentarifvertrages. Die CDU hat auf ihrem Leipziger Parteitag
beschlossen, dass es betriebliche Bündnisse geben soll.
({3})
Diejenigen, die uns in das letzte Jahrhundert zurückführen wollen, die die Gewerkschaften in Deutschland geschwächt haben und die Ostdeutschland, wo kaum noch
ein Arbeitsplatz der Tarifbindung unterliegt, zum Niedriglohnland gemacht haben - das sind Sie und Ihre Kollegen von der FDP -, sagen jetzt: Das sollen doch bitte
die Gewerkschaften klären. - Dabei sind Sie es doch, die
die Tarifvertragsfreiheit in Deutschland aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben zu verantworten, was hier passiert
ist. Das ist ein Ding aus dem Tollhaus.
({4})
Sie sorgen durch Ihr Handeln dafür, dass es keine Tarifverträge gibt.
({5})
- Dann schauen wir uns doch einmal an, was in den
Bundesländern los ist, in denen Sie den Ministerpräsidenten stellen.
({6})
Deren Zahl wird Gott sei Dank - der Ausgang der letzten
Wahlen war da ganz erfreulich - geringer.
({7})
- Ich verstehe ja, dass Sie jetzt nervös werden. Aber ich
sage Ihnen eines: Ihre Arbeitsministerin und Ihre Kollegen von CDU/CSU und FDP haben dafür gesorgt, dass
ausgehandelte Mindestlöhne in vielen Teilen Deutschlands eben nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind.
Ihre Leute waren übrigens schon einmal klüger. Herr
Kollege Lange, die CDU/CSU hat einmal einem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zugestimmt, obwohl Ihre Fraktion die Mehrheit hatte. Das war allerdings - das will ich zugeben - zu Konrad Adenauers
Zeiten, aber Konrad Adenauer loben Sie so gerne. Wenn
Sie das nachlesen, dann werden Sie wissen, dass es Bereiche gibt, in denen Tarifverträge nicht existieren und in
denen die Gewerkschaften nicht stark genug sind. Herr
Kollege Lange, in dem Gesetz steht, dass sich in diesem
Fall der Staat einmischen muss. Denn wir müssen dafür
sorgen, dass die Menschen in Deutschland von ihrer Arbeit leben können, egal ob es einen Tarifvertrag gibt oder
nicht.
({8})
Herr Weiß, ich kann Ihnen Ihre Parteitagsbeschlüsse
zur Tarifvertragsfreiheit gerne zusenden, wenn Sie sie
nicht kennen.
({9})
- Da haben wir die Tarifvertragsfreiheit verteidigt.
Herr Kollege Weiß, Sie verweisen darauf, dass Sie bei
der Einführung der Branchenmindestlöhne mitgemacht
haben. Sie gestatten mir hoffentlich, dass ich sage: Ja,
auch wir sind stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition mit Ihnen einen Mindestlohn für 2,5 Millionen
Menschen einführen konnten. Übrigens erhalten durch
unsere Anträge bei den Verhandlungen zu Hartz IV jetzt
wieder 1,2 Millionen Menschen mehr einen Mindestlohn.
({10})
- Ich war dabei; ich weiß, dass wir das erst beantragen
mussten. Sie hatten das zuvor nicht vorgesehen. - Vielleicht verstehen Sie, dass der Beschluss in der Großen
Koalition ein Kompromiss war - Sie können auch Ihre
Arbeitsministerin fragen, die damals in einem anderen
Aufgabenbereich tätig war -, weil die CDU/CSU nicht
bereit war, unseren Anträgen auf Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu folgen.
({11})
Ich würde Ihnen jetzt gerne einmal zeigen, wo die
Schwachstellen der Branchenmindestlöhne liegen. Wir
haben zum Beispiel - Frau von der Leyen hat das groß
angekündigt - einen Branchenmindestlohn im Pflegebereich. Ihre Arbeitsministerin hat gesagt, das sei etwas
richtig Gutes. In Osnabrück gibt es einen jungen Unternehmer, der gerade mit häuslicher Pflege zum Billigtarif
wirbt: Pflege für 1 490 Euro brutto im Monat; das sind
ungefähr 1 000 Euro netto. Sie können jetzt einmal ausrechnen - es geht hier um 24-Stunden-Pflege -, ob man
so auf den Mindestlohn im Pflegebereich kommt. Natürlich nicht! Der Unternehmer unterläuft den Mindestlohn;
ich erkläre Ihnen gleich, wie er das macht.
({12})
Die Caritas wirbt mit einer 24-Stunden-Pflege für
1 850 Euro im Monat; davon bleiben gut 1 000 Euro
netto übrig. Natürlich werben beide mit polnischen Pflegekräften, nicht etwa mit deutschen;
({13})
das Angebot gilt ab dem 1. Mai.
Warum können sie das machen? Weil ein großer Teil
der 24-Stunden-Pflege Bereitschaftsdienst oder Hauswirtschaftshilfe umfasst. Deshalb treffen die Bedingungen des Mindestlohns in der Pflege nicht zu; sie gelten
nicht. Diese Unternehmen unterlaufen also den Mindestlohn. Diejenigen, die sich bei uns zur Altenpflegerin ausbilden lassen, werden demnächst arbeitslos, weil andere,
die in ihren Heimatländern häufig bittere Lebensbedingungen vorfinden - das gebe ich gerne zu; ich werfe es
ihnen nicht vor -, mit einem solchen Lohn besser leben
können als mit dem Lohn zu Hause.
Sie von der Koalition vernichten hier qualifizierte Arbeitsplätze, weil Sie einen Mindestlohn verhindern. Das
ist die Realität.
({14})
Wissen Sie, hier zeigt sich der Irrsinn Ihrer Position in
der Debatte. Welcher Auftraggeber im Handels-, Dienstleistungs- oder Handwerksbereich kriegt wohl den Auftrag: derjenige, der einen fairen Lohn bietet, der Auslöse
und Tariflöhne zahlt, oder derjenige, der mit Sub-SubSubunternehmern und miserablen Löhnen unter 7, 6
oder 5 Euro pro Stunde agiert? Natürlich derjenige, der
mit Billigarbeitskräften auftritt. Was macht er hinterher?
Er schickt seine Leute zum Sozialamt; denn da können
sie sich über Hartz IV das restliche Geld holen.
Herr Brüderle ist nicht hier. Ich würde aber gerne einmal fragen, Herr Kolb: Was ist das eigentlich für eine liberale Wirtschaftsauffassung, die es zulässt, dass der
Staat eine Lohnsubventionierung in Milliardenhöhe vornimmt, dass die anständigen Handwerksmeister ihre
Aufträge verlieren, weil sie Tariflöhne zahlen, dass die
Gesellen hinterher arbeitslos sind, weil sie mit anderen,
die mit Sub-Sub-Subunternehmern agieren und keine
vernünftigen Löhne zahlen, nicht mithalten können? Sie
vernichten Arbeitsplätze in Deutschland, und zwar Arbeitsplätze mit einem Lohn, von dem man leben kann.
({15})
Sie schicken die Leute hinterher zum Sozialamt. Das ist
die Realität Ihrer Politik.
Herr Kollege Gabriel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Gabriel, Sie haben in Bezug auf die
Kollegen der Union den Blick bis zurück in das Jahr
2005 gerichtet. Deswegen werden Sie sicherlich nichts
dagegen haben, wenn wir den Blick zurück auf das Handeln der SPD bis 2005 richten.
Gerne!
Sie haben Geschäftsmodelle beklagt, bei denen Arbeitgeber Löhne zahlen, die durch öffentliche Transfers
aufgestockt werden müssen. Könnten Sie mir sagen, ob
das Konzept der Aufstockung Teil der Agenda 2010 ist,
die sich namentlich mit Ihrer Partei, der SPD, verbindet?
War es damals nicht gerade Ihre Idee, geringqualifizierten Menschen durch eine Art Kombi-Einkommen, eine
Kombination aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen und einem öffentlichen Transfer, zu einem Mindesteinkommen zu verhelfen, das in jedem einzelnen
Fall bedarfsdeckend ist? Würden Sie mir zustimmen,
dass Sie sich gerade über sich selbst beklagen und Ihr
Handeln in den Jahren 2005 und davor beweinen?
Erstens. Wenn es so wäre, wäre es vernünftig, eigene
Fehler einzusehen und sie zu korrigieren.
({0})
Zweitens. Wir reden hier nicht mehr über Geringqualifizierte.
({1})
Wir reden über Menschen mit einer ganz normalen Berufsausbildung. Na klar! Glauben Sie, dass die Altenpflegerin, die Krankenschwester und der Pfleger keine
anständige Berufsausbildung haben?
Drittens. Wir haben 2002 nicht von der Öffnung des
Arbeitsmarktes für osteuropäische Arbeitskräfte zum
1. Mai dieses Jahres geredet. Darum geht es doch. Das
hat die Kollegin Kramme klargemacht.
Wir haben jetzt eine andere Situation. Deswegen bieten
diese Unternehmen Pflegekräfte für 1 400 oder 1 800 Euro
zum 1. Mai an. Dann wird der Arbeitsmarkt für die osteuropäischen Arbeitskräfte geöffnet. Davon sind die
Fachkräfte betroffen und nicht diejenigen, für die wir
alle möglichen Kombilöhne in Deutschland ausprobiert
haben, um sie sukzessive an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen. Sie dringen richtig in den ersten Arbeitsmarkt ein.
({2})
Inzwischen sind mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer
in Deutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt. Wenn
wir - das sage ich Ihnen - mit unserer Politik Fehler gemacht haben, dann wird es jetzt Zeit, dass wir sie korrigieren. Wir erleben eine falsche Entwicklung in Deutschland. Diese wollen wir korrigieren, Herr Kollege Kolb.
Sie wollen sie ausbauen.
({3})
Ich weiß nicht, Herr Kolb, wann Sie sich hinsetzen
dürfen. Aber meine Antwort ist damit jedenfalls beendet.
({4})
Herr Kolb, ich mache ein bisschen weiter. Sie erheben
das zum Prinzip. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, worum es im Kern geht. Im Kern geht es nicht nur um die
Höhe des Lohnes. Es geht um die Substanz unseres Landes. Denn was hat dieses Land kräftig, wohlhabend und
stark gemacht? Die Tatsache, dass sich Arbeit gelohnt
hat. Wir erleben in Deutschland gerade eine Entwicklung, die dazu führt, dass sich Arbeit und Leistung nicht
mehr lohnen.
Wir alle sind mit dem Spruch unserer Eltern groß geworden: Du sollst es einmal besser haben als wir.
({5})
Was meinen Sie, wie viele Eltern sich heute Sorgen machen, dass es ihren Kindern trotz guter Berufsausbildung
schlechter gehen wird als ihnen? 40 Prozent der jungen
Leute, die eine gute Ausbildung haben, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Zeitarbeit und
werden schlecht bezahlt. Das sind diejenigen, denen wir
immer sagen: Wir wollen, dass ihr Kinder bekommt,
eine Familie gründet, dass ihr etwas für das Alter zurücklegt. Die halten uns für gaga, Herr Kollege Kolb.
Wir wollen dafür sorgen, dass sie nur noch Sie für gaga
halten und nicht diejenigen, die das ändern wollen. Darauf können Sie sich verlassen.
({6})
Es geht um die Substanz der sozialen Marktwirtschaft. Es geht darum, ob sich Arbeit lohnt. Es geht darum, dass nicht das sozial ist, was Arbeit schafft, sondern das, wovon man leben kann, wenn man arbeiten
geht. Darum geht es in Deutschland.
({7})
Es geht um den Wert von Arbeit. Das scheinen Sie
nicht zu verstehen. Es geht - da hat die Kollegin Pothmer recht - auch um die Würde von Menschen, die arbeiten gehen. Es geht darum, dass jemand, der einem
Menschen im Altenheim täglich mehrfach die Windeln
wechselt, der ihn füttert, der ihn betreut, auch einen anständigen Lohn bekommt und nicht Angst davor haben
muss, wegen Lohndumping aus dem Ausland hinterher
zum Sozialamt gehen zu müssen.
({8})
Das dürfen die Leute in Deutschland doch von Ihnen erwarten.
({9})
Sie sind dagegen.
({10})
Sie sorgen dafür, dass Mindestlöhne unterlaufen werden
können. Sie tun so, als ob man in Deutschland Jobs verliert, wenn man den Mindestlohn einführt. In Wahrheit
verlieren wir Jobs, wenn wir ihn nicht einführen.
Meine Damen und Herren, es ist Zeit, dass wir in
Deutschland wieder Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen.
({11})
- Nein, Sie und Frau von der Leyen sind den Frauen in
Deutschland zweimal in den Rücken gefallen,
({12})
als Sie dagegen waren, dass es bei der Leiharbeit gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und als Sie dagegen
waren, dass wir endlich eingreifen, sodass Frauen und
Männer gleichen Lohn bei gleicher Arbeit kriegen. Sie
haben beide Male dagegen gestimmt. Ihre Ministerin
fällt den Frauen in den Rücken, wenn es ums Handeln
geht,
({13})
und nach draußen hält sie feine Reden über Aufsichtsräte
und Quoten, die sie dort einführen will. Das ist das, was
Sie hier machen.
({14})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Meine Bitte an die CDU/CSU ist: Damals, 1952, gab
es einen Gesetzentwurf der SPD. Darüber gab es lange
Beratungen. Sie bildeten - wie heute - eine gemeinsame
Regierung mit der FDP. Am Ende der Beratungen hatte
Ihre Regierung unter Konrad Adenauer den Mut, dem
Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen Entwurf die SPD eingebracht hatte, mit den Stimmen von
CDU/CSU zur Mehrheit zu verhelfen - gegen die Stimmen Ihres Koalitionspartners FDP. Sie zitieren Adenauer
so gern. Verhalten Sie sich doch einmal so wie er.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Gabriel, Ihre rhetorischen Fähigkeiten, Ihre
Wortgewandtheit sind beeindruckend. Aber Sie waren in
den vergangenen Beratungen zum Thema Mindestlohn
nicht anwesend. Insofern haben Sie nicht gehört, was wir
den Kollegen Ihrer Fraktion schon immer versucht haben von Grund auf zu erläutern.
Wenn Sie die Anträge bzw. den Gesetzentwurf gelesen hätten, die zur Beratung vorliegen, wenn Sie sich ein
bisschen in der Diskussion auskennen würden, dann
würden Sie sehen, dass gegenwärtig unterschiedliche
Mindestlohnhöhen im Gespräch sind: Da gibt es die
7,50 Euro von Bündnis 90/Die Grünen, die 8,50 Euro
von Ihrer Partei und die 10 Euro der Linkspartei.
({0})
Ich habe von meinem Kollegen Herrn Schlecht auf einer
Podiumsdiskussion in Freiburg, auf der wir gemeinsam
mit Peter Weiß waren, gelernt, dass die Linkspartei in
Baden-Württemberg sogar 12 Euro für notwendig und
für einen gerechten Lohn hält.
({1})
Ein Bürger hat mir geschrieben, er habe eine Partei gegründet, um einen Mindestlohn von 16 Euro durchzusetzen. Als ich Sie, Herr Schlecht, gefragt habe: „Warum
dann nicht einen gesetzlichen Mindestlohn von
20 Euro?“, haben Sie ernsthaft gesagt: Stimmt, darüber
müsste man einmal nachdenken. - Lieber Herr Gabriel,
Sie sehen, es ist gar nicht so leicht, wenn sich die Politik
in die Findung von Lohnhöhen einmischt,
({2})
wenn sie festlegen will, was ein gerechter und guter
Lohn ist.
({3})
Deshalb sagen wir nach wie vor: Versuchen wir, die Politik aus dieser Frage herauszuhalten! Mittlerweile versuchen Sie in Ihren Vorlagen, Ihre Vorstellungen vergessen zu machen, dass nämlich für die Festlegung eines
gesetzlichen Mindestlohnes die Politik zuständig ist, indem Sie plötzlich davon sprechen, dass irgendwelche
unabhängigen Kommissionen die Mindestlohnhöhe festlegen sollen.
({4})
Wenn man die Anträge bzw. den Gesetzentwurf von
der Opposition genau liest, dann stellt man fest, dass Sie
Ihren eigenen Vorschlägen misstrauen und dass Ihre Vorlagen nicht konsistent formuliert sind; denn der nationale
Mindestlohnrat, den beispielsweise die Linkspartei vorschlägt, soll die Lohnhöhe fortwährend entwickeln, aber
den Eingangsmindestlohn von 10 Euro möchten Sie ihm
politisch vorgeben, genauso wie die Grünen ihren geforderten Eingangsmindestlohn von 7,50 Euro.
Wir haben nichts dagegen, dass Löhne gut und gerecht sein sollen. Aber die Frage ist doch: Wer kann das
feststellen? Es ist nicht so, dass wir bzw. die Tarifpartner
einfach, losgelöst von der marktwirtschaftlichen Wirklichkeit, Lohnhöhen festlegen könnten. Dann wären wir
uns vielleicht schnell einig. Das Gleiche gilt auch, wenn
man die Lohnhöhe danach definieren wollte, was für die
Rentensicherungssysteme angemessen wäre. Am Ende
ist immer der Verbraucher mit seinem individuellen
Preisempfinden daran beteiligt, welche Löhne in unserer
Gesellschaft gezahlt werden. Denn wenn die Löhne zu
hoch sind, dann werden die Produkte zu dem sich daraus
ergebenden Preis nicht mehr abgenommen. Dann droht
Arbeitslosigkeit; dann droht, dass Menschen nicht mehr
an der Gesellschaft teilhaben können; dann droht, dass
die Menschen keine Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt haben. Das scheint Ihnen, lieber Herr Gabriel, völlig egal zu sein.
({5})
Wir sagen: Die Menschen sollen Arbeit haben. Wenn
das, was sie verdienen, für sie und ihre Familien nicht
zum Leben reicht, dann ist es auch nicht unanständig
und nicht moralisch fragwürdig, wenn sie von der Solidargemeinschaft, vom Steuerzahler, etwas zu ihrem
Lohn dazubekommen.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Gabriele LösekrugMöller von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kober, worüber Sie zum Schluss sprachen, halte ich für einen Rechtsanspruch.
({0})
Kollege Kolb, den gab es übrigens schon zu Zeiten der
Sozialhilfe, wenn der Lohn nicht ausreichte, den man am
Ende des Monats nach Hause brachte. Ich sage Ihnen
das, weil Sie in Ihrer Fraktion der Experte sind.
Die SPD-Fraktion hat heute 80 junge Frauen zu Besuch, es ist nämlich Girls’ Day. Diese Girls, die wir herzlich willkommen heißen, erwarten, dass eine Sache aufhört
- denn das ist wesentlich für ihre berufliche Zukunft -: Sie
wollen, dass Schluss ist mit der Spirale nach unten, nach
dem Motto: Es geht auch billiger, wenn es um Arbeit
geht. - Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen:
Wünschen wir nicht all unseren Söhnen und Töchtern,
dass es ihnen besser geht als uns? Wenn wir das in Sachen Lohn nicht hinbekommen, dann lösen wir dieses
Versprechen nicht ein. Das lassen Sozialdemokraten
nicht durchgehen.
({1})
Deshalb will ich Ihnen sagen: Wir brauchen mehr Recht
und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das steht mitnichten der Tarifautonomie oder Branchentarifverträgen entgegen; es ist vielmehr eine notwendige Ergänzung. So
sehen das auch die Gewerkschaften. Wer meint, er könne
hier einen Keil dazwischentreiben, der glaubt auch, die
Osterhasen würden im Laufe des Jahres zu Weihnachtsmännern umgeformt.
({2})
Bei den Branchenmindestlöhnen haben wir Sie doch,
ehrlich gesagt, zum Jagen tragen müssen. Glauben Sie
denn, ohne unseren Druck hätten wir heute diese Mindestlöhne? Nein, dem ist nicht so. Wenn wir nicht jeden
Monat Druck machen würden in Sachen Mindestlohn,
dann wären wir nicht einmal da, wo wir heute sind. Das
ist ein Teil der Wahrheit.
({3})
Lassen Sie mich an vier Beispielen kurz und knapp
darstellen, wie es um den Mangel an Recht und Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt bestellt ist.
Erstes Beispiel. Es ist halb drei, wir alle haben zu
Mittag gegessen,
({4})
deshalb können wir über die Fleischwirtschaft reden,
zum Beispiel die in Niedersachsen. Die Zustände dort
sind absolut unappetitlich, weil Recht und Ordnung fehlen. Die Dänen sagen: Deutschland ist ein Niedriglohnland. - Deshalb schicken sie ihre Schweine zum
Schlachten nach Deutschland. In der niedersächsischen
Fleischindustrie herrschen Bedingungen, da vergeht Ihnen jeder Appetit auf das nächste Schnitzel.
({5})
Zweites Beispiel: Herr Kolb, die Metzger in Thüringen - da kommt die berühmte Rostbratwurst her - haben
einen Lohn von 5,49 Euro pro Stunde. Dafür können sie
sich eindreiviertel Rostbratwürste leisten. Das stellen Sie
sich bitte vor.
Drittes Beispiel: Floristin - das ist ein Wunschberuf
vieler Frauen. Die machen wunderbare Sachen. Aber
was verdienen sie? 4,58 Euro pro Stunde in Brandenburg
und im Hochlohnland Baden-Württemberg sage und
schreibe 6,36 Euro.
({6})
Viertes Beispiel: die Friseure in Thüringen. Darüber
hat die Kollegin Pothmer schon gesprochen.
Deswegen sage ich: Wir müssen raus aus dieser Spirale „Es geht noch billiger“.
Der FDP-Minister aus Schleswig-Holstein ist von
Herrn Ernst bereits zitiert worden. Da sickert die Erkenntnis durch, dass es so nicht weitergeht. Herzlichen
Glückwunsch, kann ich da nur sagen. Sie haben den Direktor des IAB auf Ihrer Seite. In Spiegel-Online ist zu
lesen, er verstehe gar nicht, warum man einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland für Teufelszeug hält.
Wissen Sie, was er sagt? Er sagt: Das ist Ökonomiefolklore. - Recht hat der Mann.
({7})
Ich empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre.
Danke schön.
({8})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der letzte sozialdemokratische Beitrag hat mich
fast schon wieder etwas milder gestimmt. Aber die davor
zu Gehör gebrachten Beiträge und insbesondere derjenige des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei
waren an Populismus nicht zu überbieten.
({0})
Nur, Herr Gabriel: Seien Sie vorsichtig! Sie werden
schon jetzt an mancher Stelle von der Linkspartei überholt. Herr Ernst ist der bessere Populist als Sie.
({1})
Sie werden ihn in diesem Bereich auch nicht überholen.
({2})
Ich beginne mit den europapolitischen Aspekten Ihres
Beitrages und auch des Beitrages der Kollegin Kramme,
die sogar von Völkerwanderung sprach. Herr Gabriel,
Sie sprachen davon: Die dringen hier ein. - So reden Sie
darüber, wenn für den lange Zeit unfreien Teil Europas
nun endlich, nach einer langen Übergangszeit - das hat
dort nicht jeder verstanden -, weil sich Deutschland auf
seinem Arbeitsmarkt lange abgegrenzt hat, eine Öffnung
stattfindet; eine Öffnung, die nicht weniger als die tatsächliche Vollendung der Einheit Europas bedeutet, die
vor 20 Jahren begonnen hat.
Das ist die Zäsur, vor der wir stehen. Bei europapolitischen Veranstaltungen - in Warschau oder hier -, bei
Veranstaltungen mit Menschen aus Polen, Tschechien
oder dem Baltikum halten Sie schöne Reden über Europapolitik. In arbeitsmarktpolitischen Debatten hingegen
verbreiten Sie einen dumpfen Populismus und sagen:
Die dringen hier ein und nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. ({3})
Lieber Herr Gabriel, Sie befinden sich, um das vornehm
auszudrücken, in einer unguten Gesellschaft.
({4})
Die Tatsache, dass Sie sich dieser Mittel bedienen müssen, spricht nicht dafür, dass Sie in Ihrer Rolle souverän
sind.
({5})
Dafür sprach übrigens auch die sehr zufriedene Miene,
mit der Herr Steinmeier den Saal nach Ihrem Beitrag
verlassen hat.
({6})
Zur Sache: Worüber reden wir? Frau Kramme hat auf
die Recherchen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hingewiesen. Wir reden über 100 000 Arbeitskräfte - vielleicht sind es auch 130 000 -, die ab
dem 1. Mai 2011 zusätzlich auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu finden sein werden. Angesichts eines Verlustes
von 200 000 Arbeitskräften in diesem Jahr als Folge des
demografischen Wandels - darauf hat die Bundesagentur
für Arbeit hingewiesen -,
({7})
angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Wirtschaftswachstum hat wie kaum ein anderes Land
({8})
- in einigen Bereichen herrscht in Deutschland glücklicherweise sogar wieder Vollbeschäftigung -,
({9})
und angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland einen Fachkräftemangel haben, muss man sich keine Sorgen darüber machen, dass 130 000 Menschen nach
Deutschland kommen.
({10})
Aus deutscher Sicht muss man sich eher darüber freuen
- das tun die Betriebe auch -, dass wir Arbeitskräfte bekommen, die uns unterstützen können. Diese Menschen
heißen wir willkommen, und wir behandeln sie selbstverständlich gut.
({11})
Herr Gabriel, da Sie an Herrn Adenauer erinnert haben, sage ich: Das ist nicht das erste Mal, dass wir eine
Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt haben.
Jahrzehntelang gab es eine Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt insbesondere von Menschen aus der
Türkei. Wo waren Sie denn damals? In welcher Art und
Weise haben Sie denn damals Alarm geschlagen? Haben
Sie damals eine Abschottung gefordert und gesagt: „Das
darf nicht stattfinden!“?
({12})
Jetzt verbreiten Sie plötzlich Panik und sorgen für eine
Verunsicherung, die aufgrund der Zahlen überhaupt
nicht gerechtfertigt ist.
({13})
Herr Kollege Wadephul, genehmigen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Ja.
({0})
- Links ist links.
Herr Wadephul, ist Ihnen entgangen, dass kein Redner der Oppositionsfraktionen gefordert hat, den deutschen Arbeitsmarkt abzuschotten? Ein gesetzlicher Mindestlohn würde - dabei ist es in diesem Zusammenhang
erst einmal egal, wie hoch er wäre - selbstverständlich
auch für die Kolleginnen und Kollegen gelten, die aus
anderen Ländern zu uns kommen.
({0})
Insofern ist es eine Verdrehung der Tatsachen, wenn Sie
uns unterstellen, wir würden aus irgendwelchen nationalistischen Gründen unser Land abschotten wollen.
Herr Wadephul, ist Ihnen auch entgangen, dass es ein
Erfolg war, dass der Lohn in Deutschland in den letzten
Jahrzehnten nicht einfach gedrückt werden konnte und
die Arbeitszeiten nicht einfach verlängert werden konnten, weil sie tarifvertraglich festgelegt waren? Ist Ihnen
entgangen, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land etwas anderes einfallen lassen
mussten, als einfach nur billige Leute einzustellen oder
die Löhne zu drücken, wenn sie mehr Geld verdienen
wollten? Sie mussten vernünftige Produktionsweisen erarbeiten, neue Ideen haben und neue Produkte entwickeln, kurz: Innovationen voranbringen.
Können Sie sich vorstellen - das ist der letzte Teil
meiner Frage -, dass eine Aufhebung dieser Grenzen
dazu führt - ich meine: wenn die Löhne wegrutschen
und die Arbeitszeiten verlängert werden können -, dass
die Unternehmerinnen und Unternehmer künftig in großer Zahl den schlechteren Weg wählen, um mehr zu verdienen, das heißt, dass sie die Löhne senken und die
Arbeitszeiten ohne finanziellen Ausgleich erhöhen werden?
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal sage ich: Ich
habe Ihren Antrag gelesen.
({0})
Sämtliche Forderungen werden mit dem Datum 1. Mai
oder einer besonderen Dringlichkeit wegen der Gefahr
für deutsche Arbeitsplätze begründet. Lesen Sie Ihren eigenen Antrag, bevor Sie mir hier eine Frage stellen!
({1})
Zweitens habe ich den Ausführungen zugehört. Es
wurde genau darauf, was ich hier angeführt habe, Bezug
genommen.
Drittens verweise ich Sie darauf, dass vor uns andere
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere
Großbritannien, ihren Arbeitsmarkt geöffnet haben.
({2})
Dort gibt es übrigens - darauf werden wir ja immer hingewiesen - Mindestlöhne. Ja, die haben Mindestlöhne.
Nur, lieber Herr Gabriel, das hat überhaupt nichts geändert.
({3})
Die meisten Polen sind in der Zeit nach 2004 nach Großbritannien gegangen. Der dortige Arbeitsmarkt hat diesen Zuwachs voll verkraftet. Das hat überhaupt keine
Probleme gegeben. Es hat keinen signifikanten Anstieg
der Arbeitslosigkeit gegeben.
({4})
Im Ergebnis wird das also überhaupt nichts ausrichten;
das spielt überhaupt keine Rolle.
({5})
Herr Kollege Wadephul, der Kollege Gabriel würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein. Ich würde jetzt gerne einmal versuchen, diesen
Gedanken zu Ende zu bringen.
({0})
- Haben Sie so wenig Gelegenheit, zu Wort zu kommen,
Herr Gabriel? Das tut mir leid. Ich werde Ihnen gegen
Ende meiner Rede Gelegenheit geben, da einzuhaken.
({1})
Herr Gabriel, Sie haben insbesondere die Pflege angesprochen. Ich möchte zunächst einmal auf eines hinweisen. Erstens ist es so, dass in diesem Bereich Mindestlöhne gelten.
({2})
Dies haben Sie leider verschwiegen. Zweitens wundere
ich mich, in welcher Art und Weise Sie an dieser Stelle
Panik machen. Wir haben in der Pflege - das weiß eigentlich jeder in Deutschland - einen akuten Fachkräftemangel. Es fehlen mindestens 10 000 Arbeitskräfte. Es
werden mittlerweile Kopfprämien für Menschen, die bereit sind, in diesem Bereich zu arbeiten, gezahlt. Das ist
in Ihrem Redebeitrag überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen, lieber Herr Gabriel. Das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
({3})
Ich muss hinzufügen: Wenn Sie hier diese in der Tat
schwierige Arbeit schildern und beschreiben, dass in
diesem Bereich Beschäftigte Menschen aus Windeln holen und ähnliche schwierige Tätigkeiten ausüben, muss
ich sagen: Sie haben sich für diesen Beruf entschieden. Dass wir oder irgendjemand in diesem Hause die Würde
dieser Arbeitskräfte infrage stellen und nicht der Meinung sind, dass sie gerecht entlohnt werden müssen,
stimmt nicht.
({4})
Uns so etwas vorzuwerfen, Herr Gabriel, finde ich
schlicht und ergreifend daneben. Es ist eigentlich auch
unter Ihrem Niveau. Das sollten Sie in Zukunft so nicht
wiederholen. Auf dem Niveau brauchen wir derartige
Debatten nicht miteinander zu führen.
({5})
Ich möchte abschließend sagen: Es gibt hier nicht nur
schwarz und weiß.
({6})
Es ist nicht so, dass die einen für Mindestlohn und die
anderen dagegen sind, sondern es gibt unterschiedliche
Wege. Auch wir sind für Mindestlöhne, wir sind sogar
für gesetzliche Mindestlöhne. Das, was aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und anderer Gesetze stattfindet, sind gesetzliche Maßnahmen. Wir sind der Meinung, dass es branchenspezifisch unterschiedliche Mindestlöhne geben sollte. Das findet zum Beispiel auch im
Antrag der Grünen seinen Niederschlag.
Vielleicht sollten Sie etwas differenzierter an die Debatte herangehen, so, wie es auch der Sachverständige
Professor Bayreuther getan hat, den Sie, Frau Kramme,
erwähnt haben. Daher möchte ich abschließend - Herr
Präsident, mit Ihrer Genehmigung - noch kurz zitieren,
was dieser Sachverständige gesagt hat:
Ich hielte eine Generalisierung des Entsenderechts
für relativ schwierig, weil es einfach Branchen gibt,
die sich dazu nicht eignen. Es gibt diversifizierende
Lohnstrukturen in großen unterschiedlichen Lohngittern. Das passt nicht ins Entsendegesetz. Die
Branchen, die prekäre Beschäftigung aufweisen,
sind überwiegend im Entsendegesetz.
Wir haben dafür gesorgt, dass die Branchen, in denen
es am notwendigsten ist, durch einen gesetzlich flankierten Mindestlohn geschützt werden. Wir schauen uns in
aller Ruhe andere Bereiche an, aber es gibt keinen Anlass, mit Blick auf den 1. Mai 2011 in Panik zu verfallen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Kollege, ich wollte erstens nur sagen, dass ich
mir einen Zustand wie in Großbritannien wünsche.
({0})
Deswegen finde ich Ihr Beispiel, dass die Briten ihren
Arbeitsmarkt geöffnet haben, so wunderbar. Das wollen
auch wir. Aber die Briten haben schon seit langer Zeit einen gesetzlichen Mindestlohn.
({1})
Lieber Herr Kollege, wenn wir uns darauf verständigen
können - ich vermute, dass Sie das gar nicht wollen -,
dass wir uns die Briten als Beispiel nehmen, dass wir für
die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa sind, und zwar
so, wie Sie es am Beispiel der Briten beschrieben haben,
dass wir dann allerdings auch die Bedingungen wie in
Großbritannien schaffen, nämlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, dann sind
wir uns einig. Sie haben eben nur die Öffnung der Grenzen thematisiert, aber nicht den gesetzlichen Mindestlohn in Großbritannien.
({2})
Zweitens. Sie merken, dass ich Ihnen zuhöre. Sie haben mir anscheinend nicht zugehört. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es einen Mindestlohn in
der Pflege gibt, aber dass das Problem gerade darin besteht, dass er unterlaufen wird.
({3})
Dem können Sie nur begegnen, wenn Sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführen. Darum geht es.
({4})
Drittens, Herr Kollege - damit das noch einmal deutlich an Ihr Ohr dringt -: Ja, ich finde, wer die Menschen,
die in der Pflege arbeiten, mit 1 000 Euro netto und weniger abspeisen will, der verstößt gegen die Würde der
Arbeit genauso wie gegen die Würde dieser Menschen in
ihrer Arbeit. Genau das werfe ich Ihnen vor, ob Sie es
nun hören wollen oder nicht.
({5})
Herr Kollege Wadephul zur Erwiderung, bitte.
Herr Kollege Gabriel, das Erste ist: Im Gegensatz zu
Ihnen bin ich regelmäßig als Arbeitsrechtsanwalt tätig.
Ich erlebe immer wieder, wie die Kollegin Kramme
möglicherweise auch, dass es gesetzliche Regelungen,
tarifliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen, sogar
Arbeitsverträge gibt, die klar und eindeutig sind, die aber
unterlaufen werden, Herr Gabriel;
({0})
sogar strafrechtliche Vorschriften werden gelegentlich
unterlaufen. Das gibt es in Deutschland.
({1})
Das wird häufig sanktioniert, aber nicht immer.
Ich will Sie vor dem Trugschluss, dem Sie möglicherweise aufsitzen, warnen, dass eine gesetzliche Regelung
die Lösung sämtlicher Probleme wäre und all dies dann
nicht mehr geschähe. Das ist nicht so. Es wird immer
wieder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die
sich in einer schwachen Position befinden und sich so etwas gefallen lassen.
({2})
Das ist traurig. Diesen Menschen muss man helfen. Ich
tue das im Rahmen meiner Möglichkeiten als Abgeordneter und als Anwalt. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie lösen damit nicht alle Probleme.
Das Zweite ist: Sie müssen sich schon genau überlegen, welche Beispiele Sie anführen. Wollen Sie uns
ernsthaft vorschlagen, dass wir das englische Arbeitsvertragssystem, praktisch ohne Kündigungsschutz, übernehmen?
({3})
- Ein bisschen geht nicht. Sie haben gerade gesagt: Das
gesamte britische System soll übernommen werden. Das haben Sie mir vorgehalten.
({4})
- Natürlich, das haben Sie mir vorgehalten. Dann nehmen Sie bitte auch alles.
({5})
Lieber Herr Gabriel, Sie werden nicht nur ein bisschen übernehmen können, sondern Sie müssen sich
schon auf das gesamte System in Großbritannien einlassen.
({6})
- Ja.
({7})
- Das ist ja in Ordnung.
({8})
Wir reden über arbeitsrechtliche und sozialrechtliche
Grundlagen unseres Wirtschaftssystems. Wenn Sie mir
angesichts des Krankenversicherungsrechts in Großbritannien, angesichts der Situation, dass es dort praktisch
keinen Kündigungsschutz gibt, und angesichts der Situation, dass es dort einen Mindestlohn von gerade einmal
6,50 Euro gibt, erzählen wollen, dass die Menschen auf
der Insel in besseren sozialen Verhältnissen als die Menschen hierzulande leben, dann bin ich nicht Ihrer Auffassung. Ich bin der Meinung, möglichst viele Menschen in
Deutschland sollten wissen, wie Sie über dieses Thema
denken.
({9})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann mich in fast allen Punkten dem Kollegen Johann
Wadephul anschließen,
({0})
außer bei einer Aussage.
({1})
- Ich habe nur drei Minuten, genau.
({2})
An einer Stelle seiner Rede hat er gesagt: Herr Gabriel,
Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht vom größeren
Populisten Klaus Ernst überholt werden. - Ich sage ganz
ehrlich: Diese Sorge habe ich nach Ihrem Auftritt hier
und heute nicht, Herr Gabriel.
({3})
Neu war in der heutigen Debatte - wir führen sie ja
häufig, meistens in gleicher Besetzung, aber bei wechselnden Anlässen - wenig. Sie sagen, Sie wollen die
Lohnfindung in die Hand der Politik legen. Wir sagen,
sie ist bei den Tarifpartnern besser aufgehoben. Wir sind
auch völlig pragmatisch, wenn die Politik einmal Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären muss.
({4})
Das haben wir in dieser Regierungszeit auch schon getan.
Nur, wir lassen es Ihnen, Herr Gabriel, nicht durchgehen, dass Sie für die Essenz der sozialen Marktwirtschaft
streiten. Denn zur Essenz der sozialen Marktwirtschaft
gehört auch die Tarifautonomie. Dazu gehört auch, dass
nicht der Staat und nicht Politiker für die Lohnfindung
zuständig sind,
({5})
sondern Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das werden
wir gegen Sie verteidigen.
Johannes Vogel ({6})
({7})
Ich will auf einen anderen Punkt eingehen.
({8})
- Herr Schlecht, möchten Sie eine Frage stellen?
Ich wollte gerade fragen: Wollen Sie eine Frage des
Herrn Schlecht zulassen?
Bei drei Minuten Redezeit sehr gerne.
({0})
Bitte schön, Herr Schlecht.
({0})
Sie sind eben auf die Tarifautonomie eingegangen.
Das große Problem ist doch, dass die Tarifautonomie in
den letzten zehn Jahren erheblich beschädigt worden ist.
({0})
Ich will Ihnen einen zentralen Punkt nennen. Ich selbst
komme als Hauptamtlicher von Verdi. Bis Anfang 2003
waren wir dem gesetzlichen Mindestlohn gegenüber sehr
zurückhaltend. Wir haben ihn zu einem zentralen Thema
erhoben, nachdem mit Einführung des Arbeitslosengeldes II die Zumutbarkeitsregelungen entfallen sind und
damit der freie Fall der Löhne nach unten eintrat. Damit
war uns klar: Es muss eine andere Regelung her, wenn
der Gesetzgeber diese Zumutbarkeitsregelungen fortfallen lässt.
Das ist der entscheidende Punkt: Sie haben - gerade
unter tätiger Mithilfe der FDP - längst die Tarifautonomie so beschädigt, dass schon allein als Notlösung der
gesetzliche Mindestlohn in Deutschland mehr als notwendig ist.
({1})
Lieber Herr Kollege Schlecht, ich habe die Frage
zwar nicht verstanden, werde aber trotzdem kurz auf die
Bemerkung eingehen.
Erstens: die Zumutbarkeitsregelung im Zusammenhang mit Hartz IV - es war nach meiner Erinnerung RotGrün, die sich als Retter der sozialen Marktwirtschaft
aufgespielt haben.
({0})
Zweitens. Herr Schlecht, Sie werden die Tarifautonomie nicht retten können, wenn Sie der Politik die Lohnfindung in die Hand geben. Ich prophezeie Ihnen: Das
klappt nicht. Wenn wir die Sorge teilen, dass es Gewerkschaften mit einem zu geringen Organisationsgrad gibt,
könnten wir uns die Frage stellen: Wie können wir das
korrigieren? Ich sage Ihnen: Das wird nicht dadurch gelingen, dass Sie Politikern die Lohnfindung in die Hand
geben.
Es würde übrigens auch ein Zweites nicht gelingen.
Großbritannien ist hier immer wieder angesprochen worden. Herr Gabriel, ich habe mich in der Tat - wie der
Kollege Wadephul - schon sehr gewundert. Wir können
gerne über den britischen Kündigungsschutz, die Zahl
britischer Urlaubstage, das britische Niveau der sozialen
Sicherung und andere Arbeitsmarktregelungen Großbritanniens reden.
({1})
Vor allem liegt die Lohnfindung in Großbritannien in der
Hand einer unabhängigen Kommission. Ich würde gerne
mit Ihnen darüber diskutieren, ob das eine denkbare Lösung ist. Allein, wir glauben Ihnen nicht, dass Sie das
durchhalten.
({2})
Schon in Ihren Anträgen beweisen Sie immer wieder,
dass Sie dieser Kommission schon bei der Einführung
vorgeben wollen, wie hoch der Lohn sein darf. Das ist
alles, aber nicht unabhängig.
({3})
Ich will noch zu einem weiteren Punkt, zum Thema
Populismus, etwas sagen. Mich hat - auch da muss ich
mich meinem Vorredner anschließen - eines wirklich gestört, und zwar dass Sie allen Ernstes den 1. Mai zum
Aufhänger für Ihre Forderungen gemacht haben. Wir
sind daran gewöhnt, dass wir hier mit Ihnen in jedem
Monat die Mindestlohnfrage noch einmal diskutieren
und die bekannten Argumente austauschen müssen. Das
können wir gerne machen. Aber Sie können doch nicht
den Beginn der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am
1. Mai zum Ausgangspunkt machen!
Frau Kollegin Kramme, man kann nicht allen Ernstes
sagen, Deutschland sei gänzlich unvorbereitet und im
Herbst gebe es Missbrauch, weil die Bürgerinnen und
Bürger aus den östlichen Mitgliedstaaten der EU zu uns
kommen können. Das ist ein Schüren von Ängsten, die
es in Deutschland viel zu lange gibt,
({4})
Johannes Vogel ({5})
von Ängsten, dass aus der Europäischen Union nur
Schlechtes kommt. Das ist uneuropäisch für ein Land,
das so sehr wie wir vom Binnenmarkt profitiert - dadurch werden hier Arbeitsplätze geschaffen -, das aber
die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht einführen will.
({6})
- Da spielen Sie sich als die großen Europäer auf. Hier
handeln Sie als europapolitische Populisten.
({7})
Das ist erstens uneuropäisch. Zweitens verhindert das
auch Chancen für unser Land. Sie schüren die Sorge vor
Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. vor Menschen, die hierher kommen und weitere Arbeitsplätze schaffen, wie es
in anderen europäischen Mitgliedsländern schon lange
passiert. Wir hätten früher öffnen sollen. Genau diese
Angst, die Sie schüren, verhindert auch, dass wir bei
weiteren Themen schnell genug vorankommen. Dabei
geht es zum Beispiel um die Frage, ob wir nicht auch
von außerhalb Europas Menschen haben wollen, die als
Fachkräfte hierher kommen, Arbeitsplätze schaffen und
unsere Gesellschaft bereichern.
({8})
Damit schaden Sie gerade den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in diesem Land.
In diesem Sinne: Schämen Sie sich, dass Sie diesen
Antrag ausgerechnet zum 1. Mai hier wieder vorlegen.
Ich fürchte aber, wir werden ihn sowieso in den nächsten
Monaten weiter diskutieren. Wir können dann auch
gerne weiterhin die Argumente austauschen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
gestern in der Ausschusssitzung in einem anderen Zusammenhang - da ging es um Flexicurity - über Dänemark gesprochen. Da rief ein Kollege dazwischen: Die
haben ja auch eine hohe Tarifbindung. - Für einen Augenblick vermeinte ich, ein wenig Melancholie bei uns
im Saal darüber zu spüren, dass uns das verloren gegangen ist: die hohe gewerkschaftliche Bindung der Arbeitnehmer,
({0})
aber auch die Bindung der Arbeitgeber, die teilweise die
Möglichkeit haben, OT, also ohne Tarifbindung, Mitglied in den Arbeitgeberverbänden zu sein. Wir würden
diese Diskussion überhaupt nicht führen, wenn es dort
nicht ein Defizit gäbe. Anders ausgedrückt: Wir würden
über gesetzliche Mindestlöhne nicht diskutieren, wenn
die Tarifautonomie in der Art und Weise funktionieren
würde, wie wir es gewohnt waren.
({1})
Ich vermute einmal, dass das Thema - Herr Gabriel,
ich glaube, Sie haben es angesprochen oder Frau Pothmer - in der rot-grünen Koalition noch nicht so aktuell
gewesen ist, weil der Stand der Tarifbindung damals
noch anders war, dass wir es also mit einer Entwicklung
der letzten zehn Jahre zu tun haben. Wenn es aber eine
Erosion der Tarifbindung gibt, dann ist doch der erste
Weg, dies zu heilen, von der Tarifautonomie auszugehen, wo immer das möglich ist. Wir haben das mit branchenbezogenen Mindestlöhnen getan,
({2})
unter anderem in der Abfallwirtschaft, bei den Dachdeckern, im Elektrohandwerk, in der Gebäudereinigung,
bei den Malern und Lackierern, in der Pflege und in der
Wäscherei, und in den letzten Wochen haben wir Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit vereinbart. Ich halte das
für einen ganz deutlichen Schritt nach vorne, weil wir
durch die Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit faktisch einen branchenübergreifenden Mindestlohn definiert haben, der natürlich eine Drittwirkung auf diejenigen entfaltet, die nicht als Zeitarbeitnehmer in diesen Branchen
beschäftigt sind.
Wir haben bei den branchenbezogenen Mindestlöhnen differenzierte Löhne vereinbart, die sich teilweise
noch zwischen Ost und West unterscheiden. Man kann
über die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme geteilter Meinung sein; aber das haben die Tarifpartner nun einmal so
ausgehandelt. Mein großer Einwand gegen den Antrag
der Linken besteht darin, dass die Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro im Grunde genommen bedeuten
würde, wie mit einer Dampfwalze durch die Tariflandschaft zu gehen und sämtliche Differenzierungsmöglichkeiten ad acta zu legen.
({3})
Der Kollege Kolb hat natürlich recht: Mindestlöhne
hängen mit Wertschöpfung zusammen. Es ist aber auch
wichtig, dass wir nicht erlauben dürfen, dass über einen
Wettbewerb Lohndumping betrieben wird. Deswegen ist
es ordnungspolitisch geboten, dort, wo es keine Regelungen gibt, sehr genau darüber nachzudenken, wie wir
einen wilden Wettbewerb verhindern können.
Die Väter der sozialen Marktwirtschaft standen dem
sehr offen gegenüber. Müller-Armack hat einmal davon
gesprochen, dass man durchaus Ordnungstaxen in Höhe
des Gleichgewichtslohns begrüßen kann, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden. Ich bin sehr dafür. Im Übrigen würde auch der Mittelstand, vor allen
Dingen das Handwerk, durch tariflich gebundene Mindestlöhne geschützt. Es ist moralisch und ethisch geboDr. Matthias Zimmer
ten - das wussten nicht nur die Väter der katholischen
Soziallehre, sondern auch Adam Smith - und kann auch
sozialpolitisch geboten sein.
Was mir bei der ganzen Diskussion ein klein wenig zu
kurz kommt - das als abschließende Bemerkung, die ich
hier machen will -, ist, dass wir es beim Mindestlohn
mit einer relativ kleinen Gruppe zu tun haben im Vergleich zu den großen Gruppen, die über die Zunahme an
gewerkschaftlicher Kraft und die Lohnabschlüsse, die in
den letzten Wochen und Monaten sehr hoch ausgefallen
sind, von dem Wirtschaftswachstum profitieren. Ich
glaube, man darf an dieser Stelle auch einmal daran erinnern, dass die Bundesregierung die Prognose für das
Wirtschaftswachstum heute auf 2,6 Prozent nach oben
korrigiert hat. Bei einer solch hohen Zahl hätten Sie
noch vor wenigen Jahren den Kölner Dom dreimal am
Tag läuten lassen. Wir sind stolz darauf, dass wir das
hinbekommen haben. Wir müssen die Debatte über Mindestlöhne auch im Kontext des gesamtwirtschaftlichen
Wachstums führen.
Danke schön.
({4})
Nun hat Kollegin Gitta Connemann für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man
merkt, es nähert sich der 1. Mai. Zum einen nimmt die
Anzahl an Mindestlohnanträgen schlagartig zu. Zum anderen haben uns heute in der Debatte zum Thema Mindestlohn Kollegen beehrt, die wir hier sonst nicht sehen.
({0})
Das sind die Kollegen Ernst und Gabriel. Ich habe sehr
genau zugehört und muss sagen, dass das der Qualität
dieser Debatte leider nicht gedient hat.
({1})
Bei den Ausführungen zum Thema wurde sehr deutlich, dass Herr Gabriel, der sicherlich häufig auf Kundgebungen und Parteiveranstaltungen spricht, nicht weiß,
worüber er hier redet. Das wurde am Detail sehr deutlich, als er zum Beispiel über die Pflege gesprochen und
das Schreckensszenario an die Wand gemalt hat, dass
eine Horde von Arbeitnehmern an unseren Grenzen
steht, die zu uns wollen, um hier insbesondere in der
Pflege das Lohnniveau zu drücken. Er hätte sich besser
darüber informieren sollen, dass erstens schon seit einigen Jahren Pflegekräfte aus dem Ausland bei uns tätig
werden dürfen. Zweitens gibt es für diese Pflegekräfte
bereits einen Mindestlohn, und zwar nicht für die Fachkräfte, wie der Kollege Gabriel suggeriert hat, sondern
für die Hilfskräfte. Drittens hätte er sich informieren
können und sollen, wie hoch der entsprechende Mindestlohn für diese Hilfskräfte in der Pflege ist. Er liegt im
Westen bei 8,50 Euro und im Osten bei 7,50 Euro. Er
hätte besser daran getan, sich zu informieren.
({2})
Viertens hätte er gut daran getan, sich darüber zu informieren, dass es nicht eines gesetzlichen Mindestlohns
bedarf, damit die entsprechenden Regelungen eingehalten werden können. Vielmehr kann selbstverständlich
auch ein Verstoß gegen einen Branchenmindestlohn
nach einer entsprechenden Kontrolle sanktioniert werden. Dafür setzen wir uns ein. Hier gibt es kein Rechtsetzungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.
({3})
Mir ist klar, dass der Kollege Gabriel sich englische
Verhältnisse wünscht. Ich habe immer vermutet, dass er
gerne einmal Kronprinz oder König sein will.
({4})
Es dient der Debatte aber sicherlich in keiner Weise.
Das Niveau, das Sie in Gänze gezeigt haben - das zog
sich leider nicht nur durch den Debattenbeitrag des Kollegen Gabriel -, beschränkte sich darauf, Angst zu schüren. Sie schüren Angst vor dem 1. Mai.
({5})
Sie suggerieren das Bild des Ansturms von Billigkonkurrenz. Meine Damen und Herren von der Opposition,
wie müssen sich eigentlich unsere europäischen Nachbarn fühlen? Welches Bild zeichnen Sie damit von Menschen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, aus Slowenien, Tschechien und Ungarn? Ich finde
das skandalös. Denn bei unseren Nachbarn muss der
Eindruck entstehen, dass sie hier nicht willkommen sind.
Ich sage für die Unionsfraktion sehr deutlich: Herzlich
willkommen in Deutschland, und zwar ab dem 1. Mai!
({6})
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
darf ich sagen: Haben Sie keine Angst vor dem 1. Mai!
Dabei lasse ich die Frage außen vor, ob es tatsächlich zu
einem Ansturm kommen wird. Der Kollege Wadephul
ist sehr detailliert darauf eingegangen. Es kommt aber
auch nicht auf die Zahl an. Es kommt darauf an, dass Sie
suggerieren, es gäbe dadurch Billigkonkurrenz. Ohne
Not; denn die Erfahrungen aus anderen Ländern, die ihre
Arbeitsmärkte früher geöffnet haben, zeigen, dass diese
Befürchtungen nicht eingetreten sind.
({7})
Dort kam es nicht zur Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer. Die Arbeitslosigkeit ist dort nicht gestiegen.
Die Löhne sind nicht gesunken. Das gilt übrigens auch
für Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn wie Schweden. Auch darüber hätten Sie sich vielleicht besser im
Vorfeld informiert.
({8})
Dort, wo es einen Missbrauch geben könnte, haben
wir vorgesorgt. Ab dem 1. Mai gibt es eine Lohnuntergrenze bei der Zeitarbeit, auch dank Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen; denn hier bestand tatsächlich die Gefahr, dass ausländische Firmen unter dem Deckmantel
der Zeitarbeit Arbeitnehmer zu niedrigeren Löhnen nach
Deutschland entsenden. Einem solchen Verdrängungswettbewerb haben wir zugunsten unserer Betriebe und
der Mitarbeiter, die dort arbeiten, einen Riegel vorgeschoben. Das ist der richtige Weg, den wir übrigens auf
Antrag der betreffenden Branche eingeschlagen haben.
Denn wir in der Union sind für Mindestlöhne. Arbeit
darf nicht arm machen. Alles andere wäre unsozial, unwürdig und unerträglich.
Wir setzen bei der Festlegung von Mindestlöhnen
eben nicht auf den Staat, sondern auf die Tarifpartner.
Dieses System hat sich in 60 Jahren bewährt. Heute ist
die pulsierende Wirtschaft in Deutschland auch von Ihnen bejubelt worden. Auch Herr Gabriel hat darauf hingewiesen, was in den letzten Jahren hier passiert ist. Das
war das Ergebnis der Tarifautonomie, die eine der
Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ist. Lassen Sie
uns stolz darauf sein, anstatt sie ständig kaputtzureden.
({9})
Nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können sicherstellen, dass die Mindestlöhne den jeweiligen
Verhältnissen angemessen sind. Ein Einheitslohn für jeden Betrieb in ganz Deutschland
({10})
wird diesen Unterschieden nicht gerecht. Er könnte verheerende Folgen haben. Ich weiß, dass die Grünen in
diesem Zusammenhang für regionale Mindestlöhne sind.
Aber in dieser Hinsicht würde ich auch den Grünen empfehlen, sich besser zu informieren. Ich verweise auf die
EuGH-Entscheidung in der Sache Rüffert, wonach es regionale allgemeinverbindliche Mindestlöhne nicht geben
kann. Wir müssen auch die Entscheidungen des EuGH
beachten. Darum bitte ich sehr. Denken Sie auch an das
Vertragsstrafeverfahren in Sachen Island. Sie haben vorgeschlagen, unsere Entgeltbestimmungen auch auf ausländische Betriebe anzuwenden. Das ist nicht möglich.
Bitte machen Sie doch Ihre Hausarbeiten, bevor Sie sich
hier als Gesetzgeber gerieren. Bitte, bitte, bitte!
({11})
Unsere Aufgabe ist es übrigens nicht, Meinungen
oder Stimmungen wiederzugeben. Ein Satz der Kollegin
Pothmer hat mich wirklich sauer gemacht. Sie hat gesagt, wir hätten kein Herz.
({12})
Kein Herz haben diejenigen, die populistisch argumentieren,
({13})
ein Herz haben diejenigen, die sich mit den Betroffenen
vor Ort auseinandersetzen. Ich gehe in jeder sitzungsfreien Woche von einem Betrieb zum anderen, um das zu
tun. Ich habe in meinem Wahlkreis einen wunderbaren
Berufsbildungsträger, der viele Jugendliche ausbildet,
die es etwas schwerer als die anderen haben. Das sind
die Geringqualifizierten. Sie erhalten dort eine Ausbildung zum sogenannten Werker, eine minderqualifizierte
Ausbildung. Bei einem gesetzlichen Mindestlohn hätten
genau diese jungen Menschen eines nicht: Arbeit. Damit
würden wir sie vom Arbeitsmarkt abschneiden. Arbeit
bedeutet aber nicht nur Geld, sondern auch Würde.
({14})
Ich bitte Sie um eines: Machen Sie doch diesen jungen
Menschen nicht ihre Zukunft kaputt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Frau Connemann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das IAB bei der letzten Ausschussanhörung zum Thema Mindestlohn ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn
Arbeitsplätze nicht vernichten, sondern schaffen würde,
auch und ausdrücklich solche für Geringqualifizierte?
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der
Kollegin Golze? Dann könnten Sie die beiden Fragen
zusammen beantworten.
Ich beantworte erst die Frage der Kollegin Pothmer,
dann die Frage der Kollegin Golze.
Ja, liebe Frau Kollegin Pothmer, es ist so. Sie haben
betont, worauf es ankommt, nämlich auf die kluge Einführung eines Mindestlohns.
({0})
Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass das
IAB, übrigens ebenso wie die Friedrich-Ebert-Stiftung,
gesagt hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn der
Branchenmindestlohn ist.
({1})
Wir haben Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen.
Schauen Sie sich zwei Volkswirtschaften an.
({2})
- Ich bin noch gar nicht fertig.
({3})
- Das ist nicht die Antwort, die Sie hören möchten, liebe
Frau Kollegin Pothmer, aber dazu dienen Fragen nicht.
Sie müssen sich schon mit der Wahrheit konfrontieren
lassen.
({4})
Wenn es eng wird, setzen Sie sich und wollen nicht mehr
zuhören. Das ist interessant. Das verweist auf Ihr Verständnis von Demokratie. Vielen Dank.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Golze?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Frau Connemann. - Sie haben eben gesagt, ein Herz hätten diejenigen, die mit den Betroffenen
sprächen und ihnen zuhörten. Deshalb eine klare Frage:
Erklären Sie mir bitte, wie es kommt, dass es im rot-rot
regierten Berlin die bundesweit einzige Beratungsstelle
für entsandte Beschäftigte aus dem europäischen Ausland gibt, die genau die Arbeitskräfte, die wir hier sehr
begrüßen und die wir vor Ausbeutung schützen wollen,
berät?
({0})
Erstens. Ich kann es Ihnen nicht erklären; denn nach
meiner Wahrnehmung hat der rot-rote Senat in der Vergangenheit allen Beratungsstellen so das Geld gekürzt,
dass es keine mehr gibt.
({0})
Zweitens ist Ihre Wahrnehmung falsch. Wenn Sie
zum Beispiel bei der letzten Anhörung am vergangenen
Montag,
({1})
die wir auch zum Thema Freizügigkeit durchgeführt haben, anwesend gewesen wären, wüssten Sie, dass die
Bundesagentur für Arbeit in ganz Deutschland Beratungsstellen gerade für die Arbeitnehmer unterhält, die
aus den EU-Beitrittsstaaten zu uns kommen. Wir haben
nachgefragt, ob diese Beratungsstellen unterfinanziert
sind. Die Bundesagentur hat gesagt: Nein. Die Mittel
sind sogar noch einmal verdoppelt worden, damit nicht
passiert, dass sich europäische Arbeitnehmer, die zu uns
kommen, hier hilflos wiederfinden. Dafür, dass das nicht
passiert, haben wir Sorge getragen - Gott sei Dank auch
außerhalb Berlins.
({2})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ihre Redezeit ist überschritten.
({0})
Durch die vielen Fragen.
Nein, ich habe die Uhr angehalten.
Wir sind für den 1. Mai gut gerüstet. Ich sage noch
einmal für die Union voller Freude: Herzlich willkommen!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sinn von Zwischenfragen ist nicht, nach Ende der Redezeit noch Fragen zu stellen, um die Redezeit zu verlängern. Das wäre
kein faires Spiel.
({0})
- Das ist wunderbar.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Gute Arbeit in Europa stärken Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am
1. Mai 2011 einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5499, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4038 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
restlichen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für
die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5499, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4435 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen.
({1})
- Mir ist aufgeschrieben worden: Gesetzentwurf. Wir
verändern das also. Ich bitte diejenigen, die der Aus-
schussempfehlung - also Ablehnung - zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Stimmenthaltung von SPD und Linken angenommen.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Gesetzlichen Mindest-
lohn einführen - Armutslöhne verhindern“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5101, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/1408 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l
sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen
- Drucksache 17/5472 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europäische Forschungsförderung in den
Dienst der sozialen und ökologischen Erneuerung stellen
- Drucksache 17/5386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/
DIE GRÜNEN
Stärkung des Europäischen Forschungsraums Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrahmenprogramm in die richtigen Bahnen lenken
- Drucksache 17/5449 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze
- Drucksache 17/5483 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen
- Drucksache 17/5482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung
- Drucksache 17/5484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber
stärken - Unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht einführen
- Drucksache 17/5479 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atomkraftwerke und des Atomkraftwerkes Krümmel
- Drucksache 17/5478 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Überführung der Rückstellungen der AKWBetreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds
- Drucksache 17/5480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({11}), Agnes Krumwiede, Renate
Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Öffentlichen Diskurs zum geplanten Freiheitsund Einheitsdenkmal in Berlin ermöglichen
- Drucksache 17/5469 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth ({13}),
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz bei Tiertransporten verbessern
- Drucksache 17/5491 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2010
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 17/5385 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde
- Drucksache 17/5493 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert Rupprecht ({15}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann ({16}), Patrick
Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gestaltung der zukünftigen europäischen Forschungsförderung der EU ({17})
- Drucksache 17/5492 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten
- Drucksache 17/5485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth ({20}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO
in der „Global Health Governance“ stärken
- Drucksache 17/5486 12014
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({21})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz in Public Privat Partnerships im
Verkehrswesen
- Drucksache 17/5258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({22})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksachen 17/5127, 17/5201 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23})
- Drucksache 17/5510 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Birgit Reinemund
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5510, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5127
und 17/5201 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und
Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/5128 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli
2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Monaco über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/5129 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
27. Mai 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und
Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/5130 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({24})
- Drucksache 17/5467 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({25})
Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchstaben a, b und c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5467, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn
Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Es erhebt sich
kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe
sind mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei
Stimmenthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland
- Drucksachen 16/13325, 17/5314 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Wagner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5314, in Kenntnis der UnterVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
richtung auf Drucksache 16/13325 eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung
- Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, 17/5462 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5462, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/5112 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Ablehnung der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({28}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Anpassung chemikalienrechtlicher Vorschriften an die Verordnung ({29})
Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der
Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des
Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung
- Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2, 17/5497 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Frank Schwabe
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5497, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/5333 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 249 zu Petitionen
- Drucksache 17/5393 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 249 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 250 zu Petitionen
- Drucksache 17/5394 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 250 ist ebenso einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 251 zu Petitionen
- Drucksache 17/5395 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 251 ist gegen die Stimmen der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 252 zu Petitionen
- Drucksache 17/5396 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 252 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 253 zu Petitionen
- Drucksache 17/5397 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 253 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 254 zu Petitionen
- Drucksache 17/5501 12016
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 254 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 255 zu Petitionen
- Drucksache 17/5502 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 255 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 256 zu Petitionen
- Drucksache 17/5503 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 256 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 257 zu Petitionen
- Drucksache 17/5504 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 257 ist gegen die Stimmen der Fraktion der Linken mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 258 zu Petitionen
- Drucksache 17/5505 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Sammelübersicht 258 haben CDU/CSU,
FDP und Grüne zugestimmt; die SPD hat abgelehnt, und
die Linken haben sich enthalten.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 259 zu Petitionen
- Drucksache 17/5506 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Sammelübersicht 259 ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und
der Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 260 zu Petitionen
- Drucksache 17/5507 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Sammelübersicht 260 ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und
Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 261 zu Petitionen
- Drucksache 17/5508 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 261 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Besteuerung von Dieselkraftstoffen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Norbert Schindler für die CDU/CSUFraktion das Wort. Bitte schön.
({43})
Herr Präsident! Verehrte Gäste auf den Tribünen!
Meine Damen und Herren hier im Plenarsaal! Warum reden wir über dieses Thema? Es ist wichtig, das deutsche
Volk darüber aufzuklären,
({0})
was uns in den nächsten zwölf Jahren bei der Umstellung von Energiesteuern ins Haus steht.
Zur Sachlage: 2004 hat die Europäische Union begonnen, sich dem Thema zu widmen. Das war ein Auftrag, von allen gewollt. Die Deutschen waren mit der
Ökosteuer schon einige Jahre früher dabei. Unter anderem wegen der Ökosteuer, die übrigens nicht die Union
eingeführt hat - sie ist mit Mehrheit eingeführt worden -,
haben wir hohe Treibstoffsteuersätze.
Jetzt versucht die Europäische Union, die Steuersätze
in einem bestimmten Zeitraum anzugleichen; besteuert
werden soll nicht mehr nach der Menge, sondern nach
dem Energiegehalt.
({1})
So weit, so gut.
Wir haben gemeinsam mit Großbritannien mit Abstand die höchste Besteuerung in diesem Bereich: Bei
Diesel sind es 47 Cent, bei Benzin circa 65 Cent. Wenn
der europäische Durchschnitt bei Diesel derzeit bei
33 Cent liegt, hätte eine Harmonisierung des Steuersatzes erst langfristig eine Steuererhöhung zur Folge. Wir
haben noch drei Legislaturperioden Zeit. Deswegen verstehe ich manchmal die Aufregung nicht, wie sie in den
Zeitungen nachzulesen ist. Man muss sich nur die Ziele
anschauen. Dass Deutschland nur vor dem Hintergrund
des Einstimmigkeitsprinzips der Europäischen Union
zustimmt, ist für uns so sicher wie das Amen in der Kirche.
({2})
Natürlich wollen wir auf lange Sicht eine Steuerharmonisierung, aber nicht zulasten des deutschen Autofahrers,
der schon genug zahlt. Bei der momentanen Belastung
hat er absolut die Schnauze voll; so muss man das einmal sagen.
({3})
Deswegen soll man mit Gemach und einer gewissen
Gelassenheit an die Ziele herangehen, die wir letztendlich alle erreichen wollen. Da noch viele Kolleginnen
und Kollegen zu diesem Punkt reden werden, will ich
nur darauf hinweisen, was Deutschland derzeit umzusetzen versucht, um den CO2-Ausstoß zu senken.
Ich wundere mich und bin erstaunt, dass Matthias
Wissmann, unser oberster Autobauer, darauf hinweist,
dass die Premiumklasse unter den Dieselfahrzeugen
vielleicht betroffen wäre. 2008 - Gabriel war noch Umweltminister - stand man, ebenfalls beim Autogipfel, vor
der Frage: Können wir angesichts der Premiumklasse,
die besonders wichtig für unsere Arbeitsplätze und unseren Export ist, beim CO2-Ausstoß die europäische
Durchschnittszahl von 120 erreichen? Nein, das können
wir in Deutschland nicht, deswegen die Kombination
mit Biokraftstoffen. B7 wurde eingeführt, und kein Hahn
auf einem Misthaufen hat sich deswegen aufgeregt; alle
Treibstoffe waren absolut motorenverträglich. Auch die
Einführung von E5 hat niemand zur Kenntnis genommen; man ging zur Tagesordnung über. Aber die Einführung von E10 hat in Deutschland Furcht ausgelöst. Obwohl 99 Prozent aller in Deutschland hergestellten
Autos absolut E10-verträglich sind, reden alle vom Untergang des Abendlandes. Typisch deutsch: Mein heiliges Blechle ist vielleicht davon betroffen.
