Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Heute feiert der Kollege Johannes Pflug seinen
65. Geburtstag.
({0})
- Genau. Der donnernde Beifall des Plenums wird ihn
hoffentlich übers Fernsehen beim Frühstück erreichen.
Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr begleiten
ihn.
Es gibt keine Ankündigungen, sodass wir sofort in
unsere Tagesordnung eintreten können. Ich rufe zu-
nächst die Tagesordnungspunkte 26 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 8 auf:
26 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale
({1})
- Drucksache 17/4620 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen unverzüglich aus Deutschland
abziehen
- Drucksachen 17/116, 17/2214 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Jan van Aken
Dr. Frithjof Schmidt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare Abrüstung
stärken
- Drucksachen 17/886, 17/2215 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Jan van Aken
Kerstin Müller ({5})
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Investitionen in Antipersonenminen und
Streumunition gesetzlich verbieten und die
steuerliche Förderung beenden
- Drucksache 17/4697 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Group verhindern - Keine weitere Erosion des
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
- Drucksache 17/5374 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Malczak, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüstung der Atomwaffen vorangehen
- Drucksachen 17/122, 17/2213 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Jan van Aken
Dr. Frithjof Schmidt
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse
für Frieden und Abrüstung
- Drucksache 17/4863 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({10})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Jahr war ein
gutes Jahr für die Abrüstung. Auf der Konferenz zur nuklearen Nichtverbreitung in New York fand anders als
vor fünf Jahren eine Einigung statt. Das Abkommen
über das Verbot von Streumunition ist in Kraft getreten.
Die NATO hat das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt
zum Teil ihrer neuen Strategie gemacht. Der STARTVertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen
zwischen den USA und Russland wurde ratifiziert. Man
kann es zusammenfassen: Nach einem Jahrzehnt des
Stillstands bei der Abrüstung ist das ein guter und solider
Start in ein Jahrzehnt der Abrüstung, für das wir alle gemeinsam arbeiten wollen.
Natürlich sind diese Erfolge kein Anlass, sich auszuruhen, sondern sie sind ein Ansporn, mit ganzer Kraft
weiterzumachen. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr zur Wiederbelebung der internationalen Abrüstungspolitik beigetragen. Diese neue Dynamik werden
wir auch für die vor uns liegenden weiteren Aufgaben
nutzen.
({0})
Es war richtig, dass wir die Diskussion über die substrategischen Nuklearwaffen innerhalb der NATO angestoßen haben. Wir setzen dabei auf eine enge Abstimmung im Bündnis, aber gleichzeitig wollen wir diese
Debatten anführen.
Unsere Initiative für die Reduzierung der substrategischen Nuklearwaffen zeigt Wirkung. Bei der Münchner
Sicherheitskonferenz in diesem Jahr hat die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton Gespräche mit
Russland auch über die substrategischen Atomwaffen
angekündigt. Russland ist nämlich - das muss uns allen
klar sein - ausdrücklich auch in der Pflicht. Das wird
klar, wenn wir allein an die zahlenmäßige Überlegenheit
in diesem Segment denken.
({1})
Nächste Woche werden wir hier in Berlin beim Außenministertreffen der NATO-Staaten mit Russland über
alle Bereiche der Abrüstung sprechen, auch über die
konventionelle Rüstung; denn eines ist klar: Nukleare
Abrüstung darf konventionelle Kriege nicht leichter
führbar machen.
Wir haben mit Japan und Australien im September
des letzten Jahres in New York die Freundesgruppe für
Abrüstung und Nichtverbreitung gegründet. Ende April
treffen sich die Außenminister aus fünf Kontinenten hier
in Berlin. Die Tatsache, dass sich sowohl die Außenminister der NATO zu informellen Beratungen als auch
die Freundesgruppe für Abrüstung und Nichtverbreitung
in diesem Monat in Berlin treffen, ist nicht nur eine Auszeichnung für unser Land, sondern es zeigt auch, dass
wir mitten in den Gesprächen und Verhandlungen sind.
Deutschland spielt beim Thema Abrüstung eine wichtige
Rolle. Darüber freuen wir uns. Ich denke, darauf kann
die Bundesregierung mit Stolz verweisen.
({2})
Wichtigstes Ziel ist es, die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial vollständig zu verbieten und auch
das zu vernichten, was schon produziert wurde. Wenn
die Genfer Abrüstungskonferenz keine Fortschritte machen kann, dann wollen wir das Thema in New York in
die Generalversammlung der Vereinten Nationen einbringen.
In dieser Überlebensfrage für die Menschheit können
wir keine weitere Blockade zulassen. Wir dürfen nicht
zulassen, dass nukleares Spaltmaterial in die Hände von
Tyrannen oder von Terroristen fällt. Das zu verhindern,
ist eine außerordentlich bedeutsame Aufgabe, die wir international verfolgen müssen.
Deswegen gehört zur Debatte über diesen Abrüstungsbericht auch die Debatte über das iranische Atomprogramm. Es ist für uns völlig klar, dass dieses Thema
zu den Herausforderungen auch dieses Jahres zählt. Im
Januar war der Iran beim Treffen mit den E3+3-Staaten
in Istanbul nicht bereit, über die zentralen Fragen zu verhandeln. Der Iran hat auch die letzten Wochen und Monate nicht genutzt. Ich warne davor, das Bemühen der
Weltgemeinschaft mit Schwäche zu verwechseln. Die
Europäische Union ist bei Sanktionen sogar weitergegangen als der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1929.
Unsere Hand bleibt ausgestreckt. Die Führung in
Teheran muss aber wissen, dass endlich Verhandlungen
ohne Vorbedingungen aufgenommen werden müssen.
Die nukleare Kontrolle ist natürlich ein Thema, das ausdrücklich auch für Nordkorea gilt. Darauf wird in Anbetracht der Debatten, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfinden, nicht unbedingt genug geachtet.
Ich denke aber, dass wir uns darüber einig sind, dass die
internationale Staatengemeinschaft auch hierauf besonders achten muss.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Abrüstung
gelingt mit einem starken Völkerrecht. Wir werben für
den Beitritt zum Atomteststoppabkommen und zum
Atomwaffensperrvertrag. Wir wollen auch Staaten wie
Indien in die internationalen Kontrollsysteme einbinden,
auch wenn der Weg dahin lang und beschwerlich sein
wird.
In den Vereinten Nationen setzen wir uns für ein robustes Waffenhandelsabkommen ein, damit Regime, die
Menschenrechte mit Füßen treten, und Länder, in denen
Bürgerkrieg herrscht, nicht mehr legal mit Waffen beliefert werden können. Ich denke, die Bedeutung des Themas Abrüstung ist uns über die Parteigrenzen hinweg
klar. Abrüstung hat überhaupt nichts Naives. Abrüstung
gefährdet nicht unsere Sicherheit, sondern sie vergrößert
unsere Sicherheit. Sie sorgt dafür, dass die Sicherheit in
der Welt erhöht wird und dass der Frieden in der Welt
stabiler wird. Die Angelegenheit ist ohnehin fragil genug.
Auch wenn die Debatte über den Jahresabrüstungsbericht hier nicht von einer großen Anzahl von Kolleginnen und Kollegen verfolgt wird, so möchte ich doch ausdrücklich sagen: Ich glaube, dass Abrüstung keine
geringere Aufgabe für die Menschheit ist als beispielsweise das Thema Klimaschutz. Man mag sich nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn Terroristen oder
autokratische Regime durch nukleare Verbreitung Atomwaffen in die Hände bekommen. Das ist das Problem.
Wir müssen verhindern, dass die Griffnähe zu nuklearen
Waffen kleiner wird. Das ist das zentrale Anliegen.
Auch wenn es am frühen Morgen vielleicht nicht den
Anschein hat, so gehe ich davon aus, dass die Bemühungen um die Abrüstung und um die nukleare Nichtverbreitung von einer großen Anzahl von Abgeordneten
hier im Bundestag nicht nur getragen, sondern auch mit
Interesse verfolgt werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war ein denkwürdig kurzer und knapper Auftritt. Herr Außenminister, wir hätten erwartet, dass Sie
nicht nur aus Ihrer Sicht darauf verweisen, dass das ein
gutes Jahr für die Abrüstung war, worüber man - was
den Anteil der Bundesregierung angeht - streiten kann.
({0})
Wir hätten erwartet, dass Sie auch einen Hinweis darauf
geben, wie dieses Jahr ein besseres Jahr für die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik werden könnte. Wir hätten deshalb natürlich erwartet, dass Sie auch auf Libyen
Bezug nehmen, was Sie leider nicht getan haben, Herr
Dr. Westerwelle.
({1})
Ich finde es schon bemerkenswert, dass Ihr erster
Auftritt nach der beabsichtigten Degradierung im Kabinett und der Enthauptung in Ihrer eigenen Partei so spurlos an allen politischen Entwicklungen vorbeigeht, die
damit verbunden sind.
({2})
Ich finde es schon bemerkenswert - um noch einmal
darüber zu reden -, dass die „Kehrtwende Marsch“ zum
Ungütesiegel Ihrer eigenen Politik geworden ist. Dabei
hatten Sie uns doch eine Politik der langen Linie versprochen. Frau Dr. Merkel hat gesagt: Wir stehen für ein
Durchregieren, damit mehr Kohärenz und mehr Konsequenz in die Politik kommt. - Was erleben wir aber? Ein
Durchlavieren auf allen wichtigen Feldern der Politik,
leider auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das
will ich an ein paar Punkten deutlich machen. Der Zusammenhang zu unserem heutigen Thema besteht darin,
dass glaubwürdige Politik auch Voraussetzung für
Glaubwürdigkeit in der Abrüstungspolitik ist.
({3})
In der Libyen-Frage zum Beispiel haben Sie sich völlig gegenteilig verhalten. Ihre Nein implizierende Enthaltung in New York wurde am nächsten Tag durch den
Hinweis gekrönt: Es wird keine Beteiligung von deutschen Soldaten an militärischen Einsätzen in Libyen geben.
({4})
Das war am 18. März. Dann kam die denkwürdige Embargo-Entscheidung. Sie haben gesagt: Nein danke, unsere Marine macht beim Embargo nicht mit. Sie haben
die Marineeinheiten abziehen lassen. Dann wurden die
Marineeinheiten der NATO unterstellt, und uns wurde
gesagt: Es gibt zwar einen NATO-Befehl, aber es wird
hierbei eine räumliche Trennung vorgenommen.
Schließlich haben wir jetzt im Grunde genommen aus
der Zeitung erfahren, dass es drei Tage nach Ihrem Nein
zum Einsatz deutscher Soldaten
({5})
- ja, ich komme dazu ({6})
offensichtlich auf einmal ein Ja zum Einsatz der 990 Soldaten der Battle Group EUFOR gab, deren Gros
Deutschland stellt. Damit liegt genau das vor, was in unseren Augen Durchlavieren und nicht Durchregieren
darstellt.
Der Kollege Stinner hat nun erklärt: Wir sind offen
für militärische Absicherung humanitärer Einsätze. Der
Kollege Rösler hat erklärt: militärisch nein, humanitär
ja. Der Kollege Mißfelder hat gesagt: Wir haben die moralische Pflicht, zu folgen. Die Kanzlerin und der Verteidigungsminister schweigen. Letztendlich hat das Außenministerium nur verlautbaren lassen, man könne sich
eine robuste Sicherheitskomponente vorstellen.
Wenn man, werter Herr Außenminister, Ihr Verhalten
beim Embargo nur auf die Stichworte Abrüstung und
Rüstungskontrolle überträgt, dann stellt sich natürlich
die Frage, welche Position denn die deutsche Regierung
beispielsweise im Hinblick auf die in Libyen stattgefundene Aufrüstung einnimmt. Bis vor wenigen Monaten
waren es doch unsere italienischen und französischen
Verbündeten, die ein ganz enges Verhältnis, das auch
Aufrüstung beinhaltete, zu Herrn Gaddafi pflegten. Wir
würden deshalb von Ihnen gerne erfahren, wo Sie mit
Abrüstung und Rüstungskontrolle ganz konkret ansetzen
wollen.
Zugleich möchten wir Ihnen auch den Hinweis geben,
dass wir es sehr gerne sähen, wenn künftig Rüstungskontrollberichte und Rüstungsexportberichte zeitnäher
vorgelegt würden. Das ist unser Appell an Sie; denn
dann könnte man auch besser überprüfen, ob die von Ihnen verkündeten eigenen Maßstäbe eingehalten wurden.
({7})
Wir müssen auch noch einmal hinterfragen, auf welcher Mandatsgrundlage hier im Bundestag diskutiert
werden soll. Gibt es schon eine UN-Anforderung? Was
heißt denn: Schützen ja, kämpfen nein? Wie verhält sich
denn der Schutz von Zivilisten gegenüber dem Ziel,
Gaddafi aus der Verantwortung zu nehmen? Was bedeutet Ihr Hinweis „Wir stehen für humanitäre Hilfe bereit“
angesichts Ihrer Aussage, keine deutschen Soldaten dort
hinzuschicken? Wir sind offen, über diese Punkte zu diskutieren. Wir werden Ihnen aber keinen Freibrief erteilen. Wir werden auch nicht akzeptieren, dass quasi über
die Zeitungen ein Vorratsbeschluss gefasst wird. Wir
wollen die Diskussion hier und heute und sind enttäuscht, dass Sie mit keinem Wort auf diese neuerliche
Kehrtwende Ihrer Politik eingehen.
({8})
Sie sind es, wie ich finde, diesem Parlament auch
schuldig, noch einmal deutlich zu machen, warum Sie
glauben, in der Außen- und Sicherheitspolitik im Kabinett noch am richtigen Platz zu sein.
({9})
Die Urteile, die Ihre eigenen Parteifreunde über Sie getroffen haben, stammen eben nicht nur von Herrn
Kubicki und Herrn Hahn, sondern auch Herr Martin
Lindner und Herr Chatzimarkakis äußern eine ganz bestimmte Wertschätzung.
({10})
Und uns wundert schon, dass Sie als Außenminister zu
dieser Zurdispositionstellung Ihrer jetzigen Position in
der Bundesregierung kein Wort verlieren.
({11})
Herr Außenminister, es hätte ein gutes Jahr werden
können. Sie haben allerdings viele Chancen versäumt,
deutsche Abrüstungs- und Außenpolitik prominent zu
vertreten. Wo waren Ihre Initiativen beispielsweise im
Nahen Osten zur Vorbereitung der Konferenz 2012?
({12})
Wo waren Ihre Initiativen zur nachhaltigen zivilen Krisenprävention und -nachsorge in Nordafrika? Wo sind
Ihre konkreten Initiativen hinsichtlich des Dialogs mit
den Verbündeten als Reaktion auf das Nein zu einem
atomwaffenfreien Deutschland?
Chatzimarkakis und Martin Lindner haben als Antwort darauf, warum Sie, Herr Außenminister, im Amt
bleiben sollten, gesagt, keiner hat so viel über Menschenrechte geredet wie unser Außenminister. Ja, geredet haben Sie viel, aber umgesetzt haben Sie wenig und
noch weniger haben Sie Kurs gehalten.
Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Ihres Ministeriums für diesen Bericht. Aber von Ihnen
erwarten wir zumindest eine Erklärung für die erneute
Kehrtwende und eine Antwort auf die Frage, warum Sie
glauben, noch einmal durchstarten und der Außen- und
Sicherheitspolitik neues Profil geben zu können.
({13})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Stinner
das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, Sie haben in Ihren Reihen
mehrere Kolleginnen und Kollegen, die sich seit vielen
Jahren sehr ernsthaft mit dem Thema Abrüstung beDr. Rainer Stinner
schäftigen. Frau Zapf und Herr Mützenich werden von
uns sehr ernst genommen, und wir stehen mit ihnen sehr
gerne im Dialog, weil sie sehr profund an diesem Thema
arbeiten. Herr Steinmeier, trotzdem schickt Ihre Fraktion
heute diesen Redner in diese wichtige Debatte. Das ist
unsäglich
({0})
und zeigt uns, dass Ihre Fraktion, Herr Steinmeier, hier
und heute an dem Thema Abrüstung offensichtlich nicht
das geringste Interesse hat.
({1})
Sie schickten stattdessen den nordrhein-westfälischen
Generalsekretär Ihrer Partei ins Feld, der hier mit allgemeinen Äußerungen das Parlament sozusagen aufgemischt hat.
Sehr geehrter Herr Kollege Groschek, Sie haben versucht, sich an der Situation der FDP abzuarbeiten, die in
der Tat nicht besonders gut ist; das will ich gerne eingestehen. Wenn Sie schon über Parteien sprechen, dann
hätte ich erwartet, dass Sie über den Verlust von
10 Prozentpunkten Ihrer Partei in Rheinland-Pfalz gesprochen hätten und erklärt hätten, wie es dazu gekommen ist.
({2})
Das Thema Abrüstung liegt uns allen am Herzen.
Frau Zapf, ich weiß, dass das auch für Sie und für den
Kollegen Mützenich gilt. Wir wissen, wie sorgfältig Sie
dieses Thema behandeln. Die SPD kann zwar machen,
was sie will. Aber dass sie angesichts der schwierigen
internationalen Situation einen Vertreter in die Debatte
schickt, der eine solche Rede hält, ist erbärmlich angesichts der außenpolitischen und abrüstungspolitischen
Kompetenz Ihrer Partei.
Herzlichen Dank.
({3})
Jetzt erhält zur Erwiderung der Kollege Groschek
noch einmal das Wort. Dann wäre es ganz schön, wenn
wir wieder über Abrüstungsfragen reden könnten.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Stinner, ich greife Ihren Hinweis zu Rheinland-Pfalz gerne auf; denn Büchel
liegt in Rheinland-Pfalz. Es waren der jetzige Außenminister und die FDP, die immer vollmundig erklärt haben: Wir werden das atomwaffenfreie Deutschland
schaffen. - Dann folgte aber die Kehrtwende. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie erst vollmundig Ankündigungen
machen, sich aber dann zwergenhaft verhalten, wenn es
um die Umsetzung geht.
({0})
Das ist das Problem, das Ihr Außenminister und Ihre
Partei haben. Aber der Offenbarungseid der Freien Demokratischen Partei darf nicht zum Offenbarungseid
deutscher Außenpolitik werden. Diese Befürchtung haben wir allerdings.
({1})
Sie kennen Herrn Genscher wahrscheinlich besser als
ich.
({2})
Christian Lindner berichtete in den Gremien der FDP,
dass Herr Genscher die Implosion der FDP vor Augen
hat und der Meinung ist, es sei die schwierigste Situation
der FDP seit der Nachkriegszeit und man müsse Rösler
Zeit geben, den personellen Wechsel zu vollziehen. Was
heißt das denn? Das heißt doch, dass die Fraktionsvorsitzende, der Wirtschaftsminister und der Außenminister
ihre Ämter nur noch auf Abruf bekleiden. Das besorgt
uns; denn das ist nicht allein Privatsache der Freien Demokratischen Partei, sondern auch Sache der Bundespolitik, weil die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung
und des Parlamentes berührt wird.
({3})
Sie können gerne solche Ablenkungsmanöver starten.
Wir erwarten von Ihnen allerdings, dass Sie nicht nur
Ankündigungen machen, sondern Rede und Antwort stehen, wenn es um Ihre außenpolitische Bilanz und um
Ihre gescheiterten Ansätze in der Außenpolitik geht.
({4})
Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für ernsthafte Abrüstungspolitiker schon erstaunlich und in Teilen nicht nachvollziehbar, dass ein so wichtiges Thema
wie der Jahresabrüstungsbericht als Forum für Oppositionspolitik benutzt wird.
Selbst der Fraktionsvorsitzende der SPD hat die Enthaltung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen den Medien gegenüber und auch in den eigenen Reihen für gut geheißen. Ich möchte aber von
diesem Thema weg; denn es geht um etwas ganz anderes. Es geht um die Frage, wie sich unser Land in der
Abrüstung positioniert. Ich hätte mich sehr gefreut, Herr
Kollege Groschek, wenn Sie heute ein ganz wesentliches
Datum genannt hätten. Genau heute vor einem Jahr, am
8. April 2010, wurde der START-Vertrag von Obama
und Medwedew unterzeichnet. Am 6. Februar dieses
Jahres wurden die Ratifizierungsurkunden in Deutschland, nämlich bei der Münchner Sicherheitskonferenz,
ausgetauscht.
Wir haben im letzten Jahr auch erhebliche Bewegung
beim Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gehabt. Erstmals nach fünf Jahren haben sich alle Unterzeichnerstaaten auf ein Kommuniqué geeinigt. Für uns ist es, glaube
ich, auch wichtig, dass der KSE-Vertrag, der Vertrag
über konventionelle Streitkräfte in Europa, von 1990
endlich eine Wiederbelebung erfährt. Wir feiern in diesem Monat auch das 20-jährige Bestehen des Verifikationszentrums der Bundeswehr in Geilenkirchen. - So
weit zu den wirklichen Bollwerken und Bausteinen der
Abrüstungspolitik.
Damit wird eindeutig klar: Deutschland hat sich mit
aller Kraft und erfolgreich für Abrüstung eingesetzt. Zuletzt - Herr Außenminister Westerwelle hat es angesprochen - ist es uns gelungen, zu erreichen, dass Abrüstung
im NATO-strategischen Konzept ganz fest verankert ist,
und zwar sowohl im nuklearen Bereich als auch im konventionellen Bereich. Abrüstung gehört zum Fahrplan
der NATO. Das ist ein Novum nach über elf Jahren mit
dem alten Konzept.
Hinzu kommt, dass wir im NATO-Hauptquartier - ich
möchte das bewusst sachlich ansprechen - jetzt einen
Rüstungskontrollausschuss eingerichtet haben. Dieser
Rüstungskontrollausschuss ist Verdienst deutscher Außenpolitik. Dafür sind wir Ihnen, Herr Außenminister,
dankbar.
({0})
Ich denke, damit haben wir beste Voraussetzungen,
um unsere Abrüstungsbemühungen mit Russland noch
intensiver fortzusetzen. Bei Russland kommt es darauf
an, dass gerade im Bereich der Anpassung der konventionellen Abrüstung Einvernehmen mit den Konfliktparteien im Südkaukasus und auch in Transnistrien hergestellt wird. Wir als CDU/CSU fordern alle Parteien auf,
sich gemeinsam an die internationalen Verhandlungsregime zu halten. Dann erzielen wir auch die notwendigen
Fortschritte in der konventionellen Abrüstung, und das
ist überfällig.
({1})
Es ist keine Binse, dass Deutschland an der Spitze internationaler ernsthafter Abrüstungsbemühungen steht.
Aber gerade deshalb möchte ich einige grundsätzliche
Positionen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Abrüstungspolitik erläutern.
Abrüstungspolitik ist für uns ein Teil kluger und vorsorgender Sicherheitspolitik. Verantwortungsbewusste
Abrüstungspolitik hat das Ziel einer friedlicheren Welt
im Blick. Das geht nur mit einer effektiven Rüstungskontrolle. Abrüstung allein reicht nicht; die Abrüstung
muss auch kontrolliert werden. Aber was heißt „friedlicher“? Friedlicher heißt: weniger militärische Konflikte,
eine stärkere Abstützung auf zivile Krisenprävention,
wirksamere Krisennachsorge und natürlich eine glaubwürdige militärische Rückversicherung. Das müssen wir
auch bei der Bundeswehrreform im Blick haben. Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind die Geschwister von Abrüstung. Das sind Drillinge einer sicherheitspolitischen Familie.
Ferner gilt es - ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
Punkt -, die Mittel, die durch Abrüstung und Konversion
frei werden, möglichst in Bildungs-, Energieversorgungs- und Ernährungsprojekte zu investieren. Gerade
wir als Union haben uns in einer Anhörung sehr stark
dafür eingesetzt. Es geht uns darum, Konfliktpotenziale
abzubauen, zivile Krisenprävention zu stärken. Wir sehen in Nordafrika, wie wichtig es ist, auch die Zivilgesellschaft zu fördern. Das ist aber nur glaubwürdig,
wenn wir die Fakten kennen und die Wirklichkeit so akzeptieren, wie sie ist. Anerkennung der Wirklichkeit und
ein realpolitischer Umgang mit den Fakten, das ist unsere Position; denn Abrüstung ist harte Arbeit. Abrüstung ist ein wechselseitiger, auf Vertrauen basierender
Prozess, und dieses Vertrauen muss mühsam erarbeitet
werden.
Abrüstung ist für die CDU/CSU kein Selbstzweck.
Das bedeutet für uns, Abrüstung nicht nur realpolitisch
und wertegebunden zu sehen, sondern auch die Interessen unserer Außenpolitik deutlich anzusprechen. Für uns
heißt das: eine enge Abstimmung im Bündnis. Eine enge
Abstimmung bei Abrüstungsfragen ist ein sicherheitspolitisches Markenzeichen. Unser Land kann seine Ziele
nicht allein erreichen. Bündnissolidarität erleichtert unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit und gestaltet
unsere Politik wirksamer.
Bündnissolidarität ist der Schlüssel zum Erfolg. Das
schließt aber nicht aus, dass wir auch eigene deutsche Interessen verfolgen. Ich sage ganz bewusst: Das zeigt
auch das Beispiel Libyen. Wir wollten die Bombardierungen nicht. Jetzt sehen wir die Auswirkungen, nicht
nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Zivilgesellschaft. Was wir aber wollen, ist, humanitäre Hilfe zu
leisten und zu unterstützen. Deswegen stehen wir auch
dazu, dass EU-Battlegroups humanitäre Hilfe leisten.
({2})
Darum stehen wir bei allen notwendigen abrüstungspolitischen Schritten für eine enge Abstimmung in
NATO und EU. So haben wir uns bei der Ausarbeitung
des strategischen Konzepts und im konventionellen Bereich bei der Wiederbelebung des KSE-Vertrages erfolgreich eingebracht. Deshalb wollen wir noch viel stärker
Abrüstung als Instrument vorsorglicher Krisenprävention und aufmerksamer Krisennachsorge implementieren.
Auf unsere Anregung hin wird es deshalb im September eine gemeinsame Anhörung der beiden Unterausschüsse - dem für Abrüstung und dem für zivile
Krisenprävention - geben, und zwar mit dem Ziel der
Verifikation, das heißt, eine Form der Rüstungskontrolle
als Mittel der Krisenprävention zu untersuchen. Wir
wollen verklammerte Sicherheit, ganzheitliche Sicherheit. Deshalb ist es für uns wichtig, dass sich Abrüstung
auch bewerten lassen muss. Wir wollen ein Mehr an
Transparenz, ein Mehr an Vertrauen und Sicherheit. Nur
so schaffen wir auch ein Mehr an internationaler Stabilität.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil Sicherheit unteilbar bleibt, betone ich mit Nachdruck: Abrüstungspolitische Euphorie und blinder Aktionismus führen uns nicht zum Ziel. Es braucht geeignete Foren und
Verträge. Das hat im vergangenen Jahr die Nichtverbreitungskonferenz in New York ebenso gezeigt wie die Ratifizierung des START-Vertrages.
Für uns ist deshalb ein klarer Fahrplan wichtig. Wohin führt uns die weitere Reise? Für die weitere Abrüstung im nuklearen Bereich gilt es bei uns die sogenannten substrategischen Atomwaffen in den Fokus zu
nehmen. Diese Waffen werden gegenwärtig weder politisch noch militärisch benötigt. Da sind wir uns einig.
Sie sind durch verantwortungsvolle, bewusste Sicherheitspolitik, aber nicht durch rhetorische Erklärungen
überflüssig geworden. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger parteiübergreifender Sicherheitspolitik.
Allerdings stelle ich für meine Fraktion sehr deutlich
fest - und da bleiben wir auch fest -: Der Abzug dieser
Waffen, den wir in unserem fraktionsübergreifenden Antrag im letzten Jahr gefordert haben, muss abgestimmt
im Bündnis vorgenommen werden.
({3})
Wie wollen wir das machen? Das Ganze sollte mit einem
Dialog mit den Bündnispartnern vorbereitet werden.
Nächste Woche ist die Außenministerkonferenz hier in
Berlin. Wir müssen mehr Transparenz und Vertrauensbildung mit Russland schaffen. „New START“ war ohne
diesen Ansatz gar nicht denkbar. Diese Aufgabe ist lösbar. Ich denke, mit den weiteren Verhandlungen und mit
dem Rüstungskontrollausschuss sind wir dort auf dem
richtigen Weg.
Wesentlich wichtigere und schwierigere Herausforderungen gibt es im weiteren Umfeld Europas. Der Iran
verletzt weiterhin UN-Resolutionen mit der fortgesetzten Arbeit an seinem Nuklearprogramm und verweigert
sich der Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde. Deshalb setzen wir uns für eine möglichst gemeinsam mit Russland entwickelte Raketenabwehr ein, um unsere Sicherheit zu gewährleisten.
Nordkorea und Pakistan sind gleichfalls Staaten, deren Sicherheitspolitik wir nicht teilen. Es fehlt die völlige Bereitschaft dieser Staaten, an internationalen
Vertragswerken mitzuwirken. Sie sind weder bei Nichtverbreitung noch bei Teststopps konstruktiv. Nordkorea
muss die Bedingungen für die Wiederaufnahme des
Sechs-Parteien-Gesprächs erfüllen.
Ich möchte auch etwas zu Pakistan sagen, zumal
nächste Woche ein Besuch der deutsch-pakistanischen
Freundschaftsgruppe ansteht. Pakistan verweigert Fortschritte bei der Genfer Abrüstungskonferenz, insbesondere beim Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke. Wir werden das im Gespräch mit
unseren pakistanischen Freunden verdeutlichen. Auf einer Delegationsreise im Januar dieses Jahres haben wir
das Thema bereits intensiv angesprochen.
Bei den Parlamentariern in Pakistan stoßen wir auf
offene Ohren. Sie sind für uns der Schlüssel für mehr
Transparenz in diesem Bereich. Deshalb unterstützen
wir auch mit Nachdruck alle Bemühungen der Bundesregierung, sämtliche Hebel und Kanäle auf der diplomatischen Ebene zu nutzen, um Iran, Nordkorea und Pakistan zu angemessenem Verhalten zu bringen. Über Indien
werden wir nachher noch sprechen.
Der Abrüstungsbericht ist nicht nur umfangreich, er
ist ein hervorragendes Kompendium der sicherheitspolitischen Abrüstungsbemühungen weltweit und des Engagements unseres Landes. Es ist absolut erfreulich, dass
sich der Bericht auch mit neuen Herausforderungen beschäftigt, zum Beispiel mit der Frage der Sicherheit der
Informationstechnik, Stichwort „Cyber“. Hier mahnt die
Bundesregierung vertrauens- und sicherheitsbildende
Maßnahmen an. Gerade der Bereich der IT-Sicherheit
wird uns in den nächsten Jahren erheblich stärker beschäftigen, als wir das heute erahnen.
Wir können einen Beitrag leisten, indem wir im Bereich der Abrüstung intensiv mitwirken und bei der Bundeswehrreform dafür sorgen, dass die Bundeswehr über
glaubwürdige militärische Fähigkeiten verfügt. Das ist
die andere Seite der Medaille.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Abrüstungsdebatte und keine Debatte
über das Personal der FDP. Deshalb werde ich mich an
letzterer auch nicht beteiligen.
({0})
Der Tenor des Jahresabrüstungsberichts 2010 liest
sich wie der der vorangegangenen Jahresberichte: Danach hat die Bundesregierung eigentlich alles richtig gemacht, und Abrüstung wird im Grunde nur von Staaten
außerhalb der NATO gefordert. Das ist so was von einseitig, und das ist auch nicht akzeptabel.
Wenn man weltweit Abrüstung will, muss man selbst
vorbildlich vorangehen.
({1})
Stattdessen wird aus der Bundeswehr, die im Grundgesetz als Landesverteidigungsarmee konstruiert ist,
Schritt für Schritt eine Armee zur weltweiten Intervention gemacht. Sie machen aus einer Verteidigungsarmee
eine Kriegsarmee.
({2})
Das Problem ist, dass sich diesbezüglich Union, SPD,
FDP und Grüne einig sind. Die Einzigen, die dagegenstehen, ist die Fraktion der Linken.
({3})
Das, was Sie machen, ist nicht Abrüstung, sondern das
Gegenteil davon.
Sprechen wir ganz kurz über Libyen. Im Unterschied
zu den Grünen und anderen fanden wir es richtig, dass
sich die Bundesregierung zumindest enthalten hat; man
hätte im Sicherheitsrat auch mit Nein stimmen können.
Auf jeden Fall haben Sie gesagt: Deutsche Soldaten werden an diesem Krieg nicht beteiligt. - Aber nun schicken
Sie deutsche Soldaten nach Libyen, und zwar bewaffnete deutsche Soldaten. Das ist ein Widerspruch in sich
und nicht akzeptabel.
({4})
Ich weiß, Herr Trittin, Sie lachen da nur arrogant,
weil Sie schon immer für Kriege waren, auch in Bezug
auf Jugoslawien.
({5})
Ich sage Ihnen eines: Frieden mag schwieriger sein, aber
das ist ein viel besserer Weg, als Krieg zum Mittel der
Politik zu machen.
({6})
Man kann über Rüstung und Abrüstung nicht ernsthaft diskutieren, wenn man nicht gleichzeitig über Waffenexporte diskutiert. Ich finde, Deutschland hätte aus
dem Zweiten Weltkrieg diese Lehre ziehen müssen: Wir
machen nie wieder Geschäfte mit dem Krieg! Wir wollen nie wieder am Verkauf von Waffen verdienen! - Leider ist das Gegenteil realisiert worden: Deutschland ist
jetzt der drittgrößte Waffenexporteur der Erde. Ich bitte
Sie! Nur die USA und Russland verkaufen mehr Waffen
als Deutschland. Deutschland steht in der Rangliste vor
Großbritannien, vor Frankreich und vor China. Das ist
doch ein Skandal, mit dem man sich auseinandersetzen
muss!
({7})
Ein großes Ziel war auch die Eindämmung des Exports von Kleinwaffen. Fehlanzeige! Kleinwaffen aus
Deutschland werden in alle Regionen der Welt verkauft.
Es wurde sogar der Bau einer Produktionsanlage für Gewehre vom Typ G 36 in Saudi-Arabien genehmigt. Herr
Bundesaußenminister, international fordert die Bundesregierung die Markierung des Herkunftslandes auf allen
Waffen und auf jeder Munition. Das ist richtig. Aber warum werden Kleinwaffen und Munition in Deutschland
trotzdem nicht markiert? Warum dürfen wir nicht wissen, ob die Waffen und die Munition, die in irgendwelchen Kriegen eingesetzt werden, aus Deutschland sind
oder nicht? Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, das
durchzusetzen.
({8})
Wie Sie wissen, wurde ein Verbot von Streumunition
angestrebt. Auch Deutschland hat sich für Ausnahmeregeln für eigene Munitionstypen eingesetzt. Abgesehen
davon setzen Sie das Lagerverbot nicht durch. Denn die
US-Streitkräfte in Deutschland besitzen nach wie vor
Streumunition. Warum sagen Sie Herrn Obama oder
Frau Clinton nicht: „Das geht nicht. Es ist nicht hinnehmbar. Es ist aus Deutschland abzuziehen.“?
({9})
Kommen wir zu den Atomwaffen. Der Atomwaffensperrvertrag sieht auch die Abrüstung der damaligen
fünf Atommächte vor. Da das so gut wie gar nicht geschehen ist, haben wir jetzt acht Atommächte; denn neben den USA, Russland, China, Großbritannien und
Frankreich sind Israel, Indien und Pakistan hinzugekommen. Jetzt ruft Obama zur Abrüstung auf. Das ist okay.
Aber reale Schritte gibt es, siehe START-Abkommen, eigentlich nur zwischen den USA und Russland, und das
auch nur begrenzt. Die haben noch so viele überflüssige
Atomwaffen, dass sie diesbezüglich weitermachen könnten. Die anderen Länder unternehmen in dieser Frage
keine Schritte.
Obwohl auch Sie gesagt haben, Herr Bundesaußenminister, dass Sie dagegen sind, dass US-Atomwaffen in
Deutschland lagern, gibt es 20 Jahre nach Herstellung
der deutschen Einheit immer noch US-Atomwaffen in
Deutschland. Sorgen Sie doch einmal dafür, dass diese
abgezogen werden! Wir brauchen keine einzige davon.
({10})
Ich hatte vor vielen Jahren ein Erlebnis, das mich beeindruckt hat. Zu der Zeit, als Krieg gegen Jugoslawien
geführt wurde, war ich in Indien und habe mit dem damaligen Außenminister Singh gesprochen. Pflichtgemäß
habe ich ihm natürlich gesagt, dass ich mir Sorgen mache, dass auch Indien jetzt Atomwaffen hat. - Daraufhin
fragte er mich: Sagen Sie mal, waren Sie für oder gegen
den Jugoslawien-Krieg? - Da habe ich gesagt: Ich war
dagegen. - Darauf fragte er: Hatte Jugoslawien Atomwaffen? - Darauf antwortete ich: Nein. - Dann fragte er:
Glauben Sie im Ernst, Belgrad wäre bombardiert worden, wenn Jugoslawien Atomwaffen gehabt hätte? Das
ist meine Antwort. - Er sagte mir also: Man macht sich
durch den Besitz von Atomwaffen unangreifbar. - Deshalb gibt es nur eine Lösung: Die Atomwaffen weltweit
müssen vernichtet werden. Nur dann sind wir berechtigt,
weltweit zu verhindern, dass jemand eine Atomwaffe
herstellt.
({11})
Ansonsten werden wir das Problem mit Iran und mit
Nordkorea nicht los; denn es ist immer die gleiche Logik, die dort herrscht.
Lassen Sie mich etwas zur Nuclear Suppliers Group
sagen. Dieser gehören die Staaten, die Atomhandel betreiben, an. Der Atomwaffensperrvertrag verbietet
Atomhandel mit Ländern, die diesem Vertrag nicht beigetreten sind. Es muss - wie auch immer - die erste Ausnahme bei Israel gegeben haben, worüber so gut wie nie
diskutiert wurde. Jetzt hat es eine weitere Ausnahme bei
Indien gegeben; denn es gibt ein Abkommen zwischen
den USA und Indien über den Atomhandel. Das verletzt
den Atomwaffensperrvertrag. Nun hat auch China mit
Pakistan ein entsprechendes Abkommen geschlossen.
Dieses ist kritisiert worden, woraufhin China gesagt hat:
Aber wenn die USA das mit Indien dürfen, dann dürfen
wir das mit Pakistan. - So zieht ein Schritt der Verletzung eines Vertrages den nächsten nach sich.
Nun soll Indien Mitglied der Nuclear Suppliers Group
werden. Auch das ist vertragswidrig, weil ein Beitritt
von Ländern, die dem Atomwaffensperrvertrag nicht
beigetreten sind - die Ausnahme bilden die ursprünglichen fünf Staaten -, ausgeschlossen ist, und Indien ist ja
nicht beigetreten. Wenn wir hier die erste Ausnahme machen, werden weitere Ausnahmen folgen. Die ganze
Richtung ist falsch. Das ist kein Weg zur Abrüstung,
sondern eine Animierung zur Rüstung. Auf diesem Weg
müssen wir umkehren.
({12})
Zu den Rüstungsexportgenehmigungen; diese liegen
im Milliardenbereich. Hören Sie einmal gut zu. Im Jahre
1998 genehmigten Union und FDP in der Kohl-Regierung Rüstungsexporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro.
Unter der Regierung aus SPD und Grünen waren die
Zahlen erst einmal rückläufig. Aber schon im Jahre 2001
genehmigte die Regierung Rüstungsexporte im Wert von
7,5 Milliarden Euro. Von 2003 bis 2005 hat Rot-Grün,
genau wie die Kohl-Regierung, jährlich Rüstungsexporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro genehmigt.
Was war in dieser Frage der Unterschied zwischen den
beiden Regierungen? Es gab keinen. Danach regierten
Union und SPD. Sie haben zum Beispiel in einem Jahr
Rüstungsexporte im Wert von 8,7 Milliarden Euro erlaubt.
Der größte Anteil der Waffenexporte erfolgt in die
NATO oder an Länder wie Australien und Kanada; aber
niemals ist vereinbart worden, dass diese die Waffen
nicht weiterverkaufen dürfen. Wir wissen überhaupt
nicht, wo die Waffen letztlich landen. Darüber hinaus hat
der Anteil der sogenannten Drittstaaten, in die Rüstungsexporte stattfinden, ständig zugenommen. Nehmen wir
nur das Jahr 2009. In diesem Jahr wurden Waffenexporte
in Drittstaaten, davon zwei Drittel in den Nahen Osten,
im Umfang von 2,5 Milliarden Euro genehmigt. Aber
Waffenexporte in Spannungsgebiete und an Diktaturen
sind doch verboten. Wieso werden ständig Waffen an
Diktaturen und vor allen Dingen auch in Spannungsgebiete verkauft? Der ganze Nahe Osten ist ein Spannungsgebiet.
({13})
Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Waffenexporte
an Diktaturen und in Spannungsgebiete zwischen 2006
und 2009 nennen. Libyen - eine Diktatur - bekam Waffenexporte in Höhe von 83 Millionen Euro. Israel - es ist
selbstverständlich keine Diktatur, aber liegt in einem
Spannungsgebiet - bekam Waffenexporte im Umfang
von 106 Millionen Euro.
Andere Länder bekamen noch viel mehr Waffenexporte: Ägypten - eine Diktatur - im Werte von 144 Millionen Euro, Bahrain - eine Diktatur - im Werte von
184 Millionen Euro, Saudi-Arabien - eine feudal strukturierte Diktatur - im Werte von 441 Millionen Euro, die
Vereinigten Arabischen Emirate - eine Diktatur - im
Werte von 846 Millionen Euro. So werden Geschäfte gemacht. Sogar die Diktatur Syrien bekam Waffenexporte,
wenn auch nur im Werte von 550 000 Euro. Ich glaube,
schon 1 Euro ist zu viel.
({14})
Waffen werden auch geliefert an Indien, an Indonesien, an Malaysia, an Pakistan - das sind doch Spannungsgebiete, oder nicht? - und an Südkorea. Südkorea
ist nun wirklich ein Spannungsgebiet. Im Jahre 2008
wurden Waffenlieferungen an Südkorea im Wert von
1,9 Milliarden Euro genehmigt. Das war der höchste Betrag von allen.
Was könnte die Bundesregierung tun? Wofür sollten
wir streiten?