Ich habe hier eine Untersuchung vom TÜV Rheinland. Die DEKRA in Norddeutschland bestätigt die Untersuchungen zum tatsächlichen Verbrauch von E10. Er
ist geringer im Vergleich zu E0 oder E5, und die Leistung von E10 ist noch besser, weil der ETBE-Anteil in
diesem Sprit die Intelligenz der Motoren besser ausreizt
und nutzt. So sagen mir das Techniker.
Deswegen sollte man das mit Gelassenheit angehen.
Ich sage hier im Parlament offen: Ich erwarte in den
nächsten Tagen und Wochen auch eine Aufklärungskampagne der Automobilhersteller, denn wegen ihnen wurde
das überhaupt eingeführt.
({4})
Die Mineralölverbände haben kläglich versagt. Sie waren nicht bereit, die 8 Millionen Prospekte, die im Umweltministerium gedruckt worden sind, an den Tankstellen so zu verteilen, wie es im Nachhinein auf dem
Benzingipfel verabredet worden ist. Auch die Garantieerklärung der Autohersteller, das, was man mit ihnen in
Brüssel 2008 zum Wohle des deutschen Wirtschaftsstandortes vereinbart hat, ist nicht eingehalten worden.
Jetzt kommt Herr Matthias Wissmann! Ich hätte mir
gewünscht, er hätte vor fünf oder sechs Wochen eine
Aufklärungskampagne gemacht, um den Einsatz von
nachwachsenden Rohstoffen im Treibstoffbereich zur
Erreichung der Umweltziele vernünftig zu erklären.
Nein, das wird ausschließlich der Politik zugeschoben,
und der Umweltminister wird auch noch vorgeführt. Das
war schon ein sehr starkes Stück.
({5})
Herr Präsident, Sie gestatten mir noch einen Satz
dazu. Wenn die Kirchen Gutmenschenpolitik in den
Entwicklungsländern machen wollen, sollen sie sich
Brasilien anschauen: Dort gibt es 240 Millionen Hektar
landwirtschaftliche Nutzfläche, wobei kein Regenwald
betroffen ist. 6 Millionen Hektar werden zur Ethanolerzeugung genutzt. Wenn es nur 3 Millionen Hektar
mehr wären, könnte Brasilien den gesamten lateinamerikanischen Kontinent mit Benzinersatz versorgen. Im eigenen Land ist das heute schon der Fall. Aber wir regen
uns in Deutschland über einen Ethanolanteil von 5 oder
10 Prozent auf.
Wenn wir über die Steuerharmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft reden, dann müssen wir über die
langfristigen Klimaschutzziele wie die Verminderung
des CO2-Ausstosses nachdenken. Für das Erreichen dieser Ziele müssen wir alle in Deutschland etwas tun, auch
wenn es wie im Moment mühevoll ist.
Die Debatte über Atomausstieg und Ersatztechnologien auf Basis von Gas wird uns im nächsten Vierteljahr
oder noch länger begleiten. Auch da wird einiges von
Deutschland abverlangt. Aber wenn wir erfolgreich sein
wollen, müssen wir auch kerzengerade zu diesen Zielen
stehen. Das gilt auch für die Industrie, die daraus einen
großen Profit ziehen wird. Ich nenne da Herrn Wissmann
von der Automobilindustrie und Herrn Picard von der
Mineralölindustrie, die nach außen verbindlich wirken,
aber intern Steine in den Weg legen.
Danke schön.
({6})
Herr Kollege, wenn ich richtig gezählt habe, waren
das 17 Sätze. - Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Schindler, wenn ich das richtig sehe,
hat die Koalition diese Aktuelle Stunde zum Thema Besteuerung von Dieselkraftstoffen und nicht zum Thema
E10 beantragt.
({0})
- Das sind zwei doch deutlich unterschiedliche Themen.
Ich will auf das eigentliche Thema, nämlich auf den
Diesel, zurückkommen. Überall konnten wir am Wochenende lesen, dass die EU den Diesel teurer machen
will. Das war die Botschaft. Nach näherem Hinsehen
konnte man in Erfahrung bringen, dass es innerhalb der
EU-Kommission Überlegungen gibt, den Diesel um
17 Prozent teurer als Superbenzin zu machen.
Es war sehr bemerkenswert, dass am Freitag die Bundesregierung auf entsprechende Nachfrage in der Bundespressekonferenz dazu keine Meinung hatte. Ich finde,
dass man sich dazu sehr schnell eine Meinung bilden
kann. Man muss sich nur fragen: Soll diese Politik der
Umwelt, der Industrie oder dem Verbraucher, in dem
Fall dem Autofahrer, nutzen? Dann kommt man sehr
schnell zu dem Ergebnis: Die Pläne für eine Verteuerung
des Diesels nützen keinem der drei Genannten. Deswegen sind solche Pläne abzulehnen.
({1})
Eine höhere Dieselsteuer hilft niemandem.
({2})
- Dass die Grünen dafür sind, ist mir schon klar. Darauf
komme ich gleich noch.
Die Pläne innerhalb der Europäischen Union zur stärkeren Besteuerung von Diesel sind ein Paradebeispiel
für etwas ganz anderes. Sie sind quasi ein Lehrstück, das
zeigt, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist,
rechtzeitig, ausgestattet mit einem entsprechenden Frühwarnsystem, auf europäische Entwicklungen zu reagieren und sie zu beeinflussen.
({3})
Das haben wir wieder einmal vor Augen geführt bekommen.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus der jüngsten
Vergangenheit. Herr Burgbacher, Sie kennen sie auch;
die Grünen werden sagen, dass sie anders zu bewerten
sind. Bei der Steinkohlefinanzierung ist die Bundesregierung im wahrsten Sinne des Wortes nicht mit Energie in Brüssel aufgetreten. Das Thema energieintensive
Industrien wurde mit Blick auf den Emissionsrechtehandel auf Brüsseler Ebene nicht kraftvoll vorangetrieben.
Oder nehmen wir die wettbewerbsrechtlichen Nachteile
für die deutsche Automobilindustrie durch das jüngst abgeschlossene Handelsabkommen mit Südkorea. Auch da
hat sich die Bundesregierung nicht um die Belange der
heimischen Industrie gekümmert. Dieses Problem wird
auch im Rahmen der Diskussion um die Besteuerung
von Diesel deutlich.
Die Politik in Brüssel machen zum Teil deindustrialisierte Länder. In Brüssel machen zum Teil Leute Politik,
die von der Sache selbst am Ende nicht betroffen sind.
Ich bin wirklich ein glühender Europäer. Aber ich weiß
auch: Um gute europäische Politik zu machen, bedarf es
einer starken deutschen Stimme in Europa. Diese fehlt
aber in allen Feldern.
({4})
Was wir mit Blick auf die Automobilindustrie, auf die
Autofahrer und auf unsere Umwelt brauchen, ist eine
Politik aus einem Guss. Wir brauchen eine Verständigung darüber, wie wir die Antriebstechnologien der Zukunft fördern wollen. Aber dieses Thema darf man nicht
singulär betrachten. Wir müssen uns auch fragen, wie
hoch wir welchen Kraftstoff besteuern wollen. Wir müssen uns außerdem fragen: Welche Anreize wollen wir im
Bereich E-Mobility geben? Wollen wir etwa Kaufanreize geben, um diesen Sektor zu fördern? Wie viel
Geld wollen wir im Bereich Forschung und Entwicklung
ausgeben? Wie wollen wir die Reduzierung der CO2Emissionen weiter vorantreiben, nicht nur bei Pkw, sondern auch bei den Nutzfahrzeugen? Welche Infrastruktur
wollen wir ausbauen? Wie gehen wir mit dem Thema
„Zölle und Außenhandel“ um, also mit der Frage des
Wettbewerbs mit Herstellern von Automobilen aus außereuropäischen Ländern? Auch das Thema Sicherheit
ist nicht zu vernachlässigen.
Wir können in jedem einzelnen Feld die Regulierung
vorantreiben. Aber es sind nicht die einzelnen Regulierungen, die Auswirkungen auf den Standort Deutschland
haben. Es geht vielmehr um die kumulierende Wirkung
der Gesetzgebung in all den Feldern, die ich gerade genannt habe. Wenn wir hier nicht handeln, kann das dazu
führen, dass der deutsche Industriestandort mit der starken Automobilindustrie - wir sollten sie nicht in eine
Ecke stellen, sondern froh sein, dass wir sie nach wie vor
in Deutschland haben - in Schwierigkeiten gerät.
Es ist die Aufgabe einer Bundesregierung, dafür zu
sorgen, dass wir endlich - im Grunde in einem Korridor
von zehn Jahren - eine verlässliche Gesetzgebung auf
der europäischen Ebene bekommen, bei der sich die Anliegen der Industrie und der Verbraucher, in diesem Fall
der Autofahrer, aber auch die ökologischen Aspekte wiederfinden. Deswegen sage ich mit Blick auf die Bundesregierung, die am Sonntag, nach 48 Stunden, auch erkannt hat, dass das ein wichtiges Thema ist, und sich
dann dazu positioniert hat: Machen Sie nicht hier in
Deutschland dicke Backen! Protestieren Sie nicht in
Deutschland gegen Pläne der EU, sondern machen Sie
Ihre Arbeit: Seien Sie in Brüssel vor Ort und kümmern
Sie sich dort um die Interessen der deutschen Autofahrer, der deutschen Industrie und der Umwelt!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Energiepreise die Brotpreise des 21. Jahrhunderts sind. Wir haben immer auf die Kostenbelastung
der Bürgerinnen und Bürger geachtet. Aber andere in
diesem Hause haben es anders gesehen; es gibt Vertreter
der Grünen, die hier im Hause immer der Meinung waren, dass die Energiepreise höher sein müssen, damit die
Bevölkerung zum Energiesparen erzogen wird. Wir erinnern uns an Ihre Forderung, den Spritpreis auf gut
2,50 Euro, damals 5 DM, anzuheben; das ist das Ziel,
das Sie verfolgen. Es war Ihnen egal, dass Energiepreise
auch eine soziale Bedeutung haben; es ist Ihnen auch
heute noch gleichgültig.
({0})
Es hat das linke Parteispektrum lange nicht interessiert,
dass der Zugang zu Energie auch etwas mit Teilhabe,
Mobilität und Wohlstand zu tun hat. Die SPD fängt jetzt
langsam an, sich mit dem Thema zu beschäftigen; so viel
zum Stichwort „frühzeitig“, Herr Kollege Duin.
({1})
Frank-Walter Steinmeier sagte neulich, man müsse
aufpassen, dass Strom nicht zum Luxusgut wird. Das haben wir seit Jahren gepredigt; das war bei unserer Energiepolitik immer Teil der Abwägung. Schön, dass auch
Sie sich langsam etwas mit diesem Thema beschäftigen.
({2})
Denn als Sie zusammen mit den Grünen den Atomausstieg beschlossen haben, war von einer sozialen Abfederung nicht die Rede.
({3})
Jetzt, wo es Ihnen langsam dämmert, was es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland bedeutet, zügig aus der Kernenergie auszusteigen, überschlagen Sie sich mit Forderungen nach sozialen
Abfederungen, die man dabei brauche. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD, Frau Kollegin Kramme,
fordert jetzt: „Wir brauchen Energiepreissubventionen
für sozial Schwache, Langzeitarbeitslose und Geringverdiener.“ Meine Damen und Herren, was ist das denn für
ein Konzept? Erst sollen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen den Vermietern die Solaranlagen auf den
Dächern finanzieren; dann soll der Staat die Energiepreise der Arbeitnehmer subventionieren. Das hat mit
Marktwirtschaft nichts zu tun.
({4})
Sie sehen ein, dass der Atomausstieg eine Gefahr für
Menschen mit niedrigem Einkommen ist. Da fragt man
sich, warum in Ihrem Atomausstiegskonzept ein Sozialausgleich fehlt.
({5})
- Wir reden hier über Energiepreise.
Mittlerweile ist die Atomausstiegspanik schon so weit
gediehen, dass der haushaltspolitische Sprecher der
SPD-Fraktion, Carsten Schneider, vor einem übereilten
Ausstieg warnt und sagt, man dürfe nicht einfach so heraus aus der Atomenergie, ohne einen Plan zu haben, wie
man das „zu vertretbaren Preisen macht“. Ja, der Mann
hat recht; wir sagen das schon seit Monaten.
({6})
Zum Thema Dieselsteuererhöhung.
({7})
Die Grünen freuen sich - die Forderung der EU-Kommission muss für Sie toll sein -: Man versucht nun von
europäischer Seite, sich den von den Grünen geforderten
Spritpreisen von 2,50 Euro pro Liter anzunähern.
({8})
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden das verhindern,
weil wir die Menschen im Blick haben, die heute schon
verzweifeln, wenn der Tank leer ist. Es gibt in Deutschland - das mögen Sie nicht mehr wahrnehmen - viele
Bürgerinnen und Bürger, die vor weiteren Spritpreiserhöhungen regelrecht Angst haben, weil sie nicht wissen,
wie sie das mit ihren Einkommen finanzieren sollen.
({9})
Die Grenze des Zumutbaren ist erreicht. Mobilität
darf kein Privileg für Wohlhabende werden. Alle, die
diese Debatte heute verfolgen, können ganz sicher sein,
dass sich die christlich-liberale Koalition für bezahlbare
Energiepreise einsetzen wird, und zwar auf europäischer
Ebene genauso wie auf nationaler Ebene.
({10})
Das ist eine gute Botschaft für unser Land. Es ist eine
wichtige Botschaft für unser Land, dass die Bundesregierung die Bedeutung der Energiepreise erkannt und
auch entsprechend gehandelt hat. Es ist gut, dass die Regierung die Pläne der Europäischen Union für eine Erhöhung der Spritpreise für Diesel entschlossen abgelehnt
hat.
Der Zugang zur Energie ist heutzutage die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Die SPD fängt langsam an, das zu verstehen. Die Grünen sehen das anders.
Ihnen war die Bezahlbarkeit von Energie immer egal.
Die FDP hat stets gewusst - und entsprechend verant12020
wortungsbewusst gehandelt -, worauf es ankommt. Wir
wollen Politik für die Menschen in diesem Land machen.
({11})
Wir wollen, dass Energie bezahlbar bleibt. Das werden wir auch weiterhin tun. Tun Sie nicht so, als agierten
wir auf europäischer Ebene nicht mit ganz klarem Kurs.
Wir haben frühzeitig Nein dazu gesagt. Wir haben es
verhindert.
({12})
Die Grünen müssten, wenn sie ehrlich sind, jetzt auf
die Menschen zugehen und sagen: Wir wollen höhere
Preise, wir wollen bald das Ziel von 2,50 Euro erreichen.
Ich sage Ihnen: Wir werden es verhindern.
({13})
Das Wort hat nun Dr. Barbara Höll für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, ich vergewissere mich: Dies ist doch
eine Aktuelle Stunde, gemeinsam von CDU/CSU und
FDP beantragt. Dann hätte es gut getan, sich vorher darüber abzustimmen, was Sie hier überhaupt wollen. Wenigstens das sollte man vermitteln.
({0})
Herr Schindler, Sie haben - wenn ich Sie richtig verstanden habe - hier darum geworben, Ruhe und Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Was Herr Wissing
eben gemacht hat, war genau das Gegenteil davon.
({1})
Das wollen wir einmal festhalten. Herr Schindler, Sie
haben gesagt, wir wollen, da seien wir uns hier im Saal
doch einig, die notwendige Abkehr von fossilen Brennstoffen und ein ökologischeres Wirtschaften bei der
Energieerzeugung, bezüglich des Verbrauches von
Kraftstoffen im Verkehr, für Heizzwecke usw. Auch das
ist einvernehmlich.
({2})
Nun hat die EU-Kommission gehandelt und einen
Vorschlag vorgelegt. Die Reaktionen dazu: Herr
Ramsauer geht ins Kampfblatt Bild und verkündet:
„Geht überhaupt nicht!“, Herr Oettinger hat als EUKommissar gleich gesagt: „Heftiger Widerstand!“, und
Frau Merkel hat erklären lassen: „Mit mir ist das nicht
zu machen!“ Tosender Applaus vom Verband der Automobilindustrie. Herr Wissing findet das klasse. Herr
Schindler, Sie fanden das eben nicht klasse.
Ich hätte mir an dieser Stelle gewünscht, dass Sie als
Koalition die Regierung in die Schranken gewiesen und
gesagt hätten: Das Parlament möchte Umweltpolitik
Schritt für Schritt tatsächlich umgesetzt haben!
Nun kommen wir einmal zum Inhalt und reden nicht
über E10 und die Arbeit in der EU usw., gucken also darauf, was die EU vorgeschlagen hat. Die CO2-Emissionen
werden in zwei verschiedenen Bereichen behandelt. Das
eine ist - richtig! - die Energieerzeugung, Kraftwerke
usw. Dazu gibt es den Emissionshandel, um den CO2Ausstoß zu reduzieren. Der andere Bereich betrifft Verkehr, Haushalte, Landwirtschaft und kleine Industriebetriebe. Der ist noch nicht geregelt. Hier holt die EUKommission einfach etwas nach. Geht in Ordnung.
Jetzt - wir sind im Jahr 2011 - wird vorgeschlagen,
schrittweise einen Übergang vorzunehmen, dass nicht
mehr die fossilen Brennstoffe, die umweltschädlich sind,
steuerlich besser behandelt werden, also weniger kosten
als die anderen - wie Ökobrennstoffe -, die für die Umwelt besser sind. Gut.
Die EU-Kommission schlägt vor, den EU-Mindeststeuersatz in drei Schritten anzuheben. Dies soll unter
zwei Aspekten geschehen: CO2-Emissionen und Energiegehalt des Kraftstoffs. Da der Steuersatz für Diesel in
Deutschland derzeit rund 47 Cent beträgt und der EUMindeststeuersatz - wenn ich das richtig sehe - ab 2018
bei 41 Cent liegen soll, muss weiß Gott niemand Angst
haben, dass die Steuererhöhung hinter der Tanksäule lauert. Herr Wissing, was Sie eben gesagt haben, ist völliger
Blödsinn. Es wird sich vorerst überhaupt nichts ändern.
Die EU-Kommission hat einen zweiten Schritt vorgeschlagen: 2023 soll der EU-Mindeststeuersatz für Diesel
über dem für Benzin liegen. Wenn man sich die aktuellen Steuersätze anschaut, stellt man fest, dass man dann
in Bezug auf die Dieselbesteuerung in der Tat einen großen Schritt machen würde. Wir reden derzeit aber über
einen Zeitraum von zwölf Jahren. In diesen zwölf Jahren
kann man Anpassungsmaßnahmen vornehmen. Die Autoindustrie könnte in dieser Zeit aus dem Knick kommen. Man könnte richtig etwas tun. Man könnte Angebote unterbreiten. Die Erneuerungsrate bei Fahrzeugen
liegt im Durchschnitt sicher bei unter zehn Jahren. So
haben Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit, zu sagen: Dann steige ich vielleicht doch vom Dieselauto wieder auf den Benziner um. Es gibt also viele
Möglichkeiten.
Es gibt überhaupt keinen Grund, hier eine solche Panik zu veranstalten. Ich finde es wirklich katastrophal,
dass Sie als Koalition gegenüber der Bundesregierung
keine eindeutige Meinung beziehen
({3})
und ein klares Zeichen setzen,
({4})
indem Sie sagen: Jawohl, das sind richtige Überlegungen. Denen können wir folgen. Wir begrüßen den Vorschlag der EU-Kommission. - Ich denke, er verdient es,
in Ruhe und sachlich diskutiert zu werden. Es muss nicht
unnötig via Kampfpresse Stimmung erzeugt werden,
weil Sie versuchen, von Ihrer katastrophalen Politik abzulenken.
({5})
Nehmen wir einmal die energetische Gebäudesanierung: Der Umweltminister verkündete in dieser Woche,
er möchte 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen und
richtig Geld hineinstecken. Das finde ich völlig in Ordnung. Wo soll das Geld aber herkommen? Die Atomindustrie will einfach nicht weiter einzahlen, weil Sie nicht
in der Lage waren, wasserdichte Verträge abzuschließen.
Deshalb muss man sagen: Es ist ein plumpes Ablenkungsmanöver und tatsächlich schädlich für den Umweltgedanken. Es ist schädlich, weil es eine Verunsicherung der Bevölkerung darstellt.
Danke.
({6})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion der Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Autodeutschland befindet sich seit mehreren Wochen in Aufruhr. Nach dem Murks mit E10 fragte sich Deutschland
am letzten Wochenende: Kommt jetzt der nächste
Murks? Was wir erleben mussten, war in der Tat Murks.
Es handelt sich dabei aber nicht um den Vorschlag der
Europäischen Union. Es war vielmehr Unsinn, die Vorschläge in einer solch dummen und pauschalen Art und
Weise zurückzuweisen, wie es Brüderle, Gabriel,
Ramsauer und Merkel getan haben.
({0})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Versuch, den Volkszorn über E10 auf Brüssel abzuwälzen,
ist bisher misslungen. Er wird auch weiterhin nicht tragen. Die Bevölkerung ist inzwischen weiter, als Sie denken.
({1})
Auch ich muss einmal rekapitulieren, worum es denn
eigentlich geht. Am Wochenende hatte man den Eindruck: Übermorgen kommt die Erhöhung der Dieselsteuer. So ist es aber nicht. Es geht nicht um ein Gesetz,
das morgen in Kraft tritt. Es geht um den Entwurf einer
Richtlinie der Europäischen Union, der gestern vorgestellt worden ist. Damit beginnt nun eine lange, voraussichtlich über zwei Jahre dauernde Diskussion zwischen
der Europäischen Kommission, den europäischen Mitgliedsländern und dem Europäischen Parlament. Dann
wird es zu einer Entscheidung kommen.
Worum geht es inhaltlich? In Bezug auf Diesel geht es
um zwei Dinge: Erstens geht es um die schrittweise Erhöhung des europaweiten Mindeststeuersatzes für Diesel
von heute 33 Cent pro Liter auf 41,2 Cent pro Liter bis
2018. Hinzu kommt, dass in anderen europäischen Ländern zusätzliche Ermäßigungen für Fahrzeuge aus gewerblicher Nutzung gelten. Auch diese Ausnahmen sollen abgeschafft werden.
Was ändert sich dadurch in Deutschland? Nichts.
Nichts ändert sich in Deutschland, denn hier liegt der
Dieselsteuersatz bereits über dieser Mindestgrenze, und
zwar bei 47 Cent pro Liter. Das hat eine Konsequenz:
den Tanktourismus. Dieser ist massiv. Es gibt Schätzungen, dass allein in Österreich der Absatz von Sprit zu
30 Prozent auf Tanktourismus zurückzuführen ist. Dieser Tanktourismus, der umweltpolitisch unsinnig ist,
würde zurückgedrängt. Was kann daran aus deutscher
Sicht falsch sein?
({2})
Zweitens. Dieser Kommissionsentwurf schlägt vor,
dass ab 2023 Kraftstoffe endlich gleich zu behandeln
sind und dann nach ihrem Energiegehalt und ihrem CO2Ausstoß besteuert werden sollen. Das ist klima- und umweltpolitisch sinnvoll. Wenn Sie von der Koalition sich
tatsächlich einmal dem Inhalt des Papieres widmen würden, dann könnten auch Sie nur zu dem Schluss kommen, dass dieser Vorschlag zu begrüßen ist. Es gibt nämlich keine ökologische Begründung dafür, dass in
Deutschland Diesel mit 18 Cent gegenüber Benzin subventioniert wird. Diese Begünstigung ist kontraproduktiv.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Fakten:
Der CO2-Ausstoß von Diesel liegt pro Liter um
21 Prozent höher als der von Benzin, wohingegen der
Steuersatz auf Diesel um 28 Prozent niedriger ist. Was
ist daran ökologisch sinnvoll? Das macht einfach keinen
Sinn.
Der Verweis auf die großen Fortschritte, die in den
letzten Jahren in der Dieseltechnologie gemacht worden
sind, zieht heute nicht mehr, jedenfalls nicht, was umwelt- und klimaschutzpolitische Argumente angeht.
Denn seit 2001 sinken die durchschnittlichen CO2-Emissionen neuer Dieselfahrzeuge nicht mehr, stattdessen
steigen sie an. Das hängt damit zusammen, dass der
technologische Fortschritt durch die Anmeldung von
leistungsstärkeren Pkw komplett aufgefressen worden
ist. Bei Neuzulassungen liegen Dieselfahrzeuge derzeit
im Schnitt bei einem Wert von 173 Gramm CO2 pro Kilometer. Damit liegen sie über dem Wert von Benzinern
und weit über den angepeilten 120 Gramm CO2 pro Kilometer. Die Dieselförderung in Deutschland bremst andere emissionsärmere Technologien, wie beispielsweise
die Hybridfahrzeuge, aus. Diesel wird im Vergleich zum
Benzin - um eine Hausnummer zu nennen - in Höhe
von 6,4 Milliarden Euro subventioniert.
Außerdem gibt es bei Dieselfahrzeugen ein weiteres
Problem, das eigentlich allgemein bekannt ist: Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub. Kraftstoffverbrennung und -filter sind beim Diesel eben nicht so effektiv
wie beim Benziner. Weitere Umweltprobleme kommen
hinzu. Stichworte sind beispielsweise Bodenversäuerung
oder Sommersmog.
Noch ein Wort zu den Preisen. Herr Wissing, die
Rede war von 2,50 Euro. Es ist gar nicht einmal sicher,
dass, würde eine Steuererhöhung kommen, diese tatsächlich zu Preiserhöhungen führen muss. Momentan ist
es schon so: Aufgrund der stark gewachsenen dieselbetriebenen Pkw-Flotte in Deutschland müssen wir derzeit nicht nur Rohöl importieren, das in Deutschland raffiniert wird, sondern wir müssen zusätzlich Diesel
importieren, um die Dieselfahrzeuge in Deutschland betreiben zu können. Auch das macht keinen Sinn.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie ein bisschen herunter, lassen Sie Luft ab! Setzen Sie sich mit dem Inhalt
der Richtlinie auseinander! Ansonsten stehen Sie vor einem Problem. Wenn Sie das nicht wollen, was wollen
Sie stattdessen unternehmen, um die Klimaziele zu erreichen? Dazu hätte ich dann gerne eine Äußerung von Ihnen. Ich befürchte, wir haben bald nicht nur E10, sondern dann kommt E20, E30 oder Weiteres. Bitte zeigen
Sie uns Ihre Alternativvorschläge!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik, die hier in Richtung Regierung auf den Weg gebracht wurde, ist bislang
so vielfältig, so unterschiedlich und einander widersprechend, dass aus meiner Sicht sehr vieles dafür spricht,
dass die Position der Bundesregierung genau die richtige
ist. Insofern ist eine Debatte wie die, die wir jetzt hier
führen, durchaus erhellend. Die einen sagen, wir hätten
uns früher und stärker aufpumpen müssen. Die anderen
sagen, wir sollten Luft ablassen. Ich meine, wir sollten
uns mit der Geschichte sachlich und vernünftig auseinandersetzen.
Die Kritik von Herrn Duin, wir hätten nicht rechtzeitig reagiert, ist vollständig verfehlt.
({0})
Immerhin hat sich die Kanzlerin zügig, unmittelbar zu
Beginn dieser Debatte geäußert, und das ist nun einmal
die höchste Instanz der Regierung, die sich hierzu melden kann. Das heißt, man kann der Regierung wirklich
nicht vorwerfen, sie hätte sich nicht adäquat gemeldet,
wenn sich die Bundeskanzlerin zu Wort gemeldet hat.
({1})
Ich glaube, es ist durchaus legitim, dass wir in einer
solchen Debatte, in der es um ein europäisches Regelungsvorhaben geht, auch einmal darüber nachdenken,
welche Interessen Deutschland in diesem Zusammenhang hat. Auch die deutschen Interessen sollten meiner
Ansicht nach eine Rolle spielen. Diese Frage spielt nämlich für den Standort Deutschland eine Rolle, insbesondere für die Automobilindustrie, aber auch für unsere
Verbraucher. Jedes zweite Fahrzeug, das hier neu zugelassen wird, ist ein Dieselfahrzeug. Diese Frage spielt für
die Menschen in Deutschland also eine ganz große
Rolle. Herr Wissing hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass sich viele schon heute fragen, ob sie die Spritpreise
von morgen noch bezahlen können.
Deswegen: Wenn wir das Regelungsvorhaben, das
auf europäischer Ebene angedacht wird, nämlich die Angleichung der Diesel- und Benzinbesteuerung, bis zum
Ende durchspielen, stellen wir fest, dass sich die Dieselbesteuerung um 60 Prozent erhöhen würde. Im Endeffekt läge der Dieselpreis 17 Prozent über dem Benzinpreis.
({2})
Das ist eine Belastung, die für den deutschen Verbraucher nicht hinnehmbar ist. Diese Regelung ist vor allem
mit Blick auf die Menschen nicht vertretbar, die im ländlichen Raum leben und zur Arbeit pendeln.
({3})
Diese Regelung wäre auch für unsere Landwirtschaft
eine schwere Belastung. Im Übrigen geht sie auch mit
Blick auf unsere Automobilindustrie in die falsche Richtung.
({4})
Schließlich würde auch das Transportgewerbe - ich
denke an den Gütertransfer auf der Straße, der gerade in
dem Logistikland Deutschland eine große Rolle spielt schwerstens belastet werden, weil fast jeder große Lkw
dieselbetrieben ist.
Hier ist Diesel als Kraftstoff generell angesprochen
worden. Ich glaube, an dieser Stelle muss man sehr sorgfältig differenzieren. Der CO2-Ausstoß pro Liter ist bei
Diesel zwar höher, aber der Verbrauch ist bei einem Dieselmotor gegenüber einem Benzinmotor 25 Prozent
niedriger. Das heißt, wir müssen sehen, wie hoch die Belastung pro gefahrenem Kilometer ist. Das ist die entscheidende Größe, wenn man fragt, welche Fortbewegungsart belastender oder weniger belastend für Klima
und Umwelt ist.
Dann sind wir bei der Frage: Welche technologischen
Entwicklungsmöglichkeiten haben wir? Wenn Sie mit
den Experten in der Automobilindustrie sprechen, sagen
sie Ihnen: Wir sind beim Diesel noch lange nicht am
Endpunkt der Entwicklung angelangt. Ich nenne das
Stichwort „Clean Diesel“.
({5})
Gerade Hersteller wie Volkswagen und Daimler sind bei
dieser Technologie weltweit führend. Wir wären ja mit
dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir diesen Schritt
tun würden. Dadurch würden wir unsere Automobilindustrie in diesem Kernfeld, in dem wir absolut Weltmarktführer sind - unsere Dieselautos lassen sich hervorragend exportieren -, unsere industrielle Basis mit
Hundertausenden von Arbeitsplätzen dort und bei den
Zulieferunternehmen, eilfertig beschädigen.
({6})
Ich bin der Meinung, dass wir uns mit den Vorschlägen der EU-Kommission sachlich, vernünftig und behutsam auseinandersetzen sollten. Wir sollten in der Debatte die deutschen Interessen aber durchaus deutlich
und klar artikulieren. Das haben die Bundeskanzlerin
und der Bundesverkehrsminister aus meiner Sicht überzeugend getan.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, dass bei den Regierungsfraktionen und damit natürlich auch bei der Bundesregierung am letzten Wochenende die große Nebelmaschine angeworfen worden ist. Wie kommt man zu diesem Eindruck? Plötzlich haben wir in großen Zeitungen
den Weckruf des ADAC und des Herrn Wissmann gehört und gelesen, der Sie hinsichtlich der möglichen Reaktionen hier in Deutschland aufgeschreckt hat. Da fragt
man sich: Brauchten Sie diesen Weckruf? Es schien so;
denn danach äußerten sich Frau Merkel und Herr
Ramsauer. Man hat den Eindruck: O Gott, bei denen ist
der Weckruf angekommen. Die Frage ist nur: Wer regiert
eigentlich unser Land? Der ADAC, der Verband der Automobilindustrie oder diese Bundesregierung?
Man muss ernsthaft fragen, Herr Schindler, ob Sie
hier Ihre Einzelmeinung vorgetragen haben oder ob das
die Linie Ihrer Fraktion ist.
({0})
Was war das?
({1})
Es wird erstens deutlich gesagt - da sind wir gar nicht
auseinander -, dass Mobilität - hören Sie zu ({2})
in Deutschland bezahlbar bleiben muss und soll, und
zweitens, dass wir eine Automobilindustrie haben, die
auch national von uns im Auge behalten werden muss,
weil eine große Zahl von Industriearbeitsplätzen von der
Automobilproduktion in Deutschland abhängt.
({3})
- Hören Sie zu.
Wir haben vor einigen Tagen das eine oder andere
schriftlich bekommen, in dem zu lesen ist, wie die Bundesregierung zu diesen Papieren der Europäischen
Union und zu diesen Plänen steht. Da wird vom Bundesfinanzministerium auf die Frage der Fraktion der Grünen, welche Position die Bundesregierung zur Energiesteuerrichtlinie vertritt, in einem offiziellen Schreiben
geantwortet:
Die Vorlage eines Änderungsvorschlags zur Energiesteuerrichtlinie an den Rat ist ein interner Vorgang der Kommission, in den die Mitgliedstaaten
nicht offiziell einbezogen sind. Die Bundesregierung nimmt zu informell in die Öffentlichkeit gelangten Punkten keine Stellung, da weder bekannt
ist, ob diese zutreffend sind, noch bekannt ist, ob
die Kommission diese dem Rat förmlich vorschlagen wird.
So weit die Bundesregierung auf diese Frage.
Nun hören Sie zu: Seit anderthalb Jahren existiert ein
Arbeitspapier der Generaldirektion Steuern und der Zollunion hinsichtlich der entsprechenden Modifizierung.
Dieses ist den Mitgliedstaaten zugesandt worden und bekannt.
({4})
Die Frage an Sie oder an die Bundesregierung lautet
doch: Was ist seitdem in Deutschland geschehen? Haben
Sie sich eine Meinung dazu gebildet?
({5})
Haben Sie etwas getan? Sie machen hier die Windmaschine an, Herr Dr. Wissing, und sagen: Ho, wir sind dieser und jener Meinung. Aber was ist seitdem geschehen?
Hat sich Deutschland in diese Diskussion eingebracht?
Nein, Deutschland hat es nicht; sonst wäre die Überraschung nicht so groß gewesen.
({6})
Es ist bekannt - auch das kann man diesen Dokumenten entnehmen -, dass sich sehr wohl Unternehmen,
Kommissionsdienststellen und Mitgliedstaaten in vielfältigen Beiträgen aus den Mitgliedsländern dazu geäu12024
ßert und dies bewertet haben. Sie aber sind überrascht
worden.
({7})
Sie mussten geweckt werden. Bei dieser katastrophalen
Politik in Richtung Europa frage ich mich: Wo ist eigentlich Ihre Verantwortung für den Industriestandort
Deutschland?
({8})
Ich glaube, insofern war der Weckruf sinnvoll. Ich
kann an dieser Stelle nur sagen: Das alles erinnert mich
sehr stark an das, was wir bei E10 erlebt haben. Herr
Ramsauer sagte, er sei dafür, dass E10 eingeführt wird,
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, der gerade nicht
anwesend ist, sagte natürlich, dass das überhaupt nicht
infrage kommt.
({9})
Welche Haltung haben Sie denn? Sie haben gar keine
Haltung. Sie sind in dieser Frage meinungslos.
({10})
Das allerdings ist sträflich und verantwortungslos bezogen auf unsere Position in Europa. Da kann ich nur sagen: Werden Sie besser. Wenn nicht, bestätigt sich die
These: Wir werden zurzeit in Deutschland schlecht regiert.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist
schlecht. Insbesondere beim Klimaschutz ist es durchaus
sinnvoll, europäische Regelungen einzuführen. Denn nationalstaatliche Insellösungen tragen zum Klimaschutz
kaum bei und führen außerdem zu Wettbewerbsverzerrungen.
Alle Mitgliedstaaten haben der Strategie Europa 2020
und den 20-20-20-Zielen zugestimmt. Deutschland ist
mit seinem ambitionierten Ziel, 40 Prozent des CO2-Ausstoßes bis 2020 einzusparen, der absolute Vorreiter. Dies
ist nicht ungewöhnlich. Man kennt uns in Europa als Impulsgeber und Pionier, insbesondere in Umweltfragen.
Deutschland ist das einzige europäische Land, das so
erfolgreich aus der Krise kam. Heute titelt die Bild-Zeitung: „So viele Jobs wie noch nie!“ Die Bundesregierung erwartet für 2011 ein Wirtschaftswachstum von
2,6 Prozent; das sind 0,3 Prozentpunkte mehr als in der
Prognose zu Jahresbeginn. Die Zahl der Arbeitslosen
wird auf 2,9 Millionen sinken. Sollen wir diese positive
Entwicklung jetzt etwa gefährden? Eine neue Steuerpolitik aus Brüssel ist das Letzte, was wir derzeit gebrauchen
können.
Kommen wir nun zur Besteuerung von Dieselkraftstoff.
({0})
Es gibt bereits die Euro-5- und Euro-6-Verordnung,
durch welche der Schadstoffausstoß von Dieselmotoren
und Benzinern angeglichen wurde. Ab 2014 werden die
Stickoxidemissionen durch die Euro-6-Norm um weitere
68 Prozent gesenkt.
({1})
Außerdem gibt es eine EU-Verordnung aus dem Jahre
2009 zu den Neuzulassungen von Pkw nach Emissionsgruppen und Kraftstoffarten, welche eindeutige Ziele zur
Verringerung der CO2-Emissionen verfolgt. Die Europäische Kommission sieht sogar vor, diejenigen Hersteller
mit einer Lenkungsabgabe zu belegen, deren Jahresmittel bei Pkw-Neuzulassungen über dem für sie festgelegten Wert liegt. Eine höhere Besteuerung des hocheffizienten Dieselkraftstoffs ergibt daher umweltpolitisch
wenig Sinn.
({2})
Wirtschaftlich hätte sie fatale Folgen. Fast der gesamte Straßengütertransport erfolgt durch Dieselfahrzeuge. Eine zusätzliche Besteuerung würde nicht nur gerade viele kleine und mittlere Unternehmen in den
finanziellen Ruin treiben, sondern es würden auch die
Landwirtschaft, das Handwerk, die Speditionsbetriebe,
kurzum der Mittelstand, der Leistungsträger unserer Gesellschaft, unverhältnismäßig belastet. Nicht zuletzt
würde die Besteuerung längerfristig auf den Verbraucher
umgewälzt werden, der für viele Produkte tiefer in die
Tasche greifen müsste.
({3})
Nein, meine Damen und Herren, wir haben derzeit
keinen Spielraum für Teuerungsraten. Gerade erst kam
von EU-Kommissar Lewandowski der Vorschlag, künftig ein Drittel der EU-Einnahmen mit einer EU-Steuer
auf bestimmte Waren zu generieren. Dies widerspricht
eindeutig dem Koalitionsvertrag von Union und FDP.
Denn dort steht:
Eine EU-Steuer oder die Beteiligung der EU an nationalen Steuern und Abgaben lehnen wir ab. Auch
darf die EU keine eigenen Kompetenzen zur AbgaHeinz Golombeck
benerhebung oder zur Kreditaufnahme für Eigenmittel erhalten.
({4})
Genauso verhält es sich auch mit der Vorgabe von Mindeststeuersätzen. Auch diese lehnen wir ab. Wir brauchen in der Steuerpolitik keinen Nachhilfekurs von
Brüssel.
Aufgrund des schnelleren Ausstiegs aus der Kernenergie werden wir massiv investieren müssen: in den Leitungsausbau, in intelligente Netze, in Speichertechnologie und nicht zuletzt in die Energieforschung.
({5})
Es nützt nichts, darum herumzureden: Energie wird ohnehin teurer werden. Wir können und wollen die Verbraucher nicht von mehreren Seiten durch höhere Preise
belasten. Dies würde unser gerade erst mühsam erkämpftes Wirtschaftswachstum bremsen.
({6})
In Steuersachen muss im Rat einstimmig entschieden
werden. Das heißt, ein Veto der Bundesregierung kann
und wird die Richtlinie zur Energiebesteuerung, so wie
sie uns vorliegt, kippen. Daher sagen wir Nein.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern, am
13. April 2011, kam eine Nachricht aus Brüssel mit der
Überschrift - ich zitiere -: „Energiebesteuerung: Kommission setzt sich für Energieeffizienz und umweltfreundlichere Erzeugnisse ein“. In dieser Nachricht hieß
es:
Die Europäische Kommission hat heute einen Vorschlag vorgelegt, mit dem die veralteten Regelungen zur Besteuerung von Energieerzeugnissen in
der Europäischen Union überholt werden sollen.
Man könnte sagen: Na endlich! Man könnte sich freuen
und könnte sagen: Jawohl, jetzt machen wir eine
Aktuelle Stunde zu dem Thema und sagen, wie wir das
in Deutschland umsetzen wollen. Darauf habe ich gewartet; leider wurde ich bisher enttäuscht. Herr Schindler sprach über E10, und Dr. Wissing sprach - ein ganz
neues Feld - über Sozialpolitik. Dr. Middelberg sprach
hauptsächlich von deutschen Interessen innerhalb Europas. Herr Golombeck redete von der Arbeitslosenquote
und wollte auf keinen Fall Steuererhöhungen.
Ich rede jetzt einmal über Energiesteuern, also über
unser Thema. Energiesteuern werden aus verschiedenen
Gründen erhoben. Natürlich will man Einnahmen erzielen, man möchte die Leute zu sparsamem Verhalten animieren, und man möchte lenken, was bedeutet, dass saubere Energie bevorzugt werden soll.
Was ist in Brüssel passiert? Man hat dort festgestellt:
Energie wird völlig unterschiedlich besteuert, und es
wäre sinnvoll, zu schauen, was für Produkte man hat und
wie man die ganze Sache harmonisiert. Das ist an sich
überhaupt nichts Schlimmes bzw. Schlechtes. Das hätten
wir heute auch alles aktuell abfeiern können.
Wie war die Situation? Die Situation war folgende:
Schon am letzten Wochenende wurden vorab Nachrichten durchgestochen, die dazu führten, dass vor allem die
Zeitung mit den großen Buchstaben den Untergang des
Abendlandes postulierte. Aber die Kanzlerin stellte klar:
Diesel wird nicht teurer. Ein kraftvolles Wort! Niemand
hatte vorher in Brüssel gesagt: Wir wollen Diesel verteuern. Vielmehr wollte man Energie nur anders besteuern
und vielleicht einmal Sachen auf den Prüfstand stellen.
Überhaupt wundert es mich, dass sich die Bundesregierung aktuell mit dem Thema so stark beschäftigt;
denn die ganze Sache wird für uns frühestens 2023 richtig akut. Da diese Bundesregierung nur noch bis 2013 im
Amt ist, muss sie sich über solche langfristigen Dinge,
denke ich, überhaupt keine Gedanken machen. Ich empfinde das Ganze als gigantisches Ablenkungsmanöver.
Schauen Sie mal: Die Regierungsbank ist leider sehr
spärlich besetzt. Normalerweise sitzt da eine Kanzlerin,
die plötzlich den Atomausstieg forciert, obwohl sie immer für Atompolitik war. Das treibt die Leute natürlich
in die Verunsicherung. Normalerweise sitzt da noch ein
Außenminister, zu dem mir nur einfällt, dass er in Zukunft das falsche Amt abgeben wird. Dann sitzt daneben
ein Innenminister, der bei Migranten Chaos verursacht.
All das bringt die Leute in Panik. Sie setzen dann ihre
Hoffnungen auf den meistens danebensitzenden Finanzminister, der leider keine Steuersenkungen vornehmen
kann, aber auch sonst nicht einmal die Gemeindefinanzen geregelt bekommt. Normalerweise sehen wir daneben einen Wirtschaftsminister,
({0})
der wie ein Fels in der Brandung steht. Allerdings ist das
Wasser schon weg; das hat er nur nicht gemerkt.
({1})
Am Rand sitzt normalerweise unsere Arbeitsministerin,
die Kürzungen bei Eingliederungsmaßnahmen in der
Form forciert, dass nicht nur den Arbeitslosen angst und
bange wird.
Das alles bringt die Bevölkerung natürlich in Aufruhr.
Man kann das verstehen, wenn dann noch die Apokalypse „Jetzt geht es gegen Autofahrer“ an die Wand gemalt wird. Denn dann hilft auch nicht die in der zweiten
Reihe sitzende Verbraucherministerin, die sich bisher
um alles Mögliche gekümmert hat, nur nicht um den
Schutz der Verbraucher.
({2})
Alle Hoffnung ruht - gleich nachfolgend - auf der Familienministerin mit ihren Freiwilligendiensten. Ob das
dem Land helfen wird, wage ich zu bezweifeln. Beim
Gesundheitsminister kann ich nur fragen: Wo ist die Reform? Bei Ramsauer frage ich mich: Wo ist der Plan?
Und bei Röttgen kann ich nur hoffen, dass das Moratorium dauerhaft sein wird; ansonsten hat er nämlich auch
keine Lösung. Schavan muss man nicht großartig erwähnen, und bei Niebel fällt mir, ehrlich gesagt, außer Wirtschaftsförderung auf Kosten der Armen nichts mehr ein.
Jetzt könnte man sagen: Unsere Hoffnung in der EU
ruht auf Oettinger.
({3})
Wir haben ja einen Energiekommissar. Nur frage ich
mich: Wo ist eigentlich unser Energiekommissar? Wenn
es um langfristige energiepolitische Ziele geht, habe ich
von ihm auch noch nichts gehört.
Das ist das Problem. Die aktuelle Regierung - die,
wie gesagt, auf zwei Jahre befristet ist - kümmert sich
nicht aktuell um die wirklichen Probleme in diesem
Land, sondern lässt es zu, dass dieses Land in Panik verfällt und dieser Zeitung mit den vier Buchstaben hinterherläuft, ansonsten macht sie nichts als Ankündigungen.
Ich möchte Sie bitten, sich in Zukunft zu bemühen,
diese zwei Jahre einigermaßen anständig über die Bühne
zu bringen und uns nicht nur Chaos zu hinterlassen; denn
so viel können wir dann auch nicht mehr aufräumen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Arndt-Brauer,
Sie haben an dem Thema dieser Aktuellen Stunde total
vorbeigeredet. Sie haben gesagt, welche Kollegen von
uns zum Thema gesprochen haben. Das Wesentliche ist,
dass man bei all den Punkten den roten Faden erkennt.
Bei Ihrer Satire, die Sie in Bezug auf das Kabinett von
sich gegeben haben, fehlte es aus meiner Sicht an jeglicher Verantwortung für das Thema.
({0})
Ich glaube, Sie stellen sich dieser Debatte nicht mit der
gebotenen Ernsthaftigkeit.
Wenn man sich der Situation in unserem Land stellt,
dann sieht man, dass die Energie eines der wesentlichen
Themen ist,
({1})
über die man verantwortungsvoll und verlässlich diskutieren muss. Das tun wir.
({2})
Wir setzen uns mit den Dingen verantwortungsvoll auseinander und spielen hier nicht Fasching oder sonstige
Dinge. Das kann nicht sein. Das war eine Büttenrede und
nichts anderes.
({3})
Unser gemeinsames Ziel ist eine EU-Wirtschaft, die
grüner und wettbewerbsfähiger ist sowie effizienter
mit den Ressourcen umgeht.
Das hat gestern der EU-Steuerkommissar bei der Vorstellung der Richtlinie, über die wir heute reden, gesagt.
Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. Das ist für uns
jedoch ein Vorschlag, der durchdacht werden muss, und
man muss sich den Themen natürlich auch verantwortungsvoll stellen.
Herr Beckmeyer hat vorhin gesagt, dass wir als christlich-liberale und die Regierung tragende Koalition nicht
verantwortungsvoll mit dem Industriestandort Deutschland umgehen. Lieber Herr Beckmeyer, dieser Verantwortung sollten auch Sie in der Energiedebatte gerecht
werden;
({4})
denn wir handeln verantwortungsvoll und schauen, wie
man die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte richtig und verantwortungsvoll ausrichten kann. Dazu gehört
natürlich auch, dass man bei dem Thema Besteuerung
genauer hinschaut und dass man für die Erreichung der
Klimaziele eine gemeinsame Politik machen muss, die
verantwortungsvoll in die Zukunft gerichtet ist. Wir tun
das. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, Sie haben zwar viel gesagt, aber keine konkreten
Vorschläge dafür gemacht,
({5})
- Sie auch nicht -, wie man bei der Energiebesteuerung
andere Wege gehen kann.
Wir denken, dass gerade die Dieselbesteuerung ein
wichtiger Punkt für die deutsche Steuerpolitik und für
die Energiepolitik in Deutschland ist.
({6})
Für die private Wirtschaft und für Privatnutzer gilt: Seit
längerem gibt es eine ökologische Besteuerung des
Treibstoffes, die in dieser Zeit sicherlich auch richtig
und wichtig war, weil man damit lenkend wirkt. Man
darf aber natürlich auch nicht überbesteuern.
Gerade bei den Dieselfahrzeugen ist die CO2-Vermeidung ein wesentliches Ziel. Liebe Frau Paus, es wundert
mich, dass die Grünen dieses Ziel ganz aus den Augen
verloren haben. Ich habe aus Ihrer Rede geschlossen - so
ist mir das vorgekommen -, dass Sie die dieselbetriebenen Fahrzeuge verdammen. Ich finde das nicht unbedingt sehr verantwortungsvoll.
({7})
- Das war der Tenor ihrer Rede und aus meiner Sicht
nicht unbedingt richtig; denn die Dieselfahrzeuge sind
effizient und energiesparend, und es ist kontraproduktiv,
wenn man sie falsch besteuert.
({8})
Die Nachfrage nach Dieselfahrzeugen ergibt sich vor
allem aufgrund der Kostenfaktoren. Das muss man ganz
klar sehen. Man muss sich natürlich auch die Besteuerungsstruktur in unserem Land ansehen.
({9})
Neben der Besteuerung des Kraftstoffs gibt es auch die
Kfz-Steuer, die sich natürlich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Dieselfahrzeuge auswirkt. Deswegen muss man
die Dieselbesteuerung als Ganzes sehen.
({10})
Mit der Vorgabe in der Energiesteuerrichtlinie ist es
einfach schwierig, die Dieselfahrzeuge in unserem Land
wettbewerbsfähig zu halten und nicht zusätzlich durch
eine Besteuerung zu belasten. Zum anderen muss man
natürlich auch sehen, dass die Dieseltechnologie vor allem im Transportgewerbe und im industriellen Bereich
vorherrscht. Eine höhere Besteuerung wird sicherlich
nicht dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes verbessert wird. Hierüber muss man verantwortungsvoll diskutieren.
Frau Paus, Sie haben es ja auch gesagt: Die bisher
geltende Ermäßigung kann dann nicht mehr aufrechterhalten werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass
man gerade im Bereich des Transportgewerbes und bei
der Besteuerung der industriellen Fahrzeuge Ausnahmen
machen kann.
({11})
Des Weiteren sind wir in Deutschland mit unseren
großen Automobilherstellern in der Dieseltechnologie
weltweit führend. Auch hier muss man die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland aufrechterhalten
und den Vorsprung sichern. Denn das Entscheidende für
den Industriestandort Deutschland ist, Herr Beckmeyer,
dass wir auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig und in
diesem Bereich Vorreiter in wirtschaftlichen Fragen
sind.
({12})
Das hat die Bundesregierung dazu veranlasst, den
Vorschlag der Europäischen Kommission kritisch zu sehen und ganz klar zu sagen, dass man alle Auswirkungen
der Energiesteuerrichtlinie auf den Standort Deutschland, auf die gewachsene Besteuerungsstruktur und auf
Wirtschaft und Verbraucher in unserem Land mitberücksichtigen muss.
({13})
Wenn die Bundesregierung merkt, dass die geplanten
Änderungen der gewachsenen Besteuerungsstrukturen in
Europa den richtigen Weg einschlagen, dann kann man
ihnen zustimmen. Wenn nicht, dann muss man die Richtlinie ablehnen und einen anderen Weg der Energiebesteuerung beschreiten, damit die Klimaziele in Europa
und in Deutschland verlässlich erreicht werden.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich könnte man es kurz machen. Die Pläne zur Erhöhung der Mindestbesteuerung von Diesel verlangen in
Europa Einstimmigkeit. Kanzlerin und Bundesregierung haben bereits eindeutig gesagt, dass es mit dieser
Regierung keine Zustimmung, sondern ein Veto gibt,
und zwar aus gutem Grund.
({0})
Denn bereits heute werden Dieselfahrzeuge in Deutschland bei der Kfz-Steuer erheblich höher besteuert als
Fahrzeuge mit Ottomotor. Deswegen zur Dieselsteuererhöhung ein klares Nein, heute und auch in den nächsten Jahren. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt.
({1})
Aber es geht auch um Grundsätzliches. Eine große
deutsche Zeitung hat - vorhin haben wir das schon gehört - in dieser Woche getitelt: „Sind wir Autofahrer die
Deppen der Nation?“ Ja, dieses Gefühl kann den einen
oder anderen in unserem Land beschleichen. Das muss
uns Sorgen machen. Denn es gibt aus meiner Sicht spürbare Tendenzen in diesem Land gegen das Autofahren
insgesamt.
Die Brüsseler Vorschläge zur Erhöhung der Mindestbesteuerung von Diesel sind nur ein Teil des europäischen Weißbuches zur Verkehrspolitik. Darin stehen
noch mehr Punkte, zum Beispiel radikale europaweite
Geschwindigkeitsbegrenzungen
({2})
und der an den Haaren herbeigezogene Vorwurf, dass es
sich bei der Dienstwagenbesteuerung um eine Subvention handele.
Hinzu kommen die Meinungen der Grünen. Das
Ganze ist aus meiner Sicht ein Frontalangriff auf die
deutsche Automobilindustrie, vor allem auf die in Baden-Württemberg ansässigen Prämiumhersteller.
({3})
Wir sind mit der deutschen Automobilindustrie Technologieführer, gerade auch beim Diesel. Die Modelle werden immer sparsamer und effizienter. Bei den Dienstwagen haben wir Deutschen einen Marktanteil von knapp
80 Prozent. Unsere Produkte aus der Automobilindustrie
sind weltweit gefragt.
Es ist einigen in Europa offensichtlich ein Dorn im
Auge, dass die deutsche Automobilindustrie mit ihren
Spitzenprodukten weite Teile der Märkte dominiert.
({4})
Verschließen Sie ruhig die Augen. Aber diese Vorschläge aus Brüssel haben System. Sie richten sich gegen die deutsche Automobilindustrie und gegen die vielen Hunderttausend Arbeitsplätze in diesem Segment.
({5})
Hinzu kommt, dass Grüne aus den eigenen Reihen im
eigenen Land sagen:
({6})
Straßenbau ist nicht mehr zeitgemäß. Unvergessen ist
auch Ihre Forderung von 5 DM bzw. heute 2,50 Euro pro
Liter Benzin. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses
der Grünen aus Baden-Württemberg sagt, die Automobilindustrie habe nicht mehr dieselbe Bedeutung wie
früher und sei nicht mehr so wichtig, obwohl in BadenWürttemberg knapp jeder vierte Arbeitsplatz von der
Automobilindustrie abhängt.
({7})
Aus den Koalitionsverhandlungen von Grün-Rot in
Stuttgart hört man Beschwichtigungen: Ja, ja, wir werden schon noch die eine oder andere Umgehungsstraße
bauen. Aber ich sage Ihnen: Mit der einen oder anderen
Umgehungsstraße ist das Problem nicht zu lösen.
Wir brauchen dringend mehr Investitionen in den
Straßenbau. Wirtschaft braucht Mobilität.
({8})
Wenn wir zukünftig die Spitzenstellung unserer Wirtschaft in Baden-Württemberg und deutschlandweit erhalten wollen, dann dürfen wir dem drohenden Verkehrskollaps nicht tatenlos zusehen. Sonst sind wir in
Baden-Württemberg bald nicht mehr nur die Erfinder
des Autofahrens, sondern auch die Erfinder des „Autostehens“.
({9})
Die deutschen Autofahrer zahlen an der Tankstelle,
über die Kfz-Steuer und über die Lkw-Maut jährlich
knapp 52 Milliarden Euro. Diese 52 Milliarden Euro
sprudeln aus dem Bereich des Straßenverkehrs, aber nur
ein Bruchteil davon, nämlich knapp 6 Milliarden Euro,
fließt in den Bundesfernstraßenbau. Ich glaube, da
stimmt etwas nicht.
Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land erwarten
von der Politik zu Recht mehr Investitionen in die Straße
({10})
und nicht mehr Abzocke an der Tankstelle.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letzter Rednerin in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Klimaschutz wird in
Europa und in Deutschland und damit vor allem auch bei
den Menschen in diesem Land groß geschrieben.
({0})
- Das kann man nicht oft genug sagen. - Nun kann man
das zunehmende Engagement seitens der Politik unterschiedlich forcieren: Man kann auf der einen Seite Anreize setzen, seien es steuerliche Anreize oder Zuschüsse, oder man kann gezielt einzelne Steuerelemente
erhöhen, um dadurch, dass man ein Produkt unattraktiv
macht, Lenkungswirkungen zu erzielen.
Die europäische Energiesteuerrichtlinie, um die es
heute geht, ist dabei grundsätzlich ein Instrument, um
Klimaschutz voranzubringen.
({1})
Sie gibt es nicht erst seit heute, und sie soll weiterentwickelt werden. Sie setzt Mindeststandards hinsichtlich der
Energiesteuern für die Mitgliedstaaten, durchaus verbunden mit der Möglichkeit, Anreize zu setzen. So weit, so
gut. Doch was geschieht nun im Rahmen dieser WeiterPatricia Lips
entwicklung? Der aktuelle Vorschlag der Europäischen
Kommission sieht nicht einfach vor, die Mindeststeuersätze zu harmonisieren bzw. zu erhöhen, sondern geht
vielmehr davon aus, dass es perspektivisch zu einer völlig neuen Bemessungsgrundlage kommt. Durch diese
qualitative Änderung verschieben sich die Parameter der
Besteuerung - vornehmlich im Kraftstoffbereich und
insbesondere bei Diesel - nicht unerheblich.
Ich betone: Maßnahmen, die zu Energieeinsparung
und Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, sind grundsätzlich immer zu begrüßen. Wer wollte da Nein sagen?
Aber der Teufel steckt im Detail. Deshalb möchte ich die
Gelegenheit nutzen, etwas in Erinnerung zu rufen, was
wir in jüngster Vergangenheit beschlossen haben. Verfolgt man manche aktuelle Diskussion, hat man zurzeit
fast das Gefühl, wir stünden erst am Anfang von
Erkenntnissen. Ich sage dies auch, weil man eben nicht
einfach eine Einzelmaßnahme - in diesem Fall die Änderung der Dieselbesteuerung - von außen einem differenzierten Gefüge von bereits vorhandener steuerlicher
Gesamtbelastung der Teilnehmer im Straßenverkehr
quasi zusätzlich überstülpen kann.
Kollege Gutting hat schon darauf hingewiesen: Dieselfahrzeuge werden in Deutschland mit einem höheren
Kfz-Steuersatz belegt, um gerade den Steuervorteil bei
der Energiesteuer wieder auszugleichen. Es ärgert mich,
wenn immer wieder einseitig geschrieben oder gesagt
wird, es finde eine Subventionierung der Dieselfahrzeuge statt. Diese Medaille hat zwei Seiten.
({2})
Wir haben darüber hinaus erst vor kurzem die KfzSteuer mit Elementen weiterentwickelt, die Anreize setzen sollen, grundsätzlich auf verbrauchsarme Fahrzeuge
umzuschwenken.
Warum sind wir so verfahren? Das Optimierungspotenzial bei Dieselfahrzeugen ist höher als bei Fahrzeugen mit Ottomotoren, deren Verbrauch ist damit in der
Regel geringer,
({3})
und sie sind sparsamer. Kollege Middelberg hat darauf
hingewiesen: Eigentlich müsste man vielmehr auf die
Kilometerleistung abzielen und nicht so sehr auf den
Kraftstoff.
({4})
Deshalb war es das Ziel, nicht erst an der sprichwörtlichen Zapfsäule anzusetzen, sondern bereits beim Erwerb
eines Fahrzeugs. Diese Maßnahmen wurden ergriffen,
weil man deren Notwendigkeit erkannt und sie als zielführend im Sinne des Klimaschutzes bewertet und vor
allen Dingen auch als gerecht angesehen hat.
Nicht gerecht wäre es, wenn diese Bemühungen und
die damit hervorgerufene Bereitschaft der Menschen, auf
schadstoffärmere Fahrzeuge umzusteigen, nun durch
eine pauschal höhere Dieselbesteuerung fast schon konterkariert würde, ohne das Genannte zu berücksichtigen.
Was sollen wir denn den Menschen sagen, die heute
vielleicht mehr auf den Verbrauch als auf die Ausstattung oder die Farbe eines Wagens achten, worüber wir
uns ja freuen? Bisher war die Strategie auch innerhalb
der EU immer sehr stark auf die Prinzipien ausgerichtet,
Anreize für die technologische Entwicklung von Fahrzeugen und steuerliche Anreize zu setzen, damit die Halter ihre Kaufentscheidung bewusst nach diesen Kriterien
ausrichten.
Nun am Ende aber diejenigen zu strafen, die in diesem Sinne gehandelt haben, die Zange quasi von beiden
Seiten anzusetzen, kann nicht unser Ziel sein. Da reicht
schon das Signal aus Brüssel. Die Reaktionen kann man
auch mit „Wehret den Anfängen“ rechtfertigen.
Jedes zweite Auto - es wurde schon darauf hingewiesen -, das heute in Deutschland gekauft wird, ist ein Diesel. Wir sind führend in der Weiterentwicklung dieser
Technologie. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Die
Auswirkungen würden auch und vor allem den kommerziellen Bereich wie das Transportgewerbe empfindlich
treffen und damit die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes beeinträchtigen. Auch das kann uns nicht gleichgültig sein.
({5})
Bei Abwägung des beschriebenen Gesamtbildes kann
zumindest den bisher bekannten Vorschlägen mit den
entsprechenden Auswirkungen von unserer Seite nicht
gefolgt werden.
Vielen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Perspektiven für Jungen und Männer
- Drucksache 17/5494 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
In einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesministerin Kristina Schröder das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ein paar Wochen, am 8. März, haben wir den 100. Weltfrauentag gefeiert. Er steht für all die Rechte, die sich
Frauen hart erkämpft haben. Seit 1999 gibt es auch einen
Internationalen Männertag. Was aber die öffentliche
Aufmerksamkeit betrifft, kann dieser Internationale
Männertag mit dem Weltfrauentag bei weitem nicht mithalten. Er bewegt sich eher auf dem Niveau des Welttags
für die Bekämpfung von Wüstenbildung und Dürre.
Dieses Aufmerksamkeitsgefälle zwischen Frauentag
und Männertag ist symptomatisch für eine Schieflage in
der Gleichstellungspolitik. Wenn wir über Gleichberechtigung reden, reden wir vor allem über Frauenpolitik.
Die Bedeutung der Jungen- und Männerpolitik in der
Gleichstellungspolitik wird immer noch unterschätzt.
Das müssen wir ändern, und zwar sowohl im Interesse
der Männer als auch im Interesse der Frauen.
({0})
Wir wollen Gleichberechtigung - nicht als Ergebnisgleichheit, sondern als Chancengleichheit. Der Schlüssel
zur Gleichberechtigung der Geschlechter ist die Gestaltungsfreiheit von Männern und Frauen, was ihren eigenen Lebensentwurf betrifft.
Wie sehr dabei Männerleben und Frauenleben voneinander abhängen, sehen wir zum Beispiel, wenn wir
die Chancengleichheit im Berufsleben betrachten. Wir
führen die Debatte um Frauen in Führungspositionen
auch fast ausschließlich als eine frauenpolitische Debatte. Das ist ein Fehler.
({1})
Fakt ist: Wenn in vielen Topführungspositionen 70- oder
80-Stunden-Wochen immer noch üblich sind, dann stehen das nur diejenigen durch, denen jemand zu Hause
den Rücken freihält. Damit macht unsere Arbeitswelt
eine traditionelle Rollenverteilung in der Partnerschaft
quasi zu einer Art Karrierevoraussetzung.
Für das Prinzip „Karriere wird nach Feierabend gemacht“ bezahlen viele Frauen also gleich doppelt: zum
einen mit eingeschränkten Karrierechancen für sie selbst
- wenn sie am Feierabend eben nicht Karriere machen,
sondern die Kinder bettfertig machen - und zum anderen
mit Verzicht auf Unterstützung durch den Partner, weil
auch er sich diesem Prinzip beugen muss. Genau das ist
doch der Punkt.
Glücklicherweise gibt es heute immer mehr Väter, die
mehr von ihrer Familie haben wollen als ein Bild auf
dem Schreibtisch. Auch sie bezahlen im Moment mit
schlechteren Karriereaussichten, wenn sie ihre Prioritäten entsprechend setzen. Auch sie sind in stereotypen
Rollenerwartungen gefangen, so wie vielleicht ihre Mütter vor 50 Jahren.
Wenn wir faire Chancen für Frauen wollen, dann
müssen wir auch Männern die Chance geben, sich von
Rollenmustern zu lösen, und zwar sowohl in der Familie
als auch in der Arbeitswelt.
({2})
Union und FDP sagen: Männer- und Frauenpolitik
stützen sich gegenseitig. Was man aus männer- und jungenpolitischer Sicht machen kann, zeigt der Antrag der
Koalitionsfraktionen auf. Auch für mich als Ministerin
hatte dieses Thema seit Beginn meiner Amtszeit höchste
Priorität.
Deswegen hat heute in Deutschland zum ersten Mal
bundesweit ein Boys’ Day stattgefunden, ein Ereignis,
an dem sich auf Anhieb 35 000 Jungen beteiligt haben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Der Anklang, den dieser
Boys’ Day gefunden hat, hat meine eigenen Erwartungen bei weitem übertroffen. Dieser Tag ist auch international schon bekannt geworden. Ich freue mich sehr,
dass heute mein norwegischer Kollege, der norwegische
Minister für Kinder, Gleichstellung und soziale Inklusion, Audun Lysbakken, in Deutschland ist - er sitzt
oben auf der Tribüne -, um sich den hiesigen Boys’ Day
anzuschauen.
({3})
Wir haben deswegen vor einigen Monaten einen Beirat für Jungenpolitik gegründet, ein Gremium, in dem
nicht nur, wie sonst, Wissenschaftler und Praktiker zusammensitzen, sondern auch sechs Jungen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus. Sie alle entwickeln
Handlungsempfehlungen für die Jungen- und Männerpolitik. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns das anschauen,
dann können wir alle noch etwas lernen.
Wir haben das Programm „MEHR Männer in Kitas“
gestartet. Mehr Männer in Kitas sind wichtig, um Männern neue Berufsaussichten zu ermöglichen, um Kindern
von Anfang an zu zeigen, dass Erziehungsaufgaben von
Frauen und Männern wahrgenommen werden können,
und um mehr männliche Vorbilder zu haben. Männliche
Vorbilder in den Kitas - das ist sowohl für die Jungen als
auch für die Mädchen wichtig.
({4})
Wir haben auch für die sogenannten Vätermonate
- eigentlich sind es die Partnermonate - beim Elterngeld
gesorgt. Diese Monate sind ein riesiger Erfolg. Bevor
wir das Elterngeld eingeführt hatten, haben nur
3,5 Prozent der Väter eine berufliche Auszeit für die Betreuung ihrer Kinder genommen. Jetzt sind es fast
25 Prozent. Das ist ein bemerkenswerter Wandel in so
wenigen Jahren. Die Ausweitung der Anzahl der Vätermonate steht selbstverständlich nach wie vor auf unserer
Agenda. Genauso wie alle anderen Maßnahmen, die wir
geplant haben, unterliegt diese Maßnahme natürlich
- der Neuigkeitswert dieser Aussage liegt genau bei null auch dem Finanzierungsvorbehalt.
Noch eins will ich Ihnen von der Opposition sagen:
Ihre Konzepte für eine Ausweitung der Anzahl der Vätermonate - Sie gehen teilweise so weit, zu fordern, der
Staat solle vorschreiben, dass die Anzahl der Väter- und
der Müttermonate hälftig, aktuell also sieben zu sieben,
aufzuteilen sei - sind einfach nur Ausdruck eines Mehrs
an Bevormundung, eines Mehrs an Umerziehung. Die
Umsetzung dieses Konzepts würde für 90 bis 95 Prozent
aller Paare bedeuten, dass ihnen das Elterngeld gekürzt
wird.
({5})
Das wird es mit uns nicht geben.
({6})
Schließlich hat die Bundesregierung vor einigen
Wochen im Kabinett die Einführung einer Familienpflegezeit beschlossen. Die Familienpflegezeit ist auf
Menschen ausgerichtet, die Vollzeitarbeitsplätze haben.
Insofern ist die Familienpflegezeit auch auf Männer ausgerichtet. Diese bessere Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf trägt dazu bei, dass die Pflege nicht weiter als rein
weibliche Aufgabe wahrgenommen wird.
Meine Damen und Herren, es hat knapp 90 Jahre
gedauert, bis ein Internationaler Männertag den Weltfrauentag ergänzt hat. Es hat zehn Jahre gedauert, bis
zum Girls’ Day ein Boys’ Day hinzukam. Ich bin mir sicher: Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass zeitgemäße Politik Männer und
Frauen gleichzeitig ansprechen muss. Die Zeit der Geschlechterkämpfe ist vorbei. Sorgen wir für die notwendige Gestaltungsfreiheit, damit Männer und Frauen
Gleichberechtigung sowohl in der Partnerschaft als auch
im Beruf leben können!
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Ministerin, schön, dass Sie heute mal bei einem Thema
aus Ihrem Ressort anwesend sind!
({0})
Aber leider ist es wie üblich: viele Worte, keine Taten.
({1})
Mit Erstaunen habe ich den Antrag von Union und
FDP „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ gelesen. Wie ist es möglich, dass Ihnen erst jetzt klar geworden ist, dass Gleichstellungspolitik beide Geschlechter
im Blick haben muss? Das ist eine ebenso selbstverständliche wie banale Erkenntnis.
({2})
Selbstverständlich setzen erfolgreiche familien- und
gleichstellungspolitische Maßnahmen bei Frauen und
Männern, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen an.
Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war schon
immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig vom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzuwirken.
({3})
Diese schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere ihre Ministerin aber suchen nicht das Verbindende,
sondern das Trennende zwischen den Geschlechtern.
({4})
Noch nie wurden so tiefe Gräben zwischen der Jungenund der Mädchenförderung gezogen wie unter dieser Familienministerin.
({5})
Frau Schröder, Sie spielen sich in den Medien gern
als Retterin der Jungs und der Männer auf. Sie behaupten pauschal, Jungen würden in der Schule benachteiligt
und am Junge-Sein gehindert. Auch im Antrag von Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von SchwarzGelb, heißt es schwammig:
Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnissen von Jungen Rechnung getragen werden.
Was bitte sollen denn deren besondere Bedürfnisse sein?
Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag nichts.
({6})
Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Nicht alle
Jungen sind gleich, und auch nicht jedes Mädchen beschäftigt sich gern still und - so das Klischee der Familienministerin - malt mit einem Stift Schmetterlinge. Erweitern Sie doch erst einmal Ihren Horizont und bauen
Sie die Rollenstereotypen in Ihrem Kopf ab! Das würde
Jungen und Mädchen in diesem Land wirklich helfen,
Frau Ministerin.
({7})
Nicht Jungen per se sind benachteiligt bzw. haben
Schulprobleme; es sind die Jungen aus benachteiligten
und bildungsfernen Familien, die vor allem durch
schwarz-gelbe Politik konsequent weiter abgehängt werden. Das ist ein Widerspruch höchsten Grades.
({8})
Es ist doch gerade die Politik von Union und FDP in den
Bundesländern - man braucht nur einmal in mein Bundesland, Niedersachsen, zu schauen, um das festzustellen -, die dafür verantwortlich ist, dass Kinder nicht mitgenommen und gefördert, sondern abgehängt und im
Stich gelassen werden.
({9})
Sie halten stur am dreigliedrigen Schulsystem fest,
wo Abschulen - ein schreckliches Wort! - und Sitzenbleiben zur Tagesordnung gehören. Sie bekämpfen konsequent längeres gemeinsames Lernen. Das alles sind
Fakten, die manchen Jungen mehr Probleme machen als
manchen Mädchen.
({10})
Gerade Jungen macht das frühe Aussortieren, das die
Union ja mit Verve vertritt, viel häufiger zu schaffen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
im krassen Widerspruch zu Ihrer Forderung, mehr Jungen zu fördern, steht Ihr aktuelles Handeln. Sie kürzen
gerade radikal bei erfolgreichen Projekten und Maßnahmen, von denen insbesondere Jungen in schwierigen Situationen, aber durchaus auch Mädchen - die blenden
Sie ja völlig aus - profitieren. Ob es das erfolgreiche Integrationsprojekt im Problemstadtteil ist, das durch das
Programm „Soziale Stadt“ gefördert wurde, oder das
Programm zur Senkung der Schulabbrecherquote: Dramatische Kürzungen, wohin man blickt! Sieht so Ihre
Vorstellung von der Förderung benachteiligter Jungen
aus, die Sie hier angeblich ganz neu in den Blick genommen haben?
Die SPD-Bundestagsfraktion hat ernsthafte Antworten auf die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche besser
unterstützen und fördern können: Es kommt auf den Anfang an. Kinder müssen also so früh wie möglich gefördert werden. Darum müssen wir beim Krippenausbau
mehr Fahrt aufnehmen. Aber da, Frau Ministerin, gehen
Sie auf Tauchstation.
({12})
Im Gegenteil, Sie, Frau Ministerin, halten am rückwärtsgewandten Betreuungsgeld fest. Sie sagen nicht
Nein zum Betreuungsgeld, sondern stehen weiter zu dieser Bildungsverhinderungsprämie.
({13})
Damit unterstützen Sie benachteiligte Kinder mit Sicherheit nicht, und auch bei dem notwendigen konsequenten
Ausbau von Ganztagsschulen ist keinerlei Unterstützung
sichtbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einfache Welt
von Familienministerin Schröder erklärt die Benachteiligung von Jungen wie folgt: Schuld am schulischen Misserfolg von Jungen haben Frauen, da sie die Mehrheit der
Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen stellen - interessant. Natürlich begrüßen auch wir, wenn sich mehr
Männer für den Beruf des Erziehers oder des Grundschullehrers entscheiden. Das Aufbrechen von Rollenstereotypen ist grundsätzlich positiv. Doch, Frau Schröder, ich möchte Sie beruhigen: Studien belegen, dass
Jungen keine Nachteile und schlechtere Beurteilungen
erfahren, wenn sie in erster Linie von Frauen betreut und
unterrichtet werden.
Was tun Sie eigentlich für die Förderung von Mädchen und Frauen? Hier kürzen Sie und verteilen Mittel
für die Förderung von Frauen in die Förderung von Männern um. So wird Gleichstellungspolitik nicht gelingen;
denn diese muss auf beide Geschlechter ausgerichtet
sein.
Es sind überwiegend Frauen, die in der Pflege tätig
sind. Das ist ein anstrengender Beruf mit viel zu wenig
Anerkennung und viel zu wenig Geld. Doch anstatt sich
dafür starkzumachen, dass der Dienst am Menschen
mehr Anerkennung erfährt, sagen Sie ganz profan,
Frauen sollten doch einfach die richtigen Berufe ergreifen. Das muss schön zu hören sein für Frauen in so anstrengenden Berufen, die bemerken, dass sie im Stich
gelassen werden.
({14})
Im heute debattierten Antrag von Schwarz-Gelb heißt
es: „Stereotype Zuschreibungen müssen überwunden
werden.“ Weiterhin ist zu lesen, dass „Männer in ihrer
Aufgabe als Väter“ gestärkt werden müssen. Ich sage:
nur zu, mit Mut voran!
Warum aber hat diese Bundesregierung eine partnerschaftliche Weiterentwicklung des Elterngeldes auf Eis
gelegt? Warum trennen Sie sich nicht von steuerlichen
Regelungen, die die klassische Rollenverteilung zementieren? Warum wollen Sie nur unverbindliche Vereinbarungen mit der Wirtschaft? Wirklich gebraucht wird eine
verbindliche Zeitpolitik, die sowohl Männer als auch
Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt, und kein Larifari mit netten Treffen.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hilft den Familien nicht weiter, wenn Männer und Frauen gegeneinander ausgespielt werden, wie Sie es tun.
({16})
Es hilft auch nicht, wenn Sie als Familien- und Frauenministerin gleichstellungspolitisch Engagierte bei jeder
Gelegenheit abfällig als Altfeministinnen bezeichnen.
Frau Schröder, machen Sie endlich konkrete Politik!
Entwickeln Sie Maßnahmen, die bei den Familien ankommen! Reden Sie weniger, und handeln Sie endlich!
({17})
Das würde helfen - Jungen wie Mädchen, Frauen wie
Männern. Darauf wartet unser Land, seit Sie Ministerin
sind, vergeblich.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie wissen, dass ich im Plenum normalerweise sehr gern frei rede; aber ich habe heute bei
Ihrer Rede, Frau Marks, so viel mitgeschrieben, dass ich
jetzt einige Zettel mitnehmen musste.
({0})
Zunächst einmal: Die Maßnahmen, die wir getroffen
haben, beruhen nicht auf banalen Erkenntnissen, sondern
auf der harten Realität, die wir vorfinden. Es ist eigentlich schade, dass erst wir als schwarz-gelbe Koalition
kommen mussten, damit etwas gegen die Missstände in
Deutschland getan wird,
({1})
die damit zusammenhängen, dass Jungen und auch Männer benachteiligt sind.
Es ist ja schön, dass Sie grundsätzlich sagen, dass wir
hier niemanden gegeneinander ausspielen sollen. Aber
genau das haben Sie mit Ihrer Rede getan; Sie haben
Frauen gegen Männer ausgespielt.
({2})
Sie haben dann angesprochen, dass Sie die Lebensbedingungen eines jeden Kindes verbessern wollten.
Schauen wir uns doch einmal die Kinderarmutszahlen in
den einzelnen Ländern an: In Berlin sind 35 Prozent von
Kinderarmut betroffen, in Niedersachsen sind es 15 Prozent,
({3})
in Bayern 7 Prozent.
({4})
So schaut es aus, denn wir machen eine gute Wirtschaftspolitik, die es ermöglicht, das zu erwirtschaften,
was notwendigerweise verteilt werden muss.
({5})
Nach Ihrer Politik würde es keinem Kind, keinem Vater
und keiner Familie besser gehen.
({6})
Tatsache ist, dass Jungs heutzutage schlechter lesen
können und dass sie häufiger in der Schule versagen.
Das zeigen die Zahlen ganz eindeutig. Fakt ist auch, dass
es mehr Mädchen gibt, die Abitur machen, und dass es
mehr junge Frauen gibt, die Hochschulabsolventinnen
sind.
Das Problem für die Frauen ist letztendlich die Kinder-oder-Karriere-Frage, weil wir hinsichtlich Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch etwas zurück
sind. Weil Sie uns die ganze Zeit vorwerfen, hier Kürzungen vorzunehmen,
({7})
will ich Ihnen an dieser Stelle sagen: Wir kürzen in diesem Bereich nicht, sondern bauen die Betreuungsplätze
sowohl quantitativ als auch qualitativ weiter aus und halten am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 fest.
({8})
Sie behaupten weiterhin, wir würden uns nicht um die
besonderen Bedürfnisse der Jungs in der Schule kümmern und dazu nichts sagen. Ja, sehr geehrte Frau
Marks, das ist so, weil wir uns hier auf Bundesebene befinden. Ich spreche mich zwar gegen das Kooperationsverbot aus, das nach wie vor besteht, aber derzeit sind
die Länder allein für die Schulen zuständig. Aber wir haben die Fakten angesprochen; sie liegen jetzt auf dem
Tisch.
({9})
Von Ihnen habe ich in dieser Richtung noch gar nichts
gehört. Wir erkennen die Realität, und wir handeln dementsprechend.
({10})
Ich bin der Meinung, dass die Phase des Kampfes der
Geschlechter überwunden werden muss. Dafür sorgen
wir mit unserer Politik. Nur ein Miteinander ist erfolgreich.
({11})
- Doch. Sie dagegen machen nichts. Ihre Politik basiert
auf dem Kampf Frau gegen Mann. Wir sind längst weiter. - Unsere Politik geht davon aus, dass Frauen und
Männer auf einer Seite stehen und es in den Familien ein
Miteinander gibt.
({12})
Die Regierung nimmt sozusagen eine Vorbildfunktion
ein, und wir brechen Strukturen auf.
Ich will noch eine persönliche Anekdote anbringen.
Als ich 2005 in den Bundestag gewählt wurde, hat der
Apotheker um die Ecke gesagt: Wir sind stolz, dass Sie
in den Bundestag gekommen sind. Aber, Herr Gruß, wie
machen Sie das jetzt eigentlich mit dem Essen? - Daran
konnte man sehen, wie tradiert die Rollenverständnisse
waren. Seit September ist mein Mann allerdings zu
Hause. Jetzt wird er nicht mehr ausgelacht. An diesen
Punkt müssen wir gelangen. Wir müssen Vorbild sein.
Dazu braucht es solche Signale wie die entsprechenden
Anträge, die wir in den Bundestag einbringen.
({13})
Zur Diskussion über das Elterngeld: Das Elterngeld
ist, was die Männer anbelangt, ein Erfolg. Vorher kam es
so gut wie nicht vor, dass Männer wie selbstverständlich
zu Hause blieben. Die schwarz-gelbe Regierung bricht
die Strukturen auf, und jetzt machen sich Unternehmen
Gedanken darüber, wie sie nicht nur den Frauen, sondern
auch den Männern familienfreundliche Arbeitszeiten anbieten können.
Für die Ausweitung des Elterngeldes gilt: Wenn es zu
viel kostet, dann können wir sie nicht durchführen. So ist
es nun einmal. Aber wir machen eine verantwortungsvolle Politik, die auf die nächsten Generationen ausgerichtet ist. Wir sagen nämlich: Wir können nicht immer
nur verteilen; denn erstens muss das, was verteilt wird,
auch erwirtschaftet werden, und zweitens dürfen wir
nicht Geld verteilen, wenn dadurch auf dem Rücken unserer Kinder Schuldenberge angehäuft werden. Schließlich haben die Kinder dann den Schlamassel. Auf Schuldenbergen können sie nicht spielen und erst recht nicht
lernen.
({14})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass wir
ausgerechnet heute über einen Antrag debattieren, der
sich mit der Benachteiligung von Jungen und Männern
in unserer Gesellschaft befasst; denn es ist Girls’ Day,
also ein Tag, der eigentlich geschaffen wurde, um Mädchen für männerdominierte Berufe zu interessieren.
({0})
Nun gibt es dieses Jahr zum ersten Mal den sogenannten Boys’ Day. Ich finde es so schade, dass Sie schon
wieder das machen, was Sie auch sonst tun, nämlich die
Menschen, in diesem Falle Jungen und Mädchen, gegeneinander auszuspielen, statt sich um die Ursachen des
Problems zu kümmern, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen der die Bundesregierung stellenden Parteien.
({1})
In Ihrem Antrag erklären Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU und FDP, dass die Jungen - Sie
reden ja immer gleich von allen - immer offensichtlicher
zu Bildungsverlierern werden. Der Focus titelte bereits
2002 „Arme Jungs!“. Die Zeit titelte „Die neuen Prügelknaben“. Sie zählen in Ihrem Antrag genau die Fakten
auf, die in dieses Bild passen: Jungen wiederholen häufiger eine Klasse, brechen häufiger als Mädchen die
Schule ab und weisen geringere Lesekompetenzen als
Mädchen auf.
Eine OECD-Studie vom Mai 2009 kommt zu dem
Schluss, dass
diese Unterschiede eher auf Stereotype als auf unterschiedliche Begabung zurückzuführen sind, …
Doch an dieser Stelle kommt die gute Nachricht zu diesem traurigen Befund: Sie glauben, Sie hätten die Antwort und damit die Schuldigen gefunden. Den Jungen
fehle aufgrund der Feminisierung in Kita und Schule und
des „Fehlens männlicher Bezugspersonen im familiären
Bereich“ die „Ermutigung und positive Vorbilder“.
({2})
Schuld sind also die zu hohe Zahl der Frauen in den Erziehungs- und Bildungsberufen und - wenn ich es richtig
verstanden habe - alleinerziehende Frauen bzw. gleichgeschlechtliche Beziehungen, in denen Kinder ohne
männliche Ermutigung und positive Vorbilder aufwachsen, nach dem Motto: „Ich habe Feuer gemacht!“
({3})
Das sind Familienkonstellationen, die inzwischen zum
ganz normalen Alltag gehören, offenkundig aber nicht in
das eine oder andere Weltbild passen.
Auf die Frage, was genau ein solches positives Vorbild ausmacht, welche Ansprüche eine Lehrerin, ein
Lehrer, ein Erzieher erfüllen muss, um diese Lücke zu
schließen, hüllen Sie sich allerdings in Schweigen.
Ebenso vage bleiben Sie bei der Unterlegung Ihrer Thesen mit wissenschaftlich oder empirisch belegbaren Zahlen und Fakten, und zwar mit gutem Grund, denn solche
Zahlen und Fakten gibt es nicht; eine Studie, die belegt,
dass sich allein durch die Anwesenheit von männlichem
Erzieher- und Lehrerpersonal die Situation von Jungen
explizit verbessert hätte, liegt nicht vor. Österreichische
Erhebungen belegen sogar eine Diskriminierung von
Jungen in der Benotung, wenn sie von Männern unterrichtet werden.
Es ist also nicht wichtig, ob Kinder von Männern oder
Frauen unterrichtet werden; wir brauchen Pädagoginnen
und Pädagogen, die in die Lage versetzt werden, eine geschlechtssensible und gleichstellungsorientierte Schule
gestalten zu können.
({4})
Anträge wie dieser werden aber bestimmt keinen konstruktiven Beitrag dazu leisten.
Die bloße Forderung nach mehr männlichen Vorbildern hilft nicht weiter. Vielmehr bauen Sie damit ein
Bild von scheiternden Jungen und von karriereorientierten Mädchen auf, bei dem die einen absteigen und die
anderen aufsteigen, ein Bild, das der Realität nicht standhält. Es gibt im realen Leben eben nicht die Jungen, die
als Loser zurückbleiben, und nicht die Mädchen, die auf
der Überholspur an ihnen vorbeirauschen.
({5})
Es gibt Kinder und Jugendliche, die von vornherein
benachteiligt sind bzw. benachteiligt werden, und das
aus unterschiedlichen Gründen. Dazu können die Hautfarbe, der Migrationshintergrund, Armutserfahrungen,
Homosexualität, Behinderungen und anderes gehören.
({6})
Aber all das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus. Mit
Forderungen nach jungengerechter Bildung stecken Sie
lediglich den Erzieherinnen und Lehrerinnen den
Schwarzen Peter für Ihre verkorkste Sozial-, Bildungsund Arbeitsmarktpolitik zu.
({7})
Gesamtgesellschaftliche Probleme werden einzelnen
Personengruppen zugeschoben. Damit lenken Sie ganz
bewusst davon ab, dass Sie von der christlich-liberalen
Koalition nicht in der Lage waren, eine Politik zu machen, die jedem Kind, damit auch jedem Jungen, gleichberechtigte Startchancen bietet. Sie waren nicht in der
Lage, Akzente zu setzen, um Väter in die Situation zu
bringen, eine - so beschreiben Sie es - „neue Balance im
Dreieck zwischen Beruf, Familie und Partnerschaft zu
schaffen“. Ist es nicht diese Regierung, die in dieser Woche bekannt gemacht hat, dass die versprochene Ausweitung der Vätermonate beim Elterngeld nicht kommen
wird?
({8})
Ist es nicht Ihre Regierung, die einen verfassungswidrigen Regelsatz für Kinder unverändert lässt, obwohl er
die besonderen und eigenständigen Bedarfe aller Kinder
nicht berücksichtigt? Ist es nicht die christlich-liberale
Koalition, die ein Bildungspaket feiert, das sich gerade
in der Praxis als bürokratisches Monstrum erweist und
keine gerechten Bildungschancen für alle Jungen und
Mädchen schafft?
({9})
An welcher Stelle im christlich-liberalen Antrag thematisieren Sie die Arbeitsbedingungen und die schlechte
Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern?
({10})
Ist es nicht die christlich-liberale Koalition, die gerade
ein bewährtes Programm für Schul- und Ausbildungsabbrecher so radikal zusammenstreicht, dass wahrscheinlich über die Hälfte der Beratungsstellen schließen
muss?
({11})
Auch wenn es um die Aufgabenverteilung geht, sind Sie
prima: Alle Vorschläge, die Sie machen, gehen zulasten
der Länder und Kommunen, ohne dass Sie erklären, womit sie die Kosten bestreiten sollen.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich selbst bin Mutter
von zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen.
({12})
Ich befürchte, dass es das Mädchen sein wird, dem es
schwerfallen wird, trotz gleicher Voraussetzungen in Familie und Schule später selbstbewusst durch das Leben
zu gehen, dass sie also nicht fair und gerecht behandelt
wird und nicht denselben Erfolg haben wird. Denn
Frauen erhalten trotz steigenden Bildungsniveaus immer
noch 26 Prozent weniger Gehalt als Männer
({13})
und sind an Unis, in Chefetagen und in den Vorständen
nach wie vor selten oder gar nicht anzutreffen. Vor diesem Hintergrund kann ich über den von Ihnen formulierten Prüfauftrag, ob auch Männer Gleichstellungsbeauftragte sein sollten, nur den Kopf schütteln. Solange es
eine strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen gibt,
bedarf es eines solchen besonderen Wächteramtes für
Frauen.
({14})
Thomas Gesterkamp schrieb in einer Studie für die
Friedrich-Ebert-Stiftung:
Nur miteinander und nicht gegeneinander lässt sich
Geschlechterdemokratie umsetzen. Vereinfachungen und die umgekehrte Stilisierung von Männern
zum Opfer „des Feminismus“ helfen nicht weiter.
Vielen Dank.
({15})
Der Kollege Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich vor fünf Jahren die Einführung des Boys’ Day
gefordert habe, bin ich von nicht wenigen in diesem
Haus dafür belächelt worden.
({0})
Heute gibt es endlich den ersten bundesweiten Boys’
Day. Das begrüßen wir. Wir wünschen allen Beteiligten
viel Erfolg.
({1})
Noch besser wäre, wenn der Girls’ Day - übrigens
herzlichen Glückwunsch zum heutigen zehnten Geburtstag - und der Boys’ Day an verschiedenen Tagen stattfinden würden. Damit würde man beiden Geschlechtern
noch gerechter.
({2})
Für eine nachhaltige Jungenpolitik reicht ein einzelner symbolischer Boys’ Day aber nicht aus. Wir brauchen einen grundlegenderen Ansatz.
({3})
Geschlechtergerechtigkeit für Jungen und Mädchen
kann nur dann Normalität werden, wenn sie jeden Tag
gelebt wird.
({4})
Von der Kindertagesstätte an sollte jeder und jede frei
von tradierten Klischees verschiedene Rollenmuster und
Angebote kennenlernen können ({5})
ohne Bevormundung, dafür mit Wahlfreiheit und Freude
an Vielfalt.
({6})
Daher sollten neue Wege und Perspektiven für Jungs das
ganze Jahr über aufgezeigt werden:
({7})
im Bildungssystem, in der Jugendhilfe und in der Berufswelt.
({8})
Es gibt durchaus Forderungen in Ihrem Antrag, die
unterstützenswert sind, zumal wir seit langem etwa Probleme von Jungen im Bildungssystem thematisieren.
Manche Jungs stehen tatsächlich auf der Standspur.
Viele Mädchen scheinen auf der Überholspur zu sein. Im
Durchschnitt schneiden sie in der Schule besser ab, nehmen häufiger ein Studium auf, machen bessere Abschlüsse. Trotzdem sind Frauen in Führungspositionen
immer noch eine Seltenheit. Trotzdem entscheidet die
soziale Herkunft viel stärker über den Bildungserfolg als
das Geschlecht. Deshalb müssen wir vor allem da ansetzen.
({9})
Besonders bei der Finanzierung von Jungenarbeit und
der tatsächlichen Verankerung bleibt Ihr Antrag völlig
nebulös. Jungenpolitik darf nicht auf Kosten der weiterhin notwendigen Mädchenpolitik gehen.
({10})
Das ist offensichtlich auf der rechten Seite des Hauses
Konsens. Dies wäre ein schwerer Fehler. Dies würde von
uns entschieden abgelehnt.
({11})
Wir wollen eine Jungenpolitik, die Jungen individuell
fördert, ihnen bessere Teilhabe ermöglicht, neue Perspektiven eröffnet und Mädchenpolitik sinnvoll ergänzt.
Sie können sich ein gutes Beispiel etwa an NordrheinWestfalen nehmen, wo eine Mittelerhöhung des Kinderund Jugendförderplans um 25 Prozent vorgesehen ist
und die darin enthaltenen Gendermittel verdoppelt werden - sowohl für Jungenförderung als auch für Mädchenförderung.
({12})
- Sie wissen, Jugendförderung ist Zukunftsinvestition.
Wir wollen, dass sich das Spektrum bei der Ausbildungs- und Studienwahl von Jungen erweitert und sie
sich für weitere Berufe begeistern. Mehr als die Hälfte
der männlichen Auszubildenden entscheidet sich für einen jungentypischen Ausbildungsberuf. Leider ist noch
kein einziger aus dem sozialen, erzieherischen oder pflegerischen Bereich darunter. Hier sind Männer deutlich
unterrepräsentiert. In Kitas stellen sie nur 3,5 Prozent
des Personals, obwohl die EU seit Jahren einen Anteil
von 20 Prozent anpeilt. Automechatroniker und Koch
sind spannende Ausbildungsberufe. Wir wollen aber
mehr Männer für Pflege- und Erzieherberufe gewinnen.
({13})
Weil das so ist, müssen viel stärker als bisher in allen
Schulen Geschlechterklischees, in der Berufsberatung
und -orientierung geschlechterstereotypische Berufsinteressen hinterfragt werden.
({14})
Der Bundesregierung und Ministerin Schröder fehlt
aber offenbar der notwendige Gestaltungswille, um Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Sie müssen
endlich an geschlechtsspezifische Benachteiligungen im
Berufsleben heran. Die müssen sie konkret angehen.
({15})
Frauen werden in ihren beruflichen Karrierewegen ausgebremst. Die Chefsessel bleiben männlich besetzt.
Hier betreiben Sie, Frau Schröder, im Kabinett Blockadepolitik und werden Ihrem Amt nicht gerecht.
({16})
Sie sind die erste Bundesfrauenministerin, die eine Frauenquote in den Aufsichtsräten und in den Vorständen aktiv hintertreibt. Es geht hierbei konkret um Geschlechterpolitik und Geschlechtergerechtigkeit.
({17})
Da muss ich Ihnen sagen: Folgenlose Appelle und
Flexi-Selbstverpflichtungen bringen bei diesem Thema
genauso wenig wie bei der skandalösen Lohndiskriminierung, die es in diesem Land immer noch gibt. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - nur das ist fair. Das
gilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Daher müssen Sie endlich aktiv werden.
Wir werden bei der heutigen Debatte das Gefühl nicht
los, dass diese Initiative von Ihrem frauenpolitischen
Nichtstun ablenken soll. Frau Schröder, wir wollen endlich Taten sehen. Wir kritisieren auch Ihre unsachliche
Feminismuskritik, mit der Sie nur von eigenen Versäumnissen ablenken wollen.
({18})
Sie erklären den Geschlechterkampf für beendet. In
Gastbeiträgen in der FAS führen sie ihn aber munter weiter, indem Sie sozusagen Feminismus-Bashing betreiben. Sie bauen einen Popanz auf, indem Sie dort behaupten, es gebe eine verbreitete Ablehnung der Jungenpolitik. Das sehe ich so nicht. Das Gegenteil ist doch der
Fall.
({19})
Das beweist der heutige erfolgreiche Boys’ Day eindrucksvoll. Feminismus-Bashing ersetzt keine geschlechtergerechte Politik für Frauen und Männer, sondern schadet nur.
({20})
Das Ausspielen von Mädchenförderung gegen Jungenpolitik ist ebenso falsch wie Ihr Versuch, die untaugliche Familienpflegezeit als neue Männerpolitik zu verkaufen. Es ist genauso falsch, die Ausweitung der
Partner- und Vätermonate beim Elterngeld einfach zu
beerdigen. Denn hiermit wären große Schritte in Richtung Gleichstellung möglich. Es ist ebenso falsch, am
antiquierten Ehegattensplitting und der Zuhausebleibprämie Betreuungsgeld festzuhalten.
({21})
Sie bedienen mit solchen Scheindebatten gegen den
vermeintlich alten Feminismus letztlich abgestandene
Klischees. Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur
mit Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn
Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik. Das
sage ich auch als männlicher Feminist.
({22})
Auch Männer wollen eine neue Arbeitszeitpolitik.
Auch Männer profitieren von mehr Kita- und Ganztagsschulplätzen. Auch sie wollen eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Moderne Väter sind keine Fata
Morgana. Sie wollen weder von Kollegen noch Vorgesetzten schief angeguckt werden,
({23})
wenn sie Teilzeitarbeit einfordern, Vätermonate beanspruchen oder sagen: Ich muss heute auch einmal um
14 Uhr gehen, weil ich Vater geworden bin. - Da ist es
völlig egal, ob diese Väter Automechatroniker, Grundschullehrer, Spitzenmanager oder Staatssekretär sind.
({24})
Männer brauchen eine bessere gesundheitliche Prävention. Wir brauchen keine blöden und dumpfen Sprüche wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ mehr.
Dies führt nur dazu, dass sie bezüglich der eigenen Gesundheit oder Ungesundheit Warnsignale überhören.
Männer wollen wertvolle Zeit. Sie wollen auch eine Entschleunigung im Beruf. Moderne Männer wollen Verantwortung teilen und vorgegebene Geschlechterrollen verlassen. Sie wollen Neues ausprobieren.
Männer und Frauen wollen egalitäre Partnerschaftsmodelle leben. Weil das so ist, muss eine geschlechtergerechte Politik schon heute kluge und flexible Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun Sie nicht.
Genau das leistet auch Ihr Antrag nicht. Ein gemeinsamer Ansatz, der beiden Geschlechtern nutzt, bedeutet
nicht, gesellschaftlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Das aber tut die Ministerin. Statt warmer Worte
wollen wir eine mutige Gleichstellungspolitik. Das
heißt: Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld.
Kollege Gehring, bitte achten Sie auf die Zeit.
Das heißt: Frauenquote für die Aufsichtsräte und Vorstände. Das heißt: eine emanzipierte Jugendpolitik, die
geschlechtersensibel ist und für Jungen und Mädchen die
besten Voraussetzungen für die Zukunft schafft.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Noll das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich sage es ehrlich: Ich finde es schade. Frau
Marks, ich hatte eigentlich gedacht, wir hätten dieses
Spalten zwischen Jungen und Mädchen, das Sie gerade
vollzogen haben, längst überwunden.
({0})
Die Art, wie Sie argumentiert haben, ist für mich sehr
enttäuschend.
Ich hatte im Vorfeld schon zum Kollegen Kai Gehring
gesagt, er müsse sich nicht wundern, wenn ich ihn lobe.
Ich tue es nun auch. Vieles von dem, was er gerade gesagt hat, ist im Endeffekt das, was im grünen MännerManifest steht. Es geht darum, nicht länger Macho sein
zu müssen.
({1})
Einiges davon hat der Herr Kollege Gehring soeben beschrieben. Recht hat er.
({2})
Ich finde es unerträglich, dass die Kollegin Golze, deren
Arbeit in der Kinderkommission ich sehr schätze, hier
Sachen in den Raum stellt und Schuldzuweisungen
macht. So sagt sie zum Beispiel, wir würden alleinerziehende Mütter an den Pranger stellen. Das ist weiß Gott
nicht der Fall. In unserem Antrag steht explizit, dass wir
auf wissenschaftliche Studien zurückgreifen wollen.
Diese fehlen aber. Zur Mädchenforschung haben wir relativ viel, zur Jungenforschung ist bisher nicht viel vorhanden. Diese Forderung ist in unserem Antrag enthalten, damit wir künftig auf wissenschaftlichen Daten
aufbauen können.
({3})
Die Ministerin als erste Rednerin hat erläutert, dass
die Ausweitung der Vätermonate unter einem Finanzierungsvorbehalt steht. Sie haben hier gesessen und die
Argumente gehört. Hinterher behaupten Sie wieder das
Gegenteil. Das finde ich mehr als unfair. So kann man
keine Politik für die Bürger in Deutschland machen. Tut
mir leid.
({4})
Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen. Seit 2002 bin ich im Deutschen Bundestag.
Das Thema „Jungen- und Männerpolitik“ liegt mir seitdem wirklich am Herzen. Damals waren die Kollegin
Gruß und ich noch Oppositionspartner, und wir befanden
uns auf einem gemeinsamen Weg. Ich habe eine Anfrage
gestellt; sie hat einige Jahre später ebenfalls eine Anfrage gestellt. Jeder, der diese Anfrage liest - und das
würde ich Ihnen einmal empfehlen -, kann das Fazit ziehen: Es liegt Handlungsbedarf vor; wir müssen uns um
die Jungen kümmern.
Das heißt nicht, dass ich irgendetwas gegen die Mädchen unternehmen möchte. Ständig sprechen wir von der
demografischen Entwicklung und darüber, wie wenig
Kinder wir haben. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn
wir nicht versuchen, beide Geschlechter zu fördern, und
zwar in den Bereichen, wo sie vielleicht Probleme haben. Bei den Mädchen ist das später - gläserne Decke,
Aufstieg, Wiedereinstieg -, bei den Jungen ist es vielleicht früher. Wie Sie aber argumentiert haben, kommen
wir definitiv nicht weiter.
({5})
Das finde ich persönlich nach wie vor ausgesprochen
enttäuschend.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihrem Wahlkreis geht.
Ich bin Familienpolitikerin, und wenn ich in Kindergärten, in Schulen oder bei Elternvereinen bin, werde ich oft
von Eltern angesprochen. Ich habe einen Brief von einer
Mutter dabei, die sich heute noch per E-Mail dafür bedankt hat, dass wir uns dieses Thema überhaupt einmal
vornehmen. Wir alle hören die Eltern, wir alle hören die
Lehrer, und viele sagen: Wir müssen uns um die Jungs
kümmern. Das hat für mich nichts damit zu tun, etwas
gegen die Mädchen zu tun.
({6})
Sie waren doch in der letzten Woche selber im Ausschuss. Dort hat Professor Mathias Albert noch einmal
bestätigt: Der geschlechtsspezifische Trend beim Thema
Bildung ist ungebrochen. Junge Frauen haben ihre
männlichen Altersgenossen bei der Schulbildung überholt. Ob Bildung oder Gesundheit: Mädchen haben die
Jungen in wichtigen Bereichen abgehängt. - Das ist gut
für die Mädchen, aber es ist schlecht für die Jungs.
({7})
Sie machen einen Fehler. Wir spielen die Menschen
nicht gegeneinander aus.
({8})
Ich möchte, dass wir sie dort abholen, wo sie Defizite
haben. Das tun Sie eben nicht. Beide Geschlechter haben
Förderbedarf.
({9})
Weil Sie das vorhin angesprochen haben: Haben wir
in der 17. Legislaturperiode überhaupt einmal über die
Probleme von Männern oder Jungen gesprochen? Das
haben wir nicht getan. Ich habe einmal die entsprechenden Anträge aus der 17. Legislaturperiode herausgesucht. Es waren 15 Anträge, und nur einer hat am Rande
die Situation von Jungen gestreift. - Vielen Dank an die
Grünen, denn es war Ihr Antrag.
({10})
Ich sage: Das ist zu wenig. Wir müssen uns für Männerund Jungenforschung öffnen.
({11})
Wir müssen zusehen, dass wir in diesem Punkt weiterkommen. Es gibt kein Entweder-oder, sondern nur ein
Sowohl-als-auch für ein Miteinander der Geschlechter.
({12})
Das haben Sie leider mit Ihrem Kommentar zu verhindern versucht.
Professor Rauschenbach hat damals gesagt - viele
von Ihnen waren dabei -:
Es ist ein Drama, dass zunehmend Kinder bis zum
10. Lebensjahr in männerfreien Zonen aufwachsen.
Wir möchten die männerfreien Zonen mit Männern füllen, mehr nicht,
({13})
damit die Kinder die Möglichkeit haben, beide Geschlechter und damit andere berufliche Perspektiven
kennenzulernen.
({14})
Wir wollen Männern Mut machen, so wie es Kollege
Gehring sagte. Wir wollen Männern Mut machen, sich
auch in anderen Rollen zurechtzufinden, sodass sie nicht
mehr belächelt werden. Viele Väter kommen zu mir und
sagen: Wissen Sie, Frau Noll, die Elternzeit würde ich
gerne machen, aber wenn ich mit diesem Anliegen zu
meinem Arbeitgeber gehe, erhalte ich nur ein müdes
Schmunzeln. Hier, in den Köpfen der Menschen, müssen
wir etwas verändern, sodass die Männer Akzeptanz erfahren. Ich möchte den Männern Mut machen, auch ihr
Rollenbild zu erweitern.
({15})
Lassen Sie mich noch kurz auf den Punkt bringen,
warum ich glaube, dass wir dringend handeln müssen.
Frau Professor Almendinger hat uns damals im Ausschuss die Brigitte-Studie „Frauen auf dem Sprung“ vorgestellt. Damit hat sie deutlich gemacht, dass die Frauen
in ihrer Entwicklung zugelegt haben. Was passiert aber,
wenn diese kompetenten Frauen langfristig keinen
adäquaten Partner mehr finden? Dann sieht es düster aus
mit der Familiengründung. Dann sind wir mit der Familienpolitik am Ende. Wenn Sie das ändern wollen, dann
helfen Sie doch bitte mit, dass wir beide Geschlechter
stark machen für eine Zukunft in Deutschland und sie
dort abholen, wo Defizite bestehen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie Ihr Schwarz-Weiß-Denken endlich einmal ad acta legen würden.
Vielen Dank.
({16})
Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ein Hinweis, liebe Frau Noll: Lesen Sie sich die Rede
von Frau Marks noch einmal durch.
({0})
In der nächsten Debatte können wir dann gerne noch einmal aufschlüsseln, an welchen Stellen Frau Marks die
Geschlechter gegeneinander ausgespielt hat. Dass man
die Jungen- und Männerpolitik, von der Sie sprechen,
kritisiert, heißt noch lange nicht, dass man eine entsprechende Förderpolitik nicht für notwendig hält.
({1})
Das sollten Sie nicht miteinander verwechseln. Die Kritik an Ihren Ansätzen beinhaltet nicht automatisch eine
Ablehnung der Männer- und Jungenförderung.
({2})
Ich gehöre zu den Männern, die 2,4 Prozent der Erzieher ausmachen.
({3})
Ich bin also einer von denen, die mit den neuesten Initiativen in vielen Bereichen gesucht werden. Mit diesem
Blickwinkel will ich versuchen, auf zwei, drei Punkte
einzugehen. Vor allem möchte ich auf die männerfreien
Zonen eingehen, die auch Sie, Frau Noll, gerade angesprochen haben. Den Kindergarten und die Grundschule
hat Herr Rauschenbach zu Recht als männerfreie Zonen
bezeichnet. Ich weiß das, weil ich zu den 2,4 Prozent gehöre. Aber warum ist das so, und welche Antworten bieten Sie, Frau Ministerin, mit dem Programm „MEHR
Männer in Kitas“?
Erstens. Jetzt, wo wir mehr Männer in die Kindertagesstätten holen wollen, spielt die Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher eine Rolle. Warum war das nicht
schon vorher der Fall? Was haben Sie eigentlich für ein
Bild?
({4})
Und Sie sprechen davon, dass es darum geht, Rollentypen zu überwinden. Dabei wird dadurch ein Rollentyp
bestätigt: Der Mann ist der Ernährer, und deshalb muss
er besser verdienen. Das ist nicht der richtige Ansatz,
Frau Ministerin.
({5})
Zweitens. Arbeitslose Männer sollen jetzt in einem
Crashkurs in relativ kurzer Zeit den Beruf des Erziehers
im Rahmen einer Umschulung erlernen können. Da
frage ich wieder: Was haben Sie eigentlich für ein Bild
von den jetzt arbeitenden Erzieherinnen und Erziehern?
Wie bewerten Sie die Tätigkeit, die sie ausüben? Es kann
doch nicht angehen, dass wir einerseits sagen, dass sich
gut qualifizierte Personen um die frühkindliche Bildung
kümmern müssen - es geht ja nicht nur um die Betreuung, um das Aufpassen im klassischen Sinne, sondern
auch um die frühkindliche Bildung -, und auf der anderen Seite nehmen wir einfach jemanden, der in einem
Crashkurs von vielleicht anderthalb Jahren den Beruf
des Erziehers erlernt hat.
({6})
So werte ich den Beruf des Erziehers und der Erzieherin
mit Sicherheit nicht auf.
({7})
In Ihrem Antrag erwähnen Sie auch den Gleichstellungsbericht. Diesen Bericht hat die zuständige Ministerin übrigens nicht einmal persönlich entgegengenommen, vielleicht weil das eine oder andere, was darin
formuliert ist, ihr nicht passt - das sind aber Ansätze,
über die wir zu diskutieren haben -: Das eine ist die
Quote in Aufsichtsräten und Vorständen, das andere die
Entgeltgleichheit. Mit diesen Maßnahmen, mit der Einführung der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten und der Herstellung der Entgeltgleichheit, überwinde
ich die von Ihnen kritisierten Rollenbilder. Warum fangen wir damit nicht einfach an?
({8})
Die Fokussierung auf Jungen und Männer in dieser
Debatte ist - das ist schon mehrfach angesprochen worden - ein Ausdruck des Geschlechterkampfes, den Sie
eigentlich überwinden wollen.
({9})
Eine Jungen- und Männerförderung kann nur in einem
Gesamtkonzept der Gleichstellungspolitik eine Rolle
spielen. Man kann nicht einerseits die Frauenpolitik und
die vermeintlich alte Emanzipationsbewegung kritisieren und andererseits sagen: Wir machen jetzt nur etwas
für Jungen und Männer, um den Geschlechterkampf zu
überwinden. Sie befördern den Geschlechterkampf an
dieser Stelle.
({10})
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, weil Sie
immer von der Überwindung der Rollentypen reden. Auf
die Frage nach den Partnermonaten beim Elterngeld in
diesem Zusammenhang - das ist eine ganz aktuelle Debatte - haben leider auch Sie, Frau Noll, keine Antwort
gegeben. Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition
etwas unternommen, um die Rollentypen zu überwinden. Wir waren es, die die Partnermonate eingeführt haben. Jetzt, wo wir es verstärken wollen, weil wir alle der
Meinung sind, dass wir diese Rollentypen überwinden
wollen, zieht die Ministerin zurück und kneift, angeblich
weil nicht genügend Geld da ist.
({11})
Frau Ministerin, es wird nicht besser, wenn Sie
Schaufensterpolitik betreiben, wenn Sie einfach nur
neue Projekte ankündigen und neben dem Girls’ Day
jetzt auch noch den Boys’ Day einführen. Von unserer
Seite sage ich: Wir finden es wunderbar, wenn Menschen am Boys’ und Girls’ Day teilnehmen und Mädchen die Berufe kennenlernen, die vielleicht eher typisch
männlich sind, und Jungen die Berufe kennenlernen, die
typisch weiblich sind.
({12})
Das hat hier niemand kritisiert. Aber daraus müssen
auch Konsequenzen gezogen werden.
({13})
Das fängt bei der Bezahlung, bei Quoten in Aufsichtsräten, aber auch bei dem Bild, das man über Erzieherinnen und Erzieher in der Öffentlichkeit zeichnet, an. Das
Bild, das Sie prägen, ist nicht hilfreich zur Überwindung
der Rollentypen.
Herzlichen Dank.
({14})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Bernschneider
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben heute mehrfach gehört - ich möchte
es einmal positiv ausdrücken -, wie gut die Bilanz der
Bildungsabschlüsse junger Frauen heute ist: Mädchen
machen häufiger und ein besseres Abitur, Mädchen bzw.
junge Frauen sind auch die Gewinner an deutschen
Hochschulen. Die Expertise zum Programm „Neue
Wege für Jungs“ bringt es, wie ich finde, auf Seite 10 gut
auf den Punkt: Das katholische Arbeitermädchen vom
Land, das noch in den 70er-Jahren in der Bundesrepublik als Bildungsverliererin galt, gibt es heute nicht mehr.
- Das sollte uns zunächst einmal freuen; denn all das
sind Zeichen eines positiven Wandels in unserer Gesellschaft und positive Ergebnisse einer erfolgreichen deutschen Gleichstellungspolitik.
Aber die eben genannte Expertise stellt auf Seite 10
auch klar: Der Bildungsverlierer von heute ist der Migrantensohn aus einer bildungsschwachen Familie. Das
kann uns nicht zufriedenstellen; damit können wir uns
nicht zufriedengeben. Nun kann man natürlich immer
der Logik folgen und sagen: Es ist doch klar, wenn einer
in die erste Liga aufsteigt, nämlich die Mädchen, dann
muss auch jemand anders in die zweite Liga absteigen,
nämlich die Jungs. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich:
Das ist nicht meine Auffassung von moderner Gleichstellungspolitik.
({0})
Unsere Aufgabe ist es, gute Rahmenbedingungen so
zu setzen, dass Kinder und Jugendliche unabhängig vom
Geschlecht Entwicklungschancen und Perspektiven erhalten. Wir wollen, dass Jungen und Mädchen gemeinsam in der ersten Liga spielen.
({1})
Deswegen verstehe ich nicht die Aufregung, die in dieser Debatte von Teilen der Opposition suggeriert wird.
Niemand will jetzt den Fokus auf die Jungs rücken und
dabei die Errungenschaften der Mädchen- und Frauenpolitik der letzten Jahrzehnte aufs Spiel setzen.
({2})
Wir wollen das eine tun, ohne das andere zu lassen.
({3})
Die althergebrachte Maxime: „Willst du die Mädchen
stärken, musst du die Jungs schwächen“, war falsch und
ist falsch. Sie wäre auch falsch, wenn die Jungs in diesem Satz zuerst genannt würden. Das möchte niemand.
({4})
Natürlich reicht zur Förderung der Jungs nicht ein
einzelner Boys’ Day.
({5})
Ich finde, Kollege Gehring hat es in seiner Pressemitteilung wunderbar formuliert: „Jeder Tag muss ein Boys’
Day sein.“ Das ist völlig richtig. Ich möchte Ihnen da
recht geben. Genau deswegen legen wir Ihnen ja heute
diesen Antrag vor. Uns allen ist doch bewusst, dass es
uns gelingen muss, mehr junge Männer von zum Beispiel einer Ausbildung im sozialen Bereich zu begeistern. Deswegen ist der Boys’ Day in das Projekt „Neue
Wege für Jungs“ eingebettet. Dieses Projekt versucht,
nicht nur an einem Tag, sondern an 365 Tagen im Jahr
genau dieses Ziel zu erreichen. Wir wollen erzieherische
und pflegerische Berufe attraktiver machen. Wir wollen
gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen, dass das Personal in der Berufs- und Ausbildungsberatung entsprechend geschult wird.
({6})
Wir fordern im vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, die bestehenden Programme in diesem Bereich
auszubauen. Weil ich jetzt immer wieder die Stichworte
Mindestlohn und Bezahlung gehört habe, sage ich: Das
allein löst das Problem nicht. Wenn Sie das Gehalt eines
jungen Tischlers mit dem eines jungen Erziehers oder
Kindergärtners vergleichen, dann werden Sie feststellen,
dass die Bezahlung nicht der Grund für die Berufswahl
dieser jungen Männer ist. Die Gründe liegen tiefer. Man
muss die Gründe angehen; das tun wir richtigerweise in
diesem Antrag.
({7})
Ich möchte mit einem Zitat von Norbert Blüm schließen, das meiner Meinung nach sehr gut auf die heutige
Debatte passt,
({8})
gerade wenn ich mir die Rednerinnen und Redner der
Opposition vor Augen führe. Norbert Blüm hat einmal
gesagt: „Der Kampf der Geschlechter ist so einfallslos
wie der Klassenkampf.“ Wo er recht hat, hat er recht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weinberg das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tatsächlich - Michaela Noll hat recht - ist der Verlauf
dieser Debatte interessant. Im Vorfeld habe ich mir die
Frage gestellt: Wie diskutieren wir wohl heute? Nehmen
wir dieses ernste gesellschaftliche Thema gemeinsam
mit der Opposition in den Fokus,
({0})
oder transportieren wir weiterhin alte, ideologisch geprägte Vorurteile in die Debatte? Letzteres haben einige
Redner der Opposition leider getan.
({1})
Ich sage ausdrücklich - Kollege Gehring, ich hatte schon
große Sorge, dass wir ihn zu sehr gelobt haben und er
den Raum verlässt -: Ich möchte mich bei den Grünen
für die Art und Weise, wie sie diese Diskussion geführt
haben, bedanken.
Der Hamburger Pädagoge Frank Beuster hat in seinem Buch Die Jungenkatastrophe Folgendes formuliert:
Viele Jungen sind in Not geraten. Grund ist eine
einseitige, unzureichende Prägung. … Auch fehlen
zu häufig die Väter und die Männer in der Erziehung von Jungen.
Wir haben diese Aussage politisch aufgegriffen und zur
Diskussion gestellt. Frau Golze kritisierte daraufhin, wir
würden nur auf das Trennende hinweisen. Das ist völlig
falsch. Wir greifen genau die Punkte auf, die in der gesellschaftlichen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft mehr und mehr Raum einnehmen. Heutzutage
sind es nämlich in erster Linie die Jungen, die unterstützt
und gefördert werden müssen.
Frau Marks, Sie fordern von uns, die besonderen Bedürfnisse der Jungen in der Bildungspolitik zu definieren. Frau Marks, besuchen Sie doch einmal die Schulen
in Ihrem Wahlkreis.
({2})
Kollege Feist und ich haben das getan. An meiner ehemaligen Schule, einer katholischen Grund-, Haupt- und
Realschule - sie befindet sich in einem sozialen Brennpunkt im Süden Hamburgs, in Hamburg-Wilhelmsburg -,
haben die Jungen bzw. die Männer von sich aus eine AG
gegründet. Sie wollen das Thema Jungenförderung mehr
in den Fokus rücken, weil sie festgestellt haben, dass es
besondere Bedürfnisse gibt.
({3})
Dies haben wir politisch aufgegriffen. Insofern können
Sie uns nicht vorwerfen, wir hätten keine besonderen
Bedürfnisse definiert.
({4})
Die Kollegen haben bereits klar zum Ausdruck gebracht: Die Defizite der Jungen gerade im Bildungsbereich zu betrachten, hat nichts damit zu tun, Jungen und
Mädchen in irgendeiner Weise gegeneinander auszuspielen. Wenn ich mir die Bildungsergebnisse ansehe, Frau
Golze, dann stelle ich fest: Die Bildungsergebnisse der
Jungen stagnieren nicht etwa, sondern die Jungen verlieren in nahezu allen Bereichen immer weiter an Boden.
Die letzte PISA-Studie kam zu dem Ergebnis, dass der
Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bei der Lesekompetenz mittlerweile 39 Punkte beträgt; das entspricht einem Schuljahr.
({5})
Darauf muss man als Bildungspolitiker und Familienpolitiker eingehen. Man muss sich überlegen, wie ein Programm ausgestaltet sein könnte, mit dem man die Lesekompetenz der Jungen stärkt. Das haben wir getan. Sie
aber werfen uns vor, wir würden einseitige Politik betreiben.
({6})
Zur Schulabbrecherquote und zum Thema Klassenwiederholungen haben die Kolleginnen und Kollegen
schon einiges gesagt.
Es gibt eine subjektive und eine objektive Wahrnehmung; Michaela Noll hat es formuliert. Wir wollen, wie
in unserem Antrag formuliert, wissenschaftlich untersuchen: Wo genau liegen bei der Bildung und Ausbildung
von Jungen und Mädchen die Schwerpunkte? Herr Rix,
wir wollen auch erfahren: Was macht ein Erzieher eigentlich anders als eine Erzieherin? Auch wir wollen,
dass der Anteil männlicher Erzieher steigt und nicht weiterhin nur 2,8 Prozent beträgt. Dies betrachten wir als
Forschungsauftrag. Wir müssen vermeiden, dass in dieser Republik möglicherweise ein neues gesellschaftliches Problem entsteht. Das Thema „Migration und soziMarcus Weinberg ({7})
aler Status“ - Sie haben es erwähnt - haben wir
Bildungspolitiker als bedeutsam erkannt. Entsprechende
Programme gibt es bereits. Wir wollen dafür sorgen,
dass sozialer Status und Migrationshintergrund in Zukunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheiden.
Darüber hinaus muss ein weiteres Problem, das in den
letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat,
in den Fokus gerückt werden: die Entwicklung der Jungen. Wenn Jungen in ihrer subjektiven Wahrnehmung zu
Bildungsverlierern werden und weniger Chancen auf
dem Ausbildungsmarkt haben, dann entwickeln sie sich
anders. Wenn sie zusätzlich einen Migrationshintergrund
haben oder ihr sozialer Status gering ist, dann entsteht in
weiten Teilen der Gesellschaft ein Problem.
({8})
Der Anlass dafür, dass wir uns mit diesem Thema befasst haben, war die Frage: Wie genau reagieren diese
Jungen? Die Antwort lautet: Sie reagieren auch mit Aggression und üben häusliche Gewalt aus. Genau dies ist
familienpolitisch das Desaster und die Urkatastrophe.
Darauf müssen wir so schnell wie möglich reagieren,
insbesondere im Bildungsbereich.
({9})
Worum geht es in unserem Antrag en détail? Der Kollege von den Grünen hat den einen oder anderen Aspekt
bereits erwähnt. Es geht um eine geschlechtersensible
Pädagogik als Querschnittsaufgabe an den Schulen. Unterrichtsinhalte sollen so gestaltet werden, dass sie sowohl Mädchen als auch Jungen gerechter werden. Das
heißt nicht, dass Pädagogen männliche Rollenbilder und
Pädagoginnen weibliche Rollenbilder übernehmen sollen, sondern das heißt, dass Männer und Frauen an den
Institutionen, in der Kita und in der Schule, Jungen und
Mädchen gemeinsam unterrichten sollen. Die Unterrichtsinhalte sollten so gestaltet sein, dass sie beiden,
Jungen und Mädchen, gerecht werden. Wir brauchen
Programme zur Stärkung der Lesekompetenz und müssen bei der Berufswahl dafür sorgen, dass sich auch Jungen - heute findet erstmalig der Boys’ Day statt - stärker
für Berufe interessieren, die sie bisher nicht angestrebt
haben. Nur so schaffen wir einen Ausgleich.
Das Programm „MEHR Männer in Kitas“ mit der
Zielmarke 20 Prozent ist bereits ein erster Aufschlag.
Frau Marks hat gesagt, sie sei darüber erstaunt, dass uns
erst jetzt klar werde, dass beide Geschlechter in den
Blick zu nehmen seien.
({10})
Was haben Sie eigentlich bis 2005 gemacht?
({11})
Wo haben Sie Ihre Akzente gesetzt? Ich kann nicht erkennen, dass die SPD damals in der Regierungsverantwortung irgendwie die Thematik der Jungen aufgenommen hätte. Sie haben sich richtigerweise zu den
Mädchen geäußert. Das wird von uns nicht als negativ
oder defizitär angesehen. Vielmehr nehmen wir jetzt die
jungen Männer bzw. die Jungen mit in den Fokus.
Zum Schluss will ich Frank Beuster zitieren:
Es liegt nun in der Hand von uns Männern, Vätern,
Lebensgefährten, ob wir diese Aufgabe - Vorbild
zu sein - dem Fernsehen, Computerspielen und der
Straße überlassen.
Wir als Politik, als Regierung haben das aufgenommen.
Sie als Opposition können sich gerne anschließen. Wir
würden uns freuen, wenn wir in den Ausschüssen konstruktiv und kritisch darüber diskutierten.
Herzlichen Dank.
({12})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Lehrieder für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Während wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages über unseren Koalitionsantrag debattieren, sind bundesweit - um 18.30 Uhr werden hoffentlich die ersten schon Feierabend haben - zahlreiche
Schüler seit heute früh quasi bei der praktischen Umsetzung. Denn am heutigen Boys’ Day - dem ersten offiziellen Zukunftstag für Jungen in unserem Land - erhalten
bundesweit zahlreiche Schüler der Klassen 5 bis 10 - Frau
Ministerin Schröder hat ausgeführt, dass 35 000 Jungen
die Gelegenheit wahrnehmen - Einblicke in interessante
und chancenreiche Dienstleistungsberufe, besonders in
den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege. So bekommen sie erste Eindrücke von Berufsbereichen, in denen bislang nur wenige Männer arbeiten. Herr Rix hat
ausgeführt, dass er zu der sehr kleinen Minderheit von
2,4 Prozent Erziehern gehört, die im Kindergarten das
entsprechende Rollenbild tradieren. Bestenfalls lernen
die Schüler bereits am heutigen Tag ihre potenziellen
Arbeitgeber kennen. Ich glaube, das Programm ist wichtig. Am 1. Juli fällt die Wehrpflicht weg. Viele junge
Männer mussten in den letzten Jahren, bedingt durch den
Zivildienst, in Berufe „hineinschnuppern“, die sie ansonsten vielleicht nicht aus freien Stücken gewählt hätten. Deshalb ist es, Frau Ministerin, ganz wichtig, dass
wir in den nächsten Monaten auch die Freiwilligendienste im Auge behalten. Wir müssen aufpassen, dass
auch in Zukunft das Kennenlernen von bestimmten Berufsbildern ermöglicht wird, was früher, als es die Wehrpflicht noch gab, zwangsläufig geschah.
Schon im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, eine
moderne Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln und
bereits bestehende Projekte weiter zu unterstützen. Die
Einführung des Boys’ Day am heutigen Tag ist ein weiterer richtiger und wichtiger Schritt hin zur Verbesserung
der Zukunftsperspektiven für Jungen. Ich hätte es, Frau
Kollegin Marks, begrüßt, wenn Sie gesagt hätten: Jawohl, hier seid ihr auf dem richtigen Weg. Wir haben das
früher vielleicht noch nicht so dramatisch gesehen, aber
wir sind auf einem guten Weg. Wir begleiten euch kon12044
struktiv, aber auch kritisch, um für mehr Verständnis zu
sorgen.
Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf das
Projekt „Neue Wege für Jungs“ und die Initiative
„MEHR Männer in Kitas“ mit dem gleichstellungspolitischen Ziel, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kindertagesstätten deutlich zu erhöhen, verweisen. Jahrzehntelang galten nur Mädchen und Frauen als besonders
förderungsbedürftig. Gleichstellungspolitische Ansätze
für Jungen und Männer fehlten weitestgehend. Nun rücken zusätzlich die Jungen in den Fokus der Gleichstellungspolitik, und das ist gut so.
({0})
Von einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik können
wir alle nur profitieren. Die Vorredner haben in Bezug
auf viele Bereiche bereits darauf hingewiesen. Besonders im pädagogischen Bereich sowie im Dienstleistungssektor bei Gesundheit und Pflege zeichnen sich ein
Fachkräftemangel und auch ein besonderer gesellschaftlicher Bedarf ab, der sich durch die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren
noch deutlich verstärken wird.
Wir wollen erreichen, dass die Männer von morgen
durch eine moderne Gleichstellungspolitik vor allem in
bildungs- und berufspolitischer Hinsicht gestärkt werden. Jungen wie Mädchen, Männer wie Frauen sollen in
unserer Gesellschaft in allen Lebensbereichen die gleichen Chancen und Gestaltungsfreiheiten haben. Ich
glaube, es ist gut, wenn wir an dieser Sache hier gemeinsam konstruktiv arbeiten und keine Feindbilder aufbauen
bzw. Gegenposition darstellen, die die Sache nicht verdient.
Ich finde es auch gut, dass Kollege Gehrig gesagt hat:
Ein Boys’ Day im Jahr ist eigentlich zu wenig; wir
brauchten 365 Boys’ Days im Jahr. Natürlich kann ich
das nur unterstützen und sage: Jawohl, den Fokus, den
wir heute hier ganz bewusst auf dieses Thema richten,
müssen wir das ganze Jahr über beibehalten.
Dazu brauchen wir zum einen die Weiterentwicklung
von Programmen und Maßnahmen der Gleichstellungspolitik, um einseitige männliche Rollenzuschreibungen
aufzubrechen. Zum anderen brauchen wir die Akzeptanz
für die Notwendigkeit dieser Fortentwicklung und die
gemeinsame Überwindung von Rollenstereotypen in unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich bei den
Geschlechterrollen von Jungen und Männern einiges getan. Werte haben sich verschoben. Familie, Beziehung
und Freundschaft sind wichtiger geworden. Das Geschlechterverhältnis wird neu ausbalanciert.
Ein Beispiel, das ich bewusst zum Schluss nenne,
sind die von mehreren Vorrednern bereits zitierten Vätermonate, die in den letzten Jahren dazu geführt haben,
dass sich deutschlandweit immerhin etwa 24 Prozent der
jungen Väter - Tendenz steigend - durch eine Auszeit
von ihrem beruflichen Leben zu ihrer Erziehungsverantwortung bekannt haben. In Bayern - darauf bin ich ganz
besonders stolz - sind es sogar über 30 Prozent.
({1})
- Liebe Frau Gruß, hier dürfen Sie laut klatschen. - Von
Bayern lernen, heißt Siegen lernen. Machen Sie weiter in
dieser Richtung!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5494 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf ({0}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Potenziale des Alters und des Alterns stärken Die Teilhabe der älteren Generation durch
bürgerschaftliches Engagement und Bildung
fördern
- Drucksache 17/2145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Crone für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren!
({0})
Ist es nicht ganz wunderbar? Das, was sich die Menschen schon immer gewünscht haben, ist eingetreten:
Unsere Lebensspanne wird immer länger. Ich finde,
diese dazugewonnene Zeit ist ein ganz schönes Geschenk; denn wir sind immer besser gebildet, gesünder
und fitter. Kurz: Wir haben mehr vom Leben. Gleichzeitig kann man unsere Lebensläufe nicht mehr uniformiert
in drei Teile einteilen: Schule/Ausbildung/Studium, Arbeitszeit und Ruhestand. Nein, viele Lebensläufe sind
von Brüchen, Umwegen, Veränderungen und Neubeginn
gekennzeichnet. Keine Arbeitsphase kommt mehr ohne
Weiterbildung aus. Der Begriff „lebenslanges Lernen“
ist damit zum Teil schon mit Leben gefüllt. Nun muss er
sich auch noch deutlicher in der verlängerten Lebensphase verfestigen.
Werfen wir einen Blick in den Sechsten Altenbericht,
der sich mit dem Thema Altersbilder beschäftigt. Die
Älteren existieren überhaupt nicht. Diese Altersgruppe
ist genauso vielfältig wie alle anderen Bevölkerungsgruppen - mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von
Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leider
wird immer viel zu sehr darüber gesprochen, was Ältere
nicht mehr können und welche Macken sie haben. Diese
Diskriminierung muss endlich aufhören.
({1})
Stattdessen müssen wir die Potenziale und Stärken viel
stärker hervorheben. Wir brauchen eine breite politische
und gesellschaftliche Debatte darüber, wie ältere Mitbürger in der Arbeitswelt behandelt werden: ob sie gezielt
weitergebildet werden, ob ihre Erfahrung geschätzt wird
und ob die Arbeitsbedingungen ihnen gerecht werden.
Auch muss darüber gesprochen werden, inwiefern die
Bildungspolitik schon auf lebenslanges Lernen ausgerichtet ist und ob das Gesundheitswesen entsprechend
vorbereitet ist.
Darum fordere ich die Bundesregierung auf, die Anregungen der Wissenschaftler aus dem Fünften und
Sechsten Altenbericht in konkrete politische Programmatik umzusetzen. Familienministerin Schröder hat
nicht nur die Jungenpolitik, sondern auch die Seniorenpolitik zu einem ihrer Kernthemen ausgerufen. - Auch
wenn sie gerade nicht anwesend ist, frage ich sie: Wann
beschäftigen wir uns in diesem Parlament mit dem
Sechsten Altenbericht? Eine Debatte darüber stand zwar
ursprünglich auf der heutigen Tagesordnung, ist aber
kurzfristig wieder abgesetzt worden.
({2})
Ergreifen Sie bitte endlich Initiativen, um die Potenziale
des Alters ausreichend zu fördern und zu stärken! Zwar
folgt ein Modellprojekt auf das nächste - ich erinnere
nur an den Kampf um die Mehrgenerationenhäuser -,
das ersetzt aber keinen langfristigen Aufbau und keine
langfristige Förderung von sinnvoller Infrastruktur, und
zwar gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Hier etwas und dort etwas: Das reicht nicht aus, um das Große
und Ganze zu gestalten.
In einer Gesellschaft mit einem größer werdenden
Anteil älterer Menschen muss die Politik, müssen wir
gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft die Teilhabemöglichkeiten auch für diese Gruppe sicherstellen.
({3})
Das ist das Anliegen unseres Antrags. Dabei geht es uns,
der SPD-Bundestagsfraktion, vor allem auch um die Bedürfnisse von sozial Schwächeren, Geringqualifizierten,
Migranten, Migrantinnen und Menschen mit Behinderung. Es geht uns auch um die Älteren in ländlichen Regionen.
Ziel ist eine neue Sicht des Alters in der Arbeitswelt.
Dazu gehört das Recht auf Bildung für alle Lebensalter.
Jeder, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, egal
welchen Alters, hat das Recht auf Bildung.
({4})
Lernen ist für die ältere Generation mehr als nur Wissenserwerb. Es ist vor allem soziale Teilhabe und bedeutet eine enorme Steigerung der Lebensqualität. Selbst im
hohen Alter hat Lernen noch positive Auswirkungen auf
Leib, Seele und Selbstbestimmtheit, und es ist für uns
deshalb auch Gesundheitsförderung und Prävention.
Wenn ich mich hier umschaue und die älteren Kollegen
und Kolleginnen sehe, kann ich nur sagen: Das Parlament ist fast ein Jungbrunnen.
({5})
Letztendlich motiviert Lernen auch zu bürgerschaftlichem Engagement. Die älteren Generationen prägen die
Gesellschaft - genauso wie die jüngeren - mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sie haben
mehr Zeit und wollen auch mehr Verantwortung übernehmen. Neben den Fachkräften leisten vor allem ältere
Menschen einen wertvollen Beitrag in Hospizen, Pflegeheimen, aber auch für das sportliche und kulturelle Leben in den Kommunen. Davon profitieren wir alle.