Ich sage erstens: Wir müssen sehr grundsätzlich darüber nachdenken, ob aus unserer Geschichte nicht die
Verpflichtung resultiert, zu sagen: Wir beteiligen uns
überhaupt nicht mehr an Waffenexporten. Wir verbieten
sie in Deutschland.
({15})
Wenn Sie das nicht wollen, wenn Sie also sagen, Waffenlieferungen innerhalb der NATO, an Kanada, Australien etc. seien notwendig, dann versuchen Sie doch
wenigstens, in Verträgen zu vereinbaren, dass ein Weiterverkauf dieser Waffen ausgeschlossen wird. Das wäre
doch das Mindeste, was man hinbekommen müsste.
Verbieten Sie wenigstens Waffenexporte an Drittstaaten, zumindest an Staaten in Spannungsgebieten - diese
müssten dann definiert werden, und zwar ganz eng - und
an Diktaturen! Nichts dergleichen geschieht. Wir benötigen endlich ein Ende der Waffenexporte in den Nahen
Osten. Das ist doch wohl das Mindeste, worauf man sich
hier verständigen könnte, wenn Sie unsere weitergehenden Forderungen schon nicht erfüllen.
({16})
Zweitens: atomare Abrüstung. Wir brauchen den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland, wir brauchen eine
Initiative für eine kernwaffenfreie Zone in ganz Europa,
und wir müssen eine Initiative für eine kernwaffenfreie
Zone im Nahen Osten unterstützen. Das betrifft nicht nur
Israel, sondern verhindert vor allem auch eine atomare
Aufrüstung im Iran.
Drittens. Nicht mehr benötigte Waffensysteme der
Bundeswehr müssen vernichtet und dürfen nicht weiter11814
gegeben und verkauft werden. Sie müssen endlich vernichtet werden.
({17})
Viertens. Die Lagerung von Streumunition in
Deutschland ist nicht zu dulden.
Fünftens. Endlich muss der Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa hier ratifiziert werden.
Sechstens. Wir brauchen keinen Ausbau der militärischen Kapazitäten in der EU. Mein Gott, Sie haben doch
die NATO! Warum reicht Ihnen das nicht? Warum muss
jetzt auch noch die EU militarisiert werden? Das ist
überhaupt nicht nachzuvollziehen.
({18})
Siebtens. Ich sage Ihnen, dass der Aufbau einer Raketenabwehr durch die USA in Tschechien und Polen
Russland völlig verunsichert. Auch hier wäre es erforderlich, dass die Bundesregierung ihre Stimme erhebt
und deutlich macht, dass dies kein Weg zur Abrüstung
ist.
Lassen Sie uns umkehren! Schluss mit den Geschäften mit Waffen, Schluss mit Kriegen! Lassen Sie
Deutschland einen anderen Weg gehen!
({19})
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstungspolitik muss ein Grundpfeiler deutscher Außenpolitik sein.
({0})
Denn weniger Rüstung und mehr vertrauensbildende
Rüstungskontrolle bedeuten mehr Frieden und Sicherheit für alle.
({1})
Herr Minister Westerwelle, Sie betonen hier im Bundestag immer wieder, wie wichtig Ihnen Abrüstung ist.
Das klingt gut. Sie hätten uns Grüne und wahrscheinlich
das ganze Parlament an Ihrer Seite, wenn Sie Ihre Versprechen wahrmachen würden. Sie ziehen aber immer
mit großen Worten davon und kommen dann mit leeren
Händen wieder.
Ihre Außenpolitik lässt eine klare Linie vermissen. Ihr
Zickzackkurs in Bezug auf Libyen ist dafür wieder einmal bezeichnend.
Zuerst sagten Sie generell Nein zu einem militärischen Einsatz in Libyen.
({2})
Dann sagten Sie, dass Sie sich auch nicht am Waffenembargo beteiligen und die deutschen Schiffe abziehen.
Jetzt sagen Sie: Bei EUFOR Libya sind wir mit dabei. Man hat das Gefühl, Ihnen fehlt der Kompass und Sie
werfen eine Münze, wenn es darum geht, zu entscheiden, an welchem Einsatz man sich beteiligt und an welchem nicht. Es gibt kein Wertefundament, keine Begründungen und keine einheitliche Linie.
({3})
Abrüstungspolitik funktioniert nur dann, wenn sie
umfassend, konsequent und ehrlich ist. Ihre Abrüstungspolitik ist in zentralen Punkten reduziert, inkonsequent
und halbherzig. Gegenüber grundlegenden Zusammenhängen scheinen Sie oftmals blind zu sein. Sie denken
nicht zusammen, was zusammengehört. Das hat schwerwiegende Folgen, wie ich Ihnen mit Blick auf mehrere
Bereiche aufzeigen möchte.
Bei der Umsetzung von internationalen Abrüstungsverträgen ist es geboten, umfassende Maßnahmen zu
treffen, um geächtete Waffen effektiv aus dem Verkehr
zu ziehen. Mit dem Inkrafttreten des Abkommens zum
Verbot von Antipersonenminen und des Übereinkommens über Streumunition wurden für die weltweite Ächtung dieser barbarischen Waffen wichtige Fortschritte
erzielt.
Trotz dieser großen Erfolge werden diese Waffen jedoch weiter in vielen Ländern produziert und eingesetzt.
Sie töten und verstümmeln Menschen auf grausame
Weise und treffen vor allem die Zivilbevölkerung. Viele
Unterzeichnerstaaten haben diese Verträge leider noch
nicht ratifiziert, Deutschland zum Glück schon.
Aber mit Halbherzigkeit ist ein umfassendes Verbot
von Landminen und Streumunition nicht zu verwirklichen. Und um effektiv und konsequent den Einsatz, die
Lagerung, die Herstellung, die Entwicklung und den
Handel dieser Waffen zu verhindern, muss in allen relevanten Bereichen dafür Sorge getragen werden, dass das
Verbot dieser Waffen nicht untergraben wird.
Zu einem universellen und wirksamen Verbot gehört
deshalb zwingend auch das Verbot von Investitionen in
Unternehmen, die diese grausamen Waffen herstellen.
({4})
Doch in Deutschland darf weiterhin munter in die Produktion dieser barbarischen Waffen investiert werden.
Wer zum Beispiel in Deutschland eine Riester-Rente hat,
muss damit rechnen, dass das angelegte Geld in Streumunition investiert wird. Denn die Produkte der staatlich
geförderten privaten Altersvorsorge werden überhaupt
nicht daraufhin überprüft, ob ethische Mindeststandards
eingehalten werden. Die Bundesregierung scheint es gar
nicht zu interessieren, ob mit Steuergeldern Unternehmen unterstützt werden, die diese geächteten Waffen
herstellen und entwickeln. Dadurch wird das Verbot von
Antipersonenminen und Streumunition zugunsten der
wirtschaftlichen Interessen der Rüstungsindustrie und
des Finanzsektors ausgehöhlt.
Herr Minister, hier ist kein Herz für Banken und Investmentfonds gefragt, sondern ein beherztes Eintreten
für ein Investitionsverbot in Unternehmen, die völkerrechtswidrige Waffen entwickeln und herstellen.
({5})
Deutschland sollte dem Beispiel Belgiens, Luxemburgs,
Norwegens oder Neuseelands folgen und diese Investitionen generell gesetzlich untersagen. Denn zu einem
Verbot des Einsatzes und der Produktion gehört unweigerlich auch ein Verbot, damit Profit zu machen. Beides
muss zusammengedacht werden.
({6})
Deshalb legen wir Grüne heute einen Antrag für ein
umfassendes Investitionsverbot in Streumunition und
Landminen vor. Wir laden heute auch alle Fraktionen zur
Zusammenarbeit ein, um endlich Investitionen in diese
Waffen gesetzlich zu verbieten und die steuerliche Förderung zu beenden.
({7})
- Ja, alle.
Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr stand
die nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung an oberster Stelle auf der abrüstungspolitischen Agenda. Im Koalitionsvertrag wurde vollmundig versprochen, dass sich
die Bundesregierung für den Abzug der in Deutschland
stationierten amerikanischen Atomwaffen einsetzt. Die
breite Mehrheit dieses Hauses hat bei der Debatte zum
Jahresabrüstungsbericht im vergangenen Jahr mit einem
historischen Antrag, der von CDU/CSU, SPD, FDP und
uns Grünen gemeinsam erarbeitet wurde, die Bundesregierung dazu aufgefordert, dieses Versprechen auch einzulösen.
Herr Minister, ich darf Sie daran erinnern: Dieser Beschluss des Bundestages ist keine unverbindliche Handlungsempfehlung. Wir sind in dieser Frage aber leider
keinen Schritt weitergekommen. Innerhalb der NATO
konnte die Bundesregierung keine nennenswerten abrüstungspolitischen Erfolge erzielen. Sie sind daran gescheitert, die Reduzierung der US-Atomwaffen in Europa im neuen strategischen Konzept der Allianz zu
verankern.
Stattdessen weitet die Bundesregierung ihre Verzögerungstaktik aus und koppelt die Frage des Abzugs der
US-Atomwaffen aus Deutschland an Zugeständnisse
Russlands im substrategischen Bereich. Damit verschieben Sie den Abzug der US-Atomwaffen absichtlich auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag. Diese kurzsichtige Politik
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({8})
Wirkliche Fortschritte werden wir außerdem nur
schaffen, wenn wir atomare Abrüstung und den Atomausstieg zusammendenken. Denn es gibt einen höchst
problematischen Zusammenhang zwischen atomarer
Aufrüstung und der zunehmenden Ausbreitung der zivilen Nutzung von Atomenergie. Wer davor die Augen
verschließt, denkt eben nicht zu Ende und nicht an das
Ganze. Durch die zivile Nutzung erwerben immer mehr
Staaten die Fähigkeit zum Aufbau militärischer Nuklearprogramme. Wir alle wissen: Die Nutzung der Atomkraft ist mit unverantwortlichen ökologischen und sicherheitspolitischen Risiken verbunden. Die furchtbare
Katastrophe in Fukushima fordert auch international ein
fundamentales Umdenken.
Allerdings unterliegen noch immer viele Entwicklungsländer und aufstrebende Staaten dem Irrglauben,
Atomenergie sei das Wundermittel für eine sichere Energieversorgung. Dafür sind auch die Atommächte verantwortlich, die jahrelang, statt ihren Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen, allen Nichtkernwaffenstaaten
die zivile Nutzung schmackhaft gemacht haben. Dieser
Trend muss dringend aufgehalten werden.
({9})
Deutschland muss nicht nur schnellstmöglich aus der
Atomenergie aussteigen, sondern auch weltweit dafür
werben. Schwarz-Gelb stellt sich hier blind und hält an
der fahrlässigen Förderung deutscher Atomexporte fest.
Mit Blick auf Indien, das wie kaum ein anderes Land
Atomkraftwerke aus dem Boden stampfen will und als
Absatzmarkt für die deutsche Industrie lockt, scheinen
Sie sogar bereit, alle sicherheitspolitischen Bedenken
über Bord zu werfen. Die Brückentechnologie-Kanzlerin
selbst befürwortet den nukleartechnologischen Brückenschlag zum Atomwaffenstaat Indien. Dabei erlaubt das
nukleare Nichtverbreitungsregime den Handel von
Nukleartechnologie und Nuklearmaterial nur unter sehr
strengen Auflagen.
Deutschland ist Mitglied der Gruppe der nuklearen
Lieferstaaten, der sogenannten Nuclear Suppliers Group,
und hat hier, wie jedes andere Mitglied, ein Vetorecht.
Schon im September 2008 haben die Lieferstaaten unter
deutschem Vorsitz die fatale Entscheidung getroffen, für
den Nuklearhandel mit Indien eine Ausnahme zu machen. Das haben damals nicht nur wir Grüne, sondern
auch die FDP zu Recht sehr scharf kritisiert.
Heute ist sogar im Gespräch, Indien in die Nuclear
Suppliers Group aufzunehmen und damit den nuklearen
Dammbruch endgültig zu besiegeln. Auf unsere Frage
hin, wie man zur Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group steht, windet sich die Bundesregierung heraus. Ich fordere Sie auf, hier endlich Farbe zu bekennen!
Wenn Sie mit einem Veto nicht Nein zur Aufnahme
von Indien sagen, dann sagen Sie Ja zu einem verstärkten Handel von Nukleartechnologie mit einem Staat, der
nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrages ist und
dessen Atomanlagen nicht unter dauerhafter Aussicht
der Internationalen Atomenergie-Organisation stehen.
Wenn Sie nicht Nein zur Aufnahme Indiens in die Nu11816
clear Suppliers Group sagen, dann bleibt auch all Ihre
Freude über den Erfolg der Überprüfungskonferenz zum
Atomwaffensperrvertrag im letzten Jahr letztendlich einfach nur scheinheilig. Die Bundesregierung ist dann
auch verantwortlich dafür, dass der Atomwaffensperrvertrag komplett ausgehebelt wird.
Mit unserem zweiten grünen Antrag, den wir heute
hier vorlegen, erteilen wir deshalb dem Nuklearhandel
mit Indien eine entschiedene Absage und stellen uns gegen diese auf kurzsichtigen Profit ausgerichtete Politik.
Angesichts der enormen ökologischen und sicherheitspolitischen Risiken gibt es für uns nur eine Lösung: den
Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland schnellstmöglich zu vollziehen und international voranzutreiben.
Als eines der technologisch fortschrittlichsten Länder
kann Deutschland bei dieser Überzeugungsarbeit eine
sehr wichtige Rolle spielen, wenn es selbst zügig und
konsequent aus der Atomenergie aussteigt.
({10})
Ein grundsätzliches Umdenken hinsichtlich der weltweiten Energieversorgung anzustoßen und andere Länder
durch alternative und ökologische Energiegewinnung in
ihrem Streben nach Energiesicherheit zu unterstützen das könnte der wertvollste Beitrag Deutschlands zu einer
atomwaffenfreien Welt sein.
({11})
Zusammendenken, was zusammengehört! Ich empfehle Ihnen, sowohl in der Energiepolitik als auch in der
Abrüstungspolitik die Denkblockaden zu durchbrechen.
Falls Sie dazu Denkanstöße brauchen: In beiden Fällen
sind Sie bei uns, wie immer, gut beraten.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält nur der Kollege Christoph Schnurr
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Groschek, zu Beginn meiner Rede möchte ich
auf Sie eingehen.
Erstens. Sie haben gesagt, der Auftritt des Bundesministers sei knapp gewesen. Der Bundesaußenminister
Westerwelle hat sieben Minuten gesprochen. Sechs Minuten stehen mir zu. Wir in der FDP-Fraktion lassen
eben nicht nur die Minister sprechen, sondern halten es
auch für notwendig, dass die Abgeordneten an dieser
sehr wichtigen Diskussion teilnehmen. Deswegen kam
es bei uns zu einer Splittung der Redezeit. Sie machen
das in der SPD-Fraktion vielleicht anders.
Zweitens. Sie haben zu Libyen gesprochen. Lieber
Herr Kollege Groschek, ich glaube, über Libyen wurde
oft und ausreichend diskutiert.
({0})
Das wird die Außen- und Sicherheitspolitik natürlich
weiter begleiten, und wir werden in diesem Hohen
Hause auch weiter über diese Entscheidung und über
weitere Entscheidungen diskutieren.
Mich würde aber interessieren, was eigentlich die
Position der SPD-Fraktion ist.
({1})
Als wir in der letzten Diskussion über Libyen gesprochen und hier im Hohen Hause über das Mandat abgestimmt haben, wurde auch auf mehrfache Nachfrage der
FDP-Fraktion hin nicht deutlich, welche Position die
SPD vertritt. Vielleicht können Sie das nachher noch
aufklären.
Der dritte Punkt ist: Guido Westerwelle spricht nicht
als Parteivorsitzender, sondern als Außenminister.
({2})
Das sollte auch Ihnen bekannt sein. Von daher ist es richtig, dass er diese Rede gehalten hat.
Frau Malczak, Sie haben gesagt, dass die Außenpolitik der Regierung in der Libyen-Frage keine klare Linie
hat. Ich frage mich, ob die Politik und die Äußerungen
der Grünen zu Libyen und Afghanistan eine klare Linie
haben, wenn Ihre Fraktion teilweise zustimmt, sich enthält oder mit Nein stimmt.
Ich glaube, dass wir solche wichtigen Themen durchaus diskutieren können, aber heute steht ein anderer
wichtiger Punkt auf der Tagesordnung, nämlich der Jahresabrüstungsbericht. In den vergangenen Jahren gab es
in diesem Zusammenhang nicht immer nur Positives zu
berichten. Vor allem der Nichtverbreitungsvertrag, der
wichtigste internationale Vertrag über die nukleare Abrüstung, war unter Druck. Dazu beigetragen haben die
Tatsache, dass Proliferationsfälle bekannt wurden, die
Atomtests Nordkoreas und auch die gescheiterte Überprüfungskonferenz 2005.
Heute können wir sagen: Der schleichende Erosionsprozess des NVV ist vorerst gestoppt. Schon deshalb
war das Jahr 2010 ein gutes Jahr für die Abrüstung. Zwei
Entwicklungen haben dazu maßgeblich beigetragen: der
Abschluss und die Ratifizierung des New-START-Abkommens und der Erfolg der Überprüfungskonferenz.
Vor einem Jahr hat Außenminister Westerwelle an
dieser Stelle zur Überprüfungskonferenz gesagt: Wir
wollen einen konkreten Aktionsplan. - Genauso ist es
gekommen. Ich denke, wir können sehr zufrieden damit
sein, was die Bundesregierung und unser Außenminister
Westerwelle geleistet haben. Ein positives Signal ist
auch, dass die Gründung der Gruppe der „Freunde des
NVV“ erfolgt ist und wir uns aktiv beteiligen.
({3})
Der NVV wird auch durch den New-START-Vertrag
gestärkt. Er ist ein deutliches Signal dafür, dass die Staaten, die über 90 Prozent aller Kernwaffen besitzen, ihren
Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag nachkommen.
Auch die NATO kann und sollte Verantwortung übernehmen. Vor dem Gipfel in Lissabon gab es unterschiedliche Stimmen, die den Standpunkt vertreten haben, die
NATO sei kein Abrüstungsgremium; deshalb solle man
keine Abrüstungsthemen in der NATO diskutieren. Ich
denke, die NATO ist ein Instrument der transatlantischen
kooperativen Sicherheit. Abrüstung und Rüstungskontrolle tragen wesentlich zu mehr Sicherheit bei. Deshalb
sollte auch in der NATO Raum für dieses Thema sein.
Die ersten Schritte sind schon getan, und die Bundesregierung hat einen maßgeblichen Anteil daran. Vielen
Dank!
({4})
Die NATO hat sich in ihrem neuen Strategischen
Konzept verpflichtet, die Voraussetzungen für eine Welt
ohne Atomwaffen zu schaffen. Außerdem soll sich ein
Kontrollausschuss mit abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Themen beschäftigen. Die Einrichtung dieses Ausschusses ist ein wichtiger und richtiger Schritt in
die Zukunft.
Es muss aber auch in anderen Fragen weitergehen. Es
geht zum Beispiel um den Abzug der substrategischen
Nuklearwaffen aus Europa. Dazu gab es auch einen
Antrag. Wir haben das nicht nur im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, sondern wir stehen auch dazu und diskutieren darüber. Die Koalition verfolgt dieses Ziel konsequent.
Es ist erstaunlich, dass Sie heute so tun, als ob RotGrün nie in der Regierungsverantwortung gewesen
wäre. Elf Jahre waren es bei der SPD, sieben Jahre bei
den Grünen. Sie haben es nicht geschafft. Das mache ich
Ihnen nicht zum Vorwurf. Wichtig ist nur, dass wir gemeinsam an diesem Ziel weiterarbeiten. Umso mehr
freut es mich persönlich, wenn eine große Mehrheit in
diesem Haus die Bundesregierung in diesem konkreten
Punkt unterstützt.
Es geht auch um die Rolle der Atomwaffen in der Militärdoktrin. Hier muss sich die NATO mindestens am
Nuclear Posture Review der US-Regierung aus dem letzten Jahr orientieren.
Eine Gefahr für unsere kollektive Sicherheit geht aber
nicht nur von der reinen Zahl der Kernwaffen aus. Eine
große, vielleicht sogar noch größere Gefahr geht von der
Proliferation von Kernwaffen aus.
Große Sorge sollte uns auch der latente Konflikt zwischen Pakistan und Indien machen. Die Geschwindigkeit
der nuklearen Aufrüstung in dieser Region ist jedenfalls
beängstigend.
Das vergangene Jahr hat uns gezeigt: Wer Fortschritte
bei der nuklearen Abrüstung will, muss auch die konventionelle Abrüstung vorantreiben. Das wird beim
New-START-Folgeprozess offensichtlich. Russland hat
deutlich gemacht, dass der gerade geschlossene Vertrag
und erst recht ein weiteres Abkommen eng mit dem
Aufbau einer amerikanischen bzw. transatlantischen Raketenabwehr verknüpft ist. Auch die Einbeziehung von
substrategischen Nuklearwaffen in einen START-Folgeprozess wird wohl nur möglich sein, wenn man auch die
konventionellen Kräfte einbezieht.
Eine weitere wichtige Wegmarke des letzten Jahres
war das Inkrafttreten des Übereinkommens über Streumunition und die erste Vertragsstaatenkonferenz dazu in
Laos. Die Bundesrepublik hat bei der Aushandlung des
Abkommens in Oslo eine wichtige Rolle gespielt. Auch
deshalb kommt Deutschland eine besondere Verantwortung zu, wenn es darum geht, die großen Streumunitionsbesitzer an das Übereinkommen heranzuführen.
Bei allen Dingen, die den Bundestag teilweise schon
seit Jahrzehnten beschäftigen, sollten wir neue Entwicklungen nicht vernachlässigen. Als Beispiel will ich die
Gefahren durch Cyberangriffe nennen. 2010 hat uns
Stuxnet aus dem informationstechnischen Dornröschenschlaf gerissen. Alle Experten sind sich einig, dass die
herkömmlichen Methoden der Rüstungskontrolle hier
nicht greifen. Deshalb brauchen wir neue Ideen. Einige
Vorschläge liegen auf dem Tisch, zum Beispiel zu vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen. Die
Bundeskanzlerin hat angekündigt, dass die Bundesregierung eine internationale Konvention zum Verhalten im
Cyberspace anstrebt. Das könnte ein erster Schritt sein.
In jedem Fall sollten wir versuchen, eine Aufrüstungsspirale in diesem Bereich zu verhindern.
In jedem Fall lässt sich eines sagen: Wir sind unterwegs in die richtige Richtung. In diesem Jahr muss es
unsere Aufgabe sein, das Rad am Laufen zu halten, das
der amerikanische Präsident mit seiner Prager Rede in
Schwung gebracht hat.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Uta Zapf hat nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es
ist guter Brauch, dass wir uns in einer Debatte über den
Jahresabrüstungsbericht zuerst für die gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt in diesem Bereich bedanken,
({0})
aber auch für die gute Zusammenarbeit, die wir im zuständigen Fachausschuss miteinander pflegen. Wir danken auch für den Jahresabrüstungsbericht, der ein wertvolles Kompendium für alle ist, die sich in Bezug auf
Abrüstung und Rüstungskontrolle orientieren wollen.
({1})
Es wurde bereits mehrfach gefragt: Ist 2010 ein gutes
Jahr gewesen? Ich habe mir hier ein Fragezeichen notiert. 2010 war sowohl ein gutes Jahr als auch ein Jahr,
das sehr viele Fragen aufgeworfen hat. Ich möchte das
an der Nuklearfrage deutlich machen. Wir hatten 2008
und in der Folgezeit große Hoffnungen, als sich Obama
insbesondere in seiner Prager Rede für eine Welt ohne
Kernwaffen eingesetzt hat. Dies hat große Zustimmung
gefunden, auch bei denen, die früher in der Verantwortung waren. Entsprechende Artikel wurden veröffentlicht. Es haben sich Initiativen gebildet. Wir hatten die
große Hoffnung, dass dies der NATO einen Schub geben
würde.
Wir haben mit New START einen ersten positiven Erfolg erzielt; darüber freue ich mich sehr. Da gibt es
nichts zu meckern. Aber die Tatsache, dass wir beim
NATO-Konzept unserem Ziel, eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen, kein Stück nähergekommen sind, bereitet mir große Sorgen, lieber Herr Außenminister. Ich bin
enttäuscht darüber, dass die Bundesregierung mit
Hinweis auf die Solidarität einen Rückzieher bei den
substrategischen Waffen gemacht hat; darauf komme ich
gleich noch einmal zu sprechen. Zudem wird aus meiner
Sicht die Bedeutung der Nuklearwaffen im NATO-Konzept nicht verringert. Es gibt weiterhin einen Mix aus
konventionellen und nuklearen Elementen. Die nukleare
Abschreckung besteht fort. Ich sehe keine Verringerung
der Bedeutung der Nuklearwaffen. Wir konstatieren genauso wie die Amerikaner in der Nuclear Posture
Review: Solange es Nuklearwaffen auf der Welt gibt,
brauchen wir eine starke Abschreckung. - Ich glaube,
dass die NATO nicht auf Nuklearwaffen zur Abschreckung angewiesen ist. Vielmehr gibt es andere Hebel
und Möglichkeiten. Wir müssen zuerst einmal feststellen, welche Aufgaben wir innerhalb der NATO eigentlich haben, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
überhaupt noch eine nukleare Abschreckung nötig machen. Also: Büchel bleibt. Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die noch einmal angegangen werden muss.
Frau Malczak hat schon darauf hingewiesen: Wir haben im März 2010 in diesem Haus einen gemeinsamen
Antrag - weitestgehend auf der Grundlage eines SPDEntwurfs - beschlossen. Mit diesem Antrag haben wir
der Bundesregierung gemeinsam umfangreiche Aufträge
gegeben. Herr Präsident, Sie betonen ja immer die wichtige Rolle der Parlamente. Ich bin enttäuscht, dass diese
Regierung einen Teil der darin ausgesprochenen Aufträge an die Bundesregierung nicht erfüllt hat.
({2})
Zum einen geht es um die substrategischen Waffen,
die, denke ich, als Nächste an der Reihe sind. In einer
Untersuchung von Pax Christi in den Niederlanden
wurde der Frage nachgegangen, wie die 27 NATO-Staaten zu diesen Nuklearwaffen im Rahmen der NATO stehen. Es erweist sich, dass gerade einmal drei Staaten an
diesen Waffen festhalten wollen. Nicht überraschend ist,
dass einer der Staaten Frankreich ist. Aber dessen Nuklearwaffen sind ja von der nuklearen Integration der
NATO überhaupt nicht betroffen. Ich denke also, dass
man hier offensiver vorgehen kann, und wünsche mir,
dass die Bundesregierung das in der Folge auch tut. Ich
glaube nicht, dass es notwendig ist, zu sagen: Wir brauchen diese Waffen in Europa als Unterpfand, wenn wir
in Verhandlungen mit den Russen über deren taktische
Nuklearwaffen eintreten. - Die Russen haben ganz deutlich zur Bedingung gemacht, dass die Waffen der USA
von fremder Erde abgezogen werden. Wir haben also in
den Folgeverhandlungen, die die Amerikaner schon angekündigt haben und die diese taktischen Waffen thematisch beinhalten werden, die Möglichkeit, auf den Abzug
zu dringen. Ich denke, das sollte unbedingt erfolgen.
Das Ganze steht natürlich auch im Zusammenhang
mit der angekündigten Defence and Deterrence Posture
Review der NATO. Wir sollen also innerhalb der NATO
analysieren, wie wir uns in Bezug auf Abschreckung und
Verteidigung aufstellen. Das ist eine umfangreiche Aufgabe. Leider sehe ich nicht, dass diese Bundesregierung
eine Vorstellung davon hat, wie das aussehen soll. Meines Erachtens sollte das Konzept ohne Nuklearwaffen
auskommen. Meines Erachtens könnte, wie Kollege
Kiesewetter gesagt hat, eine zivile Komponente, die ja
auch Bestandteil der Strategie ist, enthalten sein, um militärische Mittel eben erst als letzte Möglichkeit einsetzen zu müssen.
Es gibt einen Arbeitsplan dafür. Danach sollen bis
September 2011 die Terms of Reference aufgestellt werden, die darstellen, worüber wir in dieser Posture
Review, bei der Aufstellung der NATO überhaupt reden.
Ich denke, das sollte in einer transparenten Art und
Weise geschehen, wie dies auch zu Beginn bei der Formulierung der NATO-Strategie der Fall war. Ich sehe das
aber bisher nicht und fordere die Regierung daher auf,
uns mitzuteilen, wie sie diese Entwicklung sieht.
Das Zweite ist - das ist etwas sehr Positives -, dass
jetzt der Ausschuss für Rüstungskontrolle und Abrüstung eingesetzt worden ist. Das geschah im Übrigen auf
eine Initiative von Frank-Walter Steinmeier als Außenminister. Es hat lange gedauert, bis das in der NATO überhaupt angekommen ist. Der Vorgänger von Rasmussen
hat ja noch gesagt, das Thema Abrüstung habe mit der
NATO überhaupt nichts zu tun. Ich finde deshalb, die
Einsetzung dieses Ausschusses ist schon sehr erfreulich.
Das muss aber mit Leben erfüllt werden. Was soll dieser
Ausschuss überhaupt machen? Wer sitzt in diesem Ausschuss? Welches Programm haben sie? Wie wird das
kommuniziert? Werden die Russen einbezogen? Das
wäre ja ein ganz wichtiger Bestandteil der Agenda für
diese Arbeitsgruppe. Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Ich begrüße es, dass wir auf der Review-Konferenz
einen breiten Konsens gefunden haben, wozu sicherlich
auch beigetragen hat, dass die amerikanische Regierung
eine völlig andere Position eingenommen hat.
Wir haben uns in unserem gemeinsamen Antrag dafür
ausgesprochen, dass sich diese Regierung proaktiv an
der Diskussion über Ansätze für eine Welt ohne Nuklearwaffen beteiligt und sich für eine Konvention zur
Ächtung der Atomwaffen einsetzt. Der Entwurf einer
solchen Konvention liegt auf dem Tisch. Darüber wird in
der VN-Generalversammlung in regelmäßigen Abständen abgestimmt. Die deutsche Regierung hat immer dagegen gestimmt. Auch diesmal, nach der gemeinsamen
Entschließung dieses Parlaments, hat sie dagegen gestimmt. Ich halte das nicht für richtig, Herr Außenminister.
({3})
Das Parlament hat beschlossen, dass das ein vernünftiger
Weg ist. Deshalb hätten Sie zustimmen müssen. Noch
viel besser wäre es, sich dem anzuschließen, was Ban
Ki-moon erbittet: dass dafür gesorgt wird, dass eine
Gruppe die Rahmenbedingungen beraten kann.
Herr Außenminister, Sie haben im Zusammenhang
mit CTBT, also mit dem Vertrag über ein Verbot der Erprobung von Nuklearwaffen, von Indien gesprochen. Sie
haben gesagt, Sie wollen Indien an den Nichtverbreitungsvertrag heranführen. Das ist zwar ein sehr begrüßenswertes Unternehmen; nur das allein genügt nicht.
Wir müssen Pakistan und auch Israel ins Boot holen.
Ohne Israel wird es nicht gelingen - auch Sie engagieren
sich dafür, jedenfalls nach Ihrer Aussage -, eine nuklearwaffenfreie Zone im Nahen Osten zu schaffen. Wo bleibt
das EU-Expertenseminar zu einer solchen nuklearwaffenfreien Zone, das 2011 eingerichtet werden soll? Ich
glaube, dass es trotz der veränderten Rahmenbedingungen in Nordafrika wichtig ist, dieses Ziel nicht aus den
Augen zu verlieren.
({4})
Frau Kollegin Zapf!
Ich komme zum Schluss. - Wenn nichts passiert, dann
wird die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag genauso ein Desaster wie die Überprüfungskonferenz im Jahre 2005 sein. Wir und auch Sie,
Herr Außenminister, sind in der Pflicht, das zu verhindern.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Erich Fritz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Gysi, Sie haben hier wieder rhetorische Plakate aufgehängt. Am Beitrag der Kollegin Zapf
konnten Sie sehen, wie man mit diesem Thema angemessen umgeht.
({0})
Hier handelt es sich tatsächlich um eine Baustelle, an
der man hart, konsequent und dauerhaft arbeiten muss.
Wirkliche Fortschritte werden weder durch ein deutsches Gesetz noch durch einen Willensakt aus dem
Deutschen Bundestag oder der deutschen Bundesregierung erzielt, sondern nur durch konsequente Arbeit.
Liest man diesen Abrüstungsbericht, stellt man fest:
Herr Steinmeier als Außenminister hätte sich gefreut,
wenn er so etwas in einen solchen Bericht hätte schreiben können.
({1})
- Nein, keine Luftblasen. - Im Unterschied zu früher
enthält dieser Bericht keine Regierungsprosa mehr, sondern beschreibt konkrete Fortschritte, konkrete Maßnahmen. Er zeigt, dass weitergearbeitet wird und dass man
vorankommt.
Nehmen wir die Umsetzung des Ottawa-Abkommens.
Auch wenn sie mit Verzögerungen und anderen Schwierigkeiten einhergeht, zeigt sich, dass konkret etwas passiert. Ich sehe keinen Grund, dem ehemaligen Außenminister Vorwürfe zu machen. Die Umsetzung dieses
Abkommens braucht seine Zeit; denn es bedarf bestimmter Konstellationen. Nur in einer bestimmten historischen internationalen Situation, kann man weiterkommen.
({2})
- Ja. Aber auch in dieser Hinsicht ändern sich Situationen und gibt es neue Ansatzpunkte und Überlegungen.
Ich finde es ausgesprochen bedauerlich und in der Sache nicht förderlich, wenn es mit Blick auf die Erreichung politischer Ziele, über deren Richtigkeit sich die
Republik im Prinzip einig ist - was die Instrumente angeht, sind die Auffassungen logischerweise kontrovers -,
nicht möglich ist, einmal eine Debatte ohne populistische Ausfälle wie die zu führen, die sich Herr Groschek
hier heute leider geleistet hat. Willy Brandt hätte sich,
wenn er hier gesessen hätte, für Ihre Rede heute Morgen
geschämt.
({3})
Warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, sich
gemeinsam darüber zu freuen, dass wir an konsensfähigen Zielen gemeinsam arbeiten? Warum sollte es nicht
möglich sein, im Deutschen Bundestag an bestimmten
Stellen - ich glaube, Abrüstung ist eine solche Stelle die Außenwahrnehmung Deutschlands in die innenpolitische Debatte zu übertragen? Fragen Sie doch die Kollegen aus unseren europäischen Partnerländern oder aus
der NATO, wie sie Deutschland in dieser Rolle sehen.
Ihre Sicht hat mit dem, was Sie, Herr Gysi, sagen, nichts
zu tun; denn da sind wir diejenigen, die beim Thema Abrüstung vorangehen. Wir sind diejenigen, die auf diesem
Gebiet fordern, Konzepte haben und Überlegungen einbringen. Sie werden die Partner nicht zwingen können,
auch nicht durch noch so viele rhetorische Plakate dazu;
das wird nur durch kontinuierliche Arbeit gelingen.
Ich glaube, wir spielen hier eine sehr positive Rolle,
und das hat Tradition. „Der Friede der Welt kann nicht
gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die
der Größe der Bedrohung entsprechen“, heißt es im
Schuman-Plan. Dieser Gedanke stand ganz am Anfang
der europäischen Entwicklung. Er ist doch durchgängige
Politik, und zwar über alle Regierungswechsel hinweg.
Abrüstung und Rüstungskontrolle bilden Bausteine für
eine globale Sicherheitsarchitektur der Zukunft, heißt es
im Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode. Was
der Außenminister vorgetragen hat, zeigt, dass das nicht
nur in einer Vereinbarung steht, sondern dass daran konkret mit den Kräften gearbeitet wird, die Deutschland
mobilisieren kann. „In einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen“, heißt es in der Präambel
des Grundgesetzes. Meinen Sie denn wirklich, dass wir
alle in diesem Haus diesen Auftrag nicht ernst nehmen?
Dass der eine populistisch geschickter ist und die anderen mehr die Arbeit verrichten, ist vielleicht eine gerade
noch tolerable Arbeitsteilung im Parlament. Es wird aber
der Aufgabe und dem Auftrag, den wir aufgrund unserer
Verfassung haben, nicht gerecht.
Ich glaube, es versteht sich von selbst, dass - auch im
Sicherheitsrat - Fragen der Nichtverbreitung und der
Abrüstung als Kernanliegen der deutschen Außenpolitik
eine wesentliche Rolle spielen. Der Antrag der SPD,
wenn man ihn genau liest, dokumentiert eigentlich das
Einverständnis mit der Praxis der Bundesregierung. Insofern ist er vielleicht nicht unbedingt nötig.
({4})
Der Rüstungsexportbericht, Herr Kollege Gysi, zeigt
im Übrigen, dass es nicht je nach Regierung beliebige
Wechsel gibt, sondern dass es Richtlinien gibt, an die
man sich hält, und dass es Kriterien gibt, die allerdings
nicht einfach abzuwägen sind. Auch Sie müssten, wenn
Sie in der Rolle wären, zu entscheiden,
({5})
bei jeder einzelnen Entscheidung die unterschiedlichsten
Aspekte abwägen. Das ist etwas, was man nicht pauschal
sagen kann. Deshalb muss man der Bundesregierung
bzw. den Bundesregierungen attestieren, dass sie bei ihrer restriktiven Rüstungsexportpolitik verantwortlich gehandelt haben.
Im Nachhinein sieht man immer auch Fehler. Aber
Sie müssen sich einmal mit der Zusammensetzung dessen, was aus Deutschland exportiert wird, beschäftigen,
und Sie dürfen im Übrigen nicht - wie in Ihrer Rede
dauernd geschehen, Herr Gysi - Rüstungsgüter, Waffen
und Ähnliches durcheinanderwerfen, wenn Sie in die
Einzelheiten gehen.
({6})
Wir sehen im Hinblick auf den vorliegenden Rüstungsexportbericht - wir sind uns übrigens einig, dass
wir ihn etwas früher haben wollen; das haben wir bei jeder Debatte hier angemahnt, egal unter welcher Regierung -, dass sowohl bei den einzelnen Ausfuhrgenehmigungen wie bei den Sammelausfuhrgenehmigungen die
Zahlen zurückgegangen sind. Auch die tatsächliche Ausfuhr ist zurückgegangen.
Wir engagieren uns im Rahmen einer internationalen
Initiative wirkungsvoll im Bereich der Kleinwaffen. Ich
glaube, dass das ein ähnlicher Erfolg werden kann wie
bei den Antipersonenminen. Aber auch das wird nicht
von selbst und von heute auf morgen gehen, sondern es
wird der Anstrengung vieler bedürfen.
Dem Antrag der Grünen kann man in dieser Absolutheit nicht zustimmen, aber man sollte darüber reden.
Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, ihn in anderer
Form wieder einzubringen.
Die Commerzbank bietet Fonds an, bei denen Anlegern garantiert wird, dass keine Investitionen im Rüstungsbereich finanziert werden.
({7})
Warum sollte man anderen nicht vorschlagen, das als
Beispiel zu nehmen, und so diejenigen, die vorangehen,
sozusagen belohnen?
({8})
Meine Damen und Herren, es ist noch Gelegenheit,
über Libyen zu reden. Wer in dieser Woche die Debatten
bei der WEU verfolgt hat, in denen das eine Rolle gespielt hat, der konnte feststellen, dass die Begeisterung
über das, was man da unternimmt, bei manchen unserer
Freunde schon stark gelitten hat - die Überzeugung davon ebenso - und dass plötzlich Nüchternheit eingekehrt
ist, was die Ziele, die Mittel und das angeht, was man
tatsächlich machen kann. Von daher tun wir gut daran,
zu sagen: Ja, wir haben das richtig entschieden. - Das
heißt aber nicht, dass wir nicht auch bereit sein müssen,
humanitäre Einsätze zu sichern; denn man kann in bestimmten Situationen Hilfe nicht ohne einen solchen
Schutz leisten.
Danke schön.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Heidemarie
Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur
heutigen Debatte liegt auch der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse für Frieden und Abrüstung“ vor. Die Wahl Deutschlands in den UN-Sicherheitsrat für zwei Jahre war ein
Zeichen der international hohen Anerkennung, die sich
Deutschland im vergangenen Jahrzehnt und davor erarbeitet hatte. Bereits nach drei Monaten steht die BundesregieHeidemarie Wieczorek-Zeul
rung und mit ihr Außenminister Westerwelle vor einem
Scherbenhaufen ihrer internationalen Politik - isoliert
von wichtigen Verbündeten, belächelt und verspottet.
({0})
Für das Ziel - erklärtermaßen ein ständiger Sitz im UNSicherheitsrat für Deutschland - ist das eine absolute
Katastrophe.
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, insbesondere politische Schwerpunkte bei den anstehenden Abrüstungsfragen in den Vereinten Nationen
zu setzen. Ich will drei Punkte nennen:
Erstens, Streumunition. Das Übereinkommen - die
Kollegin Malczak hat das vorhin angesprochen - ist am
1. August letzten Jahres in Kraft getreten. 108 Staaten
haben das Übereinkommen unterzeichnet; 46 haben es
bereits in nationales Recht umgesetzt. Darin verpflichten
sich die Vertragsstaaten, keine Streumunition herzustellen oder einzusetzen, sie auch nicht zu unterstützen.
Wir alle wissen, dass Streumunition deshalb besonders gefährlich ist, weil sie durch Blindgänger noch nach
Jahrzehnten Menschen tötet. In vollem Umfang trifft das
Zivilisten und besonders Kinder. Die Zahlen besagen,
dass weltweit rund 85 000 Menschen Opfer von Streubomben und Blindgängern werden. Dennoch sind einige
Länder - Sie haben es angesprochen - diesem Übereinkommen bisher nicht beigetreten. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Übereinkommen zum Verbot von
Streumunition umzusetzen und vor allen Dingen Haushaltsmittel bereitzustellen, um die Opferfürsorge zu finanzieren.
({1})
Das ist bisher nicht geschehen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auch für
ein vollständiges Verbot von Streumunition einzusetzen
und dafür zu sorgen, dass die Länder Russland, USA,
China, Indien und Pakistan diesem Übereinkommen beitreten. Zu den Verhandlungen in Genf liegt ein Protokoll
vor. Dieses Protokoll fällt hinter die Oslo-Bestimmungen zurück. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
auf, dafür zu sorgen, dass das Oslo-Abkommen nicht
ausgehöhlt wird und dass Streubomben nicht wieder legitimiert werden.