Wir, meine Herren und Damen, müssen gute Rahmenbedingungen für flexible Angebote schaffen. Allzu starre
Regelungen und Verpflichtungen allerdings schrecken
ab. Besser ist ein großes Spektrum möglichst passgenauer Vereinbarungen. Ein Signal ist mir dabei sehr
wichtig: Dieses Engagement darf kein billiger Ersatz für
Leistungen unseres Sozialstaates sein.
({6})
Es ist ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
({7})
Der Kollege Grübel hat für die Unionsfraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Analyse der demografischen Entwicklung in
Deutschland sind wir uns einig. Die Gesellschaft wird
älter. Die Lebenserwartung steigt. Gleichzeitig nimmt
die Zahl der Jüngeren ab. In Zahlen: In den Zeiten der
geburtenstarken Jahrgänge gab es rund 1,4 Millionen
Geburten im Jahr. Jetzt sind es weniger als 700 000. Das
entspricht einem Verhältnis von zwei zu eins. Das heißt,
in wenigen Jahren gehen zwei Menschen in Ruhestand,
während einer aus der Ausbildung in das Erwerbsleben
nachrückt. Das ist eine Herausforderung für die Gesellschaft, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme,
aber auch eine Chance. Im Alter liegen nämlich auch
große Potenziale.
Wir müssen realistische und differenzierte Altersbilder entwickeln. Wir benötigen Altersbilder, die die Menschen motivieren, Altersbilder, die Alter als Chance begreifen. Alt sein heißt heute nicht in erster Linie, hilfsoder pflegebedürftig zu sein; nur 5 Prozent der 70- bis
75-Jährigen sind auf fremde Hilfe angewiesen und pflegebedürftig. Die heutigen Seniorinnen und Senioren sind
im Durchschnitt besser ausgebildet und vitaler als frühere Generationen. Auch die Werbung greift das auf:
„Schönheit kennt kein Alter“, sagt die Werbung für ein
Körperpflegemittel. Ich möchte ergänzen: Kreativität
kennt kein Alter, Engagement kennt kein Alter, Bildung
kennt kein Alter.
Nun zum vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion. Sie
haben einen ungewöhnlichen Weg gewählt. Sie haben
Mitte Juni erst einmal einen Antrag geschrieben, in dem
Sie ganz viele konkrete Forderungen erhoben haben.
Wenige Tage später richten Sie eine Kleine Anfrage an
die Bundesregierung und fragen nach all dem, wozu Sie
vorher Position bezogen haben. Die Antworten konnten
aber nicht in Ihren Antrag einfließen. Platter gesagt: Sie
erklären zuerst den Weg, um dann nach dem richtigen
Weg zu fragen. Umgekehrt wäre es wohl sinnvoller gewesen. Dann wären manche Punkte in dem Antrag nicht
mehr aufgeführt worden.
Die Erkenntnisse und Empfehlungen des fünften
Altenberichts haben Eingang in die Arbeit der verschiedenen Ressorts der Bundesregierung gefunden. Eine
Vielzahl von Programmen insbesondere aus dem Bundesfamilienministerium fördert zielgruppengenau das
Engagement der älteren Menschen und trägt dazu bei,
dass die so vielfältig vorhandenen Potenziale der Älteren
genutzt werden. Programme wie „Alter schafft Neues Aktiv im Alter“, die Freiwilligendienste aller Generationen und die Mehrgenerationenhäuser fördern das Engagement gerade älterer Menschen. Wir haben jetzt eine
Lösung gefunden, wie wir die Förderung der Mehrgenerationenhäuser für die Jahre 2012, 2013 und 2014 ermöglichen können. Die Antragstellung ist ab Sommer
möglich.
Die Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ greift die Erfahrungen und Anliegen der über 50-Jährigen auf und
macht gleichzeitig Unternehmen auf die ökonomischen
Chancen der demografischen Entwicklung aufmerksam.
Die Initiative „Internet erfahren“ will die Nutzung neuer
Medien durch Ältere gezielt fördern. Auch dafür gibt es
Programme in den Mehrgenerationenhäusern. Der „Freiwilligendienst aller Generationen“ und sein Vorläufer,
der „Generationsübergreifende Freiwilligendienst“, sind
beides Modellprogramme mit großem Erfolg. Die Evaluation hat ergeben, dass 64 Prozent der Freiwilligen älter als 50 Jahre sind.
In dem Antrag gibt es Punkte, bei denen wir nicht
weit auseinander sind, teilweise sogar eng zusammen,
zum Beispiel bei der Überprüfung der Altersgrenzen.
Diesen Punkt haben wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten. Es gibt auch Punkte im Antrag - zum Beispiel
eine weitere EU-Antidiskriminierungsrichtlinie -, die
wir anders bewerten. Wir hatten über das Thema im
Ausschuss und im Plenum mehrfach diskutiert; deshalb
brauche ich das nicht näher auszuführen. Im Bereich der
Forschung hat die Antidiskriminierungsstelle letztes Jahr
eine Expertise zum Thema „Diskriminierung im Alter“
vorgelegt. Eine Konsequenz daraus ist, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nächstes Jahr den
Schwerpunkt auf Altersdiskriminierung legt. Hier sind
wir also schon sehr aktiv.
Als Fortentwicklung der Erkenntnisse aus dem fünften Altenbericht hat das Familienministerium den sechsten Altenbericht „Altersbilder in der Gesellschaft“ in
Auftrag gegeben. Der Bericht und auch die Stellungnahme der Bundesregierung liegen vor. Frau Crone, wir
werden noch vor der Sommerpause den sechsten Altenbericht hier besprechen. Ihr Antrag stützt sich aber im
Wesentlichen auf den fünften Altenbericht. Der sechste
lag damals noch nicht vor.
Als einen wichtigen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag
nicht ansprechen konnten, weil das damals nicht bekannt
war, möchte ich den Bundesfreiwilligendienst erwähnen.
Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst bieten wir den
über 27-Jährigen und damit auch der älteren Generation
die Möglichkeit, sich zu engagieren und ihre Potenziale
einzubringen. Dieser Dienst steht Männern und Frauen
offen. Er dauert in der Regel 12 Monate, mindestens 6
und höchstens 18 Monate, wenn er nicht von einer besonderen pädagogischen Maßnahme begleitet wird. Für
die über 27-Jährigen und damit für die Älteren sind
20 Wochenstunden vorgesehen. Zu der 20-Stunden-Regelung haben wir in der Anhörung zum Bundesfreiwilligendienstgesetz die Sachverständigen befragt. Alle
Sachverständigen haben einvernehmlich gesagt, dass sie
die 20-Stunden-Regelung für richtig halten, weil dadurch eine Verstaatlichung des Ehrenamts verhindert
wird.
Mitte Mai startet die Informationskampagne mit dem
Titel „Zeit, das Richtige zu tun - Nichts erfüllt mehr, als
gebraucht zu werden“. Eine der vielfältigen Maßnahmen
wird sein, dass ein Bus der Linie 100, die auch hier am
Reichstagsgebäude vorbeiführt, mit entsprechenden Informationen versehen wird. Ich hoffe, dass dieses Angebot viele Interessenten auch aus dem Kreis der Älteren
findet. Sie sehen also: Es geschieht schon viel, und wir
wollen noch mehr anpacken. Es wäre gut, wenn wir hier
an einem Strang ziehen würden.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir debattieren heute über den Antrag der SPD und nicht über den Altersbericht der Bundesregierung. Das finde ich schade, denn da wäre mehr
drin.
({0})
Der Titel des Antrags lautet fast genauso wie der Bericht: „Potenziale des Alters und Alterns stärken - Die
Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches
Engagement und Bildung fördern“. Leider schreiben Sie
nicht hinein, dass eine Teilhabe auch durch armutsfeste
Renten gefördert werden kann. Die besondere Benachteiligung von Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt wird auch in Ihrer Begründung nicht angesprochen. Frauen und Migranten
haben nicht 47 Jahre in Vollzeit gearbeitet, um eine
Rente ohne Abschläge mit 67 Jahren zu erhalten. Sie
bleiben in Minijobs und Teilzeitstellen hängen; sie bleiben im Alter arm.
Was bieten Sie diesen Menschen an? Als ersten Punkt
fordern Sie, meine Damen und Herren von der SPD, den
Freiwilligendienst aller Generationen. Die Benachteiligten auf dem Arbeitsmarkt, die keine eigene existenzsichernde Rente aufbauen können, sind aber genau Ihre
Zielgruppe - die Freiwilligen aller Generationen -, und
sie werden auch dazu gezwungen sein zu arbeiten, wenn
sie ihre Teilrente, ihr Hartz IV oder ihre Grundsicherung
aufbessern wollen. Diesen Freiwilligendienst von 16 bis
70 Jahren braucht kein Mensch.
({1})
Die Jugendlichen benötigen stattdessen Ausbildungsplätze. 80 Prozent der Menschen in Deutschland wollen
nicht bis 67 arbeiten, und sie wollen auch nicht bis zum
Alter von 70 Jahren tätig sein. Hören Sie auf die Gewerkschaften, und verringern Sie das Renteneintrittsalter
wieder! Damit schaffen Sie Arbeitsplätze, auch für Jugendliche.
({2})
Sie haben in der letzten Woche im Bundestag gemeinsam mit der Linken und den Grünen gegen den Bundesfreiwilligendienst gestimmt. Warum fordern Sie jetzt den
Freiwilligendienst aller Generationen, wo es noch weniger Geld als Belohnung - zwischen 50 und 150 Euro gibt? Sind Ihnen denn die älteren Menschen so wenig
wert? Wo bleibt das Rentenalter als Lebensabschnitt, der
selbstbestimmt und erholsam sein kann, frei vom Zwang
der Erwerbstätigkeit?
({3})
Engagement bedeutet bei diesen Parteien, nicht für sich
selbst, sondern für die Gesellschaft, für andere tätig zu
sein, und das auch noch mit einem Dienst. Die Älteren
fordern das ein, behaupten Sie von der SPD. Mir sind
keine Briefe der Gewerkschaften und der Seniorenverbände bekannt, die dies fordern. Die Unternehmen und
die Regierungen fordern das, weil sie so mit staatlicher
Subvention einen neuen Niedriglohnbereich - Freiwilligendienst aller Generationen - einführen. Kranke, erschöpfte und ältere Menschen und Menschen mit Behinderung werden in Ihrem Antrag nicht bedacht. Wer aber
länger fit ist, könnte sich Urlaubswünsche erfüllen und
Hobbys nachgehen. Das ist selbstbestimmt, aber das ist
nicht vorgesehen. Wenn ein Liedermacher wie Konstantin Wecker Konzerte gegen rechts organisiert, so habe
ich nichts dagegen. Er soll singen, solange er möchte. Er
kann das auch; denn er ist finanziell abgesichert. Er kann
sich frei entscheiden.
Setzen Sie sich mit uns für den gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro ein, damit die Beschäftigten eine
Rente aufbauen können.
({4})
Dann können sie sich entscheiden. Der Freiwilligendienst aller Generationen orientiert sich an Mehrgenerationenhäusern, die zu Pflegestützpunkten werden sollen.
Alle Wege der Freiwilligen führen in die Pflege; denn
35 000 Zivis wollen ersetzt werden.
Mit Ihrer Forderung nach lebenslangem Lernen und
Überprüfung der Altersgrenzen beim bürgerschaftlichen
Engagement unterstützt auch die SPD die Altersbilder
im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung. Dort
geht es um eine Überprüfung der tariflichen Schutzvorschriften für Ältere. Es geht um den Abbau des Kündigungsschutzes. Es geht darum, die noch gewerkschaftlichen Vorstellungen von einem Anspruch auf Rente mit 67
zu beseitigen.
Dem Sechsten Altenbericht sind zwei Varianten zu
entnehmen: Erste Variante: Das Rentenalter wird, ohne
eine Alterszahl zu nennen, erst mit Ende der individuellen Leistungsfähigkeit erreicht. Zweite Variante: Das
Rentenalter wird erreicht, wenn das 67. Lebensjahr vollendet ist. Dann wird die individuelle Leistungsfähigkeit
überprüft. Warum sollen die Rentnerinnen und Rentner
als niedrig Entlohnte bis 70 tätig sein und damit Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst besetzen? Sie leisten doch
bereits etwas für die staatliche Gemeinschaft, Stichworte:
Einkommensteuer, Medikamentenzuzahlung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 19 Prozent Mehrwertsteuer und eventuell Hundesteuer. Das ist nicht wenig.
Fordern Sie mit uns Arbeitsplätze im öffentlichen
Dienst. Statt eine Teilhabe durch ausreichendes Einkommen und Rente zu fordern, diskriminieren Sie die Älteren durch Ihr Angebot, sich im Freiwilligendienst aller
Generationen zu verpflichten, und das - über die gesetzliche Altersgrenze hinaus - bis 70 Jahre. Damit wenden
Sie sich gegen die Beschäftigten, die auf ein gesetzliches
Rentenalter vertrauen. Wir hingegen sind für eine armutsfeste Rente und einen zwanglosen Lebensabend.
Danke schön.
({5})
Nächste Rednerin ist Nicole Bracht-Bendt für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere Gesellschaft wird älter; das haben hier
heute schon mehrere festgestellt. Seniorenpolitik ist
längst kein Randthema mehr. Die demografische Entwicklung betrifft uns alle. 2050 wird jeder dritte Bundesbürger älter als 60 Jahre sein. Die Veränderung der Altersstrukturen wurde lange von vielen lediglich als
Belastung unserer Sozialsysteme dargestellt. Das ist inzwischen erfreulicherweise anders geworden.
Wir sind uns wohl alle darin einig, dass Menschen
nicht aufs Abstellgleis geführt werden dürfen, nur weil
sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Die meisten Älteren wollen sich nicht von heute auf morgen aus dem
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Sie wollen mit ihrer Bildung und ihrem Wissen
aktiv bleiben. Das zu ermöglichen, ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Von der geistigen Fitness profitieren
nicht nur die Senioren, sondern alle.
Die FDP-Fraktion setzt sich seit langem für ein Ende
starrer Altersgrenzen ein. Deshalb unterstütze ich Ihre
Forderung, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion, Potenziale des Alters und des Alterns zu stärken. Die Teilhabe älterer Generationen - sei es durch
Bildung oder durch bürgerschaftliches Engagement - ist
auch mein Ziel. Im ersten Teil Ihres Antrags schildern
Sie treffend die Situation. Sie haben recht: Diesen demografischen Prozess können wir nur gemeinsam mit den
Älteren gestalten. Nie waren Senioren so selbstständig
und führten individuell ihr Leben, wie sie es wollten.
Ältere Menschen gestalten und prägen die Gesellschaft im Beruf wie in ihrer privaten Zeit. Wir wären
dumm, wenn wir auf diese wertvollen Potenziale verzichten würden. Bildung ist für Menschen ein Leben
lang die Voraussetzung, um in der sich wandelnden Arbeitswelt Schritt zu halten. Wer fordert, muss fördern.
Wer sich mit 50, 60 oder 70 beruflich engagiert, verdient
Anerkennung und Dank und muss, wie auch alle jüngeren Arbeitnehmer, motiviert und weitergebildet werden.
({0})
Lernen für das Alter umfasst die gesamte Lebensspanne.
Dies alles sind Forderungen, die wir, die FDP-Fraktion,
mittragen.
Allerdings ist der Forderungskatalog im SPD-Antrag
überzogen. Vieles darin ist ohnehin überholt oder nicht
finanzierbar, etwa der Ausbau der generationenübergreifenden Freiwilligendienste. Wir haben gerade den Bundesfreiwilligendienst auf den Weg gebracht; er ist generationenübergreifend. Zum ersten Mal werden gerade
Ältere ermuntert, sich einzubringen. Ich wünsche mir
zum Beispiel, dass ein Tischler in die Kita geht und dort
Jungen und Mädchen zeigt, was man alles machen kann.
({1})
Eine Rentnerin oder ein Rentner hat sogar die Möglichkeit, Geld dazuzuverdienen. Ich verweise auch auf den
Ausbau der Mehrgenerationenhäuser. Die Ministerin hat
erst im Dezember das Pilotprojekt neu ausgeschrieben.
Sowohl etablierte Einrichtungen als auch ganz neue Projekte wird der Bund auch künftig tragen.
Im Antrag heißt es weiter: Altersgrenzen sollen beim
bürgerschaftlichen Engagement überprüft und abgebaut
werden. - Daran arbeiten wir doch ebenfalls. Dies ist mir
ein wichtiges Anliegen.
Außerdem fordern Sie die Bundesregierung auf, Altersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen. Was glauben
Sie, was die Antidiskriminierungsstelle des Bundes tut?
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle berichtete
im Familienausschuss auf meine Frage hin, dass es sich
in zwei von drei Beschwerdefällen um Altersdiskriminierung handele, zum Beispiel dass Ältere von Weiterbildungsmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt keinen Grund dafür, dass in Betrieben das Recht auf
Weiterbildung an bestimmte Altersgrenzen gekoppelt
sein soll. Die Antidiskriminierungsstelle legt hier bereits
einen klaren Schwerpunkt.
({2})
Ansonsten enthält der Antrag zusätzliche, kostenintensive Programme und Projekte, so wie wir es von der
SPD gewohnt sind - ein Wohlfühlprogramm aus Steuermitteln finanziert.
({3})
In einer Zeit, in der wir Politiker alles tun sollten, um unseren Kindern und Großkindern keine gigantischen
Schuldenberge zu hinterlassen - auf denen können sie
nicht spielen -, tun Sie so, als könnten wir Wohltaten mit
dem Füllhorn ausschütten.
Ich möchte daran erinnern, dass es schon eine ganze
Reihe von guten Maßnahmen gibt. Lebenslanges Lernen
wird bereits in vielen Projekten umgesetzt. Ob bei den
Landfrauen, dem Kolpingwerk oder den Kommunen das Weiterbildungsangebot für Senioren ist mittlerweile
eindrucksvoll. Viele Angebote sind sogar kostenlos. Ob
es ein Computerkurs ist, ein Fremdsprachenkurs oder ein
Seniorenstudiengang an der Universität - alles das stärkt
die Kompetenz für ein eigen- und mitverantwortliches
Leben.
({4})
Der Sechste Altenbericht enthält wichtige Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für die Politik. Diese
umzusetzen, muss unser vorrangiges Ziel sein. Die Bundesregierung hat mit der Initiative „Aktiv im Alter“ bereits klar Impulse zur Stärkung älterer Menschen gesetzt.
Es werden Kommunen dabei unterstützt, Strukturen aufoder auszubauen, die eine stärkere Partizipation älterer
Menschen ermöglichen. In der Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ unter Federführung des Wirtschaftsministeriums werden Senioren-, Wirtschafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbunden mit dem Ziel, die
Lebensqualität von älteren Menschen zu erhöhen und
gleichzeitig das Wirtschaftswachstum zu stärken.
Die FDP-Fraktion unterstützt das wichtige Ziel, Potenziale des Alters zu stärken. Die Koalition hat bereits
wichtige, wegweisende Entscheidungen dazu gefällt.
({5})
Wir wollen eine Seniorenpolitik, die ältere Menschen als
selbstbewusste Personen wahrnimmt und mit allen
Rechten und Pflichten einbindet. Dazu braucht es aber
keine utopischen Programme, wie von der SPD gewünscht, die nicht finanziert werden können und an der
Realität vorbeigehen. Deshalb werden wir den Antrag
natürlich ablehnen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gespräche und Debatten über den demografischen
Wandel, über seine Herausforderungen und seine Folgen
sind mittlerweile ein Dauerbrenner. Jeder weiß, dass dieses Feuer seit einiger Zeit munter vor sich hinlodert.
Der Anteil der Älteren in unserer Bevölkerung steigt.
Das ist erfreulich; denn auch unsere Lebenserwartung
steigt. Dazu tragen der medizinische Fortschritt genauso
wie die besseren Lebensbedingungen bei. Das bedeutet
für uns aber auch ganz klar: Wir haben einen politischen
Handlungsauftrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit Ihrem
Antrag machen Sie deutlich, dass Ihnen der Handlungsbedarf durchaus bewusst ist. Ich möchte hier den Blick
auf die Potenziale Älterer noch etwas weiten. Das Engagement der Älteren schiebt sich immer weiter über den
Beginn des Ruhestandes hinaus. Eine Grenze, sich zu
engagieren, ist oft dann erreicht, wenn es die eigene Gesundheit nicht mehr zulässt. Hier sehen wir deutlich,
dass außer Engagement und Bildung auch andere Bereiche gefragt sind, damit sich die Potenziale Älterer entfalten können.
Altenpolitik ist ein Querschnittsthema. Es wird also
höchste Zeit, dass wir es in den Debatten verankern - im
Sinne einer bewussten Generationenpolitik.
({0})
Tun wir dies nicht, wird die Herausforderung des demografischen Wandels schnell zur Überforderung für alle,
und aus dem Dauerbrenner wird dann ganz schnell ein
Flächenbrand. Zukünftig müssen alle Politikfelder auf
ihre generationengerechte Ausgestaltung und die dort
vorherrschenden Altersbilder und diskriminierenden Regelungen überprüft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir sind gefragt in unserer persönlichen Einstellung gegenüber dem
Alter, in unserer Rolle als Abgeordnete, wie wir uns öffentlich äußern. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind
genauso gefragt wie Familienangehörige.
({1})
Es gilt, ein realistisches Bild des Alters zu entwerfen.
Es gibt nicht die Alten; da haben Sie recht, Frau
Crone. Das dritte und vierte Lebensalter sind von so großer Unterschiedlichkeit geprägt wie kaum ein anderes
Lebensalter zuvor. Deshalb muss auch unser Altersbild
facettenreich sein.
Es gibt eben nicht nur die fitten Älteren, es gibt auch
diejenigen, die einen weitreichenden Unterstützungsund Pflegebedarf haben. Auch diese müssen wir im
Blick haben. Das bedeutet aber auch, dass wir umfassendere Strategien brauchen, um die Potenziale und Ressourcen dieses Personenkreises zu fördern.
Die Nationale Engagementstrategie der Bundesregierung sollte ein Grundstein für die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements werden. Die diesbezüglichen
Erwartungen waren immens groß, und eine Strategie
verspricht ja auch Großes. Doch was dabei herausgekommen ist, spottet wirklich jeder Beschreibung. Von
strategischem Handeln auf der Bundesebene ist nichts zu
erkennen. Stattdessen folgte eine Inventurliste von Maßnahmen und Modellprojekten.
({2})
Kein Wort wird darauf verwendet, wie es gelingen
soll, die wichtige Frage der Förderung zwischen Bund,
Land und Kommune zu diskutieren und zu klären, und
kein Wort darüber, wie man sich die eigene Verantwortung zur Infrastruktursicherung vorstellt. Als Trostpflaster stellt man dagegen einen neuen Freiwilligendienst
vor. Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre einzige Antwort sein! Sie wissen doch sicherlich, dass dabei Trägerprinzipien verletzt werden. Es werden Doppelstrukturen
aufgebaut, und das Wissen Älterer über Engagementförderung wird missachtet.
Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der
Linken geantwortet, dass bürgerschaftliches Engagement ein „Motor für die Entwicklung sozial innovativer
Lösungen“ sei und die „Entwicklungsfähigkeit unserer
Gesellschaft“ stärke. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Motor benötigt auch Energie. Die Nationale
Engagementstrategie taugt dafür nicht.
({3})
Diese Strategie lässt den Motor stottern. Ich befürchte,
am Ende würgt sie den Motor sogar noch ab. Dadurch
verschwendet man die Potenziale Älterer, anstatt sie im
Sinne aller Generationen zu fördern und zu nutzen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Noch nie sind so viele Menschen so alt geworden wie heute,
({0})
und noch nie waren sie dabei so gesund und so gut ausgebildet. Unsere Volkswirtschaft und unsere Gesellschaft insgesamt brauchen ihr Wissen und ihre Erfahrung. Ich habe gerade festgestellt, dass darüber sehr
großer Konsens in diesem Hause herrscht.
Die ältere Generation hat wachsende Bedeutung für
das Wirtschafts- und Arbeitsleben, den Bildungsbereich,
die Integrationspolitik und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Es geht um soziale Teilhabe, um den Austausch von Erfahrungen und um ein
breites bürgerschaftliches Engagement in einer lebendigen Zivilgesellschaft. Damit die älter werdende Gesellschaft zu einer Chance für jeden Einzelnen und für unser
Land wird, hat die Bundesregierung eine Fülle von Initiativen ins Leben gerufen, liebe Frau Scharfenberg. Ich
erwähne beispielhaft die Mehrgenerationenhäuser, eine
große Erfolgsgeschichte, die wir deshalb auch fortschreiben. Ich erwähne die Freiwilligendienste aller Generationen. Sie sind ausdrücklich für jedes Alter offen
und fördern das Miteinander in unserer Gesellschaft.
Beispielhaft sind auch die bundesweit 46 Leuchtturmprojekte sowie die ebenfalls geförderten kommunalen
Onlinemarktplätze, über die Interessenten ein passendes
Angebot in ihrer Region finden können.
Ich erwähne ferner die Initiative der Bundesregierung
„Alter schafft Neues“, die insbesondere der älteren Generation vielfältige Wege aufzeigt, sich nach eigener
Wahl für das Gemeinwohl zu engagieren. Dazu gehört
auch das Programm „Aktiv im Alter“, das vor allem auf
die Kommunen zielt. Hier geht es darum, Nachbarschaftshilfen aufzubauen und altersgerechtes Wohnen zu
fördern. Auf diese Weise können die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger unmittelbar ihr örtliches Gemeinwesen mitgestalten.
Schließlich soll auch die Initiative „Wirtschaftsfaktor
Alter“ nicht unerwähnt bleiben, die Senioren-, Wirtschafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbindet.
Denn adäquate Dienstleistungen und Produkte steigern
die Lebensqualität älterer Menschen und stärken ihre
Rolle als Verbraucher.
({1})
Mit Blick auf diese kurze Aufzählung wird es Sie
nicht erstaunen, wenn ich feststelle, dass wir die Politik
für die ältere Generation bei der zuständigen Bundesministerin und natürlich auch beim zuständigen Staatssekretär in den besten Händen wissen.
({2})
Ich füge hinzu: Das gilt auch für die Bundesbildungsministerin. Ich denke dabei an das Programm „Lernen
im Lebenslauf“, welches an das anschließt, was im Rahmen der Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung
umgesetzt wird.
Umso mehr erstaunt der Antrag der SPD. Sie rennen
hier seitenlang offene Türen ein und beschwören wortreich Dinge, die in unserem Land schon längst gelebte
Wirklichkeit sind. Sie legen ein weiteres Mal Zeugnis
von Ihrem unerschütterlichen Staatsglauben ab.
Wir werden noch ausführlich Gelegenheit haben, im
Ausschuss über Ihren Antrag zu sprechen. Aber schon
jetzt möchte ich sagen: Es geht um Menschen, die in der
Regel ein jahrzehntelanges Berufsleben hinter sich haben und durchaus in der Lage sind, selbstverantwortlich
über ihre Aktivitäten und Interessen zu entscheiden. Wir
sollten ihnen Angebote machen und ihnen zusätzliche
Anreize für ihr freiwilliges Engagement und für ihre individuelle Weiterbildung geben. Aber wir sollten jeden
Anschein von Bevormundung und von staatlich gelenkter Zwangsbeglückung der älteren Generation vermeiden.
({3})
Wir haben es schließlich mit mündigen Frauen und
Männern zu tun, die über eine gehörige Portion Lebenserfahrung verfügen und eine beachtliche Lebensleistung
vorzuweisen haben. Ich glaube nicht, dass sie noch im
Alter auf Schritt und Tritt vom Staat gesagt bekommen
möchten, was sie zu tun haben. Unserem Leitbild entspricht eine ältere Generation, die selbstbewusst und eigenverantwortlich über ihre Aktivitäten und ihr freiwilliges Engagement entscheidet. Diesem Leitbild fühlen wir
uns verpflichtet.
({4})
Das Wort hat nun Franz Müntefering für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Immanuel Kant 50 Jahre alt wurde, wurde er mit der Bemerkung laudatiert „Verehrungswürdiger Greis“. Es ist
lange her; das würde heute keiner mehr sagen. Heute
gibt es in Deutschland 4 Millionen Menschen, die über
80 Jahre alt sind. Im Jahr 2050 werden es 10 Millionen
sein. Heute sind 7 000 Menschen in Deutschland über
100 Jahre alt. Im Jahr 2050 werden es etwa 75 000 sein.
Das heißt, es verändert sich ganz viel, und es ist gut,
wenn man darüber spricht und sich bewusst macht, was
sich da verändert.
Alt ist man nicht mehr mit 50. Ich sage: auch nicht
mit 70, vielleicht mit 80 oder 85 Jahren. Wir sprechen
über Ältere. Das sind die Menschen zwischen 60 und
70 Jahren. Dann kommen die Alten. Die Älteren sind
jünger als die Alten. Das zeigt, dass wir die richtigen
Worte an dieser Stelle noch gar nicht gefunden haben,
und macht deutlich, wie schnell sich diesbezüglich etwas
verändert hat.
Ich komme zum Ansehen der alten Menschen. Wenn
in einer Gesellschaft nur ganz wenige Menschen alt waren, dann galten sie als Weise. Wenn aber ganz viele
Menschen alt sind, dann ist sozusagen die Patina dünn,
({0})
und man erkennt schnell, dass sich etwas verändert hat.
Deshalb müssen wir lernen, mit dem Alter richtig umzugehen.
Wer 70 ist, hat deshalb nicht recht. Er hat deshalb aber
auch nicht unrecht. Wer 30 ist, hat nicht recht, nur weil
er 30 ist. Aber er hat auch nicht automatisch unrecht.
Vielleicht müssen wir uns einfach daran gewöhnen, das
Senioritätsprinzip ein bisschen infrage zu stellen und uns
klarzumachen, dass die Antwort auf die Frage, wie alt jemand ist, relativ wenig darüber aussagt, ob er recht hat
oder nicht recht hat. Das gilt übrigens auch für sein Können; denn Ältere können eine ganze Menge.
({1})
Wir müssen auch über die Potenziale sprechen. Der
erste Punkt, der einem an dieser Stelle einfällt, ist das
Versprechen, eine Politik für alte Menschen zu machen.
Ich sage dazu: Wir müssen auch an der Stelle fördern
und fordern. Denn es gibt in der Demokratie keinen
Schaukelstuhl. Wenn man älter wird und der Kopf noch
in Ordnung ist, dann hat man eine Mitverantwortung dafür, dass die Gesellschaft funktioniert. Das Schlimmste,
was Deutschland passieren könnte, wäre, dass die große
Gruppe der Menschen, die älter werden, nur von Mallorca aus Karten schreibt und sagt: „Schickt uns noch
zwei Jahrzehnte die Rente! Das werdet ihr noch hinbekommen. Dann schaut mal zu, wie ihr klarkommt!“ Wir
müssen wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind,
dass wir diese Probleme miteinander klären müssen.
Das zweite Potenzial, um das es geht, liegt in der Prävention. Altwerden fängt jung an. Was wir heute bei den
Kindern nicht hinbekommen - gesunde Ernährung, gute
Bildung und Selbstbewusstsein -, das kann sich auch
nicht auszahlen, wenn sie in ein höheres Alter kommen.
Menschen verändern sich nicht so sehr. Wenn wir sagen
„Engagiert euch!“, dann ist die Frage, ob die Kinder das
lernen, solange sie klein und jung sind, damit sie weitermachen, wenn sie ins Alter hereinwachsen, wenn sie das
Alter von 65, 67 oder 70 erreicht haben. Prävention ist
also etwas ganz Wichtiges.
Es gibt so einen schönen Spruch von Voltaire - wir in
Deutschland sollten hier zuhören -:
Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe
ich beschlossen, glücklich zu sein.
Ich finde das sehr geschickt: Wenn man sich darauf einstellt, dass man die Chance hat, gesund alt zu werden,
dann kann man ein gutes Leben haben und etwas leisten.
Es ist auch eine Frage der Einstellung, wie man sich diesem Alter nähert und was man sich vornimmt, dann zu
tun.
Nun will ich aber nicht nur über die schönen Seiten
und die philosophischen Aspekte sprechen. Ich will
schon ernst nehmen, was eben von der Linken gesagt
worden ist: Natürlich geht es hier auch um materielle
Sicherheit im Alter. Ich glaube, dass wir deshalb nicht
mehr allzu lange Altenberichte diskutieren werden, sondern Gesellschaftsberichte diskutieren müssen; alle Generationen müssen berücksichtigt werden.
Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen
uns richtig bewusst geworden ist, dass sich da etwas verändert, lange darüber gesprochen, dass wir uns mit dem
Thema der Älteren beschäftigen müssen, dass wir hier
neu denken und organisieren müssen. Jetzt müssen wir
darangehen, sämtliche Konsequenzen der demografischen Entwicklung zu betrachten. Alle Generationen
sind aufeinander angewiesen. Mich erinnert das ein bisschen an die Debatte über Jungen und Mädchen, die wir
vor einer Stunde geführt haben: Dort ist von allen gesagt
worden, dass es nicht um einen Gegensatz geht. Auch
bei den Generationen geht es nicht um Gegensätze. Alle,
die über Generationenkonflikte und -kriege sprechen,
machen etwas ganz Gefährliches und Unnötiges.
({2})
Man muss deshalb darauf achten, dass wir uns bewusst
darüber bleiben, dass wir alle Generationen brauchen,
dass diejenigen, die heute älter sind, nicht nur für sich
verantwortlich sind - das haben wir in den 80er-Jahren
von Hans Jonas gelernt -, sondern auch für die Jüngeren
und diejenigen, die danach kommen werden.
Ich glaube, dass wir in Deutschland - auch wir im
Deutschen Bundestag - bald die Grundsatzdebatte angehen und Handlungskonzepte für ein Land entwickeln
müssen, das eine große demografische Veränderung erlebt, die erhebliche Konsequenzen in allen Lebensbereichen haben wird. Da sind wir gerne dabei.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Niemand zieht in Zweifel, dass sich unsere Gesellschaft - die Gesellschaften der Industrienationen insgesamt - in den letzten zwei Generationen entscheidend
verändert hat: Sie wird nicht mehr so sehr von Jugendli12052
chen und Kindern geprägt, sondern mehr und mehr von
Erwachsenen, vor allen Dingen auch von rüstigen Pensionisten und Rentnern. Dieser Wandel der Gesellschaft
fordert uns natürlich heraus. Im Antrag der SPD werden
die Herausforderungen benannt. Aber auch schon im
Sechsten Altenbericht werden die Herausforderungen
genau analysiert und hervorragend dargestellt. Die Bundesregierung hat entsprechend gehandelt. Eine Maßnahme aufgrund des demografischen Wandels ist zum
Beispiel die Rente mit 67.
Trifft man auf einen rüstigen Alten, einen rüstigen
Rentner oder Pensionisten, dann begegnet einem oft ein
gutaussehender, strahlender Mensch, der sich darüber
freut, dass er den Druck des Berufslebens hinter sich hat
und jetzt endlich zu dem kommt, was er schon immer
machen wollte. Aber es ist genauso richtig, dass die Gesellschaft auf das Potenzial, auf das Können dieser rüstigen älteren Menschen nicht verzichten kann.
({0})
Deshalb glaube ich, dass alle Überlegungen richtig sind,
die einen Anreiz dafür bieten, dass sich die älteren Menschen dafür begeistern lassen, sich im Gemeinwesen zu
organisieren und einzubringen.
Damit die älteren Menschen einen entsprechenden
Beitrag leisten können, kommt es darauf an, dass sie sich
weiterbilden. Überhaupt meine ich, dass das lebenslange
Lernen, die Bereitschaft, die Augen aufzumachen und zu
sehen, was auf einen zukommt, und sich danach auszurichten, ein Grundmerkmal gerade im Alter sein sollte.
So wird die Erstarrung verhindert, die den älteren Menschen oft genug - manchmal sehr zu Unrecht - vorgeworfen wird.
({1})
Das ist nur die eine Seite des Alters, in der die Menschen noch rüstig sind, in der sie Heiterkeit ausstrahlen
und bereit sind, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten und sich
im Gemeinwesen zu engagieren.
Aber es gibt auch die andere Seite des Alters. Es gibt
viele einsame alte Menschen. Es gibt viele Menschen,
die ohne Familie sind, die keinen Anschluss haben, die
keine Freunde haben, die allein in ihrer Wohnung im
vierten, achten, zehnten Stock eines Hochhauses wohnen
und sich ausgegrenzt fühlen. Dies ist eines der großen
Probleme der Gesellschaften in einer Industrienation. Johannes Paul II. hat folgerichtig in seinem Schreiben
Novo Millennio Ineunte, das er zur Jahrtausendwende
herausgegeben hat, auf dieses Problem hingewiesen und
es als eines der drängenden Probleme unserer Zeit gesehen.
Es ist notwendig, dass es karitative Organisationen
gibt, die sich um diese Menschen kümmern, dass sich
die Kirchengemeinden ihre Altentreffs erhalten, die sehr
hilfreich sein können. Das Mehrgenerationenhaus spielt
hier eine große Rolle. Es ist aber auch der Ideenreichtum
einer guten Kommunalpolitik gefragt, die bereit ist, auf
diese Menschen zuzugehen, sie aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen und sie für eine Mitarbeit im Gemeinwesen zu begeistern.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann
kommt eine weitere Phase des Alters, in der die Menschen gebrechlich werden, in der sie sich selbst nicht
mehr vorstehen können, in der sie hilflos wie ein Kind
sind. Dann kommt es zur Krise - nicht nur für diese alten
Menschen, sondern auch für ihre Umgebung. Sie sind
hilflos wie ein Kind. Bei Kindern weckt diese Hilflosigkeit die Liebe der Mutter und bringt die sorgende Umarmung der Umgebung hervor. Bei den Alten wird oft mit
einer spontanen Ablehnung reagiert, die aus einer natürlichen Empfindung heraus kommt, weil das Alter in dieser Phase des Lebens keine Zukunft mehr verspricht,
weil das Alter in dieser Phase des Lebens Gebrechlichkeit zeigt, auch auf das eigene Ende hinweist. Hier
kommt es darauf an, dass solche Menschen von einer guten Familie umgeben sind, aber auch darauf, dass die
Jungen und die rüstigen Alten bereit sind, diesen Menschen gegenüber Verantwortung zu übernehmen.
Ich habe einen weiteren Gedanken. Es gibt auch die
alten Menschen, deren Lebensbogen eine große Höhe
und Weite aufzeigt. Wir erinnern uns an unsere jüngste
Vergangenheit, in der alte Menschen, alte Männer bereit
waren, Verantwortung für den ganzen Staat zu übernehmen. Wir kennen die großen Staatsmänner gerade aus
unserer jüngsten Vergangenheit, die aus einer schier unglaublichen physischen und psychischen Reserve heraus
täglich gehandelt und entschieden haben. Ich habe hier
das Bild des jetzt amtierenden Papstes vor meinen Augen.
Es kommt auch in der Wissenschaft vor. Denken Sie
an Einstein. Oder denken Sie an die Literatur, an
Bernard Shaw oder an Ernst Jünger. Oder denken Sie an
Goethe, der in seinem Alter wunderbar abgeklärte Werke
geschrieben hat. Oder denken Sie an einen Mann wie
Tizian, der mit 100 Jahren von der Pest dahingerafft werden musste - so möchte ich beinahe sagen - und bis zum
letzten Augenblick gemalt hat. Diesen Bogen gibt es
auch.
Es gibt aus den 60er-Jahren einen Ausspruch von
Guardini. Er heißt:
Es gehört zu den fragwürdigsten Erscheinungen unserer Zeit, dass sie wertvolles Leben einfachhin mit
Jungsein gleichsetzt.
Ich meine, dass diese Mahnung bzw. diese Erkenntnis
auch heute noch Gültigkeit haben.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung
- Drucksachen 17/5335, 17/5496 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt - ich zitiere -:
Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.
An diesen Grundsatz knüpfen wir mit dem eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation
und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung an. Die Mediation als eine Methode, in geordneter und konstruktiver Weise mit Konflikten umzugehen, ist besonders geeignet, die Verantwortung der
Bürgerinnen und Bürger für sich selbst und andere zu
stärken. Deshalb wollen wir die Bürger ermuntern, ihre
Streitigkeiten vornehmlich eigenverantwortlich zu lösen.
Bislang ist die Mediation gesetzlich weitgehend ungeregelt. Nunmehr verpflichtet uns die EU-Mediationsrichtlinie zum Handeln. Anders als bei den meisten Gesetzesvorlagen, die im Deutschen Bundestag behandelt
werden, betreten wir rechtliches Neuland. Das bedeutet:
Wir konnten nicht auf vorhandenen Strukturen aufbauen,
sondern mussten das Mediationsgesetz von Grund auf
neu entwickeln. Deshalb haben wir im Rahmen einer
Expertengruppe namhafte Vertreter aus Wissenschaft
und Praxis in die Vorarbeiten einbezogen. Eine wichtige
Hilfestellung lieferte uns das vom Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Privatrecht im
Auftrag meines Hauses erstellte rechtsvergleichende
Gutachten. Hierdurch konnten wir wertvolle Informationen über die Erfahrungen anderer Länder mit der Mediation gewinnen und bei der Erarbeitung des Entwurfs berücksichtigen.
Im Bereich der Mediation treffen sehr unterschiedliche Auffassungen aufeinander, die nicht ganz leicht in
Einklang zu bringen sind. Bei der Schaffung des Regierungsentwurfs haben wir die verschiedenen Interessen
abgewogen und darauf hingewirkt, diese in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei haben wir uns
von dem Ziel leiten lassen, möglichst wenig in die Entfaltung der Mediation als eines noch in der Entwicklung
befindlichen Konfliktlösungsverfahrens einzugreifen.
Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf ein breites und
überwiegend positives Echo bei den Verbänden und auch
in der Gesellschaft gefunden hat. Auch die Länder begrüßen die mit dem Entwurf verfolgte Zielrichtung.
Gleichwohl will ich nicht verhehlen, dass der vorgelegte
Entwurf auch in der Kritik steht. Diese Kritik konzentriert sich vornehmlich auf einige wenige, allerdings
auch bedeutsame Punkte.
Ansprechen möchte ich zunächst das Thema der gerichtsinternen Mediation. Die von verschiedenen Seiten
erhobenen Forderungen nach einer kompletten Abschaffung dieser Mediationsform teile ich nicht. Die gerichtsinterne Mediation ist in den letzten Jahren eine feste
Größe an deutschen Gerichten geworden. Erfolgsquoten
von bis zu 74 Prozent bei Konfliktbereinigung sprechen
für sich. Mit dem Mediationsgesetz stellen wir den Ländern das notwendige Instrumentarium zur Verfügung,
die gerichtsinterne Mediation fortzuführen.
({0})
Allerdings wollen wir den richterlichen Mediatoren auch
keine weiter gehenden Befugnisse einräumen als ihren
außergerichtlich tätigen Kollegen.
Bei der Prüfung und Umsetzung von Vorschlägen aus
dem parlamentarischen Raum, die auf eine weitere Förderung gerade der außergerichtlichen Mediation abzielen, werden wir gerne unterstützend tätig werden.
({1})
Natürlich greifen wir das Anliegen gern auf, gerade die
außergerichtliche Mediation so attraktiv zu machen, dass
sie sich entfalten kann. Aber wir dürfen nicht aus den
Augen verlieren, dass die finanziellen Rahmenbedingungen den Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen setzen.
Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch hinsichtlich der Frage, wie die Aus- und Fortbildung der
Mediatoren und damit der Zugang zur Mediatorentätigkeit geregelt werden soll. Hier haben wir die verschiedensten Modelle intensiv geprüft, wie zum Beispiel die
Schaffung von Zulassungsvoraussetzungen oder einer
staatliche Anerkennung.
Am Ende haben wir uns mit dem Entwurf gegen eine
detaillierte gesetzliche Regelung entschieden. Damit
wollen wir gewährleisten, dass der Mediation als einem
noch stark in der Entwicklung begriffenen Verfahren genügend Entfaltungsspielraum verbleibt. Zugleich wollen wir neuen bürokratischen Strukturen entgegenwirken, die wiederum mit Kosten verbunden wären.
Die Qualität der Mediation und die Transparenz auf
dem Mediatorenmarkt sollen im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher durch die Schaffung eines
privaten Zertifizierungssystems gefördert werden. Wir
zählen dabei auf die Kraft der Selbstregulierung durch
die Berufsgruppen und Verbände.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Zivilgesellschaft erfordert die Weiterentwicklung von modernen und effektiven Methoden autonomer Konfliktbeilegung. Ich bin sicher, dass wir mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf diese Entwicklung befördern und damit
auch einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der
Streitkultur in Deutschland leisten werden. Ich freue
mich auf konstruktive Beratungen im zuständigen Ausschuss.
Recht herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mediationsrichtlinie der Europäischen Union verfolgt das
Ziel, den Zugang von Einzelpersonen und sonstigen
Wirtschaftsteilnehmern zu modernen Methoden der alternativen Streitschlichtung zu verbessern. Wir EU-Mitgliedstaaten haben bis Ende Mai dieses Jahres Zeit, diese
Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Der uns
heute vorliegende Entwurf des BMJ sieht ein entsprechendes Bundesgesetz vor. Ziel des Gesetzes ist es, die
Mediation zu fördern und die außergerichtliche Konfliktbewältigung voranzubringen. Wir alle begrüßen
grundsätzlich dieses Ziel.
Die entscheidenden Vorteile einer Streitbeilegung
durch Mediation gegenüber Prozess und Urteil sind folgende: Eine Mediation ist in der Regel kürzer und billiger als ein streitiges Verfahren. Außerdem entscheiden
die Konfliktparteien selbst über das Ergebnis. Dies fördert in aller Regel die Zufriedenheit der Beteiligten am
Ausgang des Verfahrens. Untersuchungen haben auch
gezeigt, dass die durch eine Mediation entstandenen Lösungen länger halten.
Besonders Familienrechtler werden die Stärkung der
Mediation zur Streitbeilegung sehr begrüßen. Gerade in
hochemotionalen Familienkonflikten bietet die Mediation große Chancen. Sie macht nämlich vor allem dann
Sinn, wenn es nicht nur darum geht, einen Streit irgendwie zu klären, sondern auch darum, dass die Beteiligten
hinterher noch miteinander auskommen müssen.
So weit, so gut.
In den bisherigen, wie ich finde, sehr konstruktiven
Gesprächen, die überfraktionell stattfanden, haben sich
entscheidende Schwierigkeiten bei der Schaffung einer
neuen gesetzlichen Regelung der Mediation gezeigt, die
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu klären sein
werden. Die Frau Ministerin hat auf einige Punkte bereits hingewiesen. Ich teile diese Auffassung. Ich möchte
an dieser Stelle auf drei besonders wichtige Punkte eingehen.
Beim Stichwort „Mediation“ dachten und denken
viele Menschen bis heute an einen Schreibfehler des Begriffs „Meditation“.
({0})
Es geht hierbei jedoch nicht darum, bei Räucherstäbchen
und Keksen Probleme zu diskutieren.
({1})
Der Mediator soll nach dem Gesetzesvorhaben eine sehr
entscheidende Aufgabe übernehmen: Er bringt die
Streitparteien an einen Tisch und hilft ihnen, selbst zu einer Lösung zu kommen. Der Mediator muss auf die Interessen der Kontrahenten eingehen, und er muss Menschen einschätzen können. Schließlich soll er eine
Vereinbarung fixieren, und diese soll dann auch noch
vollstreckbar sein, das heißt, die Wirkung einer gerichtlichen Entscheidung haben.
Seit das Kabinett den Entwurf des Gesetzes auf den
Weg gebracht hat, schießen Mediatorenkurse wie Pilze
aus dem Boden. Das bereitet uns Sorge; denn bislang
schreibt das geplante Gesetz nicht vor, was ein Mediator
gelernt haben muss. Wenn Politik und Gerichtsbarkeit
Kontrolle abgeben, der Mediator aber nicht über eine
fundierte theoretische Ausbildung und vor allem über
keine praktische Erfahrung im Umgang mit Menschen
verfügt - was insbesondere bei der professionellen Konfliktbeilegung wichtig ist -, dann ist zu befürchten, dass
sich am Ende der Stärkere durchsetzt und unbefriedigende Ergebnisse erzielt werden.
({2})
Wir halten daher eine psychosoziale und bzw. oder einen juristischen Hintergrund und ausreichende berufliche Erfahrung für unbedingt erforderlich.
({3})
Vor allem, wenn es um Streitigkeiten um Kinder geht, ist
besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen gefragt. Wir meinen daher, dass es verbindlicher gesetzlicher Anforderungen an die Aus- und Fortbildung der
Mediatoren bedarf.
Ich möchte nun auf einen weiteren Punkt eingehen,
den Sie, Frau Ministerin, bereits angesprochen haben.
Nach dem vorliegenden Entwurf soll es unterschiedliche
Formen der Mediation geben: Sie kann unabhängig von
einem Gerichtsverfahren, im Verlauf des Prozesses oder
auch mit einem Richter als Mediator ablaufen. Bei einem Scheitern der Mediation darf derselbe Richter nicht
mehr selbst in der Sache entscheiden, wenn es sich um
eine gerichtliche Mediation handelt. Gerade die eigentSonja Steffen
lich nicht gewollte Stärkung der sogenannten gerichtsinternen Mediation sehen wir kritisch. Wir haben Sorge,
dass mit der richterlichen Mediation die eigentliche Aufgabe der Justiz in den Hintergrund gedrängt wird. Statt
einen Streit zu verkürzen, können Gerichtsverfahren so
durchaus auch in die Länge gezogen werden. Es entspricht auch nicht dem Bild des unabhängigen Richters
nach dem Grundgesetz, wenn er erst als Mediator auftritt
und anschließend nicht in der Sache entscheiden darf.
Diese Einschränkung ist jedoch notwendig, um eine Voreingenommenheit des urteilenden Richters zu vermeiden.
Die gewünschte Beschleunigung der Streitbeilegung
und die gewünschte Kostenersparnis setzen daher voraus, dass der Schwerpunkt des Gesetzes auf der außergerichtlichen Streitbeilegung liegt.
({4})
Hierfür müssen im Gesetz zusätzliche Kostenanreize für
eine außergerichtliche Streitschlichtung geschaffen werden.
Damit bin ich beim letzten Punkt angelangt. Eine Mediationskostenhilfe für die Nichtwohlhabenden ist im
Gesetzentwurf bislang nicht vorgesehen. Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass das Probleme mit sich
bringt, weil das finanziert werden muss. Ich halte die
Mediationskostenhilfe insbesondere im Familienrecht
für unbedingt angebracht.
({5})
- Da gibt es die üblichen Regeln. - An dieser Stelle ist
der Gesetzentwurf aus unserer Sicht bislang nicht mutig
genug. Wenn das geplante Gesetz parallel dafür sorgt,
dass die Mediation im Gericht und zudem auch noch
kostenlos angeboten wird, werden die Parteien verständlicherweise sagen: Zur Not machen wir die Mediation
eben im Gericht. - Dies würde nicht zu der gewünschten
Entlastung der Gerichte führen. Daher müssen auch die
Länder ein Interesse daran haben, eine Kostenhilfe für
die außergerichtliche Mediation bereitzustellen.
({6})
Der Gesetzentwurf ist ein guter Ansatz und zeigt die
Bedeutung, die Mediation in unserer Gesellschaft zukünftig haben soll. Klare gesetzliche Regelungen erhöhen die Transparenz und werden den Zugang zur Mediation erleichtern. Aber dazu bedarf der vorliegende
Entwurf der Überarbeitung; denn Sie haben es richtig
gesagt: Wir betreten gesetzliches Neuland. - Ich hoffe
daher, dass wir konstruktiv zusammenarbeiten und zu einem guten Ergebnis kommen werden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mediation ist gar
nicht ein so neues Verfahren. Bereits im 17. Jahrhundert
hat Alvise Contarini im Westfälischen Frieden 1648 als
Mediator die Abschlussverhandlungen mitgeführt. Er
war von allen Seiten anerkannt und mit hohem Vertrauen
ausgestattet. So gesehen hat es einige Zeit gedauert, bis
uns der Gesetzesentwurf des BMJ, des Justizministeriums, heute vorgelegt wurde. Aber das liegt nicht an einer
zeitlichen Verzögerung durch das Justizministerium,
ganz im Gegenteil.
({0})
Es hat vielmehr europarechtliche Gründe, dass es jetzt
zu einem Mediationsgesetz gekommen ist. Bereits 1999
hatte der Rat von Tampere beschlossen, dass die Mitgliedstaaten außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen einführen sollen. 2002 ist mit dem Grünbuch zur
außergerichtlichen Streitbeilegung im Grunde der
nächste Schritt gegangen worden, bis dann die Richtlinie
zur Mediation, die wir heute umsetzen, von der EU erlassen worden ist. Es gibt also einen europarechtlichen
Hintergrund; die entsprechende Richtlinie setzen wir
jetzt in deutsches Gesetz um.
Generell soll der Gesetzentwurf die Mediation stärken, das außergerichtliche Streitverfahren der Mediation
befördern, und speziell soll die Richtlinie umgesetzt
werden. Kern der Richtlinie sind drei Punkte: Vollstreckbarkeit, Verjährung und Vertraulichkeit. Bezüglich der
Vollstreckbarkeit geht es darum, dass die Parteien die am
Abschluss getroffene Vereinbarung für vollstreckbar erklären lassen können oder sollen. Bezüglich der Verjährung geht es darum, dass die Parteien, die eine Mediation
eingehen, nicht im Nachhinein schlechtergestellt werden, falls die Mediation scheitert und für sie dann gegebenenfalls Fristen abgelaufen sind. Bezüglich des Vertrauensschutzes geht es darum, dass die Dinge, die in
einem Mediationsverfahren vor dem Mediator diskutiert
werden - dies sind teilweise sehr vertrauliche, sehr intime Sachverhalte -, dann nicht durch den Mediator oder
an der Mediation teilnehmende Dritte in die Öffentlichkeit gelangen.
Zu Recht hat die Justizministerin weitere Aspekte im
Gesetzentwurf ergänzt, nämlich die Ausdehnung auf innerstaatliche Sachverhalte. Das ist richtig. Ich glaube, es
wäre zu kurz gegriffen, wenn man gesagt hätte: Wir berücksichtigen nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Es
war ein richtiger Entschluss, zu sagen: Wir dehnen dies
auf deutsche Sachverhalte aus und erstrecken das Mediationsgesetz auf alle Bereiche.
({1})
Ebenso ist es richtig, dass wir bestimmte Definitionen
schaffen, zum Beispiel des Mediators und des Media12056
tionsverfahrens, und auch gewisse Grundsätze festlegen,
beispielsweise die Verpflichtungen, die ein Mediator
eingehen muss. Das Gesetz leistet also zum einen eine
Umsetzung der Richtlinie, zum anderen - zu Recht eine Ausdehnung auf bestimmte weitere Aspekte. Von
daher bedanke ich mich ganz herzlich an dieser Stelle
bei der Frau Ministerin und bei Staatssekretär Dr. Stadler
für die konstruktiven Gespräche in den letzten Wochen.
Der schlanke Gesetzgebungsvorschlag wirft aber zugleich verschiedene Fragen auf. An manchen Stellen
wirft er sogar mehr Fragen auf, als er Klärungen schafft.
Die Frage, die zuerst aufgeworfen wird, betrifft den Anwendungsbereich. Für welchen Anwendungsbereich gilt
dieses Gesetz? Welche Arten der Mediation werden erfasst? Sollen beispielsweise auch Mediationen auf dem
Schulhof, wenn ein 18-jähriger Oberstufenschüler zwischen 15- und 16-jährigen Schülern mediiert, erfasst
werden? Soll beispielsweise auch die Mediation in einer
sechsköpfigen Familie, wenn der ältere Bruder für eine
Schwester als Mediator tätig ist, erfasst werden? Das ist
unklar. Von einem Gesetz kann man, glaube ich, schon
erwarten, dass zumindest sein Anwendungsbereich klar
definiert ist; diese Definition muss mindestens in der Begründung erfolgen. Sonst wird das Gesetz sicherlich
nicht den Erfolg haben, den wir ihm wünschen.
Der zweite Aspekt betrifft die Mediationsarten. Die
Kollegin Steffen hat es schon angesprochen: Ganz wichtig ist ein richtig austariertes Verhältnis zwischen der
gerichtlichen Mediation und der außergerichtlichen Mediation. Hier muss der Schwerpunkt auf der außergerichtlichen Mediation liegen; denn das ist das, was wir
im Kern wollen. Wir wollen nicht, dass Streitigkeiten
vor ein Gericht gebracht werden, sondern wir wollen,
dass möglichst viele Streitigkeiten bereits im Vorfeld geklärt werden. Es entlastet auch die Staats- und Länderkassen, wenn die Gerichte gar nicht erst bemüht werden,
und führt bei den Parteien zu viel größerem Vertrauen.
Die Mediation schafft im besten Fall eine Win-winSituation.
In den nächsten Wochen muss es uns gelingen, die außergerichtliche Mediation zu stärken, ohne auf die aus
meiner Sicht guten Ansätze der Gerichtsmediation, die
insbesondere aus den Bundesländern gekommen sind, zu
verzichten. Es muss aber, wie gesagt, eine Stärkung der
außergerichtlichen Mediation geben. Dies sieht der Gesetzgebungsentwurf derzeit nicht vor. Wenn man ihn
liest, stellt man fest: Er stärkt eher die in Bezug auf die
Kosten nicht so günstige Gerichtsmediation.
Hier spielt übrigens § 2 Abs. 4 Mediationsgesetz eine
große Rolle. Er schließt nämlich die anwaltliche Beratung im Rahmen der Mediation aus, wenn eine Partei
dem widerspricht. Hier müssen wir nachbessern. Sonst
bekommen wir an dieser Stelle ein Problem mit der anwaltlichen Beratung der Parteien in der Mediation.
Der dritte ganz wesentliche Punkt - die Kollegin Steffen hat auch ihn schon angesprochen - ist die Aus- und
Fortbildung. Will der Gesetzgebungsentwurf Erfolg haben, will er die Mediation wirklich voranbringen, dann
muss die Frage der Ausbildung der Mediatoren geklärt
sein. Es kann nicht sein, dass sich weiterhin jeder „Mediator“ nennen und ein entsprechendes Schild an seine Tür
hängen darf und wir glauben, dadurch würden wir die
Mediation befördern. Denken Sie nur an die Rechtschutzversicherer, die sich im Bereich der Mediation
gerne engagieren möchten. Sie brauchen aber auch die
Sicherheit, dass der Mediator, der einen Fall mediiert,
gut ausgebildet ist.
({2})
Dies dürfen wir, glaube ich, nicht allein der Selbstregulierung der Verbände überlassen. Denn in den letzten 10,
15 Jahren hat sich gezeigt: Den Verbänden alleine ist es
bisher nicht gelungen, hier Standards zu schaffen. Das
hat auch die Diskussion gezeigt.
In den nächsten Wochen wird es wichtig sein, in § 5
Mediationsgesetz eine klare Regelung zu treffen, gegebenenfalls im Rahmen einer Rechtsverordnung oder einer Verwaltungsvorschrift, die, was die Voraussetzungen
angeht, gewisse Mindeststandards und im Hinblick auf
die Ausbildung eine gewisse Mindeststundenzahl nennt.
Ich denke, für die Ausbildung eines Mediators sollten
120 bis 150 Stunden notwendig sein; eine geringere
Stundenzahl ist, glaube ich, nicht möglich.
Dies sind unserer Auffassung nach die Kernpunkte, in
denen wir in den nächsten Wochen eine Verbesserung
des Gesetzentwurfes erzielen müssen.
({3})
Viele Detailfragen sind noch zu klären. Dabei geht es
nach meiner Meinung aber im Wesentlichen um technische Fragen, beispielsweise um die Hemmung von Fristen; ich denke nur an § 4 Kündigungsschutzgesetz. Ein
bloßer Verweis auf die BGB-Fristen reicht nicht aus.
Hier müssen wir, glaube ich, etwas genauer hinschauen.
Eine weitere Frage lautet: Welche Gerichtsbarkeiten
sollen einbezogen werden: die Sozialgerichtsbarkeit, die
Finanzgerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit? Wollen wir all diese Gerichtsbarkeiten in dem Gesetz erfassen oder nicht? Das ist bisher etwas unklar. Ein anderer
wichtiger Aspekt ist die Vollstreckbarkeit der Abschlussvereinbarung einer Mediation. Soll jeder Mediator, auch
ein Soziologe oder Philosoph, eine Mediationsvereinbarung, die später vollstreckbar ist, verfassen dürfen? All
diese Fragen müssen wir noch klären, wenn dieses Gesetz Erfolg haben soll. Ich glaube, wir werden sie auch
klären, zumal gerade die letzten Fragen eher technischer
Art sind.
Die beiden zentralen Punkte, die angesprochen worden sind, die Aus- und Fortbildung - dies betrifft § 5 des
Mediationsgesetzes - und die Austarierung des Verhältnisses zwischen gerichtlicher Mediation und außergerichtlicher Mediation, sind die Knackpunkte dieses Gesetzes, mit denen wir uns befassen müssen. Ich glaube,
wenn wir diese beiden Probleme lösen, dann wird die
Mediation Erfolg haben.
Frau Ministerin, von parlamentarischer Seite kann ich
Ihnen unsere Zusammenarbeit zusichern. Ich glaube, wir
werden mit diesem Gesetz einen großen Erfolg erzielen,
wenn wir es schaffen, die genannten Probleme gemeinsam zu lösen. Ich hoffe, dass uns dies in den nächsten
Wochen gelingen wird.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({4})
Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin,
mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über bestimmte
Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen präsentiert die Bundesregierung leider nur ein halbgares
Gericht. Es besteht die Gefahr, dass es ungenießbar ist,
also schwer im Magen liegt, und Sie den Adressaten,
also den Bürgerinnen und Bürgern, den Betrieben, aber
auch den Institutionen, Steine statt Brot geben.
({0})
Der Entwurf aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, verdient leider keine Bestnote. Das sagt nicht nur die Opposition, die hier etwas schärfer kritisieren darf, das sieht
auch die Koalition so. Es gibt gravierende Mängel. Die
Kostenfrage sowie die Frage der Aus- und Weiterbildung sind nicht geklärt. Ich glaube, die bisherige Debatte
hat gezeigt, dass hier wirklich Nachbesserungsbedarf besteht.
Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat und
das Europäische Parlament den Mitgliedsländern die
Hausaufgabe, für grenzüberschreitende Streitigkeiten in
Zivil- und Handelssachen den Zugang zur Mediation zu
fördern. Die Frist zur Umsetzung endet demnächst, am
20. Mai dieses Jahres, also in circa fünf Wochen. Die
Regierung hatte fast drei Jahre Zeit, die Richtlinie umzusetzen. Das zu diskutierende Ergebnis scheint indes mit
heißer Nadel gestrickt. Es entsteht der Eindruck, dass Sie
den Auftrag aus Brüssel nicht so recht verstanden haben.
Laut Richtlinie soll die Mediation für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen
gesichert werden. Explizit ausgeschlossen sind Steuerund Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten und die Staatshaftung. Diese Ausschlüsse beziehen sich auf Rechtsgebiete, wo es ein starkes strukturelles Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten gibt. Das
hat auch seinen Grund; denn eine Mediation macht nur
Sinn, wenn sich die Parteien auf Augenhöhe gegenüberstehen.
({1})
Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass die schwächere Partei regelmäßig über den Tisch gezogen wird.
Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Das Bundesjustizministerium will nun die gerichtliche, die gerichtsnahe und die außergerichtliche Mediation in den Bereichen Zivilrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht einführen.
Fraglich ist dabei, ob die Umsetzung der Richtlinie das
überhaupt erfordert. Gerade im Sozial-, Arbeits- und
Verwaltungsrecht besteht ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten. Hat zum Beispiel ein
Hartz-IV-Empfänger Probleme mit der Kürzung seiner
Regelleistungen, soll er sich künftig erst einmal mit der
Behörde bei Kaffee und Kuchen und den berühmten
Räucherstäbchen - das Copyright dafür liegt beim Kollegen Ahrendt - an einen Tisch setzen und um eine geringere Kürzung feilschen, obwohl die Kürzung an sich
unter Umständen rechtswidrig war.
Wenn nun ein Hartz-IV-Empfänger eine Streitigkeit
vor dem Zivilgericht austrägt, besteht für ihn die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ergibt sich aus
dem Justizgewährungsanspruch und dem Sozialstaatsgebot. Hinsichtlich der Mediationskosten schweigt sich der
Entwurf allerdings aus. Der Hartz-IV-Empfänger müsste
also, wenn er sich auf die Mediation einlässt, mindestens
die Hälfte der Kosten des Mediationsgespräches selbst
tragen. Das BMJ kann die Höhe der Kosten bisher nur
schätzen. Es ist von circa 450 Euro die Rede. Bei einem
Regelsatz von 364 Euro, der in unserem eben geschilderten Fall durch die Sanktionen noch gekürzt werden
würde, ist das Ganze unbezahlbar. Hier bedarf es eines
Rechtsanspruchs auf Mediationskostenhilfe. Ein Forschungsprojekt der Länder, wie es in dem derzeitigen § 6
des Entwurfs geplant wird, ist unzureichend.
({2})
Die im Übrigen sehr spannende Frage, wer sich Mediator nennen darf, bleibt letztlich unbeantwortet. Der
Entwurf überlässt es dem Mediator selbst, durch geeignete Aus- und Fortbildung Sachkunde zu erlangen. Das
ist mir viel zu beliebig. Für die sachkundige Durchführung einer Mediation - das ist hier schon gesagt worden braucht man meines Erachtens eine hochqualifizierte
Ausbildung in Psychologie und Kommunikation sowie
mindestens durchschnittliche Rechtskenntnisse.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Nein. - Herr Kollege Sensburg hat in der FAZ geäußert, dass es einer verbindlichen Zertifizierung bedarf.
Da bin ich mit Ihnen, geschätzter Kollege Sensburg, einer Meinung. Ich kann mich da nur anschließen.
Schließlich soll die Mediation auch bundeseinheitlich
geregelt sein. Ansonsten droht ein Flickenteppich mit
unterschiedlichen Standards wie bereits in der Beamtenbesoldung, und das ist von Nachteil.
Die Linke fordert: Mediation muss auf grenzüberschreitende Zivil- und Handelssachen beschränkt sein;
Mediationskostenhilfe muss eingeführt werden, und eine
bundesweit einheitliche Ausbildung der Mediatoren
muss sichergestellt werden.
({0})
Frau Ministerin, bessern Sie den Entwurf insoweit
nach. Beachten Sie dabei auch unseren Entschließungsantrag. Dann können wir die Regelung mittragen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir diskutieren
heute über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung. Heribert
Prantl hat die Intention dieses Gesetzentwurfs in der
Süddeutschen Zeitung als „juristischen Paradigmenwechsel“ geadelt.
Was müssen wir gesetzlich regeln, damit Mediation
ein effektiver Bestandteil dieser Gesellschaft wird? Wir
müssen uns zunächst im Klaren darüber sein, wo und
wie wir Mediation und andere Konfliktlösungsmethoden
vorrangig verankern wollen. Wollen wir sie in den Gerichtssälen bei den Richtern oder außerhalb des Gerichtsverfahrens bei freiberuflichen Mediatorinnen und
Mediatoren oder Beratungsstellen integrieren?