({2})
Das ist ein aktueller Konflikt, der ansteht.
Ich unterstütze nachdrücklich die Forderung, Investitionen in Hersteller von Streumunition zu verbieten. Recherchen von Nichtregierungsorganisationen zeigen in
der Tat, dass Banken und Versicherungen in diesen Bereichen Investments vornehmen. Wir fordern, dass jedwedes Investment in völkerrechtswidrige Waffen per
Gesetz verboten wird.
({3})
Zweitens zu den sogenannten Kleinwaffen. Auch hier
muss man sich noch einmal den Umfang vergegenwärtigen. Der globale Handel mit Schusswaffen übersteigt
- Schätzungen zufolge - jährlich 6 Milliarden US-Dollar,
und es sind noch einmal rund 4,3 Milliarden US-Dollar
für Munition. Der illegale Handel ist dabei naturgemäß
nicht eingerechnet. Im Jahr 2012 findet die Überprüfungskonferenz des UN-Aktionsprogramms gegen den
Transfer von kleinen und sogenannten leichten Waffen
statt. Das ist eine konkrete Aufgabe, vor der die Bundesregierung steht; denn diese Konferenz muss endlich ein
Erfolg werden. Sie hat dieses Mal bessere Chancen, weil
die USA in diesen Fragen kooperativer sind. Die Chancen sind also gestiegen.
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie die
Themen „Kindersoldaten“ und „Kinder in bewaffneten
Konflikten“ in der UN besonders voranbringen will. Es
gibt keine wichtigere Voraussetzung dafür, als den Strom
der Kleinwaffen zu verhindern. Deshalb erheben wir
diese konkrete Forderung.
({4})
Der dritte und letzte Punkt aus einer Fülle von Punkten: Deutschland muss sich aktiver um die Umsetzung
der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 bemühen, die vor
rund zehn Jahren verabschiedet worden ist. In dieser völkerrechtlich verbindlichen Resolution wird unter anderem auf allen Ebenen die verstärkte Einbeziehung von
Frauen in Friedensprozesse gefordert. Im Oktober 2010
hatten erst 23 Staaten einen notwendigen Aktionsplan
verabschiedet. Der Deutsche Bundestag hat gefordert,
dass es einen gemeinsamen deutschen Aktionsplan geben muss. Angesichts des Elends und der Gewalt in der
Welt, die gerade in Kriegen und Bürgerkriegen gegen
Frauen ausgeübt wird, ist dies eine wichtige gemeinsame
Aufgabe, zu der ich uns gemeinsam aufrufe.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Umsetzung der Vision einer Welt ohne nukleare und
andere Arten von Massenvernichtungswaffen ist ein Generationenprojekt. Es ist kein Thema wie andere Themen, die man sich vielleicht für eine Legislaturperiode
vornimmt, um dann darauf hinzuarbeiten, innerhalb dieser einen Periode einen Haken daran zu setzen. Nichtsdestotrotz stehen wir zu unserer Verantwortung, unsere
aktive Zeit dafür zu nutzen, diesem Ziel Stück für Stück
näherzukommen. Das Ziel wird aber nie erreicht werden,
wenn man sich nur auf die Waffen selbst konzentriert. Es
muss in erster Linie darum gehen, in internationalen
Bündnissen Rahmenbedingungen zu schaffen und Vertrauen herzustellen, sodass diese Waffen irgendwann
einmal von selbst überflüssig werden.
So betrachtet, war das Jahr 2010 ein gutes Jahr. Der
Abschluss und die Ratifizierung des neuen START-Vertrags zwischen den USA und Russland markieren einen
weiteren Schritt der Annäherung und Kooperation zwischen den beiden Ländern. Mit dem Vertrag wurden
Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen beschlossen
und neue Obergrenzen für die strategischen Arsenale
festgelegt. Der Vertrag ist aber auch ein Signal für die
Welt. Das sichtbare Bemühen um nukleare Abrüstung
bei beiden Mächten des Kalten Krieges hebt die Bedeutung des Themas auf der internationalen Bühne.
Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht ist es
aber mindestens genauso wichtig, dass jetzt in einem
nächsten Schritt wieder Bewegung in die Verhandlungen
mit Russland über die konventionellen Streitkräfte
kommt. Die NATO hat im letzten Jahr ebenfalls ein Signal gesetzt: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind wesentliche Elemente des neuen strategischen Konzepts, das im November in Lissabon
beschlossen wurde. Erstmalig in ihrer Geschichte hat
sich die NATO dem Ziel verschrieben, Voraussetzungen
für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen. Das ist auch
ein großer Erfolg der diplomatischen Bemühungen der
Bundesregierung.
Frau Zapf, die Arbeit auf Ebene der NATO geht ja
nun weiter mit der Einrichtung des Abrüstungs- und
Rüstungskontrollausschusses und der umfassenden
Überprüfung des NATO-Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs. Ihr Vorwurf, dass da jetzt nichts mehr
passiert, trifft also nicht zu.
Natürlich sind das alles kleine Schritte, genauso wie
zum Beispiel der Dialog zwischen der NATO und Russland im NATO-Russland-Rat. Aber die Abrüstung innerhalb der NATO und innerhalb Russlands ist nur die eine
Seite. Daneben steht - das ist die weitaus konkretere Gefahr - das Streben nach Atomwaffen vor allem in Ländern wie Iran, Syrien oder Nordkorea. Nordkorea weigerte sich auch 2010 konsequent, Transparenz über sein
Atomprogramm herzustellen. Im Gegenteil: Durch die
Bekanntgabe einer bisher unbekannten Urananreicherungsanlage und einen Angriff auf Südkorea hat sich die
Lage in der Region weiter zugespitzt.
Es gibt weiter Unklarheiten darüber, was denn Israel
2007 in Syrien überhaupt bombardiert hat. Die starke
Vermutung, dass es sich dabei um den Rohbau eines
nicht bekanntgegebenen Reaktors handelt, wurde bisher
nicht ausgeräumt.
Weiterhin kritisch ist auch die Lage im Iran. Auch
2010 ist das Land nicht den Auflagen des UN-Sicherheitsrates gefolgt. Es hat sein Atomprogramm fortgesetzt, die Urananreicherung ausgebaut und mit dem Bau
des Schwerwasserreaktors in Arak fortgeführt. Durch
Presseveröffentlichungen im Herbst letzten Jahres haben
wir erfahren, wie groß die Nervosität in der Region ist,
wie groß die Angst vor der iranischen Atombombe ist
und welches Konfliktpotenzial damit verbunden ist.
Deutschland bringt sich hier sehr konstruktiv in die
E3+3-Gespräche ein. Gesprächsbereitschaft auf der
einen Seite, aber auch harte Sanktionen auf der anderen
Seite, wenn das Angebot zum Dialog und zur Kooperation nicht angenommen wird, sind weiterhin der richtige
Weg.
Meine Damen und Herren, zu den Risiken der Proliferation kommt die Bedrohung durch den Nuklearterrorismus. Organisationen wie al-Qaida folgen nicht der
Logik der Abschreckung und hätten sicher keine Hemmungen, Atomwaffen auch tatsächlich einzusetzen. Es
muss deswegen alles unternommen werden, damit solche Organisationen nicht in den Besitz von Atomwaffen
kommen.
({0})
Aber selbst, wenn sie nicht in den Besitz eines Sprengkopfes kommen, würde der Diebstahl von nuklearem
Material zum Bau einer schmutzigen Bombe die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus auf eine
ganz neue Stufe heben.
Der Gipfel zur nuklearen Sicherung im April letzten
Jahres war deswegen richtig und wichtig. Deutschland
stellt beispielsweise bis 2012 für die Einrichtung einer
Datenbank durch die IAEO für gering angereichertes
Material 10 Millionen Euro zur Verfügung. Aber gerade,
was die Etablierung internationaler Standards zur Absicherung von Nuklearanlagen und von Nuklearmaterial
angeht, müssen wir noch dringend nachlegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
auch nicht verschweigen, dass es jenseits der Fragen von
nuklearer Abrüstung auch in anderen Bereichen der Rüstungskontrolle im Jahr 2010 wichtige Erfolge gab. Einen
Erfolg möchte ich besonders herausstellen - er ist heute
schon mehrfach angesprochen worden-: Am 1. August
2010 ist das Übereinkommen über Streumunition in
Kraft getreten. Dies ist aus deutscher Sicht besonders erfreulich, weil wir es - auch schon während Ihrer Regierungszeit, verehrte Kollegen von der SPD - vorangetrieben haben und weil wir eines der ersten Länder waren,
die diesen Vertrag unterzeichnet und im Parlament ratifiziert haben. Das Übereinkommen beschreibt einen umfassenden Verbotstatbestand für diese Art der Munition,
die durch die hohen Raten von Blindgängern über Jahrzehnte hinweg noch eine Gefahr für die Bevölkerung
darstellt. Es geht bei diesem Abkommen nicht nur um
die Munition selbst, sondern es geht in besonderem
Maße um Hilfe für die Opfer. Deutschland war wesentlich am Erfolg des Abkommens und am Erfolg der ersten
Vertragsstaatenkonferenz im letzten Jahr beteiligt.
Das ist aber nur ein Beispiel für die vielen deutschen
Anstrengungen, die der Jahresabrüstungsbericht 2010
aufzeigt. Ich möchte allen Vertretern der Bundesregierung, aber auch allen Nichtregierungsorganisationen, die
sich im vergangenen Jahr dafür starkgemacht haben, von
dieser Stelle aus ganz herzlich danken. Sie alle leisten
kleine Beiträge, kleine Schritte, von denen aber jeder auf
dem Weg zu mehr Frieden und Sicherheit in der Welt
wichtig ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSUFraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Jahr 2010 war meiner Meinung nach,
auch wenn in Frau Zapfs Manuskript an dieser Stelle ein
Fragezeichen steht, richtungsweisend, was Abrüstung
und Rüstungskontrolle angeht. Ich möchte deshalb
gleich zu Beginn meiner Rede der Bundesregierung und
allen Beteiligten für ihr Engagement und ihr nachhaltiges Handeln bei allen Bemühungen um dieses Thema
und natürlich auch für das Verfassen dieses sehr ausführlichen Berichts herzlich danken.
({0})
Dass für Deutschland die Themen Abrüstung und
Rüstungskontrolle von herausragender Bedeutung sind,
zeigt dabei nicht allein der Umstand, dass bereits
26 Tage nach Jahresende das Kabinett den Bericht beschlossen hat, sondern vor allem auch die im Berichtszeitraum erzielten Ergebnisse. Sie sind nämlich auf einen wesentlichen Beitrag Deutschlands zurückzuführen,
und sie unterstützen maßgeblich den häufig genannten
und von Barak Obama eingeleiteten weltweiten Paradigmenwechsel hin zu einer nuklearwaffenfreien Welt.
Nicht zuletzt prägen die aktuellen Geschehnisse - ich
erinnere da an die Vorkommnisse in der arabischen
Welt - auch die heutige Debatte. Durch sie wird einmal
mehr auf die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle verwiesen. Dies waren und sind zentrale
Bestandteile deutscher Außen- und Sicherheitspolitik
und müssen es auch weiterhin sein.
Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund auf einige
wichtige Punkte eingehen, die speziell im deutschen
Fokus stehen und auch weiterhin stehen werden. Mit
Sicherheit kann dabei die Einigung auf ein Abschlussdokument der Staaten des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages als zentraler Erfolg gewertet werden. Nach,
wie Sie wissen, zehnjährigem Stillstand konnte hier
nicht zuletzt aufgrund der Bemühungen Deutschlands
ein Konsens zu verpflichtenden Handlungsempfehlungen zur nuklearen Abrüstung gefunden werden.
Deutschland hatte sich darüber hinaus intensiv dafür
eingesetzt, taktische Atomwaffen, also sogenannte substrategische Nuklearwaffen, die gegenwärtig leider noch
keiner Rüstungskontrolle unterliegen, in den weiteren
Abrüstungsprozess aufzunehmen. Diese Diskussion
steht nun auf der internationalen Agenda. Man kann mit
Fug und Recht behaupten, dass dies zu einem nicht unerheblichen Teil den Aktivitäten der Bundesregierung zu
verdanken ist. Auch dafür gilt mein herzlicher Dank.
({1})
Aber auch mit Blick auf Amerika kann von einer
positiven Entwicklung, was die Abrüstung bei den taktischen Atomwaffen angeht, gesprochen werden. So hat
Präsident Obama - wir hörten es schon - bei der Unterzeichnung des neuen START-Vertrages erklärt, taktische
Atomwaffen in zukünftige Verhandlungen mit Russland
unbedingt einbeziehen zu wollen. Ich denke, das ist ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und ich hoffe,
Russland wird diesen Weg eines Tages mitgehen. Dies
soll natürlich keinesfalls die Stellung des neuen STARTVertrages abschwächen, der eine immense politische Signalwirkung für weitere weltweite Bemühungen um die
nukleare Abrüstung besitzt. Er gehört neben dem Abschlussdokument mit Sicherheit zu den abrüstungspolitischen Erfolgen der letzten Zeit.
Aber auch mit dem neuen Strategischen Konzept der
NATO - ich bin nicht ganz der Meinung, dass sich da
nichts getan hätte - und der darin formulierten Verpflichtung, Bedingungen für eine Welt frei von Atomwaffen
zu schaffen, konnte 2010 ein wahrer Meilenstein zum
Paradigmenwechsel bei der nuklearen Abrüstung geschaffen werden.
Gerade in diesen Tagen - wir hörten es - tritt hier in
Berlin im Rahmen des NATO-Außenministertreffens
erstmalig der in Lissabon beschlossene Abrüstungsausschuss der NATO zusammen. Bemerkenswert ist dabei
auch, dass dieses Gremium trotz der Vorbehalte einiger
Partner - ich nenne da zum Beispiel Frankreich - ins Leben gerufen wurde. Ich meine, das ist ein kleiner, aber
wichtiger Schritt zu mehr Abrüstung auch innerhalb der
NATO.
Darüber hinaus war es ein zentrales Anliegen der
Bundesregierung, die Krise um den KSE-Vertrag nach
der bekanntermaßen langen Ruhepause zu beenden. Erfreulicherweise wurde dieses Gesprächsangebot von
Russland und den anderen nicht der NATO angehörenden KSE-Staaten grundsätzlich positiv aufgenommen.
Ich hoffe, dass auch hier bald Bewegung in die Sache
kommt. Das Ziel sollte auf jeden Fall sein - darin kann
ich die Bundesregierung nur bestärken -, noch in diesem
Jahr den Einstieg in wirklich konkrete Verhandlungen, in
denen Maßnahmen der Transparenz dann auch festgezurrt werden, zu schaffen.
Aber es sind nicht nur die großen Ereignisse, die das
Jahr 2010 abrüstungspolitisch prägten. So leistete
Deutschland im Bereich der chemischen Waffen im
Zuge des G-8-Programms „Globale Partnerschaft“ finanzielle und technische Hilfe für entsprechende Vernichtungsprogramme, zum Beispiel in Russland. Russische Atom-U-Boote konnten abgewrackt werden, und
der Bau einer dritten Anlage zur Vernichtung chemischer
Waffen, den Deutschland kofinanzierte, wurde abgeschlossen.
({2})
Und - man glaubt es kaum -: Auch bei uns wurden
im Jahre 2010 die letzten Granaten des Lagerbestandes
an chemischen Waffen des Ersten Weltkrieges vernichtet. Man sieht also, wie lange Abrüstung dauern kann.
Das sind zwar kleine Schritte, aber handfeste und
greifbare Abrüstungsschritte, die trotz der großen globa11824
len nuklearen Herausforderungen nicht unter den Tisch
fallen sollten.
Nicht zuletzt darf bei all diesen Fragen unser Engagement - es wurde mehrfach genannt - bei der Vernichtung von Streumunition nicht unerwähnt bleiben.
Seit der Unterzeichnung der Osloer Konvention hat sich
Deutschland zu einer der führenden Kräfte unter diesen
Vertragsstaaten entwickelt und die Abrüstung im Bereich der Streumunition auch im letzten Jahr entscheidend mit vorangetrieben.
Meine Damen und Herren, abschließend kann man
zum Jahresabrüstungsbericht festhalten - auch wenn ich
weiß, dass hier im Raum nicht alle derselben Meinung
sind -, dass alle Bemühungen der Bundesregierung in
die richtige Richtung gewiesen haben bzw. weisen. Natürlich ist Abrüstung ein schwieriger, oft auch von Rückschlägen begleiteter Prozess und natürlich sollte alles
viel, viel schneller gehen, umfassender sein und mit weit
mehr Erfolgen verbunden sein. Aber seien wir nicht
blauäugig. Halten wir uns an die Realitäten und kämpfen
wir um jeden kleinen Schritt. Alle Themen in dieser Hinsicht gilt es im internationalen Rahmen, im Verbund mit
der NATO, mit Russland, mit der EU und mit anderen
internationalen Gremien zu vereinbaren. Dabei müssen
Abrüstungspolitik und Rüstungskontrolle immer auf
Vertrauen und gemeinsamer Verständigung basieren. Alleingänge nutzen da wenig. Das ist sicherlich nicht immer der einfachste und leider nicht immer der schnellste
Weg. Es ist aber sicherlich immer der nachhaltigste und
ein Weg, der entscheidend zu mehr Sicherheit und zu
mehr politischer Stabilität in unserer Welt führen wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zu den Überweisungen. Hier
geht es um die Tagesordnungspunkte 26 a, d, e und den
Zusatzpunkt 8. Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4620, 17/4697,
17/5374 und 17/4863 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu der Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Atomwaffen unverzüglich aus
Deutschland abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2214, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/116
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenom-
men.
Unter dem Tagesordnungspunkt 26 c stimmen wir ab
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
tel „Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrver-
trages durch atomare Abrüstung stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/2215, den gerade genannten Antrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/886 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit angenom-
men.
Unter dem Tagesordnungspunkt 26 f geht es um die
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüs-
tung der Atomwaffen vorangehen“. Auch hier empfiehlt
der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 17/2213, diesen Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/122 abzuleh-
nen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a und b so-
wie den Zusatzpunkt 9 auf.
27 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Nie wieder Tschernobyl - Atomzeitalter been-
den
- Drucksache 17/5375 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Atomkraftwerke abschalten
- Drucksache 17/5379 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere
Energieversorgung ohne Atomkraft und eine
lebendige europäische Erinnerungskultur
- Drucksache 17/5366 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
25 Jahren, am 26. April 1986, wurde im Block 4 des
Atomkraftwerks Tschernobyl ein Versuch durchgeführt.
Es sollte nachgewiesen werden, dass der Reaktor einen
Stromausfall bewältigen kann. Er konnte es nicht. Das
Ergebnis war ein Super-GAU, ein Unfall, der über die
Auslegung der Anlage hinausging. Das Ergebnis war die
größte Katastrophe in der Geschichte der Atomenergie.
Explosionen und ein Grafitbrand verbreiteten die Radioaktivität über ganz Europa. Noch am Tag darauf, am
27. April, begannen über 1 800 Hubschrauberflüge, um
den geborstenen Reaktor mit Blei, Bor, Dolomit, Sand
und Lehm zuzuschütten. Die Einwohner der Stadt Pripjat, 48 000 Menschen, wurden evakuiert.
Ich selber weiß noch, wie ich am 1. Mai 1986 bei
strahlendem Sonnenschein mit vielen Kindern auf dem
Göttinger Markt ein Maifest feierte, und zwei Tage später die Feuerwehr Göttingen den hilflosen Versuch
machte, Proben aus Pfützen zu ziehen, und zu erschreckenden Werten kam. Kurz darauf wurden Sandkästen
und Sportplätze gesperrt. Ich glaube, es gibt nur wenige
Ereignisse, die sich so in das Gedächtnis von Menschen
einprägen, dass sie später noch sagen können, was sie an
diesem Tag, als sie die Nachricht erfahren haben, gemacht und gedacht haben. Tschernobyl gehört zu dieser
Art von Ereignissen.
Wir müssen klar sagen: Nicht nur die damalige Sowjetunion war auf einen solchen Störfall nicht vorbereitet; auch Deutschland war nicht darauf vorbereitet. Die
damalige Bundesregierung spielte die Vorgänge herunter. Ein bayerischer Minister versuchte noch, im Selbstversuch klarzumachen, dass Molkepulver doch nicht so
schädlich sei. Schließlich gelang es, zehn Tage später,
am 6. Mai 1986, die Freisetzung radioaktiven Materials
in Tschernobyl einzudämmen. Bei diesen Arbeiten, die
dann folgten, wurden über 800 000 Liquidatoren, wie sie
genannt wurden, eingesetzt. Einer von denen, die damals
eingesetzt worden sind, wurde jetzt gefragt, wie denn
das Leben nach Tschernobyl sei. Er hat geantwortet: Es
gab ein Leben vor Tschernobyl, aber es gibt kein Leben
nach Tschernobyl. Es gibt nur noch ein Leben mit
Tschernobyl. - Das sollten wir uns 25 Jahre danach vergegenwärtigen.
({0})
„Mit Tschernobyl leben“ heißt: mit 4 000 Toten,
400 000 Evakuierten, 1,5 Millionen Hektar Land, die
nicht mehr genutzt werden können. Bis heute kostet
diese Katastrophe die Ukraine 6 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Wir müssen uns die Frage stellen: Was wurde eigentlich aus Tschernobyl gelernt? Der damalige Fraktionsvorsitzende der baden-württembergischen CDU, Erwin
Teufel, sagte am 18. Mai 1986 in einer Debatte im dortigen Landtag: Tschernobyl mahnt uns, wir müssen die
Kernenergie ethisch neu bewerten. - Schon damals hatte
Erwin Teufel recht. Wer gibt uns das Recht, die Gesundheit und das Leben von Menschen, die heute noch nicht
geboren sind, in einem solchen Ausmaß zu beeinträchtigen? Woher nehmen wir uns das Recht, mit unserer
Erde, mit unserer Luft, mit unserem Wasser so umzugehen und uns, um es einmal mit diesen Worten zu sagen,
so an der Schöpfung zu versündigen?
({1})
Ja, seit Tschernobyl war klar, dass die Atomenergie
ethisch neu bewertet werden muss. Aber betrachten wir
auch die Konsequenzen, die daraus hier in Deutschland
gezogen worden sind. Nach 1986 wurde zwar kein Neubau eines Atomkraftwerks begonnen - alle Projekte wurden beendet -, die im Bau befindlichen Reaktoren gingen aber samt und sonders ans Netz und erhielten
unbefristete Betriebserlaubnisse. Es war nicht Erwin
Teufel, der sich durchsetzte, sondern die Auffassung
Helmut Kohls, der damals sagte:
… die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik
Deutschland [gehören] mit zu den sichersten Anlagen in der Welt. … auf dieser Grundlage ist das
theoretisch verbleibende Restrisiko vertretbar und
die Nutzung der Kernenergie ethisch zu verantworten.
Diese Auffassung stand schon damals in einem scharfen Kontrast zur Mehrheit der Bevölkerung. Es gibt seit
25 Jahren einen Konsens unter den Deutschen. Sie wollen raus aus der Atomenergie, schrittweise, aber raus.
Zwei Drittel bis drei Viertel lehnen eine Technik ab, die
sich als nicht beherrschbar erwiesen hat. Dieser Konsens
ist erst 15 Jahre nach Tschernobyl umgesetzt worden:
mit der Begrenzung der Laufzeiten, mit dem Einstieg in
den Ausbau der erneuerbaren Energien, mit der rot-grünen Energiewende zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
Parallel zu dem Ausbau der erneuerbaren Energien sollten bis um das Jahr 2020 herum schrittweise alle Reaktoren vom Netz gehen. Diesen Konsens, das Risiko einer
Kernschmelze für Deutschland endgültig zu beenden,
hat die schwarz-gelbe Koalition im Herbst vergangenen
Jahres verlassen. Gegen den Willen einer übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung haben Sie den vier Betreibern
ein 100-Milliarden-Euro-Geschenk gemacht und die
Laufzeiten im „Herbst der Entscheidungen“ verlängert.
Meine Damen und Herren, das war eine historische
Fehlentscheidung.
({2})
Es war eine Fehlentscheidung gegen die Sicherheit der
Bevölkerung. Es war eine Fehlentscheidung, weil Sie
Gräben über eine Frage aufgerissen haben, in der in dieser Gesellschaft ein neuer Konsens entstanden war. Es
war eine Fehlentscheidung - das will ich ausdrücklich
sagen -, bevor in Fukushima die Kernschmelze in nicht
einem, sondern in drei Reaktorblöcken einsetzte. Es war
eine Fehlentscheidung, bevor erneut ein Stromausfall bewies, dass solche Anlagen Stromausfälle eben nicht verkraften können. Es war eine Fehlentscheidung, bevor in
einem Hightechland mit hohen Sicherheitsstandards dieses passierte.
25 Jahre nach Tschernobyl müssen wir nun lernen,
auch mit Fukushima zu leben, mit den Opfern, mit den
Folgen und mit der radioaktiven Verseuchung des Pazifiks. 25 Jahre nach Tschernobyl, im Jahr von Fukushima,
müssen wir aber endlich Konsequenzen ziehen. Wir
müssen raus aus der Atomenergie, und zwar so schnell
wie möglich.
({3})
Sie von der Koalition haben sich nun eine dreimonatige Denkpause verordnet, um Ihre gut drei Monate alte
Fehlentscheidung zu korrigieren. Ich würde mir am heutigen Tag wünschen, dass Sie in diesem Fall von Erwin
Teufel lernen und nicht von Helmut Kohl. Ich würde mir
wünschen, lieber Herr Röttgen, dass Sie die Zeit nutzen,
um eine Brücke zurück zum Konsens in dieser Gesellschaft zu bauen. Dieser Konsens ist heute übrigens ein
anderer als der vor zehn Jahren, für den ich mitverantwortlich war. 30 Prozent der Bevölkerung wollen sofort
raus, 27 Prozent innerhalb von fünf Jahren und
20 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Man kann es so
sagen: Drei Viertel sind der Ansicht, wir sollten deutlich
vor 2020 alle AKW stilllegen.
({4})
Wie könnte ein solcher neuer Konsens aussehen?
Nehmen wir die sieben ältesten Atomkraftwerke und
Krümmel endgültig und nicht nur vorübergehend vom
Netz. Nehmen wir die Laufzeitverlängerung gemeinsam
zurück. Koppeln wir künftig die verbleibenden Reststrommengen an das Wachstum erneuerbarer Energien.
Beenden wir gemeinsam die bürokratischen Blockaden
für den Ausbau der Windenergie auch in den südlichen
Bundesländern.
({5})
Bauen wir gemeinsam neue Netze für eine dezentralere
Energieversorgung. Investieren wir mehr und nicht weniger in Wärmedämmung, weil wir das Gas, das dadurch
eingespart wird, an anderer Stelle brauchen. Sorgen wir
für mehr Pumpspeicher und für mehr Elektrospeicher in
Elektrofahrzeugen. Schaffen wir mehr Bioenergiedörfer.
Dies alles hieße nicht nur, die Atomkraft ethisch neu
zu bewerten, es würde auch unzählige neue Arbeitsplätze schaffen. Es würde den Industriestandort Deutschland stärken. Es würde unsere Versorgungssicherheit erhöhen, und es würde das Klima schützen. Ein solcher
neuer Konsens, das hieße, im Jahr von Fukushima aus
Tschernobyl zu lernen.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition hat den bevorstehenden 25. Jahrestag des schlimmen Reaktorunfalls in Tschernobyl zum Anlass genommen, einmal mehr hier im Deutschen Bundestag eine
Debatte über die Zukunft der Kernenergie zu führen.
Das ist begrüßenswert, weil es Gelegenheit gibt, uns an
die Geschehnisse der Nacht vom 25. zum 26. April des
Jahres 1986 zu erinnern. In der Nacht des 26. April 1986
ereignete sich im Kernkraftwerk Tschernobyl der weltweit schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Es ist wichtig, dass wir uns erneut bewusst machen, dass über 350 000 Menschen - Herr Trittin sprach
von 400 000 Menschen - aus den betroffenen Gebieten
umgesiedelt werden mussten, und wichtig ist auch, dass
wir uns an die Tausende von Menschen erinnern, die als
sogenannte Liquidatoren und unter Einsatz ihres Lebens
und ihrer Gesundheit in Tschernobyl eingesetzt waren,
und ihnen für ihren Einsatz danken.
Die heutige Debatte ist aber auch Anlass, auf die
enorme internationale Solidarität bei der Bewältigung
der Folgen des Unglücks hinzuweisen. Deutschland hat
bereits erhebliche Unterstützung bei der Bewältigung
der ökologischen, medizinischen, wirtschaftlichen und
sozialen Folgen geleistet. Wir werden diese Hilfe auch
künftig fortsetzen. Hierbei geht es nicht nur um die Fortsetzung der deutschen Beteiligung am internationalen
Shelter Implementation Plan, also an der Errichtung eines neuen, haltbaren Sarkophags. Enorme Unterstützung
leisten auch die über 900 zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich insbesondere um Kinder aus den betroffenen Gebieten in Belarus und der Ukraine kümmern. Sie
ermöglichen bis zu 20 000 von ihnen jährlich, an einem
Ferienaufenthalt in Deutschland teilzunehmen. Für dieses Engagement sage ich herzlichen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, seit dem schweren Erdbeben vom 11. März 2011 in Japan steht Tschernobyl nicht
mehr allein als Synonym für die Gefahren der Kernenergie. Erneut hat es ein schweres Unglück bei der Nutzung
der Kernenergie gegeben. Vieles, was in Tschernobyl
passiert ist, war bei unseren Kernkraftwerken technisch
nicht möglich. Es handelte sich beim Reaktortyp in
Tschernobyl um ein sicherheitstechnisch veraltetes
Kraftwerk. Die Reaktoren dieses Typs in Greifswald haben wir unmittelbar nach der Wende abgeschaltet.
Jetzt aber ist in Japan ein Kernkraftwerk betroffen,
das in einem hochindustrialisierten Land steht. Dort sind
mit dem schweren Erdbeben vom 11. März 2011 - in der
letzten Nacht fand dort wieder ein Erdbeben statt - und
dem dadurch ausgelösten Tsunami Ereignisse eingetreten, die so nicht vorhergesehen wurden. Das sogenannte
Restrisiko hat sich in Fukushima als reales Risiko erwiesen. Die Sicherheitsannahmen und die Sicherheitsreserven in Japan sind nicht ausreichend gewesen. Aus diesen
Ereignissen müssen wir Konsequenzen ziehen. Das
Restrisiko auch unserer Kraftwerke muss nach den Ereignissen in Japan neu bewertet werden. Wir müssen die
Sicherheit neu bewerten und mit ergänzten Maßstäben
prüfen. Genau das tun wir jetzt.
Meine Damen und Herren, wir werden die Sicherheitsmaßnahmen und vor allen Dingen die SicherheitsMarie-Luise Dött
annahmen zu Erdbebengefahren, zu den Auswirkungen
von Hochwasserereignissen, zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels oder zu terroristischen Angriffen,
zu Cyberattacken und zu möglichen Gefahren durch
Flugzeugabstürze genau prüfen. Wir werden insbesondere die Wirkungen eines möglichen Zusammentreffens
verschiedener Schadensereignisse prüfen. Wir werden
auch die technische Situation in den Kraftwerken genau
analysieren, zum Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung und die externe Infrastruktur ausgelegt sind,
und prüfen, wie robust sie bei Schadensereignissen sind.
Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Handeln, das ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die
Bürger verlassen.
({1})
Der von der Reaktor-Sicherheitskommission in der
vergangenen Woche vorgelegte Anforderungskatalog
umfasst alle Themen der Anlagensicherheit. Er stellt extrem hohe Anforderungen an alle Anlagen und ist der
Maßstab zur Beurteilung jedes einzelnen Kraftwerks.
Diese Anforderungen gehen weit über die Anforderungen eines kerntechnischen Regelwerks hinaus. Eine Anlage, bei der die Sicherheit nicht vollständig gewährleistet ist, geht nicht wieder ans Netz. Ein Kraftwerk
neueren Typs, das die Anforderungen nicht erfüllt, muss
nachgerüstet werden, oder es wird ebenfalls vom Netz
genommen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste
Priorität.
({2})
Wir führen eine sehr intensive Diskussion über die
Zukunft der Energieversorgung in Deutschland. Wir
wollen die Nutzung der Kernenergie möglichst schnell
beenden. Wir werden im Lichte der Ereignisse in Japan
prüfen, ob das schneller geht, als wir bisher angenommen haben.
({3})
Seit längerem sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass
wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien möglichst
schnell erreichen wollen. Der Umbau hat bereits begonnen. Wir werden ihn noch einmal beschleunigen. Die
Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die in diesem Jahr ansteht, wird entsprechende Maßnahmen enthalten.
Wir werden zum Beispiel dafür sorgen, dass der Ausbau der Windenergieerzeugung beschleunigt wird. Hier
haben wir derzeit das wirtschaftlichste Ausbaupotenzial.
Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze
und Speicherkapazitäten beschleunigen. Das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz ist dafür die Grundlage. Wir werden gerade
bei der Erhöhung der Energieeffizienz für schnelle Fortschritte sorgen. Insbesondere die energetische Gebäudesanierung ist hier ein wichtiger Ansatz.
({4})
Hier haben wir ein hervorragendes Kosten-Nutzen-Verhältnis mit sehr geringen CO2-Vermeidungskosten. Wir
werden in den nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und sehr konkrete Vorhaben für den Ausbau
der erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz auf den Weg bringen.
Ein schnellerer Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ist nicht umsonst zu haben. Gerade
deshalb muss stärker als bisher die Effizienz des Mitteleinsatzes betrachtet werden. Wir müssen den Bürgern
nachvollziehbar erklären, dass der Netzausbau, die
Schaffung von Energiespeichern und die Errichtung von
neuen Anlagen Geld kosten. Schließlich handelt es sich
um das Geld der Bürger, das sie mit der Stromrechnung
bezahlen - und nicht nur die Bürger. Auch die Wirtschaft
und hier insbesondere die energieintensiven Unternehmen, die ein wichtiges Element der Wertschöpfungskette
in Deutschland sind, brauchen wettbewerbsfähige Energiepreise.
({5})
Der Umbau der Energieversorgung darf nicht zur Abwanderung von Unternehmen und damit zum Verlust
von Arbeitsplätzen führen. Das betrifft übrigens nicht
nur die Preiswürdigkeit der Energie, sondern auch die
Versorgungssicherheit. Klimaverträglich, sicher, preiswürdig - das bleiben auch beim Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien die Prämissen unserer
Energiepolitik.
({6})
Wir wollen einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie; aber ein Umbau Hals über Kopf, nach dem
Motto: „Koste er, was er wolle“, ist mit uns nicht machbar.
({7})
Meine Damen und Herren, ich hoffe sehr und bin zuversichtlich, dass die von der Bundeskanzlerin eingesetzte Ethikkommission auch dieses Thema ausgiebig
diskutieren wird. Eine sichere, bezahlbare und klimaverträgliche Energiepolitik ist eine gesellschaftspolitische
Frage von höchster Relevanz, und damit eignet sie sich
nicht für parteipolitische Taktik. Den in Anträgen der
Opposition vorweggenommenen Forderungen nach konkreten Jahreszahlen können wir heute - auch wenn es
sonst an mancher Stelle Übereinstimmungen gibt - nicht
zustimmen. An einem Unterbietungswettlauf darum, wer
am schnellsten die Kernkraftwerke abschaltet, werden
wir uns ebenfalls nicht beteiligen. Erst die gründliche
Analyse, dann konsequentes Handeln - so ist unsere
Reihenfolge.
Ich hoffe sehr, dass die Signale der Opposition für einen offenen, sachlichen und fairen Dialog ernst gemeint
sind; denn die Energiepolitik in Deutschland braucht
eine langfristig stabile Perspektive. Wir sind sehr gern
bereit, darüber zu diskutieren.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei den vielen Initiativen, Organisationen, Einzelpersonen und Abgeordneten,
die sich seit 25 Jahren für die Opfer von Tschernobyl
einsetzen und engagieren, für die Aufklärung, die es seit
Tschernobyl gegeben hat, bedanken. Beispielhaft will
ich das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk in
Dortmund und die Abgeordnete Uta Zapf nennen, die in
den letzten 25 Jahren sehr viel Engagement aufgebracht
haben.
({0})
Selbst nach 25 Jahren ist das wahre Ausmaß von
Tschernobyl immer noch nicht bekannt. Wir wissen ungefähr, wie viele 100 000 Quadratkilometer Landfläche
unbewohnbar geworden sind, wir wissen, dass Hunderttausende ihre Heimat verloren haben, wir wissen, dass es
viele Opfer gegeben hat; aber genau beziffern wird man
es nicht können, und selbst nach 25 Jahren kommen immer noch neue Opfer hinzu.
Jürgen Trittin hat es gerade schon gesagt: Viele wissen, was sie zu diesem Zeitpunkt vor 25 Jahren gemacht
haben. Ich war damals knapp 15 und erinnere mich genau an diesen Tag. Ich erinnere mich auch deswegen daran, weil ich damals als Jugendlicher Fragen gestellt
habe. Ich habe gefragt, warum wir auf so eine Energieform setzen und ob es keine Alternativen gibt. Ich erinnere mich daran, dass auch in Deutschland Ratlosigkeit und Unwissenheit vorherrschte, dass Mütter nicht
wussten, ob sie ihren kleinen Kindern Milch geben dürfen und ob sie bestimmte Nahrungsmittel essen können
oder nicht, dass viele große Angst hatten und sich große
Sorgen gemacht haben und dass Antworten nur spärlich
gegeben wurden.
So bin ich damals übrigens politisiert worden. Hätten
Union und FDP damals umgeschwenkt, dann wäre Ihnen
meine Rede heute möglicherweise erspart geblieben,
weil ich dann vielleicht nicht zur Politik gekommen
wäre.
({1})
Ich möchte Ihnen gerne eine Aussage von Franz Alt
vorlesen:
Ich habe mich 25 Jahre zurückerinnert, an Tschernobyl, wo ich ganz ähnliche Bilder gesehen habe.
Damals war ich als CDU-Mitglied noch ein Anhänger der Atomenergie. Ich war damals so bekloppt,
den Fachleuten zu glauben, dass da nie etwas passieren kann. Erst dann habe ich angefangen, gründlich zu recherchieren, und habe gemerkt, was uns
vor allem die Fachleute an Lügen erzählt haben.
… sie hatten nur Angst, ihren Job zu verlieren. Wie
viele Atomtechniker habe ich kennen gelernt, die
gesagt haben, wir wussten alle um die Gefahren,
wir haben sie nur verdrängt. Das kann natürlich
keine Zukunftstechnologie sein, wenn sie auf Angst
aufbaut.
Dieser Mensch hat dazugelernt; viele in dieser Republik
haben das leider nicht.
In 25 Jahren ist trotzdem eine Menge Bewegung entstanden. Es gab ähnliche Leute, ähnliche Politiker, Wissenschaftler, die umgeschwenkt sind, die die Alternativen untersucht haben und die sich von der Atomenergie
abgewandt haben. Leider gilt das vor allen Dingen für
die CDU/CSU und die FDP nicht. Im Gegenteil: Vor wenigen Monaten haben Sie einen Konsens, der in diesem
Land herrschte und der Frieden in dieser Politik gebracht
hat, aufgebrochen. 25 Jahre nach Tschernobyl haben Sie,
obwohl wir die Alternativen längst kennen und aufgebaut haben, ganz ohne Not eine Laufzeitverlängerung
beschlossen, und zwar ohne die Beteiligung der Länder,
ohne eine angemessene Diskussion in diesem Parlament,
ohne die vielen internationalen und nationalen Organisationen mit einzubeziehen, die sich um dieses Thema
schon lange verdient gemacht haben, aber natürlich nach
ausgiebigen Gesprächen mit den vier Atomkonzernen.
Man darf hier auch nicht von einer Brücke sprechen;
denn es war klar: Es war nur eine Krücke, um die Atomenergie so lange am Tropf zu halten, wie es eben geht.
({2})
Dann gab es die Katastrophe in Fukushima, die uns
noch heute in Atem hält und wahrscheinlich auch noch
die nächsten Wochen, Monate und vielleicht sogar Jahre
in Atem halten wird. Wir haben in der letzten Nacht erfahren, dass es wieder ein starkes Nachbeben gab und
dass ein weiteres Atomkraftwerk ein Leck hat, und wir
wissen nicht, wo die ganze Geschichte enden wird.
Die Japaner bekommen jetzt auch langsam Angst. Die
Informationspolitik ist fatal, weil sie hauptsächlich von
einem Betreiber ausgeht. Ich finde, es ist ein Skandal,
dass ein Unternehmen, das davon lebt, Atomenergie zu
produzieren, fast eine Informationsallmacht hat, und das
in einer entwickelten Demokratie. Ich halte das für ziemlich gefährlich.
({3})
Aber auf einmal wandeln sich in Deutschland und
vielen anderen Ländern die Atomdinosaurier von Kritikern zu Fans der Erneuerbaren und kündigen das baldige
Ende der Atomenergie an. Das sind zum Teil dieselben
Personen, die uns noch vor ein paar Wochen oder Monaten als Ökospinner, Ideologen oder Panikmacher beschimpft haben. Jetzt können sie nicht schnell genug aus
der Atomenergie aussteigen.
Sie haben gesagt, dass es keinen Wettlauf gibt, Frau
Dött. Es gibt ihn aber gerade in der CDU/CSU.
({4})
Viele Länderchefs versuchen, möglichst schnell von der
Atomenergie wegzukommen, schneller als Rot-Grün es
jemals beschlossen hat.
Ich bin aber froh über jeden, der dazulernt. Besser
spät als nie, von mir aus auch erst jetzt nach Fukushima.
Dabei sollten wir aber ein paar Fragen stellen dürfen:
Warum musste es erst zu einer Katastrophe in Fukushima kommen? Es gab schon vorher andere Katastrophen neben Tschernobyl. Es gab ernstzunehmende Störfälle wie 2006 in Forsmark in Schweden, einem
hochindustrialisierten Land, mit einer Technik, die auch
in Deutschland eingesetzt wird. Auch daraus wurden
keine Lehren gezogen.