({0})
In dem Gesetzentwurf werden beide Modelle definiert.
Die Begrifflichkeit orientiert sich aber am Wort „Gericht“, indem von außergerichtlicher, gerichtsnaher und
gerichtsinterner Mediation ausgegangen wird. Die gerichtsinterne Mediation wird dabei durch Kostenfreiheit
privilegiert.
Meine Damen und Herren, das Mediationsverfahren
gewinnt seine Wirksamkeit durch Eigenverantwortlichkeit der Parteien und durch die Gesprächsleitung eines
allparteilichen Mediators. In den Sitzungen können die
Parteien ihre Interessen und Bedürfnisse im direkten Gespräch selbst herausarbeiten. Normalerweise dauert ein
Mediationsverfahren zwischen drei und acht Sitzungen à
1,5 Stunden. Es erstreckt sich über mehrere Wochen,
und am Ende kann eine gültige, von allen Parteien unterzeichnete Vereinbarung stehen.
Wie stellt sich der Vergleich zwischen richterlicher
und außergerichtlicher Mediation dar? Der Richterberuf
ist aufgrund hoher Fallzahlen und gekürzter Richterstellen durch einen enormen Zeit- und Erfolgsdruck geprägt.
({1})
Die Modellprojekte der richterlichen Mediation zeigen,
dass dort die Mediation in ein bis zwei Sitzungen durchgeführt wird. Oft hat der Richter die Akte vorher gelesen,
lässt sich die Interessenlage also nicht von den Parteien
erklären, und am Ende gibt es einen Vergleichsvorschlag.
Wir verkennen nicht, dass zahlreiche Richterinnen und
Richter viel Zeit und Geld investiert haben, um eine Mediationsausbildung zu absolvieren. Innerhalb der ihnen
zur Verfügung stehenden Zeit arbeiten sie mit viel Engagement, erzielen auch gute Ergebnisse, aber das Verfahren entspricht doch eher dem Modell eines Güterichters,
wie wir es aus Thüringen und Bayern kennen, das in
§ 278 Abs. 5 ZPO verankert ist, und nicht der Mediation,
wie sie außerhalb der Gerichte durchgeführt wird.
({2})
Wenn wir eine eigenverantwortliche Konfliktlösung
und die Entlastung der Justiz erreichen wollen, dann
müssen wir weiterdenken. Dann müssen wir auch an die
Punkte denken, die die Kolleginnen und Kollegen schon
angesprochen haben, nämlich daran, wie wir die Ausund Fortbildung von Mediatorinnen und Mediatoren sichern können. Wir müssen die Grundzüge klar artikulieren. Ich weiß, dass große Mediations- und Anwaltsverbände schon an Qualitätsstandards arbeiten und eine
qualitätsvolle Ausbildung anbieten. Es reicht aber nicht
aus, diese Entwicklung nur dem freien Markt zu überlassen, wie es die Bundesregierung vorschlägt.
({3})
Ist die Qualität der Mediation erst einmal gesichert,
dann wird es der Justiz sicher leichter fallen, Streitfälle
an geeignete Mediatorinnen und Mediatoren nach außen
zu verweisen. Das hätte viele Vorteile. Die Koordinationsstellen, die schon an den Gerichten existieren,
könnten genutzt werden, um Fälle auf ihre Geeignetheit
hin zu überprüfen. Dort arbeiten erfahrene Richterinnen
und Richter, die Mediationsfälle bearbeitet haben. Ein
ähnliches Modell kennen wir aus den Niederlanden.
Auch dort werden häufig Mediationsfälle in die freie
Mediation verwiesen.
({4})
Für die Mediatorinnen und Mediatoren bestünde ein Anreiz, an dem Projekt mitzuwirken. Wir könnten die Mitwirkung auch mit der Verpflichtung zu einer Evaluation
verbinden. Es entstünde ein positiver Kreislauf: Wir
könnten die Gerichte effektiv entlasten, die außergerichtliche Mediation würde in Anspruch genommen, die
Konfliktlösungen würden immer nachhaltiger, und die
Gerichte würden weiter entlastet.
Das führt mich zu dem letzten Schritt, den wir aus
meiner Sicht gehen müssen: die Einführung einer Mediationskostenhilfe. Das würde Mediation unabhängig vom
Einkommen ermöglichen und durch die Anbindung an
die Gerichte die notwendige Qualitätssicherung bieten.
Die Bundesregierung führt immer wieder an, das sei
nicht finanzierbar und falle in die Länderzuständigkeit.
Wir wissen aber, dass zum Beispiel ein streitiges Familiengerichtsverfahren mit Regelungen zum Sorgerecht,
zum Umgang und zum Unterhalt sehr viel Zeit, Geld und
Nerven kostet. Ich denke, auch die Bundesländer sollten
ernsthaft darüber nachdenken, zumindest in Modellprojekten eine Mediationskostenhilfe einzuführen; denn die
Mediation würde mit Sicherheit auch die Justizhaushalte
entlasten.
({5})
Aus unserer Sicht ist der Gesetzentwurf leider in der
aktuellen Form nicht ausgewogen genug. Deswegen
können wir ihm in dieser Form nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Silberhorn das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.
Das schrieb das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007.
In der Tat führen streitige Verfahren zwar zur Klärung
einer Rechtsfrage, aber nicht notwendig zu einer hinreichenden Befriedung der Parteien. Das mag daran liegen,
dass unsere Zivilverfahren stark formalisiert sind und
auch in materieller Hinsicht unser Zivilrecht schrecklich
logisch ist. Jeder Student lernt in seiner ersten Stunde Zivilrecht, die Frage zu beantworten, wer von vom was
woraus verlangen kann. Wer diese Frage stellt, wird in
unserem Zivilrecht eine Antwort finden. Allerdings ist
die Wirklichkeit oft so komplex, dass es mit der Beantwortung dieser Frage allein nicht getan ist. So können
ordentliche Gerichtsverfahren oft wenig Rücksicht auf
die Ursachen einer Streitigkeit und auf die Befindlichkeiten der Parteien nehmen.
In diesem Zusammenhang begrüße ich es, dass wir
nun die Mediation in allen Formen - außergerichtlich,
gerichtlich und gerichtsnah - auf eine neue rechtliche
Grundlage stellen. Wir setzen damit zugleich die EGRichtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen um, eine Richtlinie, die sich zu
Recht auf grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivilund Handelssachen beschränkt.
In Deutschland finden sich bislang Regelungen zu
konsensualen Konfliktlösungen nur vereinzelt, beispielsweise im Familienrecht und im Rahmen der Güteverhandlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten. Wir stellen das
nun auf eine deutlich breitere Grundlage. Der Anwendungsbereich des Mediationsgesetzes wird nahezu alle
Rechtsgebiete erfassen. Weshalb die Finanzgerichtsbarkeit nicht dabei ist, kann vielleicht noch überprüft werden. Dass beispielsweise ausdrücklich das Markengesetz
genannt ist, finde ich durchaus mutig, weil in diesem
Rechtsbereich, in dem es häufig um hohe Streitwerte
und wettbewerbsrechtliche Bezüge geht, oft um jeden
Quadratmillimeter gekämpft wird. Aber immerhin: Wir
haben einen sehr breiten Anwendungsbereich. Das zeigt,
dass es völlig ausreichend ist, wenn sich die Europäische
Union mit Mindestharmonisierung befasst. Wir sind
selbst in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen, das Weitere in eigener Zuständigkeit zu regeln. Wir brauchen in
diesem Bereich keine Vollharmonisierung.
({0})
Der Gesetzentwurf soll zunächst einmal das Bewusstsein für die Möglichkeiten schaffen, Konflikte im Einvernehmen beizulegen. Dazu soll schon in der Klageschrift erklärt werden, ob der Versuch einer Mediation
oder eines anderen Verfahrens zur außergerichtlichen
Konfliktbeilegung unternommen worden ist oder ob
Gründe entgegenstehen. Diese Verfahren der Mediation
sind bei rechtsuchenden Bürgern noch nicht sehr stark
verankert. Ich denke, das Gesetz wird einen Beitrag dazu
leisten.
Die streitenden Parteien sollen im Rahmen der Mediation eigenverantwortlich zu einer Einigung über ihre
Streitigkeit gelangen. Das setzt voraus, dass dieses Verfahren in einem vertraulichen Rahmen geführt werden
kann. Zu diesem Zweck ist es richtig, genauso eine Verschwiegenheitspflicht des Mediators zu vereinbaren wie
ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht zu geben. Wir sollten vielleicht noch einmal die Frage, die an uns von vielen Seiten herangetragen worden ist, aufwerfen, inwieweit ein Beweisverwertungsverbot realisiert werden
kann. Das wird nicht ganz einfach; aber das Anliegen, in
einem solchen Verfahren die Vertraulichkeit zu wahren
und als Partei eines Mediationsverfahrens nicht in einem
streitigen Gerichtsverfahren zu scheitern, müssen wir
ernst nehmen.
Die Vollstreckbarkeit der Vereinbarungen soll erleichtert werden. Ob das auf die Zustimmung der Gerichte
stößt, werden wir nochmals diskutieren können. Gerade
im außergerichtlichen Mediationsverfahren ist es nicht
ganz einfach, zur Vollstreckbarkeit zu kommen. Aber
hier ist ein sinnvoller Ansatz gewählt.
Ich begrüße ebenfalls, dass wir die gerichtsinterne
Mediation hier regeln. Die Frage, ob man dadurch tatsächlich zu einer Entlastung der Gerichte und zu effizienteren Verfahren kommen kann, wird sich den Bundesländern selbst stellen und auch von diesen zu
beantworten sein. Es ist von unserer Seite aus richtig,
den Ländern diese Möglichkeit an die Hand zu geben.
Ich denke, wir können den Bundesländern selbst überlassen, ob sie der Meinung sind, dass dieses Verfahren
für sie eine Effizienzsteigerung und Erleichterung ist
oder ob nicht durch den höheren Zeitaufwand oder höhere Kosten auch höhere Belastungen entstehen.
({1})
Das Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist aber insbesondere, die Möglichkeiten der außergerichtlichen
Mediation zu erweitern. Die gerichtsinterne Mediation
findet nun schon seit geraumer Zeit, wenn auch erprobungsweise, mit Erfolg statt. Die Frage, ob hinreichende
Anreize bestehen, zu einer außergerichtlichen Mediation zu kommen, müssen wir uns noch einmal vorlegen.
Es ist jedenfalls ernst zu nehmen, wenn viele sagen,
dass die Kostentragungspflicht der Parteien im außergerichtlichen Mediationsverfahren ein Wettbewerbsnachteil sein kann. Dieser Wettbewerbsnachteil darf jedenfalls nicht so weit gehen, dass er prohibitiv wirkt und die
Parteien überhaupt nicht die Möglichkeit der Mediation
in Anspruch nehmen. Die Vorschläge, eine Gebührenanrechnung auf streitige Gerichtsverfahren zu erwägen,
können wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens überdenken.
({2})
Die Ausbildung der Mediatoren ist schon angesprochen worden. Nach dem Gesetzentwurf wird die Ausund Fortbildung in die Verantwortung des Mediators gelegt. Das, Frau Bundesministerin, ist in der Tat mutig.
Wir könnten uns durchaus vorstellen, die Entwicklung
von Mindeststandards zu erwägen, wie sie von verschiedener Seite an uns herangetragen werden. Ich jedenfalls
teile das Anliegen, das hier schon mehrfach vorgetragen
worden ist. Wir reden hier nicht über eine esoterische
Veranstaltung, sondern über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten. In diesem Zusammenhang muss die Qualitätssicherung ein wichtiger Punkt sein. Ich weise allerdings auch darauf hin, dass beispielsweise der Deutsche
Anwaltverein davon ausgeht, diese Qualitätssicherung
werde sich schon einstellen - nach dem Motto: Qualität
setzt sich durch. Das mag durchaus so sein; aber dann
sollten wir auch die Frage beantworten, wie es mit der
Haftung der Mediatoren steht. Wenn wir es weitgehend
in die Verantwortung der Mediatoren stellen, mit welcher Ausbildung und mit welcher Erfahrung sie diese
Aufgabe übernehmen, dann muss auch sichergestellt
sein, dass bei einer mangelnden Beratung der Mediator
für das haftet, was er zwischen den Parteien vermittelt;
({3})
denn es kann am Ende nicht der rechtsuchende Bürger
darunter leiden, dass er mangelhaft beraten wird. Es besteht also ein Zusammenhang: Wenn man die Ausbildung weitgehend freistellt, dann muss man die Frage der
Haftung beantworten.
Ich bin auch der Auffassung, dass rechtsberatende
Berufe immer für Mediation infrage kommen; denn dieses Verfahren zur Streitbeilegung ist ein Bestandteil der
Rechtspflege. Deshalb ist es wichtig, dass Parteien, die
eine Vereinbarung treffen, nicht nur in Kenntnis der
Sachlage, sondern auch in Kenntnis der Rechtslage handeln.
Wir haben also viel Potenzial für konsensuale Streitbeilegungen in Deutschland. Dieser Gesetzentwurf ist
ein guter Grundstein dafür. Wir sollten die offenen Fragen in einem guten Miteinander im parlamentarischen
Verfahren beraten.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/5335 und 17/5496 an den
Rechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern
- Drucksache 17/5099 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Das bedeutet für uns Parlamentarier eine enorme Verantwortung. Ich weiß, dass nicht nur bei uns Grünen vor jedem neuen Einsatz und vor jeder Verlängerung eines
Einsatzes schwierige Debatten stattfinden, um dieser
Verantwortung gerecht zu werden.
Grundlage für unsere persönliche Gewissensentscheidung sind die Informationen, die uns die Bundesregierung zukommen lässt. Die Qualität dieser Informationen
ist allerdings in Anbetracht der Tragweite unserer Entscheidungen in vielerlei Hinsicht unbefriedigend.
({0})
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine deutlich
verbesserte Unterrichtungs- und Evaluationspraxis seitens der Bundesregierung einfordern.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz legt fest, dass die
Bundesregierung den Bundestag regelmäßig unterrichtet. In der Gesetzesbegründung heißt es: Es soll über
vorbereitende Maßnahmen, Planungen und den Verlauf
von Einsätzen sowie Entwicklungen im Einsatzland berichtet werden. Jährlich und nach Abschluss der Einsätze
ist ein Evaluationsbericht vorzulegen. In Ausnahmefällen findet die Unterrichtung über die Obleute statt. - Die
tatsächliche Praxis der Unterrichtung wird diesem Anspruch nicht gerecht. Die wöchentliche Aufzählung von
lagerelevanten Vorfällen im Verteidigungsausschuss
kann eine Analyse der Entwicklungen nicht ersetzen.
({1})
Der Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan 2010
war der erste seiner Art, obwohl der Einsatz schon neun
Jahre andauerte und meine Fraktion einen solchen Bericht seit Jahren immer wieder angefordert hatte.
({2})
Wir wollen aber nicht nur vergangene Einsätze auswerten, sondern auch konkrete Kriterien für zukünftige
Einsätze ermitteln. Oft geht es in der parlamentarischen
und öffentlichen Debatte um die Frage der völkerrechtlichen Legitimität, aber viel zu selten um die Frage der
Wirksamkeit militärischer Mittel. Dabei ist völkerrechtliche Legitimität zweifelsohne eine erforderliche, nicht
aber eine hinreichende Voraussetzung für einen Militäreinsatz.
({3})
Ob ein Militäreinsatz erfolgreich ist oder nicht, kann nur
dann bestimmt werden, wenn ein konkretes Ziel gesetzt
wurde. An der Erreichung dieses Ziels müssen sich dann
die eingesetzten Mittel messen lassen.
Ich denke, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass
in Afghanistan viele Fehler gemacht worden sind. Daher
ist es auch so wichtig, aus diesen Fehlern zu lernen.
({4})
2001 sind die Bündnispartner aus lauter Solidarität in einen gemeinsamen Einsatz gegangen, ohne zuvor ein gemeinsames Ziel zu definieren und sich darüber einig zu
werden, mit welchen Mitteln man das Ziel erreichen
will. Jeder hat das gemacht, was er gerade konnte oder
für sinnvoll hielt, bis klar war, dass keine Strategie die
schlechteste Strategie war. Trotz dieser Erfahrung haben
sich die Bündnispartner auch hinsichtlich der Flugverbotszone über Libyen wieder einmal nicht auf gemeinsame Ziele einigen können.
Wir fordern also mit unserem Antrag klare Prüfkriterien für Auslandseinsätze und aussagekräftige Fortschrittsberichte inklusive der Auswertung ziviler Maßnahmen.
({5})
Dazu ist es aber auch erforderlich, Geheimhaltung auf
das zu beschränken, was wirklich geheimhaltungsbedürftig ist. Es ist nachvollziehbar, dass in sicherheitsrelevanten Bereichen eine vertrauliche Einstufung notwendig sein kann. Dafür gibt es aber im Wesentlichen nur
zwei relevante Gründe: der Schutz involvierter Personen
und der laufender Operationen. In der Praxis sieht es leider so aus, dass jeder, der einen Bericht schreibt, selbst
über die Einstufung dieses Berichts entscheidet und anschließend niemand mehr prüft, ob das eigentlich wirklich erforderlich war. Am Ende werden dann nur noch
die Obleute geheim unterrichtet, die dann nicht einmal
mehr ihre Ausschusskollegen informieren dürfen. Das
ist nicht im Sinne einer transparenten parlamentarischen
Kontrolle.
({6})
Überall, wo es irgendwie möglich ist, sollte das Parlament als Ganzes über den Verlauf der Einsätze schriftlich und öffentlich informiert werden; denn wer Verantwortung übernehmen soll, ist auf eine qualifizierte
Unterrichtung angewiesen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Der Kollege Kiesewetter hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Keul, Sie fordern in Ihrem Antrag eine andere, eine umfassendere Berichterstattung gegenüber dem Parlament.
Ich möchte Ihnen einmal kurz darstellen, wie sich die
Berichterstattung in den letzten zehn Jahren entwickelt
hat. Im Jahr 2000 hat Ihre Fraktion verlangt, dass der
Kosovo-Einsatz nicht mehr jährlich mandatiert wird, um
jährliche namentliche Abstimmungen im Rahmen eines
Beschlusses zu vermeiden.
({0})
Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erreicht
hat, dass gerade beim Kosovo-Einsatz eine jährliche
Mandatierung erfolgt. Wir haben uns damals für die
Rechte des Parlaments eingesetzt.
Ich möchte noch einen anderen Punkt erwähnen. Es
kommt darauf an, wie die Mandate formuliert sind. Es
war im Jahr 2003, als Außenminister Fischer sich rechtfertigen musste, weil die Mandatsformulierung damals
so zweideutig war, dass Drogenbekämpfung eine Aufgabe der Bundeswehr hätte sein können. Das haben wir
mit einer aufwendigen Protokollerklärung verhindert. Diese Zeiten sind vorbei. Ich freue mich, dass Sie den
Evaluierungsbericht Afghanistan angesprochen haben.
Wir machen Fortschritte. Das ist auch ein Verdienst dieses Parlaments.
Ich möchte kurz auf Ihre Kritik an den Berichtspflichten eingehen. Die Berichtspflichten haben natürlich auch
- Sie haben es angesprochen - Geheimhaltungsschutzgründe. Es geht ebenfalls darum, dass das jetzige Obleuteverfahren eingehalten wird. Wenn es gewünscht wird,
kann ich nachher gerne einzelne Obleuteinformationen,
insbesondere was Spezialkräfte angeht, darlegen. Offensichtlich ist es nur Ihr Wunsch, entsprechende Informationen über den Einsatz der Spezialkräfte zu erhalten.
Dazu aber haben Sie Ihre Obleute.
Ich möchte auf das eigentliche Thema, den Kriterienkatalog, eingehen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns
darüber unterhalten, was die Prüfsteine für einen Auslandseinsatz sind. Grundsätzlich gilt für uns, die CDU/
CSU-Fraktion, dass jeder Einsatz seine politische und
militärische Besonderheit hat. Ich möchte fast sagen: Jeder Einsatz hat seine eigene Geografie. Die sachlichen
und politischen Ausgangslagen sind unterschiedlich. Ein
Schema eines Kriterienkatalogs entspricht nicht dem
Grundsatz, dass jeder einzelne Einsatz eine besondere sicherheitspolitische Herausforderung ist und es damit
auch spezieller sicherheitspolitischer Lösungsansätze
bedarf. Ich sage auch ganz offen: Der außenpolitische
Handlungsspielraum muss erhalten bleiben. Deswegen
müssen wir jeden Einzelfall konkret prüfen. Wir brauchen Ermessensspielräume. Ich nehme einfach einmal
das Beispiel „Responsibility to Protect“. Wäre dies ein
maßgebliches Kriterium für die Beteiligung an Auslandseinsätzen, müssten wir tatsächlich überall dort intervenieren, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Dies
würde zu einer Überforderung nicht nur unserer Streitkräfte, sondern auch unserer Gesellschaft führen.
({1})
Ich möchte einen Bogen schlagen. Natürlich kann ein
Kriterienkatalog hilfreich sein; er kann Orientierung geben. Dem ist auch unsere Fraktion nachgekommen. Ich
verweise darauf, dass Herr Schockenhoff im Jahr 2006
einen Zehnpunktekatalog vorgelegt hat. Ich möchte sieben Bausteine nennen, die für unsere Debatte ganz hilfreich sind.
Erster Baustein: völkerrechtlicher Rahmen. Liegt ein
Mandat der Vereinten Nationen vor? Ist es ein Einsatz im
Rahmen der kollektiven oder der Selbstverteidigung? Ist
es ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen?
Zweiter Baustein: das politische Ziel. Frau Keul, Sie
haben vorhin zu Recht gefragt: Was ist die Exit-Strategie? Was ist das Ziel eines Einsatzes? Wie realistisch ist
der Einsatz? Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Zeitraum kann der Einsatz erfolgreich beendet
werden? Für uns Deutsche ist besonders wichtig: Mit
welchen Partnern gehen wir in den Einsatz?
Dritter Baustein: deutsche Interessen. Sind durch den
Konflikt deutsche Interessen betroffen? Ein deutsches
Interesse ist immer, abgesehen von der Evakuierung
deutscher Staatsbürger, die Aufrechterhaltung des Prinzips „Keine Alleingänge“. Es gibt keine deutschen Sonderwege bei Auslandseinsätzen. Sind die Einsatzregeln
so gestaltet, dass unsere Interessen und auch das politische Ziel umsetzbar sind? In dem Zusammenhang
nehme ich noch einmal den Gedanken einer nationalen
Sicherheitsstrategie auf, den unsere Fraktion im Jahr
2008 sehr deutlich formuliert hat.
Vierter Baustein: Was sind die Konsequenzen eines
Einsatzes oder Nichteinsatzes? Welche Folgen hat es,
wenn wir nicht eingreifen? Wie bedeutsam ist unser
deutscher Beitrag zum Gelingen einer Mission? - Das
sind Fragen, die wir uns auch aktuell stellen.
Fünfter Baustein: die zivile Krisenprävention. Frau
Keul, Sie haben den Punkt zu Recht angesprochen. Welche nichtmilitärischen Maßnahmen bzw. Maßnahmen
der zivilen Krisenprävention werden zur politischen Lösung des Konflikts ergriffen, und ist die Wahl der Mittel
verhältnismäßig?
Sechster Baustein: Welche Risiken bestehen für die
Einsatzkräfte? Wir haben nicht nur die Verantwortung
für die Umsetzung der politischen Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen; wir haben auch eine Verantwortung
gegenüber den Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfern, die wir in die Einsätze schicken. Welche Risiken
bestehen für sie, und wie können sie begrenzt werden?
Siebter Baustein. Damit spreche ich die öffentliche
Kommunikation an. Dabei geht es um die Stichworte
„Überforderung, politisch wie finanziell“ und „Kommunikationsbedarf“. Wir müssen auch darüber nachdenken,
wie weit unsere Einsätze gehen können. Was können wir
uns leisten? Vor allen Dingen - damit schlage ich den
Bogen zur Evaluierung -: Welche Lektionen lernen wir
aus den Einsätzen?
Somit sind diese sieben Bausteine nicht als Checkliste
zu verstehen. Mein Kollege Reinhard Brandl wird noch
einen anderen Gesichtspunkt einbringen. Wenn Sie von
den Streitkräften sprechen, so sprechen wir auch von der
Verantwortung des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin
in Uniform. Das ist auch eine verantwortungsethische
Frage, auf die wir nachher eingehen werden.
({2})
Auf jeden Fall muss über jeden Einsatz neu entschieden
werden.
Sie fordern in dem Zusammenhang einen Gesamtbericht unabhängiger Experten. Ich sage ganz offen: Sicherheitspolitik kann man nicht outsourcen. Wir, das
Parlament, haben die Verantwortung. Wir können uns
natürlich Expertise ins Haus holen - wir haben auch
schon viele Anhörungen durchgeführt -, aber ich warne
davor, dass wir als Parlament unsere Verantwortung abgeben. Wir müssen dazu stehen und dürfen nicht sagen:
Die Wissenschaftler haben uns das empfohlen.
Allerdings - ich komme zum Schluss - ist Ihr Antrag
in einem Punkt hilfreich, und das ist der bilanzierende
Gesamtbericht. Wir als Union haben im letzten Jahr
selbst gefordert - das waren einige Kollegen von mir
und auch ich -, dass die Unterrichtung des Parlaments
umfassender geschieht, dass vielleicht ein Ministerium
federführend beauftragt wird, aber dass wir ganzheitlicher informiert werden, aus entwicklungspolitischer
Sicht, aus wirtschaftlicher Sicht und natürlich - das ist
bisher auch immer sehr gut geschehen - aus verteidigungspolitischer Sicht. Das halte ich für ganz entscheidend.
Diesen Punkt aus Ihrem Antrag können wir mittragen,
aber die anderen Punkte aus nachvollziehbaren Gründen
nicht. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Wir
sind aber offen für Vorschläge, wie wir die Unterrichtung des Parlaments verbessern können. Das ist die Auffassung und Erwartung der Union. Aber es gilt: SicherRoderich Kiesewetter
heitspolitik kann man nicht outsourcen und auch nicht
katalogisieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Groschek für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, Herr Kiesewetter hat mit dem letzten Punkt einen Hinweis darauf gegeben, wo die Schwachstelle beim
Antrag der Grünen ist. Bei der Überschrift fängt es an.
Die Prüfkriterien für einen Einsatz erinnern doch zu
stark an eine Katalogisierung, bei der es dann nach dem
Motto geht: Wenn acht von zehn Punkten gegeben sind,
dann ja; wenn es sieben und weniger sind, dann nein.
({0})
Darüber besteht bei uns noch Diskussionsbedarf. Ansonsten finden wir den Antrag wichtig und richtig, was
die Verdichtung und die wachsende Transparenz von Informationen angeht.
Ich komme auf einen Punkt zu sprechen, bei dem wir
uns, zumindest wir aus dem Verteidigungsausschuss, an
die eigene Nase fassen müssen. Ich sehe den Herrn
Staatssekretär Kossendey und habe seine wiederholten
Mahnungen im Ohr, dass sich der Ausschuss doch bitte
einmal intensiv und zeitlich angemessen mit dem Stichwort „Atalanta“ befasst. Der Bitte ist der Ausschuss bislang nur rhetorisch nickend, aber nicht de facto gefolgt.
Zur Wahrheit gehört, glaube ich, nicht nur die Informationspflicht der Bundesregierung, die in ihren Defiziten
hier richtig beschrieben ist, sondern auch das politische
Management von Ausschussdiskussionen, um unserer
Verantwortung auf der anderen Seite gerecht zu werden.
Wenn wir die Diskussionskultur so beleben, kommen
wir ein ganzes Stück weiter.
Jetzt konkret zum Antrag. Jeder Einsatz ist ein Unikat. Das muss man bei den Einsätzen berücksichtigen.
Man kann eine Zustimmung nicht nach Schema F geben.
Ich komme zum Schluss noch auf eine andere Perspektive zu sprechen, mit der man das Problem lösen kann.
Die Problembeschreibung wurde auch schon im Antrag
gegeben.
Ich finde, Herr Kiesewetter, Sie haben zu Unrecht auf
Rot-Grün gezeigt, nach dem Motto: Da war die CDU
schon weiter, angefangen beim Kosovo. - Ich denke, es
war schon eine gemeinsame Leistung, sich nach der Vereinigung in einem sehr schwierigen Prozess des Learning by Doing in der neuen Rolle gesteigerter Verantwortung zurechtzufinden und diese zu praktizieren.
Dann wurde ein Gesetz über die parlamentarische Beteiligung auf den Weg gebracht. Damit haben wir seit 2005
eine klare gesetzliche Grundlage, wie ein Beschluss mit
Parlamentsbeteiligung zu fassen ist. Auf dieses Gesetz
und auf unsere Erfahrungen können wir uns stützen.
({1})
Bisher haben wir die Verpflichtung zur umfassenden
Information. Wir haben die Verpflichtung, über Einsätze
schon im Stadium der Vorplanung zu diskutieren. Aktuell besteht das Problem: Welche Libyen-Einsätze werden
von wem mit welcher Legitimation wo vorbereitet?
({2})
Das ist ein Hinweis darauf, dass aktuell Defizite festzustellen sind. Wir haben Informationspflichten in Bezug
auf den jeweiligen Verlauf, und wir haben Informationspflichten im Rahmen einer Jahresbilanz. Ich glaube,
diese bilanzierenden Berichte sind ein Pferdefuß; sie
werden noch nicht hinreichend praktiziert, und es besteht großer Nachholbedarf.
Die formale Obleuteunterrichtung ist in Ordnung,
aber sie kann nicht reichen. Die Parlamentsarmee ist ein
Verfassungsgebot, und sie ist unteilbar. Es gibt keine Armee in der Armee und schon gar keine Armee neben der
Armee. Deshalb ist auch die KSK integraler Bestandteil
dieser Parlamentsarmee und entsprechend in ihrem Tun
und Handeln rechenschaftspflichtig. Wir sind rechenschaftspflichtig, was die Wahrnehmung unserer Verantwortung gerade bei diesen Einsätzen angeht.
({3})
Das heißt aber auch, dass wir mit dieser Verantwortung sorgfältig umgehen müssen.
Kollege Groschek, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Danke, Herr Kollege. - Da Sie gerade bei dieser
Frage sind: Ich hatte nachgeschaut, seit wann der Kollege Kiesewetter Mitglied dieses Hauses ist und ob er
das wissen kann; aber er kann es offenbar nicht wissen:
Die Verantwortung bezieht sich auf das ganze Parlament, nicht auf einen Ausschuss und schon gar nicht auf
die Obleute eines Ausschusses. Deshalb muss auch das
ganze Parlament über alle Einsätze informiert werden.
({0})
Billard!
Die Frage kommt jetzt. - Ist Ihnen bekannt, dass das
Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung ausdrücklich festgestellt hat, dass „Parlamentsarmee“ heißt:
eine dem gesamten Parlament verantwortliche Armee
- das bedeutet, dass das gesamte Parlament informiert
werden muss -, und dass es nicht der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts entspricht, wenn die jetzige
Bundesregierung irrtümlicherweise meint, dass sie,
wenn sie einzelne Leute wie zum Beispiel Obleute informiert hat, ihrer Informationspflicht ausreichend nachgekommen ist?
Kollege Ströbele, da kann ich Ihnen nur antworten:
Ja. Im Übrigen teile ich Ihre Einschätzung, dass die
Obleuteunterrichtung im Sinne dieser Rechtsprechung
nicht ausreichend ist.
Ich komme zum Antrag zurück. Ich war bei dem
Stichwort „wechselseitige Verantwortung“. Die Soldatinnen und Soldaten des KSK tragen ganz besondere Risiken. Sie sind bei ihren Einsätzen unmittelbar mit tödlicher Bedrohung konfrontiert. Deshalb haben wir die
große Verantwortung, bei dem Bedürfnis, den gläsernen
Soldaten zu schaffen, Grenzen zu ziehen und zu akzeptieren. Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten kann
nicht in Kompromissen zwischen Opposition und Regierung verhandelt werden. Da muss man Fingerspitzengefühl haben. Deshalb sagen wir Ja; aber nach Einsätzen
müssen die Grundzüge im Parlament evaluierbar und
kritisierbar sein, um im Zweifel Konsequenzen für künftige Einsätze ziehen und im Rahmen parlamentarischer
Verantwortung korrigierend eingreifen zu können. Ich
habe Soldatinnen und Soldaten so kennengelernt, dass
sie gesagt haben: Die Parlamentsverantwortung ist ein
hohes Gut. Seitdem es gefährliche Auslandseinsätze
gibt, wissen wir, wie wichtig die Verantwortung des Parlamentes für uns im Einsatz ist. - Wir haben daher eine
Verpflichtung, dieser Verantwortung auch durch das Einfordern neuer Informationsqualitäten bestmöglich nachzukommen.
Ich komme zum Punkt zwei, der uns wie das Einfordern eines Kriterienkatalogs vorkommt. Wir sagen: Das
macht keinen Sinn. Wenn man den Punkt zwei mit dem
Punkt drei zusammennimmt, dann wird das eigentliche
Problem deutlich, das Sie mit diesen Instrumenten hilfsweise lösen wollen. Unser gemeinsames Problem ist das
Fehlen einer aktualisierbaren sicherheitspolitischen
Agenda. Es gibt viel Stückwerk und Schubladen nebeneinander. Wir leiden manchmal eher an zu viel parallel
laufender schriftlicher als an systematischer und zielgerichteter Unterrichtung. Deshalb muss es unser gemeinsames Interesse sein, eine sicherheitspolitische Agenda,
nationale Interessen beachtend, zu schaffen und in eine
europäische sowie in eine Bündnisperspektive - Stichwort „NATO“ - einzubetten.
Es gibt viele aktuelle Hinweise, die genau dieses Defizit belegen: angefangen von der Bundeswehrreform,
die ohne eine konzeptionelle Einbettung gestartet wurde,
bis hin zu der Diskussion über Libyen. Die Enthaltung
im Sicherheitsrat ist strategisch überhaupt nicht einzuordnen, sondern sie erscheint wie ein Zufallsprodukt.
({0})
Das zeigt, dass wir ganz dringend eine Agenda der vernetzten Sicherheitspolitik brauchen, die dann Grundlage
für eine gemeinsame Formulierung sicherheitspolitischer Schritte sein kann. Das ist der entscheidende
Punkt. Kollege Kiesewetter, Ihre Schlussbemerkung
zielt in diese Richtung. Ich würde mich freuen, wenn wir
in den Ausschussdiskussionen über eine sicherheitspolitische Agenda einen Verständigungsprozess organisieren
könnten, wie er auch in manch anderen Bereichen möglich geworden ist.
Ich will mir einen Hinweis noch erlauben. Bei den
Bausteinen und Kriterien für eine denkbare Einsatzorientierung haben Sie ein wesentliches Merkmal vergessen, das aber unter anderem bei der Stimmenthaltung im
Sicherheitsrat eine Rolle zu spielen schien. Das war der
Hinweis darauf, dass wir nicht nur eine Verantwortung
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in den
Einsatz schicken, haben, sondern dass wir auch eine gemeinsame Verantwortung für die potenziellen Opfer einer solchen Auseinandersetzung tragen, gleich welcher
Herkunft und unabhängig davon, ob sie in Uniform oder
in Zivil im Rahmen eines solchen Einsatzes sterben.
Man muss sich daher fragen, wie adäquat der Mitteleinsatz ist, wenn es gilt, Soldatinnen und Soldaten in den
Einsatz zu schicken.
Frau Keul, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wir hoffen, dass wir diesen Punkt in einem Diskussionsprozess auflösen können. Wir teilen Ihr Bedürfnis
nach dichterer und transparenterer Information und appellieren an uns Parlamentarier, die Informationspflichten wahrzunehmen. Wir hoffen, dass wir beim Formulieren einer sicherheitspolitischen Agenda einen Schritt
nach vorne kommen; denn sie fehlt an allen Ecken und
Kanten.
({1})
Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung neuer
Auslandsmandate - das ist vorhin schon von allen Rednern gesagt worden - oder eine Einsatzverlängerung
liegt nicht in der Hand der Regierung. Nein, die Entscheidung, deutsche Soldaten in Auslandseinsätze zu
schicken, muss vom Parlament getroffen werden.
Die Parlamentsarmee ist deshalb ein starkes Symbol
für die demokratische Willensbildung und zeigt den großen Einfluss des deutschen Parlaments. Dieses Privileg
ist natürlich nicht nur mit Rechten, sondern auch mit
Verpflichtungen verbunden. Dabei sind wir uns selbstverständlich der großen Verantwortung bewusst, die mit
dem Parlamentsbeteiligungsgesetz einhergeht. Die Grundvoraussetzung für eine gewissenhafte Entscheidung ist
die sehr gute Versorgung mit Informationen, InformatioDr. Bijan Djir-Sarai
nen zu Situationen im Einsatzgebiet, Informationen zum
Zweck des Einsatzes oder zur Einsatzgestaltung.
Jede einzelne Einsatzentscheidung muss im Vorfeld
genauestens analysiert werden. Aus diesem Grunde versorgt uns die Bundesregierung auf vielfältige Weise mit
den wichtigsten Informationen dazu. Die Bundesregierung fokussiert in der wöchentlichen Ausgabe der „Unterrichtung des Parlaments“ eine zeitnahe Unterrichtung
zu den laufenden Bundeswehreinsätzen. Damit wird allen interessierten Parlamentariern die Möglichkeit zur
Beobachtung der verschiedenen Einsätze gegeben.
Ich halte den Aspekt der Aktualität für besonders
wichtig. Deshalb begrüße ich die derzeitige Gestaltung
der Unterrichtung sehr. Ein Gesamtbericht, wie er vom
Antragsteller gefordert wurde, kann nicht im Sinne einer
zeitnahen Erfassung der Lage sein; das haben wir bereits
bei anderen Diskussionen festgestellt. Der geforderte
zeitnahe Evaluierungsbericht kann auch nicht im Sinne
einer rationalen Beurteilung des Einsatzes betrachtet
werden.
({0})
Ein Evaluierungsbericht würde höchstens dann Sinn machen, wenn er mittel- bis langfristig ausgerichtet wird.
Der Erfolg der meisten Einsätze der Bundeswehr lässt
sich nämlich erst im Laufe der Zeit erkennen; das ist die
Realität.
Schon allein die Forderungen nach einem Kriterienkatalog sowie nach konkreten und überprüfbaren Zielvorgaben in diesem Antrag führen aufs Glatteis. Wie die
Fachpolitiker unter uns wissen, finden sich in der Geschichte keine zwei exakt gleichen Auslandseinsätze
wieder. Jeder Einsatz ist speziell und ist mit speziellen
Herausforderungen verbunden.
({1})
Aus diesem Grund kann ein einzelner Kriterienkatalog
niemals die Komplexität der Situation angemessen widerspiegeln. Jeder Einsatz muss individuell betrachtet
werden und darf nicht durch ein uniformes Raster gestrichen werden.
Konkrete und überprüfbare Zielvorgaben sind natürlich insbesondere im Militärbereich leicht aufzustellen.
Die Frage, die sich stellt, ist jedoch: Wie sinnvoll ist ein
solches Vorgehen? Ich bin davon überzeugt, dass das
nicht sonderlich sinnvoll ist, denn alle quantifizierbaren
Erfolge lassen in keinem Fall Rückschlüsse auf zivilgesellschaftliche Erfolge von Auslandseinsätzen zu. Der
Einfluss des Einsatzes auf die Regierungsführung, die
politische Stabilität eines Landes oder das Vertrauen der
Bevölkerung in eine Verbesserung der Lage können mittels der in diesem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen
nicht beurteilt werden.
Deutlich beurteilt werden kann aber die Forderung im
Antrag nach einem unabhängigen Expertengremium. Es
handelt sich hierbei um die Berichtsfunktion dieses Gremiums. Die Aufstellung eines Mandats sowie die Beurteilung und Unterrichtung über Auslandseinsätze deutscher
Soldaten sind ureigene Aufgaben der Bundesregierung.
An dieser Stelle haben Dritte keine Legitimation zu erwarten. Hier darf und wird keine Ausgliederung der Verantwortung stattfinden; mein Kollege hat das vorhin gesagt.
({2})
Sicherheitspolitik kann nicht ausgegliedert werden.
Ich kann zusammenfassend sagen: Einige der Forderungen der Antragsteller erfüllt die Bundesregierung bereits in hohem Maße. Die anderen Forderungen, die in
Ihrem Antrag enthalten sind, können bei aller wohlgemeinten Intention nicht rational umgesetzt werden. Bei
allem Verständnis: Die geplante Umsetzung ist so nicht
möglich. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Bemerkung machen. Sie haben das Thema Afghanistan und
den Fortschrittsbericht angesprochen. Sie haben all die
Jahre natürlich darüber geredet, aber wir haben letztendlich gehandelt. Wir haben geliefert, nicht Sie.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Gehrcke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe die ganze Zeit geknobelt: Wie argumentiere ich
bei diesem Antrag? Ich habe bislang keinem Auslandseinsatz zugestimmt und habe auch nicht vor, das zu machen. Ich bin stolz darauf, dass dies nicht nur eine individuelle Haltung ist, sondern auch die Haltung meiner
Fraktion: Wir haben keinem Auslandseinsatz zugestimmt und werden es auch nicht tun.
({0})
- Eben. Das war ja mein Problem.
Im Antrag werden jetzt Prüfkriterien präsentiert. Ich
bin trotz meiner grundsätzlichen Position, die ich gerade
deutlich gemacht habe, dafür, dass man ernsthaft darüber
redet. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Mich persönlich bewegen hier zwei Motive: Erstens. Ich will mit solchen Prüfkriterien die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr schwerer, wenn nicht sogar
unmöglich machen. Das kann man erreichen, wenn man
es schlau anfängt. Zweitens. Ich möchte eine Kräfteverschiebung mit befördern, weg vom Regierungshandeln,
hin zu den Parlamentsrechten. Das ist hier immer umstritten gewesen. Das sind die Motive, die mich bewegen, überhaupt ernsthaft bei dieser Frage mitzudiskutieren. Man kann sich verschiedene Sachen anschauen, die
im Antrag enthalten sind.
Der erste Punkt, bei dem ich glaube, dass der Antrag
völlig berechtigt ist, ist folgender: Ich halte die Unter12066
richtung des Parlaments über die Auslandseinsätze inhaltlich wie formal für völlig ungenügend und nicht zu
akzeptieren.
({1})
Auch die Sonderbehandlung, das Obleutesystem - die
Fraktionsvorsitzenden haben dem ja zugestimmt -, halte
ich für völlig inakzeptabel. Man erfährt nämlich überhaupt nichts. Wir werden morgen um 7.30 Uhr wieder
im U-Boot im Verteidigungsministerium sitzen. Dann
glaubt man, man hat etwas erfahren, geht raus, geht ins
Cafe, weil man nicht mitschreiben kann, guckt sich an,
was man erfahren hat, und stellt fest: Es stand alles
schon in der Zeitung. Die Regierung informiert nicht
vernünftig. Sie informiert nicht präzise.
({2})
Ich möchte auch nicht, dass zwei Kategorien von Abgeordneten entstehen, Abgeordnete, die etwas erfahren,
und Abgeordnete, denen etwas verschwiegen wird. Diejenigen, die etwas erfahren, werden sogar unter Druck
gesetzt und dürfen noch nicht einmal ihren Kollegen in
den Ausschüssen mitteilen, was sie erfahren haben. Es
ist absurd, wenn man gefragt wird: „Wie ist es mit der
KSK?“, und man noch nicht einmal sagen darf, ob die da
oder nicht da sind, weil selbst das geheim ist. Das muss
unbedingt geändert werden.
({3})
Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, dass man
erst jetzt über eine Bilanzierung von Auslandseinsätzen
redet. Dieses Parlament hat Auslandseinsatz auf Auslandseinsatz beschlossen. Aber keiner hat am Ende wirklich kritisch nachgefragt: Welches sind die Ergebnisse
der Einsätze? Was ist moralisch, politisch, menschlich
zerstört worden? Was ist mit den Einsätzen erreicht worden? Auch das halte ich für völlig inakzeptabel.
Ich möchte auch gern, dass am Parlamentsbeteiligungsgesetz Veränderungen vorgenommen werden. Darüber müsste man ernsthaft reden. Das Parlament muss
ein größeres Recht erhalten, Auslandseinsätze zu beenden - auch mitten im Einsatz - und die Armee zurückzuholen.
({4})
Es muss das Recht haben, solche Auslandseinsätze zu
verbieten. Wir diskutieren doch nicht im luftleeren
Raum. Schauen wir uns einmal das Trauerspiel um den
Libyen-Einsatz an. Das ist doch eine Katastrophe, was
dort abläuft.
Bei der Beschlussfassung müssen die Fraktionen das
Recht haben, zu Anträgen der Bundesregierung Alternativanträge zu stellen. Wir haben ja nur das Recht, Ja oder
Nein zu sagen. Außer einer Entschließung gibt es keine
materiellen Rechte. Ich glaube, dass man über solche
Fragen reden muss.
Zum Schluss, liebe Kollegen der Grünen: Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich mich an meinen Lieblingsroman erinnert: Die Abenteuer des braven Soldaten
Schwejk. Schwejk war entschieden dafür, dass der Krieg
Regeln erhält. Ich bin entschieden dafür, dass der Frieden Regeln erhält. Sie hatten einmal gute Positionen.
Wenn Sie ordentlich arbeiten und wieder darauf zurückkommen, wäre das ein echter Fortschritt in diesem
Hause.
Danke sehr.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Brandl für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidungen über Auslandseinsätze, die wir
hier in diesem Saal zu treffen haben, sind mit die
schwerwiegendsten Entscheidungen, die von diesen Abgeordneten zu treffen sind. Schwerwiegend sind sie besonders deshalb, weil es neben den politischen Fragen
auch ethische Aspekte des Handelns und des Nichthandelns abzuwägen gilt, und zwar in jedem einzelnen Fall.
Die Kollegen haben es vorhin angesprochen: Jeder Fall
ist anders.
Wenn wir eines aus der Geschichte lernen können,
dann ist es doch, dass wir heute nicht vorhersehen können, vor welchen Fragen wir in einem Jahr, geschweige
denn in fünf oder in zehn Jahren stehen. Die Situation in
Libyen ist heute doch ganz anders gelagert, als sie damals in Afghanistan war oder wie sie auf dem Balkan
war. Die Situation war vor einem Jahr auch nicht vorhersehbar.
Klar ist, dass unsere Entscheidungen weder nach außen noch nach innen willkürlich wirken dürfen. Wir
brauchen für unsere Außenpolitik und die Entscheidungen über Auslandseinsätze eine klare politische, wertorientierte Linie. Die Frage ist, inwieweit wir diese Linie
anhand einer Checkliste in die Zukunft vorzeichnen können. Meine Einschätzung dazu ist: Angesichts der Komplexität und der Unterschiedlichkeit der einzelnen
Einsätze und der einzelnen Anfragen, die uns gestellt
wurden, muss man sagen: Wir können es nicht.
Natürlich gibt es politische Leitplanken, an denen wir
uns orientieren können, wie zum Beispiel das Vorhandensein eines völkerrechtlichen Mandats. Der Kollege
Kiesewetter hat vorhin in seiner Rede sechs weitere solcher Leitplanken genannt. Vermutlich, Frau Kollegin
Keul, haben Sie in Ihren Fraktionen - ({0})
- Ich habe gleichzeitig auch die SPD gemeint. Es tut mir
leid.
({1})
Vermutlich haben Sie, Frau Kollegin Keul und Herr Kollege Groschek, in Ihren Fraktionen ähnliche oder andere
Punkte, an denen Sie sich orientieren. Das ist auch richtig.
Ich stimme Ihnen und dem Kollegen Kiesewetter zu,
dass wir in der Frage der Unterrichtung des Parlaments
eine ganzheitliche, ressortübergreifende Information
brauchen. Wir können heute aber nicht festschreiben,
welche Kriterien mit welcher Gewichtung in einem nicht
bekannten Fall in der Zukunft maßgeblich sein sollen.
Wenn ich dann irgendwann einmal zu einem Einsatz
Nein sage,
({2})
dann will ich mir auch nicht vorhalten lassen: Aber du
musst doch, alle Kriterien, denen du damals zugestimmt
hast, sind erfüllt.
({3})
Jenseits aller politischen Kriterien ist eine solche Entscheidung immer auch eine Gewissensentscheidung. Die
Freiheit dazu möchte ich mir nicht nehmen lassen.
({4})
Welche Leitlinien für das Gewissen gelten, muss jeder
Abgeordnete mit sich selbst vereinbaren. Auch das ist
nicht einfach.
Der Herr Kollege Kiesewetter hat heute eine Reihe
von politischen Kriterien hergeleitet.
({5})
- Ob Sie es Kriterien oder Leitplanken nennen, Frau
Kollegin Keul, ist eigentlich egal. - Es geht uns darum,
dass es keine Checklisten gibt, an denen man abhaken
kann: 80 Prozent sind erfüllt, was machen wir dann?
Stimmen wir zu, oder stimmen wir nicht zu?
({6})
- Ja, da steht „Prüfkriterien“. Aber wenn Sie den Antrag
lesen, sehen Sie, dass genau das darin steht.
Es gibt neben den politischen Leitplanken, die Herr
Kollege Kieswetter angesprochen hat, auch noch ethische Leitplanken. Für mich persönlich war es sehr hilfreich, dass sich auch die Kirchen mit diesem Thema intensiv beschäftigt haben. Bevor ich ins Parlament kam,
war mir das gar nicht so sehr bewusst. Ich habe danach
das Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz „Gerechter Friede“ gelesen. Darin wird die Gewaltanwendung als letztes Mittel der Politik als nur dann zulässig
beschrieben, wenn sie zeitlich begrenzt ist, mit klarer
Zielsetzung auf das internationale Gemeinwohl ausgerichtet ist
({7})
und in der Verantwortung einer internationalen Autorität, das heißt der Vereinten Nationen, erfolgt. Alle anderen Mittel müssen entweder unanwendbar oder unwirksam sein. Der Waffeneinsatz darf nicht mehr Übel
hervorbringen als das zu beseitigende Übel selbst.
({8})
Aber, Frau Kollegin Keul, auch das sind nur Leitplanken, die uns die konkrete Entscheidung im Einzelfall
nicht abnehmen. Über den jeweiligen Einzelfall müssen
wir selbst nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5099 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Vormundschafts- und
Betreuungsrechts
- Drucksache 17/3617 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/5512 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen,
Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen
- Drucksachen 17/2411, 17/5512 12068
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte
Kollegen! Am 10. Oktober 2006 machten Polizeibeamte
in Bremen einen grausigen Fund: Sie entdeckten im
Kühlschrank der Wohnung eines drogenabhängigen Vaters die Leiche eines kleinen Kindes.
Der kleine Kevin, geboren im Januar 2004, hat in seinem kurzen Leben Bekanntschaft gemacht mit Kliniken,
mit Heimen, mit Sozialarbeitern, aber die notwendige
Fürsorge hat er nicht erfahren. Als Kevin acht Monate
alt war, äußerte die Polizei gegenüber dem Jugendamt
den Verdacht auf einen gravierenden Fall der Kindesmisshandlung. Als Kevin neun Monate alt war, wurde er
mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Als
Kevin elf Monate alt war, kam er in die Obhut eines Kinderheimes. Als er 18 Monate alt war, starb seine drogensüchtige Mutter. Das Jugendamt erhielt die Vormundschaft über ihn, und er wurde zurück in die Obhut seines
Vaters gegeben. Im Oktober 2006 wurde seine Leiche im
Kühlschrank des Vaters gefunden.
Wir haben in der Politik die Aufgabe, die Konsequenzen hieraus zu ziehen, indem wir zunächst die Ursachen
eines solchen Falles analysieren und ihn einer genauen
Betrachtung unterziehen. Der Vater nahm Termine, die
das Jugendamt anberaumt hatte, nicht mehr wahr. Der
Amtsvormund, der für Kevin verantwortlich war, hatte
200 Vormundschaftsfälle zu betreuen. Er hatte kaum
persönlichen Kontakt zu seinem Mündel, was bei dieser
großen Fallanzahl, die er zu bewältigen hatte, fast nicht
verwundern kann. Kevin füllte eine dicke Akte beim Jugendamt; aber diese dicke Akte konnte sein kurzes Leben nicht retten.
Die Regierung und wir als Gesetzgeber wollen heute
mit der zweiten und dritten Beratung eines Gesetzes zur
Verbesserung der Vormundschaftsregelungen die Konsequenzen daraus ziehen. Es gibt zwei wichtige Punkte,
derer wir uns heute in dem Ihnen vorliegenden Entwurf
der Bundesregierung annehmen wollen.
Punkt eins betrifft die Regelung, dass ein Vormund
ein Mündel in der Regel einmal monatlich in seiner gewöhnlichen Umgebung, also zu Hause, besuchen muss.
Im Einzelfall kann das auch mehr oder weniger häufig
sein. Es kann auch in Betracht kommen, dass dieser
Kontakt an anderen Orten stattfindet. Dieser Punkt, dass
der Kontakt nicht unbedingt zu Hause stattfinden muss,
ist in Ihrem Antrag ebenso enthalten wie im Gesetzentwurf der Regierung; Frau Kollegin Steffen wird sich
nachher noch dazu äußern. Im Einzelfall kann von dieser
Regel abgewichen werden. Wir haben Vertrauen zu den
Mitarbeitern der Jugendämter, dass sie bestimmen können, wo ein problemloser oder ein problembehafteter
Fall vorliegt. Wir wollen hier die Jugendämter nicht in
ein zu enges Korsett zwängen.
Punkt zwei. Wir wollen die Fallzahl pro Amtsvormund auf 50 begrenzen. Der Antrag der SPD-Fraktion
sieht eine Begrenzung auf 40 Fälle vor. Man kann natürlich immer eine Unterbietung vornehmen. Egal wo man
diese Grenze ansetzt, kann man immer versuchen, diese
Zahl zu unterbieten. Der Hintergrund ist aber der, dass
wir in vielen Bundesländern gute Erfahrungen mit einer
Begrenzung auf 50 Fälle gemacht haben. Wir haben Vertrauen in die Mitarbeiter der Jugendämter, dass sie mit
dieser Größenordnung verantwortungsvoll umgehen
können.
Bei 200 Fällen allerdings - das ist uns allen klar - ist
ein verantwortungsvoller Kontakt auch für den fürsorglichsten und gewissenhaftesten Mitarbeiter nicht mehr
möglich. Da ist auch der fürsorglichste Jugendamtsmitarbeiter überlastet. Das Problem liegt also nicht in dem
Unterschied zwischen 40 und 50 Fällen, sondern in dem
zwischen 50 und 200 Fällen. Dieses Problem lösen wir
mit unserem Gesetzentwurf. Eine geringfügige Überschneidung ist, glaube ich, nicht das Problem. Das ist der
Kernpunkt, in dem wir uns - darüber freue ich mich sehr in diesem Hohen Hause weitgehend einig sind.
Das sind die beiden Kernpunkte des heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfs.
Ich erlaube mir, abschließend einen Ausblick zu geben; denn wir wollen nicht bei dem stehen bleiben, was
wir heute zur Vermeidung von Fällen wie dem von
Kevin beschließen wollen. Im Zusammenhang mit den
Vormündern wollen wir auch eine Leitbilddiskussion
führen. Diesbezüglich wollen wir weitere Korrekturen
vornehmen, zum Beispiel bei der Frage, ob ein Vormund
auch das Sorgerecht für seine Mündel erhalten soll. Das
würde eine Änderung des § 1800 BGB bedeuten. Wir
wollen auch darüber diskutieren, ob ein Vormund in gerichtlichen Verfahren als Beteiligter zwingend angehört
werden muss. All das wollen wir weiter besprechen.
Wir wollen uns den Anregungen, die vonseiten der
Opposition kommen werden, nicht verschließen. Im
Rahmen des Gesetzesvorhabens, das heute auf der
Agenda steht, haben wir alle Anregungen aufgenommen.
An dieser Stelle möchte ich deshalb allen Kolleginnen
und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen meinen Dank für die konstruktive
Mitwirkung bei diesem, wie ich meine, auch menschlich
sehr wichtigen Gesetzesvorhaben aussprechen. Im Anschluss an den Dank möchte ich die Bitte aussprechen,
dass der heute vorliegende Gesetzentwurf in diesem Parlament eine breite Zustimmung erfährt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sonja Steffen von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In einem Punkt sind wir uns fraktionsübergreifend einig: Der Schutz unserer Kinder hat oberste
Priorität, und der Gesetzgeber muss alles daransetzen,
dass Fälle wie der des kleinen Kevin, dessen trauriges
Schicksal Herr Thomae uns vorhin geschildert hat, zukünftig verhindert werden,
({0})
jedenfalls soweit dies mit staatlicher Hilfe möglich ist.
Wir begrüßen daher jede gesetzliche Änderung, die
dazu dient, die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht
gegenüber Kindern zu verbessern. Vormünder spielen in
diesem Bereich eine ganz zentrale Rolle. Im Fall von
Kevin - auch das hat der Kollege Thomae vorhin schon
gesagt - kamen auf zweieinhalb Planstellen bei der
Sozialbehörde rund 650 Mündel. Das bedeutet für jeden
Vormund 260 zu betreuende Kinder. Eine verantwortungsvolle Wahrnehmung der mit einer Vormundschaft
verbundenen Aufgaben ist unter solchen Umständen unmöglich.
({1})
Zu Recht stehen daher bei dem vorliegenden Gesetzentwurf der persönliche Kontakt mit dem Mündel und
die Begrenzung der Vormundschaftsfälle im Vordergrund. Allerdings sind wir uns nicht mehr einig - darauf
haben Sie schon hingewiesen -, wenn es um die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen geht,
insbesondere wenn es um die Fallobergrenze geht.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, dass ein
vollzeitbeschäftigter Beamter oder Angestellter höchstens 50 Vormundschaften führen soll. „Soll“ in einer gesetzlichen Regelung heißt zwar in der Regel „muss“;
Überschreitungen sind in Ausnahmefällen jedoch möglich. Aus unserer Sicht wäre hier eine Mussvorschrift erforderlich gewesen, um eine tatsächliche Schallgrenze
zu setzen.
({2})
Wir bleiben daher bei der Forderung unseres heute ebenfalls zur Abstimmung vorliegenden Antrags, die Obergrenze auf 40 Vormundschaften in Form einer Mussvorschrift festzulegen.
({3})
Die Aussagen der Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung - viele von uns waren dabei - haben uns
in dieser Position bestärkt; denn es bestanden aufseiten
der Experten große Zweifel im Hinblick auf die praktische Einhaltung der Fallobergrenze und der Durchführung des gleichzeitig vorgeschriebenen monatlichen
Kontaktes. Ich will Ihnen das einmal anhand eines Zahlenbeispiels erklären: Ein vollzeitarbeitender Vormund
mit 50 Mündeln müsste nach Ihren Vorgaben zum monatlichen persönlichen Kontakt pro Jahr 600 Besuche organisieren. Bei 220 Arbeitstagen bedeutet das, dass pro
Tag zwei bis drei Mündel besucht werden müssen. Wenn
man bedenkt, dass jeder Besuch der Planung bedarf, dass
sich viele Mündel weit weg von der Behörde aufhalten,
dass sie in Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht
sind, dann wird klar, dass das im Grunde genommen
kaum möglich ist. Es kann sich nur um sehr kurze Kontrollbesuche handeln, die den unterschiedlichen Situationen, in denen sich die Mündel befinden, und der Personensorge nicht gerecht werden können. Vor diesem
praktischen Hintergrund wurde der monatliche Kontakt
im vorliegenden Entwurf - auch das haben Sie schon gesagt - als Regelausnahmevorschrift ausgestaltet. Das
lässt natürlich einen Freiraum zu. Wie sich dieser Freiraum in der Praxis allerdings tatsächlich auswirken wird,
bleibt abzuwarten. Wir hätten uns hier eine stärker am
Wohl des Mündels orientierte Vorschrift mit einem klar
festgeschriebenen vierteljährlichen Kontakt gewünscht.
({4})
Denn die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach
Kontakt richten sich nach der individuellen Fallgestaltung. Die Kontakte sind vom Einzelfall und von der Situation vor Ort abhängig. Ausschlaggebend für die Intensität der persönlichen Kontakte zwischen Vormund
und Kind sollte immer der Bedarf des Kindes sein. Andererseits sollte gewährleistet sein, dass der Vormund
auch bei augenscheinlich unproblematischen Situationen
im Lebensbereich des Kindes regelmäßige Besuche vornimmt; denn die Neuregelung soll es dem Mündel ermöglichen, in seinem Vormund eine zuverlässige Bezugsperson zu finden. Die Umsetzung eines monatlichen
Kontaktes läuft Gefahr, für den Vormund und für das
Mündel zu einer oft nicht nötigen Pflichtveranstaltung
zu werden. Den Vormündern ist hier ein größerer zeitlicher Spielraum innerhalb verbindlicher und praktisch erreichbarer Eckdaten zu überlassen.
({5})
Die Einführung einer als Mussvorschrift festgeschriebenen vierteljährlichen Regelung wäre aus unserer Sicht
zielführender gewesen als ein im Regelfall monatlicher
Kontakt, der vermutlich schon bald eine Ausnahme sein
wird. Um auch hier noch einmal ein Rechenbeispiel zu
bringen: Bei unserem Vorschlag, vierteljährlicher Kontakt und Fallzahlobergrenze 40, wäre es möglich, einen
Besuch pro Arbeitstag zu organisieren. Dann findet man
zu vernünftigen Lösungen.
Einige der in unserem Antrag angeregten Änderungen, wie beispielsweise die Einführung eines Anhörungsrechts für den Vormund vor dem Familiengericht,
hat das BMJ mit dem Hinweis auf die geplante Gesamtreform des Vormundschaftsrechts vorerst abgelehnt bzw.
verschoben. Herr Thomae hat hier schon eine Diskussion angekündigt. Wir hoffen, dass wir in der Opposition
uns dort einbringen können. Sie können sich sicher sein,
dass wir dies an der einen oder anderen Stelle mit Nachdruck versuchen und hoffentlich auch erfolgreich tun
werden. Denn es bleibt noch einiges zu tun, wenn wir
die Vormundschaft und die Betreuung grundsätzlich verbessern wollen.
Es gibt noch ein weiteres Problem. Es bleibt schließlich offen, inwiefern der Bundesrat bei der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes mitzureden hat.
Nicht nur der Bundesrat, auch der Wissenschaftliche
Dienst des Deutschen Bundestages geht bei dem Gesetzentwurf von einer Zustimmungspflicht aus. Die Bundesregierung bleibt jedoch bei ihrer Haltung, dass der Bundesrat nicht zustimmen muss. Wir befürchten daher, dass
der Gesetzentwurf an der Zustimmungspflicht des Bundesrates scheitern könnte. Es wäre daher vielleicht klüger gewesen, sich im laufenden Reformverfahren mit
den Ländern zusammenzusetzen,
({6})
um eine bessere Praktikabilität des Gesetzes und damit
eine breite Zustimmung auf Länderebene zu erreichen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insgesamt darin sind wir uns einig; das möchte ich hier noch einmal betonen - geht der Gesetzentwurf mit seiner Absicht
des stärkeren Kinderschutzes in die richtige Richtung.
Allerdings geht er uns nicht weit genug. Deshalb werden
wir uns bei der Abstimmung enthalten.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
befassen uns heute mit einer Gesetzesänderung zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht. Wir haben in den
letzten Wochen, denke ich, auf sehr sachlicher Basis versucht, hier gemeinsam einen Weg zu finden, einen ersten
Schritt zu tun. Ich denke, er geht in die richtige Richtung. Es geht um das Wohl und die Interessen minderjähriger Kinder, die unter Vormundschaft stehen. Es geht
um Menschen, die des besonderen Schutzes des Staates
bedürfen. Es geht um Kevin und viele andere Kinder, die
ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Es geht bei diesem Gesetz darum, Vernachlässigung und Missbrauch
rechtzeitig zu erkennen und verhindern zu helfen.
Die Vormundschaft umfasst die gesamte elterliche
Sorge, das heißt Fälle, wo den Eltern die Sorge entzogen
und diese in der Regel auf das Jugendamt übertragen
wurde. Wir hatten in Deutschland 2007 30 547 Fälle,
2009 waren es 31 082 Fälle.
Wir haben in der letzten Wahlperiode einiges in diesem Bereich getan. Ich erinnere daran: § 1666 BGB, das
Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei der Gefährdung des Kindeswohls. Vorher sah
die Praxis so aus, dass, wenn ein Gericht eingeschaltet
wurde, das letzte Mittel im Entzug der elterlichen Sorge
bestand. Wir wollten die Möglichkeit schaffen, dass die
Gerichte schon früher eingeschaltet werden. Wir wollten
ein möglichst frühes und niederschwelliges Tätigwerden, das für die Kinder und für die Eltern gut ist. So wurden zum Beispiel das Gebot, für die Einhaltung der
Schulpflicht zu sorgen, und das Gebot, Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, eingeführt. Ich denke, in diesem Bereich ist das materielle
Recht zum Positiven geändert worden.
Im Anschluss daran haben wir das Familienverfahrensgesetz in Kraft gesetzt - das FGG haben wir aufgehoben - und damit begleitend dazu beigetragen, dass den
Verfahren, die Kinder betreffen, Vorrang eingeräumt
wird. Sie müssen innerhalb eines Monats durchgeführt
werden. Damit haben wir ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot in das Gesetz aufgenommen.
An dieser Stelle ist es ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass die allermeisten Eltern ihrer Sorgepflicht nachkommen, ihre Kinder verantwortlich erziehen und sie
liebevoll betreuen und versorgen. Der Schutzauftrag des
Staates ist den Fällen vorbehalten, in denen es im jeweiligen Elternhaus Defizite gibt.
Wir haben einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf
erkannt, sowohl aufgrund der Empfehlungen der Arbeitsgruppe, die vom Justizministerium eingesetzt wurde,
nachdem wir den § 1666 BGB geändert haben, als auch
aufgrund der Evaluierung des Betreuungsrechtänderungsgesetzes, das wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg
gebracht haben.
Der zentrale Punkt - er wurde schon angesprochen ist der persönliche Kontakt des Vormundes zum Mündel
bzw. des Betreuers zu seinem Schützling, dem Betreuten. Dieser Kontakt muss im Gesetz verankert werden.
Das ist für uns ein wichtiger Punkt, der sofort umgesetzt
werden soll.
Hinzu kommt, dass dieser Kontakt auch kontrolliert
wird; dies muss deshalb auch in den jährlichen Bericht
des Vormundes, des Betreuers, aufgenommen werden. In
einem weiteren Schritt untersteht das Ganze der Kontrolle, der Aufsicht durch das Familiengericht. Weil uns
dies so wichtig ist, haben wir festgelegt: Wenn der persönliche Kontakt im Falle der Betreuung nicht eingehalten wird, ist dies ein Grund, den Betreuer zu entlassen.
Ebenso bedeutsam wie der persönliche Kontakt ist die
Begrenzung der Zahl der Mündel, um die sich ein Vormund zu kümmern hat. Wir haben im Rechtsausschuss
eine umfassende Anhörung durchgeführt; das wurde
schon angesprochen. In Anbetracht der Ergebnisse dieser Anhörung haben wir einige Änderungen am Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorgenommen. Auch
unter Einbeziehung der Änderungsanträge von SPD und
Linken haben wir dem Rechtsausschuss einen Beschlussvorschlag vorgelegt, von dem wir denken, dass
wir ihn umsetzen können. Dabei war für uns der alleinige Maßstab das Wohl des Kindes bzw. des Mündels.
Der persönliche Kontakt wurde bereits angesprochen.
Wir haben im Gesetz die Regelung getroffen, dass der
Kontakt im Regelfall monatlich zu erfolgen hat, dass im
Einzelfall aber auch kürzere oder längere Besuchsabstände erforderlich sein können. Das Interesse des Kindes und die Situation des Mündels sollen bei der jeweiligen Regelung berücksichtigt werden, und die notwendige Flexibilität soll gewährleistet sein.
Weil uns sehr wichtig ist, dass der Kontakt in der Praxis tatsächlich erfolgt, haben wir festgelegt, dass die
Fallzahl auf 50 Vormundschaften pro Vormund begrenzt
ist. Diese Fallzahl ist auch von den Sachverständigen in
der Anhörung als praktikabel beurteilt worden; diese Regelung muss von den Jugendämtern umgesetzt werden.
Es sind also nicht 200 oder, wie es zurzeit durchschnittlich der Fall ist, 120 Vormundschaften pro Vormund,
sondern 50. Hätten wir die Fallzahl auf 40 festgelegt,
hätten Sie vielleicht 30 gefordert. Wir meinen, die Begrenzung auf 50 Vormundschaften pro Vormund ist in
Ordnung.
Wir haben diese Regelung als Sollvorschrift ausgestaltet, das heißt, 50 Vormundschaften pro Vormund sind
der Regelfall. Wenn es aus jugendamtsinternen Gründen
für kurze Zeit ein oder zwei Fälle mehr sein sollten, dann
ist auch dies akzeptabel. Aber grundsätzlich ist die Zahl
der Vormundschaften pro Vormund auf 50 begrenzt. Diese
Begrenzung ist für uns unverzichtbar und stellt die absolute Obergrenze dar. Wenn Sie dies als „Schallmauer“
bezeichnen wollen - auch in der Anhörung hieß es, die
Fallzahl 50 sei akzeptabel, da realistisch und umsetzbar -,
dann soll es so sein.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir alles Weitere,
worüber wir diskutiert haben, gemeinsam mit der Opposition, in einem zweiten Schritt bei der Reform bzw. der
Modernisierung des Vormundschaftsrechts, das noch aus
dem vorletzten Jahrhundert stammt, umsetzen wollen.
Dazu gehört das Leitbild, das Berufsbild ebenso wie das
Tätigkeitsfeld des Vormundes. Die Beteiligung des
Mündels wurde bereits angesprochen. Bei der Anordnung bzw. der Führung der Vormundschaft soll das Mündel dann auch abhängig von geistiger Fähigkeit und
Reife an Entscheidungen des Vormundes beteiligt werden.
Ein eigenes Anhörungsrecht des Vormundes in familiengerichtlichen Verfahren ist ein weiterer Aspekt, über
den wir gerne noch diskutieren können. Über einige wenige Punkte, die ich gerade erwähnt habe, haben wir
schon im Berichterstattergespräch diskutiert. Auch diese
Vorhaben werden wir auf den Weg bringen.
({0})
Lassen Sie mich noch auf das Inkrafttreten des Gesetzes zu sprechen kommen - ich denke, dieser Punkt wird
vom Kollegen von der Linken noch angesprochen -: Es
ist ein zweistufiges Verfahren vorgesehen.
Zum Inkrafttreten. Wir haben das - nach eingehender
Diskussion und nachdem wir es auch noch einmal überprüft haben - als richtigen Weg empfunden. Wir sagen:
Der persönliche Kontakt des Vormundes mit dem Mündel, aber auch die jährliche Berichtspflicht sind so wichtig, dass dies mit Inkrafttreten des Gesetzes, das heißt
mit dem Tag der Verkündung, umgesetzt werden muss.
Zu allem anderen - das heißt zur Fallzahlbegrenzung
und zur Aufsicht durch das Familiengericht - sagen wir,
dass ein Jahr Zeit gegeben werden muss, um die nötige
Organisation in den Behörden bzw. bei den Gerichten zu
ermöglichen. Das ist auch realistisch. Die SPD hat zwar
beantragt, dass es kein Jahr sein soll, sondern neun Monate. Darauf wird es, denke ich, aber nicht ankommen.
Wir wollen in einem zweiten Schritt - das wäre nach einem Jahr - das Weitere, was uns ein Anliegen ist, auf
den Weg bringen.
Die Beteiligung des Bundesrates wurde angesprochen. Wir sind nach mehrfacher Überprüfung - dazu
wurden bereits einige Ausführungen gemacht; einige
meinten, es bedürfe einer Zustimmung des Bundesrates zu der Ansicht gelangt, dass eine solche Zustimmung
nicht erforderlich ist. Nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes ist die Führung einer Vormundschaft keine vergleichbare Dienstleistung im Sinne der Vorschrift. Bislang sind im Gesetz die Vormundschaft und auch die
Kontakte zum Mündel geregelt. Die Aufgaben des Vormundes sind konkretisiert worden. Die Fallzahlfestschreibung ist ebenfalls eine Konkretisierung, keine Erweiterung. Wir meinen daher, dass das Gesetz nicht
zustimmungspflichtig ist.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was die
Kollegin Hönlinger vielleicht noch ansprechen wird.
Das ist die Frage der Trennung zwischen Vormundschafts- und Betreuungsrecht. - Ja, ich habe eine lange
Redezeit; die muss ich ausnutzen.
({1})
- Es ist so! Eine große Fraktion hat eine lange Redezeit,
und wir von der Union haben jetzt keinen zweiten Redner. Ich meine daher, es ist sinnvoll, dass man auf das,
was diskutiert wurde, auch eingeht; das ist gut so.
Bei der Trennung zwischen Vormundschaft und Betreuung gebe ich Ihnen grundsätzlich recht. Es hat sich
mit der Änderung des Betreuungsrechtes in der letzten
Wahlperiode - es wurde übrigens jetzt von der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen hierzu geantwortet - gezeigt, dass wir überhaupt weltweit eines
der modernsten Betreuungsrechte haben. Das war natürlich auch ein großes Lob an die Bundesregierung. Das
haben wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg gebracht. Die angesprochene Trennung ist grundsätzlich
richtig. Es ist aber durch die Evaluierung festgestellt
worden, dass der persönliche Kontakt zwischen Betreuern und Betreuten - das sind in der Regel ältere Menschen - durch dieses Gesetz zurückgegangen ist. Der
persönliche Kontakt hat gelitten. Uns ist es wie bei den
Kindern auch bei den Betreuten sehr wichtig, dass der
persönliche Kontakt vorhanden ist. Deshalb gibt es die
Verweisung von der einen Vorschrift zur anderen. Wir
wollen mit diesem Schritt sicherstellen, dass der persönliche Kontakt zu den älteren betreuten Menschen da ist.
Deshalb haben wir im Gesetz diese Verbindung geschaffen.
Auch im Betreuungsrecht gibt es eine vom BMI eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wenn deren Evaluierung ausgewertet ist, wollen wir auch hier in einem
weiteren Schritt, aufbauend auf dem jetzigen Gesetz, die
Änderungen, die unter anderem vom Bundesverband der
Berufsbetreuer an uns herangetragen wurden, beraten
und das Erforderliche auf den Weg bringen.
Wir als Gesetzgeber wollen die Mündel schützen und
dafür Sorge tragen, dass es unseren Kindern gut geht.
Aber wir wissen auch, dass das alleine nicht reicht. Der
Kollege Thomae hat den Fall Kevin angesprochen. In
meinem Mainzer Wahlkreis wurde gerade wieder ein
Fall abgeurteilt. Das Kind war sechs Wochen alt. Trotz
einer engmaschigen Kontrolle durch das Jugendamt, die
Hebamme und Jugendhilfeeinrichtungen war es - auch
wegen Überforderung - nicht möglich, das Kind zu
schützen. Es ist dann zu Tode gekommen. Das heißt, wir
müssen versuchen, sehr schnell zu schauen, ob die Eltern
überfordert sind und ob das Kind der Hilfe bedarf. Auch
als Nachbarn sollte man darauf schauen, ob es Probleme
in der Familie gibt: Wie geht es der Mutter? Wie geht es
den Geschwisterkindern? Und vieles andere mehr ist in
dieser Hinsicht von Bedeutung.
Unser Anliegen heute ist also nur ein Baustein von
vielen, wenn es darum geht, denen zu helfen, die die
schwächsten Glieder unserer Gemeinschaft sind und
keine große Lobby haben. Wir müssen in jedem Bereich
- auch im Jugendhilferecht - begleitend als Gesetzgeber
da sein und korrigieren, wo es Fehlentwicklungen gibt.
Deshalb ist es für uns gemeinsam sehr wichtig, dass wir
in einem zweiten Schritt sowohl im Vormundschaftsrecht als auch im Betreuungsrecht weitere Verbesserungen vornehmen und das Gesetz, das in der Tat schon sehr
alt ist, den heutigen Verhältnissen anpassen.
({2})
Wir würden uns freuen, wenn Sie in einem heutigen
ersten Schritt diesem Gesetz zustimmen würden, damit
wir dann in den weiteren Beratungen das, was wir schon
im Ausschuss bzw. in den Berichterstattergesprächen
diskutiert haben, noch auf den Weg bringen können.
Vielleicht kann die SPD dann doch zustimmen. Ob die
Fallobergrenze bei 50 oder 40 liegt, ob es nun neun Monate sind oder ob es ein Jahr bis zum Inkrafttreten des
Gesetzes ist: Das sind Kleinigkeiten. Die Richtung ist
richtig. Es wäre ein gutes Zeichen für die, die betroffen
sind, und für die, die mit den Kindern arbeiten. Das sind
insbesondere die Mitarbeiter der Jugendämter, die wirklich eine sehr, sehr gute und vorbildliche Arbeit leisten.
Insofern sollten wir hier in diesem Hause sagen: Wir
bringen in einem ersten Schritt ein Gesetz auf den Weg,
das für alle nur das Beste will.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Thomae hat den Grund für den Gesetzentwurf
zutreffend beschrieben: Fälle wie der von Kevin und anderen sollen verhindert werden, der Kontakt zwischen
Mündel und Vormund soll gestärkt werden.
Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, sollen
persönliche monatliche Kontakte stattfinden. Das ist
eine Sollvorschrift. Nach einer Einzelfallprüfung kann
der Zeitraum kürzer oder länger ausfallen. Die Pflege
und Entwicklung des Mündels ist durch den Vormund
persönlich zu fördern und durch ihn zu gewährleisten.
Hier wird also eine Aufgabenerweiterung vorgenommen, die ganz erheblich ist. Die Fallobergrenze ist angesprochen worden. Das ist auch als Sollvorschrift ausgestaltet, das heißt, ein Abweichen nach oben ist ebenso
möglich.
Über die Kosten, die auf die Kommunen zukommen,
ist überhaupt nicht gesprochen worden. Die Kommunen
haben sich gemeldet und gesagt: Um Gottes Willen,
liebe Bundesregierung, hier kommen teilweise Personalkosten auf uns zu, die um 100 Prozent über denen liegen,
die wir jetzt haben. Die Regierung sagt: Wir reden über
die Kosten nicht. - Die Aufgabenerweiterung soll sofort
erfolgen, während es zur Fallobergrenze von 50 erst in
einem Jahr kommt. Erst also die Aufgaben und dann die
Struktur? Ich kann die Kinder nicht auf die Wiese schicken und sagen: So, jetzt seid ihr alle da, jetzt baue ich
einen Kindergarten um euch herum.
({0})
Es hieß, es gebe eine breite Zustimmung in diesem
Haus. Frau Granold, Sie sagten auch noch: Vielleicht
kann die SPD zustimmen; das wäre ein deutliches Signal.
Wir haben einen Änderungsantrag in den Ausschuss eingebracht und nach der Sachverständigenanhörung übereinstimmend feststellen können, dass die Zahl 50 wirklich als kritische Marke klassifiziert worden ist. Es hieß
- ich zitiere einmal -: Die Einführung einer Fallobergrenze von 50 ist unverzichtbar, aber aufgrund der Arbeitsbelastung praktisch nicht umsetzbar. Das ist hier ja
vorgerechnet worden. Von anderer Seite hieß es dann:
30 bis 40 Fälle sind angesichts der persönlichen Amtsführung die Grenze, und die Fallobergrenze von 50 muss
in Form einer Mussvorschrift und nicht einer Sollvorschrift festgelegt werden.
Ein Grund dafür, das Ganze abzulehnen, war im Wesentlichen die Finanzierung. Es hieß, eine Fallobergrenze von 40 sei nicht zu finanzieren. Darüber, wie die
Fallobergrenze von 50 finanziert werden soll, ist aber nie
gesprochen worden.
Die Zustimmung des Bundesrats ist nach Meinung
meiner Fraktion ebenfalls erforderlich. Durch die Pflicht
der Länder, eine geldwerte Sachleistung oder vergleichbare Dienstleistung mit einer nicht unerheblichen Kostenbelastung zu erbringen, wird eine Zustimmungspflicht nach Art. 104 a Abs. 4 Grundgesetz begründet.
Das hat auch der Bundesrat so gesehen, und auch ein
vom Wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegebenes
Gutachten und eine Stellungnahme besagen: Das ist zustimmungspflichtig; die Länder müssen beteiligt werden.
In unserem Änderungsantrag fordern wir, wie gesagt,
aufgrund der Sachverständigenanhörung eine Fallobergrenze von 40. Außerdem sollte die Anhörung des Jugendlichen in dem Verfahren zwingend vorgeschrieben
werden, sofern das aufgrund des Alters und des Entwicklungsstandes möglich ist. Ein ganz wesentlicher
Faktor ist: Das Personal sollte aus sozialpädagogischen
Fachkräften bestehen. Dazu hieß es: Das kommt in der
zweiten Stufe. Ebenso haben wir gesagt: Es müssen Interessenskonflikte vermieden werden, das heißt, der
Vormund darf nicht gleichzeitig Leistungsträger für Sozialleistungen sein, um hier Interessenskonflikte zu vermeiden.
Es hieß: Das kommt auch erst in der zweiten Stufe.
Durch das Inkrafttreten - Frau Granold hat es angesprochen; ich habe das auch schon gesagt - wird ein ungemeiner Druck entstehen. Denn wie wollen Sie einem
Amtsvormund des Jugendamtes klarmachen: „Du hast
200 oder 250 Mündel - die Zahlen sind ja schon genannt
worden -, bekommst von jetzt auf gleich einen erweiterten Aufgabenkreis zugewiesen und bist für die Pflege
und Entwicklung dieser 200 oder 250 Mündel letztlich
persönlich haftbar, die Strukturen, um das zu gewährleisten, bieten wir dir aber nicht, die lassen wir erst in einem
Jahr in Kraft treten, wobei wir nicht geklärt haben, wie
das Ganze finanziell zu leisten ist“? Deshalb denkt die
Linke, dass man den Jugendämtern insgesamt ein Jahr
Zeit geben müsste, um dieses Gesetz dann tatsächlich
auch strukturell umzusetzen.
Alles in allem bedeutet der Gesetzentwurf eine Verbesserung der gesetzlichen Vorgaben, wobei diese wohl
kaum tatsächlich umsetzbar sein werden. Deshalb kann
vonseiten der Linken keine Zustimmung erfolgen, und
wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
An Frau Granold und Herrn Thomae gerichtet: Hätten
Sie dem Änderungsantrag der Linken in den Berichterstattergesprächen zugestimmt, dann hätten wir mit den
Ländern die Finanzierung klären können, dann hätten
wir die Personalbedarfe klären können, dann würde hier
Fachpersonal tätig werden, dann hätten wir in diesem
Haus wirklich eine breite Zustimmung, vielleicht sogar
eine Einstimmigkeit, zu diesem Gesetzentwurf und dann
wäre ein wirklich deutliches Signal an die betroffenen
Jugendlichen ausgesendet worden.
Danke.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute über Änderungen im
Vormundschaftsrecht. Zentrale Frage ist, wie wir den
Schutz des Mündels realistisch verbessern und die Qualität der Vormundschaft sichern können.
Der erste Ansatzpunkt dafür ist die Begrenzung der
Fallzahlen für die Vormundschaft. Die Bundesregierung
sieht in ihrem Gesetzentwurf eine Sollvorschrift vor. Die
Amtsvormundschaften sollen auf 50 Mündel pro Vormund beschränkt werden. Im Einzelfall ist es also möglich, dass ein Vormund übergangsweise mehr als
50 Mündel betreut.
Meine Fraktion unterstützt in der jetzigen Lage den
Gesetzentwurf. Er gibt den Kommunen eine klare
Grenze nach oben vor, und er berücksichtigt auch, dass
die Kommunen Zeit und Raum brauchen, Herr Kollege
Wunderlich, um ihre finanzielle und personelle Situation
an die Neuregelung anzupassen.
In dem zweiten Schritt, den die Bundesregierung angekündigt hat, sollte aber unbedingt klargestellt werden,
wie wir die Sollvorschrift zu einer Mussvorschrift umgestalten können. Denn es ist auf Dauer unerlässlich, dass
die Fallzahlen auf 50 beschränkt werden. Das haben
auch alle Sachverständigen in der Anhörung bestätigt.
Hier müssen wir handeln, meine Damen und Herren.
({0})
Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt ist die Verpflichtung des Vormunds zum persönlichen Kontakt mit dem
Mündel. In der Regel, so der Gesetzentwurf, soll der persönliche Kontakt zwischen Vormund und Mündel einmal
im Monat stattfinden. Dieser monatliche Kontakt wird
auch dem Schutz und den Interessen des Mündels gerecht. Missstände können frühzeitig erkannt und helfende Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden. Die Gerichte haben auch einen klaren Maßstab für die
Überprüfung der vormundschaftlichen Tätigkeit.
Laut Gesetzentwurf kann der Besuchsabstand in Ausnahmefällen verkürzt oder verlängert werden. Das kann
für die Individualität der vormundschaftlichen Arbeit
sinnvoll sein. Allerdings sollte die Bundesregierung
auch über ein geeignetes Instrumentarium nachdenken,
um eine Überprüfung bzw. einen Nachweis zu ermöglichen. Das könnte zum Beispiel eine Berichtspflicht des
Vormunds gegenüber dem Gericht oder auch eine Zustimmungspflicht des Gerichts für längere Besuchsabstände sein.
Frau Kollegin Granold, wir Grünen haben tatsächlich
Probleme damit, dass auch Änderungen im Betreuungsrecht vorgesehen sind. Wir meinen, dass wir grundlegend über das Betreuungsrecht nachdenken müssen
und dass sogar die UN-Behindertenrechtskonvention
eine grundlegende Reform erfordern könnte. Wir meinen, dass Regelungen zum Betreuungsrecht nicht am
Rande anderer Gesetze getroffen werden sollten. An diesem Punkt können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Insgesamt begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung, soweit er das Vormundschaftsrecht betrifft. Für eine umfassende Reform ist der angekündigte
zweite Schritt dringend erforderlich. Zu den bereits genannten Punkten der zwingenden Begrenzung der Fallzahlen auf 50 und der Kontrolle des persönlichen Kontakts zwischen Vormund und Mündel kommen aus
unserer Sicht drei weitere hinzu.
Erstens. Interessenkollisionen innerhalb der Jugendämter sollten überprüft werden. Zum Beispiel sollten
Fachkräfte, die finanzielle Aufgaben des Jugendamts als
Sozialleistungsträger wahrnehmen, von der Führung von
Amtsvormundschaften ausgeschlossen sein, soweit sie
die Person ihres Mündels betreffen.
Zweitens. Dem Vormund sollte ein eigenes Anhörungsrecht im familiengerichtlichen Verfahren eingeräumt werden, um eine umfassendere Beurteilung zu ermöglichen.
Drittens sollte geprüft werden, inwieweit dem Mündel gegen Entscheidungen seines Vormunds eine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt werden kann.
Meine Damen und Herren von der Koalition und von
der Regierungsbank, wir werden Sie an die offenen
Punkte erinnern.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5512, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3617 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Änderung des Vormundschaftsrechts und
weitere familienrechtliche Maßnahmen“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5512, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2411 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen Neubeginn der deutschen und europäischen Mittelmeerpolitik
- Drucksache 17/5487 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion
das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst vier Monate sind vergangen, seit der
junge Arbeitslose Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 mit seiner Selbstverbrennung den Anlass für
die Jasmin-Revolution in Tunesien gab. Gespannt verfolgen wir seither den mutigen Aufstand der Bevölkerung vieler arabischer Staaten gegen die korrumpierten
Machthaber und für die Verbesserung der eigenen Lebensperspektiven. In Tunesien und Ägypten gibt es bereits hoffnungsvolle politische Reformen, und in der gesamten Region wird um politische Teilhabe und um
mehr Demokratie gerungen. Die arabische Welt, ja die
Welt insgesamt, ist jedenfalls nicht mehr dieselbe wie
vor dem 17. Dezember 2010.
Und wir Europäer? Müssen wir uns nicht angesichts
der neuen politischen Situation bei unseren südlichen
Nachbarn schnell und grundsätzlich neu positionieren?
Ich meine: Ja. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
ist ein Beitrag zu diesem Prozess und ruft zu einem
wirklichen Neubeginn der deutschen und europäischen
Nachbarschaftspolitik gegenüber der südlichen Mittelmeerregion auf. Ich schließe mich einer Botschaft an, die
lautet: Wir glauben an die Zukunft der Region. - Das hat
vor wenigen Tagen ein deutscher Unternehmer bei einer
Debatte im Haus der Wirtschaft gesagt. Er hat hinzugefügt, dass wir etwas für diese Region tun müssen. Ich
glaube, dass auch wir aus mindestens drei Gründen etwas tun müssen:
Erstens, weil wir selbst in der Vergangenheit die
Chancen für die Verbesserung der Menschenrechte und
für eine demokratische Entwicklung in der Region falsch
eingeschätzt haben. Damit meine ich Vertreter aller EUStaaten und Politiker jeder politischen Couleur.
Zweitens, weil die Menschen in unserer Nachbarschaft verdient haben, dass sie nach ihrem mutigen
Kampf für die Freiheit nicht im Stich gelassen werden.
Und drittens, weil eine jetzt unterlassene Unterstützung für die Entwicklung im Norden Afrikas uns selbst
in Zukunft sehr teuer zu stehen kommen würde und wir
besser zum gegenseitigen Vorteil handeln sollten.
({0})
Nur wenn es uns gelingt, gemeinsam mit den Menschen in dieser Region eine soziale und wirtschaftliche
Lebensperspektive zu entwickeln, wird es auch für den
gesamten Mittelmeerraum und letztlich die ganze EU
eine stabile und friedliche Zukunft geben.
({1})
Wir haben also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
einmalige historische Chance, einen Beitrag zu Frieden,
Freiheit und Entwicklung im Norden Afrikas zu leisten.
Wir haben aber auch die einmalige Chance, unsere eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der
Region im Wettstreit mit anderen Entwicklungsmodellen
zu verfolgen.
In dieser Zeit ist nicht Kleinmütigkeit gefragt. Deshalb wiederhole ich die Idee, die Frank-Walter Steinmeier und ich schon vor einigen Wochen in einer ersten
Reaktion genannt haben, nämlich einen Marshallplan für
den Mittelmeerraum aufzulegen. Natürlich nicht etwas
Vergleichbares zu dem, den es nach dem Zweiten Weltkrieg gab, aber wir müssen deutlich machen, welche Dimension der Unterstützung notwendig ist, und den epochalen Wandel mit einem angemessenen, großen
europäischen Projekt begleiten.
({2})
Die friedlichen Revolutionen in der arabischen Welt
müssen erfolgreich weitergehen. Den Menschen muss es
gelingen, die Forderung nach mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand auch umzusetzen. Das
ist ja keinesfalls gesichert, wie wir in den letzten Wochen verfolgen konnten. In manchen Ländern sind die
herrschenden Eliten verlockt, die Diktatur fortzusetzen,
selbst wenn die Diktatoren entmachtet sind.
Die Region und die Welt stehen vor einer historischen
Systementscheidung. Wird der Wandel zu Demokratie
und Freiheit gelingen, oder werden nur andere, wieder
autoritäre Regime an die Macht kommen? Orientieren
sich die Menschen in Zukunft an Europa, oder wählen
sie lieber das chinesische Modell, das autoritäre Führung
mit wirtschaftlicher Liberalisierung verbindet? - Ich
glaube, das wäre der falsche Weg; das ist ein Holzweg.
Was sich in den letzten Tagen in Syrien zugetragen hat,
zeigt es wieder: Allein mit wirtschaftlicher Liberalisierung kann man keine politische Liberalisierung herbeiführen.
({3})
Die Entscheidung liegt also bei den Menschen vor Ort.
Wir dürfen in der Situation nicht abseitsstehen. Wir
müssen vielmehr alles tun, um die friedlichen Revolutionen zu unterstützen. Europa darf nicht in Kleinmut verharren, Europa muss der historischen Herausforderung
durch neue Konzepte gerecht werden. Leider ist von diesen Konzepten bisher nicht viel zu erkennen. Zwar hat
die Europäische Kommission in einer Mitteilung zur Reform der Nachbarschaftspolitik gezeigt, dass sie die Herausforderungen erkannt hat; die EU bleibt aber in ihren
bisherigen Instrumenten genauso gefangen wie in der
sehr engen Budgetplanung; diese ist ja von 2007 bis
2013 festgeschrieben. Aber wir brauchen nicht nur neue
Konzepte, wir brauchen auch zusätzliche Mittel, zum
Beispiel für einen regionalen Entwicklungsfonds.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist
natürlich, dass der deutsch-französische Motor in dieser
Frage sehr stark stottert. Frankreich geht einen nationalen Weg, Deutschland hat sich durch die Enthaltung im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einige Sympathien
bei den Reformern im arabischen Raum verscherzt. Insgesamt gibt die EU kein gutes Bild ab. Und um Europas
Glaubwürdigkeit in der Region steht es momentan nicht
zum Besten. Ich denke aber, mit dem Projekt einer kohärenten Nachbarschaftspolitik könnte Europa in der Mittelmeerregion zerschlagenes Porzellan wieder zusammenfügen.
({4})
Was müssen wir also tun?
({5})
Ich denke, wir müssen gemeinsame Wege mit den Staaten Nordafrikas gehen.
({6})
Ich greife hier ganz bewusst und deutlich, weil diese
Diskussion in den letzten Tagen etwas an Dynamik gewonnen hat, den Vorschlag von Experten auf, Tausende
befristete EU-Arbeitsvisa für arabische Akademiker auszustellen. Diese könnten nach einer befristeten Beschäftigung in der Europäischen Union günstige Kredite für
Existenzgründungen in ihrer Heimat erhalten.
({7})
Damit würde der Perspektivlosigkeit gut ausgebildeter
junger Menschen in der Region etwas entgegengesetzt,
aber auch dem Fachkräftemangel in der EU. Das ist auch
für uns wieder von Bedeutung. Selbst aus der deutschen
Wirtschaft höre ich positive Signale, die besagen: Das ist
ein Beispiel für eine neue Partnerschaft. - Wir sollten
keine Angst haben, aber wir sollten auch nicht mit kleinen Zahlen hantieren. Auch der Ruf nach Hilfe zur
Selbsthilfe wird nicht reichen, um die Probleme in der
arabischen Welt - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu lösen.
({8})
Ein weiteres Projekt ist die Energiepartnerschaft. Das
könnte gerade im Hinblick auf die Katastrophe von
Fukushima ein ganz wichtiger Punkt zwischen der EU
und Nordafrika sein. Dezentral erzeugte, erneuerbare
Energie und qualifizierte Arbeitsplätze in der Region
können für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen.
Stromimporte in die EU können dazu beitragen, die ambitionierten Klimaschutzziele zu erreichen.
Deshalb, weil es eine epochale Herausforderung ist
- ich wiederhole eine Forderung -, wäre es auch an der
Zeit, dass die EU endlich einen Sondergipfel mit den reformbereiten arabischen Staaten organisiert und damit
ihren Willen zur Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt.
Ein weiterer Punkt ist die auswärtige Kulturpolitik.
Auch hier müssen in den nächsten Jahren mehr Mittel
eingesetzt werden, um die Reformbestrebungen in den
arabischen Ländern zu unterstützen.
({9})
Auch das wiederholt, aber dennoch wichtig - heute
vielleicht eineinhalb Stunden früher als bei der letzten
Debatte -: Wir müssen auch die Handelshemmnisse aufheben, damit diese Länder auch Zugang zu Dienstleistungen und Agrarprodukten bekommen.
Als Letztes noch ein Wort zur aktuellen Flüchtlingsfrage: Es ist ein Trauerspiel, wie hier die Europäische
Union vorgeht.
({10})
Man muss sich das einmal vorstellen: Es ist gegenüber
einem Land wie Tunesien, das bei 10 Millionen Einwohnern 240 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, blamabel,
wenn seitens der EU mit ihren über 500 Millionen Einwohnern behauptet wird, sie sei nicht in der Lage,
25 000 Flüchtlinge, die sich derzeit auf Lampedusa aufhalten, vorübergehend unterzubringen.
({11})
Das versteht in Tunesien und auch in Ägypten kein
Mensch. Sonntagsreden helfen diesen Menschen nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir
von der Bundesregierung und der EU-Kommission an
Vorschlägen zur Mittelmeernachbarschaftspolitik bisher
gesehen und gehört haben, reicht nicht aus. Wir müssen
einen wirklichen Neubeginn wagen. Die Region ist zu
nahe und die Chance ist zu groß, als dass wir untätig
oder kleinmütig bleiben dürften. In diesem Sinne fordere
ich Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Hörster von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
mit großer Aufmerksamkeit die Ausführungen des Kollegen Gloser verfolgt, mit dem ich auch auf anderer
Ebene - nämlich in den Parlamentariergruppen - gut zusammenarbeite.
({0})
Ich finde, es gibt einen Punkt, in dem sich unsere
Auffassungen gravierend unterscheiden: Sie suchen die
Schuld für Fehlentwicklungen vorwiegend bei der Europäischen Union. Sie lassen der Europäischen Union
Schuldzuweisungen zukommen, ohne dass auf der anderen Seite danach gefragt wird, was die betroffenen arabischen Länder mit den Chancen und Möglichkeiten machen, die die Europäische Union angeboten hat.
Vielleicht stört es einen Sozialdemokraten ein bisschen, dass auf dem Europäischen Rat in Essen im
Jahre 1994 unter dem Vorsitz von Helmut Kohl der
Grundstein für die Mittelmeerpolitik der Europäischen
Union gelegt worden ist
({1})
und dass daraus der Barcelona-Prozess entstanden ist.
({2})
- Ich empfehle Ihnen, Herr Kollege Gloser, sich aus purer Kollegialität etwas zurückzuhalten. - Es stört Sie
vielleicht außerdem, dass es dann, nachdem im
Jahre 1995 der Barcelona-Prozess in Gang gesetzt worden war, in Stuttgart die Europa-Mittelmeer-Konferenz
der EU-Außenminister gegeben hat.
All diese Veranstaltungen haben in Deutschland stattgefunden. Mithilfe von Deutschland sind also von der
Europäischen Union eine ganze Reihe von Initiativen ergriffen worden. Wir haben den Barcelona-Prozess eingeleitet. Diesen haben wir auch ernst gemeint. Wir haben
in einer ganzen Reihe von Fällen echte Fortschritte in
den arabischen Ländern erreicht. Wir haben eine gemeinsame Sicherheits- und Stabilitätspolitik für den arabischen Raum betrieben. Wir haben eine gemeinsame
Handelspolitik betrieben.
Schwierigkeiten hatten wir - darüber haben wir uns
oft genug unterhalten - damit, dass der Korb III, die Entwicklung der Zivilgesellschaft, etwa in Tunesien, Algerien, Ägypten oder Syrien, massiv abgebremst worden
ist. Wir haben beim Abschluss des Vertrages zum Barcelona-Prozess durchgesetzt, dass Syrien auf Massenvernichtungswaffen verzichtet. Dass es sich aber zur Demokratie verpflichtet, haben wir nicht durchgesetzt. Da hat
es eine Reihe von Schwachpunkten gegeben. Es musste
allerdings eine Güterabwägung vorgenommen werden.
So mussten wir uns fragen: Welche Möglichkeiten haben
wir, um auf diese Länder einzuwirken? Und: Führt eine
Einwirkung zur Destabilisierung der Region oder nicht?
Bei all den Vorgängen, die jetzt stattfinden - im Ganzen halten wir sie für sehr sympathisch und wollen sie
auch unterstützen -, wissen wir nicht, wie sie enden werden. Das sollte uns nicht daran hindern, zu handeln, aber
es sollte uns dazu veranlassen, klug zu handeln. Wir haben seinerzeit verlangt, dass in Palästina freie, allgemeine und geheime Wahlen stattfinden. Dann ist gewählt
worden, und die Hamas hat 64 Sitze im Parlament erhalten. Damit hatte sie einen Sitz mehr, als für die absolute
Mehrheit notwendig ist. Die Folge war, dass die Vereinigten Staaten und die Europäer unisono gesagt haben:
Ihr habt zwar demokratisch gewählt, mit den neuen Regierungsvertretern verhandeln wir aber nicht; das ist
nicht unser Feld.
Wir müssen uns fragen: Sind wir bereit, jede Entwicklung in einem dieser arabischen Länder zu akzeptieren, selbst wenn nach demokratischen Wahlen Personen
an die Macht kommen, die gar nicht daran denken, ihre
Macht wieder abzugeben? Das alles sind Überlegungen,
die wir in dem Zusammenhang anstellen müssen. Es
sind deswegen nicht Schnellschüsse gefragt, sondern
kluge Überlegungen.
Ich finde, die im Barcelona-Prozess angelegte Entwicklung der Zusammenarbeit war gar nicht so falsch.
Was sich in der Mittelmeerunion später herauskristallisiert hat - auch aufgrund der Vorschläge, die Sarkozy
gemacht hat -, ist auch nicht so schlecht.
Zu all diesen Vorgängen gibt es eine bedeutende Rede
vom 19. Juni 2009, die der damalige Staatsminister Gloser in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Mittelmeerdialog gehalten hat. Er hat da ausgeführt:
Und den zentralen Verdienst des Barcelona-Prozesses dürfen wir nicht unterschätzen: Das ist die Fortsetzung des Dialogs zwischen allen Beteiligten
trotz der immer wiederkehrenden Schwierigkeiten
im Nahostfriedensprozess.
Ich teile diese Meinung vollinhaltlich, und sie gilt auch
heute noch.
({3})
Herr Gloser hat weiter ausgeführt:
Wir wollen mit unseren Partnern gemeinsam obliegende Herausforderungen angehen. Ich nenne nur
beispielhaft den Schutz des Klimas und der Umwelt, die Auswirkungen der Migration oder die demographische Entwicklung in unseren Ländern.
Wir haben also die Probleme erkannt, und die Probleme sind auch behandelt worden. Wir waren aufgrund
der politischen Strukturen in den arabischen Ländern
aber nicht in der Lage, so Einfluss zu nehmen, dass sich
die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend entwickelt hätten.
Herr Gloser, Sie haben dann lobende Worte dafür gefunden, dass Ägypten gleichberechtigt mit Frankreich in
Abstimmung mit der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft der Union für das Mittelmeer vorsteht. - Ägypten
war damals Mubarak. Ich werfe Ihnen, Herr Gloser,
nicht vor, dass Sie das lobend erwähnt haben. Wir hatten
ja keinen anderen; das gebe ich zu. Ob Sie regiert haben
oder ob wir regiert haben: Wir haben doch versucht, aus
der Situation das Beste im Interesse dieser Länder zu
machen.
({4})
Diesen Erfolg würde ich ungern unter den Scheffel stellen; den würde ich ungern leugnen.
Ich glaube, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen
können, auch unter den veränderten Bedingungen, wenn
- hoffentlich - Demokratie entsteht. In Ägypten muss
man ja im Augenblick befürchten, dass das nicht gelingt,
da nur zwei politische Organisationen das Organisations-Know-how zur Bildung von politischen Parteien haben, die bisherige Regierungspartei und die Muslimbrüder, die nicht dafür bekannt sind, dass sie demokratische
Werte besonders respektieren oder fördern.
({5})
- Doch, habe ich, mehrfach. Es war politisch zwar nicht
erwünscht, aber ich habe mir die Freiheit genommen.
({6})
Wenn ich all diese Entwicklungen sehe, komme ich
zu dem Schluss: Wir sollten versuchen, einen positiven
Einfluss darauf zu nehmen unter der Maßgabe, dass die
Menschen dort im Prinzip selbst bestimmen müssen, wie
sie es haben wollen. Wir sollten uns allerdings nicht in
die Ecke der Schuldigen und der Büßer bringen lassen,
({7})
weil wir da nicht hingehören.
({8})
Wir haben uns nämlich gewaltig angestrengt, aber die
anderen haben die Angebote nicht angenommen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Kaum hatte die im Juli 2008 in Paris gegründete Mittelmeerunion vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen, da
wurde sie durch die Dynamik des demokratischen Aufbegehrens in Nordafrika eigentlich schon zur Makulatur.
Erneut bestätigte sich, dass im Ernstfall, wenn es um die
Einforderung demokratischer Teilhabe in Afrika geht,
die EU uns Schweigen als Gold serviert.
Das ist auch kein Zufall. Die Mittelmeerunion richtete
sich nämlich nicht, wie eben gesagt wurde, an die gesellschaftlichen Akteure in der Region, sondern war von
Anfang an ein rein zwischenstaatliches Forum. Als Garanten für die europäischen Interessen und Werte galten
dabei der Tunesier Ben Ali als Präsident dieser Union
und dessen ägyptischer Kollege Mubarak als Vizepräsident dieser Union.
({0})
Der französische Präsident Sarkozy besaß mehr Witz als
Verstand, als er damals noch um die Teilnahme Gaddafis
buhlte.
({1})
In dem vorliegenden Antrag der Kolleginnen und
Kollegen von der SPD findet sich leider kein Wort dazu.
Mit keinem Wort wird erwähnt, dass beide, Ben Ali und
Mubarak, jahrzehntelang ihren Platz in der sozialdemokratischen Internationale an der Seite der SPD hatten.
({2})
Es findet sich kein Wort dazu, dass man diese Diktatoren
jahrzehntelang mit Waffen, Ausbildungs- und Ausstattungshilfe beliefert hat. Es ist - das muss ich schon sagen - an Heuchelei kaum zu überbieten, wenn Sie beim
Thema Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum den Samariter mimen. Wir unterstützen ja den Willen, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber wenn Sie in Ihrem Antrag an
Rückübernahme - sprich: einem Abschiebeabkommen
der EU - festhalten, geht das meines Erachtens nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, die Menschen in Nordafrika können sich von Sympathiebekundungen nichts
kaufen. Das Versagen Europas angesichts der Umbrüche
in der arabischen Welt darf nicht nachträglich in eine Tugend umformuliert werden. Die Zukunft Afrikas darf
nicht weiterhin auf Konferenzen in Paris, Berlin oder
Brüssel entschieden werden. Diese Politik muss ein für
allemal der Vergangenheit angehören.
({4})
Der SPD-Antrag beweist, dass aus der Vergangenheit
keine Lehren gezogen wurden. Es geht nicht darum, wie
Sie in Ihrem Antrag schreiben, europäische Werte und
Ziele in der unmittelbaren südlichen Nachbarschaft politische Praxis werden zu lassen. Ihr Antrag entspricht einem Doppeldenk frei nach George Orwell zwischen
Feststellungs- und Forderungsteil. Sie sprechen von
Sympathie, Demokratie und Werten und meinen lediglich strategische Interessen Europas, besser gesagt der
Europäischen Union. Das haben Sie hier ja auch weiter
ausgeführt. Sie sprechen von Unterstützung und beschäftigen sich nur mit der Lösung europäischer Probleme wie der Energieversorgung und der Außen- und
Sicherheitspolitik der EU. Sie sprechen von Demokratie
und Wohlstand und meinen Freihandelszone. Sie sprechen von Freiheit und meinen Migrationskontrolle in
Form von Rückübernahmeabkommen. Das lehnt die
Linke ab.
({5})
Bei all den guten Vorschlägen stecken Sie somit immer noch mit beiden Füßen in der Vergangenheit. Der
von Ihnen vorgeschlagene Neustart ist in Wirklichkeit
der Versuch der Wiederbelebung einer Politik, der der
demokratische Aufbruch längst einen klinischen Tod bescheinigt hat. Diese Politik ist gescheitert, weil sie sich
an den nationalen Kapitalinteressen in Europa und nicht
am Gemeinwohl der betroffenen Menschen in Nordafrika orientierte. Es muss um die Menschen in Nordafrika mit ihren Bedürfnissen und Interessen gehen und
nicht um die Steigerung der Profite der Großkonzerne in
Europa und der deutschen Unternehmen, der Sie so unmissverständlich zustimmen.
({6})
So ist es auch kein Zufall, dass Sie die Zivilgesellschaft in Nordafrika noch nicht einmal fragen, sondern
den Menschen mit einem fertigen Konzept regelrecht
drohen. In Ihrem Antrag ist denn auch die Rede von einem „wirksamen Hebel“, der bei richtiger Anwendung
vorhanden ist.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Der wahre
Maßstab für einen Neubeginn wäre die Einlösung des
Freiheits- und Demokratieversprechens und des Versprechens eines sozialen Europas gegenüber den Menschen
in den arabischen Staaten.
({7})
Dass Sie dazu nichts beizutragen haben, überrascht nicht
wirklich. Dass Sie dies aber für alle offensichtlich auch
noch aufschreiben, überrascht dann schon. Es scheint
noch ein weiter Weg zu sein, bis Sie wieder zu einer Sozialdemokratie zurückgekehrt sind,
({8})
die einst unter internationaler Solidarität nicht Marktöffnung und Konzerninteresse verstand. Die Menschen in
Nordafrika brauchen keine neuen einseitigen Verträge.
Die Menschen in Nordafrika brauchen echte und ehrliche Solidarität.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine das ganz
ernst: Es ist schon ein Fortschritt, dass wir uns bei dieser
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Debatte nicht um ein weiteres Land kümmern müssen,
wie wir es bedauerlicherweise in den letzten Wochen im
Wochenrhythmus erlebt haben. Das gibt uns Gelegenheit, uns damit zu beschäftigen, wie es weitergeht und
was wir tun können.
Ich glaube, wir sind alle der Meinung, dass es richtig
ist, die Instrumente zu überprüfen, die in den letzten Jahren eingeführt worden sind. Die SPD macht das in ihrem
Antrag sehr ausführlich. Manchmal grenzt das, was Sie
da betreiben, an Selbstgeißelung, wenn man bedenkt,
wer in den letzten Jahren Verantwortung gehabt hat.
Aber Herr Hörster hat ja völlig zu Recht ausgeführt: Im
Prinzip haben wir alle gleichermaßen daran mitgewirkt,
diese Rahmenbedingungen zu schaffen, und deshalb
brauchen wir uns hier auch nicht gegenseitig die Augen
auszuhacken. Wir müssen aber daraus lernen und uns
überlegen, wie wir in Zukunft vorgehen wollen.
Die Bundesregierung hat, wie ich finde, schnell und
unbürokratisch gehandelt. Ich will Ihnen einige Zahlen
präsentieren:
Die Bundesregierung hat für den demokratischen
Übergang 17 Millionen Euro zur Unterstützung verarmter Regionen in Tunesien und 30 Millionen Euro zur Deckung der dringendsten humanitären Bedürfnisse der
Flüchtlinge bereitgestellt.
Die politischen Stiftungen sind gestärkt worden: Sie
bekommen mehr Geld und sollen stärker einbezogen
werden.
Minister Niebel hat in seinem Ministerium einen
Fonds in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelegt, mit
dem die Mittelmeerländer in den Bereichen Demokratieförderung, Bildung und Wirtschaftsförderung unterstützt
werden.
Die Europäische Union hat am 8. März einen Maßnahmenkatalog verabschiedet.
Der Kollege Lischka von der SPD hat eine Anfrage
an die Bundesregierung gerichtet, was denn mit dem
Geld gemacht worden sei. Er hat als Antwort darauf einen dicken Katalog vorgelegt bekommen, in dem seitenlang die Projekte beschrieben werden, die die Bundesregierung unterstützt; wobei es gar keine Frage ist, dass
das zum Teil auch unter Ihrer Ägide angestoßen wurde.
All das zeigt, dass finanziell schon sehr viel getan
wird. Ich glaube deshalb, dass wir mit dem Ruf nach
mehr Geld nicht weiterkommen. Lieber Herr Gloser, ich
bin auch hinsichtlich Ihres Vorschlages bezüglich eines
Marshallplans skeptisch; denn mit dem Begriff
„Marshallplan“ verbinden wir zunächst einmal - ich
sage es einmal platt - fette Kohle. Der Marshallplan
hatte damals ein Volumen von ungefähr 11 Milliarden
Dollar. Das entspricht einem heutigen Wert - kluge
Leute haben das ausgerechnet - von 75 Milliarden Dollar. Herr Gloser, der Unterschied zu damals ist, dass die
Absorptionskapazität in den Ländern, um die es geht,
eine völlig andere ist als die, die es damals in Europa gegeben hat. Ich meine das in zweierlei Hinsicht: zum einen infrastrukturell und zum anderen in Bezug auf die
gesellschaftlichen Strukturen und auf das Staatswesen.
Diese besitzen nicht die entsprechende Absorptionskapazität. Ich glaube daher, dass wir allein mit Geld nicht
weiterkommen.
({0})
Unsere Bemühungen werden einen langen Atem erfordern. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Bundesregierung schon in den nächsten zwei oder drei Jahren wesentliche Dinge in der Region so verändern kann,
dass man dort nachhaltige Erfolge sehen wird. Wir wissen aber, dass wir schnell an den richtigen Hebeln ansetzen müssen. Diese Hebel sind bekannt:
Erstens. Humanitäre Maßnahmen - auf diese Weise
handelt die Bundesregierung bereits; da sind wir uns alle
einig - müssen dort, wo sie notwendig sind, im Vordergrund stehen.
Zweitens. Wir müssen den Aufbau von politischen
Strukturen unterstützen; diese sind ja die Voraussetzung
für einen politischen Wandel. Dazu hatte ich ja bereits
vorhin im Zusammenhang mit dem Marshallplan etwas
gesagt. Wir können nicht erwarten, dass sich etwas entwickelt, wenn es keine entsprechenden Strukturen, Entscheidungsprozesse etc. gibt. Das betrifft sowohl die administrativen Strukturen als auch die grundlegenden
Infrastrukturen wie Straßen, Stromversorgung etc., die
noch aufgebaut werden müssen.
Drittens. Natürlich ist es völlig richtig, dass die lokale
Wirtschaft aufgebaut werden muss. Es wird Sie nicht
verwundern, dass ich als Vertreter der FDP darauf besonderen Wert lege. Unser liberales Credo - ich sage
das, auch wenn man es nicht hören mag - lautet: Wirtschaft ist nichts alles, aber ohne Wirtschaft ist leider sehr
vieles nichts.
({1})
Das gilt auch insbesondere für diese Region. Deshalb
müssen wir schauen, wie wir schnell einen Beitrag dazu
leisten können, dass sich die Wirtschaft entwickelt. Dazu
gehören die Unterstützung des Mittelstandes und der
Aufbau von Unternehmen.
Natürlich ist genauso wichtig, zur Kenntnis zu nehmen - Sie haben es vorhin gesagt; da liegen wir gar nicht
weit auseinander -, dass sich die Bundesregierung in den
nächsten Wochen und Monaten innerhalb der Europäischen Union in einen ziemlich harten Kampf begeben
muss, um dafür zu sorgen, dass die EU ihre Märkte öffnet. Wirtschaftliche Entwicklung heißt: Wandel und
Handel zwischen Ländern. Unser Credo ist: Uns geht es
besser, wenn es diesen Ländern ebenfalls besser geht
und umgekehrt. Ich wünsche der Bundesregierung bei
der Auseinandersetzung um diese Frage viel Glück und
Durchhaltevermögen. Wir alle wissen, dass es schwer
wird. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Bundesregierung unterstützen und sie nicht kleinteilig kritisieren.
Viertens. Wir müssen gesellschaftliche Strukturen
aufbauen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Stiftungen können dazu einen Beitrag leisten. Sie werden dafür
auch allenthalben gelobt. Aber lassen Sie uns auch da realistisch sein, meine Damen und Herren: Die Stiftungen
erreichen nur einen geringen Anteil, zum Teil im Promillebereich, der Bevölkerung in den einzelnen Ländern.
Schauen Sie sich einmal Ägypten an. Dort sind alle guten Willens, aber natürlich können wir nicht erwarten,
dass die Arbeit der deutschen Stiftungen allein einen wesentlichen Umschwung bewirkt und für den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen sorgt. Da würden wir uns
überheben. Aber wir müssen es natürlich versuchen.
Fünftens. Wir müssen Strukturen für die Ausbildung
schaffen. Hier ist von Ihnen angeregt worden - ich begrüße das -, einmal zu überlegen, ob wir nicht jungen
ausgebildeten Leuten eine zeitweilige Lern- und Arbeitsphase in Deutschland ermöglichen. Das ist völlig richtig.
Auch hier müssen wir uns dessen bewusst sein: Das
kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die
Flüchtlinge, die uns jetzt entgegenkommen, sind nicht
diejenigen, von denen wir jetzt gesprochen haben. Auch
das müssen wir fairerweise zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, es ist in unserem Interesse,
dass sich diese Region entwickelt. Das entspricht der
Leitlinie der Europäischen Union für die europäische
Nachbarschaftspolitik, in deren Rahmen zwischen 2007
und 2013 immerhin 7 Milliarden Euro in die Region verbracht werden: Es geht uns besser, wenn es dieser Region besser geht. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen. Das wird schwer sein; wir werden
schrittweise vorgehen müssen. Die Bundesregierung hat
damit angefangen; wir werden sie dabei unterstützen.
Wir alle wissen aber: Es bedarf eines langen Atems, um
dorthin zu kommen, wohin wir wollen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurz vorwegschicken: Ich bin mit der
Uhrzeit, zu der wir über dieses Thema diskutieren, nicht
ganz einverstanden. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten
einen Platz am frühen Morgen gehabt, nicht erst am späten Abend.
({0})
Ich bin aber mit dem Zeitpunkt der Einbringung dieses Antrags sehr einverstanden - er ist absolut richtig -:
Es ist ein historischer Zeitpunkt, also genau der richtige
Zeitpunkt, um hier im Deutschen Bundestag über das
Thema zu reden.
Ich möchte auch betonen, dass die Notwendigkeit einer neuen Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas
von allen Fraktionen in diesem Haus gesehen wird; das
ist sicherlich gut. Es ist auch gut, dass sich die Bundesregierung im März dazu bekannt hat, dass sie eine klare
Antwort auf die Umbrüche in diesen Ländern liefern
will. Wir bitten daher alle Mitglieder der Bundesregierung, nicht wieder in alte Reflexe zu verfallen, also nicht
die Flüchtlingsabwehr an den Anfang der neuen Zusammenarbeit zu stellen.
({1})
Das wäre ein vollkommen falsches Signal, wenn es darum geht, die Aufbruchstimmung in diesen Ländern aufzunehmen.
Wenn wir Partnerschaften anbieten wollen - das beschreiben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, in Ihrem Antrag in der Tat sehr gut -, dann müssen
wir die Instrumente der Partnerschaft nutzen. Eine Rhetorik, bei der man von „Schleusen“ und Ähnlichem redet, hilft da sehr wenig.
Der SPD-Antrag verweist auf die drei Dimensionen
des Barcelona-Prozesses, an die sich jetzt mit verstärkter
Intensität anknüpfen lässt. Richtig ist ebenfalls, dass es
einen signifikanten Unterschied zu den Umbrüchen in
Mittel- und Osteuropa nach 1989 gibt, denn wir können
den Ländern Nordafrikas kaum eine Beitrittsperspektive
bieten. Daher müssen wir die anderen Möglichkeiten der
Zusammenarbeit voll ausschöpfen.
In den Ländern Nordafrikas ist das Wort „Stabilität“
inzwischen ein Schimpfwort. Ich bin gerade heute aus
Kairo zurückgekommen. Dort habe ich erfahren, dass
sich die Menschen dort, vor allem jene, die die Revolution maßgeblich mitgetragen haben, eine ideelle und institutionelle Anerkennung ihres Mutes wünschen. Denn
den haben sie über Wochen hinweg bewiesen: Sie waren
unendlich mutig und haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt,
um Ägypten von Mubaraks Herrschaft zu befreien. Jetzt
gilt es, ihnen eine solche Anerkennung und kontinuierliche Unterstützung zukommen zu lassen. Da bin ich mir
nicht sicher, ob ein Marshallplan die richtige Antwort
ist.
Die Anerkennung kann aus unserer Sicht auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden:
Zunächst einmal ist es wichtig, dass alle politischen
Entscheidungsträger - angefangen bei Lady Ashton, die
ab heute für zwei Tage Kairo besucht - immer auch die
NGOs, also die Nichtregierungsorganisationen, die
Menschenrechtsanwälte und die treibenden Revolutionskräfte aus der Jugend treffen. Das war bei Lady Ashtons
erstem Besuch nicht der Fall und scheint erstaunlicherweise auch dieses Mal nicht geplant zu sein.
Zweitens müssen die westlichen Politikerinnen und
Politiker bei Besuchen die Rolle des Militärs und seine
eigenen Interessen stärker hinterfragen.
Drittens müssen dringend die Voraussetzungen für
freie und faire Wahlen in Ägypten geschaffen werden:
Parteien müssen zugelassen werden. Dabei ist es entscheidend, dass die Barrieren für die Registrierung von
neuen Parteien möglichst niedrig gehalten werden. Die
Bürgerinnen und Bürger müssen über ihre Rechte und
Pflichten als Wähler informiert werden. Da leisten alle
Stiftungen hervorragende Arbeit; das sollten wir nicht
unterschätzen.
({2})
Wir müssen an genau dieser Stelle ansetzen.
Wahlkommissionen müssen geschult werden. Die
Menschen dürfen am Ende nicht das Gefühl haben, unsichtbare Mächte oder das Militär hätten ihnen durch
Fälschung der Wahlen die Errungenschaften der Revolution entzogen. Das wäre ein fataler Rückschlag.
Ägypten besitzt in der arabischen Welt eine Vorbildfunktion für viele andere Staaten, deren Bevölkerung
noch schwankt, ob sich ein Weiterkämpfen lohnt oder
nicht. Wenn das ägyptische Modell nicht überlebt, werden viele Demonstrantinnen und Demonstranten in anderen Ländern den Mut, für die Freiheit zu kämpfen,
schnell verlieren.
Wichtig ist - darauf beziehen Sie sich auch in Ihrem
Antrag -: Wir müssen die Ebenen der interparlamentarischen Zusammenarbeit von Demokratien nutzen. Eine
junge Demokratie mit vielen neuen und unerfahrenen
Parlamentarierinnen und Parlamentariern ist äußerst verletzlich. Wir sollten insbesondere unseren Kollegen nach
der Wahl Unterstützung in jeder Form zukommen lassen.
Dann muss selbstverständlich - ich glaube, es ist uns
noch nicht ganz klar, was das bedeutet - die Rehabilitierung vieler Inhaftierter der Revolution, die derzeit in
schwierigen und undurchsichtigen Prozessen abseits jeglicher Öffentlichkeit und meist ohne rechtlichen Beistand vor einem Militärgericht stehen, unbedingt von
uns, von westlichen Politikern angemahnt werden. Der
Militärrat scheint ein starkes Eigenleben zu führen, ohne
sich mit anderen innerhalb der Übergangsregierung abzustimmen. Durch diese Entwicklung, wird sie nicht genau beobachtet, besteht die Gefahr, dass viele der ersten
Errungenschaften wie die Presse-, die Medien- und die
Versammlungsfreiheit wieder aufs Spiel gesetzt werden.
Nur durch eine enge Kooperation, die auf Dauer angelegt ist, können wir das verhindern.
Die EU und auch die deutsche Außenpolitik könnten
jetzt an dieser Stelle viel Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem sie die Demokratisierungsbemühungen und
den gesellschaftlichen Wandel in Nordafrika unterstützen. Die Nachricht von der Festnahme Mubaraks ist sicherlich eine gute, reicht aber allein noch nicht aus. Für
den weiteren Verlauf der Umwälzungen ist auch die kritische wirtschaftliche Lage von Bedeutung, die die politischen Gestaltungsspielräume in Tunesien und Ägypten
stark einengt.
Europa hat deshalb auch eine Verantwortung, soziale
und ökonomische Reformen in diesen Ländern zu unterstützen. Auch da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die aus
unserer Sicht noch deutlicher hätte ausfallen können,
richtig. Wir sind gern bereit, Menschen mit guter Ausbildung eine Migration - auch mit einer Arbeitsperspektive anzubieten. Eine richtig konzipierte zirkuläre Migration
kann hier eine Lösung darstellen.
({3})
Wir müssen uns in der EU darüber verständigen, wie ein
Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie zwischen der
EU und den Staaten Nordafrikas aussehen soll.
Das wäre ein guter Schlusssatz gewesen.
({0})
Wir brauchen eine Euro-Mediterrane Mobilitätspartnerschaft mit Weitblick, die die Vergabe von Visa erleichtert, Bildungschancen ermöglicht und den Arbeitsmarkt gezielt für junge Menschen aus Nordafrika öffnet.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster spricht
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Wolfgang Götzer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Inzwischen vergeht keine Woche, in der wir uns nicht
mit den Umbrüchen in der arabischen Welt beschäftigen.
Letzte Woche hatten wir im Auswärtigen Ausschuss eine
sehr interessante Anhörung, die uns einmal mehr sehr
deutlich gezeigt hat, wie unübersichtlich und differenziert die Lage in den einzelnen Länder in der Region ist.
Nach wie vor ist unklar, wohin sich die einzelnen Länder
entwickeln. Nur in Tunesien und Ägypten hat bisher ein
Machtwechsel, eine Entmachtung der alten Regime
stattgefunden. Was am Ende des Prozesses in beiden
Ländern steht - etwa eine rechtsstaatliche Demokratie -,
ist noch offen. In den übrigen Ländern ist nur eines klar
und den Aufständischen gemeinsam, nämlich die Forderung nach besserer Zukunftsperspektive und einer Entmachtung der alten Regime.
Deshalb glaube ich, dass es noch zu früh ist, eine umfassende Neuausrichtung unserer Politik gegenüber der
arabischen Welt zu konzipieren, wie es in dem Antrag
der SPD anklingt. Sie verwenden in der Überschrift das
Wort „Neubeginn“. Wie gesagt, ich halte das für verfrüht
und vor allem auch für etwas vollmundig - wenn Sie mir
diese Bemerkung erlauben.
({0})
Im Moment ist wichtig - das haben wir, die Koalitionsfraktionen, in dem Antrag zum Ausdruck gebracht,
der am 24. März beschlossen wurde -: Wir unterstützen
den demokratischen Wandel in der arabischen Welt. Wir
tun dies zum einen, weil die Menschen dort ein Recht
auf ein Leben in Freiheit und in Würde haben, und zum
anderen, weil es auch in unserem Interesse liegt, dass in
diesen Ländern Rechtsstaatlichkeit herrscht und sich
Wohlstand entwickelt. Denn diese Region ist von strategischer Bedeutung für unsere innere und äußere Sicherheit. Wir brauchen also die Unterstützung des Transformationsprozesses durch uns und durch alle EU-Staaten
- das ist eine gesamteuropäische Aufgabe -, aber auch
die Klarstellung, dass die Eigenverantwortung der Länder in der arabischen Region entscheidend ist. Wohin der
Weg wirklich führt, können wir nicht beeinflussen.
Wir leisten nicht nur beim Aufbau von Demokratie,
Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit humanitäre
Hilfe. Wir schaffen auch Zukunftsperspektiven für die
Menschen, vor allem für die jungen Menschen in der Region. Herr Kollege Gloser, ich rede von Hilfe vor Ort
und nicht in Europa. Diese kommt in Ihrem Antrag leider nicht zum Ausdruck.
({1})
Wir brauchen Arbeitsplätze in den Heimatländern und
nicht in der Europäischen Union.
({2})
Die Maßnahmen zur Hilfe und Förderung des Transformationsprozesses müssen nach Spielregeln von Good
Governance erfolgen. Wir haben keinen Zweifel daran,
dass die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik bezüglich der südlichen Nachbarn der EU hinter der strategischen Zielsetzung zurückgeblieben ist. Das gilt auch
für die Mittelmeerunion.
({3})
Da muss sich einiges verbessern. Es muss sich aber auch
in bilateraler Hinsicht mehr tun. Denn es ist erfahrungsgemäß nicht leicht, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union in dieser Frage auf eine Linie zu bekommen.
Da die Formulierung in Ihrem Antrag nicht eindeutig
und daher missverständlich ist, möchte ich noch eine
Klarstellung anbringen: Es gibt keine EU-Beitrittsperspektive für die Länder Nordafrikas. Ich weiß nicht,
ob Sie das mit Ihrem Antrag verklausuliert gemeint haben. Wir stellen das jetzt jedenfalls klar.
Abschließend ein letztes Wort zur Flüchtlingsfrage:
({4})
Es ist in den letzten Tagen viel von der eingeforderten
Solidarität Deutschlands die Rede. Wir zeigen durch die
Aufnahme von Flüchtlingen, die beispielsweise in Malta
angekommen sind, dass wir solidarisch sind.
({5})
Wenn etwas unsolidarisch ist, dann ist es das Verhalten
Italiens. Herr Kollege Gloser, Ihre Aufforderung im
SPD-Antrag zu solidarischem Verhalten ist nicht an die
Bundesregierung zu richten, sondern an Italien.
({6})
- Sie fordern aber die Bundesregierung auf; den Antrag
habe ich gelesen.
Dass Italien die rund 25 000 Flüchtlinge aufnehmen
soll, ist gerecht unter dem Gesichtspunkt der fairen Lastenverteilung. Die Zahlen der Asylbewerberzugänge zeigen, dass im Jahr 2010 auf Deutschland mehr als 40 000
und auf Italien 6 500 Asylbewerber entfallen sind.
Deutschland hat allein infolge des Balkan-Krieges etwa
zwanzigmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie jetzt
Italien. Da kann man weiß Gott nicht von unsolidarischem Verhalten Deutschlands sprechen, vielmehr von
dem Italiens.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle - damit möchte ich schließen - dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich für seine
klare Haltung in dieser Frage ausdrücklich danken.
({8})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5487 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Michael Link ({0}), Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Strategie der Europäischen Union für den
Donauraum effizient gestalten
- Drucksache 17/5495 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls so beschlossen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser
Debatte ist unser Kollege Karl Holmeier für die Fraktion
der CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das
Wort.
({1})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionen
zur Strategie der Europäischen Union für den Donauraum.
Was ist das eigentlich? Wozu ist diese Strategie notwendig? Und warum brauchen wir dazu einen Antrag?
Am 8. Dezember 2010 hat die EU-Kommission einen
Vorschlag für die Donauraumstrategie vorgestellt, und
zwar in Form einer 16-seitigen Mitteilung sowie eines
89 Seiten umfassenden Aktionsplans.
Die Donaustrategie ist die zweite makroregionale
Strategie der Europäischen Union und befasst sich mit
der Zukunft einer Region, die fast 115 Millionen Einwohner zählt und von der Fläche etwa ein Fünftel der
Europäischen Union ausmacht. Sie umfasst acht EUMitgliedstaaten und sechs Nichtmitgliedstaaten.
Die Donaustrategie ist nach dem Vorbild der Ostseestrategie eine Initiative zur nachhaltigen Entwicklung
des Donauraums durch eine bessere Koordinierung der
Mitgliedstaaten in verschiedenen Politikbereichen und
vor allem durch eine verbesserte grenzüberschreitende
Zusammenarbeit. Wir sind daher als nationale Parlamentarier gefordert, uns zu dieser umfangreichen Strategie
zu positionieren. Ich freue mich, dass ich Ihnen heute
diesen Antrag der Koalitionsfraktionen vorstellen darf.
Aus unserer Sicht müssen bei der Verabschiedung der
Strategie folgende Punkte dringend beachtet werden: An
oberster Stelle steht dabei die strikte Einhaltung der sogenannten drei Neins; das heißt, es darf keine neuen Institutionen geben, keine neuen Rechtsetzungsakte und
vor allem keine zusätzlichen Finanzmittel.
Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung der
drei Neins ist die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. In
unserem Antrag machen wir daher klar, dass die Donaustrategie nicht in Bereiche hineinragen darf, die genauso
gut auf nationaler Ebene geregelt werden können. Vielmehr muss sie sich auf Handlungsfelder konzentrieren,
in denen ein echter Mehrwert - ich betone: ein echter
Mehrwert - für den Donauraum erzielt werden kann.
Hierzu gehört beispielsweise die dringend notwendige
Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur, sowohl im Bereich Schiene als auch in den Bereichen Straße und Wasserstraße, sowie die Vernetzung
dieser Verkehrsträger.
({0})
Besonders die Stärkung des grenzüberschreitenden
Güterverkehrs ist für die wirtschaftliche Entwicklung
des Donauraums von enormer Bedeutung. Neben dem
Güterverkehr darf aber auch der Personenverkehr nicht
vernachlässigt werden. Ich begrüße daher ausdrücklich
den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Reisezeiten im Personenverkehr zwischen Großstädten zu verkürzen. Auch hier haben wir einiges nachzuholen. So
gibt es beispielsweise leider immer noch keine attraktive
Bahnverbindung zwischen den europäischen Metropolen
München und Prag. Beide Städte liegen im direkten Einzugsbereich der Donau. Beide Städte haben eine herausragende europäische Bedeutung, sind aber nur sehr unzureichend miteinander vernetzt.
Im Rahmen eines neuen transeuropäischen Verkehrsprojekts von Prag über die Donaustadt Regensburg über
München bis zur Adriaküste könnte diese Lücke im europäischen Netz geschlossen werden. Weitere Handlungsfelder der Donaustrategie sind unter anderem die
Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung,
die Förderung von Austauschprogrammen vor allem im
Bereich der Berufsausbildung, die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen, die Stärkung des interkulturellen Dialogs zwischen jungen Menschen und die Unterstützung von Austauschprogrammen für Studenten
und Wissenschaftler.
Meine Damen und Herren, kürzlich hat der Europaausschuss eine Delegationsreise nach Ungarn unternommen. Ich darf Ihnen berichten, dass zum Beispiel bei der
deutschsprachigen Andrassy-Universität in Budapest das
Vorhaben auf Gründung eines Donaujugendwerks nach
dem Vorbild des Deutsch-Französischen und des
Deutsch-Polnischen Jugendwerks vorgestellt wurde. Außerdem plant die Universität die Etablierung eines neuen
Donaustudiengangs. Diese Projekte finden sich in der
Donaustrategie wieder und leisten auf diese Weise einen
bedeutenden Mehrwert für die europäische Integration
und den Zusammenhalt im Donauraum.
({1})
Ein kleiner Beitrag konnte aufgrund dieser Reise zwischenzeitlich geleistet werden: Die Studenten baten damals um ein Abonnement von deutschen Zeitungen. Ich
danke der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die
sich bereit erklärt hat, die Kosten der Abos für die Universität zu übernehmen.
Abschließend möchte ich auf zwei Punkte eingehen,
die aus meiner Sicht im Vorschlag der Europäischen
Kommission zur Donaustrategie zu kurz kommen: die
Entwicklung des ländlichen Raums und die Stärkung der
Landwirtschaft.
Der Donauraum ist maßgeblich ländlich geprägt.
Viele Vorhaben der Donaustrategie haben daher indirekt
mit der Förderung ländlicher Regionen zu tun. Die Stärkung und Entwicklung des ländlichen Raums als Ziel
sucht man in der Strategie der Europäischen Union jedoch vergebens. Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, einen eigenen Schwerpunktbereich zum ländlichen Raum
aufzunehmen, der sich mit allen für den ländlichen
Raum typischen Belangen befasst.