Warum haben die Politiker von CDU/CSU und FDP
nicht den Mut, ähnliche Worte zu finden wie Franz Alt
und sich für ihre Politik zu entschuldigen? Stattdessen
tun sie so, als ob das, was sie noch vor zwei Monaten gesagt haben, völlig richtig gewesen wäre.
({5})
Warum entmündigen Sie erneut das Parlament? Sie
setzen Ethikkommissionen ein, die vor 25 Jahren hätten
tagen müssen - unlegitimierte Kommissionen, die heute
darüber bestimmen sollen, wie wir mit der Atomenergie
umgehen -, statt im Parlament eine lange, ausführliche
Debatte zu führen und Anhörungen durchzuführen, zu
denen man die Experten hätte einladen können. Denn
das Thema gehört ins Parlament. Es sollte nicht etwa en
passant im Juni entschieden werden, wie wir es schon
einmal erlebt haben.
Warum machen Sie das nicht? Das zeigt doch, dass
der Lerneffekt sehr begrenzt ist. Sie beschränken sich
auf Lippenbekenntnisse, statt wirklich umzudenken.
({6})
Auch nach Fukushima gibt es den Konsens in der
Atomdebatte und in der Energiedebatte nicht, den Sie uns
vorzuspielen versuchen. Das ist auch ein Hinweis an die
Medien; denn es gibt immer noch große Unterschiede. Es
gibt viele Möglichkeiten, eine Energiewende, die jetzt angeblich alle wollen, zu verzögern. Es gibt unterschiedliche Ziele und Vorstellungen über die Zeitabläufe.
Es geht nicht nur darum, sieben Pannenreaktoren abzuschalten. Es geht nicht einmal darum, nur über die
Atomenergie insgesamt zu sprechen. Denn eine wahre
Energiewende ist eine industrielle Revolution, die ein
neues Denken erfordert.
Albert Einstein hat gesagt: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Deswegen müssen wir komplett umsteigen. Wir müssen die Energie effizienter nutzen und auf
die Erneuerbaren umsteigen. Aber nicht nur das: Wir
brauchen ein völlig neues System. Wir dürfen nicht wieder die Großstrukturen fördern. Wir müssen Energie dezentral einsetzen.
({7})
Denn eines ist klar - das ist mein letzter Satz -: Ich
möchte nicht, dass einige wenige Konzerne darüber entscheiden, wie es mit der Energiepolitik läuft, und dass wir
Profitdenken, das für die Konzerne notwendig ist - das
kreide ich ihnen nicht an -, im Zweifel über Sicherheit,
Transparenz und volkswirtschaftlichen Nutzen stellen.
Danke schön.
({8})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich sehr herzlich die Botschafterin der Ukraine,
Frau Natalia Zarudna, sowie Vertreter verschiedener
Tschernobyl-Initiativen begrüßen, für deren Arbeit ich
im Namen des Hauses sehr herzlich danke.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre
nach Tschernobyl, das ist ein Anlass, sich zu fragen: Wie
war es damals bei mir? - Ich war 1986 in der Oberstufe
meines Gymnasiums, habe ehrenamtlich die Milchbar
gemanagt und irgendwann die Erfahrung gemacht, dass
ich meine Milch nicht mehr verkaufen durfte. Ich
glaube, so etwas prägt junge Menschen und bringt Erkenntnisse. Bei mir hat es Skepsis gegenüber dieser
Technologie bewirkt.
Bei allen Abwägungen gegenüber Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit sind dies die Erfahrungen, durch die bei uns, meiner Generation, immer
ein Rest von Skepsis geblieben ist, auch wenn es in den
letzten 25 Jahren nicht zu einer Katastrophe gekommen
ist.
({0})
Wir haben 1986 als Folge von Tschernobyl die Gründung des Bundesumweltministeriums erlebt. Die FDP
beschloss im Jahr 1988, dass die Kernkraft nur eine
Übergangsenergie sein kann. Seitdem wurden keine
neuen Kernkraftwerke mehr in Deutschland gebaut.
Ich denke, das waren die damals möglichen Konsequenzen aus Tschernobyl; denn in der Zeit standen uns
die technologischen Alternativen nicht in dem Umfang
zur Verfügung wie heute. Tschernobyl und die Folgen
mahnen uns, menschliche Katastrophen und Tragödien
ernst zu nehmen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich,
dass sich der Antrag der SPD zum größten Teil mit der
menschlichen Tragödie befasst. Demgegenüber enthält
der Forderungskatalog des Antrags der Grünen kein einziges Wort zum Verhältnis zur Ukraine und zu den Menschen, die immer noch unter den Folgen von Tschernobyl leiden. Ich beglückwünsche die SPD und finde es
schade, dass die Grünen an dieser Stelle hinter den Erwartungen zurückbleiben.
({1})
Nach Fukushima stehen wir erneut vor einer Herausforderung. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Lehren aus Tschernobyl und Fukushima.
Tschernobyl war das Ergebnis menschlicher Fahrlässigkeit in Kombination mit einer nichtoptimalen Reaktortechnik. Fukushima zeigt: Selbst wenn ein Kernkraftwerk im genehmigten Betrieb sicher betrieben werden
kann, kann es äußere Einwirkungen auf den Reaktor geben, die zur Katastrophe führen. Deshalb müssen wir
Lehren aus Fukushima ziehen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die deutschen Kernkraftwerke im laufenden Betrieb sicher sind und es auch immer waren, müssen wir erkennen, dass die Sicherheitsreserven der
Reaktoren offensichtlich kleiner sind, als wir uns das
vorgestellt haben. Es ist daher richtig, dass wir jetzt Lehren ziehen und im Rahmen des Moratoriums von drei
Monaten Sicherheitsüberprüfungen nicht nur der Kernkraftwerke, sondern auch der Sicherheitsreserven und
der Sicherheitsregeln angeordnet haben.
({2})
Politik muss eine weitere Lehre ziehen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein klares demokratisches Signal
gegeben. Sie wollen schneller raus aus der Kernkraft.
Politik muss dies erkennen und entsprechend handeln.
Die FDP wird deswegen den Umbau hin zum Zeitalter der
erneuerbaren Energien beschleunigen. Das Energiekonzept des letzten Jahres sieht für das Jahr 2050 80 Prozent
Strom aus erneuerbaren Energien und 0 Prozent Kernkraftstrom vor. Allerdings müssen wir jetzt möglicherweise einen anderen Pfad verfolgen. Wir müssen dieses
Energiekonzept nicht auf den Müll werfen. Vielmehr geht
es darum, den Umbauprozess, der bereits im Energiekonzept angelegt ist, schneller hinzubekommen.
({3})
Wie können wir ihn schneller hinbekommen? Das
Hauptproblem bei den erneuerbaren Energien ist nicht,
dass wir nicht schnell genug Kapazitäten aufbauen können. Das Hauptproblem, das wir heute haben, ist, den
Strom aus erneuerbaren Energien zum Verbraucher zu
bringen. Insbesondere in Norddeutschland, wo Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien effizient angewendet werden können, gibt es riesige Kapazitäten.
Aber der Großteil der Verbraucher befindet sich im Süden und im Westen der Republik. Außerdem unterliegen
diese Stromquellen Schwankungen. Deshalb sind Speicherung und neue Stromtrassen die Schlüsselherausforderungen für die erneuerbaren Energien. Niemand sollte
so tun, als ginge es darum, ein paar Vergütungsstufen anzuheben, und schon wäre das Problem gelöst. Wir müssen umbauen, und zwar nicht nur das Energiesystem,
sondern die gesamte Infrastruktur dieser Republik. Das
ist eine riesige Herausforderung, die eine gemeinsame
nationale Kraftanstrengung und eine gemeinsame Akzeptanzoffensive erfordert. Daraus kann sich niemand
verabschieden. Da müssen wir alle gemeinsam Verantwortung tragen.
({4})
Man sollte nicht blauäugig sein und glauben, dass
diese Stromtrassen, selbst wenn wir die Genehmigungsverfahren beschleunigen, in ein bis zwei Jahren da sein
werden. Wir werden - das ist die bittere Wahrheit - kurzfristig Strom importieren, was wir schon tun, kurzfristig
die Kohlekraftwerke und die Gaskraftwerke hochfahren
und mehr CO2 produzieren. Deswegen besteht die Herausforderung vor allem darin, den Kernkraftausstieg mit
Klimaschutz zu verbinden; denn die Herausforderungen
des Klimaschutzes sind durch Fukushima nicht kleiner
geworden.
Deshalb müssen wir über das Stromsystem hinausdenken, wir müssen über das Thema Gebäudesanierung
sprechen, durch die wir schneller und kostengünstig
CO2-Emissionen und Erdgas einsparen können. Dafür
müssen auch Finanzierungsmittel bereitgestellt werden.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir ernsthaft darangehen wollen,
Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit,
auch für unsere Industrie, sicherzustellen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich mir im Fernsehen die Bilder aus Japan anschaue, dann denke ich oft an Tschernobyl. Ich war 2006
gemeinsam mit dem Umweltausschuss vor Ort. Vier
Fraktionen waren dabei; die christliche konnte sich nicht
entschließen, mitzufahren. Ich denke an die verlassenen
Städte. Ich denke an das Riesenrad, bei dessen Anblick
man sich vorstellen kann, dass dort Kinder gespielt haben. Ich denke an die Läden, die damals nach drei Tagen
verlassen wurden und die wir noch sehen konnten. Ich
habe das als sehr bedrückend empfunden.
Das sind Eindrücke, die man nie mehr vergisst. Wir
haben dort gemeinsam einen Kranz niedergelegt und uns
geschworen: So etwas darf nie wieder geschehen!
({0})
Wir waren dann in einer Klinik für krebskranke Kinder.
Diese Eindrücke wird man ebenfalls nie mehr vergessen.
Auch dort haben wir gesagt: Nie wieder! Diesen Menschen muss geholfen werden.
Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis auch bei uns ein
Umdenken spürbar wurde, wie es jetzt der Fall ist.
Wir hatten dann im Umweltausschuss eine Anhörung
zu einem Bericht der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, mit dem Titel „Tschernobyl: Das
wahre Ausmaß des Unfalls“. In diesem Bericht stand - es
gab aufgrund der Katastrophe 4 000 Tote, deshalb habe
ich mich sehr darüber geärgert -: Die größere Bedrohung
als die Langzeitbestrahlung stellen in diesen Gebieten Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Probleme
dar. - Das heißt, Sie haben schon damals versucht, zu relativieren, vergessen zu machen. Wir haben darüber sehr
gestritten. Es ist genau diese IAEO, die jetzt wieder das
Sagen hat.
27 000 Quadratkilometer kontaminierter Boden sowie
9 Millionen Menschen in der Ukraine und in Belarus
wurden betroffen, und immer noch kommen Kinder auf
die Welt, bei denen die Folgen spürbar sind. Das ist nicht
nichts, und deswegen müssen wir umdenken. Es gibt
eine Linie: Harrisburg, Majak, Sellafield usw. Ich sage
Ihnen: Das muss endlich aufhören.
({1})
Jetzt haben wir eine Zäsur. Wir haben ein Moratorium
für drei Monate. Dieses Moratorium ist auch ein Erfolg
der Anti-AKW-Bewegung, bei der ich mich hiermit bedanke. Ich sage ihr: Hört nicht auf, macht weiter so;
denn wir brauchen den Atomausstieg, und wir brauchen
ihn so schnell wie möglich!
({2})
Das Moratorium war auch dem Wahlkampf geschuldet. Viele Menschen haben das natürlich auch gespürt.
Im November letzten Jahres gab es einen großen Streit
bezüglich der Verlängerung der Laufzeiten. Wir haben
Anhörungen dazu durchgeführt. Alle Fakten lagen auf
dem Tisch; sie wurden diskutiert, genau wie jetzt. Aber
die Koalition war beratungsresistent hoch drei. Sie wollte
es nicht hören. Es hieß nur: Das ist eine Brückentechnologie, und die brauchen wir. - Es gab ein Wort, das hieß
„alternativlos“. Ich denke, dieses Wort darf in der Politik
nie mehr eine Rolle spielen; denn es gibt immer bessere
und sichere Alternativen.
({3})
Um es noch einmal zu sagen: Ein abgeschriebenes
AKW, das einen Tag länger läuft, bringt einen Profit in
Höhe von 1 Million Euro. Es geht also nicht um Peanuts
und um Brückentechnologien, sondern um die Profite
der Konzerne.
({4})
Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass
das Verbot der Atomtechnologie im Grundgesetz verankert wird. Wir wollen darüber hinaus, dass Atomtechnologie nicht mehr exportiert und auch nicht mehr finanziert wird. Wir wollen, dass der Atomausstieg nicht
revidierbar ist.
Ich war Abgeordnete des Bundestages, als der rotgrüne Atomkompromiss verabschiedet wurde. Meine
Fraktion hat dagegengestimmt, aber nicht, weil wir gegen den Atomausstieg waren, sondern weil uns das
Ganze damals zu langsam ging. Durch die vereinbarten
Restlaufzeiten werden die Atomkraftwerke zu einer Art
Gelddruckmaschine. Hinzu kam, dass der damals beschlossene Atomausstieg revidierbar war. Ich muss sagen: Leider haben wir mit unseren Befürchtungen recht
behalten, und das, obwohl ich in diesem Punkt nicht
recht haben wollte. Wir müssen den Atomausstieg unumkehrbar machen.
({5})
Machen wir uns doch nichts vor: Die Atomkonzerne
stehen schon wieder in den Startlöchern. Ihre juristischen Abteilungen überlegen doch bereits, wie sie es der
Politik schwermachen können, etwa indem sie Geld fordern. Aus diesem Grund brauchen wir ganz schnell neue
Gesetze. Die acht vorübergehend stillgelegten AKWs
dürfen nicht wieder ans Netz gehen. Der Atomausstieg
muss schnell erfolgen.
Zum Schluss: Eine Technologie, die nicht beherrschbar ist, darf nicht weiter angewandt werden. Derzeit nutzen wir zwei dieser Technologien: die Atomkraft und die
Gentechnologie. Hinzukommen wird die CCS-Technologie, die Verpressung von CO2 in Gesteinsformationen.
Diese Technologien dürfen zum Wohle der Menschen
auch dann nicht weiter angewandt oder eingeführt werden, wenn dies möglich ist. Wir, die Politikerinnen und
Politiker, sind gewählt, um Schaden vom Volk abzuhalten. In diesem Sinne müssen wir in Zukunft entscheiden.
({6})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren!
25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
gilt den Opfern unser Gedenken - vor jeder Debatte, vor
jedem Parteienstreit. Die Anzahl der Opfer ist hoch. Die
Zahlen machen uns sprachlos. Aber es macht keinen
Sinn, über die Summen zu diskutieren. Unser Bedauern
gilt jedem einzelnen Menschen.
({0})
Dem Dank an und der Anerkennung für die vielen
privaten Hilfsinitiativen und ihren Spendern kann man
sich nur anschließen. Bei dieser Gelegenheit muss es
auch darum gehen, zu unterstreichen, was der deutsche
Staat und mithin der deutsche Steuerzahler in diesem
Zusammenhang zu leisten haben: Das sind für den Sarkophag 62,5 Millionen Euro, davon sind 60,5 Millionen
Euro direkt für den Chernobyl Shelter Fund. Außerdem
zahlt Deutschland 23,5 Millionen Euro in den Nuclear
Safety Account.
({1})
Im Übrigen werden wir uns mit geschätzten 10 Prozent
an der Deckung der noch bestehenden Finanzierungslücke von immerhin 740 Millionen Euro beteiligen, ganz
zu schweigen von über 50 Millionen Euro, die wir anteilig über die EU bezahlen.
Ich bitte Sie, es nicht als Populismus zu verstehen,
wenn ich bei dieser Gelegenheit unterstreiche, dass in
diesem Zusammenhang insbesondere die ehemaligen
Sowjetstaaten und ganz besonders das rohstoffreiche
Russland gefordert sind, nach dem Verursacherprinzip
hier ihren Anteil zu leisten.
({2})
Da ich an diesem Punkt bin: Es wurden die
600 000 Liquidatoren angesprochen, die damals von der
Sowjetunion ohne einen angemessenen Schutz vor der
Strahlung quasi ins Feuer geschickt wurden, ohne dass
sie die Strahlendosis, der sie ausgesetzt waren, gekannt
hätten. Zum heutigen Tag gehört, deutlich zu sagen, dass
wir alle froh sein müssen, dass das linke Sowjetregime
ein Ende hatte und dass auch die Wiedervereinigung dafür Sorge getragen hat - da schütteln die Linken schon
den Kopf -, dass uns auf deutschem Boden Umweltkatastrophen solchen Umfangs erspart geblieben sind.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Aber gern.
Danke schön, Herr Nüßlein. - Ich möchte nicht in
Abrede stellen, dass in Tschernobyl viel zu viele Menschen gestorben sind. Aber ich möchte Sie fragen, ob
Ihnen bekannt ist, dass es bei uns eine Initiative „Atomopfer“ gibt. Die meisten Mitglieder der Initiative sind inzwischen gestorben. In dieser Initiative haben sich
Atomopfer aus Ost und West zusammengeschlossen. Es
handelte sich dabei unter anderem um Leiharbeiter in
den AKWs in Westdeutschland. Ist Ihnen bekannt, dass
in Japan die meisten Liquidatoren, oder wie sie sich nennen, Leiharbeiter sind? Das finde ich genauso schlimm.
Sie haben genauso wenig Schutz wie die anderen. Das
ist ein systemübergreifendes Problem, dem wir uns widmen müssen; denn sozialistische Atomkraftwerke sind
nicht besser oder schlechter als kapitalistische - das
musste ich lernen -, sondern es ist die falsche Technologie.
({0})
Ich bedanke mich zunächst dafür, dass Sie meine Redezeit verlängern. Ich wäre natürlich noch auf Fukushima gekommen. Auch hätte ich betont, dass die dortige Informationspolitik nicht optimal ist. Natürlich tut
man sich in einer so schwierigen Phase schwer, eine Regierung von außen zu kritisieren; aber die Informationspolitik, die dort betrieben wird, ist durchaus kritikwürdig. Es ist kritikwürdig, wie - vermutlich kulturbedingt mit den Geschehnissen - ursprünglich mit einem hohen
Maß an Gelassenheit - umgegangen wurde. All das
muss man durchaus kritisieren.
({0})
Liebe Kollegin, Sie werden aber doch wohl nicht
leugnen, dass es in der Umweltpolitik einen Unterschied
zwischen dem alten Sowjetregime und den westeuropäischen Demokratien gab. Da können Sie mit dem Waldsterben anfangen, das damals entlang der Zonengrenze
besonders spürbar war. Man konnte sehen, woher das
kam, nämlich von den Dreckschleudern, die in der DDR
standen. Sie haben versucht, das zu einem globalen Problem hochzustilisieren. Das hing aber unmittelbar mit
der Tatsache zusammen, dass man in der DDR auf die
Umwelt keine Rücksicht genommen hat. - Da können
Sie jetzt den Kopf schütteln, aber das ist nun einmal so.
({1})
Diese Reaktoren, die es in Tschernobyl gab, wären
- das wissen Sie ganz genau - bei uns nicht genehmigungsfähig gewesen. Das unterscheidet uns aber nicht
nur von Sowjetrussland, sondern auch ganz deutlich von
der DDR. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefallen wird.
Das verstehe ich auch; aber es ist nun einmal eine Tatsache, die zu leugnen für Sie blamabel ist. - Da sieht man
wieder, wes Geistes Kind Sie nach wie vor sind.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Aber gern.
({0})
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben gerade das Bild gezeichnet, dass unter den konservativen Regierungen hier
im Westen eine wesentlich bessere Umweltpolitik betrieben worden wäre, ohne dass es ein Problem mit der GeHans-Josef Fell
sellschaft gegeben hätte. Nur im Osten hätte es Probleme
gegeben.
Ist Ihnen bekannt, dass es nach der Katastrophe von
Tschernobyl in Deutschland ein unglaubliches Unwissen
und ein Informationsdesaster gab? Es gab unter anderem
Beschwichtigungen und andere Dinge. Ich zitiere aus
einem Interview des damaligen Umweltministers
Zimmermann von der CSU aus Bayern. Er sagte in diesem Interview im letzten Jahr:
Nach Tschernobyl haben Kohl und Schäuble täglich
bei mir angerufen und verlangt: herunterspielen, die
Leute sollen Gemüse essen.
Das Problem mit der Radioaktivität solle nicht so in der
Öffentlichkeit dargestellt werden, wie es sei.
({0})
Erstens glaube ich nicht, dass Sie, Herr Kollege Fell,
für die Informationsdefizite, die es damals ursprünglich
gab - sie waren in der Informationspolitik der Sowjetunion begründet -, jetzt einen CSU-Minister verantwortlich machen wollen. Das traue ich Ihnen nicht zu.
Zweitens bitte ich Sie - da Sie angeblich einer Umweltpartei angehören
({0})
und wir uns hier in einer demokratischen Vertretung des
deutschen Volkes befinden -, schon auch mit einem gewissen Stolz auf das zu schauen, was wir in Westdeutschland und dann in Gesamtdeutschland geleistet
haben. Sie werden doch nicht in Abrede stellen wollen,
dass das, was sich in den letzten Jahrzehnten hier umweltpolitisch bewegt hat, um Klassen besser als das war,
was irgendwo im Ostblock geschah.
({1})
Dazu leisten Sie, lieber Kollege, Ihren Beitrag als Abgeordneter so wie ich. Wir sollten unser Licht nicht unter
den Scheffel stellen.
({2})
Lassen Sie mich nach diesem Nebenkriegsschauplatz,
den ich gar nicht in dieser umfassenden Form eröffnen
wollte, auf das zu sprechen kommen, worauf es ankommt, nämlich: Wie geht es weiter? Was bedeutet Fukushima für uns? Wie bewerten wir das sogenannte
Restrisiko neu?
Ich bitte Sie: Hören Sie auf, von Wahlkampftaktik zu
sprechen! Diese Zeit ist vorbei. Sie müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, dass wir das Restrisiko neu bewerten und uns die Frage stellen, was passiert, wenn sich
absolut unvorhersehbare Ereignisse duplizieren. Das
wird für unsere Politik natürlich Konsequenzen haben.
Ich sage ganz selbstbewusst: So gradlinig, wie Sie es
gerne darstellen, meine lieben Kollegen von Rot-Grün,
ist Ihre Kernenergiepolitik nie gewesen. Wenn Sie 1986
tatsächlich die Lehren gezogen hätten, die Sie hier beschreiben, wären Sie spätestens, als Sie an die Regierung
gekommen sind, sofort ausgestiegen. Das haben Sie
nicht getan. Sie hatten 2000 einen Hebel in der Hand,
haben aber den Betrieb der Atomkraftwerke für 20 weitere Jahre in Kauf genommen, und zwar auf Basis einer
Sicherheitsbetrachtung, über die wir alle uns offenkundig einig waren. Das stimmt doch wohl. Sonst hätten Sie
es vermutlich nicht gemacht.
({3})
Sie haben in dem sogenannten Ausstieg, in dem Konsens, den Sie hier beschwören, ganz klar formuliert: Die
deutschen Kernkraftwerke laufen auf einem im internationalen Vergleich hohen Sicherheitsniveau. Sie sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen und haben gesagt: Wir werden an diesem Sicherheitsstandard und an
der zugrunde liegenden Sicherheitsphilosophie nichts
ändern. Das war ein Versprechen an die Versorger.
({4})
- Sie schreien „Lüge“. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtig bei Dingen, die man schwarz auf weiß hat, die man
nachlesen kann und die in dieser Vereinbarung so deutlich stehen.
({5})
- Hier geht es nicht darum, ob es mir nützt oder nicht.
Ich sehe das nicht parteipolitisch, nicht einfach schwarzweiß, wie Sie das jetzt gern hätten. Sie werden sich noch
ganz schön wundern, wenn Sie sehen, in welchem Maße
wir bereit sind, die Energieversorgung dieses Landes
umzubauen.
Eine klare Lehre aus Tschernobyl muss heißen: Radioaktivität macht nicht an Grenzen halt. - Was mich am
meisten umtreibt, bei aller Bereitschaft, hier im Lande
etwas zu ändern, ist die Tatsache, dass in den Ländern
um uns herum, wenn man einmal von Italien absieht,
wenig Bereitschaft vorhanden ist, andere Wege zu gehen. Ich sage Ihnen auch ganz offen: Es trifft doch zu,
dass der Import von Kernkraftstrom aus Tschechien oder
Frankreich, wie er momentan stattfindet, maximal die
gefühlte Sicherheit, aber nicht die tatsächliche Sicherheit
erhöht.
Wir werden Konsequenzen technischer wie ökonomischer Art ziehen. Wenn man das Moratorium ernst
nimmt, kann man an dieser Stelle nicht vorgreifen. Aber
ich sage Ihnen: Es ist schwierig, den Ausstieg in Jahren
zu bemessen. Mir wäre wohler, wenn wir uns beim Ausstieg in diesem Land an Vorgaben, an Umstellungen, an
Änderungen, an Strommengen orientieren würden. Es
stellt sich nämlich die Frage: Was gelingt uns im Bereich
der erneuerbaren Energien? Was gelingt uns beim Ausbau von Stromnetzen?
Das ist mir deshalb wichtig, weil man da auch die Opposition in die Pflicht nehmen kann. Auch die Opposition muss ihren Beitrag leisten, nicht nur bei Debatten
hier, sondern umfassend, wenn es wirklich um einen
Konsens geht, wie ihn Herr Trittin heute angekündigt
hat.
Was beispielsweise den Ausbau von Infrastruktur angeht, werden wir meiner Auffassung nach über Themen
wie die Abschaffung der Verbandsklage oder die Einführung eines eigenen Klageweges reden müssen, um zu
einer Beschleunigung zu kommen. Wir werden die Opposition immer wieder bitten müssen, sich nicht in Bürgerinitiativen gegen Stromtrassen, Pumpspeicherkraftwerke oder Wasserkraftanlagen zu engagieren und das
auf allen politischen Ebenen auch durchzustehen.
({6})
Wir müssen vom reinen Aufbau von Kapazitäten im
Bereich der erneuerbaren Energien wegkommen hin
zum Aufbau einer Versorgung mit erneuerbaren Energien. Das ist nicht einfach. Wir brauchen intelligente
Modelle zur Netzintegration. Das wird das Kernthema
des EEG sein. Wir brauchen echte Innovationsförderung
statt der Besitzstandwahrung, die wir an dieser Stelle erleben. Statt der Förderung chinesischer PV-Module
brauchen wir etwas, was die Innovationen hier in diesem
Land voranbringt. Ich halte das EEG für ein geeignetes
Instrument, um das zu tun, wenn man das eine oder andere anders akzentuiert. Dazu sind wir bereit.
Das wird auch bedeuten, dass wir die eine oder andere
konventionelle Ersatzkapazität brauchen. Dies geht in
die Richtung effizienter Gaskraftwerke. Das muss uns
klar sein. Es geht darum, Industriestrom zu produzieren,
den sich die Industrie noch leisten kann. Wir werden in
diesem Zusammenhang auch eine Entlastungsdebatte
führen und die Frage beantworten müssen, wie wir energieintensive Betriebe, die physikalisch kein Potenzial
zur Effizienzsteigerung haben, entlasten. Das bedeutet in
der Konsequenz zusätzliche Belastungen von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das Ganze gibt es nicht
zum Nulltarif; das muss uns klar sein.
Am meisten beschäftigt mich Ihre Behauptung - die
ist populär -, dass wir die Laufzeitverlängerung vereinbart hätten, um die Gewinne der Versorger zu sichern.
Wir haben das gemacht, weil wir einen Weg gesucht haben, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und die
Energieforschung zu finanzieren. Dieser Weg bricht jetzt
weg. Da muss uns etwas einfallen. Das wird - auch das
gehört zur politischen Wahrheit - teuer für die Stromverbraucher.
({7})
Das müssen wir uns alle merken.
In diesem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören.
({8})
Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte versuchen, auf das Ereignis zurückzukommen
und in der Debatte einen anderen Akzent zu setzen. Man
muss es wohl wirklich als tragischen Zufall bezeichnen,
dass die Reaktorkatastrophe von Fukushima beinahe
zeitgleich auf den 25. Jahrestag des Unfalls in Tschernobyl fällt. Tatsächlich kann man Fukushima und Tschernobyl nicht gleichsetzen; das würde der Einzigartigkeit
beider Ereignisse nicht gerecht werden.
Allerdings gibt es auch heute viele - wie ich finde nicht ganz unberechtigte Stimmen, die befürchten, dass
auch die Ereignisse in Japan bald zu einer Episode werden und dass es zu einer Verdrängung kommen kann,
wie dies nach Tschernobyl der Fall gewesen ist; ein Verdrängungsprozess, der wirtschaftliche Interessen über
Sicherheitsinteressen und einen gesellschaftlichen Konsens stellt. Ich denke, wir sollten auch in dieser Debatte
zum Ausdruck bringen, dass wir diesen Verdrängungsprozess in unserem Land nicht geschehen lassen wollen.
({0})
Die Opfer der Katastrophe von Tschernobyl können
es sich nicht erlauben, zu vergessen. Für sie ist Tschernobyl nicht die Erinnerung an ein Ereignis vor
25 Jahren. Sie leben bis heute mit Tschernobyl und allen
Folgen, wahrscheinlich noch über viele Generationen hinaus. Deswegen darf es allein aus Respekt vor den Opfern und denen, die sich dort engagieren, kein Vergessen
und Verdrängen geben, weder von Tschernobyl noch von
Fukushima in der Zukunft.
({1})
Tschernobyl ist auch der Ausgangspunkt einer bis
heute einzigartigen Solidaritätsbewegung in Europa. In
zahlreichen Ländern wurden nach der Katastrophe Vereine und Verbände gegründet, die mit ihrer Arbeit beispielhaft für bürgerschaftliches Engagement stehen.
Ohne deren Engagement wären die Opfer der Katastrophe schlicht alleingelassen worden.
Es waren und sind die Nichtregierungsorganisationen,
die der Bevölkerung die meiste Hilfe zur Minderung der
Katastrophenfolgen gewährten. Es wurden und werden
heute noch zahlreiche Hilfstransporte organisiert. Krankenhäuser wurden in großer Anzahl umgebaut und neu
ausgestattet. Ärztefortbildungen vor Ort haben den Alltag in Krankenhäusern verändert, und aufgrund der besseren medizinischen Versorgung konnten Leben gerettet
werden. Vor allem hat mithilfe dieser Organisationen
mittlerweile über 1 Million Kinder aus Osteuropa im
Ausland Erholungsaufenthalte gehabt.
Einige Vertreter dieser Organisationen haben heute
auf der Tribüne Platz genommen. Diese Arbeit der VerOliver Kaczmarek
eine und Verbände, hinter denen unbezahlbares ehrenamtliches Engagement steht, verdient deshalb höchste
Anerkennung. Das wollen wir auch durch diese Debatte
und durch unsere Anträge zum Ausdruck bringen.
({2})
Doch 25 Jahre nach der Katastrophe sehen sich die
Tschernobyl-Initiativen mit wachsenden Problemen konfrontiert: Mangelnder Nachwuchs und ein allgemein geringeres Spendenaufkommen sind nur die eine Seite.
Noch schwerwiegender sind für sie die Schwierigkeiten,
mit denen sie bei ihrer Arbeit durch die belarussische
Regierung konfrontiert werden. Sie behindert die zivilgesellschaftlichen Organisationen oft durch die Errichtung massiver bürokratischer Hürden. Deshalb mahnt
Tschernobyl tatsächlich und ganz konkret: Es mahnt uns,
unsere Verantwortung hier bei uns unter der großen
Überschrift der „europäischen Verantwortung für
Tschernobyl“ wahrzunehmen.
Wir wollen die Menschen vor Ort nicht alleine lassen.
Wir wollen an Tschernobyl erinnern und am Aufbau einer aktiven Erinnerungskultur mitwirken, gerade jetzt,
wo es einen Generationswechsel in den Hilfsorganisationen gibt. Wir wollen diejenigen nach Kräften unterstützen, die es sich nicht nehmen lassen wollen, trotz diverser Schwierigkeiten weiter zu helfen, die sich nicht
unterkriegen lassen. Wir als Bundestag können nämlich
mehr tun, als nur Danke sagen. Wir können konkrete
Unterstützung leisten. Ich will vier Elemente nennen,
über die wir schon mit den Initiativen ins Gespräch gekommen sind und die diesen auch besonders wichtig
sind.
Erstens. Das Förderprogramm Belarus, das im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etatisiert ist, muss auch nach
dem Auslaufen der fünften Förderphase über das Ende
dieses Jahres hinaus verlängert werden.
({3})
Mit diesem Programm fördert das Ministerium 42 zivilgesellschaftliche Projekte, die jeweils von deutschen und
belarussischen Nichtregierungsorganisationen durchgeführt werden. Das Programm ist zudem ein zentrales
Element, um den Aufbau der belarussischen Zivilgesellschaft zu unterstützen. Gerade nach der Verunsicherung
der Zivilgesellschaft infolge der Präsidentschaftswahlen
in Belarus - ich erspare mir, darauf im Detail einzugehen ist es umso wichtiger, dass wir die Aktivitäten weiter unterstützen und deutlich machen: Wir geben Belarus nicht
auf.
({4})
Zweitens. Wir müssen Wege finden, den Austausch
mit Kindern und Jugendlichen, die heute immer noch in
radioaktiv belasteten Regionen leben, dauerhaft zu sichern. Dabei ist es durchaus sinnvoll, mit den vorhandenen ehrenamtlichen Initiativen in Deutschland in Dialog
zu treten. Von diesen ist der Gedanke eines europäischen
Jugendwerkes entwickelt worden. Dieser Idee sollten
wir nachgehen und sie prüfen. Wenn wir nämlich weiterhin für die Ermöglichung dieses Austausches sorgen,
senden wir auch das nicht zu vernachlässigende Signal
an die junge Generation in Belarus und der Ukraine: Ihr
seid willkommen in Europa. Ihr seid Teil von Europa. Das ist eine wichtige Botschaft für die dort Lebenden.
({5})
Drittens. Die Staatsführung in Belarus muss die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützen; sie darf sie zumindest nicht weiter erschweren. Es
ist Aufgabe der Regierung und auch des Parlaments
- das erwarten wir -, Druck auf die belarussische Regierung auszuüben, damit die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wird, beispielsweise
durch eine transparente und unbürokratische Vergabe
von Visa.
({6})
Viertens. Erinnerung und Zukunft brauchen Orte in
Belarus und in der Ukraine. Tschernobyl ist nicht in erster Linie eine Technikkatastrophe, sondern Tschernobyl
ist vor allem eine menschliche Katastrophe. Es ist die
Aufgabe, dauerhaft an diese Dimension zu erinnern sowie die Perspektive einer von Atomkraft unabhängigen
Energieversorgung zu eröffnen. Wenn wir das schaffen,
können wir auch eine dauerhafte Perspektive zum Leben
mit Tschernobyl in den betroffenen Regionen ermöglichen.
Meine Damen und Herren, wir können das natürlich
heute hier nur anreißen und andiskutieren. Mir sind auch
die innenpolitischen Umstände dieser Debatte völlig
bewusst. Ich weiß, dass zahlreiche Kolleginnen und
Kollegen aus allen Fraktionen in Tschernobyl-Initiativen, -Vereinen und -Verbänden mitarbeiten bzw. Mitglied sind. Deswegen lautet mein Appell, diese Arbeit
politisch zu unterstützen. Es wäre schön, wenn wir es gemeinsam schaffen, in den von mir genannten Punkten,
die auch die Initiativen betreffen, zu Lösungen zu kommen. Das könnte eine echte Unterstützung für die Menschen darstellen, die auch in Zukunft noch über viele
Generationen mit Tschernobyl leben müssen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre
nach dem verheerenden Unglück von Tschernobyl ist es
notwendig und richtig, dass wir uns immer wieder daran
erinnern und dass wir nachdenklich bleiben.
Ich habe in den drei Anträgen der Opposition unter
anderem die Forderungen gefunden, dass wir unsere Unterstützung der zivilen Gruppen aufrechterhalten sollen
und dass wir uns weiterhin um die von der Katastrophe
betroffenen Menschen kümmern sollen. Dies findet unsere Unterstützung. Die humanitäre Hilfe und die Zusammenarbeit müssen weitergeführt werden.
({0})
Trotz der vielen guten Ansätze, die in diesen Anträgen zu finden sind, haben mich die ewig gleichen Feststellungen zur Kernkraft doch ein wenig ermüdet. In
letzter Konsequenz hätten die Anträge der Grünen und
der Linken die Überschrift haben können „Kraftwerke in
Deutschland abschalten“. Das hat mich ein bisschen genervt.
Ich war 2006 ebenso wie Frau Bulling-Schröter, Herr
Müller und Herr Fell in Tschernobyl; Herr Müller gehört
heute dem Parlament nicht mehr an. Wir haben dort sehr
interessante Gespräche geführt. Ich habe eine vielleicht
etwas andere Erinnerung daran als Frau Bulling-Schröter
oder Herr Fell.
An eine Sache kann ich mich besonders gut erinnern.
Wir hatten ein gemeinsames Arbeitsessen mit einem Ingenieur, der ehemals in Tschernobyl gearbeitet hatte und
der dort in den ersten Tagen nach der Katastrophe tätig
war. Er selbst, ein Mann wie ein Schrank, war robust.
Aber viele seiner Freunde sind an den Folgen des Unglücks gestorben. Wir haben uns über die damaligen
Vorkommnisse unterhalten. Er hat uns erklärt, dass ein
RBMK-Reaktor auf einer anderen Technik beruht als die
anderen europäischen Reaktoren. In Tschernobyl wurde
Grafit als Moderator benutzt, was hochgradig brennbar
ist. Die anderen europäischen Reaktoren arbeiten mit
Wasser als Moderator. Das kann zum Glück nicht brennen. Wir haben es also mit ganz unterschiedlichen Reaktorfamilien zu tun.
Dieser Ingenieur hat uns damals weiterhin erzählt:
Wir haben ein Experiment durchgeführt - es war also
kein Test, sondern ein Experiment -, das wir nie hätten
wagen dürfen. Wir haben nämlich die Notkühlung ausgeschaltet und am Ende vergessen, diese wieder zu aktivieren. - Es hat sich also um einen menschlichen Fehler
gehandelt. Das sagt sehr viel aus über die unterschiedliche Sicherheitskultur.
Natürlich wurden aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl Lehren gezogen, was dazu geführt hat, dass die Sicherheitstechnik in den osteuropäischen Ländern im Bereich des Machbaren wesentlich verbessert worden ist.
Deutschland hat zu Beginn der 90er-Jahre mit dem
Transfer von Know-how sehr geholfen. Auch bei uns
wurden aufgrund des Reaktorunfalls die Sicherheitsanforderungen für Reaktoren verschärft und die technischen Sicherheitskonzepte verbessert.
In Kiew haben wir mit dem Energieminister gesprochen. Wenn Herr Fell und auch Frau Bulling-Schröter an
solchen Gesprächen teilnehmen, dann werden natürlich
die erneuerbaren Energien angepriesen, und es wird angeboten, entsprechende Anlagen zu liefern. Aber der
Energieminister hat uns doch eine deutliche Abfuhr erteilt, indem er darauf hingewiesen hat, dass man angesichts der Probleme bei den Gaslieferungen weiterhin
auf die Kernenergie setzen will.
Ich will in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen
nennen; denn in den Anträgen klingt immer durch, wir
könnten anderen Länder vorschreiben, mit der Kernenergie aufzuhören.
({1})
- Man kann es jedenfalls so interpretieren.
({2})
Wir müssen folgende Tatsachen ins Auge fassen: In
der Ukraine gibt es vier Standorte mit insgesamt
15 Blöcken. Acht Reaktorblöcke sind seit 1986 in Betrieb gegangen; zwei befinden sich derzeit im Bau.
20 weitere Reaktorblöcke sind noch in der Planung. Das
muss man sich einmal vorstellen. Ich glaube nicht - Herr
Fell, vielleicht haben Sie andere Informationen -, dass
bezüglich der erneuerbaren Energien eine aufgeschlossenere Haltung zu erkennen ist.
({3})
- Das ist wenigstens etwas. Dann können wir ja „ein
bisschen“ beruhigter sein.
Aber was ich noch sagen wollte, ist Folgendes: Auch
Deutschland hat natürlich einiges getan. Wir haben sehr
viel Geld in die Hand genommen. Es gibt ein internationales Forum, bestehend aus 24 Geberländern, das viel
Geld bereitgestellt hat. Darunter sind auch sechs kleinere
Geberländer. Japan hat zugesagt, seine Gelder trotz der
Katastrophe weiterhin zur Verfügung zu stellen.
Wir haben versucht, die Mittel für die Stabilisierung
des zerstörten Reaktorgebäudes bereitzustellen. Es hat
lange gedauert. Das Design war lange Zeit nicht bekannt. Wir erhalten auch wenig Informationen über den
Fortgang des Bauvorhabens.
Ich nenne einmal ein paar Zahlen zu den Folgen eines
solchen Unglücks, wobei ich hervorheben möchte, dass
die internationale Gemeinschaft den Betroffenen wirklich beisteht: Bei den Kosten für einen Sarkophag, also
eine Hülle um den zerstörten Reaktor, ist man zunächst
von 715 Millionen Euro ausgegangen. Mittlerweile geht
die Kostenannahme sogar so weit, dass man wahrscheinlich 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro wird aufwenden müssen.
Die Geberländer haben gesagt: Das wird schwer werden,
aber wir werden dieses Geld irgendwie auftreiben. Es ist
uns wichtig, dass dieses zerstörte Reaktorgebäude einen
ökologisch sicheren Abschluss bekommt und dass von
dort keine weitere Gefahr mehr ausgehen kann.
Ich weiß, dass die beschädigte Wand mittlerweile stabilisiert worden ist, dass diese Maßnahme vollendet ist.
Ich weiß auch, dass die Fundamente für die Kräne in Angriff genommen worden sind, die benötigt werden, um
die Hallenbögen schaffen zu können, und dass man - optimistisch gerechnet - im Jahre 2014 die Hülle über den
zerstörten Sarkophag wird schieben können.
Warum erzähle ich das hier? Ich möchte darauf hinweisen, dass solche extremen Ereignisse, wie wir sie
jetzt auch in Japan erlebt haben, die Hilfe der internationalen Gemeinschaft erfordern. Ich habe ein wenig betrübt feststellt - das haben viele andere auch getan -,
dass die Japaner sich zunächst nicht haben helfen lassen.