({2})
Gleiches gilt für die Landwirtschaft als ein wichtiger
Wirtschaftsfaktor im ländlichen Raum. Hier erwarten die
Koalitionsfraktionen eine stärkere Gewichtung.
An der Themenbreite der Donaustrategie sehen Sie,
wie wichtig die Auseinandersetzung und die Befassung
des Deutschen Bundestages mit diesem Thema ist. Ich
konnte bei weitem nicht alle Themen aufgreifen.
({3})
Dafür hätte ich nicht 7, sondern 70 Minuten gebraucht.
({4})
Wir haben Verständnis dafür, dass Sie das nicht beantragt haben, Herr Kollege.
({0})
Ich danke allen, die an der Einbringung dieses umfassenden Antrags beteiligt waren, für ihre Unterstützung.
Ich bitte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, den
Prozess bis zur endgültigen Verabschiedung der Donaustrategie beim Europäischen Rat im Juni dieses Jahres
kritisch und konstruktiv zu begleiten und unserem Antrag zur Strategie für den Donauraum zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Wir haben zu danken, Kollege Karl Holmeier. - Jetzt
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dietmar Nietan. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die
Strategie für den Donauraum für diese Makroregion eine
große Chance bedeuten kann. Ich sage ausdrücklich „bedeuten kann“, weil ich glaube, dass diese Strategie der
Europäischen Union noch präzisiert werden muss. Ich
glaube, dass sie konsistent in andere Politiken eingebaut
werden muss, damit sie ihre Wirkung entfalten kann.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute im Parlament darüber diskutieren; denn das ist eine wichtige
Strategie, die ein großes Entwicklungspotenzial in sich
birgt. Ich halte es auch für richtig, dass im Koalitionsantrag gefordert wird, dass die Entwicklungspotenziale, die
in dieser Makroregion schlummern, gehoben werden.
Allerdings möchte ich auch dies betonen: Ob uns das am
Ende des Tages gelingt, hängt nicht allein davon ab, wie
die Donaustrategie formuliert ist - in dem Aktionsplan
finden wir teilweise sehr gute und konkrete Projekte -,
sondern das hängt am Ende auch davon ab, wie mutig
die Europäische Union und damit wir alle sind, wenn es
darum geht, auf wichtigen, großen Politikfeldern der EU
Reformen vorzunehmen. Das ist erforderlich, damit die
Donaustrategie eingebunden in andere Politiken und
Strategien eine Chance hat. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Nachbarschaftspolitik, die Gemeinsame
Agrarpolitik, die Kohäsionspolitik und letztlich auch die
Frage der zukünftigen Haushaltsgestaltung. Die Entwicklung in diesen Politikfeldern darf man nicht getrennt sehen von dem, was wir gemeinsam an positiver
Entwicklung für den Donauraum erreichen wollen.
({0})
Ich finde es hervorragend, dass sich die Donaustrategie, die nach ihrer derzeitigen Ausgestaltung 14 Staaten
umfasst, nicht nur auf EU-Mitgliedstaaten und direkte
Anrainer der Donau bezieht, sondern auch Länder berücksichtigt, die nicht oder noch nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Ich finde es auch sehr gut, dass
in dem Antrag von CDU/CSU und FDP ausdrücklich unterstrichen wird, dass die Expertise nichtstaatlicher Akteure eine große Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung der Donaustrategie spielen soll. Allerdings hätte
ich mir gewünscht, dass an der einen oder anderen Stelle
des Antrags der Koalitionsfraktionen noch etwas stärker
herausgearbeitet worden wäre - das steht ohne Zweifel
drin -, dass im Zusammenhang mit den nichtstaatlichen
Akteuren nicht nur die Unternehmensverbände und
IHKs eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch die
Zivilgesellschaft
({1})
und die Donaustrategie daher in der Zivilgesellschaft
verankert sein muss und sie den Austausch und die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften im Donauraum
fördern muss.
Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, dass ich es
für eine hervorragende Idee halte, ein Donaujugendwerk
zu installieren. Das ist, glaube ich, genau der richtige
Weg, um gerade auch die nächste Generation für dieses
Projekt zu begeistern und dazu zu befähigen, in der Region eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu
betreiben. Abseits der Frage, wie man ein solches Jugendwerk am Ende institutionalisiert, halte ich es für
wichtig, dass man sehr schnell damit beginnt, dieses Jugendwerk zu gründen und es mit Leben zu füllen. Denn
das wäre, glaube ich, ein Symbol für die nach vorne gerichtete Donaustrategie.
({2})
Eine entscheidende Frage, die sich mir stellt, ist natürlich: Wie gelingt es uns, der gesamten Makroregion
mit der Donaustrategie eine gute Perspektive zu geben?
Wie kann man einen Mehrwert für eine nachhaltige Entwicklung in der Region schaffen? Ich möchte noch einmal aufgreifen, was ich gerade schon angeführt habe. Ich
glaube, nur wenn sich die europäische Donaustrategie
konsistent in eine Weiterentwicklung wichtiger EU-Politikfelder einfügt, wird sie am Ende erfolgreich sein. Deshalb müssen wir uns die Fragen stellen - das ist ein
Punkt, der in diesem Antrag zu kurz kommt; über diesen
Punkt müssen wir sicherlich über diesen Antrag hinaus
auch hier im Parlament weiter ringen -: Welche Initiativen werden aus Deutschland kommen, um die Kohäsionspolitik, die Strukturpolitik weiterzuentwickeln, die
Rolle der Regionen zu stärken und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit neuen zielführenden Instrumenten zu bestücken, nicht nur die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit zwischen EU-Mitgliedstaaten, sondern
gerade auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und NichtEU-Mitgliedstaaten? Welche Ziele geben wir der Kohäsionspolitik in Zukunft? Wie präzisieren wir die Instrumente? Wie statten wir sie mit Mitteln aus? Ich glaube,
nur wenn sich die Kohäsionspolitik weiterentwickelt,
wird es einen Rahmen geben, in dem sich die Donaustrategie erfolgreich entfalten kann.
Ebenfalls zu Recht betonen die Koalitionsfraktionen,
dass die Entwicklung im ländlichen Raum ein ganz entscheidender Punkt ist. Aber wenn man das so betont,
wird man nicht um folgende Fragen herumkommen: Wie
werden wir uns als Bundesrepublik Deutschland in die
Diskussion über die grundsätzlich notwendigen Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik einbringen? Wie
schaffen wir es, noch stärker als bisher von den direkten
Subventionen hin zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum zu kommen?
Ebenfalls geht es darum - darauf wird rekurriert -,
das Ganze in die EU-Strategie 2020 einzubinden. Aber
das kann nur gelingen, wenn die EU-Strategie 2020
nicht allein auf Wettbewerbsfähigkeit achtet, sondern
auch Wohlstand und Prosperität für die gesamte Region
und nicht nur für die EU-Mitgliedstaaten beinhaltet. Ich
habe den Finanzrahmen angesprochen. Wir werden sicherlich auch darüber diskutieren müssen, wie die einzelnen Politiken im Finanzrahmen von 2014 bis 2020
neu strukturiert werden, damit die benötigten Mittel mit
entsprechenden Prioritäten versehen zur Verfügung gestellt werden können.
Zum Schluss erlauben Sie mir noch den Hinweis auf
zwei Politiken, die ich bisher nicht genannt habe, aber
jetzt noch einmal betonen möchte. Wir haben mit der
Donaustrategie den großen Vorteil, dass wir damit zum
Beispiel auch die Staaten des sogenannten Westbalkans
ansprechen. Ich glaube, die Donaustrategie ist am Ende
nur glaubwürdig, wenn wir in der europäischen Erweiterungspolitik deutlich machen, dass die Perspektive der
EU-Erweiterung für diese Staaten weiterhin besteht,
({3})
dass nach Kroatien nicht Schluss ist, sondern dass wir
uns ernsthaft darum bemühen, diesen Staaten diese Perspektive zu geben. Ich glaube, wenn das konsistent der
Fall ist, ist auch die Donaustrategie für diese Staaten
eine glaubwürdige Strategie, eine Strategie, in die sie
sich sicherlich gerne einbringen werden.
Wir werden nicht nur im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Nordafrika - darüber haben wir hier im
Plenum ja gerade eine Diskussion geführt -, sondern
auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der
Republik Moldau, in der Ukraine und in Belarus darüber
diskutieren müssen, wie wir die europäische Nachbarschaftspolitik so reformieren, dass sie sich entfaltet und
zu Stabilität, Prosperität und Entwicklungschancen für
die Menschen in den Nachbarstaaten führen kann. Ich
glaube, das ist der entscheidende Punkt: Haben wir den
Mut, diese wichtigen EU-Politiken über die Donaustrategie hinaus so zu reformieren, dass sie den Menschen
dienen? Ich glaube, nur wenn wir beides tun, wird die
Donaustrategie Erfolg haben. Das sollten wir uns alle
gemeinsam wünschen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Dietmar Nietan. - Jetzt
spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Joachim
Spatz. Bitte schön, Kollege Spatz.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde
verschiedentlich schon gesagt: Der alte Kulturraum Balkan/Donau ist ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Geschichte und der europäischen Zukunft. Deshalb ist es wichtig und folgerichtig, dass sich die
Europäische Union um diesem Raum ähnlich wie um
den Ostseeraum, der auch eine gewachsene Kulturregion
ist, kümmert. Eines möchte ich gleich zu Beginn betonen
- auch der Kollege Nietan hat dies angesprochen -: Natürlich ist diese Strategie nur glaubwürdig, wenn auch
der Westbalkan eine Perspektive innerhalb der Europäischen Union hat. Allerdings glaube ich, dass daran niemand in diesem Hause zweifelt. Entschlossene Schritte
in diese Richtung gehen wir jedenfalls.
({0})
Ich finde es richtig und wichtig, dass sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten dieser Aufgabe
stellen. Dabei will man keine neue Institution schaffen,
keine neuen, zusätzlichen Mittel rekrutieren und ohne
neue Rechtsetzungsakte auskommen. Das heißt, man
stellt sich dieser Aufgabe, ohne sofort nach dem Füllhorn der zentralen Umverteilung zu rufen. Das ist in Zeiten wie diesen, in denen wir über Stabilisierungsmechanismen und Ähnliches diskutieren, ein bemerkenswerter
und unterstützenswerter Vorgang. Auch dies sei betont.
({1})
An der Strategie für den Donauraum sind nicht nur
EU-Mitgliedstaaten, sondern auch sechs Nichtmitgliedstaaten beteiligt. Dies zeigt ganz deutlich, dass Europa in
der Lage ist, über seine Grenzen hinaus zu denken und
die Anrainerstaaten an der ökonomischen Prosperität,
die diese Region durch die engere Kooperation mit der
EU erfahren wird, teilhaben lassen will. Wir begrüßen
ausdrücklich, dass das Prinzip der Subsidiarität auch hier
gelten soll. Dies hat zur Folge, dass Bundesländer wie
Baden-Württemberg und Bayern die Expertise, die sie
bei diesem Thema seit vielen Jahren haben, einbringen
können.
Vier Säulen sind wichtig: die Anbindung des Donauraums an den zentraleuropäischen Raum, der Umweltschutz im Donauraum - auch dies ist ein wichtiges
Thema -, der Aufbau von Wohlstand und die Stärkung
der inneren Sicherheit, Stichwort „Bekämpfung organisierter Kriminalität“; dies ist besonders wichtig, wenn
man die Aufnahme der Staaten des Westbalkans in die
EU weiter vorantreiben will. Diese vier Säulen sind
Kernbestandteile der Strategie.
Ein zentraler Punkt ist die Befähigung der Länder des
Westbalkans zur Wettbewerbsfähigkeit. Es sei daran erinnert: Das ist kein Nebenkriegsschauplatz, Herr Kollege Nietan, sondern ein Hauptkriegsschauplatz. Denken
Sie nur an die Diskussionen, die wir in Bezug auf andere
Länder der Euro-Zone führen. Ich denke, eine zentrale
Weichenstellung für die nächsten Jahre besteht darin, die
Länder des Donauraums zu befähigen, aufgrund eigener
wettbewerbsfähiger Strukturen wirtschaftlichen Anschluss an Zentraleuropa zu finden. Am Ende der Reise
sollte natürlich ihre Mitwirkung an der Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion stehen.
({2})
Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wurde bereits
angesprochen. Der wesentlichste Punkt ist meiner Meinung nach allerdings der Ausbau der Infrastruktur beim
Energietransfer. Wenn der Donauraum im Hinblick auf
den Austausch von Strom, Gas und anderen Energieträgern an Zentraleuropa gut angebunden wird, ist zu erwarten, dass sich dort eine vernünftige Infrastruktur entwickelt. Auch für diesen Raum wird es unumgänglich
sein, seine Energiewirtschaft umzustellen.
Das Jugendwerk und der Austausch von Studierenden
wurden bereits angesprochen. In diesem Bereich kann
man bereits den ersten greifbaren Erfolg vermelden:
Schon bevor die Strategie zu Papier gebracht wird, wurden entsprechende Aktivitäten eingeleitet. So wird die
Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper,
morgen in Budapest den Partnerschaftsvertrag zwischen
Bayern, Baden-Württemberg, der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Andrassy-Universität in Budapest unterzeichnen.
({3})
- Ja, es ist eine deutschsprachige Universität in Budapest.
Ich finde, dass wir im Übrigen - vielleicht weil wir
am Rande dieser Region liegen - nicht unterschätzen
sollten, für wie wichtig die betreffenden Länder diese
Strategie halten. Es ist ein wichtiges Zeichen für die
europäische Integration, dass wir die partnerschaftliche
Hand in fairer Art und Weise ausstrecken.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Als Nächster
hat unser Kollege Dr. Diether Dehm das Wort. Bitte
schön, Kollege Diether Dehm, für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Donaustrategie bzw. das, was die Kommission da will, stellt
wirtschafts- und verkehrspolitische Ziele über den Erhalt
von Ökosystemen und verschärft außerdem die vorhandenen sozioökonomischen Gegensätze zwischen den
acht EU-Staaten und den sechs Donauanrainern weiter.
Der Koalitionsvertrag fällt noch hinter den Vorschlag der
Kommission zurück. Bis 2020 sollen die Kapazitäten für
den Güterschiffsverkehr verdoppelt werden. Dazu sollen
bestehende Engpässe für die Schifffahrt beseitigt werden. Die Donau soll ganzjährig für große Binnenschiffe
mit einem Tiefgang von bis zu 2,50 Metern schiffbar
sein. Das bedeutet Flussbegradigung, Vertiefung von
Fahrrinnen und Aufstauungen. Die Engpässe, die da einbetoniert werden sollen, sind aber auch Auenlandschaften. Wir halten Güterschiffe durchaus für eine zukunftsfähige Verkehrsform. Sie sollte aber kein Bauplan für ein
soziales und ökologisches Desaster sein.
({0})
Die Umweltziele bleiben unkonkret. Aber es gibt bereits eine konkrete Finanzierung für NAIADES und die
TEN-Projekte bzw. für den Straßen- und Schienenverkehr. Bayern plant so den Donauausbau mit Staustufen
im einzig unverbauten Abschnitt zwischen Straubing
und Vilshofen. Die Linke ist dagegen und steht an der
Seite der Umweltinitiativen vor Ort.
({1})
In Mittel- und Südosteuropa ist die Wirtschaft noch
stärker eingebrochen als sonst in Europa. Das gilt besonders für Ungarn und Rumänien, die im Gegenzug für
IWF-Kredite brutale Verarmungsprogramme einleiten
mussten. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche rechnet zwar ab diesem Jahr mit
Wachstumsraten von durchschnittlich 3 Prozent, unterstreicht aber, dass diese Staaten fünf bis sieben Jahre an
sozioökonomischer Entwicklung verloren haben. Wie
sollen mit den brutalen Sparprogrammen der Europa2020-Strategie, auf die die Kommission als Ausweg verweist, Bildung und Beschäftigung ausgebaut werden?
Die Kommission veranschlagt die Gesamtkosten der
Donaustrategie auf rund 100 Milliarden Euro, die 2014
bis 2020 durch Einschnitte im Kohäsionsfonds, beim
Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und beim
Sozialfonds aufgebracht werden sollen. Der Förderfokus
wird weiter auf Privatisierung und Wettbewerbsfähigkeit
zulasten von nötigen sozialen Ausgleichsprogrammen
eingeengt. Monopolkapitalistische EU-Politik beantwortet nirgendwo die Frage: Wie sind Wirtschafts- und Binnennachfrage anzukurbeln, wenn man sie gleichzeitig
- an der Donau, in Griechenland, Portugal und letztlich
auch in Deutschland - kaputtkürzt?
({2})
- Ich habe schon intelligentere Zwischenrufe gehört. So profitieren von diesem gigantischen Infrastrukturprogramm in erster Linie Konzerne und Großbanken aus
Kerneuropa - besonders deutsche und österreichische -,
die die Märkte bereits beherrschen.
Eine nachhaltige soziale und ökologische Integration
der Region kann nur mit der von Gewerkschaften und
uns geforderten sozialen Fortschrittsklausel sowie der
grundlegenden Revision der Lissabon-Verträge erreicht
werden.
({3})
Die EU muss ihre Grundrichtung komplett ändern, sozial und ökologisch werden und nicht nur in der Donauregion endlich zu den Menschen kommen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Dehm. - Jetzt spricht als
Nächste auf unserer Rednerliste für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Viola von Cramon-Taubadel. Bitte schön, Sie sind erneut im Einsatz.
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Donau verbindet. Sie verbindet EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland mit EU-Anwärtern wie Kroatien und mit den Ländern der EU-Nachbarschaftspolitik,
der Ukraine und Moldau. Es ist daher folgerichtig - wir
unterstützen das sehr -, dass die EU-Kommission eine
gemeinsame Strategie für diese Region entworfen hat.
Ich glaube, schon gestern haben die EU-Außenminister
genau diese Strategie beschlossen. Aber vielleicht haben
Sie eben über eine andere Vereinbarung gesprochen,
Herr Spatz.
({0})
Die Umsetzung soll nun schnell beginnen, damit die Lebensqualität der etwa 115 Millionen Menschen in diesem Gebiet, wie Sie auch geschrieben haben, langfristig
verbessert werden kann.
Was haben wir uns nun unter dieser Donaustrategie
vorzustellen? Es heißt dort: Eine dynamische Donauregion unter Beachtung des Naturschutzes und der Biodiversität soll gefördert werden.
({1})
Dafür hat die EU-Kommission selbstverständlich die
volle Unterstützung von uns Grünen.
({2})
Weiterhin wird betont, für die Strategie keine neuen EUGelder zu erheben, keine neuen EU-Vorschriften zu erlassen und keine neuen EU-Strukturen zu schaffen. Vielmehr soll es zu einer verstärkten regionalen Kooperation
kommen. Auch diesen Ansatz unterstützen wir.
Es gibt allerdings einen Knackpunkt, auf den ich Sie
gerne hinweisen möchte. Das Hauptproblem der Donaustrategie liegt - Herr Dehm hat das eben schon angesprochen - in den eklatanten Widersprüchen, also in einem
Zielkonflikt. So soll auf der einen Seite die Donau
schiffbarer gemacht werden. Die Zielvorgabe lautet, den
Frachtverkehr bis 2020 um mindestens 20 Prozent zu
steigern. Damit verbunden sind die geplanten Begradigungen und Staustufen, um den flachen Fluss für die
großen Frachtkähne befahrbar zu machen. Gleichzeitig
- ich denke, das liegt uns Grünen wirklich besonders am
Herzen - soll das Erreichen des anderen Ziels, die Biodiversität, gefördert werden.
Wer sich einmal die Statistiken anschaut und sieht,
wie viele Arten täglich verloren gehen, der oder die
weiß, wie wichtig die Erreichung genau dieses Ziels
nicht nur für das Donaugebiet, sondern für den gesamten
europäischen Kontinent ist.
({3})
- Ich meine das ernst.
({4})
Die Natur im Donaugebiet ist ein besonders schützenswerter und einmaliger Naturraum hier in Europa
({5})
- das wissen Sie aus Bayern wahrscheinlich noch besser
als ich -; denn mehr als 300 Vogelarten leben hier, und
viele von ihnen sind sehr selten.
Nun zurück zur Schlüsselfrage, wie dieser Zielkonflikt zu überwinden ist. Sogar die Bundeskanzlerin hat in
einem Statement genau diese Herausforderung als das
Spannungsfeld der Strategie ausgemacht: Wie lassen
sich Naturschutz und Gütertransport auf dem Fluss vereinbaren? Antworten darauf, wie dieses Spannungsverhältnis aufzulösen ist, finden wir in Ihrem Antrag keine.
Das ist das Bedauerliche, weswegen wir uns am Ende
auch enthalten werden.
({6})
Sie sagen nur, was nicht geschehen darf, bieten in Ihrem
Antrag allerdings keine Lösungsvorschläge an.
Für uns Grüne ist klar: Ein Schutz des Donauraums
über die Grenzen der 14 Anrainerstaaten hinweg ist dringend nötig. Aber eine Flussbegradigung und Staustufen
sind unnötige Eingriffe. Vielmehr sollten wir darin in12088
vestieren, die Schiffe dem Fluss anzupassen - nicht umgekehrt. Ingenieure werden Ihnen sagen, dass es durchaus möglich ist, Schiffe so zu konstruieren, dass die
gleichen Lasten getragen werden können und die Donau
dennoch in ihrem ursprünglichen, natürlichen Zustand
befahren werden kann. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass sich die deutsche Delegation beim Treffen des
Rates der Europäischen Union am 8. April gegen die Beseitigung der Engpässe der Donau ausgesprochen hat.
Sie sehen: Ab und zu erkennen wir es sogar an, wenn
sich die Regierung richtig verhält. Der Schutz der Umwelt muss aus unserer Sicht Priorität behalten. Nur wenn
der Umweltschutz gelingt, werden auch die anderen
Ziele der Strategie erreicht.
Am Ende komme ich nun zu den großen Chancen der
Strategie. Die größte Chance liegt für uns im nachhaltigen, grenzüberschreitenden Tourismus. Das ist ein Projekt mit großer Priorität. Als eine wichtige Voraussetzung genau hierfür - damit komme ich wieder auf den
Naturschutz zurück - muss es eben eine Verbesserung
des Naturschutzes und vor allem auch eine Verbesserung
der Wasserqualität geben. Die biologische und kulturelle
Vielfalt des Donauraums bietet ein enormes Potenzial
und hat eben auch eine existenzielle Bedeutung für den
Ökotourismus. Nachhaltiger Tourismus kann maßgeblich - auch das wissen Sie - zur Wirtschaftsförderung
beitragen. Natürliche und kulturelle Ressourcen werden
geschützt, indem auf die umweltgerechte Gestaltung von
touristischer Infrastruktur gesetzt wird. Genau darauf
kommt es aus unserer Sicht in der Donauregion und in
dieser Strategie an.
Vielen Dank.
({7})
Wir haben zu danken. - Der letzte Redner in dieser
Debatte ist der Kollege Gunther Krichbaum für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Donau hat viele Gesichter: Für die einen ist sie eine
Grenze, für die anderen eine lebensnotwendige Verkehrsader und für Dritte ohne jeden Zweifel auch ein tolles Naherholungsgebiet.
Was die Grenze angeht - damit sind wir schon mittendrin -, wird ersichtlich, dass es letztlich darauf ankommt, was wir aus der Donau machen. Allein zwischen
Bulgarien und Rumänien erstreckt sich der Grenzverlauf
entlang der Donau über eine Länge von 380 Kilometern.
Aber es gibt nur eine einzige Brücke. Schon daraus wird
ersichtlich, dass diese beiden Länder so gut wie nichts
miteinander zu tun haben. Sie haben weder ein gutes
noch ein schlechtes Verhältnis zueinander; sie haben gar
kein Verhältnis zueinander. Genau an dem Punkt kann
die Donaustrategie ansetzen.
Was die Verkehrskapazitäten angeht, muss sich in der
nächsten Zeit in der Tat erheblich mehr tun. Dazu nur
zwei Zahlen: Während sich der schiffbare Verlauf des
Rheins über 700 Kilometer erstreckt, sind es auf der Donau immerhin 2 200 Kilometer. Was die Frachtgüter angeht, fällt aber auf, dass auf der Donau 60 Millionen bis
70 Millionen Tonnen im Jahr befördert werden, während
es auf dem Rhein bei einem Drittel der Länge immerhin
350 Millionen Tonnen sind. Das entspricht einem Verhältnis von circa 1 zu 20.
({0})
Das bedeutet, dass es zum einen in den Anrainerstaaten
unterschiedliche Voraussetzungen gibt und dass es zum
anderen an schiffbaren Abschnitten fehlt. Deswegen
werden wir langfristig nicht darum herumkommen, darüber zu diskutieren, inwieweit die Donau vertieft werden
muss. Die Transportkapazitäten müssen schon deswegen
ausgebaut werden, weil wir zunehmend auch im Straßenverkehr an unsere Kapazitätsgrenzen kommen. Unter
anderem daran zeigt sich die Wichtigkeit.
Die Donau ist auch Energieträger und Energiebringer.
Das wird vor allem in Österreich deutlich. In Österreich
hat die Donau auf ihrer Gesamtlänge ein Gefälle von
circa 10 Metern. Das heißt, sie ist faktisch ein Gebirgsfluss. Das ermöglicht es, dass zahlreiche Wasserkraftwerke zur Deckung des Strombedarfs in Österreich beitragen. Auch hier gibt es Möglichkeiten des Ausbaus,
nicht unbedingt entlang der Donau in Österreich, wohl
aber bei den Zuflüssen. Das spielt für eine Energiestrategie in Europa eine zunehmend wichtige Rolle.
Es gibt in der Tat sehr viele Facetten, bis hin zu der
kulturellen Verbindung. Das ist der eigentlich Charme
der Donauraumstrategie, die von Ländern wie BadenWürttemberg und Bayern entwickelt wurde. Die Initiative ging damals von der EU-Regionalkommissarin
Danuta Hübner und dem damaligen Ministerpräsidenten
Günther Oettinger aus. Ich erwähne das deswegen, weil
es zeigt, dass sehr wohl auch die Bundesländer dafür
Sorge tragen können, dass aus solchen Ideen eines Tages
eine gesamteuropäische Strategie entstehen kann. Die
Bundesländer können sich in Europa durchaus aktiver
einbringen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
({1})
Die Donauraumstrategie hat aber - das haben manche
Redner bereits erwähnt - ihren besonderen Charme darin, dass sie Nicht-EU-Länder mit EU-Ländern verbindet. Ja, es wäre deutlich zu kurz gesprungen, wenn man
die Donauraumstrategie nur als ein Infrastrukturprojekt
definieren würde. Sie muss eine Anstoßwirkung haben,
als Katalysator wirken, insbesondere was die Erweiterungspolitik der Europäischen Union angeht. Länder wie
die Republik Moldau und Serbien brauchen eine Perspektive in dieser Richtung. Für die Gesamtentwicklung
solcher Länder ist dies unabdingbar. Diese Länder rücken näher zusammen. Das ist von unserer Seite zu begrüßen. Wir wollen deswegen die Donauraumstrategie
dahin gehend fördern, dass sie ein Ansporn zur sogeGunther Krichbaum
nannten Good Governance ist, dass sie eben die gute Regierungstätigkeit in den Ländern zu befördern hilft.
({2})
Ich glaube, es sollte nicht nur eine Binnenstrategie der
Europäischen Union sein, sondern insbesondere auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Bürgerinnen und Bürger enger zusammenrücken und Städtepartnerschaften
entstehen. Dazu ein letztes Beispiel. Wir stellen fest, dass
Baden-Württemberg über 490 Städtepartnerschaften mit
Frankreich hat, während Gesamtdeutschland mit Serbien
gerade einmal drei Städtepartnerschaften hat. Auch das
sollte uns zu denken geben.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Gunther Krichbaum. - Gunther
Krichbaum war der letzte Redner in dieser Debatte.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/5495 mit dem Titel „Strategie der Euro-
päischen Union für den Donauraum effizient gestalten“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Dieser Antrag ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard
Lischka, Karin Roth ({1}), Dr. Sascha Ra-
abe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Stärkung der humanitären Lage in Afghani-
stan und der partnerschaftlichen Kooperation
mit Nichtregierungsorganisationen
- Drucksachen 17/1965, 17/4628 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Burkhard Lischka
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Ute Koczy
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungsund Hochschulsystems in Afghanistan
- Drucksachen 17/3866, 17/4629 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Johannes Pflug
Patrick Kurth ({3})
Dr. Frithjof Schmidt
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Namen der Redner liegt dem Präsidium vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4628, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1965 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist somit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4629,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/3866 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Die
Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem
Holz ({4})
- Drucksache 17/5261 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5})
- Drucksache 17/5498 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) -
Alle Kolleginnen und Kollegen sind einverstanden, wie
ich sehe. Die Liste der Namen der Redner liegt uns vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5498, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/5261 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Vizepräsident Eduard Oswald
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Keiner. Enthaltungen? - Keine.
Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Masterstudiengängen sichern
- Drucksache 17/5475 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.1) -
Sie sind alle einverstanden. Die Liste der Namen der
Redner liegt uns vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5475 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Illegale Landnahme verhindern, Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Entwicklungsländern sichern
- Drucksache 17/5488 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost,
1) Anlage 6
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden
- Drucksache 17/4533 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.
In den vergangenen drei Jahren haben Investoren aus
Industrie- und Schwellenländern in Afrika rund 20 Millionen Hektar Ackerland gepachtet bzw. gekauft. Diese
Landnahme, auch „Land Grabbing“ oder „Offshore
Farming“ genannt, ist gerade in Afrika besonders ausgeprägt, da dort sowohl ausreichend landwirtschaftliche Flächen als auch genügend preiswerte Arbeitskräfte
zur Verfügung stehen.
Die Herkunft der zum Teil privaten, aber auch staatlichen Investoren ist so vielfältig wie ihre Beweggründe.
Sie stammen zum Beispiel aus der arabischen Welt, die
besonders mit Wasser- und Ackerlandmangel zu kämpfen hat, aber vor allem aus asiatischen Ländern, wie
China und Indien, die ihrem rasanten Bevölkerungswachstum und dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise
({0}) begegnen
müssen. So kostet etwa Weizen international heute mit
gut 330 Dollar pro Tonne über 50 Prozent mehr als noch
vor einem Jahr. Auch die Spekulationen mit Nahrungsmitteln führen zu massiven Preissteigerungen, deren Raten von Wissenschaftlern auf 20 Prozent bis 40 Prozent
eingeschätzt werden. Finanzinvestoren suchen verstärkt
nach Anlagemöglichkeiten in vermeintlich sicheren und
profitablen Sachwerten, und dazu gehören nicht nur
Gold, sondern zum Beispiel auch Weizen, Mais, Soja und
Zucker. Die steigende Nachfrage treibt die Preise in die
Höhe - mit fatalen Folgen für arme Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern. Daneben macht sich
der steigende Lebensstandard vieler Einwohner von
Schwellenländern, die verstärkt höherwertige Nahrungsmittel wie Fleisch und Milch nachfragen, bemerkbar. Der daraus entstehende größere Bedarf an Getreide
für Tierfutter lässt zusätzlich die Preise für Grundnahrungsmittel klettern.
In der Tat kann eine ausländische Investition in
Agrarflächen mit enormen Chancen für die einheimische Bevölkerung verbunden sein: Investitionen in die
Landwirtschaft sowie der Einsatz moderner Technik
können zu deutlichen Steigerungen der Nahrungsmittelproduktion führen. Außerdem können zusätzliche Einnahmen durch Verkaufserlöse, Pachterträge und Steuern
erzielt werden; es können neue Märkte entstehen, und
die Zahl der Beschäftigten kann deutlich ansteigen,
wenn die Investition mit einer Strategie zur Armutsbekämpfung verbunden ist. Es gibt diese positiven Fälle,
wie beispielsweise in Malawi, wo Tausende ortsansässige Arbeiter beschäftigt werden und ein Großteil der
Wertschöpfung im Land verbleibt.
Die Realität sieht aber oftmals anders aus: Tatsächlich finden Investitionen vor allem in den Ländern statt,
in denen diktatorische und korrupte Regierungen herrschen. Es gibt Beispiele, wo bestechliche Beamte Landflächen als unfruchtbar eingestuft haben, nur um diese
besser an ausländische Investoren verkaufen zu können.
Andererseits lassen sich viele Länder auf diese Geschäfte ein, weil sie sich in den ländlichen Regionen Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Verkehrsinfrastruktur erhoffen. Außerdem möchte man vom
Know-how der ausländischen Fachkräfte profitieren.
So kommt es häufig vor, dass Länder, die im besonderen Maße vom Hunger betroffen sind, Investoren gegenüber am großzügigsten mit ihrem Ackerland umgehen.
Die betroffenen Kleinbauern werden dann aber bei der
Landverteilung nicht berücksichtigt und damit oftmals
zu Opfern von Vertreibung und Ausbeutung. In Äthiopien gibt es zum Beispiel kein Privateigentum an Land alles Land gehört dem Staat. Die Regierung kann es so
problemlos an Investoren vergeben. 3,6 Millionen Hektar - das entspricht der Größe Belgiens - hat Äthiopien
für Investoren inzwischen bereitgestellt. Der „Tagesspiegel“ berichtete am 3. April 2011 von enttäuschten
äthiopischen Kleinbauern: „Als die Behörden ihnen das
erste Mal von den ausländischen Investoren erzählten,
hätten sie Strom, bessere Gesundheitsversorgung, Schulen, Straßen und Wasser versprochen, doch nichts davon
sei gekommen. Stattdessen habe man ihnen das Land
weggenommen, auf dem sie Sesam und Mais anbauten
und auf denen ihr Vieh weidete.“
Nicolas Sarkozy hat das Problem der Rohstoffpreise
und der Lebensmittelsicherheit zu einer Priorität der
G 20 in diesem Jahr erklärt. Die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, neue Anbaumethoden und die
Verbesserung bei Marktzugang und Infrastruktur sind
Herausforderungen, denen sich jedes Land stellen muss,
wenn es dauerhaft Hunger und Armut beseitigen
möchte. Genau dies verfolgen wir mit unserem Antrag.
Besserer Zugang der Bauern zu den Märkten kann dazu
beitragen, die Effizienz der Lebensmittelversorgung zu
steigern. Eine bessere staatliche Verwaltung ist Voraussetzung, damit Investitionsprogramme der einheimischen Bevölkerung zugutekommen. Eine verbesserte
Infrastruktur für Lagerung und Transport kann hohe
Verluste vermeiden.
Deshalb müssen wir in Zukunft Verstöße gegen das
Recht auf Besitz und Eigentum noch gezielter thematisieren, insbesondere im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wollen wir die Partnerländer noch stärker bei
einer zukunftsorientierten Landbewirtschaftungspolitik
unterstützen, um die Ernährung der Bevölkerung vor
Ort und global zu verbessern und auch um das Klima
und die Ressourcen für nachkommende Generationen zu
schonen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit und kaum funktionierende Institutionen, insbesondere in vielen afrikanischen Ländern, machen die Durchsetzung von Landrechten lokaler Gruppen jedoch oft schwierig, manchmal sogar unmöglich. Daher wollen wir die Etablierung
von Beschwerdemechanismen und die Stärkung bereits
vorhandener Menschenrechtsinstitutionen vor Ort fördern.
Vor dem Hintergrund des riesigen globalen Interesses
an Land müssen wir so zu einer Stärkung von Good-Governance-Strukturen beitragen. Es kann doch nicht sein,
dass internationale Investoren auf Kosten der einheimischen Bevölkerung Millionengewinne machen und wir
parallel dazu als Industrieländer die Ausgaben bei der
Nahrungsmittelhilfe andauernd drastisch erhöhen müssen.
Die deutschen Auslandsvertretungen in den betreffenden Ländern müssen künftig noch stärker darauf hinwirken, dass Staaten, die über keine ausreichenden gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentum
verfügen, einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen.
Im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit und des
Rechtsstaatsdialogs wollen wir Unterstützung bei der
Ausgestaltung dieses Gesetzgebungsprozesses - etwa in
den Bereichen Immobiliarrecht, Sachenrecht, Grundbuch- und Katasterwesen, Staatshaftungsrecht oder Entschädigungsregelungen - geben. Um Korruption und
Menschenrechtsverstöße zu verhindern, wollen wir bei
der Gestaltung der Verträge von ausländischen Investoren mit Regierungen künftig darauf hinwirken, dass sie
beim Verkauf oder der Verpachtung von Flächen die Belange der betroffenen ortsansässigen Bauern und die
Risiken für die Umwelt berücksichtigen.
Die Entwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaft
ist für uns von zentraler Bedeutung, ebenso wie die Aufklärung der Bevölkerung über ihre Rechte. Insbesondere
Frauen soll Hilfestellung für die Bewirtschaftung von
Eigentum und Besitz angeboten werden. Gemeinsam mit
unseren EU-Partnern treten wir zudem bei den Vereinten
Nationen für ein Zusatzprotokoll ein, das den Schutz des
Eigentums vor unberechtigten Eingriffen durch private
Dritte oder den Staat garantiert und angemessene Entschädigungen im Falle von Enteignungen vorschreibt.
Wenn wir konsequent und mit langem Atem auf die
Einhaltung dieser Standards drängen, stellen FDIs
- Foreign Direct Investments - kein Risiko oder eine Bedrohung dar, sondern können eine wirkliche Chance für
Entwicklungsländer und die Bekämpfung des Hungers
in der Welt sein.
Die Nutzung von Grund und Boden für die Erzeugung
von Lebensmitteln stand schon 1992 bei der „Agenda 21“Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro
ganz oben auf der Tagesordnung. In Kapitel 14 der
Agenda werden bedeutende Themen für die Zukunftsfähigkeit der Agrarwirtschaft besonders in Schwellen- und
Entwicklungsländern genannt, darunter auch die Bodenordnung, Eigentumsfragen und die Bodenerhaltung.
Aktuell sehen wir in vielen Entwicklungs- und
Schwellenländern einen zunehmenden Wettbewerb um
Zu Protokoll gegebene Reden
die Nutzung von Grund und Boden. Grund dafür ist,
dass wir eine stark wachsende Weltbevölkerung und die
damit einhergehende gestiegene Nachfrage nach Rohstoffen erkennen. Wir sehen ein verändertes Konsumverhalten in den sich entwickelnden Regionen der Welt, besonders in Asien. Auch die Nachfrage nach Bioenergie
sowie der Klimawandel, durch den immer mehr Flächen
durch Erosion und Wüstenbildung unfruchtbar werden,
sind Faktoren für diese Entwicklung. Wie dramatisch
dieser Entwicklungszustand ist, zeigen die Nahrungsmittelkrisen der letzten Jahre und eine zunehmende Anzahl
von hungernden Menschen auf der Welt.
Eine Folge dieser Entwicklung, die je nach Bewertung entweder mit „Land Grabbing“ oder „Direct Investment in Land“ überschrieben wird, ist der Kauf oder
die Anpachtung von Flächen in Entwicklungs- und
Schwellenländern. Wir sehen, besonders in Afrika, aber
auch in Teilen Asiens, meist zwei Arten von Käufern von
Landbesitz, die zu unterscheiden sind. Auf der einen
Seite stehen Länder wie etwa Saudi-Arabien, China, Japan oder Südkorea, die vor allem daran interessiert
sind, Nahrung für deren eigene Bevölkerung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. All diese
Länder leiden unter einem Mangel an Wasser und
fruchtbaren Ackerböden.
Auf der anderen Seite sind jedoch auch vermehrt Privatkonzerne, Finanzinvestoren und Hedgefonds in das
„Land Grabbing“ eingestiegen. Diese Käufer kaufen
Agrarland oftmals aufgrund der in den nächsten Jahren
zu erwartenden Verknappung und erhoffen sich dadurch
hohe Renditen durch ihre Investitionen. Wir sehen bei
dieser Landnahme sowohl positive als auch negative
Entwicklungen für die betroffenen Staaten, die wir in unserem Antrag ja auch ausführlich beschrieben haben.
Allerdings sollten wir uns viel mehr die Frage stellen,
warum diese Staaten ihre Flächen nicht selber nutzen.
Die große Herausforderung von unserer Seite besteht
nun eigentlich darin, Unterstützung anzubieten, damit
insbesondere afrikanische Staaten in der Lage sind, die
landwirtschaftliche Produktion in den eigenen Händen
zu behalten. Eine Modernisierung und erhöhte Effektivität und Effizienz der ortsansässigen Landwirtschaft
würden dabei helfen, „Land Grabbing“ unattraktiv zu
machen. Dabei denke ich insbesondere an Know-howTransfer, Verbesserung von Anbaumethoden und Unterstützung bei der Ausbildung von Fachkräften. Dies
würde die Unabhängigkeit von der Praxis des „Land
Grabbing“ ermöglichen.
Die politische Umsetzung, hin zu einer erfolgreichen
Landwirtschaft, hängt auch entscheidend von einer guten Regierungsführung ab, weshalb wir auch besonderes
Augenmerk auf diesen Bereich legen. Mangelnde
Rechtssicherheit im Bezug auf Besitzverhältnisse sehen
wir als wichtigen Hinderungsgrund einer erfolgreichen
Entwicklung der am wenigsten entwickelten Länder an.
Die Bundesregierung setzt sich aktiv für den Aufbau von
rechtsstaatlichen Normen in Ländern der Dritten Welt
ein. Wir hoffen dadurch, unseren Partnerländern nicht
nur die Möglichkeit zu eröffnen, die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen, sondern auch das
landwirtschaftliche Potenzial ihres Landes selbstständig
nutzen zu können.
Landwirtschaft ist ein Wirtschaftsfaktor, der auch und
besonders in Afrika Wohlstand in ländlichen Räumen
mehren kann. Denn perspektivisch müssen diese Länder
die Vorteile von ihrem fruchtbaren Grund und Boden
selber nutzen. Sie sollten zunächst in der Lage sein, sich
selbst zu versorgen, um dann im nächsten Schritt Überschüsse zu produzieren, mit denen sie Handel treiben
können, um so die wirtschaftliche Entwicklung, besonders in den ländlichen Gebieten, antreiben zu können.
Durch die Zunahme von Investitionen in die Ressource Boden ergeben sich politische Handlungsfelder,
die besonders auf den Gebieten der Land- und Wasserrechte, der sinnvollen Förderung und der notwendigen
Investitionen in die Landwirtschaft und in den ländlichen Raum liegen. All diese Aspekte betonen wir in unserem Antrag. Wir wollen verantwortungsvoll getätigte
und notwendige Investitionen in den Agrarsektor, bei denen die lokalen, nationalen Rechte und der Schutz der
dort lebenden Menschen und der dort verfügbaren Ressourcen sichergestellt werden müssen. Wir wollen nicht,
dass der Ackerboden in den Ländern der Dritten Welt
Spekulationsobjekt ist. Das Ziel unserer Politik muss es
sein, den Stellenwert der Landwirtschaft zu erhöhen und
so den Menschen die Möglichkeit zu geben, Ernährungssicherheit zu gewährleisten und langfristig Strukturen
aufzubauen, die Wohlstand ermöglichen.
Heute diskutieren wir zwei Anträge, die sich inhaltlich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen, im Wesenskern aber ein immer wieder auftretendes Phänomen
aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Es geht
um Spekulationen, Spekulationen um landwirtschaftliches Nutzland und um Nahrungsmittel, die an den großen Warenterminbösen dieser Welt gehandelt werden.
Gemein ist beiden Themenfeldern, dass die jeweiligen
Spekulationen - sofern sie keinen Regelungen unterlegen sind und unkontrolliertes Ausmaß annehmen - verheerende Folgen für die Menschen in den Entwicklungsländern haben. Hieß es früher noch: „Mit Lebensmitteln
spielt man nicht“, müsste es heute heißen: „Mit Lebensmitteln spekuliert man nicht.“ Denn Hunger und Armut
entstehen, weil an anderer Stelle mit dem Essen spekuliert wird.
Im Februar 2011 erreichten die Lebensmittelpreise
nach Angabe der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, UN Food and Agricultural Organisation, FAO, einen neuen Rekordhöchststand. Innerhalb
eines Jahres schnellten die Preise für Grundlebensmittel
wie Weizen mit 74 Prozent oder Mais mit sogar 87 Prozent unkontrolliert in die Höhe. Welche Auswirkungen
diese Preisexplosionen für die Menschen in den Entwicklungsländern haben, lässt sich schnell beantworten,
wenn man weiß, dass die meisten Menschen in den Entwicklungsländern bis zu 80 Prozent ihres Einkommens
für Nahrungsmittel aufwenden müssen. Solche rasanten
Preisentwicklungen sind dann fast nicht mehr zu stemmen und ziehen gravierende Folgen nach sich. Schon
Zu Protokoll gegebene Reden
nach der enormen Preisexplosion im Frühjahr 2008
stellte die Weltbank fest, dass über 150 Millionen Menschen aufgrund der Preisentwicklungen der Grundnahrungsmittel unter die Armutsgrenze gefallen sind. Aber
auch ein Einbruch wirtschaftlichen Wachstums verbunden mit Unruhen und politischen Turbulenzen resultieren aus dem mangelnden Zugang zu Lebensmitteln. Welche Auswirklungen der diesjährige erneute Preisanstieg
haben wird, lässt sich schnell erahnen.
Die Ursachen dieser Preisentwicklungen sind vielfältig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölkerung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten vorwiegend der steigende Fleischkonsum der Menschen
in asiatischen Schwellenländern - zu einem erhöhten
Lebensmittelbedarf. Zum anderen tragen der vermehrte
Anbau von Bioenergieträgern, die durch Erosion und
Versalzung für die Landwirtschaft unwirtschaftlich gewordenen Flächen und die zunehmenden Ernteausfälle,
bedingt durch vom Klimawandel verursachte Naturkatastrophen, zu einer Verringerung der fruchtbaren Landflächen und Produktionsmengen von Nahrungsmitteln
bei.
Diese vorwiegend strukturellen Faktoren führen erstens zu einem erhöhten Bedarf an begrenzten Ressourcen wie Lebensmittel und pflanzliche Energieträger.
Zweitens wird fruchtbares Land zu einem noch kostbareren Gut. Begehrte Güter rufen Spekulanten auf die Tagesordnung, die versuchen, sich am Bedarf knapper Güter zu bereichern. Leider ist das nicht nur an den
Finanzmärkten der Fall, sondern auch an den zur Ermittlung des Preises für Grundnahrungsmittel zuständigen Warenterminbörsen.
Viel wurde in den letzten Wochen und Monaten über
Warenterminbörsen geredet, geschrieben und diskutiert
und dabei versucht herauszufinden, welchen Anteil die
Spekulationen in Bezug auf die hohe Volatilität der Preisentwicklung haben. Hier teile ich die Meinung der
Nichtregierungsorganisation Oxfam, die exzessiven Spekulationen mit Agrarrohstoffen seien für die extremen
Preissprünge mitverantwortlich. Selbst die Weltbank
geht in einem Papier von 2010 davon aus, dass Indexfonds einen wesentlichen Anteil an den Preisexplosionen
haben. Grundsätzlich geht es nicht darum, den Handel
und die Spekulationen an den Warenterminbörsen zu unterbinden. Das wäre falsch und marktwirtschaftlich
nicht dienlich. Genauso falsch wäre es aber, alles so zu
belassen, wie es ist. Denn aktuell „funktionieren“ die
Warenterminbörsen im Sinne der Steuerung von wareninteressiertem Angebot und Nachfrage nicht. Daher bedarf es klarer Regelungen und einer erhöhten Transparenz in den und abseits der Warenbörsen. Es muss
eindeutig feststellbar sein, welche Akteure am Markt zu
welchen Konditionen aktiv sind. Die Einführung von Positionslimits ist dabei nur eine von vielen notwendigen
Maßnahmen, um der maßlosen Spekulation Einhalt zu
bieten. Daher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion
mit einem Antrag - Drucksache 17/3413 - gegen diese
Spekulationen ein Zeichen gesetzt.
Bei der Spekulation mit agrarischer Landfläche stehen wir vor einem ähnlichen Problem. Staatliche Akteure - vorwiegend aus Schwellenländern und arabischen Ländern -, insbesondere aber private Investoren
aus Industrie- und Schwellenländern versuchen, mit
langfristigen Pacht- oder Kaufverträgen großer Agrarflächen in Entwicklungsländern die Eigenversorgung
mit Nahrungsmitteln und Energiepflanzen zu sichern.
Fast 90 Prozent der Investitionen im Bereich „Land
Grabbing“ werden von privaten Kaufinteressenten - die
Investoren sind zum einen dem Bereich Agrobusiness,
zum anderen der Finanzindustrie zuzuordnen - getätigt,
die dabei auch mit der Erwartung steigender Landpreise
in Agrarflächen als Spekulationsgut investieren, und das
aus gutem Grund: Die Welthungerhilfe stellt in einem
Bericht fest: „Bis 2030 müsste die heute verfügbare
landwirtschaftliche Fläche um 515 Millionen Hektar
wachsen, um eine ausreichende Produktion von AgrarEnergie- und Forsterzeugnissen zu sichern.“ Das entspräche ungefähr der Hälfte der Fläche Europas. Gerade
die in Deutschland aufkeimende Debatte um die Biokraftstoffbeimischung E10 zeigt, dass der Anbau von
Biokraftstoffen in Konkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln steht und damit unbewusst auch vermehrt
zum Kauf von Landflächen beiträgt. Das kann politisch
nicht gewollt sein.
Zwar hat es schon immer ausländische Landpacht
oder Landkäufe gegeben, und neben der zu Recht angebrachten Kritik gibt es bei Direktinvestitionen in Land
auch viele positive Effekte, auf die im Einzelnen einzugehen ich verzichte. Neu sind jedoch das Ausmaß und die
Geschwindigkeit dieses Landerwerbs, und das ist ungesund. Laut einer Studie von FAO/IFAD wurden allein seit
2004 in nur fünf afrikanischen Ländern Vereinbarungen
über mehr als 2,5 Millionen Hektar Land abgeschlossen. Schätzungen des International Food Policy Research Institut, IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalb
der letzten 5 Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15
bis 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer
Fläche in Entwicklungsländern getätigt wurden. Doch
diese Einschätzung erscheint recht konservativ. Die
Weltbank hat in ihrer neuesten Studie ermittelt, dass es
in über 450 Projekten mit insgesamt 46,6 Millionen
Hektar weltweit bereits weit großflächigere Landakquise gibt als angenommen. Mit ein Grund für diese rasante Entwicklung sind die auf den Finanzmärkten als
Investment getätigten Land-Deals. Die Erwartung steigender Renditen bei Investitionen in Land scheint Anleger zu locken, die auf den Kaufpreis spekulieren. Investmenthäuser wie Morgan Stanley oder Goldman Sachs
sind dick im Geschäft, so dick, dass in einem Artikel in
der „Wirtschaftswoche“ unreflektiert den Lesern die Investition in Landfläche schmackhaft gemacht wurde,
ohne auf die möglichen negativen Folgen der Investitionen in Ackerfläche hinzuweisen - und die können verheerend sein.
Oftmals werden beim Erwerb von Landflächen - bewusst oder unbewusst - Landrechte der lokalen Bevölkerung missachtet, die Einbindung oder eine Beteiligung
der ansässigen Dorfgemeinschaften oder Kleinbauern
findet so gut wie nicht statt. Das Recht auf Eigentum ist
in vielen dieser Länder nur selten einklagbar - sodass
Kleinbauern, die jahrzehntelang ihren Acker bewirtZu Protokoll gegebene Reden
schafteten, von ihrem Land vertrieben werden. Mögliche
Ausgleichszahlungen liegen meist ein Vielfaches unter
dem Wert des verkauften oder verpachtenden Landes.
Dabei bildet vor allem in Afrika für viele Haushalte die
Verfügbarkeit über Land die eigentliche Lebensgrundlage. Trotz dieser existenziellen Relevanz fehlen klare
gesetzliche Grundlagen, die die Menschen vor meist illegitimen Landverlusten schützen. In Sambia beispielsweise ist ein Viertel der ländlichen Bevölkerung landlos.
Daher ist es richtig und wichtig, die Verbesserung der
gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentum in den jeweils betroffenen Staaten einzufordern.
Allerdings muss dabei sehr sensibel vorgegangen werden, wenn es gilt, festzustellen, welches Land legal und
welcher Besitztum illegal erworben wurde. Hier müssen
aus dem jeweiligen spezifischen historischen Kontext
die ursprünglich vorhandenen Besitztümer mit den aktuellen Besitzansprüchen in Einklang gebracht werden. So
wie ein nicht vorhandener Landtitel den Anspruch auf
Landbesitz nicht zwangsläufig auszuschließen hat, bedeutet es im Umkehrschluss nicht, dass ein bereits erworbener Landtitel legalen Landbesitz definiert. Denn
in vielen Entwicklungsländern existiert seit Jahrzehnten
eine himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der Landverteilung. Viele Großgrundbesitzer haben zwar Landtitel, diese sind aber nicht gerecht erworben worden. Deswegen müssen Landreformen teils gegen den Willen der
Großgrundbesitzer auch künftig möglich sein. Deshalb
ist an dieser Stelle die zweite Forderung des Koalitionsantrages zumindest sehr missverständlich.
Bei einer neuen Vergabe von Landtiteln ist somit sehr
sensibel abzuwägen, wem das Recht auf Eigentum zugesprochen werden kann und wem nicht. Genauso wichtig
wäre es aber auch, auf mehr Transparenz beim Vertragsabschluss von Landkäufen oder Pachtverträgen zu pochen - so wie es im Bereich der extraktiven Rohstoffe
durch Extractive Industries Transparency Initiative,
EITI, bereits eingefordert wird. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist daher in seinen Forderungen nicht
falsch, jedoch einseitig und unzureichend, unzureichend
deshalb, weil die Forderungen nur auf die Stärkung lokaler Regelungen abzielen. Die Umsetzung solcher Gesetzesvorhaben ist jedoch meist langwierig und selten
erfolgreich. Wichtig wäre, an die Verantwortung unternehmerischen Handelns - insbesondere der westlichen
und arabischen Investoren - zu appellieren. Die Selbstverpflichtung von Investoren ist ein zusätzliches geeignetes Instrument, bei dem die Einbindung der lokalen
Bevölkerung in für sie relevante Entscheidungsprozesse
möglich ist. Die FAO arbeitet aktuell an einer neuen
Version der Voluntary Guidelines, die in den kommenden
Tagen veröffentlicht werden soll.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden diesen Prozess begleiten und uns dafür einsetzen, dass durch die
Anerkennung solcher freiwilligen Leitlinien der öffentliche Druck dazu führt, beispielsweise das Menschenrecht
auf Nahrung durchzusetzen. Neben diesen flankierenden
freiwilligen Maßnahmen wäre es jedoch noch wichtiger,
die lokale Bevölkerung durch verbindliches internationales Recht vor den negativen Auswirkungen von Agarinvestitionen zu schützen. Diese Perspektive findet sich
in den Forderungen des Koalitionsantrages nicht. Im
Rahmen der G-20-Verhandlungen bestünde die Möglichkeit, gegen sittenwidrigen und menschenverachtenden Landraub vorzugehen. Die Verankerung internationaler Regelungen gilt es auch deshalb zu forcieren,
damit die durchaus vorhandenen positiven Effekte von
Investitionen in Land in die richtigen Bahnen gelenkt
werden und dort ankommen, wo sie benötigt werden: bei
den Menschen vor Ort.
Die Preisexplosion bei Grundnahrungsmitteln ist
dramatisch: Allein der Preis für Weizen lag im März
2011 um mehr als die Hälfte über dem Niveau von 2010.
Russland hat sein im August 2010 eingeführtes Exportverbot von Weizen bis heute noch nicht zurückgezogen.
Die Nahrungsmittelpreise liegen seit langem auf
schwindelerregenden Höhen: Der VN-Index für die
weltweiten Nahrungsmittelpreise stand im ersten Halbjahr 2010 nur rund 14 Prozent unter seinem Rekordwert
des Krisenjahres 2008 und war damit fast doppelt so
hoch wie noch im Jahr 2000.
Eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Hunger.
Jedoch ist im letzten Jahr diese Zahl um 98 Millionen
gesunken. Das entspricht der Bevölkerung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammen.
Das energische und fordernde Handeln von einzelnen
Staaten wie Deutschland und der Weltgemeinschaft haben erfolgreich dazu beigetragen, den drastischen Anstieg der Zahl der hungernden Menschen zu stoppen.
Aber dies bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Immerhin leiden immer noch knapp eine Milliarde
Menschen an Hunger. Wir müssen den Hunger weiter
bekämpfen, um Stabilität und den Weltfrieden zu sichern
und um das Leben und die Würde der Menschen zu
schützen. Die Tatsache, dass alle sechs Sekunden ein
Kind an Unterernährung oder den damit verbundenen
Problemen stirbt, bleibt die größte Tragödie in der Welt.
Die Ursachen des Hungers sind vielseitig: Anhaltendes Bevölkerungswachstum, Klimawandel und die ohnehin steigende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln sowie nach Agrarrohstoffen zur Energiegewinnung
haben eine völlig neue Epoche eingeleitet. Land ist eine
immer knapper werdende Ressource, die in Konkurrenz
mit den verschiedensten Nutzungsinteressen steht: Die
wachsende Weltbevölkerung, steigende Nachfrage nach
Nahrungs- und Futtermitteln, ökologische Belastungen,
die Energiepolitik verschiedener Staaten und der Klimawandel sorgen für eine starke Rivalität der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Seit dem Jahr 2010 übersteigt die weltweite Nachfrage nach Getreide fast jedes
Jahr das Angebot. Das Zeitalter der weltweiten Nahrungsmittelüberschüsse ist vorbei.
Insgesamt hat dies zu einer Entwicklung geführt, die
je nach Bewertung entweder als „Land Grabbing“ oder
als „Direct Investment in Land“ bezeichnet wird. Staatliche Akteure, private Investoren aus Industrie- und
Schwellenländern sowie inländische private Investoren
sichern sich mittels langfristiger Pacht- oder KaufverZu Protokoll gegebene Reden
träge große Agrarflächen in Entwicklungsländern, um
dort Nahrungsmittel oder Energiepflanzen für den
Export anzubauen. Landwirtschaft wird zunehmend
nicht mehr nur zur Nahrungsmittelgewinnung betrieben.
Vor allem finanzschwache Länder in Afrika und
Asien, vereinzelt auch osteuropäische Staaten haben die
verstärkte Nachfrage nach Ackerflächen erfahren müssen. Zu beobachten ist dieser Prozess insbesondere in
Staaten mit schwachen demokratischen Strukturen und
intransparenter Verwaltung.
Dringend benötigte Investitionen haben in der Landwirtschaft der Entwicklungsländer jahrzehntelang
gefehlt. Daher kann der derzeitige Trend zu mehr ausländischem Engagement im Agrarsektor der Entwicklungsländer grundsätzlich auch als große Chance begriffen werden. Kapital- und Technologietransfer unterstützen landwirtschaftliche Produktionssteigerung und
sorgen für eine Verbesserung beim Marktzugang und der
Infrastruktur.
Werden Direktinvestitionen in Land und Landwirtschaft in Strategien der Armutsreduzierung eingebunden, können zusätzliche Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaffen
werden. Es gibt viele positive Beispiele nachhaltiger Investitionen in den Agrarsektor in Entwicklungsländern.
So profitieren beispielsweise bei der „Cotton made in
Africa“-Initiative, die von dem Hamburger Unternehmer Michael Otto gegründet wurde, Farmer in Afrika
genauso wie europäische Firmen - die einen, da hohe
Umwelt- und Sozialstandards wie die Förderung von
Schulbesuchen der Kinder eingehalten werden, und die
anderen, da sie zuverlässig hochwertige Ware erhalten.
Doch es gibt auch zahlreiche negative Fälle: Bauern
werden von ihrem Land vertrieben, ohne sich dagegen
wehren zu können. Sie haben entweder keine formalen
Besitztitel, oder korrupte Behörden verwehren ihnen die
Durchsetzung ihrer Rechte. Entschädigungs- oder Ausgleichszahlungen bleiben den enteigneten Bauern verwehrt. Damit verlieren ganze Dörfer ihre Lebensgrundlage. Verschärfend kommt hinzu, dass auf diesen
Flächen häufig Monokulturen angebaut werden, sodass
Konflikte um die Nutzungsrechte für das oftmals knappe
Wasser oder Umweltbelastungen vorprogrammiert sind.
Was müssen wir nun verändern, damit wir die positiven Seiten der Investitionen nutzen und die negativen
Auswirkungen verringern können?
Als Erstes müssen wir uns alle des Problems bewusst
werden. Daher gilt es, sich kohärent in der Außen- und
Entwicklungspolitik für den Schutz von Besitz und Eigentum einzusetzen.
Ich denke, damit sind wir mit unseren beiden Bundesministern Herrn Dr. Westerwelle und Herrn Niebel
schon ein sehr gutes Stück vorangekommen. Auf das
Menschenrecht auf Nahrung und das Menschenrecht auf
Eigentumsfreiheit haben beide im Rahmen ihrer Politik,
ob im Inland, im Ausland oder bei internationalen Organisationen, erfolgreich einen Fokus gesetzt.
Zum Zweiten müssen wir sowohl bei Staaten als auch
bei Unternehmen, die an offizieller Landnahme beteiligt
sind, offiziell protestieren. Gerade deutsche Unternehmen müssen hier sensibilisiert und in die Verantwortung
genommen werden!
Und zum Dritten müssen wir Staaten und Unternehmen bei der Umsetzung einer nachhaltigen Investitionspolitik aktiv unterstützen. Wir müssen beraten, begleiten
und beim Aufbau der Verwaltung, des Justiz- und Polizeiwesens und eines funktionierenden Vergabesystems
mit unserem Wissen assistieren.
Partnerländern müssen wir bei einer zukunftsorientierten Landnutzungsplanung behilflich sein und ihnen
beim Abbau von Defiziten bei der tatsächlichen Durchsetzung von Recht und Eigentum helfen. Damit wird die
Ernährung der Bevölkerung erheblich verbessert sowie
das Klima und die Ressourcen für nachkommende Generationen geschont. Good Governance ist der Schlüssel
zu einem fairen Wirtschaftssystem, das alle Menschen
partizipieren lässt und Wohlstand für die gesamte Bevölkerung schafft.
Als Berichterstatterin der FDP-Bundestagsfraktion
für Frauen in Entwicklungsländern möchte ich hierauf
noch einmal besonders eingehen: Frauen besitzen in
Entwicklungsländern trotz ihrer bedeutenden Rolle in
der Landwirtschaft und bei der Versorgung ihrer Familien nur 10 Prozent der Anbauflächen und nur 1 Prozent
aller Landtitel. Jedoch produzieren sie 80 Prozent der
Grundnahrungsmittel. Oftmals haben sie keine oder nur
mangelhafte Besitzrechte. Sicherer Zugang zu Land verbessert nicht nur ihre ökonomische Situation, sondern
stärkt auch ihre soziale und politische Stellung in der
Gesellschaft. Daher müssen wir Staaten dabei unterstützen, gerade Frauen einen gerechten Zugang zu Eigentum zu verschaffen.
Auch müssen wir weiter im Rahmen der Welternährungsorganisation FAO und anderen internationalen Initiativen konstruktiv mitarbeiten und die Ausgestaltung
freiwilliger Leitlinien zum Eigentumsrecht vorantreiben.
Und wir müssen uns mit noch mehr internationalen
Partnern für die Eigentumsfreiheit verbünden und verbindliche Verträge mit anderen Staaten abschließen.
Was wir aber nicht dürfen, ist, bevormunden und
übergehen. Wir müssen die Menschen, die Unternehmen
und die Staaten bei dem Kampf gegen den Hunger mitnehmen. Wir müssen sie mit unseren Argumenten überzeugen und einen gemeinsamen Pakt für die Eigentumsfreiheit schließen!
Daher bitte ich Sie ganz herzlich um Unterstützung
für unseren Antrag.
Niemals waren Nahrungsmittel so teuer wie derzeit.
Der Preisindex der Welternährungsorganisation FAO
liegt aktuell bei mehr als 230 Punkten, dem höchsten
Wert seit der Einführung im Jahr 1990. Dies ist kein
Wunder, schließlich sind die Preise für Grundnahrungsmittel in den letzten zwölf Monaten explosionsartig gestiegen: für Weizen zum Beispiel, welches zusammen mit
Zu Protokoll gegebene Reden
Mais und Reis das meistangebaute Getreide der Welt ist,
um 45 Prozent, für Mais um 42 Prozent und für Öl und
Fette sogar um 56 Prozent. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Millionen Menschen in den Hunger getrieben werden.
Proteste gegen diese Entwicklung gibt es weltweit. In
der indischen Hauptstadt Delhi gingen Ende Februar
bis zu 200 000 Menschen auf die Straße, um gegen die
explodierenden Nahrungsmittelpreise und ungenügende
Gegenmaßnahmen zu protestieren. Im Norden Afrikas
begehren die Menschen nicht nur gegen autoritäre
Regime auf. Sie demonstrieren auch gegen Hunger und
Armut. Die Bilder gleichen denen der mexikanischen
Tortilla-Revolte von 2007.
Ein neuer preistreibender Faktor sind die Spekulationen mit Nahrungsmitteln. Diese treiben die Preise für
Lebensmittel immer höher. Dies trifft die Menschen natürlich auch hierzulande, insbesondere die ärmeren
Teile der Bevölkerung. Wesentlich stärker betroffen aber
sind die Menschen in den Entwicklungsländern, die bis
zu 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Steigen die Preise für Nahrungsmittel dort an, bedeutet das Hunger und Tod für die Bevölkerung.
Laut UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck bewegen sich die Preise von Nahrungsmitteln, die an den
Börsen gehandelt werden, im Gleichschritt mit Aktien,
Währungen oder Öl. Da aber nur Finanzmarkttitel untereinander so stark korrelieren können, sind die hohen
Soja- oder Weizenpreise eine Folge spekulativer Investitionen. Mit ihren Erwartungen, mit ihren Wetten auf die
Zukunft, treiben die Spekulanten die Preise hoch und
machen Profite auf Kosten der Ärmsten. Die Beispiele
dafür sind zahlreich. Im Jahr 2008, dem Jahr der letzten
großen Nahrungsmittelkrise, kauften Finanzinvestoren
die komplette Weizenproduktion der kommenden zwei
Jahre auf. Damit heizten sie die Preisspirale massiv an.
2010 wurde der Kakao zum Spielball der Spekulanten.
Ein Londoner Handelshaus und Hedge-Fonds-Betreiber
kaufte binnen kürzester Zeit nahezu alle Warenbestände
an Kakao auf und trieb den Preis pro Tonne schlagartig
um mehr als 300 Dollar in die Höhe. Allein Goldman
Sachs machte 2009 mit Rohstoffderivaten 5 Milliarden
Dollar Gewinn, darunter in steigendem Maße durch
Agrarrohstoffderivate. Ähnlich war es bei Merrill Lynch
und der Deutschen Bank.
Diese Preissteigerungen lohnen sich auch für die großen Lebensmittelkonzerne. So konnte Nestlé seinen
Reingewinn 2010 auf 26 Milliarden Euro mehr als verdreifachen, auch Danone und Unilever machten glänzende Geschäfte. Börsenblätter und Banken wie die
Deutsche Bank rieten postwendend explizit zum Investment in Nahrungsmittelfirmen. Dabei mutet es schon
fast zynisch an, dass gerade die Unternehmen, die sich
der Nahrungsmittelproduktion verschrieben haben,
durch ihr Profitstreben direkt an der Bedrohung der Ernährungssicherheit eines Großteils der Menschheit mitwirken. Nicht zuletzt deswegen fordern wir in unserem
Antrag zum Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln, die Erzeugung und den Handel von Agrarrohstoffen mittelfristig vollständig von den Finanzmärkten zu
entkoppeln und stattdessen politisch auf der Grundlage
internationaler Abkommen und im Interesse von Ernährungssicherheit und -souveränität zu regulieren.
Verlierer in puncto hohe Nahrungsmittelpreise waren
und sind gerade diejenigen, die von Experten als der
Schlüssel zur globalen Ernährungssicherung gesehen
werden: die Kleinbauern. Sie besitzen zu kleine Anbauflächen, um ausreichend Nahrung zu produzieren, und
sie sind zu schlecht an lokale Märkte angebunden, um
Gewinne zu erwirtschaften. Ihre Erträge reichen oftmals
noch nicht einmal für die Selbstversorgung aus. Sobald
die eigenen Ernteerträge aufgebraucht sind, müssen
Kleinbauern wie auch Landlose Nahrungsmittel auf dem
Markt kaufen. Wer jedoch mit weniger als einem Dollar
pro Tag seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, kann
sich bei hohen Nahrungsmittelpreisen selbst die Grundnahrungsmittel kaum noch leisten.
Eines wird bei alledem klar: Mit einem „Weiter so!“
und mit nur marginalen Änderungen an den herrschenden Strukturen lässt sich die Ernährung in den Entwicklungsländern nicht sichern. Um die Grundnahrungsmittelpreise stabil zu halten und den Hunger in der Welt
wirksam zu bekämpfen, müssen sich die Regierungen
endlich durchringen, die Gier an den Märkten nachhaltig einzudämmen. Dafür müssen die Agrarbörsen umgehend streng reguliert und transparent gemacht werden.
Da auch die aktuellen Zahlen für europäische
Fleischexporte, für illegale Landnahme und den Anbau
von Agrotreibstoffen alle Rekorde brechen, muss sich die
Bundesregierung endlich gegen die aggressive Freihandelspolitik der EU gegenüber den Ländern des Südens
stellen, gegen Agrarexportsubventionen, gegen Landraub und gegen die Produktion von Agrotreibstoffen. Sie
muss aktiv eintreten für die Stärkung regionaler Märkte,
für die Entwicklung ländlicher Regionen und für umfassende Landreformen - wie die Fraktion Die Linke es seit
langem fordert. Die Durchsetzung des Menschenrechts
auf Nahrung und damit die ernsthafte Bekämpfung von
Armut und Hunger kann nur gelingen, wenn die Geschäfte mit dem Hunger beendet werden.
Es ist erfreulich, dass sich die Fraktionen der Union
und FDP nun auch dem überaus wichtigen Thema der
großflächigen Landnahme in Entwicklungsländern annehmen. Bereits vor zwei Jahren hatten wir Grünen
hierzu einen Antrag eingereicht und durch diverse Fachveranstaltungen, Pressemitteilungen und Anhörungen
auf die Dringlichkeit der Problematik hingewiesen. Endlich scheinen wir die Regierungskoalition überzeugt zu
haben.
Dennoch greift der Antrag in vielen Punkten zu kurz.
Die menschenrechtliche Frage wird sehr einseitig beleuchtet. So wird das Recht auf Nahrung nur ein einziges
Mal erwähnt, während das Recht auf Eigentum den ganzen Text wie einen ultimativen Imperativ durchzieht. Dabei geht es bei dem Phänomen - neben zahlreichen anderen ökonomischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen - im Besonderen um die Frage der Ernährungssicherheit der lokalen Bevölkerung. Werden rieZu Protokoll gegebene Reden
sige Landstriche von ausländischen oder nationalen Investoren aufgekauft oder gepachtet und stehen somit
nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zur
Selbstversorgung der dort wohnenden Menschen zur
Verfügung, dann ist das eine eklatante Beschneidung des
Rechts auf Nahrung. Auch die „Grundprinzipien und
Leitlinien zu Zwangsräumungen und Zwangsvertreibungen“ des UN-Menschenrechtsrats werden nicht erwähnt, obwohl groß angelegte Landinvestitionen häufig
die zwangsweise Vertreibung von Kleinbäuerinnen und
-bauern nach sich ziehen.
Wie bereits erwähnt, preist der Antrag stattdessen das
Recht auf Besitz und Eigentum als Allheilmittel im
Kampf gegen „Land Grabbing“ an. Gewiss kann die
Verbriefung von Landnutzungsrechten in einigen Fällen
Kleinbäuerinnen und -bauern mehr Planungssicherheit
geben, zumal sich heute viele der von Landnahme Betroffenen nicht wehren können, da sie über keine offiziellen Titel verfügen, obwohl ihre Familien das Land über
Generationen hinweg bewirtschafteten. Allerdings ist
hier große Vorsicht geboten. Denn allein die juristische
Absicherung von Landbesitz bedeutet noch keine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und Ernährungssituation der neuen Titelhalterinnen und -halter. Werden nicht gleichzeitig andere ungerechte lokale
und globale Wirtschaftsstrukturen angegangen, ist es
wahrscheinlich, dass die Betroffenen schnell wieder in
die Schuldenfalle geraten und aus der Not heraus ihr
Land an Investoren verkaufen oder verpachten. Durch
die Formalisierung des Landbesitzes wird der Ausverkauf von Land in solchen Fällen sogar erleichtert. Ein
Ausbrechen aus dem Teufelskreis aus Land- und Arbeitslosigkeit, Verstädterung, Verelendung und politischer
Ohnmacht ist damit jedenfalls nicht in Sicht.
Ein besonderes Augenmerk ist auch auf nomadisch
lebende Viehhirten zu legen. Bei der Ausstellung formeller Landtitel kann es hier leicht zur Benachteiligung dieser Gruppen kommen, da die exakten Ausmaße der
Landflächen, die sie für ihre Herden benötigen, schwer
abzustecken sind. Des Weiteren gehen die Antragstellerinnen und -steller nicht darauf ein, wie mit kollektiv genutztem Land, das auf Gewohnheitsrecht basiert, umgegangen werden soll. Dass hier zwei grundsätzlich
verschiedene Verständnisse von Land - einerseits die
Idee von Land als Allgemeingut, das auch kulturelle und
soziale Dienste erfüllt, und andererseits von Land als
reine Ware - aufeinanderprallen, wird schlichtweg unter
den Teppich gekehrt. Das ist ein nicht unerhebliches
Versäumnis, da diese Formen von Landnutzung in großen Teilen des globalen Südens eine bedeutende Stellung
einnehmen. Umso wichtiger ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der betroffenen Landbevölkerung bei
jedem Land-Deal. Der vorliegende Antrag hält dies
wohl nicht für nötig; Regierungen sollen nur dahin
gehend beraten werden, dass „die Belange der betroffenen ortsansässigen Bevölkerung und die Risiken für die
Umwelt berücksichtigt werden“. Das ist eindeutig unzureichend.
Erfahrungen aus Landtitelprogrammen in Südostasien zeigen, dass in jenen Regionen, die nicht unter die
Programme fielen, die Lebensgrundlage von Kleinbäuerinnen und -bauern ohne solche verbrieften Rechte sogar eher gefährdet als geschützt wurde. Denn nun war es
für Großplantagenbetreiber leichter, das Land an sich zu
reißen - schließlich gehöre es offiziell niemandem.
Die rechtliche Eintragung von Besitz und Eigentum
kann ohne vorherige Umverteilung sogar zu einer Zementierung extremer Verteilungsungleichheiten führen.
In unserem Antrag fordern wir Agrarreformen, die auch
Umverteilung einschließen, da diese einen essenziellen
Bestandteil für eine gerechtere Landpolitik vor allem in
ländlichen Regionen darstellen. In dem Antrag der Regierungskoalition geht eine Umverteilung völlig unter außer mit dem Vermerk, dass „ein transparentes und
rechtsstaatliches Vergabesystem zu errichten sei, das es
ermöglicht, Eigentum und langfristige Bewirtschaftungsrechte zu erwerben“. Dabei bleibt unklar, ob hiermit ein rein marktwirtschaftliches System angestrebt
wird, was wiederum ein Schlag ins Gesicht der Ärmsten
der Armen ist, die sich auf diesem Weg niemals eigenes
Land leisten können.
Was die Forderung zum Engagement auf internationaler Ebene angeht, bleibt die Formulierung schwammig. Es wäre gut zu wissen, zu welchen „anderen internationalen Initiativen“ neben den freiwilligen Leitlinien
der FAO genau beigetragen werden soll. Vermutlich
wird hier auf die Weltbank-Prinzipien zu verantwortlichem Investment angespielt, also auf die RAI-Prinzipien. Beide Prozesse in gleichem Maße zu unterstützen,
halten wir für wenig sinnvoll, da so Parallelstrukturen
geschaffen werden und die Autorität der freiwilligen
Leitlinien aufgeweicht wird. Wir sprechen uns klar für
die FAO-Richtlinien aus, für deren weitere Ausgestaltung die Bundesregierung dringend mehr finanzielle und
organisatorische Kapazitäten zur Verfügung stellen
sollte.
Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz des Hinweises
auf die Gefahren von ausländischen Direktinvestitionen
- dieser Begriff wird trotz des Antragstitels bevorzugt die Landnahmen in ein unangemessen mildes Licht gestellt werden. Die bisher größte Konferenz zu dem
Thema, zu der sich 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor wenigen Tagen in Sussex versammelten,
kam zu dem Schluss, dass der Hunger nach Land gewaltige und unumkehrbare negative Auswirkungen auf Umwelt und Menschen der betroffenen Länder hat.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5488 und 17/4533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie
sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich
nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers,
Vizepräsident Eduard Oswald
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit
schaffen, bessere Bildung ermöglichen,
vorhandene Qualifikationen anerkennen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz ({1}), Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie statt Streit - Fachkräftemangel
beseitigen
- Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Vogel ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
auf Drucksache 17/5100. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4615. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen worden.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3198. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Das ist die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das
sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist
somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 17/4978 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 17/5509 Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5513 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
1) Anlage 7
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({5})
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden
die Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.
Seit vielen Jahrzehnten ist die Europäische Union ein
Garant für Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg in ganz Europa. Als exportorientierte und größte
Volkswirtschaft in Europa profitiert Deutschland in besonderem Maße vom freien Welthandel, vom europäischen Binnenmarkt und der EU-Erweiterung. Eine
starke Europäische Union ist die beste Voraussetzung
für Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land. Daher brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen für unternehmerische Initiativen, für Innovationen in Wissenschaft und Technik und ein
leistungsfähiges Bildungssystem. Nur so können wir auf
Dauer neue Arbeitsplätze auch in Deutschland schaffen
und den Erhalt unserer sozialen Sicherheit gewährleisten.
Wohlstand und Stabilität sind aber keine Selbstverständlichkeit. Das haben die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Schuldenkrise der Mitgliedstaaten gezeigt. Europas Rahmenbedingungen im wirtschaftlichen
und sozialen Bereich sind einem ständigen Prozess von
Veränderung, Verwerfung und Neuorientierung unterworfen. In weniger als drei Wochen fallen auch in
Deutschland die letzten Zugangsbarrieren zu Europas
Arbeitsmärkten, und die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit
gilt auch für uns uneingeschränkt. Viele Stimmen in
Deutschland warnen schon seit langem vor einer „Billigkonkurrenz“ aus den Nachbarländern und vor „Sozialdumping“. Diese Panikmache halte ich für nicht berechtigt. Denn alle Experten sagen uns, dass mit einem
„Massenansturm“ und gravierenden Verwerfungen für
unseren Arbeitsmarkt nicht zu rechnen ist. Sorgen und
Ängste in Deutschland, aber auch in unserem Nachbarland Polen, in Bezug auf die bevorstehende Öffnung des
Arbeitsmarktes nehmen wir ernst. Ich plädiere jedoch
für mehr Gelassenheit und für eine offene Willkommenskultur.
Gäbe es keine Gemeinschaftsvorschriften über die
soziale Sicherheit, so wäre die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht. Denn es bestünde die Gefahr, dass Wanderarbeitnehmer und ihre
Familienangehörigen im Hinblick auf die soziale Sicherheit unzureichend geschützt wären. Personen, die
von ihrem Recht Gebrauch machen, sich frei innerhalb
der Europäischen Union zu bewegen, werden mit vielfältigen Fragen und Problemen im Hinblick auf ihre soziale Sicherheit konfrontiert: Wie ist es um die Rentenansprüche eines Arbeitnehmers bestellt, der mehrere Jahre
lang in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet hat?
Welcher Mitgliedstaat ist zur Zahlung von Familienleistungen für Kinder verpflichtet, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen? Welcher Mitgliedstaat ist
zur Zahlung von Arbeitslosenleistungen für Grenzgänger verpflichtet? Die nationalen Sozialgesetze geben auf
diese Fragen oft nur unzureichende oder überhaupt
keine Antworten: Viele Arbeitnehmer liefen Gefahr, dass
sie in zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig oder gar nicht
versichert wären oder erworbene Ansprüche auf Sozialleistungen verlören, ohne neue Ansprüche aufbauen zu
können.
Aus diesem Grund sind gemeinsame Regelungen innerhalb der Europäischen Union notwendig, die einen
wirksamen und umfassenden Schutz gewährleisten. Die
Gemeinschaftsvorschriften für den Bereich der sozialen
Sicherheit ersetzen die bestehenden nationalen Sozialversicherungssysteme nicht durch ein einheitliches europäisches System. Eine derartige Harmonisierung
wäre unmöglich, da die Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Staaten der Europäischen Union und
des Europäischen Wirtschaftsraums zu groß sind. Aber
auch Staaten mit vergleichbarem Lebensstandard weisen unterschiedliche Sozialversicherungssysteme auf,
die auf etablierte Traditionen zurückgehen, die fest in
der nationalen Kultur und den nationalen Gepflogenheiten verwurzelt sind. Daher kann jeder Mitgliedstaat
selbst darüber entscheiden, wer nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu versichern ist, welche Leistungen zu welchen Bedingungen gezahlt werden, wie
diese Leistungen berechnet werden und welche Beiträge
zu zahlen sind.
Anstelle einer Harmonisierung der einzelstaatlichen
Sozialversicherungssysteme sehen die Gemeinschaftsvorschriften über die soziale Sicherheit lediglich eine
Koordinierung der Systeme vor. In den Gemeinschaftsvorschriften über die Koordinierung der sozialen
Sicherheit sind gemeinsame Regeln und Grundsätze
festgelegt, die von allen nationalen Behörden, Sozialversicherungsträgern und Gerichten beachtet werden
müssen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Anwendung der unterschiedlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat,
die von ihrem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht innerhalb der Europäischen Union und des Europäischen
Wirtschaftsraums Gebrauch machen. Es geht also nicht
darum, die besonderen Merkmale der Systeme der einzelnen Mitgliedstaaten zu beseitigen, sondern darum,
einzelne Aspekte der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu korrigieren, die sich für Wanderarbeitnehmer und
ihre Familienangehörigen ungünstig auswirken können.
Die einschlägigen Regelungen, die es seit mehr als
30 Jahren gibt, sind in der Verordnung ({0}) Nr. 1408/71
und der zugehörigen Durchführungsverordnung
Nr. 574/72 enthalten. Diese Verordnungen wurden seit
ihrer Verabschiedung im Jahre 1971 mehrfach angepasst, um den Änderungen in den nationalen Rechtsvorschriften Rechnung zu tragen, eine Reihe von Bestimmungen zu verbessern, Unzulänglichkeiten zu beheben
oder die besondere Situation bestimmter Personengruppen zu berücksichtigen. Im Jahr 1998 legte die Kommission einen Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfachung der Verordnung ({1}) Nr. 1408/71 vor, um sie
„effizienter und nutzerfreundlicher“ zu machen. Der Rat
und das Europäische Parlament haben die Beratungen
über diesen Vorschlag bis jetzt noch nicht abgeschlossen.
Die Bestimmungen der Verordnung ({2}) Nr. 1408/71
stellen in dreifacher Hinsicht sicher, dass die Anwendung der verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat,
die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der
Europäischen Union Gebrauch machen. Dies geschieht
in folgender Weise: Die Gleichbehandlung aller
Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gewährleistet. Alle erforderlichen Versicherungs-, Aufenthalts- und Beschäftigungszeiten werden berücksichtigt, nämlich durch die
Zusammenrechnung der Versicherungszeiten. Wenn ein
Wanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufnimmt, werden die Zeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit in anderen Mitgliedstaaten erworben
wurden. Auf diese Weise gehen erworbene Leistungsansprüche nicht verloren. Schließlich werden Sozialleistungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen
ungeachtet des Beschäftigungs- oder Wohnorts garantiert.
Der durch die Gemeinschaftsbestimmungen vorgesehene Personenkreis ist umfassend geschützt. Die Gemeinschaftsbestimmungen gelten für alle europäischen
Bürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat bewegen, und zwar unabhängig vom Grund und der Dauer
ihres Aufenthalts. Diese gemeinschaftlichen Regeln gelten für alle gesetzlichen Leistungen bei Krankheit und
Mutterschaft - für Geld- und für Sachleistungen -, bei
Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Invalidität,
bei Alter und im Todesfall, bei Arbeitslosigkeit sowie für
Familienleistungen. Dagegen werden Sozialhilfe, Krankengeld, Leistungen an Kriegsversehrte und deren Hinterbliebene, Betriebsrenten und Vorruhestandsregelungen nicht durch Gemeinschaftsvorschriften abgedeckt.
Wie ich schon in der Debatte zur ersten Lesung dieses
Gesetzentwurfes ausgeführt habe, hat die Europäische
Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bereits einen
ganzen Sockel verbindlicher Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie im Arbeitsrecht verabschiedet. Die Europäische Union hat auch Regeln für
die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung
der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Betriebsrat gehört ebenso dazu wie der „soziale Dialog“.
Bereits mit der Lissabon-Strategie haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und Sozialpolitiken besser zu koordinieren.
Um mehr und bessere Arbeitsplätze in Europa zu
schaffen, arbeiten die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft seit langem an einer koordinierten Beschäftigungsstrategie und stimmen ihre Beschäftigungspolitik
aufeinander ab. Diese Koordinierung hat über die Lissabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen.
Kernstück dieses Prozesses sind die beschäftigungspolitischen Leitlinien als wesentlicher Bestandteil der EU2020-Strategie, die die Lissabon-Strategie abgelöst hat.
Wir können also festhalten: Es gibt durchaus einen
Sockel von sozialen Standards, Regeln für die BeteiliZu Protokoll gegebene Reden
gung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Regeln für die Koordinierung der sozialen Sicherheit,
finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohäsion und europäische Ziele im Bereich der Koordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken.
Der Koordinierung der sozialen Sicherung in den
Mitgliedstaaten kommt daher eine erhebliche Bedeutung
zu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union ist
in den neuen Verordnungen ({3}) Nr. 883/2004 und
Nr. 987/2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit
geregelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren,
damit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeit
in der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurch
unangemessene sozialrechtliche Nachteile hat.
Diese Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel für
ein Handlungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Denn
nur durch verbindliche Regelungen auf europäischer
Ebene kann sichergestellt werden, dass das Recht auf
Freizügigkeit - eine der großen europäischen Grundfreiheiten - im Hinblick auf die soziale Absicherung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Selbstständigen bei ihren erworbenen Anwartschaften angemessen flankiert wird. Zahlreiche Zuständigkeitsfragen
wurden nicht mehr in den Anhängen der Durchführungsverordnung geregelt, sondern sollen in eine öffentlich
zugängliche Datenbank eingetragen werden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollen
entsprechende Aufgabenzuweisungen durch innerstaatliche Regelungen vorgenommen werden. Auch bedingt
die Ablösung der bisherigen Verordnungen entsprechende Änderungen im Sozialgesetzbuch und anderen
Gesetzen sowie der darin enthaltenen Verweisungen.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßige
Durchführung der neuen Verordnungen ({4}) Nr. 883/
2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werden
damit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrer
ausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezogen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Beschäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund und
Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle
Krankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maßnahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung von
Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen
im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern entsprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes ist
die Feststellung der zuständigen Behörden, Träger sowie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwendung und Durchführung der EU-Verordnungen.
Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaustausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll
die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungshilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eine
Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine
Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenversorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstellen als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Datenaustausch geschaffen werden, die alle in der EUVerordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.
Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten,
Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie des
Gesetzes über die Altersversicherung der Landwirte vermerkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnungen ergeben.
So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet,
so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Sicherung von Wohlstand, Wachstum, Beschäftigung und
sozialer Sicherheit - kurz: die Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, und
zwar unter den Bedingungen der Globalisierung - ist
das, was die Bürger von Europa und von ihren Regierungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wir
die Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.
Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der
sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbundenen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatliche
gesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die den
zuständigen Behörden, Trägern und Verbindungsstellen
zu mehr sozialer Sicherheit verhelfen soll. Mit dem Gesetz werden die zuständige Behörde, die Verbindungsstellen für berufsständische Versorgungseinrichtungen
und für Familienleistungen sowie die Zugangsstellen für
den grenzüberschreitenden elektronischen Datenausgleich festgelegt. Außerdem wird die Benachrichtigung
der Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Entsendungen geregelt.
Bei den Änderungsanträgen geht es um ein Rückkehrrecht in die gesetzliche Krankenversicherung der bei einer internationalen Organisation Beschäftigten, die verwaltungsinterne Beteiligung von Verbindungstellen bei
der Festlegung des anwendbaren Rechts, die Datenübermittlung und die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft sowie um Folgeänderungen
aufgrund des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch.
Durch die Herausnahme der vom Gesundheitsausschuss beantragten Änderungen bei Übernahme in das
Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und
weiterer Gesetze können wir dem vorliegenden Gesetz
zustimmen. Das Gesetz dient dem bereits verankerten
Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, in diesem
Fall den Beziehern einer ausländischen Rente. Diese
soll künftig zur Beitragsfinanzierung der Kranken- und
Pflegeversicherung herangezogen werden. Ab dem
1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch für Renten
aus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt werden.
Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein
Zu Protokoll gegebene Reden
mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne
von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversicherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischen
Renten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicherten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als auch
eine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bislang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung der
Beiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen. Dieses eher technische Gesetz soll es erleichtern, die Verfahren der Leistungen in grenzübergreifenden Sachverhalten besser zu koordinieren.
Die Einbeziehung ausländischer Renten in die Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung der
Rentner führt zu geringfügigen Mehreinnahmen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Insbesondere durch die Einführung des elektronischen Datenaustauschs wird mit Mehrausgaben bei den zuständigen
Leistungsträgern - das sind die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, die Bundesagentur für
Arbeit, örtliche Familienkassen und örtliche Elterngeldstellen - sowie bei den Verbindungsstellen gerechnet,
die sich in den Jahren 2011 und 2012, in denen die benötigte Software entwickelt wird, schätzungsweise auf rund
2 bis 3 Millionen Euro und in den Folgejahren auf circa
1 Million Euro belaufen werden. Sich hieraus ergebende
Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt werden in den
jeweiligen Einzelplänen im Rahmen der bestehenden
Ansätze aufgefangen. Den Mehraufwendungen stehen
Effizienzzuwächse in der Zusammenarbeit zwischen den
inländischen und den ausländischen Stellen gegenüber.
Für Bürgerinnen und Bürger werden durch das Gesetz keine Informationspflichten eingeführt, geändert
oder aufgehoben. Für Unternehmen wird durch das Gesetz eine neue Informationspflicht eingeführt. Unternehmen müssen der Bundesagentur für Arbeit im Fall der
Arbeitslosigkeit ehemaliger beschäftigter Grenzgänger
und anderer Personen, die im Ausland Leistungen bei
Arbeitslosigkeit beantragen wollen, die für deren Leistungsanspruch maßgeblichen Tatsachen mitteilen. Für
die Verwaltung wird eine Meldepflicht neu eingeführt.
Da die vorgesehene Übermittlung der in den Entsendebescheinigungen enthaltenen Daten in einem automatisierten Verfahren über den GKV-Spitzenverband, Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung - Ausland,
erfolgt, wird sich der Mehraufwand in überschaubaren
Grenzen halten.
Klar ist, dass Neuregelungen nicht kostenlos umzusetzen sind. Natürlich ist der Gleichstellung der europäischen Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa
Rechnung zu tragen, wenn es um Neuregelungen geht.
Dies darf aber nicht mit dem Ziel einhergehen, insgesamt in Europa eine schrittweise Durchsetzung eines
niedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit zu etablieren,
was an vielen Stellen der europäischen Handlungen leider allzu deutlich wird. Die SPD-Fraktion begrüßt, dass
die EU-Kommission eine Gleichstellung der Europäer
in den Blick nimmt. Da es in allen Mitgliedstaaten immer mehr ältere Menschen gibt, stehen die aktuellen
Systeme für die Alterssicherung unter massivem Druck.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat diesen Druck noch
weiter verstärkt. Unabhängig von der Koordination der
sozialen Sicherheit in Europa ist es für die SPD ein
Grundsatz, dass die Finanzierung und Bereitstellung
von Renten in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
bleiben muss. Wir werden es nicht zulassen, dass europaeinheitliche Standards zu einer Verschlechterung guter Systeme einiger Mitgliedstaaten führen. Im Konfliktfall müssen die sozialen Belange der Menschen Vorrang
haben.
Ich begrüße die Bereitschaft, die Änderungen aufzunehmen, die es ermöglicht haben, den Gesetzentwurf im
Ausschuss für Arbeit und Soziales einstimmig anzunehmen.
Zum 1. Mai wird die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit
in der EU hergestellt. Um diesen Prozess sozialpolitisch
auf nationaler Ebene zu flankieren, werden wir mit dem
heute zu verabschiedenden Gesetz unseren nationalen
Beitrag dazu leisten, die sozialen Sicherungssysteme in
Europa zu koordinieren. Im vorliegenden Entwurf eines
Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze
werden von der Bundesregierung die Detailregelungen
formuliert, um die entsprechenden EU-Vorgaben in
nationales Recht umzusetzen.
Seitens der christlich-liberalen Koalition haben wir
unser Hauptaugenmerk darauf ausgerichtet, die Sicherheit unserer sozialen Versorgungssysteme zu erhalten
und zu stärken. Im Bereich der Alterssicherungssysteme
werden Rentnerinnen und Rentner endlich gleichgestellt
- unabhängig davon, ob sie Renten aus dem Inland oder
aus dem Ausland beziehen. Die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung werden
damit gestärkt, indem pflichtversicherte Rentnerinnen
und Rentner künftig auch mit ihrer ausländischen Rente
zur Beitragsfinanzierung ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden. Die Versichertengemeinschaft wird dadurch dauerhaft und nachhaltig geschützt. Die Höhe der zu zahlenden Beiträge wird dabei
derart festgelegt, dass die Leistungsempfänger von Alterssicherungssystemen im Ausland keine höhere Belastung erfahren als die Bezieher von gleich hohen Rentenzahlungen im Inland.
Wir haben als christlich-liberale Koalition dafür
Sorge getragen, zum einen die Versicherten - und damit
die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler - zu schützen und zum anderen die Gesamtheit der Bürgerinnen
und Bürger vor zusätzlichen Bürokratie- und Kostenbelastungen zu schützen. Von daher erachten wir es als außerordentlich wichtig, wie der nationale Normenkontrollrat den Gesetzentwurf im Hinblick auf Bürokratiekosten bewertet, die sich durch Informationspflichten ergeben. Nach aktuell vorliegenden Kostenschätzungen
entstehen auf Verwaltungsseite Bürokratiekosten in
Höhe von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Da die vorgesehene Übermittlung von Daten im automatisierten
Verfahren erfolgen soll und die daraus resultierenden
Bürokratiekosten nachvollziehbar abgebildet werden,
Zu Protokoll gegebene Reden
wird sich die Kostensteigerung in sehr engen Grenzen
halten. Und für uns als FDP ist am allerwichtigsten:
Der Normenkontrollrat stellt klar, dass mit dem Entwurf
„für Bürgerinnen und Bürger keine Informationspflichten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben werden“.
Von daher werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen
und hoffen auf eine breite Zustimmung - auch von den
Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen
in diesem Haus.
Mit dieser Debatte kommt das parlamentarische Verfahren zum vorliegenden Gesetzentwurf zum Abschluss.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen friedliche und ereignisreiche Feiertage - gleich, ob Sie die Osterfeiertage
im Kreise der Familie und Freunde verbringen oder den
1. Mai gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen auf
Kundgebungen zubringen.
Mit ihrem Gesetzentwurf legt die Bundesregierung
Detailregelungen zur Umsetzung der EU-Verordnungen
zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
und zur Festlegung der Modalitäten zur Durchführung
dieser Verordnung fest. Die EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt die
Anwendung der nationalen Sozialversicherungssysteme
in Europa, konkret in den 27 Mitgliedstaaten der EU
plus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz,
„Europäischer Wirtschaftsraum“. Die nationalen Sicherungssysteme werden durch die Verordnung nicht ersetzt, sondern zueinander kompatibel gemacht.
Ursprünglich wurde ein diskriminierungsfreier Zugang von EU-Ausländerinnen und Ausländern zu den
nationalen Sozialversicherungssystemen festgelegt. Mittlerweile ist dieser Grundgedanke durch die VO 883/04
weitergeführt worden. Es gelten dabei vier Grundprinzipien:
Erstens. Menschen unterliegen zu jedem Zeitpunkt
immer nur den Vorschriften eines Landes und zahlen nur
in einem Land Beiträge. Die substanziellen Rechtsvorschriften werden in dem jeweiligen Land festgelegt.
Zweitens. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Das heißt: Von der Koordinierung umfasste Personen haben dieselben Rechte
und Pflichten wie die jeweils Einheimischen.
Drittens. Wenn eine Leistung beansprucht wird, werden Versicherungs-, Beschäftigungs- und Aufenthaltszeiten in anderen Ländern gegebenenfalls berücksichtigt.
Viertens. Wenn ein Anspruch in einem Land besteht,
kann dieser auch in einem anderen Land ausgezahlt
werden - Leistungen sind also „exportierbar“.
Ich möchte einen Aspekt herausgreifen. Künftig sollen Grenzgängerinnen und Grenzgänger auch auf ihre
ausländischen Renten Beiträge an die Krankenversicherung entrichten. Die Linke hält das für richtig, und zwar
aus einem einfachen Grund: Wir sind der Auffassung,
dass alle Bürgerinnen und Bürger mit allen ihren tatsächlichen Einnahmen im vollen Umfange einen Beitrag
zur gesetzlichen Krankenversicherung leisten sollen, der
ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Wir
Linken wollen eine solidarische Kranken- und Pflegeversicherung einführen. Mit dieser Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung wird die Bemessungsgrundlage auf
alle Einnahmen ausgedehnt und die Versicherungspflichtgrenze ebenso abgeschafft wie die Beitragsbemessungsgrenze. Unsere Vorstellungen zu einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung haben wir
Ende März 2010 in den Bundestag eingebracht.
Die Linke hat also an der Koordinierung der sozialen
Systeme in Europa nichts auszusetzen. Die konkret in
diesem Gesetz vorgesehenen Änderungen erscheinen
unproblematisch. Wer allerdings ein wirklich soziales
Europa will, also ein Europa auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der muss mehr tun, als hier und
da zu koordinieren. Wir brauchen endlich eine soziale
Fortschrittsklausel im Vertragswerk der Europäischen
Union, die klarstellt, dass alle EU-Bürgerinnen und
Bürger soziale Grundrechte haben und nicht einfach nur
Rangiermasse von Kapitalinteressen sind.
Stärkere Personenfreizügigkeit innerhalb der Mitgliedsländer der Europäischen Union erfordert auch
eine stärkere Abstimmung der sozialen Sicherungssysteme. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einem „sozialen Europa“, in dem mobile Arbeitskräfte ausreichende
und vor allem lückenlose Schutzrechte und Absicherungen erhalten. Sofern grundlegende datenschutzrechtliche Belange beachtet werden, kann der Abgleich von
Versichertendaten auch ein wichtiger Baustein im
Kampf gegen Schwarzarbeit und Sozialversicherungsbetrug sein. Die eher technische Aufgabenstellung wird
durch den vorliegenden Entwurf insgesamt recht ordentlich gelöst, deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zur
Koordinierung der sozialen Sicherheit in Europa zustimmen.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass es den Koalitionsfraktionen nicht gut bekommt, wenn die Opposition
zu wenig Anlass zur Kritik sieht. Nach den fraktionsübergreifend im Grundsatz positiven Debattenbeiträgen
legten CDU/CSU und FDP einen Änderungsantrag zur
Beratung in den Ausschüssen vor. Dieser Änderungsantrag sollte unter anderem einen neuen § 295 a im Sozialgesetzbuch V schaffen, durch den die Datenverarbeitung
bei besonderen Versorgungsformen geregelt werden
sollte, unter anderem bei der hausarztzentrierten Versorgung. Die Aufnahme dieses Punktes war völlig daneben.
Erstens handelt es sich dabei um ein komplexes
Thema, das seit Jahren auf eine Lösung wartet. Die Einschätzungen über die Rechtssicherheit und Zulässigkeit
der vorgeschlagenen Regelung gehen allerdings unter
sachkundigen Experten auseinander. Dies zeigt auch die
Debatte zwischen dem Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit und seinem Amtskollegen aus dem Land Schleswig-Holstein. Damit beschleicht einen das Gefühl, hier solle unbemerkt eine
seit Monaten ausstehende Regelung durchgewunken
Zu Protokoll gegebene Reden
werden. So geht das natürlich nicht. Für uns hat der Datenschutz einen besonderen Stellenwert.
Genau deshalb ist es aber - zweitens - ein Unding,
dieses Regelungsvorhaben als Unterpunkt eines Änderungsantrages zu einem gänzlich anderen Thema einzubringen. Ohne Not, ohne begründeten Zeitdruck und
ohne zwingenden inhaltlichen Grund sollte der vorliegende Gesetzentwurf quasi als „Omnibus“ für sonstige
Regelungsbedarfe verwendet werde. Ich finde, das wird
der Sache nicht gerecht. Es ist handwerklich wirklich
schlecht, wenn die Ablehnung einer an sich nicht
schlechten Vorlage in Kauf genommen wird, weil man
sie mit anderen Themen überfrachtet. Das zeigt - drittens - auch mangelnden Respekt vor dem Parlament und
seinen Ausschüssen. Die Strukturen und Verfahren des
Deutschen Bundestages sind darauf angelegt, zwischen
den Lesungen die parlamentarischen Initiativen durch
Beratung und Änderungsanträge zu verbessern. Aber sie
sind nicht dafür gedacht, gänzlich neue Themen hinzuzustellen. Sachgerechte Beratung sieht anders aus.
Am Ende haben CDU/CSU und FDP ihr hemdsärmeliges Vorgehen offenbar eingesehen. Der besagte Punkt 1d
des Änderungsantrags wurde gestrichen. Die verbleibenden Punkte sind insgesamt unproblematisch und
haben in den Ausschüssen auch die Zustimmung der
Grünen gefunden. So sollen Rückkehrende aus internationalen Organisationen demnach unter den gleichen Voraussetzungen wie Auslandsrückkehrende Zugang zur
GKV erhalten, wenn sie innerhalb von zwei Monaten
eine neue Beschäftigung im Inland aufnehmen. Dem
steht nichts entgegen.
Die „Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen“ soll bei der Festlegung des anzuwendenden Rechts beteiligt werden, soweit der von ihr
betreute Personenkreis betroffen ist. Auch gegen diese
Anregung vonseiten des Bundesrates ist nichts einzuwenden. Schließlich soll die zuständige Datenstelle gegebenenfalls Informationen an die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft zum Zwecke der
Einziehung von Beiträgen und der Gewährung von Leistungen übermitteln. Dies ist als Schritt zur Verhinderung
von Schwarzarbeit und zur Gewährleistung sozialer Arbeitnehmerrechte zu begrüßen.
Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, werden dem Gesetzentwurf daher auch in seiner geänderten
Form zustimmen. Als überzeugte Europäerinnen und
Europäer werden wir uns Regelungen nicht entgegenstellen, welche die europaweite Mobilität von Arbeitnehmenden durch eine bessere Koordinierung sozialer Absicherung ergänzt. In diesem Zusammenhang möchte ich
auch nochmals sagen: Hier gibt es noch einiges zu tun.
Beispielsweise sollte die Bundesregierung dafür Sorge
tragen, dass auch Ansprüche aus Betriebsrenten in ein
anderes europäisches Land mitgenommen werden können. Kollege Wadephul hat diesen Aspekt in seiner Rede
zur Einbringung des Gesetzentwurfes ebenfalls erwähnt.
Nun müssen den Worten allerdings noch Taten folgen.
Wir kommen somit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5509, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4978 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch keine. Der Gesetzentwurf ist somit einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
- Drucksache 17/4805 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/5511 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5514 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Klaus Brandner
Roland Claus
Priska Hinz ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na-
men der Kolleginnen und Kollegen liegt dem Präsidium
vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5511, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4805
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Ein Kollege
stimmt dagegen. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion
der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Der Ge-
1) Anlage 8
Vizepräsident Eduard Oswald
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das sind die
Fraktion der SPD und die Linksfraktion. Der Gesetzent-
wurf ist somit angenommen.1)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationa-
len Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt
erstellen
- Drucksache 17/5044 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({3})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur UN-Resolution 1325
„Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhalten Auf Gewalt in internationalen Konflikten
verzichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller ({4}), Katja Keul, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
10 Jahre UN-Resolution 1325 - Frauen,
Frieden und Sicherheit - Nationaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung
- Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484,
17/5092 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Edelgard Bulmahn
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller ({5})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) -
Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na-
men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns hier vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5044 mit dem Titel
„Deutschland im UN-Sicherheitsrat - Nationalen Akti-
1) Erklärungen nach § 31 GO siehe Anlage 2
2) Anlage 9
onsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen CDU/CSU
und FDP. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abge-
lehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/5092. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/3176 mit dem Titel
„10 Jahre UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Si-
cherheit‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Fraktionen CDU/CSU, FDP und Die Linke.
Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3205 mit dem Titel „Verpflichtung zur
UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Sicherheit‘
einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten
verzichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-
kraten. Gegenprobe! - Die Linksfraktion und ein Abge-
ordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? -
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/2484 mit dem Titel „10 Jahre UN-
Resolution 1325 - Frauen, Frieden und Sicherheit - Na-
tionaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Linke. Gegenprobe! - SPD
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Ände-
rung des Abgeordnetengesetzes - Einführung
eines Ordnungsgeldes
- Drucksache 17/5471 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.3) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Auch hier ver-
zichte ich auf das Vorlesen der Namen der einzelnen
Redner.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5471 an den Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorge-
3) Anlage 10
Vizepräsident Eduard Oswald
schlagen. - Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist
das somit beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nein zur Todesstrafe - Hinrichtung von Troy
Davis verhindern
- Drucksache 17/5476 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.
Für uns Deutsche und die große Mehrzahl der europäischen Länder ist die Todesstrafe Geschichte, kein
Thema mehr, über das wir in Pro und Kontra diskutieren. Nach unserer Vorstellung, nach unserem christlich
geprägten Menschenbild ist die Todesstrafe eine grausame und unmenschliche Strafe. Der Mensch kann nicht
Richter über Leben und Tod anderer Menschen sein,
ohne immer auch über sich selbst zu richten. Die Todesstrafe verstößt gegen das Grundrecht auf Leben und die
unantastbare Würde des Menschen.
Aber gerade hier erleben wir in bedrängender Weise
die Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit der politischen und kulturellen Verhältnisse in unserer Welt. Noch
immer gibt es eine Vielzahl von Ländern, die an der Todesstrafe festhalten.
Wir sehen aber auch, wenn die jeweils von einem konkreten Fall ausgelöste Welle von Emotionen wieder ein
Stück weit abgeebbt ist, dass in den letzten Jahren nicht
nur hier in Europa, sondern weltweit erhebliche Fortschritte erreicht worden sind. Auch in den Ländern, die
zurzeit noch an der Todesstrafe festhalten, beginnen unsere Argumente zu wirken. Kein System ist vor einem
Fehler sicher. Die Angst vor einem öffentlichen, weltweit
diskutierten Justizirrtum ist groß. Eine Gesellschaft, die
- und sei sie noch so rechtstaatlich und demokratisch legitimiert - für sich das Recht in Anspruch nimmt, über
Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden, stellt mit
jedem konkreten Fall ihre eigenen Existenzgrundlagen
infrage. Niemand kann den Fehler korrigieren, wenn
einmal doch ein Unschuldiger getötet wurde. Ein Todesurteil, einmal vollstreckt, kann nicht mehr revidiert werden. Dies sollte letztlich jeden Menschen, sei er auch
noch so sehr durch ein schreckliches Verbrechen aufgewühlt, überzeugen und seinen Ruf nach harter Strafe
mäßigen.
Troy Davis wurde für den Mord an einem Polizeibeamten zum Tode verurteilt. Die Verurteilung beruhte
ausschließlich auf Aussagen von Augenzeugen. Seither
haben sieben von neun Belastungszeugen ihre Aussagen
widerrufen. Der Zeuge, der Davis‘ Tat zur Anzeige gebracht hatte, war zwar am Tatort, stand aber ursprünglich selbst unter dem Verdacht, den Mord begangen zu
haben. Das allein zeigt schon, auf welch unsicherer
Grundlage hier ein Mensch zum Tode verurteilt werden
soll.
In den Grundsätzen, Argumenten und Zielen unserer
Menschenrechtspolitik sind wir uns über die Fraktionen
hinweg einig. Weniger einig sind wir uns dagegen in der
Einschätzung, dass auch Menschenrechte etwas Dynamisches sind, dass man sie politisch nur mit Augenmaß,
nur durch das behutsame, aber hartnäckige Bohren dicker Bretter durchsetzen kann, vor allem aber, dass eine
Menschenrechtspolitik, die sich - in den Begriffen Max
Webers - von einer Verantwortungsethik leiten lässt, die
sich auf den konkreten nächsten Schritt konzentriert und
auch Teilerfolge akzeptiert, letztlich zu besseren Ergebnissen führt als eine gesinnungsethische Alles-oderNichts-Politik, die ihren Anhängern zwar das Gefühl
moralischer Überlegenheit gibt, aber mehr Porzellan
zerschlägt, als ihnen selbst lieb sein kann.
Der hier vorliegende Antrag akzentuiert diejenigen
politischen Handlungsmuster, welche in der Sicht von
Union und FDP als der Sache nicht dienlich, tendenziell
kontraproduktiv und letztlich parteipolitischer Instrumentalisierung dienend angesehen werden: die Bindung
politischer Einflussnahme und Aufklärungsarbeit an
Einzelfälle; die Auswahl der Einzelfälle nach Ländern in
der Weise, dass das Thema Todesstrafe mit einer Kritik
der deutschen Außenbeziehungen zu bestimmten Staaten
verbunden werden kann. Einen Antrag zur Aufhebung
einer Todesstrafe im Libanon oder im Iran scheint die
Linke dagegen stets zu vermeiden.
Vor allem Punkt 5 der Feststellung, dass der Deutsche Bundestag seine Überzeugung bekräftigen solle,
dass sich die Einhaltung der Menschenrechte und die
gleichzeitige Verhängung der Todesstrafe mit Hinweis
auf die USA zwingend gegenseitig ausschließen, kann in
dieser Form nicht die Zustimmung von Union und FDP
finden. Schließlich sind die USA diejenigen, die erstmals
die Menschenrechte in der Bill of Rights proklamiert haben. Sie jetzt aufgrund eines einzigen Problempunkts mit
diktatorisch regierten Unrechtsstaaten in eine Ecke der
Menschenrechtsverletzer mit Staaten wie Nordkorea,
China oder auch dem Iran zu stellen, ist absurd.
Aber auch die Forderung, sich in Gesprächen auf bilateraler Ebene und im Rahmen der EU gegenüber den
USA für ein umgehendes Moratorium als ersten Schritt
zur Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, sollte hier
nicht ernsthaft aufgestellt werden. Die Empfehlung an
die USA, die Todesstrafe abzuschaffen, ist seitens der
Bundesrepublik wie auch der EU stets ausgesprochen
worden. Aber wie die USA dies umsetzt und wann, ist Sache dieses souveränen Staates. Die Forderung nach dem
Mittel ({0}) und der Zeit ({1})
halte ich für eine unzulässige Einmischung in die Innenpolitik dieses Staates.
Um es hier erneut klarzustellen: Der Bundestag hat
bereits unter anderem mit der Drucksache 17/257 vom
16. Dezember 2009 beschlossen, sich weltweit für den
Schutz der Menschenrechte einzusetzen. Die Abschaffung von Todesstrafe und Folter waren Kernbestandteile
dieses Beschlusses.
Ich möchte aus unserem früheren Antrag und Beschluss „Menschenrechte weltweit schützen“ zitieren:
Gleich zu Anfang nehmen wir klar und unmissverständlich zur Todesstrafe Stellung:
Unveräußerliche Prinzipien wie körperliche und
geistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind
in vielen Teilen der Welt gefährdet. Die grausamste
und unmenschlichste Form der Bestrafung, die
Todesstrafe, wurde in vielen Staaten der Welt abgeschafft. Darunter sind alle Staaten der Europäischen Union. Doch immer noch wird die Todesstrafe verhängt bzw. vollstreckt, und dies nicht nur
in autoritären Regimen wie Iran, China oder Sudan, sondern auch in Demokratien wie den USA
und Japan. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund,
der die Todesstrafe rechtfertigt; zudem können
Fehlurteile nie ganz ausgeschlossen werden. Ein
Grundanliegen deutscher Menschenrechtspolitik
bleibt deshalb die Aussetzung und in letzter Konsequenz die Abschaffung der Todesstrafe.
Damit haben wir die Todesstrafe klar abgelehnt.
Menschenrechtliche, rechtsstaatliche und humanitäre
Gründe sprechen mit einer Stimme gegen die Todesstrafe. Aber wir wissen auch, dass wir hier einen langen
und schweren Weg angetreten haben. Unser Antrag
heute geht einen weiteren Schritt in eine Richtung, die
wir alle für richtig halten - zur weltweiten Abschaffung
der Todesstrafe.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
Die Linke, ich verstehe Ihr Engagement und schätze Ihren guten Willen. Aber aufgrund dieser Gleichmacherei
völlig unterschiedlicher Länder und Regierungsformen
müssen Union und FDP Ihren Antrag in der vorliegenden Form ablehnen.
Die SPD tritt seit langem für die weltweite Bekämpfung der Todesstrafe ein. Als Abgeordnete und Menschenrechtspolitikerin ist dies für mich eine der wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben.
Deshalb hatte die SPD-Bundestagsfraktion im Juni
2010 gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den Antrag „Todesstrafe weltweit abschaffen“ eingebracht.
Die Regierungskoalition hatte unseren Antrag - obwohl
wir gerne einen interfraktionellen Antrag daraus gemacht hätten - aus nicht nachvollziehbaren Gründen
abgelehnt, um dann schnell noch einen eigenen, in wesentlichen Teilen von uns abgeschriebenen Antrag einzubringen. Deutsche Wirtschaftspartner, die ziemlich exzessiv die Todesstrafe verhängen, wie die USA oder
China, sind in der Version Ihres Antrages allerdings aus
der kritischen Würdigung rausgeflogen - ebenso wie der
Iran. Damit aber nicht genug: Auch den gemeinsam mit
den Grünen und Linken eingebrachten Antrag zu der damals von der Steinigung bedrohten Iranerin Sakineh
Ashtiani haben Sie abgelehnt. Verehrte Kollegen und
Kolleginnen von der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion,
wir haben es Ihnen damals schon ins Stammbuch geschrieben: Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre persönlichen Befindlichkeiten auch in diesem Fall über die Sache stellen, nämlich über den Kampf gegen die
Todesstrafe.
Dieser Kampf bleibt aktuell. Zwar gibt es einen weltweiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe, doch
58 Staaten halten noch an der Todesstrafe fest, und
circa 25 von ihnen vollstrecken sie auch noch heute. In
dem kürzlich erschienenen Jahresbericht von Amnesty
International „Todesstrafen und Hinrichtungen 2010“
ist China wieder der grausame Rekordhalter. China exekutiert mehr Menschen als alle anderen Staaten zusammen. Im Reich der Mitte sind Todesstrafen Staatsgeheimnis. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass
allein in China jährlich bis zu 5 000 Menschen hingerichtet werden. Diejenigen, die sich aufgrund kleinster
Vergehen in den Arbeitslagern zu Tode arbeiten, werden
da noch nicht mitgerechnet. Außerhalb Chinas sind
weltweit im Jahr 2010 mindestens 527 weitere Menschen der Todesstrafe zum Opfer gefallen. Auf den vorderen Plätzen dieser grausamen Hitliste der Todesurteile verhängenden und vollstreckenden Staaten sind
der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die USA und der Jemen. Weltweit warten noch mehr als 17 800 Menschen
auf den Tod durch den Staat. Drei davon sind übrigens
Deutsche. Sie wurden wegen Mordes in den USA zum
Tode verurteilt.
Staaten sprechen ihnen das Recht auf Leben ab. Sie
werden enthauptet, vergiftet, erschossen, gesteinigt oder
verschwinden einfach. Die Delikte muten bisweilen grotesk an: In Laos und einer Reihe anderer Länder steht
beispielsweise auf Drogenbesitz die Todesstrafe, in zahlreichen muslimischen Ländern auf Ehebruch, Apostasie
oder die Beleidigung des nationalen Ehrgefühls. In der
chinesischen Provinz Guangdong müssen selbst Handtaschendiebe um ihr Leben fürchten. Und vor ein paar
Tagen wurde das Gerücht verbreitet, dass im ugandischen Parlament erneut versucht wird, Homosexualität
unter bestimmten Bedingungen mit der Todesstrafe zu
„bestrafen“.
Troy Davis, der in dem Linken-Antrag thematisierte
Todeskandidat aus den USA, steht in diesen Tagen zum
wiederholten Mal vor der Vollstreckung seines Todesurteils. Und er könnte - so die Vermutung vieler Experten - unschuldig sein. Seit er 1991, also vor 20 Jahren,
ausschließlich auf der Grundlage von Zeugenaussagen
wegen des Mordes an einem weißen Polizisten zum Tode
verurteilt wurde, sitzt er in der Todeszelle. Weder eine
Tatwaffe noch DNA-Spuren oder andere stichhaltige Beweise wiesen auf ihn hin. Im Laufe seiner bereits drei angestrengten Berufungsverfahren - das letzte wurde erst
kürzlich vom Obersten Bundesgerichtshof abgelehnt zogen sieben der insgesamt neun Zeugen ihre Aussagen
zurück. Sie hätten im Prozess gegen einen angeblichen
Polizistenmörder Angst bei ihren Aussagen gehabt. Ich
bin generell gegen die Todesstrafe, aber selbst wenn sie
für die USA rechtsstaatlich legitim ist, so dachte ich,
auch in den USA gilt „in dubio pro reo“, im Zweifel für
den Angeklagten. Ich kann die Ablehnung eines neuen
Verfahrens beim besten Willen nicht nachvollziehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Menschenrechte, das
sind die Stichworte, die viele Amerikaner persönlich als
die Maxime ihres Handelns bezeichnen. Aber auch die
USA als Staat möchte Vorbild sein für die Welt. Nicht
erst seit heute zweifle ich daran, wie diese Grundsätze
mit der Exekution von Menschen, mit Guantanamo oder
mit der grausamen und unmenschlichen Behandlung des
Wiki-Leaks-Informanten Bradley Manning zusammengehen.
Was den Antrag der Linken betrifft, werden wir uns
bei aller Zustimmung zur Abschaffung der Todesstrafe
und zum Einsetzen von Moratorien enthalten. Ihre Forderung an die Bundesregierung, den USA das Angebot
zu machen, Troy Davis in Deutschland aufzunehmen,
halte ich nicht für den richtigen Weg. Was im Falle der
Uriguren aus Guantanamo zweifellos richtig gewesen
wäre, wollen Sie hier offensichtlich als Regelfall einführen. Ich bin der Ansicht, dass die USA selbst die Verantwortung für den Fall übernehmen müssen. Unsere Aufgabe ist es, in den diplomatischen Beziehungen mit den
USA stetig für die Einsetzung eines Moratoriums zu
werben. Das Ziel muss die Abschaffung der Todesstrafe
sein.
Der Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen
Amt, Markus Löning, hat den weltweiten Kampf gegen
die Todesstrafe zu seinem „persönlichen Schwerpunkt“
erklärt. Dafür hat er meinen hohen Respekt. Er sollte
diesen Fall zu „seinem“ machen.
Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag
der Linken zur drohenden Hinrichtung von Troy Davis.
Die FDP lehnt die Todesstrafe unter allen Umständen
ab - völlig unabhängig von der Frage der Schuld oder
Unschuld der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen dieses Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die
Todesstrafe ist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletzt das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie
eine abschreckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung noch kann sie aus dem Motiv der Sühne oder
der Gerechtigkeit heraus begründet werden.
Dass im Fall von Troy Davis, wie von Menschenrechtsorganisationen berichtet wird, sieben von neun
Zeugen mittlerweile ihre Zeugenaussage widerrufen haben sollen, erinnert uns daran, dass kein Justizsystem
dieser Welt und kein Gerichtsverfahren gegen Irrtümer
gefeit ist. Vor diesem Hintergrund ist die Todesstrafe
schon allein wegen ihrer Unumkehrbarkeit mit unserem
liberalen Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar.
In den letzten Jahren war ein wachsender Widerstand
gegen die Todesstrafe zu verzeichnen, sodass sich mittlerweile 65 Staaten zu ihrer vollständigen Abschaffung
verpflichtet haben und 150 Staaten auf ihre Anwendung
verzichten. Dass auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution über ein Moratorium zur
Vollstreckung der Todesstrafe vergangenes Jahr mit großer Mehrheit verabschiedet hat, bestätigt den Trend in
Richtung ihrer weltweiten Abschaffung.
In zahlreichen Ländern sind Todesurteile und die
Hinrichtung von Menschen jedoch noch immer Realität.
47 Staaten sehen die Todesstrafe noch als Strafform vor.
Dazu gehören auch die USA, einer unserer engsten Verbündeten. Dort existiert sie weiterhin in 33 Bundesstaaten als grausames und unmenschliches rechtliches Relikt in einer ansonsten so modernen Nation. Ich bin zwar
ein großer Freund der USA, aber diese Tatsache macht
mich immer wieder aufs Neue fassungslos. Vergangenes
Jahr wurden 46 Menschen in den USA hingerichtet. Damit gehört das Land gemeinsam mit China, Iran, SaudiArabien, Pakistan, Nordkorea und Irak zu den sieben
Staaten, die derzeit für 95 Prozent aller Hinrichtungen
weltweit verantwortlich sind. Wollen die USA in Sachen
Menschenrechte eine Vorbildfunktion für andere Länder
übernehmen, müssen sie zu Hause für eine möglichst
konsequente Ächtung der Menschenrechte sorgen. Teil
unserer Menschenrechtspolitik gegenüber den USA
muss es sein, sie auf diesem Weg zu unterstützen.
Die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ist ein erklärtes Ziel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeitsschwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unser Koalitionsvertrag hält dieses Ziel
schriftlich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktive Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese
Praxis in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf
Aussetzung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken.
In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise
daran erinnern, dass Gesundheitsminister Philipp Rösler im Januar für einen Lieferboykott des häufig in Todesspritzen enthaltenen Wirkstoffs Thiopental geworben
hat. Er warnte vor dem möglichen Missbrauch dieses
Narkosemittels zur Hinrichtung und appellierte an den
Großhandel, solchen Lieferungsersuchen aus den USA
nicht nachzukommen. Auch Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, war Anfang Februar in den USA, um sich über die aktuelle Diskussion zur Todesstrafe zu informieren und sich mit
ihren Verfechtern zu treffen. Mit seiner Kritik ist er mitnichten auf taube Ohren gestoßen. Wie er uns berichtet
hat, existiert dort selbst in konservativen Kreisen eine
Debatte über die Todesstrafe, die nicht frei von Skepsis
ist.
Wir begrüßen auch die Entscheidung von Pat Quinn,
Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, der am
9. März die Todesstrafe in diesem Bundesstaat abgeschafft hat. Die Tatsache, dass die Debatte um die Abschaffung der Todesstrafe in Illinois von einer Gruppe
von Studenten 1999 angestoßen worden ist, zeigt, wie
wichtig das Engagement der Zivilgesellschaft bei der
Durchsetzung von Menschenrechten ist. Diese Entscheidung in Illinois ist geeignet, einen Bewusstseinswandel
auch in den anderen 33 US-Bundesstaaten, die bis heute
an der Todesstrafe festhalten, herbeizuführen. Hier den
Dialog mit Menschenrechtsaktivisten in den USA aufrecht zu halten verspricht eher Erfolge, als nur mit dem
moralischen Zeigefinger über den Atlantik zu winken.
Ich denke, ich habe damit deutlich gemacht, dass die
FDP das grundsätzliche Anliegen, die Todesstrafe weltZu Protokoll gegebene Reden
weit abzuschaffen, nicht nur teilt, sondern sich auch aktiv dafür einsetzt. Insofern kann ich dem ersten Teil des
Antragstitels „Nein zur Todesstrafe!“ voll zustimmen.
In einem anderen Punkt widerspricht dieser Antrag
jedoch einem unserer Grundsätze. Nach unserer Auffassung sollte nämlich kein einzelnes Todesurteil und keine
Hinrichtung einer einzelnen Person herausgestellt werden. Denn jede Hinrichtung, auch jene der Tausenden
Namenlosen, ist eine zu viel. Schließlich wenden wir uns
nicht nur in diesem Fall gegen die Todesstrafe, sondern
verfolgen deren gänzliche Abschaffung in den USA und
weltweit. Dies geht weit über Ihren Antrag hinaus. Indem Sie hingegen Einzelpersonen herausstellen, werden
Sie einerseits der Tragweite dieser Problematik nicht
gerecht. Andererseits ist es uns als Bundestag nicht
möglich, Abgrenzungen vorzunehmen, für welche von
der Hinrichtung konkret bedrohte Person wir uns einsetzen und für welche nicht. Die Entscheidung gegen Ihren
Antrag ist ausdrücklich keine Entscheidung gegen Troy
Davis. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun,
der weltweiten Ächtung und einem völkerrechtlichen
Verbot der Todesstrafe näher zu kommen.
Für viele von uns war die Nachricht, dass der Supreme
Court das Berufungsverfahren des seit 20 Jahren inhaftierten Häftlings Troy Davis aus dem Bundesstaat Georgia abgelehnt hat, sehr erschütternd. Mehrmals hat Troy
Davis vergeblich beantragt, dass sein Verfahren wieder
aufgenommen wird, da er neue, entlastende Beweise
vorlegen möchte. Dies wurde ihm immer verweigert. Mit
der Ablehnung durch den Supreme Court ist eine Neuverhandlung nun definitiv ausgeschlossen.
Die letzten zwanzig Jahre der Haft von Troy Davis
waren von traumatischen Erlebnissen geprägt. Dreimal
wurde ein Termin für die Hinrichtung von Troy Davis
festgesetzt und jeweils erst in letzter Minute verschoben.
Jedes Mal musste sich Davis mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod auseinandersetzen und konnte dann
wieder Hoffnung schöpfen. In diesen zwanzig Jahren
seiner Haft hat sich Troy Davis zu einem Symbol für den
Kampf gegen die menschenverachtende und inhumane
Todesstrafe entwickelt. Troy Davis war im Jahr 1991 allein aufgrund von Zeugenaussagen wegen Mordes an
dem Polizisten Mark McPhail zum Tode verurteilt worden, obwohl niemals eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder
andere konkrete Tathinweise gefunden wurden. Viele haben sich für das Leben von Davis eingesetzt: das Europäische Parlament, der ehemalige US-Präsident Jimmy
Carter, der südafrikanische Friedensnobelpreisträger
Desmond Tutu sowie Papst Benedikt XVI.
Laut Amnesty International gibt es nur in China, dem
Iran, Saudi-Arabien und Pakistan mehr Exekutionen als
in den Vereinigten Staaten. Angehörige von Minderheiten und sozial Benachteiligte werden in den USA überproportional häufig zum Tode verurteilt und hingerichtet. Weltweit gibt es seit einigen Jahren einen Trend zur
Ächtung der Todesstrafe. Die Annahme der Resolution
gegen die Todesstrafe durch die 62. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2007 hat
deutlich gezeigt, dass die Abschaffung der Todesstrafe
von der Mehrzahl der Staaten unterstützt wird.
Der dänische Pharmakonzern Lundbeck, Hersteller
des Präparates Nembutal Pentobarbital Sodium, kurz
Pentobarbital, weigert sich, in seine Verträge eine Klausel einzufügen, mit der ausgeschlossen wird, dass Pentobarbital an die Todeskammern in den US-Bundesstaaten
weitergegeben werden darf. Pentobarbital soll das bisher in den USA eingesetzte Narkosemittel Thiopental
der US-Firma Hospira für die Vollstreckung der Todesstrafe ersetzen. Eine solche Ausschlussklausel verweigert die Firma Lundbeck mit dem Argument, man könne
„das komplexe Vertriebssystem letztendlich nicht kontrollieren“. Es ist völlig inakzeptabel, dass eine Firma in
der Europäischen Union, in der alle Staaten die Ächtung
der Todesstrafe vereinbart haben, mit diesem Mittel zur
Vollstreckung der Todesstrafe beiträgt. Dafür sollte die
Firma Lundbeck boykottiert werden.
Trotz der seit vielen Jahren über ihm schwebenden
Hinrichtung hat Troy Davis seine Hoffnung auf ein faires
Verfahren niemals verloren. Wir befürchten, dass die
Vollstreckung der Todesstrafe jetzt unmittelbar droht.
Wir freuen uns sehr, dass sich weltweit viele Menschen
gegen die Hinrichtung von Troy Davis engagieren und
hier in Deutschland ein breites Bündnis von Organisationen und Initiativen einen Aktionstag für die Rettung
von Troy Davis plant. Auch in den letzten Jahren haben
Hunderttausende Menschen gezeigt, dass sie gegen die
Todesstrafe kämpfen. Alleine im Jahr 2009 haben in einer
Mail-Aktion mehr als 200 000 Menschen an den Gouverneur von Georgia geschrieben, um gegen die Verhängung der Todesstrafe gegen Troy Davis zu protestieren.
Wir alle können Druck auf die Regierung der USA
ausüben. Deshalb bitten wir Sie, dem Antrag der Fraktion Die Linke zuzustimmen, um für die Begnadigung
von Troy Davis ein starkes Zeichen zu setzen. Die Fraktion Die Linke unterstützt die Haltung der Bundesregierung, wonach die Todesstrafe weder ethisch noch rechtspolitisch zu rechtfertigen ist. Deshalb bitten wir Sie, sich
weiterhin weltweit für die Ächtung und die Abschaffung
der Todesstrafe einzusetzen.
Wir wollen uns nicht in die Verfahren der US-Gerichtsbarkeit einmischen. Wir appellieren jedoch an die
Verantwortlichen, im Rahmen der Möglichkeiten des
US-Rechts eine Begnadigung oder die Umwandlung der
Todesstrafe von Troy Davis in eine Haftstrafe zu erwirken. Vom Deutschen Bundestag wünschen wir uns, dass
er - als klares Zeichen gegen die Todesstrafe - den USA
auch ausdrücklich anbietet, Troy Davis in Deutschland
Aufnahme zu gewähren.
Seit nunmehr 20 Jahren wartet der US-Amerikaner
Troy Davis nach mehreren kräfteaufreibenden Gerichtsverfahren darauf, dass sein Todesurteil vollstreckt wird,
das 1991 wegen des Mordes an einem Polizisten gegen
ihn verhängt wurde.
Aber nicht erst die Fraktion Die Linke hat mit ihrem
Antrag auf eklatante Mängel im Verfahren hingewiesen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es sind vielmehr die Familie des Verurteilten, die vielen
freiwilligen Freunde und Helfer, die Menschenrechtsorganisationen und -verteidiger, die sich mit all ihren
Kräften, ihren Ängsten und in ihrer Verzweiflung erwehren und dem Verurteilten beistehen.
Mit der Ablehnung eines Antrages zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch den Supreme Court am
28. März 2011 scheint der letzte Funken Hoffnung erloschen: Die Behörden des Bundesstaates Georgia sind
nun berechtigt, einen endgültigen Termin zur Vollstreckung des Urteils anzuberaumen. Davis kann jetzt nur
noch hoffen, dass ein Begnadigungskomitee die Todesstrafe in lebenslange Haft umwandelt. Und ich hoffe
sehr, dass diese Umwandlung vorgenommen wird. Denn
solange man an der Todesstrafe festhält, lässt sich das
Risiko, Unschuldige hinzurichten, nicht ausschließen. In
der Causa Davis scheint das Risiko, einen Unschuldigen
zu töten, besonders hoch zu sein. Im Antrag der Linken
werden die Zweifel am Verfahren ja hinreichend angesprochen. Gerade in einer solchen Frage ist es angezeigt, sich auf das rechtstaatliche Prinzip „in dubio pro
reo“ zurückzubesinnen.
Einem Bericht von Amnesty International zufolge
sind seit 1973 in den USA 139 zum Tod verurteilte Gefangene aus der Todeszelle entlassen worden, nachdem
in Revisionsverfahren ihre Unschuld festgestellt wurde.
Diese Menschen saßen viele Jahre unschuldig im Todestrakt. Einige standen nur wenige Stunden vor ihrer drohenden Hinrichtung. Andere Gefangene werden hingerichtet, obwohl starke Zweifel an ihrer Schuld bestehen.
Letztlich speist sich die Kritik an der Todesstrafe aus
der Wahrung und Achtung der allgemeinen Menschenrechte. In Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das Recht auf Leben verbürgt. Das Recht
auf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht, weil
das Leben des Menschen die notwendige Bedingung für
seine körperliche und psychische Integrität darstellt. Es
ist eine Vorbedingung, um alle anderen Menschenrechte
genießen zu können. Selbst die Würde einer Person ist
ohne den Eintritt in das Leben undenkbar.
Hinrichtungen sind dagegen archaische, vormoderne
und anti-aufklärerische Methoden des Strafvollzuges.
Der Staat muss sich vielmehr zum Leben bekennen. Er
ist dafür da, das Leben und die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Freiheitsstrafe ist ein
Mittel, mit dem der Staat die Gesellschaft vor jenen zu
bewahren versucht, von denen eine Gefahr ausgeht. Die
Todesstrafe ist hingegen ein Akt der Rache. Mit Abschreckung ist sie nicht zu begründen: Zahlreiche empirische Studien widerlegen die Annahme, dass die Todesstrafe als Kriminalsanktion eine präventive Wirkung
entfaltet. Kurzum: Die Todesstrafe ist irrational und ein
anti-aufklärerisches Übel.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregierung dazu auf, an die USA zu appellieren, sich für eine
Begnadigung Troy Davis‘ einzusetzen, bilaterale Gespräche mit den USA zu suchen, um unter Hinweis auf
unkalkulierbare Risiken und menschenrechtliche Bedenken für die Abschaffung der Todesstrafe einzutreten, und
in ihrer Arbeit gegen die Todesstrafe weltweit nicht
nachzulassen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5476. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion Die
Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Der Antrag ist somit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union und zur
Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an
den EU-Visakodex
- Drucksache 17/5470 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Ich sehe, Sie sind einverstanden. Die Liste der Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit - Sie werden es nicht glauben, aber es
ist wahr - am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Der eine oder andere hätte vermutlich hier noch gern
weitergearbeitet,
({1})
aber es gibt ja noch die Bürotätigkeit.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. April 2011, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.