Ich hoffe, dass wir da jetzt ins Gespräch kommen und
auch etwas tun können. Dazu rufe ich Sie alle - auch in
Anbetracht der Erinnerung an Tschernobyl - auf.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben gehört,
welche Folgen die Katastrophe in Tschernobyl 1986
hatte: 400 000 Menschen mussten umgesiedelt werden.
Rund 850 000 Menschen, sogenannte Liquidatoren, waren mit der Beseitigung der konkreten Folgen beschäftigt. 280 000 Menschen müssen bis heute in den am
stärksten verstrahlten Gebieten leben. Man geht von
rund 100 000 Todesfällen aus, die mittelbar oder unmittelbar mit der Katastrophe zu tun haben. Die Folgekosten werden auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar
geschätzt.
Aber Tschernobyl war nicht der einzige große Unfall;
es gibt vielmehr eine ganze Latte. Ich möchte nur wenige
aufzählen. Three Mile Island 1979: 200 000 Menschen
mussten evakuiert werden. Als in Majak im September
1957 ein Tank mit radioaktiven Abfällen explodierte,
starben 1 000 Menschen; 10 000 wurden verstrahlt. Im
selben Jahr, einen Monat später, kam es zu einem Unfall
in Sellafield, Großbritannien, der auch diverse Todesopfer zur Folge hatte. Es gibt noch weitere Unfälle.
Alle diese Unfälle und Störfälle haben eines gemeinsam: Unter gravierenden Sicherheitsmängeln, oftmals
verursacht durch Schlamperei, Kosteneinsparungsdruck,
Profitsucht einzelner Manager in irgendwelchen Vorstandsetagen, müssen Tausende und Hunderttausende
von Menschen leiden. Sie leiden nicht nur im Moment
des Unglücks, sondern auch Jahre und Jahrzehnte später,
oft über viele Generationen. Ihnen wird ihre Heimat, ihre
Existenzgrundlage genommen. Agrarland kann nicht
mehr bewirtschaftet werden. All diese Folgen sehen wir
in Tschernobyl, und sie drohen in Japan jetzt auch.
Landverwüstung, Opferzahlen und andere katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben eigentlich
längst das Ausmaß eines permanenten Kriegsschauplatzes, der mit jedem Unfall größer wird. Mehr noch: Die
Folgen der radioaktiven Dauerbelastung reichen weit in
kommende Jahrhunderte hinein. Ich erinnere nur an die
ungelöste Frage der Atommüllverwahrung. Von daher
finde ich den Satz sehr richtig und wichtig, den der ehemalige Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofs in
Den Haag nach den Ereignissen in Fukushima in einem
offenen Brief an die Umweltminister aller Staaten formulierte. Er schrieb:
Deshalb sind wir die zerstörerischste Generation
der Menschheitsgeschichte.
Die Opfer von Katastrophen sind immer auch diejenigen, die nach dem Ereignis noch mit den Kosten behelligt werden und diese selber tragen müssen. Atomkraftwerke - das ist bereits angesprochen worden - sind nicht
versicherbar. Die immensen Kosten zahlt hinterher die
Bevölkerung, von der oftmals ein großer Anteil zugleich
die Geschädigten sind. Allein in Deutschland wurden als
Ausgleich für die durch Tschernobyl verursachten wirtschaftlichen Schäden bis Juni 2010 rund 240 Millionen
Euro Entschädigungsleistungen aus Steuermitteln gezahlt. So viel zu der Frage, ob Atomkraft billig ist. Den
Menschen, die von dem Unglück betroffen waren, wurden zunächst großmundige Versprechungen gemacht;
letztendlich aber stehen sie alleine da und müssen mit
den Folgen klarkommen.
Die Entscheidung für Hochrisikotechnologien wie die
Atomkraft ist nicht mit arroganten und nach Profit strebenden Konzernen zu treffen. Eine solche Frage muss
vielmehr in der Gesellschaft diskutiert und demokratisch
entschieden werden.
({0})
Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland hat dazu
eine sehr klare Meinung. Jedes Zögern - sei es durch die
Industrie oder durch uns selbst verursacht -, das Atomkraftwerke unnötig weiter am Netz lässt, ist dazu geeignet, die Risiken zu mehren. Das ist ein Bruch mit dem
Postulat des Grundgesetzes, dass der Wille der Mehrheit
der Bevölkerung umzusetzen ist und dass diese Umsetzung unsere Aufgabe ist.
Die Respektlosigkeit, mit der zunächst gesagt wurde,
das mit dem Moratorium sei doch nur zur Beruhigung
gewesen, während hinterher gesagt wurde, es sei ein
Protokollfehler gewesen, empfinde ich - und ich glaube,
nicht nur ich - als eine Verhöhnung der Opfer von
Tschernobyl und Fukushima.
({1})
Wir müssen in dieser Gesellschaft anders diskutieren.
Wir müssen in der Breite diskutieren; viele Menschen
fordern das berechtigterweise ein. Die Menschen tun selber etwas, indem sie zum Beispiel den Stromanbieter
wechseln. Sie machen Druck, sei es, indem sie woanders
Kunden werden, oder, indem sie auf die Straße gehen.
Denn sie wissen: Erst wenn das letzte Atomkraftwerk
vom Netz genommen und in seine Einzelteile zerlegt
wurde, wenn die Verwahrung des Atommülls zumindest
ansatzweise sicher geregelt ist, erst dann sind Restrisiken minimiert. Erst dann werden wir den Opfern in
Tschernobyl, Fukushima und in all den anderen Orten
gerecht und haben ihre Botschaft verstanden.
({2})
Dies gilt nicht nur für uns, sondern auch für die Generationen, die uns folgen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Manfred Grund für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war
es wohl mit der Menschheitsbeglückung durch billigen
Atomstrom. Erinnern wir uns: Zwischen 1969 und 1982
wurde in der alten Bundesrepublik Deutschland mit dem
Bau von 19 Kernkraftwerken begonnen. 18 weitere waren in Planung. Regierungspartei war die SPD.
Auch die DDR hatte ihre Atomkraftwerke. Im Jugendweihehandbuch Weltall Erde Mensch wurde den
staunenden Kindern erklärt, dass mit einer Uranmenge
in der Größe einer Eisenbahnfahrkarte der Energiebedarf
einer ganzen Stadt gedeckt werden könne.
({0})
In der Zeitung Fröhlich sein und singen gab es das Atomino, um den Kindern die strahlende Zukunft zu erklären.
Der Atomtraum war zuerst in der ausgehenden DDR
ausgeträumt; die Anlagen wurden geschlossen und demontiert. Die Transporte aus diesen Anlagen sorgen bis
heute für Ärger. Was Tschernobyl für die Ukraine und
Weißrussland brachte, das wäre als Ergebnis des Uranbergbaus durch die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut über Ostthüringen und Westsachsen
gekommen: verseuchte und verstrahlte Tagebaulandschaften, eine verwüstete Umwelt, unbewohnbare Städte
und Dörfer. Die Beseitigung der Wismut-Altlasten hat
bereits mehr als 7 Milliarden Euro gekostet, und sie kostet immer noch viel Geld.
({1})
Das ist aber gut angelegtes Geld. Aus der ehemaligen
Wismut-Region sind so blühende Landschaften entstanden, ausweislich der Bundesgartenschau in Gera und
Ronneburg.
({2})
Der vereinten Linken, hervorgegangen aus der Regierungspartei der DDR, fällt dazu nichts ein,
({3})
erst recht keine Entschuldigung oder ein Dankeschön an
den bundesdeutschen Steuerzahler. Das hindert die
Linke nicht, in ihrem Antrag die unverzügliche Stilllegung aller Atomkraftwerke in Deutschland zu fordern.
({4})
Wer wird sich, wenn es um die Weltrettung geht, schon
mit der eigenen Vergangenheit aufhalten?
({5})
Ganz so nassforsch ist der Antrag der Bündnisgrünen
nicht. Aber immerhin fordern sie, „auf nationaler Ebene
den gesetzlichen und finanziellen Rahmen dafür zu
schaffen, die Atomkraftnutzung bis spätestens 2017 zu
beenden“. Die geltende Gesetzeslage sieht wie folgt aus,
festgehalten im Energiekonzept der Bundesregierung
vom Herbst letzten Jahres:
Beim Energiemix der Zukunft sollen die erneuerbaren Energien den Hauptanteil übernehmen. Auf diesem Weg werden … die konventionellen Energieträger … durch erneuerbare Energien ersetzt.
Auf dem Weg dorthin stellt die Kernenergie eine zeitliche und eine finanzielle Brücke dar. Nach Fukushima
trägt diese Brücke nicht mehr.
Die Energieumstellung muss wesentlich schneller gehen und wird wesentlich mehr kosten. Beides hat Konsequenzen für die Verbraucher in der Industrie und in den
Haushalten, aber auch für die Politik. Einige Hausnummern zu den Kosten: Wenn sich die „grüne“ Kraftwerksleistung bis 2040 auf 120 Gigawatt verdreifachen soll,
sind dafür durch die Stromkunden 100 Milliarden Euro
zusätzlich aufzubringen. Mit ebenfalls dreistelligen Milliardenbeträgen wird der Umbau des Hochspannungsnetzes zu Buche schlagen. Zurzeit beträgt die Durchschnittsentfernung zwischen Kraftwerk und Großverbraucher
40 Kilometer. In Zukunft werden es 400 Kilometer und
mehr sein. Nach einer Studie der dena werden insgesamt
knapp 4 000 Kilometer Hochspannungsleitungen neu zu
bauen sein. Ähnliches gilt für Anlagen zur Energiespeicherung, zum Beispiel Pumpspeicherkraftwerke. Auch
diese müssen neu gebaut werden.
Die Internationale Energieagentur rechnet für die
Europäische Union für notwendige Investitionen in
Kraftwerke und Netze bis 2020 mit Kosten von bis zu
1 Billion Euro. Doch ist es mit Geld allein nicht getan. Es
muss auch tatsächlich gebaut und investiert werden. Wer
schnell aus der Nutzung der Atomkraft heraus will und
ebenso die Kohleverstromung beenden will, der muss genauso schnell für beschleunigte Planungsverfahren sorgen. Die beschleunigte Energieumstellung ist bei den jetzigen Zeiträumen für Planungsverfahren von 20 Jahren
und mehr nicht zu machen.
Die Bundesregierung bemüht sich auch in dieser Frage
um einen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Ich
hoffe, dass sich die Bundestagsfraktionen der Grünen und
der Linken bei einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz
nicht vom Acker machen oder in die grünen Büsche
schlagen oder, wie in Thüringen, Demonstrationen gegen
den Neubau von Hochspannungsleitungen anführen.
({6})
Das Pumpspeicherwerk Goldisthal in Thüringen kann
bei Volllastbetrieb acht Stunden lang Strom liefern, was
bedeutet, dass man allein zur Vollversorgung des Bundeslandes Thüringen drei Pumpspeicherwerke in dieser
Größenordnung bräuchte. Selbst das Pumpspeicherwerk
Goldisthal ist nur über eine Stichleitung angeschlossen.
Ich sage das nicht, um zu problematisieren, sondern, um
auf die Konsequenzen und die Handlungsnotwendigkeit
hinzuweisen. Ich möchte, dass am Ende des beschleunigten Energieumbaus Energie für den Privatkunden bezahlbar und verfügbar ist und dass energieintensive Arbeitsplätze, wie im Zementwerk in Deuna in meinem
Wahlkreis, auch nach diesem Energieumbau noch in
Deutschland vorhanden sind.
({7})
Vermutlich muss auch bei anderen Strukturen weitergedacht werden. Wir brauchen ein Energie- und Rohstoffministerium; denn die jetzige Kompetenzzersplitterung führt zu strukturellen Reibungsverlusten.
({8})
Wir als Staat müssen uns überlegen, ob der Staat nicht
besser wieder als Gestalter im Energiesektor tätig wird.
Das heißt, der Staat würde Netze zurückkaufen oder in
eigener Regie neu bauen. Das heißt auch, dass die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch stärker als bisher
kontrolliert würden und dass diese Anlagen nach dem
Ende ihrer Laufzeiten in staatlicher Regie zurückgebaut
würden.
({9})
Nach Fukushima kann man Kernkraftwerksbetreibern
weltweit so weit trauen wie der Frosch dem Storch, nämlich gar nicht.
({10})
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich hatte gehofft, dass in dieser Debatte zwei bestimmte
Argumente von Kolleginnen und Kollegen der Union
und der FDP nicht angeführt werden. Das eine Argument, das immer wieder genannt wird, ist, dass die Notwendigkeit des Atomausstieges in Deutschland durch
den Bestand von Atomkraftwerken im Ausland relativiert wird. Ich hatte sehr gehofft, dass dieses Argument
nicht vorgebracht wird. Wir hatten gestern die Gelegenheit, mit Zeitzeugen über dieses Thema zu sprechen. Gerade von Zeitzeugen aus Tschernobyl, von Menschen,
die die Katastrophe erlebt haben, wird von Deutschland
gefordert und erwartet, dass wir mit gutem Beispiel
vorangehen, dass wir die progressive Politik der vergangenen Jahre - das wurde wörtlich so gesagt, und damit
ist nicht der Oktober 2010 gemeint -, dass wir das Umsteuern in Richtung Energiewende und den Ausstieg aus
der Kernenergie vorantreiben und damit anderen Ländern ein Beispiel geben und helfen.
({0})
Das zweite Argument, das leider genannt wurde - es
war fast zu erwarten -, ist, dass man vieles nach Tschernobyl noch nicht so genau wissen konnte, man habe erst
die neue Katastrophe in Fukushima gebraucht, um dazuzulernen. Auch hier darf ich eine Zeitzeugin aus dem
gestrigen Gespräch zitieren, die wörtlich gesagt hat:
„Tschernobyl hat die Einstellung der Menschheit zur
Kernenergie grundlegend verändert.“ Ich denke, mehr
muss man zu diesen Argumenten eigentlich nicht mehr
sagen.
Aber ich möchte noch einmal deutlich machen, dass
man nach Tschernobyl eigentlich sehr genau wissen
konnte, auf welche Risiken wir uns als Menschheit eingelassen haben. Es gab - das ist schon angesprochen
worden - etwa 100 000 Tote. Das sind geschätzte Zahlen, weil man es leider nicht genau weiß. Mehrere Millionen Menschen haben damals in verstrahlten Gebieten
gelebt und leben dort teilweise noch heute. Knapp
2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche sind
ausgefallen. Die Konsequenzen kann man auch sehen,
wenn man eine Greenpeace-Studie der letzten Tage liest.
Dort steht, dass Pilze aus dem Gebiet Schitomir in der
Ukraine den ukrainischen Grenzwert für Cäsium um das
115-Fache überschreiten. Was das für die Ernährung der
Menschen bedeutet, kann man erahnen.
Wir hatten gestern in dem Gespräch die Gelegenheit,
mit einer Ärztin zu reden, die uns eindringlich vor Augen geführt hat, wie viele Schilddrüsenkrebserkrankungen es in diesen Gebieten Weißrusslands und der
Ukraine gegeben hat und welche katastrophalen Auswirkungen und Folgen, selbstverständlich auch Todesfälle,
das in jedem einzelnen Fall, persönlich für jeden Betroffenen, hat.
Das alles konnte man wissen. Das alles musste man
wissen. Man musste wissen, dass 600 000 bis 800 000 Liquidatoren ihr Leben eingesetzt haben - viele von ihnen
haben ihr Leben verloren -, um die katastrophalen Auswirkungen des Reaktorunglücks in Tschernobyl zu bekämpfen, so gut es mit den damaligen Möglichkeiten
ging.
Man konnte und musste wissen, dass 420 000 Menschen ihre Heimat, ihre Freunde, ihre Familie - alles,
was ihr bisheriges persönliches Leben ausgemacht hat verloren haben. Man konnte und musste auch die volkswirtschaftlichen Folgen kennen, nicht nur für die
Ukraine, sondern auch für die Weltgemeinschaft. Wenn
hier immer so getan wird, als sei Atomenergie sehr billig, muss ich sagen: Die volkswirtschaftlichen Kosten
der Atomenergie kann man an dem Unfall, dem Unglück, der Katastrophe von Tschernobyl ablesen. Allein
für Weißrussland wurden die Kosten auf 235 Milliarden
US-Dollar beziffert. Diese Zahlen kannte man. Diese
Zahlen kennt man.
Ich glaube, es kommt darauf an - es wäre darauf bereits direkt nach den Ereignissen in Tschernobyl angekommen -, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Was
den im Jahre 2000 beschlossenen Atomausstieg angeht,
wird häufig so getan, als sei das zu wenig gewesen. Wir
haben damals die unbefristete Laufzeit von Atomkraftwerken befristet und damit den Einstieg in das Ende des
Atomzeitalters beschlossen. Das war eine herausragende
Leistung.
({1})
Es ist egal, ob eine Atomkatastrophe durch eine Naturkatastrophe, durch technisches oder menschliches
Versagen oder durch ein systemisches Versagen in einem
Land ausgelöst werden kann. Man wusste, welche Folgen die Atomenergie haben kann. Der Ausstieg aus der
Atomenergie, aus dieser nicht beherrschbaren Technologie, ist damals die einzig richtige Antwort gewesen, und
sie ist es auch heute.
({2})
Ich finde es ganz wichtig, dass wir im Hinblick auf internationale Verantwortung und internationale Politik
mit unserer Politik mit gutem Beispiel vorangehen. Von
der Kollegin Brunkhorst ist angesprochen worden, dass
viele Regierende in der Ukraine noch auf die Atomenergie setzen. Was man in der Ukraine aber auch feststellen
kann, ist ein spannender Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung. Es gibt zunehmend mehr Menschen in der
Ukraine, denen auch die Risiken der dortigen Kraftwerke und der Atomenergie generell bewusst sind. Es
gibt zunehmend mehr Menschen, die auf einen schnellen
Umstieg auf erneuerbare Energien und insbesondere
- wer die Länder kennt, weiß das - auf Energieeffizienz
setzen. Dies erwarten sie auch von uns. Hier müssen wir
mit gutem Beispiel vorangehen und entsprechende Programme auflegen. Zunächst einmal müssen wir aber bei
uns im Lande unter Beweis stellen, dass diese Programme funktionieren.
({3})
Wir haben ein CO2-Gebäudesanierungsprogramm
aufgelegt; die Mittel sind um 60 Prozent gekürzt worden. Es gibt auch ein entsprechendes Programm im Hinblick auf die Gebäudeeffizienz in der Ukraine. Der Bedarf wäre riesig. Die Möglichkeiten der Umsetzung sind
sehr groß. Aber wir tun zu wenig, um in diesem Bereich
mit gutem Beispiel voranzugehen und dort, wo es möglich wäre, zu helfen, einen Energieumstieg, einen Umstieg hin zu mehr Energieeffizienz und erneuerbaren
Energien, zu befördern. Dies ist unsere Aufgabe.
({4})
Im Hinblick auf internationale Verantwortung muss
ich sagen: Es muss auch Schluss sein mit Hermesbürgschaften für die Nutzung von Atomenergie und Nuklearenergie in anderen Ländern.
({5})
Es kann doch nicht allen Ernstes unser Anliegen als
Deutsche sein - wenigstens dies könnte man aus den Ereignissen in Fukushima lernen -, durch Bürgschaften
den Bau von Atomkraftwerken in erdbebengefährdeten
Gebieten dieser Erde zu unterstützen.
({6})
Wenn es um die richtigen Lehren aus den Ereignissen
in Tschernobyl und Fukushima geht, dann ist ein zentraler Punkt, die Energiewende im eigenen Lande voranzubringen. Wir müssen raus aus der Atomenergie. Wir
müssen zeigen, was man hier tun kann. Wir müssen den
Energieumstieg in anderen Ländern unterstützen. Wir
dürfen keine Bürgschaften für die Nutzung von Nukleartechnologie zur Verfügung stellen. All dies ist notwendig.
An dem gestrigen Gespräch hat eine Zeitzeugin teilgenommen, die viel mit Schulklassen zu tun hat. Die
Schulklassen stellen ihr immer eine ganz einfache Frage:
Wie kann es die jetzige Generation verantworten, der
nächsten Generation völlig unlösbare Probleme zu hinterlassen? - Wenn wir aus diesem Dilemma herauswollen und der nächsten Generation eine Antwort oder zumindest den Ansatz einer Antwort geben wollen, müssen
wir raus aus der Atomenergie, rein in erneuerbare Energien, rein in Energieeffizienz - und das auch als Vorbild
mit unserem Handeln auf internationaler Ebene zum
Ausdruck bringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Datum 26. April 1986 wird in unserer Erinnerung immer
mit dem Wort Tschernobyl verbunden sein. Die Reaktorkatastrophe führte uns damals - genauso wie heute das
Unglück von Fukushima - vor Augen, welche Risiken
mit der Nutzung der Kernenergie verbunden sind. Ob
wir bereit sind, diese Risiken zu tragen, müssen wir in
diesen Tagen neu entscheiden. In Tschernobyl hat die
Kombination von besonderem menschlichen Leichtsinn
mit sicherheitstechnischen - oder ich sollte besser sagen:
die unsicherheitstechnischen - Besonderheiten des
sowjetischen Reaktortyps RBMK das Unglück ausgelöst. Wie damals gibt es auch heute eine Welle der Hilfsbereitschaft in unserem Land, getragen auch gerade von
vielen privaten Initiativen, um den von den Unglücken
Betroffenen zu helfen. All denen, die sich bei dieser
Hilfe engagieren, danke ich an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich.
({0})
Wir sind uns seit einigen Jahren über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass die Kernenergie in Deutschland
ein Auslaufmodell ist. Neue Kernkraftwerke wird es
nicht geben. Dies wird zwar in der öffentlichen Diskussion kaum wahrgenommen, aber die einzige - ich gebe
zu, heftig umstrittene - Frage ist, wie lange die einzelnen
Reaktoren in Deutschland noch am Netz bleiben sollen.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben noch im
vergangenen Jahr das neue Energiekonzept sehr intensiv
diskutiert. Wir haben in diesem Zusammenhang eine
Laufzeitverlängerung beschlossen, weil wir sie für
ethisch-moralisch verantwortbar und für ökonomisch
und ökologisch sinnvoll gehalten haben. Denn das Risiko eines Unfalls muss abgewogen werden gegen die
Vorteile einer CO2-freien und preisgünstigen Stromerzeugung dieser Brückentechnologie.
Nach dem Unfall von Fukushima haben wir innegehalten, denn für unmöglich Gehaltenes wurde Realität.
Zwei Naturkatstrophen bisher nicht gekannten Ausmaßes haben zusammen dazu geführt, dass das Kernkraftwerk in Fukushima zerstört wurde. Bis heute ist in Japan
die Bedrohung für Menschen und Umwelt nicht abgewendet. Wir werden jetzt die drei Monate des Moratoriums nutzen, um sowohl die Technik unserer Kernkraftwerke erneut auf den Prüfstand zu stellen als auch die
Frage zu beantworten, ob wir bereit sind, das nukleare
Risiko für eine bestimmte Zeit zu tragen.
Die Beantwortung dieser Frage müssen wir sehr ernsthaft angehen, schon allein aus der Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Aber - das möchte ich an dieser
Stelle noch einmal betonen - keine einzige Energieform
ist nur vorteilhaft. Kernenergie enthält ein Restrisiko.
Erdöl, Erdgas, Stein- und Braunkohle sind endliche Ressourcen, und ihre Verbrennung schadet dem Klima.
Sonne scheint nicht immer, Wind weht nicht immer. Der
Strom aus Wind und Sonne ist noch immer wesentlich
teurer als der aus anderen Energiequellen. Außerdem ist
auch die Produktion von Solarzellen nicht nur umweltfreundlich. Biomasse kann auf jedem Hektar nur einmal
angebaut werden: entweder für Nahrungsmittel oder als
nachwachsender Rohstoff für unsere Industrie als Ersatz
für das knappe Öl oder eben als Energiepflanze für die
Strom- und Gasgewinnung.
Eine Entscheidung darüber, ob die zeitweise Weiternutzung der Kernenergie verantwortbar ist, hängt deshalb maßgeblich auch von den Alternativen ab. Denn ist
es moralisch vorzugswürdig, dass weniger Nahrungsmittel angebaut werden, weil wir mehr Energiepflanzen benötigen? Der Druck auf die Land-, Forst- und Wasserwirtschaft wird wachsen, alles zu nutzen, was Land,
Wald und Flüsse hergeben. Aber wollen wir wirklich den
erreichten Stand an Arten- und Naturschutz gefährden?
Ist es ethisch vorteilhaft, wenn wir für eine bestimmte
Zeit mehr CO2 in die Atmosphäre entlassen und dadurch
das Klima bedrohen? Wollen wir höhere Preise für
Strom akzeptieren? Akzeptieren wir diese höheren
Preise auch dann, wenn womöglich Tausende von Arbeitsplätzen wegfallen, weil besonders die energieintensiven Unternehmen, aber auch viele mittelständische
Firmen in Deutschland dann nicht mehr international
wettbewerbsfähig sind? Ist es schließlich richtig, dass
wir in Deutschland stärker von einzelnen Energielieferländern abhängig werden?
Bei dieser Diskussion muss außerdem berücksichtigt
werden, dass das Leben und die Gesundheit nicht nur
durch die Risiken der Kernenergie bedroht werden. Vielmehr gibt es gerade in einem Industrieland wie Deutschland vielfältige Risiken. Eine ehrliche Diskussion muss
daher alle zivilisatorischen Risiken in den Blick nehmen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen auch klären,
wie wir erneuerbare Energien schneller als bisher gedacht aufbauen können. Aber auch hier sind die Fragen,
die sich stellen, nicht einfach zu beantworten. Ich beschränke mich einmal auf fünf Fragen:
Erstens. Wie können wir Strom aus Wind und Sonne
speichern, damit er auch dann zur Verfügung steht, wenn
die Sonne gerade nicht scheint und der Wind nicht weht?
Immerhin ist das beim Wind zurzeit in über
7 000 Stunden der 8 760 Stunden eines Jahres der Fall.
Bei der Sonne sind es sogar 7 910 Stunden des Jahres.
Das gesamte Speichervermögen für Elektrizität aller
deutschen Pumpspeicherkraftwerke kann zurzeit gerade
einmal 2,5 Prozent des Tagesbedarfs an Strom decken.
Zweitens. Wie transportieren wir den Windstrom
dorthin, wo er gebraucht wird? Die Studien der Deutschen Energie-Agentur - sie wurden schon angeführt sprechen von bis zu 4 450 Kilometer Hochspannungsleitungen, die wir allein bis 2020 gebaut haben müssen, das
heißt in weniger als neun Jahren. In den letzten acht Jahren haben wir keine 100 Kilometer realisiert.
({2})
Drittens. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass
statt Strom aus deutschen Kernkraftwerken nunmehr
ausländischer Atomstrom bei uns verbraucht wird? Bereits jetzt, in den ersten Wochen des Moratoriums, importieren wir Tag für Tag bis zu 50 Millionen Kilowattstunden Strom aus Frankreich und aus Tschechien.
({3})
Da dort der Strom insbesondere aus Kernkraftwerken
kommt, heißt das, dass jeden Tag umgerechnet
30 Millionen Kilowattstunden ausländischen Atomstroms im deutschen Netz sind.
Viertens. Wie sichern wir die Stabilität des deutschen
Stromnetzes, wie verhindern wir also großflächige
Stromausfälle? Bisher leben wir, was das angeht, auf
einer Insel der Seligen. Bis auf im Durchschnitt
18 Minuten stand zum Beispiel im Jahre 2008 der Strom
das ganze Jahr rund um die Uhr zur Verfügung. Diese
Stabilität ist nicht nur für jeden Einzelnen von uns, sondern insbesondere auch für unsere Wirtschaft wichtig;
denn schon durch kurze Schwankungen oder Ausfälle
können hohe Schäden bei sensiblen Produktionsprozessen angerichtet werden.
({4})
Die Stabilität muss deshalb auch in Zukunft gewährleistet sein.
Nach dem Abschalten von allein fünf Kernkraftwerken im Süden Deutschlands wird dort die Stabilität zurzeit aber nur durch die geschilderten massiven Stromimporte sichergestellt - auch, weil es zu wenige
Stromleitungen von Nord nach Süd gibt.
({5})
Fünftens. Wie hoch ist für uns der Sicherheitsgewinn,
wenn nach unserem möglichen Ausstieg allein in Europa
noch über 130 Kernkraftwerke am Netz sind?
Alle diese Fragen müssen wir ehrlich beantworten.
Dazu gehört auch, dass wir das Problem der sicheren
Endlagerung radioaktiver Abfälle angehen müssen;
({6})
denn die jahrzehntelange Zwischenlagerung auch der
hochradioaktiven Abfälle ist sicherheitstechnisch bestimmt nicht vorteilhafter als die Endlagerung tief unter
dem Erdboden. Also müssen wir nun schnell Schritte in
Richtung einer dauerhaften Entsorgung zurücklegen. Es
ist hier sicherlich nicht verantwortungsvoll, die Erkundung von Gorleben zu blockieren und die Altlasten damit künftigen Generationen aufzubürden.
({7})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Mein letzter Satz ist eine Aufforderung: Bitte beteiligen Sie sich alle an der Diskussion, aber geben Sie auch
Antworten auf diese drängenden Fragen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5375
mit dem Titel „Nie wieder Tschernobyl - Atomzeitalter
beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von Linkspartei und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5379 mit dem
Titel „25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Atomkraftwerke abschalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
SPD auf Drucksache 17/5366 mit dem Titel „Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere Energieversorgung
ohne Atomkraft und eine lebendige europäische Erinnerungskultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der
Linken abgelehnt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur
Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
({0})
- Drucksachen 17/4510, 17/4811 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksachen 17/5403, 17/5417 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben gePeter Aumer
rade über einen wichtigen Punkt diskutiert, um Lehren
aus der Vergangenheit zu ziehen. Die Umwelt und die
Energieversorgung sind sicherlich wesentliche Bereiche,
in denen wir einen Grundkonsens in unserer Gesellschaft
herbeiführen müssen. Dessen hat sich die christlich-liberale Koalition angenommen.
Bei den Finanzmarktthemen ist es genauso: Auch hier
müssen wir die Lehren aus der Vergangenheit ziehen,
nämlich die Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch Europa und unser Land erschüttert haben.
Deswegen diskutieren wir heute über ein zugegeben sehr
technisches, aber auch wichtiges Thema: die Umsetzung
der OGAW-IV-Richtlinie in nationales Recht.
In der Anhörung des Finanzausschusses zum Entwurf
dieses Gesetzes hat ein Sachverständiger die OGAW-IVRichtlinie als Meilenstein bei der Verwirklichung des
europäischen Binnenmarktes im Fondsbereich bezeichnet. Er hat recht: Es ist eine wichtige Entscheidung in
diesem Bereich, über die wir heute reden. Insofern ist
auch das Technische wichtig, um die einzelnen Punkte
für die Zukunft festzuzurren.
Die Abkürzung OGAW steht für Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren und ist die europäische Bezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds. Die
Neuregelung dieser Wertpapier-Investmentfonds erfolgt
durch neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die
den größten Teil des heute zu beschließenden Gesetzentwurfs ausmachen.
Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung der Qualität von Investmentfondsgeschäften,
aber auch zur Verbesserung des Anlegerschutzes in unserem Land. Im Großen und Ganzen wird die OGAW-IVRichtlinie im Investmentgesetz und im Investmentsteuergesetz umgesetzt.
Mit der Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie sollen
die Bestimmungen des Europäischen Passes für Gesellschaften auf grenzüberschreitende Verwaltungen von
Investmentfonds ausgeweitet werden. Fondsverschmelzungen sollen grenzüberschreitend erleichtert und
insgesamt erleichtert werden. Gleichzeitig sollen die Informationen der Anleger erheblich verbessert sowie die
Anforderungen und Verfahren zur Verschmelzung von
Fonds erstmals EU-weit harmonisiert werden.
Weiter sollen doppelstöckige Fondsstrukturen in
Form von Master-Feeder-Konstruktionen im Bereich der
Publikumsfonds unter bestimmten Voraussetzungen und
mit einer umfassenden Anlegerinformation über die damit verbundenen Rechtsfolgen ermöglicht werden. Es
sollen außerdem wesentliche Anlegerinformationen in
einem zwei-, maximal dreiseitigen Informationsdokument EU-weit vereinheitlicht werden und national auch
für nicht richtlinienkonforme Fonds Anwendung finden.
Außerdem sollen die bei grenzüberschreitendem Vertrieb von Investmentfonds erforderlichen Anzeigeverfahren, mit denen der Marktzugang für den gesamten
Binnenmarkt erreicht werden kann, erheblich beschleunigt werden.
Für eine Verbesserung der Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden sollen unter anderem Verfahren
für Vorortprüfungen und -ermittlungen der zuständigen
Aufsichtsbehörden auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates konkretisiert werden. Auch hier zeigt sich,
dass man in Europa stärker zusammenarbeitet. Das ist
eine wichtige Lehre, die man aus der schweren Krise gezogen hat. Es gehören noch viele andere Maßnahmen
dazu. Die Anforderungen an Mikrofinanzinstitute werden verringert und steuerliche Rahmenbedingungen anders gesetzt. Es wird zudem Regelungen betreffend
drohende Steuerausfälle im Bereich des Kapitalertragsteuerabzugsverfahrens geben. Auch hier hat die christlich-liberale Koalition auf die Sparbestrebungen im
Bundeshaushalt und die Konsolidierungsbemühungen
Rücksicht genommen. Es werden außerdem Umstrukturierungsvergünstigungen von Unternehmen im Grunderwerbsteuerbereich angepasst. Darüber hinaus wurden
die Empfehlungen des Finanzausschusses in den Gesetzentwurf eingearbeitet.
Das Gesetz sieht konkret eine deutliche Verbesserung
des Anlegerschutzes im Bereich der Anlegerinformation
vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig Kosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll der Anleger
direkt informiert werden, sofern es sich um wesentliche
Änderungen handelt. Angesichts der Tatsache, dass Änderungen der Vertragsbedingungen aufgrund gesetzlicher Neuregelungen erfolgen oder oftmals rein technischer Natur sind, sollte man sich hier auf die Information
über wesentliche Änderungen konzentrieren.
Ein wichtiger Punkt zur Verbesserung der Effizienz
des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung grenzüberschreitender Fondsverwaltungen sein. Damit können
künftig auch ausländische Fondsverwaltungsgesellschaften in Deutschland ohne inländische Tochtergesellschaften deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls dürfen
zukünftig deutsche Kapitalgesellschaften Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohne durch eine eigene
Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne dass dies mit Personalverschiebungen einhergehen muss.
Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim
grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher
musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem
Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen
Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren
- bis zu zwei Monate - über die Markteinführung auseinandersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokratische Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer vereinfacht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt
werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzeigen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen
werden innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt.
Damit werden im Sinne des europäischen Binnenmarktes die Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fondsverkauf ganz wesentlich verbessert, und es
wird ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet.
({0})
Weiter sollen Fondsgesellschaften künftig bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammenzufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen
grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und sogenannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht werden.
Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und
Herren, zur Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie wird
die christlich-liberale Koalition ihrer Verantwortung gerecht, zum einen einen wichtigen Beitrag für den Anlegerschutz zu leisten und zum anderen die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Fondsstandortes sicherzustellen.
Deswegen bitten wir um Ihre Zustimmung.
({1})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieses Gesetz ist kein technisches Klein-Klein,
({0})
wie es vielleicht den Anschein haben mag, wenn man
den Titel liest. Wenn man sich das Gesetz genau anschaut, stellt man fest, dass da eine gewaltige Menge
Musik drin ist. Das Problem ist allerdings: Sie haben die
parlamentarischen Gesetzesberatungen genutzt, um eine
Reihe von schiefen Tönen einzubauen. Das schwächt
das, was wir heute zu beschließen haben.
({1})
Ich will in diesem Zusammenhang zu dem Ausgangspunkt und zu der Frage zurückkommen, um die es hier
eigentlich geht. Die Finanzkrise hat uns gezeigt, dass die
Steigerung von Markteffizienz, Maximierung von Gewinnen, Wettbewerb usw. keine Argumente mehr für den
Gesetzgeber sein dürfen. Die Zeit der Deregulierung
muss endgültig vorbei sein. Wir müssen dazu kommen,
dass wir erstens eine Beschränkung riskanter und spekulativer Geschäftsmodelle erreichen und dass wir zweitens vor allem eine Stärkung des Anlegerschutzes nach
vorn stellen.
({2})
Meine Damen und Herren, schauen wir uns jetzt einmal an, was Sie daraus gemacht haben. Vorgestern habe
ich eine wunderschöne Presseerklärung von den Kollegen Flosbach und Brinkhaus gelesen,
({3})
die darin jubeln, dieses Gesetz werde die Effizienz des
Investmentfondsgeschäfts erhöhen und attraktive Rahmenbedingungen schaffen.
({4})
Das ist altes Denken, das ist die falsche Antwort an dieser Stelle.
({5})
Wir müssen im Einzelnen feststellen, dass Sie mit
diesem Gesetz über das, was die EU vorgibt - natürlich,
wir bewegen uns hier in einem solchen Rahmen -,
hinaus eine Einbeziehung von Hochrisikoprodukten vornehmen und im Beratungsverfahren Informationspflichten der Anlegerinnen und Anleger noch einmal eingeschränkt haben.
Die Richtlinie - darauf möchte ich jetzt kurz kommen ist ja für die Sondervermögen wie Aktienfonds, Geldmarktfonds und Rentenfonds geschaffen. Da kann es
jetzt zu Verschmelzungen kommen, sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen. Kollege Aumer hat das hier
schon angesprochen.
Die Koalition ist jetzt ohne Not darangegangen, den
Anwendungsbereich auf nichtrichtlinienkonforme Fonds
auszudehnen. Damit sind die hochgefährlichen Hedgefonds in diese neuen Freiheiten und neuen Regelungen
einbezogen worden. Dazu will ich nur sagen: Hedgefonds können zukünftig in Deutschland fusionieren. Wir
als Sozialdemokraten haben das von Anfang an kritisiert. In der öffentlichen Anhörung wurde das von verschiedenen Sachverständigen ebenfalls kritisiert. Die
Koalition allerdings blieb unbeeindruckt. Somit sage ich,
so ein Gesetz ist schädlich und inakzeptabel. Das kann
hier unsere Zustimmung nicht bekommen.
({6})
Ich will auch sagen, dass zum Thema Aufsicht Neuregelungen vorgesehen sind. Da sollen jetzt die Aufsichtsbehörden, auch unsere deutsche Aufsichtsbehörde
BaFin, stärker mit anderen europäischen Aufsichtsbehörden kooperieren.
({7})
- Das ist vom Grundsatz her richtig. - Schauen Sie sich
aber einmal an - wir sehen uns das ja dauernd an -, wie
belastet die Aufsichtsbehörden schon jetzt sind und wie
viele Detailregelungen es für sie gibt. Mit Ihrer Erweiterung im nichtrichtlinienkonformen Bereich packen Sie
weitere Dinge in den Rucksack der Aufsichtsbehörden.
Dann bleibt vernünftiger Aufsicht lediglich das Prinzip
Hoffnung. Das geht so nicht, das ist in der Tat gefährlich auch für die Stabilität der Finanzmärkte selber.
Auch als eine wichtige Lehre aus der Finanzkrise
müssen wir uns in jedem Verfahren vornehmen, dass wir
insbesondere die Informationsasymmetrien auf den
Finanzmärkten beheben. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe. Das heißt aber, dass die Anlegerinnen und Anleger
mehr Informationen brauchen statt weniger Informationen, qualifiziert aufbereitete Informationen.
Im Beratungsverfahren im Ausschuss sind es die Koalitionsfraktionen gewesen, die Änderungen eingebracht
haben, die dazu führen, dass zukünftig keine vernünftige
und umfassende Pflicht mehr besteht, nachhaltig zu informieren. Auch das ist gefährlich und kann so nicht
bleiben, weil ja insbesondere Ausgangspunkt war, dass
nach Vorliegen des Gesetzentwurfs aus dem Bundesfinanzministerium die Branche aufgeheult und von Bürokratiekosten gesprochen hat. Dann hat die Anhörung
deutlich gemacht - dafür sind öffentliche Anhörungen ja
da -, dass die Bürokratiekosten bei - hören Sie gut zu! 1,21 Euro liegen. - Bei 1,21 Euro! Das ist also völlig lächerlich.
Da wusste auch die Koalition nicht mehr weiter. Also
sind Sie dazu gekommen und haben gewisse organisatorische Veränderungen vorgenommen, dass man zukünftig nur auf Anforderung informiert wird, über E-Mail
und so weiter und so fort. Das reicht uns nicht.
Im Übrigen hat die BaFin selber in der Anhörung
deutlich gemacht, dass sie an uns, den Gesetzgeber - ich
zitiere -, „appelliert“, es bei dem zu belassen, was vorgesehen ist. Sie von der Koalition haben darauf nicht gehört. Sie haben diese EU-Vorgabe verwässert und machen die deutschen Finanzmärkte damit angreifbar und
die Anlegerinnen und Anleger schwach.
Es gibt auch Licht, gar keine Frage.
({8})
Sie setzen, Gott sei Dank, pflichtgemäß eins zu eins die
Vorgabe um, dass ein Produktinformationsblatt, das sogenannte Key Investor Document, dem Produkt beizufügen ist. Das ist richtig, und das ist gut. Aber kaum hat
man Licht bei Ihnen entdeckt, stellt man fest: Es scheint
nicht mehr die Sonne, sondern es fängt gleich an, zu regnen. Sie haben nämlich auch in anderen Bereichen Veränderungen vorgenommen, die für uns nicht akzeptabel
sind, Stichwort „REITs“. Diese Abkürzung steht für:
Real Estate Investment ({9})
- Trust. Vielen Dank für die liberale Hilfe.
({10})
- Das ist wunderbar.
Sie helfen auch deshalb gerne, weil Sie, Herr Kollege,
wahrscheinlich genau wissen, wie gefährlich dieses Instrument ist. Sie sind für eine flächendeckende Einführung. Dass es dazu in Deutschland nicht gekommen ist,
liegt daran, dass wir Sozialdemokraten verhindert haben,
dass dieses gefährliche Instrument flächendeckend zugelassen wird. Es gibt nur drei bis fünf Fonds dieser Art.
Sie wollen deren Laufzeit jetzt verlängern.
({11})
Ich sehe darin nichts anderes als die Verlängerung eines
Steuersparmodells für wenige. Auch das kann nicht Sinn
unserer Gesetzgebung sein.
Unterm Strich: Was Sie uns vorlegen, ist das Ergebnis
von Klempnerei und kein effektiver Anlegerschutz. Es
bedeutet nur Steigerung der Effizienz der Investmentfondslandschaft. Das ist gut, darf aber nie alleine stehen.
Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist für die Branche
so etwas Ähnliches wie das Grundgesetz. In der Tat ist
das, was hier vorliegt - Kollege Aumer hat es schon gesagt -, mit Sicherheit als ein großer Schritt zu bezeichnen. Vielleicht ist es so etwas wie ein Meilenstein für
den Investmentfondsmarkt. Es wird nämlich ein weiterer
Schritt getan hin zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Marktes, der einheitlichen Regeln unterliegt.
Das sorgt für ein Mehr an Effizienz. Es bringt Kostenvorteile, und das dient am Ende den Anlegerinnen und
Anlegern, die ihr Geld in Investmentfonds investieren.
Investmentfonds sind ein ideales Vehikel für die Altersvorsorge. Sie dienen dem Vermögensaufbau. Deswegen werden sie sehr gerne für vermögenswirksame Leistungen genutzt, und zwar von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern. Sie sollen ja einmal eine Klientel der
Sozialdemokratischen Partei gewesen sein.
({0})
Investmentfonds dienen als mittelfristiger Kapitalpuffer
und zum Aufbau von Eigenkapital, beispielsweise wenn
man sich ein Eigenheim zulegen möchte.
Ein Investmentfonds ist im Prinzip eine Art moderner
VEB.
({1})
Nirgendwo anders haben breite Bevölkerungsschichten
die Möglichkeit, sich leichter am Produktivvermögen einer Volkswirtschaft zu beteiligen. Sie haben die Chance
auf ein diversifiziertes Portfolio. Sie haben ein professionelles Anlagemanagement. Sie haben eine Risikooptimierung, und sie haben eine Anlagevielfalt. All das
bietet der Investmentfonds. Deswegen ist der vorliegende Gesetzentwurf so wertvoll.
Umso wichtiger ist es, dass Vertrauen in dieses Vehikel existiert. Genau dem wird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht, und zwar dadurch, dass die Aufsicht gestärkt wird. Herr Kollege Sieling, ich kann Sie nicht so
richtig verstehen: Sie beklagen sich über die Ausweitung
auf die Hedgefonds, wodurch sie einer zusätzlichen Aufsicht unterliegen. Gleichzeitig sagen Sie, diese Aufsicht
könne das, was von ihr erwartet wird, gar nicht leisten.
Sie müssten sich einmal in irgendeiner Art und Weise
entscheiden, wofür Sie stehen.
({2})
Wir sind der Auffassung, dass der Anlegerschutz
durch die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs gestärkt wird. Entscheidend ist dabei das Key Investor Document, das dem Anleger in übersichtlicher
Art und Weise Informationen über das Produkt verschafft, in das er investieren möchte. Die Rückschlüsse
aus diesen Informationen muss natürlich jeder Anleger
für sich selbst ziehen. Das Anlagerisiko kann man niemandem abnehmen.
({3})
Das ist eine Frage der Finanzbildung. Da gibt es möglicherweise an der einen oder anderen Stelle noch Defizite. Aber auch hier ist die Branche mit einer Initiative
unterwegs.
Wir haben in die Informationsflut, die ursprünglich
vorgesehen war, etwas Struktur hineingebracht. Der Anleger soll nämlich übersichtlich über die wesentlichen
Änderungen - und zwar per Post - informiert werden.
Wir vermeiden damit eine Informationsüberflutung, behalten aber nach wie vor die Informationspflicht bei.
Die Frage ist doch: Was ist denn eine „wesentliche
Änderung“? Eine wesentliche Änderung kann sein,
wenn sich zum Beispiel die Anlagestrategie bei einem
Fonds ändert. Wenn ich eine Anlage bei einem offenen
Immobilienfonds habe, der überwiegend in europäische
Gewerbeimmobilien investiert hat, plötzlich aber in asiatische Wohnimmobilien hineingeht, dann ist das sicherlich eine wesentliche Änderung der Anlagestrategie. Das
hat Auswirkungen auf das Anlagevermögen. Wir wollen, dass der Anleger darüber informiert wird. Das gilt
genauso bei Fragen der Kostenänderung.
Der Anleger weiß zukünftig, wenn er etwas von seinem Fondsanbieter per Post bekommt, dass es sich um
eine wesentliche Änderung handelt, die für ihn wichtig
ist und die er lesen muss. Bei allen anderen Änderungen,
die zum Beispiel allein aus Gründen der Änderung der
Rechtslage entstehen, bekommt er beispielsweise auf
dem Jahresdepotauszug einen Hinweis. Er kann sich
dann, wenn ihn das interessiert, entsprechend informieren. Die Entscheidung darüber, was wesentlich ist, haben
wir bei der dafür richtigerweise zuständigen Stelle angesiedelt, nämlich bei der BaFin.
Aus der Anhörung heraus haben wir ein weiteres
wichtiges Thema entwickelt, nämlich das Pension
Pooling. Auch das ist für Anlegerinnen und Anleger in
Bezug auf die betriebliche Altersvorsorge wichtig. Es ist
auch wichtig für den Finanzplatz Deutschland. Wir reden da über 250 Milliarden Euro, die in Deutschland angelegt werden können bzw. von Deutschland aus verwaltet werden können. Sie unterliegen damit natürlich auch
der deutschen Aufsicht.
Auch dazu haben wir eine gute Nachricht, dass sich
nämlich die Koalition dieses Themas annehmen und
zeitnah einen entsprechenden Referentenentwurf vorlegen wird. Wir gehen davon aus, dass dies bis zum Ende
des Jahres 2011 der Fall sein wird. Das bedeutet, die
Branche kann sich darauf einstellen: Pension Pooling
wird in Deutschland ermöglicht.
Darüber hinaus haben wir steuerliche Missstände, bei
denen man unter Umständen einen Umgehungstatbestand konstruieren kann, im System beseitigt. Auch deshalb ist das ein guter Tag für Deutschland.
Als Fazit kann man sagen: Wir haben eine gelungene
Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht
vorgelegt.
({4})
Wir haben nationale Akzente gesetzt, ohne Wettbewerbsnachteile für deutsche Anbieter zu generieren. Unterm Strich kann man sagen: Das ist eine gelungene Vorlage, der man getrost zustimmen kann.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als
wir im Januar zur ersten Lesung hier zusammenkamen,
warnte ich davor, das Wachstum des wuchernden
Finanzsektors mit diesem Gesetz auch noch zu beschleunigen und somit Riesenheuschrecken im Fondsmantel zu
züchten. Damals konnte ich mich tagesaktuell auf einen
renommierten Finanzjournalisten des Handelsblatts berufen, der eindringlich vor dem Schattenbankensystem
der Fondsbranche warnte.
Genützt hat es leider nichts. Im Gegenteil: In noch
größerem Umfang als schon im Kabinettsentwurf geplant, sollen Investmentfonds wachsen können. Das
Wachstum wird angetrieben, indem die Fonds durch eine
noch exzessivere Mikrokreditvergabe von der Armut in
Osteuropa und in den unterentwickelten Ländern dieser
Erde profitieren dürfen. Dass dies mit karitativem Anspruch rein gar nichts zu tun hat, hat einer der führenden
Mikrofinanzexperten Europas in der Sachverständigenanhörung ausführlich dargelegt. Er stieß damit bei der
Koalition leider auf taube Ohren. Wenn Sie den Armen
in der Welt wirklich helfen wollen, dann kommen Sie
zuerst einmal den Verpflichtungen nach, die Deutschland mit der Zusage einging, den Anteil der Entwicklungshilfe am Sozialprodukt, die sogenannte ODAQuote, spürbar zu erhöhen.
Die Regierungskoalition versucht, den Eindruck zu erwecken, sie hätte in der Finanzmarktregulierung ihre
Hausaufgaben fast erledigt. Aber ich kann Ihnen heute einen weiteren Zeugen dafür anführen, dass bei der Regulierung der Fondsbranche das Wichtigste noch zu tun ist.
In der Aprilausgabe des Monatsmagazins des Bankenverbandes die bank warnt der oberste Finanzaufseher des
Landes, Jochen Sanio, davor - Zitat -, „dass man sich nur
mit Teilaspekten des nicht oder unterregulierten Finanzsektors beschäftigt und wichtige Bereiche außer Acht
lässt. Etwa die Hedge-Fonds, die Private-Equity-UnterHarald Koch
nehmen und - nicht zu vergessen - die Rating-Agenturen,
die ‚Legitimierer‘ des ‚Schatten Banking‘“. Ähnlich wie
im Januar kann ich Ihnen nur wieder sagen: Würden Sie
doch wenigstens auf Ihre eigenen Beamten hören, anstatt
dem Begehren der Lobby ein ums andere Mal nachzugeben!
({0})
Es ist aber nicht nur die Senkung regulatorischer
Standards, mit der Sie die Finanzbranche mästen. Nein,
Sie werfen auch noch Steuergeschenke hinterher.
({1})
So sollen Unternehmen, die ihre Immobilien an eine börsennotierte Immobilien-AG veräußern, auf den Erlös
weiterhin eine 50-prozentige Steuerbefreiung erhalten.
Diese Regelung wurde mit einer weiteren Frist verlängert. Hat man Ihnen dafür wenigstens entsprechend
Spenden versprochen?
({2})
Selbst was den Anlegerschutz angeht, haben Sie mehr
Gesetzeskosmetik betrieben, als dass Sie substanziell etwas merklich verbessert hätten. Zwar ist das Wort „Anleger“ häufiger im Gesetzestext zu lesen; dieser Anleger
kann aber nach wie vor nicht darauf bauen, dass ihm die
Kosten seiner Anlageentscheidung wirklich transparent
gemacht werden. Die Linke fordert hier unter anderem
die Angabe einer umfassenden Gesamtkostenquote.
Nachfragen in den Berichterstattergesprächen, warum
dies trotz Machbarkeit nicht geschehe, wurden damit beantwortet, dass dann eine erfolgreiche Ansiedlung der
Fonds in Deutschland gefährdet sei. Entschuldigung,
meine Damen und Herren von Union und FDP! Wer
nicht bereit ist, mit offenen Karten an den Markt zu gehen, der sollte doch bitte schön dahin gehen, wo der
Pfeffer wächst, anstatt dass ihm hierzulande auch noch
alles nach seinem Geschmack gestaltet wird.
({3})
Was Sie der Öffentlichkeit verheimlichen: Sie betreiben bewusst Etikettenschwindel, damit die Fusionierung
von Fondsvermögen erleichtert wird. Dies haben die Beratungen zu diesem Gesetzentwurf leider deutlich werden lassen. Kollege Sieling hat schon darauf hingewiesen; ich will es noch deutlicher sagen. So sind deutsche
Kunden erfahrungsgemäß eher bereit, in einen Fonds zu
investieren, dessen Name den Eindruck erweckt, dass es
sich um ein Vehikel ihrer - deutschen - Hausbank handelt. Dieser Eindruck soll auch künftig bestehen bleiben.
Allerdings wird es sich nicht auf den ersten Blick erschließen lassen, dass dieser Fonds sein gesamtes Vermögen in einen ausländischen Fonds einbringen kann. In
diesen ausländischen Fonds hätte der Anleger womöglich nie direkt investiert. Ich versichere Ihnen: An diesem Bluff wird sich die Linke nicht beteiligen.
({4})
Ich komme zum Schluss. - Wie auch immer man diesen Gesetzentwurf betrachtet - makroökonomisch, aufsichtsrechtlich, entwicklungs- und verbraucherpolitisch
oder unter steuerlichen Gesichtspunkten -: Der Finanzsektor darf ohne Rücksicht auf Verluste weiter frei wuchern. Durchgreifende Regulierung? Fehlanzeige!
Kollege Koch, Sie hatten angekündigt, dass Sie zum
Schluss kommen. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Der Gesetzentwurf vermag alles in allem in keiner
Hinsicht zu überzeugen. Er ist rückschrittlich und kontraproduktiv.
Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Schick das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Änderungen in
verschiedenen Bereichen; das ist schon deutlich geworden. Ich will zunächst auf den Anlegerschutz eingehen.
Es werden einige neue Informationspflichten gegenüber
dem Anleger eingeführt, und das ist richtig so. An dieser
Stelle kann ich die Bundesregierung in der Finanzmarktpolitik ausnahmsweise einmal loben.
({0})
Sie gehen bei den Informationspflichten im Sinne des
Anliegerschutzes über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der
Richtlinie hinaus. Das ist bisher an vielen Stellen abgelehnt worden und findet hier richtigerweise einmal statt.
Es bleibt trotzdem eine Reihe von gravierenden Defiziten. Es ist zum Beispiel unverständlich, dass die Beweislast, ob er Dokumente erhalten hat oder nicht, auf
den Anleger übergeht. Es wird für ihn schwer sein, das
leisten zu können.
Was überhaupt nicht überzeugt, ist, dass Sie unseren
Änderungsantrag in Bezug auf die sogenannte Best-Execution-Regel abgelehnt haben. Diese Regel besagt, dass
man - grob gesprochen - bei einer Handelsorder immer
den besten Handelsplatz im Sinne des Kunden aussuchen soll. Es ist im Jahr 2007 bei der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie versäumt worden, dies für Investmentfondsanteile einzuführen. Das gilt nur für Aktien
und Ähnliches. Damals hieß es in der Begründung der
Bundesregierung: Wegen des Prinzips der Eins-zu-einsUmsetzung lehnt die Bundesregierung die Anwendung
der Regeln auf Investmentfondsanteile ab.
Wenn Sie dieses Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung
nun zu Recht an anderer Stelle aufgeben, dann frage ich:
warum nicht auch an dieser Stelle im Interesse von Kundinnen und Kunden?
({1})
Es ist bezeichnend, dass von den Koalitionsfraktionen
im Finanzausschuss an dieser Stelle kein einziges Argument gegen unseren Antrag genannt worden ist, was den
Anlegerschutz verbessern würde.
({2})
Ein weiterer Kritikpunkt, den wir haben, betrifft die
Verschmelzung der Nicht-OGAW-Fonds. Das ist schon
angesprochen worden. Es besteht konkret die Gefahr:
Wenn Sie in einem Fonds drin sind, dann müssen Sie sozusagen Anteile eines schlechteren Fonds mitnehmen,
weil im Rahmen der Verschmelzung das Interesse besteht, dem Anleger auch schlechte Portfolien aufzudrücken. Das hat die Bundesregierung in der Gegenäußerung zum Bundesrat selbst eingeräumt. Es ist nicht
nachvollziehbar, warum hier nicht im Interesse des Anlegers gehandelt wird. Hier trifft der Vorwurf, den Herr
Koch gemacht hat, zu. Sie setzen die Standortvorteile
der Fondsgesellschaften vor das Interesse von Kundinnen und Kunden, und das lehnen wir ab.
({3})
Es ist angesprochen worden, dass es auch ein Problem
mit der Umsetzung gibt. Das ist in der Anhörung deutlich geworden. Es gibt eine Reihe von neuen Aufgaben
für die Aufsicht. Sie haben bisher nicht dargelegt, wie
die Aufsicht in die Lage versetzt werden soll, diesen
nachzukommen. Ich habe große Sorge, dass die Aufsicht
mangels der entsprechenden Ressourcen nicht in der
Lage sein wird, diese Regeln umzusetzen.
Ein weiterer Punkt ist richtig ärgerlich: Es gibt immer
noch keine vollständige Kostentransparenz. Dieses Gesetz wäre die Gelegenheit gewesen, national auch eine
Offenlegung der Transaktionskosten vorzuschreiben.
Das wollen Sie in der Koalition nicht, obwohl die Europäische Kommission empfiehlt, auch die Transaktionskosten auszuweisen. Dem Kunden wird also weiterhin
suggeriert, dass die jetzt umbenannte Gesamtsumme der
laufenden Kosten einen vollständigen Überblick über die
Kosten eines Fonds liefert. Das bleibt aber weiterhin
nicht der Fall, und das ist im Interesse der Kunden eben
nicht die Transparenz, von der häufig gesprochen wird.
Wir wollen volle Kostentransparenz.
({4})
Ich will noch auf weitere Punkte eingehen, die im Gesetzentwurf enthalten sind. Ein wichtiger Aspekt ist der
steuerliche Teil im Investmentsteuergesetz. Es ist richtig,
dass an dieser Stelle versucht wird, ein wichtiges Steuerschlupfloch bei der Kapitalertragsteuer zu schließen. Wir
sehen aber die Gefahr, dass eine kleine Lücke, die dabei
noch bleibt, in der Zukunft größeren Schaden anrichtet.
Konkret könnte es sein, dass ein in Deutschland beschränkt steuerpflichtiger ausländischer Investor, zum
Beispiel eine Gesellschaft, die auf den Cayman Islands
sitzt, im Fonds Dividendenerträge erzielt, ohne dass dieser Kapitalertragsteuer einbehalten muss, obwohl es sich
um ein Vermögen im Inland handelt. Es ist deshalb wenig
verständlich, dass Sie hier keine Bereitschaft hatten, das
zu korrigieren. Wenn man schon an das Stopfen von Steuerschlupflöchern herangeht, dann muss man schauen,
dass man das möglichst konsequent und umfassend tut.
({5})
Sie sehen, es gibt in diesem Gesetzentwurf Licht und
Schatten. Die Koalition liegt nicht überall daneben, sie
schafft aber auch keine überzeugende Wende in Richtung einer Finanzmarktpolitik zugunsten der Kunden.
Wenn es mir abschließend noch erlaubt ist, dann möchte
ich sagen: Beim Thema Geldwäsche muss man dieses
gesetzgeberische Gewurstel als peinlich bezeichnen.
Hier brauchen wir einen Gesamtansatz.
Wir können den schlechten Teilen des Gesetzentwurfes nicht zustimmen. Wir finden aber auch, dass wir die
guten nicht ablehnen können. Wir werden uns deswegen
angesichts der Vielzahl von Regelungen enthalten. Wir
werden uns gegenüber den guten Punkten entsprechend
positionieren, aber zugleich auch die gravierenden Defizite ansprechen, um in Zukunft für eine Korrektur zu
sorgen.
Danke.
({6})
Der Kollege Brinkhaus hat für die Unionsfraktion
jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Womit
beschäftigen wir uns zur Mittagszeit? Es geht in erster
Linie darum, europäische Richtlinien für eine bestimmte
Art von Fonds umzusetzen. Das tun wir hier. Da diese
aber nur für eine bestimmte Art von Fonds gelten, haben
wir uns zugleich dazu entschlossen, entsprechende Regelungen auch für Fonds zu erlassen, die von den europäischen Richtlinien nicht erfasst werden, damit es zu
Transparenz kommt und gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Ich glaube, das ist nicht zu kritisieren.
Es ist ebenfalls nicht zu kritisieren, dass wir in einem
Kraftakt Steuerschlupflöcher schließen, die auf sehr
komplizierte Weise genutzt werden konnten. Das ist mit
einem wahnsinnigen Umbau des Steuererhebungsverfahrens verbunden.
Es ist wohl auch nicht zu kritisieren, dass wir dieses
Gesetz außerdem nutzen, um einige andere Dinge mit
auf den Weg zu bringen, wie zum Beispiel Regelungen
im Bereich der Geldwäsche und Nachbesserungen bei
dem eigentlich sehr guten Ansatz, mit dem wir Mikrofinanzierung auf den Weg bringen wollten, was aber
nicht geklappt hat. Weiterhin gehören hierzu Regelungen
zur Haftpflicht von Lohnsteuerhilfevereinen und noch
einige andere Sachen. Ich denke, all das ist richtig und
gut. Es ist ja auch in der einen oder anderen Bemerkung
vonseiten der Opposition angeklungen, dass dem so ist.
Werfen wir einmal einen Blick zurück auf das Gesetzgebungsverfahren: Alle Berichterstatter dürften wohl
festgestellt haben, dass sie hier an ihre Grenzen gestoßen
sind, und zwar deswegen, weil das Investmentsteuergesetz wirklich nur etwas für Leute ist, die sich sehr, sehr
gerne mit Steuern beschäftigen, um das einmal vorsichtig auszudrücken. Diese Geschichte ist nämlich wahnsinnig spezifisch.
An dieser Stelle sollte man der Öffentlichkeit einmal
folgenden Sachverhalt darstellen: Von uns als Parlamentariern wird erwartet, den Schiedsrichter zwischen den
Vorlagen, die von der Regierung kommen, und den Interessen, die vonseiten der Bevölkerung und den Verbänden geäußert werden, zu spielen. Aber ganz ehrlich - ich
schaue jetzt einmal in die Augen der Coberichterstatter -: Das Investmentsteuergesetz hat uns ein wenig überfordert. Wenn wir weiterhin vernünftige parlamentarische Arbeit machen wollen, ist wirklich zu hinterfragen,
ob hierfür ein oder anderthalb Mitarbeiter ausreichen.
Auf der einen Seite steht das Finanzministerium mit mehreren Tausend Mitarbeitern und auf der anderen Seite die
Finanzbranche mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Wir
aber sollen ein gutes Urteil fällen. Das fällt uns, ehrlich
gesagt, hin und wieder recht schwer. An dieser Stelle ist
es noch einmal gelungen. Wir sollten uns aber überlegen,
ob das in Zukunft nicht anders vonstattengehen könnte.
Nun zu der Kritik, die an diesem Gesetzentwurf geäußert wurde. Fangen wir einmal mit der Kritik vonseiten
der Linken an. Lieber Kollege Koch, das, was Sie hier
gebracht haben, stammte ja wohl eher aus dem Satzbaukasten „Kapitalismusbeschimpfung für junge Pioniere“,
als dass es eine ernsthafte Kritik darstellte.
({0})
Das hatte höchstens ein wenig Erheiterungswert.
Ich möchte aber insbesondere auf ein Argument von
Ihnen eingehen, mit dem Sie, wie ich glaube, den Menschen etwas Falsches suggerieren. Sie haben kritisiert,
dass es nicht gut sei, dass die OGAW-Richtlinie große
Investmentfonds fördere und dass das zu zusätzlichen
Risiken führe, und gesagt, dass das nicht Ihrem Bild entspreche. Darüber kann man sich unterhalten. Das ist
überhaupt keine Frage. Sie sollten nur so ehrlich sein
und den Menschen hier auf der Tribüne und an den Bildschirmen erzählen, dass wir diese Richtlinie umsetzen
müssen, ob wir sie gut finden oder nicht. Wenn Sie als
Linke hier so tun, als ob es die Freiheit gäbe, sie nicht
umzusetzen, dann kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie sich hier unehrlich verhalten. Das sollte
nicht zum Stil in diesem Haus werden.
({1})
Bei dem, was außerdem an Kritik geäußert worden
ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, der
sowohl von der SPD als auch teilweise von den Grünen
angesprochen wurde. Dabei geht es darum, dass wir die
Verbraucher nicht ausreichend schützen und ihnen nicht
genügend Informationen mit auf den Weg geben.
Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz ist immer eine Gratwanderung, eine Gratwanderung zwischen
Transparenz und Information auf der einen Seite und
Bürokratie auf der anderen Seite. Er ist eine Gratwanderung zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevormundung auf der anderen Seite. Ich glaube, das vergessen Sie hin und wieder. Ich möchte das auch an den
Beispielen erläutern, die Sie selbst gebracht haben.
Herr Sieling, Sie haben gesagt, Anleger bekämen bestimmte Informationen nicht, weil wir die entsprechenden Verpflichtungen im Gesetz abgeschwächt hätten. Ich
möchte einmal erläutern, um welche Informationen es
geht - Kollege Sänger hat das eben ja auch schon angesprochen -: Wenn Sie an einem Aktienfonds beteiligt
sind, werden Sie nach diesem Gesetz zeitnah darüber informiert, wenn sich die Kostenstruktur ändert, wenn sich
die Anlagestrategie ändert oder wenn sich wesentliche
Vertragsbedingungen ändern wie zum Beispiel Kündigungsfristen, Rückgabemodalitäten und Ähnliches.
Auf der anderen Seite haben wir gesagt: Wenn jede
kleine Änderung in den AGB dem Verbraucher per Brief
mitgeteilt werden würde, dann würde er es nicht mehr
lesen. Es würde ein Informationsmüll auf ihm abgeladen
werden, den er nicht mehr beherrschen kann. Insofern
wundere ich mich wirklich, dass Sie kritisieren, dass wir
von der Unionsfraktion zusammen mit unserem liberalen
Partner versuchen, den Verbrauchern sinnvolle und zielgerichtete Informationen zukommen zu lassen, anstatt
sie mit Briefen zuzumüllen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass wir solche Schreiben ungelesen in den Papierkorb werfen.
({2})
Der Kollege Schick hat weiterhin kritisiert, dass wir
die Beweislast umgekehrt haben. Jetzt müsse der Verbraucher beweisen, dass er den entsprechenden Brief
von der Kapitalanlagegesellschaft bekommen hat.
({3})
Wie ist es denn vorher gewesen? Vorher hätte die Kapitalanlagegesellschaft es beweisen müssen. Das hätte, zu
Ende gedacht, bedeutet, dass jeder Brief als Einwurfeinschreiben hätte aufgegeben werden müssen, weil sonst
eine Beweisführung nicht möglich ist.
({4})
Wir haben dann Folgendes gesagt: Wir machen es genauso wie das Finanzamt, das völlig unverdächtig ist,
irgendwelche falschen Regelungen anzuwenden. Das
Finanzamt schickt einen Brief ab, und es gibt eine Zugangsfiktion, bei der davon ausgegangen wird, dass nach
drei Tagen der Brief des Finanzamts beim Bürger angekommen ist. Wenn der Bürger sagt, der Brief sei nicht
bei ihm angekommen, dann schaut man beim Finanzamt
nach, ob alles korrekt verschickt worden ist. Wir machen
das jetzt analog: Die BaFin schaut bei der Kapitalanlage11850
gesellschaft nach. Sie muss nachweisen, dass sie die organisatorischen Voraussetzungen für diese Regelung getroffen hat. Das ist eine erhebliche Verbesserung. Herr
Schick und Herr Sieling, ich finde es schon ein bisschen
irritierend, dass Sie das kritisieren. Sie müssen den Menschen in diesem Land einmal erklären, warum diese Regelung für sie eine Verschlechterung darstellen soll.
Selbst ein Gesetz zu OGAW - darauf will ich den
Rest meiner Redezeit verwenden - eignet sich dazu, einige grundlegende Unterschiede zwischen dem Bild, das
Sie von unserer Gesellschaft haben, und dem Bild, das
wir von unserer Gesellschaft haben, herauszuarbeiten.
({5})
Wir haben immer noch das Bild vom mündigen Verbraucher vor Augen. Für uns zählen die Freiheit und die Freiheit der Entscheidung.
({6})
Wir ermöglichen diese Freiheit. Dazu braucht es faire
und transparente Märkte. Dafür schaffen wir gute Rahmenbedingungen.
({7})
Das ist ein anderer Ansatz als der Ihrige. Sie wollen Einfluss darauf nehmen, wie sich die Menschen entscheiden.
({8})
Denn Sie glauben, dass Sie es besser wissen als die Menschen. Das ist Ihr Menschenbild. Sie wollen die Menschen sozusagen zu Tode regulieren und schaffen an allen Stellen neue Vorschriften und Gesetze.
({9})
Das kann man an dieser Diskussion sehen. Das
könnte ich auch an allen anderen Diskussionen festmachen, die wir hier zum Verbraucherschutz geführt haben.
Was von Rot und was von Grün kommt, ist Bürokratie,
das ist eine Vorschrift nach der anderen. Damit sollen die
Menschen in ihren Entscheidungen beeinflusst werden.
Das ist nichts anderes als gesetzliche Gängelung.
({10})
Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode ist, den
Menschen in diesem Land klarzumachen, was Sie für einen Staat wollen und was wir für einen Staat wollen.
({11})
Vorgestern wurde in einem interessanten Artikel in einer
Zeitung festgestellt, dass Rot-Grün - man müsste eigentlich Grün-Rot sagen - aus unserem Land einen Ponyhof
machen möchte. Ich sage dazu nur: Der Weg von einem
Ponyhof zu George Orwells Animal Farm ist nicht weit.
Das sollten wir beim Verbraucherschutz hin und wieder
beachten.
({12})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir sind die Partei
- da stehen wir eng an der Seite der Liberalen; das verbindet uns -, die an den freien und mündigen Bürger
glaubt. Sie glauben nicht daran. Sie wollen die Menschen gängeln und ihnen alles vorschreiben. Das ist Ihre
Philosophie. Diese werden wir Ihnen nicht durchgehen
lassen.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Binding für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Brinkhaus hat schon recht: An dem Gesetzentwurf kann
man erkennen, welchen Staat wir wollen. Ich will an
eine Bemerkung von Herrn Aumer erinnern. Er hat, anknüpfend an den vorherigen Tagesordnungspunkt, gesagt: Wir sollten die Lehren aus der Vergangenheit ziehen. - In der Vergangenheit hatten wir einen Atomstaat.
Jetzt haben Sie die Lehren daraus gezogen. Diese Lehre
hat Herr Aumer interessanterweise auf das OGAW übertragen und einen Vergleich mit der Finanzkrise hergestellt, die vielleicht einen Super-GAU mit Blick auf den
Finanzplatz darstellt. Wir wollten diesen schon immer
stärker regulieren als Sie. Interessanterweise haben Sie,
bezogen auf die Atomkraft, jetzt gelernt, dass es ganz
gut ist, wenn ein Staat hinreichend reguliert.
({0})
Auch wir sind für Effizienz. Nur sind wir nicht für die
Effizienz des Marktes an sich; denn der Markt an sich
hat gar keine Qualität.
({1})
Wir sind dafür, dass die Effizienz des Schutzes verbessert wird. Das ist ein wichtiger Punkt. Uns geht es dabei
um die Verbraucher. Das ist eine ganz wesentliche Sache, die vielleicht im Spannungsverhältnis der Erklärung
von Gerhard Schick liegt, der ausgeführt hat, warum sich
die Grünen enthalten. Er sagte, sie werden sich enthalten, weil es im Gesetzentwurf gute und schlechte Teile
gibt. Ich glaube, wenn man einen Gesetzentwurf danach
beurteilt, müssten wir uns immer enthalten; denn es gibt
kein Gesetz, das nur gut ist. Das ist so ähnlich wie mit
dem Orangensaft. Wenn drei Tropfen Arsen darin sind,
beurteile ich ihn anders, als wenn sie fehlen. Das ist also
eine komplizierte Sache.
Ich will aber auf die Gesamtschau abheben; denn wir
ziehen ja die Lehren aus der Vergangenheit. Bei allem,
was wir im Moment tun, besteht die Gefahr, dass wir angesichts unendlich vieler Einzelregelungen den ÜberLothar Binding ({2})
blick verlieren. Heute OGAW, gestern MiFID, morgen
Basel III, Solvency II, EMIR, REMI, MAD. Die Energiehandelsunternehmen wollen auch schon wieder ihre
Freiheiten und Ausnahmen haben. Wir sehen, wir reihen
Ausnahme an Ausnahme und verlieren die Gesamtschau. Dadurch entsteht ein riesengroßes Problem. Übrigens reicht das bis tief in die Anhörung. Da war ein
Mensch von der Deutschen Bank noch nicht einmal in
der Lage, seine eigenen Produkte zu erklären. Daran
sieht man, wie weit wir in diesem Markt gekommen
sind.
({3})
Das geht ja weiter. Wir haben einen Euro-Rettungsfonds im Umfang von 700 Milliarden Euro geschaffen.
Was macht denn der Fonds? Es wird immer von Transferunion gesprochen. Da geht es nicht um Transferleistungen zwischen Staaten. Das ist ganz anders. Es geht
um einen hochrisikoreichen Markt, nämlich den privaten. Wenn der versagt, infiziert er die Staaten, und die
sollen dann zahlen. Diese Rechnung, denke ich, darf
nicht aufgehen.
({4})
Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass die
Leute, die private Risiken in exorbitanter Dimension
eingehen, hinterher auch dafür geradestehen.
({5})
Das ist derzeit nicht der Fall. Im Moment zahlt immer
der Staat, oder es zahlen die Staaten aus Europa. Wenn
wir da keinen Riegel vorschieben, haben wir ein riesengroßes Problem.
Ich will zur Trennung von Verwaltungsgesellschaften
und Investmentvermögen oder Depotbanken - bezogen
auf grenzüberschreitende Niederlassungen und Verschmelzungen ist schon etwas erwähnt worden - nur sagen: Wenn das immer zu den Bedingungen des Herkunftsstaates passiert, dann infizieren wir die Staaten mit
guten Verhältnissen mit den Verhältnissen der schlechten
Staaten, und das wollen wir nicht. Das ist ein systematischer Fehler in diesem Gesetz.
({6})
Ganz aktuell vielleicht: Wenn man die Hedgefonds in
der Weise europäisch mischt, dann verdirbt man eine exzellente Regelung, die vor sieben oder acht Jahren getroffen wurde, mit der wir Hedgefonds erlaubt, diese
aber so reguliert haben, dass dadurch in Deutschland
kein Verbraucher geschädigt wird. Deshalb gibt es auch
nur 14, und deshalb sind dort auch nur 2 Milliarden Euro
investiert und nicht 80 Milliarden, wie die Banker behauptet haben. Aber wenn man das in der Weise reguliert, wie es der Entwurf des OGAW-IV-Umsetzungsgesetzes vorsieht, dann infizieren wir praktisch den guten
deutschen Hedgefondsmarkt mit Hedgefondsvorgängen
aus anderen Ländern, die uns sehr gefährlich werden
können.
({7})
Das bereitet den nächsten GAU vor. Deshalb sind wir
dagegen und lehnen den Gesetzentwurf ab.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksachen 15/5403 und 15/5417, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 15/4510
und 15/4811 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für ein modernes Patientenrechtegesetz
- Drucksachen 17/907, 17/5227 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In unserer Koalitionsvereinbarung mit der Union haben
wir uns verpflichtet, die Rechte von Patientinnen und
Patienten in einem eigenen Gesetz zu regeln. Denn
Patientensouveränität und Patientenrechte sind uns ein
wichtiges Anliegen. Das habe ich an dieser Stelle schon
mehrfach betont.
({0})
Daran wird sich auch nichts ändern. Insoweit sind wir
uns mit der SPD im Grunde einig.
({1})
Ihren Antrag werden wir dennoch ablehnen; denn an
vielen Stellen offenbaren Sie ein Menschenbild, das mit
dem unsrigen nicht übereinstimmt.
({2})
Sie leiten die berechtigten Interessen und Bedürfnisse
der Patienten aus einer Opferrolle ab. Das wird den
Menschen aber nicht gerecht.
({3})
Für uns sind Patienten nicht per se die Opfer, die Geschädigten oder die Getäuschten, deren schwache Position man gegenüber den übermächtigen Ärzten stärken
muss. Nein, ich bleibe dabei: Patienten und Ärzte sind
Partner.
({4})
Wir wollen den souveränen, aufgeklärten Patienten,
der seine Rechte kennt und nutzt. Deshalb haben wir die
unabhängige Patientenberatung zu einem festen Bestandteil des deutschen Gesundheitswesens gemacht.
({5})
Jetzt haben wir eine neutrale UPD, die ihrer Seismografenfunktion gerecht werden kann. In einem nächsten
Schritt werden wir ein Patientenrechtegesetz vorlegen.
Mit diesem Gesetz verfolgen wir das Ziel, Transparenz
über die heute bereits bestehenden umfangreichen
Rechte der Patienten herzustellen. Nur wer seine Rechte
kennt, kann als mündiger Patient selbstbewusst gegenüber Behandlern und Krankenkassen auftreten.
Darüber hinaus wollen wir zum einen die tatsächliche
Durchsetzung dieser Rechte verbessern und zum anderen insbesondere in Fällen von Behandlungsfehlern den
Patienten stärker unterstützen. Gleichzeitig sollen die
Patienten im Sinne einer verbesserten Gesundheitsversorgung geschützt werden. Daher freue ich mich sehr,
dass unsere Minister Philipp Rösler und Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger ein Papier vorgelegt haben, das den im Koalitionsvertrag formulierten Ansprüchen mehr als gerecht wird.
({6})
Ich möchte einzelne Punkte aufgreifen, weil sie mir
besonders wichtig sind.
Erstens. Bewilligungsverfahren von Sozialversicherungsträgern sollen verkürzt werden. Dies ist ein ganz
zentraler Punkt im erlebten Alltag der Versicherten. Dem
Patienten ist es doch mehr oder weniger egal, an welcher
Stelle im Gesetz genau steht, welche Rechte er hat.
Wichtig ist ihm aber, dass er die Leistungen, die ihm zustehen, schnellstmöglich erhält. Wir sorgen für kürzere
Bewilligungsverfahren, und zwar zum Wohle der Patienten.
({7})
Genau in diesem Sinne, im Sinne des konkreten Nutzens
für die Versicherten, werden wir die Verfahrensrechte
bei einem Behandlungsfehlerverdacht stärken, nämlich
mit einheitlichen Schlichtungsverfahren, Mediation und
spezialisierten Kammern bei den Landgerichten.
Ganz wichtig ist uns auch die Förderung der Fehlervermeidungskultur.
({8})
Behandlungsfehlern vorzubeugen, hat höchste Priorität.
Ich denke, da sind wir uns einig. Risikomanagement und
Fehlermeldesysteme in der stationären und ambulanten
Versorgung werden gestärkt. Im Rahmen der Verpflichtung zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement
wird das Beschwerdemanagement in den Krankenhäusern vorgeschrieben.
Da wir Behandler und Patienten als Partner begreifen
und nicht als Gegner, legen wir auf die Schaffung finanzieller Anreize großen Wert: zur Einführung eines Fehlervermeidungssystems, zum Beispiel im Rahmen von
Qualitätszuschlägen - ambulant und stationär -, sowie
durch Transparenzvorgaben, insbesondere für den Qualitätsbericht der Krankenhäuser.
Wir dürfen bei alledem nicht die Leistungserbringer
vergessen, die tagtäglich den Herausforderungen des
Medizineralltags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechte darf deshalb nicht auf dem Prinzip des
Misstrauens aufgebaut werden. Zwei Dinge müssen uns
klar sein:
Erstens. Ärzte dürfen nicht mit immer mehr unnötigen Dokumentationspflichten überlastet werden.
Zweitens. Durch weitere Beweiserleichterungen, die
über die Rechtsprechung hinausgehen, gerät man schnell
in eine Situation der Defensivmedizin. Diese Defensivmedizin kann bei einer überzogen vorsichtigen Haltung
schlimmstenfalls zur Behandlungsverweigerung führen.
({9})
Es kann aber auch zu einer extremen Überversorgung
des Patienten kommen. Mit beidem ist den Patienten
nicht gedient. Ich verweise in diesem Zusammenhang
nur auf die übermäßige Strahlenbelastung bei häufigem
Röntgen.
Wir wollen keine Kultur des Misstrauens. Wir bauen
auf das Prinzip von Vertrauen und Fairness.
({10})
Deshalb gibt es weder eine allgemeine Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlerverdacht noch über das
Richterrecht hinausgehende weitere Beweiserleichterungen. Wir kodifizieren das Richterrecht. Die von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze und Instrumente zur Beweislastverteilung werden in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt. Diese angemessene Beweislastverteilung wird den Ansprüchen, Rechten und
Pflichten aller Beteiligten gerecht.
Wenn wir über das Arzthaftungsrecht sprechen, muss
uns klar sein: Für eine Haftung des Arztes müssen drei
Voraussetzungen erfüllt sein:
Erstens. Es muss eine ärztliche Pflichtverletzung vorliegen, also eine Verletzung des geltenden medizinischen
Standards.
Zweitens. Es muss ein Gesundheitsschaden eingetreten sein.
Drittens. Es muss ein eindeutiger Ursachenzusammenhang bestehen. Um genau diesen Ursachenzusammenhang geht es. Bei Fragen des beherrschbaren Risikos, bei Befunderhebungsmängeln und bei groben
Behandlungsfehlern gilt durch die Rechtsprechung bereits die Beweislastumkehr. Eine darüber hinausgehende
Beweislastumkehr zulasten der Ärzte wird es mit uns
nicht geben;
({11})
denn wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse.
({12})
Wir wollen keine Defensivmedizin. Wir wollen keine
Kultur des Misstrauens. Wir wollen bestmögliche Versorgung auf der Basis von Vertrauen und Fairness zum
Wohle der Patientinnen und Patienten in Deutschland.
Danke.
({13})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin
Dr. Volkmer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die SPD ist die Selbstbestimmung der Menschen und
damit auch die Selbstbestimmung der Patientinnen und
Patienten ein hohes Gut. Von daher haben für uns die Patientenrechte einen ganz hohen Stellenwert.
({0})
Das haben wir in der Regierungszeit von Rot-Grün
bewiesen. Wir haben das Amt des Patientenbeauftragten
der Bundesregierung eingeführt; sonst könnte Herr
Zöller dieses Amt heute nicht bekleiden. Wir haben die
unabhängige Patientenberatung eingeführt. Das ist ein
Erfolgsmodell, das jetzt in die Regelversorgung überführt worden ist.
({1})
Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass Patientenvertreter in dem Gremium sitzen, das entscheidet, welche
Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung
übernommen werden.
({2})
Deswegen ist es folgerichtig, dass wir einen Antrag
für ein Patientenrechtegesetz vorgelegt haben, den wir
heute beraten. Patienten haben Rechte, die sie häufig
nicht kennen. Sie kennen diese Rechte nicht, weil diese
Rechte verstreut in unterschiedlichen Gesetzen niedergelegt sind, im Sozialgesetzbuch, im Bürgerlichen Gesetzbuch, aber auch in Berufsordnungen. Von daher ist es
richtig und wichtig, dass wir das in einem Gesetz zusammenführen, und zwar in einem Patientenrechtegesetz.
({3})
Dabei geht es nicht nur darum, mehr Übersichtlichkeit für die Patienten zu schaffen, sondern auch für die
Ärztinnen und Ärzte; denn manchmal kennen auch
meine Arztkollegen die Rechte von Patientinnen und Patienten nicht so ganz genau.
Wir können dabei gleichzeitig Lücken schließen.
Zum Beispiel muss gesetzlich verankert werden, dass
bei der Aufklärung von Patientinnen und Patienten auch
über Alternativen zu einer diagnostischen Methode oder
zu einer bestimmten Therapie informiert wird.
Wir wollen viel mehr, als nur das jetzt schon geltende
Recht zu kodifizieren. Ein ganz wichtiger Punkt ist die
sichere Behandlung von Patientinnen und Patienten.
Nun kann man sagen: Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. - Ja, eigentlich schon, aber es ist leider Tatsache, dass in Deutschland mehr Menschen an den Folgen
von Behandlungsfehlern in Krankenhäusern sterben als
durch Verkehrsunfälle. Von daher können wir da nicht
ruhig bleiben, sondern müssen sagen: Wir wollen Fehlervermeidungssysteme in allen Krankenhäusern verbindlich vorschreiben. - Es gibt Krankenhäuser, die das
schon jetzt auf freiwilliger Basis machen. Das ist richtig
und gut, aber das reicht uns nicht. In jedem Krankenhaus
muss das geschehen.
Natürlich werden überall dort, wo gearbeitet wird,
Fehler gemacht. Das ist ganz normal. Aber es ist vor allen Dingen wichtig, dass Fehler und Beinahefehler erfasst werden, um daraus Rückschlüsse für zukünftiges
Arbeiten und für die Sicherheit ziehen zu können. Deswegen halten wir es für dringend erforderlich, dass Men11854
schen, die einen eigenen oder einen fremden Fehler melden, keine arbeitsrechtlichen Sanktionen befürchten
müssen.
({4})
Ein Patientenrechtegesetz muss aber auch die Opfer
von Behandlungsfehlern stärken. Zum Beispiel wollen
wir gesetzlich vorschreiben, dass Nachbehandler bei
Verdacht auf einen groben Behandlungsfehler den Patienten darauf aufmerksam machen müssen. Wir wollen
sowohl die gesetzlichen als auch die privaten Krankenkassen verpflichten, im Falle des Verdachtes eines Behandlungsfehlers die Versicherten zu unterstützen.
Eine Schwierigkeit für die betroffenen Patientinnen
und Patienten ist der Nachweis der Kausalität. Dabei
geht es um die Frage, ob der Gesundheitsschaden tatsächlich aufgrund eines Behandlungsfehlers eingetreten
ist oder ohnehin aufgrund einer anderen Erkrankung
oder der Erkrankung, wegen der der Betroffene behandelt wird, eingetreten wäre. Wir fordern bei groben Behandlungsfehlern in bestimmten Fällen eine Beweislastumkehr, zum Beispiel dann, wenn Dokumentationen
nicht vollständig sind oder wenn diese Dokumentationen
den Gerichten nur verzögert oder scheibchenweise zur
Verfügung gestellt werden.
({5})
Um das noch einmal ganz klar zu sagen: Eine generelle Beweislastumkehr wollen wir nicht; denn da sehen
auch wir Gefahren für den Patienten. Es könnte sein,
dass die Versicherungen dann sehr hohe Beiträge verlangen und dass gefährliche Eingriffe bei Patientinnen und
Patienten nicht durchgeführt werden. Es stimmt nicht,
dass wir eine generelle Beweislastumkehr fordern; mit
dieser Behauptung soll nur Stimmung gegen ein solches
Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte gemacht werden.
Sehr wichtig ist uns auch die Stärkung der kollektiven
Rechte von Patientinnen und Patienten. Ich habe schon
gesagt, dass wir die Beteiligung von Patientenvertretern
im Gemeinsamen Bundesausschuss eingeführt haben.
Jetzt geht es darum, ein Stimmrecht der Patientenvertreter zumindest in Verfahrensfragen in dem Gemeinsamen
Bundesausschuss auf den Weg zu bringen.
Heute liegt Ihnen ein ziemlich umfassender Antrag
vor, in dem wir beschreiben, wie wir uns die Ausgestaltung eines Patientenrechtegesetzes vorstellen. Das, was
bisher vonseiten der Koalition vorgelegt worden ist,
würde ich nur als Ankündigung bezeichnen. Es besteht
nämlich nicht einmal Einigkeit darüber, welchen Status
Ihr Papier hat. Manche sagen, es sei ein Eckpunktepapier; manche sagen, es sei ein Positionspapier.
Es besteht bei Ihnen noch nicht einmal Einigkeit darüber, wie das Gesetz heißen soll. Herr Zöller, Sie sprechen immer von einem Patientenrechtegesetz; das finde
ich sehr gut. Aber es gibt viele Kollegen, gerade in der
FDP, die von einem Patientenschutzgesetz sprechen. Da
frage ich Sie: Welchen Blick haben Sie denn auf die Patienten? Wir glauben nicht, dass Patienten unbedingt
schützenswert sind.
({6})
Aber wir glauben, dass Patienten ganz klar über ihre
Rechte Bescheid wissen müssen, damit sie fachgerecht
entscheiden können, gemeinsam mit dem Arzt. Wir halten eine Verbesserung ihrer Situation bei Behandlungsfehlern für notwendig. Hier ist der Patient tatsächlich in
einer sehr ungünstigen Position.
({7})
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Grundsätzlich stelle ich hier im Haus einen
großen Konsens fest. Wir wollen die Rechte der Patienten und Patientinnen stärken, und wir wollen das Verhältnis Arzt-Patient auf eine saubere Grundlage stellen
und damit insgesamt transparenter machen. Wir kündigen nicht nur an, sondern wir werden in diesem Jahr den
Entwurf eines Patientenrechtegesetzes vorlegen!
({0})
Das künftige Regelwerk wird zwei Bedingungen erfüllen: Es wird Vorschriften bündeln und die Rechte der Patienten in vielfältiger Weise stärken.
Die christlich-liberale Koalition hat die Absicht, mit
den konkreten Beratungen über ein Patientenrechtegesetz zu beginnen, um die Rechte der Patienten im Umgang mit Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen
zu verbessern und die Versicherten vor Behandlungsfehlern stärker zu schützen. Dabei ist uns ein zentrales Anliegen, den Patientinnen und Patienten mehr Souveränität im Umgang mit Ärzten zu verschaffen, sie zu
Partnern auf Augenhöhe zu machen und gleichzeitig das
notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht zu zerstören.
({1})
Wir wollen eine ausgewogene Balance der Interessen
und sehen keinen Sinn darin, einzelne Gruppen in unserem Gesundheitssystem gegen andere Gruppen in Stellung zu bringen.
({2})
Deshalb haben wir den vorliegenden Antrag der SPD im
Gesundheitsausschuss abgewiesen. Wir halten ihn für
nicht zielgenau und für überzogen. Ich nenne stellvertretend nur das Stichwort „Leichenschau“.
Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass
sich selbst das in der vergangenen Legislaturperiode von
der SPD geführte Gesundheitsministerium seinerzeit gehütet hat, sich diese Vorstellungen der SPD-Fraktion zu
eigen zu machen. Umso mehr begrüße ich das vom
Patientenbeauftragten der Bundesregierung jüngst vorgelegte Grundsatzpapier.
({3})
Namens der CDU/CSU-Fraktion danke ich unserem
Kollegen Wolfgang Zöller für seine Arbeit.
({4})
Er hat in zahllosen Gesprächen mit allen gesellschaftlichen Gruppen und allen Beteiligten in unserem Gesundheitswesen einen breiten gesellschaftlichen Konsens für
dieses Grundlagenpapier hergestellt. Mein Dank gilt
ebenso dem Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler
({5})
und der Frau Bundesjustizministerin, die beide engagiert
und konstruktiv an diesem Papier mitgearbeitet haben.
({6})
Die Vorschläge des Patientenbeauftragten sind von
der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband positiv aufgenommen worden.
({7})
Die Bundesärztekammer würdigt das Papier als gutes
Ergebnis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Die
Kassenärztliche Bundesvereinigung begrüßt, dass damit
die Rechte der Patienten gestärkt werden und ihre Beteiligung in der Selbstverwaltung ausgebaut wird.
Der GKV-Spitzenverband beurteilt die Vorschläge
ausdrücklich als sehr positiv. Auch der Bundesverband
der Verbraucherschützer bewertet die Eckpunkte als
Schritt in die richtige Richtung.
({8})
Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen,
das Jahr 2011 zum Jahr der Patienten zu machen, und
wir halten Wort.
({9})
Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetzlich
verankert. Wir haben den Gesetzentwurf zur durchgreifenden Verbesserung der Krankenhaushygiene eingebracht. Gestern haben wir über das 5,5-Milliarden-EuroProgramm zur Erforschung der Volkskrankheiten debattiert. Wir haben heute die Eckpunkte für ein umfassendes Versorgungsgesetz vorgelegt - Stichworte hierzu:
flächendeckende Bedarfsplanung und Versorgungsgerechtigkeit für den ländlichen Raum. Wir werden mit
dem Patientenrechtegesetz die Kräfte im Gesundheitswesen so ausbalancieren, dass die Patienten gestärkt
werden, ohne das unabdingbare Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient zu beschädigen.
({10})
Zu den Kernpunkten unseres Vorhabens gehören die
Verankerung des Behandlungsvertrags im BGB, die
gesetzliche Klarstellung der Aufklärungs- und Dokumentationspflichten sowie die Vereinheitlichung des außergerichtlichen Schlichtungsverfahrens bei den Ärztekammern. Wir stärken die Rechte der Patienten auf
Akteneinsicht, wir fördern das Beschwerdemanagement
in den Krankenhäusern, und wir werden nachhaltig die
Fehlervermeidung vorantreiben, indem wir die Einführung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen
forcieren. Ferner werden wir die Beteiligung der Patienten - zum Beispiel im Gemeinsamen Bundesausschuss ausweiten und die künftigen Aufgaben des Patientenbeauftragten präzisieren.
Ein Schwerpunkt unserer Vorhaben betrifft Behandlungsfehler. Hier wollen wir in einfachen Fällen - wie
bisher -, dass sich der Patient an die Schlichtungsstelle
der zuständigen Ärztekammer wendet. Bereits heute
werden rund 70 Prozent der Streitfälle auf diese Weise
außergerichtlich geklärt. Kommt es zu einem Haftungsprozess, gelten die von der Rechtsprechung entwickelten
Instrumente zur Beweislastverteilung, die in das BGB
aufgenommen werden; denn wir haben nicht die Absicht, Ärzte unter Generalverdacht zu stellen.
Allerdings werden wir bei groben Behandlungsfehlern verbindlich festschreiben, dass der Arzt nachweisen
muss, den Schaden nicht verursacht zu haben. Weiter
werden Länder und Ärztekammern angehalten, dafür zu
sorgen, dass Ärzte über eine entsprechende Berufshaftpflichtversicherung verfügen. Zudem werden die bislang
in jedem Bundesland unterschiedlich geregelten Schlichtungsverfahren bei ärztlichen Behandlungsfehlern vereinheitlicht. Die Kranken- und Pflegekassen sollen ihren
Versicherten künftig Hilfestellung bei der Durchsetzung
von Schadenersatzansprüchen geben, indem sie die Patienten - etwa durch medizinische Gutachten - unterstützen und so dazu beitragen, oft jahrelang dauernde gerichtliche Auseinandersetzungen zu beschleunigen.
Die Kassen können schon heute ihre Versicherten bei
der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen unterstützen; ich denke aber, wir sollten aus dieser Kann-Regelung eine verbindlichere Lösung für die Versicherten
entwickeln.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem
Punkt, den ich für besonders wichtig halte. Es geht um
die Einführung einer Frist, innerhalb derer die Krankenkassen über Reha- und Hilfsmittelanträge entscheiden
müssen. Der Patientenbeauftragte schlägt vor, Anträge
nach Ablauf einer Frist als genehmigt gelten zu lassen.
Das ist eine bedeutende Verbesserung für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ebenfalls in diesen
Zusammenhang gehört die Prüfung der Frist, nach der
Patienten bei den Sozialgerichten gegen ausstehende
Entscheidungen der Sozialversicherung klagen können;
hier denken wir daran, diese Frist von sechs auf zwei
Monate zu verkürzen.
Alle diese Maßnahmen entsprechen dem Leitbild eines souveränen und mündigen Patienten, der seine
Rechte kennt - und genau darum geht es. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung hat es so ausgedrückt:
Die Patientinnen und Patienten sollen ihr Gesundheitssystem als gerecht empfinden. - Das bedeutet: Patienten
dürfen nicht das Gefühl haben, Bittsteller zu sein. Sie
dürfen sich gegenüber Leistungsträgern und Leistungserbringern nicht ohnmächtig fühlen.
Es geht uns in diesem Jahr der Patienten darum, den
Menschen, der krank ist, mit Nachdruck in den Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems zu stellen; denn das
ist der Platz, der ihm zusteht und auf den er Anspruch
hat. Es geht uns gleichzeitig aber auch um einen vernünftigen Ausgleich der Interessen von Patienten und
Leistungserbringern.
Nur gemeinsam mit Ärzten und Krankenkassen können wir ein Patientenrechtegesetz machen, das seinen
Namen verdient. Wir wollen keine Grabenkämpfe, sondern ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis auf
Augenhöhe.
Es bleibt dabei: Alle Fraktionen dieses Hauses sind
eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Vogler für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Rüddel, ich hatte es bisher immer so
verstanden, dass der Herr Minister Rösler dieses Jahr
zum Jahr der Pflege erklärt hat. Sie haben es jetzt zum
Jahr der Patienten gemacht.
({0})
Vielleicht einigen Sie sich da koalitionsintern, damit wir
wissen, was jetzt eigentlich angesagt ist.
({1})
Ich habe einmal das Wort „Patientenrechte“ gegoogelt
und 143 000 Einträge gefunden. Bei demselben Begriff
auf Englisch oder Spanisch erhalte ich jeweils 17 Millionen Einträge, und wenn ich den französischen Begriff
eingebe, sind es sogar 19 Millionen Einträge.
({2})
Wenn ich ihn auf Niederländisch eingebe, sind es immerhin noch 219 000 Einträge. Zumindest hinsichtlich
der öffentlichen Wahrnehmung scheint es mit den Patientenrechten in Deutschland und im deutschsprachigen
Raum nicht ganz so weit her zu sein, wie uns das hier
immer dargestellt wird.
({3})
Worüber reden wir jetzt eigentlich? Dazu will ich Ihnen einmal eine Geschichte aus meiner Heimat erzählen,
die sich etwa vor einer Woche zugetragen hat. Es wäre
ganz gut, wenn Sie zuhören würden, weil das nicht erfreulich ist:
({4})
Ein 83-jähriger blinder Mann kommt zu einer Untersuchung ins Krankenhaus. Dort erleidet er einen Kreislaufzusammenbruch und wird stationär aufgenommen. Nach
einigen Untersuchungen wird er entlassen und mit einem Krankenwagen nach Hause gebracht: allein, im
OP-Hemd und noch mit der Infusionsnadel im Arm.
Dieses Ereignis ist einfach mehr als ein Fehler, den
Menschen nun einmal machen. Für mich ist das Ausdruck eines Gesundheitswesens, das immer mehr von
der Ökonomie beherrscht wird, in dem der Patient nicht
mehr ein leidender Mensch ist, dem zu helfen ist, sondern so etwas wie ein Werkstück, das im Fließbandtakt
die Fabrik durchläuft, und in dem die Pflegenden und
Behandelnden immer mehr zu selenloser und entwürdigender Fließbandarbeit gezwungen werden.
Die Linke setzt sich deswegen für ein Gesundheitswesen ein, das allen Menschen barrierefrei und unabhängig von ihrem Einkommen eine gute medizinische Versorgung garantiert. Ich finde es ganz wichtig, dass die
Wahrung ihrer Würde und Selbstbestimmung dabei stärker als bisher in den Mittelpunkt gerückt wird.
({5})
Die derzeitigen Rechte für Patientinnen und Patienten
- ich glaube, darin sind wir alle uns einig - finden sich in
vielen Einzelgesetzen wieder, und vieles ist gar nicht gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich nur aus der Rechtsprechung.
({6})
Ich glaube, die Patientinnen und Patienten haben den
Gerichten in Deutschland in den letzten Jahren tatsächlich mehr zu verdanken als der Politik.
Der Antrag mit dem Titel „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“, den die SPD hier vorgelegt hat, hat ja
schon vor einem Monat seinen ersten Geburtstag gefeiert.
({7})
Er kann also schon fast laufen. Er enthält einige richtige und wichtige Gedanken - das möchte ich auch unterstützen -, wie den Entschädigungsfonds und die Regulierung der sogenannten IGeL. Man merkt ihm aber
doch noch ein bisschen seine Entstehungsgeschichte an.
Gleich zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie ihn
eilig aus dem zusammengezimmert, was Sie in der gemeinsamen Regierungsarbeit mit der CDU/CSU liegenlassen mussten. Die Linke - auch ich - kann sicher mit
Ihnen mitgehen, wenn Sie fordern, die Rechte der Patientinnen und Patienten zusammenzufassen und zu stärken.
Ich kann es mir aber nicht verkneifen, Sie daran zu erinnern, dass Sie bis 2009 die Verantwortung für das Justizund das Gesundheitsministerium hatten. Insofern stellt
sich die Frage, warum Sie damals nicht eine der Maßnahmen durchgesetzt haben, die Sie jetzt von Schwarz-Gelb
fordern.
({8})
Meiner Ansicht nach hätten Sie die 13 Monate Liegezeit dafür nutzen können, den Antrag nachzubessern und
konkreter zu machen; denn bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss sind seitens der Patientinnen- und
Patientenorganisationen einige gute Impulse gekommen.
Das haben Sie leider versäumt. Deswegen und wegen
des völlig überzogenen Eigenlobs in der Einleitung muss
sich die Linksfraktion leider in der Abstimmung enthalten.
Es gibt aber erhebliche Schnittmengen zwischen unseren Auffassungen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir
dann, wenn die Regierungsfraktionen ihren schon lange
angekündigten Gesetzentwurf vorlegen, gemeinsam unsere Alternativvorschläge formulieren.
Die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte
zum Patientenrechtegesetz lassen befürchten, dass der
lang und breit angekündigte Entwurf nicht die nötige
Weite haben wird und nicht mehr als ein kleiner Hopser
wird: kein Satz zum Entschädigungsfonds, kein Gedanke an Beweiserleichterung. Lediglich den Krankenkassen wollen Union und FDP neue Lasten auferlegen.
Ich fand es schon symptomatisch, dass Sie in der Anhörung die anwesenden Patientenvertreter fast völlig ignoriert haben. Was sie zu sagen hatten, schien für Sie
völlig uninteressant zu sein.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, machen Sie es sich bitte nicht
so einfach. Wenn man etwas im Sinne der Menschen erreichen will, muss man sich eben auch manchmal mit
Lobbygruppen anlegen.
({9})
Wenn Ihnen dazu der Mut fehlt, dann überlassen Sie das
Regieren bitte anderen. Denn Regieren ist nichts für
Feiglinge.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Präsidentin! Ich will jetzt etwas tun, was vor mir
gar nicht so viele getan haben, nämlich tatsächlich auf
den vorliegenden Antrag eingehen. Wir reden ja heute
über einen SPD-Antrag, der es unserer Meinung nach
verdient hat, gewürdigt zu werden.
({0})
Herr Rüddel, wenn Sie anbieten, gemeinsam Positionen zu entwickeln, dann hätte es Ihnen auch gut angestanden, das zu tun. Denn in diesem Hause gibt es eine
relativ breite Übereinstimmung darin, auf ein modernes
partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patienten zu setzen, statt einen Konflikt zwischen ihnen heraufzubeschwören. Zum einen stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen wir brauchen. Zum anderen
müssen wir in den Fällen, in denen die Patienten
schwach sind und sich nicht durchsetzen können, unsere
Schutzfunktion als Gesetzgeber wahrnehmen. Diese
Punkte gehören eng zusammen.
Ich glaube - das kann man auch als politischer Wettbewerber sagen -, der SPD-Antrag wird in großen Teilen
beiden Punkten gerecht.
({1})
- Genau. Das können Sie gerne bestätigen. - Denn in
dem Antrag werden verschiedene Aspekte angesprochen, zum Beispiel die Frage, was an Information nötig
ist, welche Unterstützung im Verlauf der Leistungserbringung gegeben sein muss und was an Fehlervermeidungskultur und Qualitätssicherungssystemen erforderlich ist. Er geht darauf ein, was nötig ist, um die
Behandlungssituation insgesamt sicherer zu machen,
und welche Unterstützung diejenigen brauchen, die Opfer eines Behandlungsfehlers geworden sind, aus welchen Gründen auch immer er gemacht worden ist.
Von daher ist dem Antrag Respekt zu gewähren. Von
unserer Seite heißt das nicht, dass wir alle Punkte abschließend behandelt finden. Es gibt etliche Positionen,
die wir gerne genauer gefasst hätten, und Etliches ist
durch den Lauf der Ereignisse längst erledigt. Die unabhängigen Beratungsstellen müssten aus unserer Sicht
viel stärker ausgebaut werden, wenn wir dem Anspruch
gerecht werden wollten, tatsächlich für Information und
Unterstützung von Patienten auf gleicher Augenhöhe zu
sorgen.
({2})
So viel zum Antrag.
Jetzt komme ich zu dem, wofür Sie von der Koalition
den heutigen Tag auch genutzt haben, nämlich das gemeinsam vereinbarte Grundlagenpapier für ein Patientenrechtegesetz vorzustellen und auch ein bisschen zu
feiern. In der Tat gebührt dem Patientenbeauftragten der
Bundesregierung insofern ein Lob,
({3})
als dass er es geschafft hat, ein Stück weit über Ihre
Koalitionsvereinbarung hinauszugehen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht nur, dass Sie die geltenden Rechte
bündeln wollen. Herr Zöller hat aufgrund des Kontaktes
und der Auseinandersetzung mit Patientenorganisationen dafür gesorgt, dass auch Bereiche, die ursprünglich
nicht Bestandteil Ihres Papieres waren, einbezogen werden, Bereiche, die auch im SPD-Antrag berücksichtigt
werden.
Gleichwohl will ich an dieser Stelle auf einen besonderen Unterschied hinweisen. Sie sprechen in Ihrem
Koalitionsvertrag nicht von einem Patientenrechtegesetz, sondern von einem Patientenschutzgesetz. Dieser
eigentlich sehr engen Auffassung werden Sie aber mit
dem Grundlagenpapier in keiner Weise gerecht; das
finde ich schon erstaunlich.
Schauen wir uns an, welche Vorschläge Sie für eine
Fehlervermeidungskultur machen. Sie setzen im Bereich
der Patientensicherheit auf freiwillige Anreize, die heute
in 900 Krankenhäusern schon bestehen. Aber es geht
jetzt darum, das Recht des Patienten auf eine sichere und
gute Versorgung so festzuschreiben, dass in allen Krankenhäusern und Praxen bestimmte qualitätsgesicherte
und risikogeprüfte Verfahren eingehalten werden.
({4})
Keiner von uns steigt in ein Flugzeug, ohne darauf zu
vertrauen, dass zuvor ein Sicherheitscheck durchgeführt
wurde. Auch Patienten haben Anspruch auf einen solchen Check. Das muss rechtsverbindlich geregelt werden.
({5})
Wenn es darum geht, Patienten zu ihrem Recht zu
verhelfen, wenn sie Opfer von Behandlungsfehlern geworden sind, bleiben Sie weit hinter dem zurück, was eigentlich notwendig wäre. Sie versuchen zwar, die Rechtsprechung ein Stück weit in Recht zu fassen, machen das
aber handwerklich so schlecht, dass die Patienten letztendlich schlechter gestellt werden. Da müssen Sie dringend nachlegen und korrigieren. Wir werden den Gesetzgebungsprozess und den Diskussionsprozess nutzen,
um auf diese Mängel hinzuweisen.
Frau Kollegin!
Ich nehme gerne das von Ihnen unterbreitete Angebot
an, Herr Rüddel, gemeinschaftlich an einer Verbesserung
zu arbeiten. Sowohl der vorliegende SPD-Antrag als
auch der Antrag, den wir in Kürze einbringen werden
und der weitere qualifizierte Vorschläge beinhalten wird,
und auch Ihr Grundlagenpapier werden Grundlage weiterer Diskussionen sein. Heute haben wir sicherlich nicht
das letzte Mal darüber diskutiert.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kollegin KleinSchmeink, es ist erstaunlich, dass Sie uns handwerkliche
Fehler vorwerfen, ohne ein Gesetz gesehen zu haben.
Wie das gehen soll, kann ich nicht beurteilen. Wir diskutieren jedenfalls über ein Grundlagenpapier.
Seit etwa 15 Jahren gibt es die Diskussion über ein
Patientenrechtegesetz. Jetzt hat diese Diskussion die
Zielgerade erreicht. Es wird eine gesetzliche Regelung
geben.
({0})
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung,
Wolfgang Zöller, hat nach gründlicher Vorarbeit und
nach umfangreicher Abstimmung mit allen Betroffenen
die Grundlagen dieser gesetzlichen Regelung am
22. März vorgestellt.
({1})
Dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung gebührt Dank, dass er das Projekt in die Hand genommen,
es engagiert koordiniert und mit über 300 Verbänden besprochen hat. Es war im Übrigen richtig, zuerst mit den
Verbänden, mit allen potenziell Betroffenen zu sprechen
und eben nicht ein wohlklingendes Papier an den Anfang
zu stellen.
Anlass unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der
SPD. Es ist nicht alles falsch, was darin steht. Aber bezogen auf diesen Antrag ist manches differenzierter zu
betrachten und manches überholt. Überholt ist etwa die
Forderung, die Modellvorhaben der Unabhängigen Patientenberatung, UPD, auf Dauer abzusichern; denn das,
Frau Kollegin, haben wir bereits im letzten Jahr mit dem
AMNOG getan. Die UPD gehört jetzt zur gesetzlichen
Regelversorgung.
Wir wissen, dass Patientenrechte heute an vielen unterschiedlichen Orten geregelt sind: in Gesetzen, Richtlinien, Berufsordnungen und in Bundesmantelverträgen
der Selbstverwaltung. Viele Details sind durch die
Rechtsprechung ausgestaltet worden. Wir sind uns einig
in der Bewertung, dass im Interesse von Patientinnen
und Patienten mehr Transparenz hergestellt werden
muss. Wer wie ich als Rechtsanwalt in der Praxis Mandanten in medizinrechtlichen Haftungsauseinandersetzungen betreut hat, kennt die Situation, dass der Laie die
Verfahrensabläufe in der Regel nicht mehr überblicken
kann bzw. dass er sie überwiegend nicht versteht. Diese
Situation wollen wir verbessern.
Grundlage jeder ärztlichen Behandlung ist der Behandlungsvertrag, der bisher nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Heute kommt ein Behandlungsvertrag
meist mündlich oder auch konkludent zustande, indem
sich der Patient in die Behandlung begibt. Ein Vertrag in
Schriftform ist nur in besonderen Fällen vorgeschrieben.
Die Pflichten des Arztes ergeben sich in diesem Zusammenhang aus seiner Berufsordnung, dem Bundesmantelvertrag Ärzte, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem
SGB V sowie gegebenenfalls aus der Gebührenordnung
oder auch aus Hausarztverträgen. Künftig wird der Behandlungsvertrag ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch stehen, und es wird den Behandlungsvertrag nicht
nur im Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten geben,
sondern auch im Verhältnis zwischen Patienten und anderen Heilberufen wie Physiotherapeuten, Heilpraktikern, Hebammen usw.
Patienten sind verständlich und umfassend zu informieren. Sie müssen auch auf Kosten für solche Heilbehandlungen hingewiesen werden, die von den Leistungsträgern nicht übernommen werden.
Wirksamkeit erlangt ein solcher Vertrag nur dann,
wenn über die zur Erstellung der Diagnose erforderlichen Maßnahmen, über die Diagnose selbst und über die
Therapie aufgeklärt wurde. Nur dann gilt die Einwilligung des Patienten in die Behandlungsmaßnahme als erteilt; ansonsten ist sie unwirksam.
({2})
Im Streitfall muss der Behandelnde die ordnungsgemäße
Aufklärung des Patienten beweisen. Die im Wesentlichen richterrechtlich geprägte Aufklärungspflicht und
die Dokumentationspflicht werden wir gesetzlich konkretisieren.
Krankenakten sind vollständig und sorgfältig zu führen. Dies kann unter Beachtung des Datenschutzes und
der Datensicherheit auch elektronisch erfolgen. Versäumt die behandelnde Person ihre gesetzliche Dokumentationspflicht, dann wird zu ihren Lasten vermutet,
dass die nicht dokumentierte Maßnahme auch nicht stattgefunden hat.
Schließlich wird das Recht auf Akteneinsicht durch
die Patienten gesetzlich abgesichert. Patienten steht das
Recht zu, Einblick in die Patientenakte zu nehmen und
diese - auf eigene Kosten - zu kopieren. Wir wollen Patienten besonders schützen, wenn die Akte nicht herausgegeben wird. Damit wollen wir keine Belastung oder
Gängelung zum Beispiel der Ärzte einführen, sondern
klare Vorgaben setzen, die das Vertrauen zwischen Arzt
oder in anderen Heilberufen Tätigen und Patient entscheidend stärken können und sollen.
In Haftungsprozessen geht der Streit häufig darum, ob
ein Behandlungsfehler ursächlich für einen Schaden ist.
Hier werden wir im Interesse der Patienten mehr Rechtssicherheit herstellen.
({3})
Wir werden eine differenzierte Regelung in das BGB
aufnehmen und damit die von der Rechtsprechung entwickelten Ansätze zur Beweislast aufgreifen. Im Falle
eines groben Behandlungsfehlers, der generell geeignet
ist, den Schaden herbeizuführen, wird vermutet, dass der
Fehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war. Es
tritt eine Beweislastumkehr ein: Der Behandelnde kann
dann den Beweis führen, dass sein Fehler nicht kausal
für den Eintritt des Schadens war.
Wir wollen, dass Auseinandersetzungen über Behandlungsfehler deutlich verkürzt werden. Wir befürworten
bundesweit einheitliche Schlichtungsverfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung und spezialisierte Kammern bei den Landgerichten. Auch die am 4. Februar
2011 auf den Weg gebrachte Änderung des § 522 Abs. 2
ZPO, also die Nichtzulassungsbeschwerde in Berufungssachen mit einer Beschwer über 20 000 Euro, schafft in
diesem Zusammenhang mehr Rechtssicherheit für alle
Beteiligten.
Für betroffene Patienten ist es von entscheidender Bedeutung, dass ihre Schadenersatzansprüche tatsächlich
erfüllt werden. Deshalb müssen Ärzte über eine durchgängige Berufshaftpflichtversicherung mit ausreichenden Deckungssummen verfügen und diese auch belegen.
Dies durch geeignete Mechanismen sicherzustellen, liegt
zunächst bei Ländern und Ärztekammern.
Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf zu Patientenrechten debattieren. In der Zielrichtung sind wir uns
weitgehend einig: Wir wollen Rechtsklarheit und Transparenz deutlich verbessern und Vollzugsdefizite abbauen. Wir wollen dies auch durch gesetzliche Regelungen erreichen. Ich freue mich auf eine konstruktive
Debatte auf der Basis des kommenden Gesetzentwurfes.
Den über ein Jahr alten Antrag der SPD müssen wir
heute leider ablehnen.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion.
({0})
Genau, Coesfeld nach vorn - und vor allen Dingen
Berlin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer genau
zugehört hat, hat festgestellt, dass im Jahr des Vertrauens
noch nicht einmal die Koalitionspartner und -partnerinnen untereinander einig sind.
({1})
Egal ob man von einem Positionspapier oder von einem
Eckpunktepapier ausgeht - Herr Monstadt hat uns vorgetragen, was man alles will -: Entschieden ist noch
nichts.
({2})
Wer genauer hingeschaut hat, hat gesehen: Zwischendurch gab es Kopfschütteln. Wir werden sehen, was die
Koalition tatsächlich auf den Weg bringt.
({3})
Es ist gut, dass wir ein anderes Menschenbild haben
als Sie, Frau Aschenberg-Dugnus. Wer Patienten ausschließlich als Opfer beschreibt, greift zu kurz.
({4})
Wir wollen starke und mündige Patienten.
({5})
Nichtsdestotrotz ist es so: Wenn jemand ein Opfer von
Behandlungsfehlern geworden ist, dann gilt über den
Opferschutz hinaus, dass dieser Mensch krank ist und
unseres besonderen Schutzes bedarf. Daher ist es kein
Widerspruch, hier von Opfern zu reden.
Ich möchte einen anderen Aspekt aufgreifen, der im
Jahr des Vertrauens heute hier noch kaum eine Rolle gespielt hat; gleichwohl ist er Teil unseres Antrages. Wir
haben Sie, die Regierung, aufgefordert, zur Stärkung der
Patientenrechte gegenüber Sozialleistungsträgern und
Leistungserbringern etwas dazu beizutragen, dass der
Griff ins Portemonnaie der Patientinnen und Patienten
aufhört.
({6})
Wir beobachten einen sprunghaften Anstieg der sogenannten IGeL-Leistungen, also eine ständige Ausweitung der individuellen Gesundheitsleistungen. Wir reden
hier von einem Markt, dessen Volumen mittlerweile von
1 Milliarde Euro auf 1,5 Milliarden Euro angewachsen
ist. Der allergrößte Teil dieser Leistungen ist nicht notwendig.
Hier ist heute schon viel davon die Rede gewesen,
wie wichtig Vertrauen ist, und zwar insbesondere im
Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten. Ich sage
Ihnen ganz klar: Die Ausweitung der sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen zerstört das für die medizinische Behandlung so wichtige Vertrauensverhältnis.
({7})
Der Glaube an die Leistungsfähigkeit und an die Zuverlässigkeit unseres Gesundheitswesens wird erschüttert.
Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
erscheint minderwertig oder nicht ausreichend. Ich bin
auch ganz sicher, dass sich hiermit das ärztliche Berufsbild ändert. Wir haben Sie aufgefordert, hierzu einen Bericht abzuliefern. Sie sind bis dato leider Gottes untätig
gewesen. Zuzahlungen, IGeL-Leistungen - die Bundesregierung lässt den Griff in die Portemonnaies der Versicherten geschehen.
Etwas anderes sei an dieser Stelle aus Zeitgründen nur
erwähnt. Sie haben vorhin wieder die Qualität des
AMNOG herausgestellt. Wo aber beweisen Sie, dass mit
dem AMNOG eine Verbesserung der Arzneimittelversorgung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Wirkungen
erzielt wird?
({8})
Wer bestreitet, dass es geschlechtsspezifische Wirkungen gibt, dem sage ich eindeutig, dass er sich insbesondere an der individuellen Gesundheit von Frauen versündigt.
({9})
Infolgedessen würde ich mich an Ihrer Stelle nicht darüber lustig machen, sondern zügig an die Arbeit gehen,
damit der Aspekt „Gender-Medizin und geschlechtergerechte Gesundheitsförderung“ endlich Wirklichkeit für
alle in Deutschland wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktion
mit dem Titel „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 17/5227, den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/907 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Nešković, Harald Koch, Jan Korte,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung
- Drucksache 17/1412 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das ist
offenkundig unstreitig. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über Bestechung und Bestechlichkeit in
der Politik. In unserem Grundgesetz heißt es:
Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen
Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden
und nur ihrem Gewissen unterworfen.
So weit das geschriebene Wort. Doch wie sieht die Realität aus? Ganz genau kann dies vermutlich niemand sagen. Denn das, worüber wir heute reden, geschieht zumeist im Dunkeln und eben nicht im Licht der
Öffentlichkeit.
Offiziell bekannt ist ein Fall, den das Landgericht
Neuruppin zu entscheiden hatte. Eine Investitionsgesellschaft hatte einem Mitglied des Neuruppiner Stadtrates
ein persönliches Darlehen von 100 000 Euro angeboten,
um von der Stadt eine Ausfallbürgschaft von 13,7 Millionen Euro zu bekommen. Das Gericht sah darin einen
Stimmenkauf. Der Kauf von Stimmen bei Abstimmungen und Wahlen ist also strafbar. Das ist gut so; aber es
reicht nicht aus. Denn auch in anderen Fragen gibt es genug Motive und leider auch genug Gelegenheiten, Politikerinnen und Politiker mit Geld- und anderen Leistungen
dazu zu bringen, bestimmte Entscheidungen zu treffen
oder eben nicht zu treffen.
Auch wenn wir Linken sonst eher skeptisch sind, was
die Erweiterungen des Straftatenkatalogs angeht, fordern
wir an dieser Stelle genau dies. Wir wollen es in Bezug
auf die Abgeordnetenbestechung nicht bei symbolischer
Politik belassen. Es kann nicht sein, dass allein der Kauf
von Stimmen bei Abstimmungen und Wahlen strafbar
ist, ansonsten aber jede Politikerin und jeder Politiker
sich kaufen lassen kann.
({0})
Der Ruf von Politikerinnen und Politikern ist nicht
der beste. Wir alle müssen uns fragen, welchen Beitrag
wir dazu leisten, dass der Ruf nicht besser, sondern eher
schlechter wird. Die Menschen haben das Vertrauen in
Parteipolitik verloren, nicht in Politik an sich. Wenn wir
nicht aktiv daran arbeiten, Vertrauen in politische Prozesse wiederherzustellen, und wenn wir es versäumen,
die Menschen daran zu beteiligen und mehr Transparenz
herzustellen, dann gefährden wir die Demokratie.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck:
Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen. Diesen Eindruck können wir nicht mit guten Worten
entkräften. Hier sind Taten gefordert.
({1})
Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt.
Wenn Abgeordnete dem Anspruch gerecht werden wollen, den das Grundgesetz zu Recht aufstellt, dann dürfen
sie nicht korrumpierbar sein. Wenn sie sich doch korrumpieren lassen, dann muss das Folgen haben. Wir alle
haben unser Mandat nur auf Zeit; aber in dieser Zeit sind
wir - so sagt es die Verfassung - Vertreterinnen und Vertreter des ganzen Volkes. Deswegen haben alle Menschen, ob sie uns gewählt haben oder nicht, ein Anrecht
darauf, dass wir uns um einen gerechten Interessenausgleich bemühen und nicht die Interessen derjenigen vertreten, die uns dafür Geld oder andere Annehmlichkeiten
versprechen. Wenn wir das nämlich zulassen und als gegeben hinnehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn
die anderen - also die große Mehrheit - sich ohnmächtig
fühlen und an der Politik insgesamt das Interesse verlieren.
Das wollen wir nicht. Wir wollen Politik für die, aber
vor allen Dingen mit den Menschen gestalten.
({2})
Wir wollen, dass Entscheidungen und Entscheidungsprozesse transparent sind.
({3})
Wir wollen, dass Entscheidungen des Parlaments im Parlament
({4})
und nicht im Vorzimmer, im Hinterzimmer oder im Kaminzimmer der Kanzlerin getroffen werden.
({5})
Wir wollen Lobbyismus aufzeigen, und wir wollen Lobbyismus begrenzen. Wir wollen - das ist der Kern dieses
Gesetzentwurfs - unsichtbare Korruption öffentlich machen und unter Strafe stellen.
Die Linke steht damit nicht allein. Auch Transparency
International hat sich für eine grundlegende Neufassung
der Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung ausgesprochen. Die Experten der Staatengruppe gegen Korruption des Europarates haben ebenfalls gefordert, die Missstände bis Mai 2011 zu beseitigen.
Wir reden hier tatsächlich über Korruption. Die UNKonvention gegen Korruption vom 31. Oktober 2003
verlangt eine Gleichbehandlung von Mitgliedern der Gesetzgebungsorgane oder kommunalen Volksvertretern
mit Amtsträgern. Diese Konvention hat Deutschland
noch nicht ratifiziert. Warum eigentlich nicht?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU,
FDP, SPD und auch von den Grünen, wir haben heute
die Chance, ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen, dass der
Kampf gegen Korruption kein Lippenbekenntnis ist, ein
Zeichen, dass die Interessen der Einwohnerinnen und
Einwohner im Mittelpunkt politischer Entscheidungen
stehen und nicht die Interessen derjenigen, die über die
meisten finanziellen Mittel verfügen, ein Zeichen, dass
gilt, was in unserer Verfassung steht: dass die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Ansgar Heveling für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.
So lautet eine allseits bekannte Strophe aus der „Moritat
von Mackie Messer“ von Bertolt Brecht.
Mit ihrem Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung, im Übrigen im Großen und Ganzen
ein Aufguss aus der vorangegangenen Legislaturperiode,
meint die Fraktion Die Linke wohl, Licht in ein vermeintliches Dunkel zu bringen oder bringen zu müssen.
Vielleicht ist es dort aber doch viel heller, als die Kolleginnen und Kollegen links von mir meinen. Denn hier
im Deutschen Bundestag und in den anderen deutschen
Parlamenten steht man doch schon gleichsam im Lichte.
Wir, die Abgeordneten, stehen mit unserem Tun und
Lassen im Lichte der Öffentlichkeit.
Nach Art. 38 des Grundgesetzes sind wir grundsätzlich
frei und nur unserem Gewissen unterworfen. Aber seien
wir ehrlich: Wir haben uns dabei stets auch eine - wenn
auch nicht verfassungsrechtlich definierte - Schranke zu
vergegenwärtigen: die Öffentlichkeit. In unserer Republik haben wir ein fein differenziertes und stark ausgeprägtes System öffentlicher Kontrolle der Politik. Sie beginnt in diesem Hause im parlamentarischen Widerstreit
von Regierungsfraktionen und Opposition, also auch eine
Form der gegenseitigen Kontrolle. Sie setzt sich fort
durch Partizipation und Willensbildung in den Parteien
und der Bevölkerung. Nicht zuletzt haben Presse und Medien eine machtvolle Kontrollfunktion inne.
Alles das ist schlichtweg konstitutiv für unsere offene
Gesellschaft. Missstände können, ohne dass Repression
befürchtet werden muss, benannt werden, und je nach
Schwere haben sie auch außerhalb von Wahlen und gerichtlichen Verfahren unmittelbare Konsequenzen für
denjenigen, der Fehlverhalten an den Tag legt. Beispiele
dafür gibt es genug.
Das unterscheidet im Übrigen unsere Gesellschaft
und ihre Verfassung auch deutlich von korruptionsanfälligen politischen Systemen und Regimen, Systemen, die
es auf deutschem Boden schon hinlänglich gegeben hat,
Systemen, die es andernorts auch heute noch gibt.
Was waren und sind deren Charakteristika? Einerseits
setzen sie oft auf Scheinlegalität. Formal waren und sind
solche Systeme oft sogar geradezu Weltmeister in der
Umsetzung entsprechender Regeln und Konventionen.
Ja, sie brauchen die formale Fassade geradezu, um sich
den Anschein der Lauterkeit zu geben. Doch hinter dieser Fassade herrschen Intransparenz und mangelnde öffentliche Kontrolle. Das zeigt vor allem eines: Es reicht
nicht aus, wenn ein Staat formal über Rechtsvorschriften
zur Bekämpfung von Korruption verfügt. Es bedarf einer
aktiven Zivilgesellschaft, die - wie eingangs beschrieben - über vielfältige Kontroll- und Einflussmöglichkeiten verfügt.
Ich bin froh, dass wir in einer solchen Gesellschaft
und in einem solchen Staat leben. Ich bin froh, dass wir
bei unseren Rechtsvorschriften bereits über einen hohen
Standard verfügen. Ich bin froh, dass unsere Gesellschaft
ausreichend über unabhängige und öffentliche Institutionen und Instanzen verfügt, die auf Fehlverhalten aufmerksam machen und auch in strafrechtlicher Hinsicht
bereits über vielfältige Möglichkeiten der Ahndung verfügen.
({0})
Ich meine, wir brauchen uns als Bundesrepublik keineswegs zu verstecken.
({1})
Es mag den Linken gefallen, nachdem ihre geistigen
Vorväter einst schon dafür gesorgt haben, dass in der
Vergangenheit so manches Gespenst hier und in Europa
umgegangen ist, nun auch den Teufel an die Wand zu
malen. Aber lassen Sie uns auf dem Teppich bleiben.
({2})
- Ich bin sehr erstaunt darüber, dass gerade die SPD so
darauf reagiert.
({3})
Der Gesetzentwurf konstruiert nun vor allem eines:
eine vermeintliche Lücke, weil Abgeordnete und Amtsträger nicht gleich behandelt werden. Sie sind aber auch
nicht gleich. Schon an meinen Eingangsbemerkungen
lässt sich ein entscheidender Unterschied zwischen
Amtsträgern der Exekutive und Abgeordneten festmachen: Während die Ersteren einen klar umrissenen Pflichten- und Aufgabenkreis haben, den sie weithin unbemerkt
von der Öffentlichkeit im Wege von Einzelentscheidungen, also einzelnen Diensthandlungen, vollziehen, treffen
Letztere allgemeine Entscheidungen abstrakt-genereller
Natur für eine Vielzahl von Sachverhalten, und sie tun
dies öffentlich.
Natürlich vertreten Abgeordnete dabei Interessen. Das
müssen sie sogar. Aus diesen Interessen formt sich dann
im demokratisch-parlamentarischen Prozess das allgemeingültige Recht. Interessengeleitetes Handeln und Öffentlichkeit sind dabei zwei einander bedingende und
sich gegenseitig korrektiv ausbalancierende Elemente
politischen Handelns. Das ist mithin ein Spannungsfeld,
keine Frage; aber es ist eben auch ein Unterschied zum
Amtsträger.
Das alles ist bei jenen nämlich gerade nicht der Fall.
Sie vertreten keine Interessen. Sie müssen unparteiisch
handeln, allein orientiert an Recht und Gesetz. Sie müssen das von anderen gesetzte Recht anwenden, unbeeinflusst durch Versprechungen und Verlockungen. Schon
allein deshalb lassen sich die Regelungen von Amtsträgern nicht einfach auf Abgeordnete übertragen. Es
würde schlichtweg hinten und vorn nicht passen.
({4})
Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben sollte
- und einen solchen müsste man sehr sorgfältig identifizieren -, dann ist es mit einem gesetzgeberischen Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots Genüge tut,
sicherlich nicht getan. Das ist der Sache auch nicht angeAnsgar Heveling
messen, und der Schaden wäre hinterher weitaus größer
als der Nutzen. Den Gesetzentwurf der Linken lehnen wir
daher ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD erhält der Kollege Michael Hartmann
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der in der öffentlichen
Wahrnehmung des politischen Betriebs auch hier in Berlin immer die Regierung im Vordergrund steht. Tatsächlich - gelegentlich muss man an diese vermeintliche
Selbstverständlichkeit erinnern - befinden wir uns aber
in einem parlamentarischen Regierungssystem. Deshalb
ist es schon wichtig, dass wir unsere Selbstachtung als
Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit dem nötigen
Selbstbewusstsein nach außen zeigen und unsere Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung in ausreichendem Maße wahrnehmen. Deshalb sollten wir uns,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, nicht kleinmachen. Wir sollten nicht selbst dem jeweils anderen unterstellen, dass er der Gemeinte ist, wenn es um den Vorwurf der Korruption oder der Bestechlichkeit geht.
Vielmehr sollten wir auf Selbstheilungskräfte setzen und
für eine Selbsthygiene sorgen. Dazu bedarf es in der Tat
klarer Regeln.
Deshalb kann ich nicht verstehen, wieso Sie von den
Koalitionsfraktionen bei dem, worüber wir hier heute
debattieren, von einem Schnellschuss sprechen. Wir reden ja in Wirklichkeit über eine Konvention zum Kampf
gegen Korruption, die von der UN beschlossen und von
der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003 unterzeichnet worden ist, die wir aber bis zum heutigen Tage
nicht ratifiziert haben. Es wird höchste Zeit, dass wir
hier etwas tun, meine Damen und Herren!
({0})
Ich sage Ihnen auch, warum: Es geht nämlich nicht an
- dabei will sich die SPD die Antworten gar nicht leicht
machen -, dass wir Abgeordnete immer wieder in den
Geruch der Vorteilsnahme, des überbordenden Lobbyismus oder des Durchstechens oder gar der Korruption geraten.
Es gibt aber leider immer wieder aktuelle Anlässe,
diese Themen zu diskutieren. Ich verstehe vor diesem
Hintergrund nicht, wie diese Woche von der Kanzlerin
entgegen § 3 des Normenkontrollratgesetzes eine Richterin des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes und ein
Herr, der Ihnen persönlich bekannt ist, sehr geehrter
Herr von Klaeden - das scheint auch seine einzige Qualifikation zu sein -, nämlich der Vorsitzende der JU Niedersachsen, für den Normenkontrollrat benannt werden
konnten. Das verstößt eklatant gegen das Gesetz und
zeugt davon, dass es Einflussnahmen und Kumpanei
gibt, die ungesund und falsch sind und abgestellt werden
müssen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur Umsetzung der genannten UN-Richtlinie können wir zunächst
einmal festhalten: Es gibt seit dem Jahr 1994 eine gesetzliche Vorschrift, nämlich § 108 e des Strafgesetzbuches, die den Stimmenkauf verbietet. Das ist eine klare
strafrechtliche Norm.
({2})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind
aber der Meinung, dass diese Norm ausgeweitet und verschärft werden muss, meinethalben in Form eines
§ 108 f, der zumindest drei Kriterien umfassen muss:
Erstens. Es muss erkennbar geworden sein, dass ein
Abgeordneter sich bereit erklärt hat, entsprechend zu
agieren. Es muss also ein objektiver Beweis erbracht
werden.
Zweitens. Es muss eine Unrechtsvereinbarung vorliegen, das heißt, eine Bindung gegenüber dem Vorteilsgeber muss festzustellen sein.
Drittens. Es darf - das meine ich, wenn ich von
Selbstbewusstsein und Selbstheilungskräften des Parlaments rede - eine Verfolgung nur mit Ermächtigung
durch die jeweilige Volksvertretung, also in unserem
Falle durch den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung, erfolgen.
({3})
Der Antrag der Linken geht uns zu weit. Wir sind
aber durchaus bereit, Gespräche über die Grundstoßrichtung zu führen; denn Abgeordnete sind parteiisch, sie
müssen es sein.
({4})
Demokratie funktioniert nämlich nur im Widerstreit verschiedener Interessen, die am Schluss über Mehrheitsbeschlüsse zusammengeführt werden. Das heißt, parteiisch
müssen wir sein, käuflich dürfen wir aber nicht sein.
Deshalb müssen wir Regeln einführen.
({5})
Es gibt nun einmal nicht den über dem Wasser schwebenden Abgeordneten. Wir sollten durch entsprechende
Diskussionen und Debatten auch nicht jenen Affen Zucker geben, die so gerne das Bild vom unpolitischen
Politiker zeichnen, der in ihrer Vorstellung das einzig
Wahre und Gute verkörpert. Wir dürfen auch nicht durch
eigene Stellungnahmen und eigene Aussagen jenes Bild
vom verkommenen Abgeordneten bzw. Volksvertreter
verfestigen und vertiefen, der in verrauchten Hinterzimmern Geldbündel entgegennimmt und dementsprechend
handelt. Diesen gibt es nicht, allenfalls in schlechten Fil11864
Michael Hartmann ({6})
men und vielleicht da und dort in den Köpfen mancher
überengagierter Staatsanwälte.
({7})
Bei all dem sollten wir nicht vergessen, das Vertrauen
in politische Lösungen darf durch ein entsprechendes
Vorgehen, das sicherlich unabweisbar notwendig ist,
nicht noch mehr erschüttert werden.
Ich füge noch etwas anderes hinzu: Wo Korruption
beginnt und wo sie endet, ist letztendlich nicht immer judizierbar. Da sollten wir uns nichts vormachen. Denn
letztlich geht es dabei auch um Charakterfragen. Deshalb ist eine kritische Öffentlichkeit genauso wichtig wie
eine Verschärfung der entsprechenden Strafvorschriften.
Es gilt nach wie vor: Die oberste Instanz für Abgeordnete sind nicht die Gerichte, sondern die Wählerinnen
und Wähler. Lassen Sie uns auf diesem mittleren Weg
weitergehen und eine gemeinsame Lösung finden!
({8})
Der Kollege Jörg van Essen hat nun das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war auffällig, dass die Kollegin der Linken in ihrem Beitrag kaum rechtliche Ausführungen gemacht hat. Sie hat
zwar Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit gegen Abgeordnete erhoben werden, vorgetragen. Aber sie ist nicht auf
die Fragen, mit denen wir uns schon seit ganz langer Zeit
befassen - beispielsweise: Welche Möglichkeiten haben
wir, das Ganze in einen Straftatbestand zu fassen? -, und
auch nicht auf die Voraussetzungen für einen Straftatbestand, wie die Klarheit der Norm, eingegangen.
({0})
Sie hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang, der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parlament abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abgeordneter aus
Österreich die Verhandlungen führte und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen wollte.
({1})
- Das sehe ich genauso wie Sie, Herr Hartmann. Das ist
eine Schande.
Auf der anderen Seite hat sich gezeigt: Kontrolle
funktioniert.
({2})
Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete hat
eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung sein könnte.
Er musste sein Mandat aufgeben und ist gesellschaftlich
geächtet. Das ist, finde ich, eine Strafe, die durch keinen
Strafrichter höher ausgesprochen werden könnte.
({3})
Es ist richtig, was hier gesagt worden ist: Wir stehen
hier unter schärfster öffentlicher Beobachtung, insbesondere was die Entgegennahme von gewissen Gefälligkeiten anbelangt. Ich weiß, wie streng Journalisten sind; sie
selbst unternehmen eine von einer Firma gesponserte
Reise in den Süden, aber regen sich hier auf, wenn ein
Politiker mit dem Schiff eines Prominenten, beispielsweise eines Industriellen, von einem zum anderen Ufer
eines Sees gefahren wird. Wie gesagt: Kontrolle muss
funktionieren. Ich habe ganz klar das Gefühl, dass das
der Fall ist.
({4})
Ich war schon Anfang der 90er-Jahre Berichterstatter,
als wir damals den § 108 e in das Strafgesetzbuch eingeführt haben. Es ist interessant: All diejenigen, die jetzt
Neufassungen fordern, gehören Fraktionen an, die damals zum gleichen Ergebnis gekommen sind wie wir,
nämlich dass es eine wirklich vernünftige und fassbare
Strafvorschrift über das hinaus, was wir in § 108 e StGB
unter Strafe gestellt haben, nicht gibt.
({5})
All die Argumente, die bisher vorgetragen worden sind,
haben mich überhaupt nicht überzeugt.
({6})
- Herr Kollege Ströbele, das Stichwort „die ganze Welt“
habe ich erwartet. Im Gesetzentwurf der Linkspartei ist
das Beispiel China aufgeführt. Das chinesische Parlament hat, wie jeder von uns weiß, keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten. Die heben die Hand für das, was die Regierung ihnen vorschlägt.
({7})
Deshalb gibt es im chinesischen Parlament auch keinerlei Anlass, irgendjemanden zu irgendeinem Zweck zu
bestechen, weil man schon vorher weiß, dass er die Hand
heben wird. Deshalb ist es sehr „beeindruckend“, dass
Sie das Beispiel China anführen.
Mich hat gewundert, dass Italien nicht erwähnt worden ist; denn Italien wurde in der Vergangenheit immer
als Beispiel genannt.
({8})
Jeder, der sich einmal die Rechtswirklichkeit in Italien
anschaut, weiß: Jedes Mal dann, wenn es für Regierende
und für Abgeordnete aus dem Regierungslager schwierig
wird, wird ein neues Immunitätsgesetz verabschiedet.
({9})
Das macht deutlich: Wir sollten uns nicht an anderen
orientieren, sondern wir sollten schauen, dass wir das
machen, was nach deutschem Recht und gemäß unseren
Anforderungen umsetzbar ist.
({10})
Ganz wichtig ist mir - das ist bisher nur am Rande
gestreift worden; der Kollege Heveling hat allerdings
einige Ausführungen dazu gemacht -, dass das, was uns
aufgegeben wird, beispielsweise von den Vereinten Nationen, aber auch vom Europarat, keinen Unterschied
zwischen Amtsträgern und Abgeordneten macht, und
das ist falsch. Das ist sogar beweisbar falsch, lieber Herr
Kollege Ströbele;
({11})
denn der Bundesgerichtshof hat kürzlich noch einmal
festgestellt, dass Abgeordnete keine Amtsträger sind,
und er hat gut begründet, dass das so ist. Ich kann es
wiederholen: Das Abgeordnetenmandat ist ein freies
Mandat.
({12})
Der Amtsträger ist ganz klar an das Recht gebunden, und
er ist verpflichtet, das völlig unparteilich anzuwenden.
Jeder von uns ist aber Interessenvertreter. Es ist auch gut
so, dass er das ist,
({13})
und zwar unabhängig davon, wo man politisch steht. Wir
sind zum Beispiel die Vertreter der Interessen unserer
Wahlkreise. Ich habe beispielsweise einmal die Interessen meines Wahlkreises vertreten, als ich wusste, dass
meine Argumente für meinen Wahlkreis schlechter waren als die des Kollegen aus dem Nachbarwahlkreis,
({14})
der eine bestimmte Institution in seinen Wahlkreis bringen wollte.
({15})
Das zeigt, wie schwierig es ist, gegeneinander abzugrenzen, was hinnehmbar ist und was nicht hinnehmbar ist.
Ich habe es auch schon erlebt, dass mir jemand gesagt
hat: Sie bekommen meine Stimme, wenn Sie das durchsetzen. - Da wird mir etwas versprochen. Das ist genau
die Formulierung, die wir in den entsprechenden Strafvorschriften haben. Das zeigt, dass das Ganze eben nicht
abzugrenzen ist.
Genau das war das Ergebnis unserer Beratungen, die
wir Anfang der 90er-Jahre hatten, und zwar in Übereinstimmung mit den Grünen und in Übereinstimmung mit
der SPD. Deshalb haben wir damals so agiert.
Ich habe hier keinerlei neue Argumente gehört. Ich
habe hier keinerlei neue Formulierungen gehört.
Das Letzte, was ich sagen wollte und was mir auch
ganz wichtig ist, ist Folgendes: Andere Länder sind zum
Teil auch deshalb so großzügig, beispielsweise mit der
Unterzeichnung der Konvention der UN, weil dort ganz
andere Immunitätsregeln gelten als bei uns. Ich finde es
gut, dass Abgeordnete bei uns wie jeder Bürger behandelt werden. Wenn wir im Immunitätsausschuss etwas
vorgelegt bekommen, dann winken wir das durch, damit
Strafverfolgung stattfinden kann, damit Ermittlungen
stattfinden können.
({16})
Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen,
({17})
in denen wir das Gefühl haben, dass es beispielsweise
politische Gründe gibt, oder in denen es uns rechtlich
nicht überzeugt, halten wir es an. Aber es gibt ja Länder,
in denen es überhaupt keine Strafverfolgung gibt, solange man im Parlament ist. Im Europaparlament ist das
beispielsweise so. Deshalb gibt es da auch keinerlei Versuchung, jemanden mit entsprechenden Vorwürfen in
eine Ecke zu stellen. Auch das ist für mich ein sehr
wichtiger Gesichtspunkt dafür, dass wir ganz streng darauf achten müssen, dass das, was gegebenenfalls gesetzlich kodifiziert ist, auch den Ansprüchen des Strafrechts genügt. Wenn man diesen Ansprüchen folgt, muss
man sagen: Das, was die Linkspartei hier vorgelegt hat,
tut das ganz offenkundig nicht, beispielsweise indem sie
nicht gemerkt hat, dass zwischen Gemeindevertretern
und Abgeordneten ein Unterschied besteht. - Das sollte
meine letzte Bemerkung sein.
Vielen Dank.
({18})
Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte darüber, ob eine Regelung über die Strafbarkeit der
Abgeordnetenbestechung eingeführt werden sollte oder
nicht, wird in diesem Haus seit Jahren, über mehrere Legislaturperioden hinweg geführt. Ich empfinde sie als
unwahrhaftig und in einem wirklichen Wortsinn auch als
erbärmlich. Ich will diese harten Vorwürfe untermauern
und deren Richtigkeit unter Beweis stellen, indem ich
noch einmal die Geschichte der Entscheidungen von internationalen Organisationen und der Stellungnahme
Deutschlands dazu aus den letzten Jahren rezitiere.
Ich fange mit der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, an. Die
OECD hat am 21. November 1997 ein Übereinkommen
über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer
Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses
Abkommen am 21. November 1997, am Tag der Verabschiedung, unterzeichnet. Bereits ein Jahr später, am
10. September 1998, hat dieser Bundestag - da hat
Schwarz-Gelb regiert - ein Gesetz verabschiedet. Darin
heißt es:
Wer in der Absicht, … einem Mitglied eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates …
einen Vorteil … als Gegenleistung dafür anbietet,
verspricht oder gewährt, dass es eine mit seinem
Mandat oder seinen Aufgaben zusammenhängende
Handlung oder Unterlassung künftig vornimmt,
wird … bestraft.
Herr Heveling, Herr van Essen, da hatten Sie keine Bedenken mit der Klarheit der Norm. Da war alles ganz
klar. Innerhalb von neun Monaten hatten Sie eine Strafvorschrift, ohne jegliche Bedenken; denn es ging nur um
die ausländischen Abgeordneten und nicht um uns selber.
({0})
Der nächste Punkt. Europarat in Straßburg, 21. Januar
1999: Das Strafrechtübereinkommen über Korruption
wird verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland ist
dabei. Am gleichen Tag, am 21. Januar 1999, unterschreibt die Bundesrepublik Deutschland dieses Strafrechtübereinkommen.
({1})
In diesem Übereinkommen wird dargelegt, welche existenzielle Bedeutung die Korruption für demokratische
Rechtsstaaten hat: eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, eine Bedrohung der Menschenrechte. Wortwörtlich heißt es in diesem Übereinkommen
als Aufforderung:
Jede Vertragspartei … stellt das unmittelbare oder
mittelbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren
eines ungerechtfertigten Vorteils an … ein Mitglied
einer Vertretungskörperschaft, die Gesetzgebungsoder Verwaltungsbefugnisse ausübt, … unter
Strafe.
Das haben wir unterschrieben. Inzwischen ist dieses
Übereinkommen von 43 Staaten der OECD ratifiziert.
Wir tragen die rote Laterne und gehören heute noch zu
den letzten sieben Staaten, die es immer noch nicht ratifiziert haben. Das finde ich peinlich, oberpeinlich sogar.
({2})
Der nächste Punkt. Im Dezember 2000 beschließt die
Generalversammlung der Vereinten Nationen, an einem
Rechtsinstrument gegen Korruption zu arbeiten. Dieses
Instrument wird am 9. Dezember 2003 in Mexiko verabschiedet. Wer ist dabei? Am 9. Dezember 2003, am ersten Tag, unterzeichnet die Bundesrepublik Deutschland
dieses UNO-Übereinkommen. Auch dort heißt es, dass
die Korruption keine begrenzte Angelegenheit ist, sondern eine Erscheinung, die alle Gesellschaften - Herr
Heveling, „alle Gesellschaften“, das haben wir unterschrieben -, also auch unsere Gesellschaft, betrifft und
die bekämpft werden muss. Wozu haben wir uns da verpflichtet? Zitat:
Jeder Vertragsstaat stellt das unmittelbare oder mittelbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines
ungerechtfertigten Vorteils an Personen, die durch
Wahl ein Amt in der Gesetzgebung innehaben,
- also keine Amtsträger, sondern Mandatsträger unter Strafe.
Wie viele Staaten dieser Welt haben dieses Übereinkommen ratifiziert? 151. Nicht ratifiziert haben: Syrien,
Saudi-Arabien, der Sudan, Myanmar und Deutschland.
Meine Damen und Herren, das ist oberpeinlich.
({3})
Es ist peinlich, dass wir - und zwar nicht die Bundesregierung, sondern wir als Parlament - uns Jahr um Jahr
in die Reihe dieser Staaten stellen.
({4})
Wir halten Sonntagsreden - verzeihen Sie, wenn ich
das so sage - wie die, die Sie heute gehalten haben, über
den Stand der Gesellschaft und unseres Landes. Sie haben das ja richtig beschrieben. Wenn es dann aber darum
geht, das Ganze mit Fleisch zu füllen, dann kneifen Sie.
Das ist eine peinliche Situation, in die Sie die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Rahmen bringen.
Wir sind von der OECD aufgefordert, ja sogar gerügt
worden, bis zum 30. Juni 2011, also in wenigen Monaten, endlich eine Verschärfung des Straftatbestandes der
Abgeordnetenbestechung vorzulegen.
Zum Schluss sage ich: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieses Vorhaben ist unter anderem an den Sozialdemokraten gescheitert. Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie
jetzt eine andere Position dazu einnehmen.
Herr Kollege.
Wir werden mit allen diskutieren. Wir werden unseren Gesetzentwurf wieder vorlegen. Wir warten auf bessere Vorschläge. Wir werden uns über die FormulierunJerzy Montag
gen noch einmal unterhalten. Ich möchte, dass alle
Fraktionen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Eines ist aber nicht akzeptabel: dass wir weiterhin nichts
machen.
({0})
Nun hat der Kollege Siegfried Kauder das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die folgende Situation kommt in diesem Haus schon
einmal vor: Jemand, der im Jahr 2008 den Petitionsausschuss angeschrieben hat, weil ihm etwas nicht passte,
bekam eine Antwort. Im Jahr 2011 kommt er mit dem
gleichen Anliegen aber noch einmal. Dann schreiben
wir: Sie haben vor vielen Jahren auf diese Frage eine
Antwort bekommen. Eine nochmalige Antwort werden
Sie von uns nicht bekommen. Wir bitten um Verständnis.
Fairerweise muss ich sagen, dass die Kollegin
Wawzyniak im Jahr 2008, als wir in diesem Hohen Haus
über das Thema „Abgeordnetenbestechung“ diskutiert
haben, noch nicht im Deutschen Bundestag war. Deswegen gehe ich auf das Thema noch einmal ein.
Meine Damen und Herren, wir sind Abgeordnete, frei
gewählte Abgeordnete, dem ganzen Volk verpflichtet
und nur unserem Gewissen verantwortlich.
({0})
Wir sind keine Beamten. Wir sind keine Amtsträger;
denn der Amtsträger ist an Vorschriften gebunden, und
er ist auch ersetzbar. Wenn er krank ist, vertritt ihn ein
anderer. Den Kollegen van Essen kann niemand vertreten, wenn er nicht da ist.
({1})
Als Abgeordneter kann nur er in Person handeln.
({2})
- Sie wissen genau, warum ich den Kollegen besonders
gerne erwähne. - Deswegen ist ein Bundestagabgeordneter anders zu beurteilen als das Mitglied eines Gemeinderates.
({3})
Frau Kollegin Wawzyniak, gehen Sie nach Hause und
erzählen Sie den in Ihrem Wahlkreis in Gemeinderäten
und Kreistagen ehrenamtlich politisch Tätigen, dass Sie
ihnen in Zukunft zur Kontrolle den Staatsanwalt auf die
Pelle schicken wollen. Das kommt gut an.
({4})
In Ihrem Gesetzentwurf ist auch der Vertreter im Gemeinderat einbezogen.
({5})
Sie differenzieren nicht einmal zwischen einem Parlamentarier und einem Gemeinderatsmitglied. Überlegen
Sie sich genau, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen.
Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt hier im Parlament auftaucht, wo dann das passiert, was vielen Ärzten
in Deutschland widerfahren ist. Man hat sie ins Messer
laufen lassen. Es gab den Vorwurf der Korruption, obwohl sie nur pflichtgemäß Drittmittel eingeworben haben. Statt ein Dankeschön zu bekommen, kam der
Staatsanwalt, und es wurden Freiheitsstrafen verhängt.
Das musste der Bundesgerichtshof richten. Dort gab es
Freisprüche. Als Gesetzgeber haben wir uns nicht bemüßigt gefühlt, zu helfen. Wir wären gut beraten, auf diesem Gebiet einmal etwas zu tun.
({6})
Wir wollen nicht wie Amtsträger behandelt werden,
und wir dürfen auch nicht so behandelt werden.
({7})
Das ist der Webfehler dieser UN-Konvention. Schon der
Ansatz stimmt nicht. Wer sagt: „Der Parlamentarier
muss behandelt werden wie ein Amtsträger“, der scheitert schon im Ansatz.
({8})
Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden das Anliegen so
nicht weiterverfolgen.
({9})
Wir dürfen nicht rein formaljuristisch argumentieren und
sagen: Bloß weil andere Staaten ins Messer gelaufen
sind, tun wir das auch.
({10})
Schauen Sie nach Österreich. Die Österreicher haben
versucht, dieses Dilemma zu lösen. Sie behandeln den
Abgeordneten wie einen Amtsträger und führen dann
dazu aus: Aber wie ein Amtsträger ist er nur dann zu behandeln, wenn er abstimmt im Parlament, wenn es um
Dinge geht, die die Geschäftsordnung im Parlament betreffen. - Man hat also einen Umweg versucht, um diesem UN-Abkommen formaljuristisch beitreten zu kön11868
Siegfried Kauder ({11})
nen, dessen Ziel aber nicht herbeiführen zu müssen. Sie
sehen daran, dass das so nicht funktioniert. Daher sind
wir lieber ehrlich und sagen, dass wir dieser Konvention
nicht beitreten. Wir werden sie nicht unterschreiben.
({12})
- Es ist unterschrieben, aber nicht ratifiziert.
({13})
Sie merken selbst, dass Ihr Gesetzentwurf so, wie Sie
ihn konstruiert haben, nicht funktionieren kann, Frau
Kollegin.
({14})
Sie versuchen nämlich, den Sachverhalt mit der Verwerflichkeitsklausel, die Sie § 240 StGB, Nötigung, entnommen haben, einzufangen. Das ist sehr wohl zu erkennen.
Parlamentarismus lebt von den Kontakten mit Lobbyisten und Interessenverbänden.
({15})
Wie wollen Sie das in den Griff bekommen? Was ist
noch sozial verträglich, was ist politisch gemünzt, und
wo fängt der strafbare Sachverhalt an?
({16})
- Nein, lieber Kollege Hartmann. - Das haben hochrangige Juristen in der Großen Strafrechtskommission von
1957 bis 1960 in zahlreichen Sitzungen immer wieder
versucht. Lesen Sie es nach. Nach drei Jahren kamen sie
zu dem Ergebnis, dass sich politische Sachverhalte nicht
so einordnen lassen wie eine Amtshandlung eines Amtsträgers.
({17})
Politik ist ein eigenes Geschäft. Kollege Montag, wer
argumentiert, dass ein Politiker nicht die Hand aufhalten
darf, der verkürzt doch den Straftatbestand der Bestechung, der Bestechlichkeit.
({18})
Das wissen Sie als Jurist genauso gut wie ich. Wenn wir
diesen Straftatbestand, der vorgeschlagen wird, einführen, ist jeder Vorteil, den der Abgeordnete annimmt,
schädlich.
({19})
Es gäbe keine Erheblichkeitsschwelle, sondern nur diese
vorgesehene Klausel. Bei der Sozialadäquanz weiß keiner, wo es anfängt und wo es aufhört.
Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage
stellen?
Bitte schön.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Kollege Kauder,
würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Europaratsübereinkommen und auch die UNO-Vereinbarung,
die ich zitiert habe und die die Bundesregierung für
Deutschland unterschrieben hat, nicht von Vorteilen
sprechen, sondern von ungerechtfertigten Vorteilen? In
der Sprache der UNO und des Europarates ist das kein
Straftatbestand, sondern ein ungerechtfertigter Vorteil.
({0})
Deswegen besteht sehr wohl die Möglichkeit - das wäre
dann sozusagen der Schweiß der fleißigen Juristen
wert -,
({1})
dass wir gemeinsam daran arbeiten, das in die Sprache
des Strafrechts zu übersetzen, um die Vorteile, die Abgeordnete und Mandatsträger annehmen dürfen - das steht
auch in unseren Richtlinien -, von denjenigen zu unterscheiden, die tatsächlich verwerflich sind.
Beantworten Sie doch meine schlichte Frage. Stellen
Sie sich vor, dass jemand zu Ihnen kommt und sagt:
Wenn Sie sich für mein Interesse in diesem Hause einsetzen, in der Fraktion, in den Ausschüssen, wo auch immer, wenn Sie in meinem Interesse handeln, lieber Abgeordneter Kauder, bekommen Sie 100 000 Euro.
({2})
- Nein, das ist nicht strafbar. - Was haben Sie dagegen,
dass diese klaren Sachverhalte unter Strafe gestellt werden?
({3})
Herr Kollege Montag, es geht doch um den Begriff
Vorteil mit einem Zusatz, der nicht definierbar ist. Genau
das ist das Problem. Sie bekommen das juristisch nicht
in den Griff. Ein Straftatbestand muss bestimmt sein. Ist
er nicht bestimmt, ist er nicht gesetzeskonform. Herr
Kollege Montag, ich werde auch der Kollegin
Wawzyniak ein bisschen weiterhelfen, was die juristischen Dinge anbelangt. Es gibt in einer wunderschönen
Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahre 2008 Ausführungen von Frau Regina Michalke zu diesem Thema;
diese umfassen 17 Seiten.
Siegfried Kauder ({0})
({1})
Wer diese gelesen hat, ist bestens informiert, warum es
so, wie die Linken es vorschlagen, nicht gehen kann.
({2})
Der Sachverhalt ist strafrechtlich nicht in den Griff zu
bekommen. Deshalb sollten wir dieses Vorhaben
schlichtweg sein lassen.
({3})
- Herr Kollege Ströbele, das ist doch das dümmste Argument, das Sie vortragen können.
({4})
Sie sagen: Alle machen es. - Wenn alle in den Brunnen
springen, springen wir dann hinterher?
({5})
Die Österreicher haben doch im Jahr 2009 erkannt, dass
die Vorschrift, so wie sie sie ausgestaltet haben, nicht
funktioniert.
({6})
Sie haben sie geändert, aber sie funktioniert noch immer
nicht; das hat der Kollege Heveling schon gesagt.
In Deutschland ist der Druck viel größer als in allen
anderen Ländern.
({7})
Wir brauchen keinen Straftatbestand.
({8})
Bei einem Politiker genügt schon der Verdacht, der Anschein,
({9})
und schon ist das Amt, das er hat, beschädigt.
({10})
- Auch bei anderen Personen gibt es den Anfangsverdacht. Sie werden aber erst dann aus dem Amt gejagt,
wenn sie strafrechtlich belangt worden sind.
({11})
Die öffentliche Kontrolle, der öffentliche Druck ist viel
mehr wert als ein Strafgesetz, das nicht funktioniert und
nicht funktionieren kann.
({12})
Ich sage zum Schluss: Ich möchte nicht, dass dieses
Thema in zwei Jahren wieder ansteht.
({13})
Deswegen von meiner Seite - ich glaube, die FDP trägt
das mit - eine ganz klare Ansage:
({14})
Wir werden ein solches Gesetz nicht veranlassen und einem solchen Gesetz nicht zustimmen, weil es unsinnig
ist, niemandem nützt und nur dem Parlamentarismus
schadet. Das machen wir nicht mit. Das können Sie von
uns nicht verlangen.
({15})
Die Kollegin Christine Lambrecht ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr van Essen, Sie haben die Kollegin Wawzyniak vorhin kritisiert, weil es von ihr keine ausführlichen rechtlichen Bewertungen und Ausführungen zu diesem Thema
gegeben habe. Ich glaube, an den Anfang dieser Debatte
muss man keine rechtlichen Ausführungen stellen. Sie
müssten im weiteren Verfahren folgen. Was hier im Parlament an erster Stelle stehen muss, ist die Aussage, dass
wir uns als deutsche Politiker gegen Bestechung und Bestechlichkeit wehren und dies auch strafrechtlich verankern wollen.
({0})
Ich will Ihnen eines sagen: Auf der Zuschauertribüne
sitzen junge Leute, die uns zuhören. Ich glaube, wenn sie
unsere bisherige Debatte verfolgt haben, dann können
sie die Welt nicht mehr verstehen. Natürlich ist es so,
dass Amtsträger und Politiker nicht vergleichbar sind.
Natürlich ist es so, dass Politiker interessengeleitet sind
und Interessen zu vertreten haben. Natürlich ist es so,
dass man hier differenzieren kann. Man kann aber nicht
einfach sagen: Weil zwischen Amtsträgern und Politikern zu unterscheiden ist, darf im Hinblick auf eine der
beiden Gruppen kein Tatbestand eingeführt werden, der
Bestechung unter Strafe stellt. - Das dürfen wir nicht zulassen; denn auch dies führt zu Politikverdrossenheit.
({1})
Jetzt will ich zu einigen Sachargumenten kommen.
({2})
Herr van Essen, Sie haben gesagt, seit dem Zeitpunkt,
als Sie den § 108 e StGB mit initiiert haben, habe es für
Sie keine neuen Erkenntnisse gegeben.
({3})
Ich meine, wenn eine Staatengemeinschaft, bestehend
aus 151 Staaten, sich darauf verständigt, nicht nur eine
solche Erklärung abzugeben, sondern sie auch in den
jeweiligen Parlamenten im Rahmen entsprechender Gesetzgebungsverfahren zu verankern, dann ist das, wie ich
finde, durchaus ein Argument, das man nicht einfach
von der Hand weisen kann. Wo stehen wir denn? Wir
werden mit Staaten in eine Reihe gestellt, mit denen wir
in anderen Zusammenhängen beim besten Willen nicht
in einer Reihe stehen wollen.
({4})
Herr Kauder, wenn Sie sagen, all diese Staaten seien
ins Messer gelaufen, muss ich Ihnen entgegnen: Ich
weiß nicht, wo Sie in den letzten Jahren gelebt haben.
({5})
Ich habe nicht mitbekommen, dass die Staaten, die entsprechende Regelungen umgesetzt haben, in große Krisen gestürzt sind.
({6})
- Herr van Essen, wir waren jahrelang Mitglieder des
1. Ausschusses. Es ist doch nicht so, dass in anderen
Ländern, in anderen europäischen Ländern ein völlig anderes Immunitätsrecht gilt.
({7})
Natürlich bestehen Unterschiede; aber es gibt auch Länder, die ein Immunitätsrecht haben, das mit dem deutschen vergleichbar ist.
Es kann doch nicht wahr sein, dass wir nicht in der
Lage sind, ein solches Gesetz zu formulieren. Hier sitzen
hervorragende Juristen; ich schaue jetzt bewusst in Richtung der Koalitionsfraktionen.
({8})
Wir werden ja wohl in der Lage sein, den Erfordernissen
entsprechend ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das
auch den Bestimmtheitsanforderungen genügt.
({9})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das hinbekommen werden. Dafür muss allerdings die Voraussetzung
erfüllt sein, dass man sagt: Jawohl, wir wollen gegen Bestechung vorgehen. - Das ist die erste Voraussetzung. In
diesem Zusammenhang habe ich von Ihnen gerade die
ganz klare Ansage gehört, dass CDU/CSU und FDP daran kein Interesse haben.
({10})
Wir haben daran ein Interesse. Wir werden uns weiterhin
mit diesem Thema befassen, damit Deutschland nicht
länger im Aus steht.
({11})
Jetzt noch zwei, drei Anmerkungen. Herr Montag, Sie
haben gesagt, die SPD habe sich verweigert bzw. nicht
mitgemacht. Ich war in der 15. Wahlperiode schon dabei.
({12})
Ich war in diesen Arbeitskreisen, in denen Herr Ströbele,
Herr Beck und auch Herr Montag saßen. Wir waren ganz
kurz davor, etwas umzusetzen.
({13})
Damals ist eine verkürzte Wahlperiode dazwischengekommen. Das mag man beklagen, und man kann sich
überlegen, wer dafür der Verursacher war. Nichtsdestotrotz haben wir damals sehr konstruktiv daran gearbeitet,
ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen.
({14})
Sie haben da keine Verweigerungshaltung der SPD erlebt.
({15})
- Ich glaube, wir sollten das niemandem vorhalten, weil
es nicht der Fall war, weil es in der SPD keine Verweigerungshaltung gab.
({16})
Es gibt auch keine Verweigerungshaltung.
({17})
Deswegen werden wir uns in den nächsten Wochen
und Monaten selbstverständlich konstruktiv einbringen,
um ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das auf der einen
Seite diesen Straftatbestand klar definiert, auf der anderen Seite aber auch dafür sorgt, dass wir als Parlamentarier arbeiten können. Ich sage das ganz bewusst. Ich war
im Immunitätsausschuss. Ich habe da Fälle kennengelernt, wo Strafverfolgung stattgefunden hat, was zum
Teil wirklich Fragen aufgeworfen hat. Aber da waren die
Gesetze klar definiert. Nichtsdestotrotz gab es eine
Strafverfolgung, nichtsdestotrotz haben Staatsanwälte
einen Anfangsverdacht ausgemacht. Deswegen kann
man nicht argumentieren, so ein Gesetz bekämen wir
hier nicht hin.
Frau Kollegin Lambrecht, darf Ihnen der Kollege
Kauder kurz vor Schluss dieser Debatte noch eine Zwischenfrage stellen?
Die Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.
({0})
- Das kann man so interpretieren, Herr Buschmann.
Frau Kollegin Lambrecht, wenn Sie fragen, ob es
nicht blamabel sei, dass so viele gute Juristen ein solches
Gesetz nicht hinbekommen, darf ich die Gegenfrage
stellen: Meinen Sie nicht, dass es blamabel wirkt, wenn
Sie hier vor der Bevölkerung auftreten und sagen, Sie
hätten es jahrelang versucht, aber nicht hinbekommen?
Nein, nein.
({0})
Sie haben es nicht hinbekommen, weil Sie es unterm
Strich genauso wenig für vertretbar halten wie wir.
({0})
2003 gab es die UN-Konvention, und wir haben es
tatsächlich nicht geschafft, bis Mai 2005 eine entsprechende Regelung auf den Weg zu bringen. Das war nämlich genau die Zeitspanne, die wir hatten.
({0})
Danach kam die Große Koalition. In dieser Großen
Koalition gab es auf Betreiben der CDU/CSU-Fraktion
die ganz klare Ansage, an dieses Thema nicht heranzugehen.
({1})
Das war der Hintergrund, warum zwischen 2005 und
2009 an dieser Fragestellung innerhalb der Großen
Koalition nicht gearbeitet wurde.
({2})
Momentan - wie Sie vielleicht mitbekommen haben,
vielleicht bekommen Sie es aber auch nicht mit - sind
wir nicht in Regierungsverantwortung. Aber selbstverständlich werden wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Dann bin ich gespannt, ob Sie sich zumindest auf konstruktive Beratungen einlassen.
({3})
Ich will nur deutlich machen: Ich glaube, es steht uns
nicht gut zu Gesicht, wenn wir als Juristen sagen, dass
wir es zwar in vielen anderen Bereichen hinbekommen,
Gesetze und Straftatbestände genau zu definieren, dass
das aber nicht gilt, wenn es uns betreffen könnte.
({4})
Dann strecken wir lieber gleich alle Waffen und sagen,
dass wir es nicht hinbekommen. Lassen Sie uns deshalb
mit dieser Diskussion aufhören. Machen Sie mit, und
verweigern Sie sich nicht von vornherein. Lassen Sie
uns schauen, ob wir etwas Praktikables, etwas Umsetzbares auf den Weg bringen. Ich bin mir da ziemlich sicher, denn ich kenne den Sachverstand der Kolleginnen
und Kollegen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/1412 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist das so
beschlossen.
Ich habe zum Schluss einen Hinweis und eine Bitte.
Der Hinweis lautet wie folgt: Es kommt im parlamentarischen Alltag nicht selten vor, dass ein Gesetzesvorschlag aus beachtenswerten Gründen für die angestrebte
Problemlösung nicht für geeignet gehalten wird und man
sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es
zu dem Problem Klärungs- und vielleicht auch Handlungsbedarf gibt. Ich empfehle auch bei diesem Punkt,
diese Differenzierung im Auge zu behalten.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Nun zu der Bitte. Das Thema ist ganz offenkundig
entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick
aussieht.
({1})
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die
neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Weil hier
zweifellos ein Zusammenhang mit dem Immunitätsrecht
besteht, könnte die Betrachtung dieses Zusammenhangs
ein Bestandteil der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themenumfeld sein.
({2})
Jede weitere Bemerkung verkneife ich mir, weil wir
die gute Tradition haben, dass sich amtierende Präsidenten nicht in Debatten einzumischen haben.
({3})
- Herr Kollege Hartmann, ich bedanke mich für den
Zwischenruf.
({4})
Deswegen habe ich das sorgfältigst vermieden.
Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. April 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes und hoffentlich geruhsames Wochenende.