Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/8/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung. Heute feiert der Kollege Johannes Pflug seinen 65. Geburtstag. ({0}) - Genau. Der donnernde Beifall des Plenums wird ihn hoffentlich übers Fernsehen beim Frühstück erreichen. Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr begleiten ihn. Es gibt keine Ankündigungen, sodass wir sofort in unsere Tagesordnung eintreten können. Ich rufe zu- nächst die Tagesordnungspunkte 26 a bis f sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 26 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({1}) - Drucksache 17/4620 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Atomwaffen unverzüglich aus Deutschland abziehen - Drucksachen 17/116, 17/2214 - Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Edelgard Bulmahn Jan van Aken Dr. Frithjof Schmidt c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare Abrüstung stärken - Drucksachen 17/886, 17/2215 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Edelgard Bulmahn Jan van Aken Kerstin Müller ({5}) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investitionen in Antipersonenminen und Streumunition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung beenden - Drucksache 17/4697 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group verhindern - Keine weitere Erosion des nuklearen Nichtverbreitungsregimes - Drucksache 17/5374 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüstung der Atomwaffen vorangehen - Drucksachen 17/122, 17/2213 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Edelgard Bulmahn Jan van Aken Dr. Frithjof Schmidt ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse für Frieden und Abrüstung - Drucksache 17/4863 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle. ({10})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Jahr war ein gutes Jahr für die Abrüstung. Auf der Konferenz zur nuklearen Nichtverbreitung in New York fand anders als vor fünf Jahren eine Einigung statt. Das Abkommen über das Verbot von Streumunition ist in Kraft getreten. Die NATO hat das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt zum Teil ihrer neuen Strategie gemacht. Der STARTVertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen zwischen den USA und Russland wurde ratifiziert. Man kann es zusammenfassen: Nach einem Jahrzehnt des Stillstands bei der Abrüstung ist das ein guter und solider Start in ein Jahrzehnt der Abrüstung, für das wir alle gemeinsam arbeiten wollen. Natürlich sind diese Erfolge kein Anlass, sich auszuruhen, sondern sie sind ein Ansporn, mit ganzer Kraft weiterzumachen. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr zur Wiederbelebung der internationalen Abrüstungspolitik beigetragen. Diese neue Dynamik werden wir auch für die vor uns liegenden weiteren Aufgaben nutzen. ({0}) Es war richtig, dass wir die Diskussion über die substrategischen Nuklearwaffen innerhalb der NATO angestoßen haben. Wir setzen dabei auf eine enge Abstimmung im Bündnis, aber gleichzeitig wollen wir diese Debatten anführen. Unsere Initiative für die Reduzierung der substrategischen Nuklearwaffen zeigt Wirkung. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Jahr hat die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton Gespräche mit Russland auch über die substrategischen Atomwaffen angekündigt. Russland ist nämlich - das muss uns allen klar sein - ausdrücklich auch in der Pflicht. Das wird klar, wenn wir allein an die zahlenmäßige Überlegenheit in diesem Segment denken. ({1}) Nächste Woche werden wir hier in Berlin beim Außenministertreffen der NATO-Staaten mit Russland über alle Bereiche der Abrüstung sprechen, auch über die konventionelle Rüstung; denn eines ist klar: Nukleare Abrüstung darf konventionelle Kriege nicht leichter führbar machen. Wir haben mit Japan und Australien im September des letzten Jahres in New York die Freundesgruppe für Abrüstung und Nichtverbreitung gegründet. Ende April treffen sich die Außenminister aus fünf Kontinenten hier in Berlin. Die Tatsache, dass sich sowohl die Außenminister der NATO zu informellen Beratungen als auch die Freundesgruppe für Abrüstung und Nichtverbreitung in diesem Monat in Berlin treffen, ist nicht nur eine Auszeichnung für unser Land, sondern es zeigt auch, dass wir mitten in den Gesprächen und Verhandlungen sind. Deutschland spielt beim Thema Abrüstung eine wichtige Rolle. Darüber freuen wir uns. Ich denke, darauf kann die Bundesregierung mit Stolz verweisen. ({2}) Wichtigstes Ziel ist es, die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial vollständig zu verbieten und auch das zu vernichten, was schon produziert wurde. Wenn die Genfer Abrüstungskonferenz keine Fortschritte machen kann, dann wollen wir das Thema in New York in die Generalversammlung der Vereinten Nationen einbringen. In dieser Überlebensfrage für die Menschheit können wir keine weitere Blockade zulassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass nukleares Spaltmaterial in die Hände von Tyrannen oder von Terroristen fällt. Das zu verhindern, ist eine außerordentlich bedeutsame Aufgabe, die wir international verfolgen müssen. Deswegen gehört zur Debatte über diesen Abrüstungsbericht auch die Debatte über das iranische Atomprogramm. Es ist für uns völlig klar, dass dieses Thema zu den Herausforderungen auch dieses Jahres zählt. Im Januar war der Iran beim Treffen mit den E3+3-Staaten in Istanbul nicht bereit, über die zentralen Fragen zu verhandeln. Der Iran hat auch die letzten Wochen und Monate nicht genutzt. Ich warne davor, das Bemühen der Weltgemeinschaft mit Schwäche zu verwechseln. Die Europäische Union ist bei Sanktionen sogar weitergegangen als der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1929. Unsere Hand bleibt ausgestreckt. Die Führung in Teheran muss aber wissen, dass endlich Verhandlungen ohne Vorbedingungen aufgenommen werden müssen. Die nukleare Kontrolle ist natürlich ein Thema, das ausdrücklich auch für Nordkorea gilt. Darauf wird in Anbetracht der Debatten, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfinden, nicht unbedingt genug geachtet. Ich denke aber, dass wir uns darüber einig sind, dass die internationale Staatengemeinschaft auch hierauf besonders achten muss. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Abrüstung gelingt mit einem starken Völkerrecht. Wir werben für den Beitritt zum Atomteststoppabkommen und zum Atomwaffensperrvertrag. Wir wollen auch Staaten wie Indien in die internationalen Kontrollsysteme einbinden, auch wenn der Weg dahin lang und beschwerlich sein wird. In den Vereinten Nationen setzen wir uns für ein robustes Waffenhandelsabkommen ein, damit Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten, und Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht, nicht mehr legal mit Waffen beliefert werden können. Ich denke, die Bedeutung des Themas Abrüstung ist uns über die Parteigrenzen hinweg klar. Abrüstung hat überhaupt nichts Naives. Abrüstung gefährdet nicht unsere Sicherheit, sondern sie vergrößert unsere Sicherheit. Sie sorgt dafür, dass die Sicherheit in der Welt erhöht wird und dass der Frieden in der Welt stabiler wird. Die Angelegenheit ist ohnehin fragil genug. Auch wenn die Debatte über den Jahresabrüstungsbericht hier nicht von einer großen Anzahl von Kolleginnen und Kollegen verfolgt wird, so möchte ich doch ausdrücklich sagen: Ich glaube, dass Abrüstung keine geringere Aufgabe für die Menschheit ist als beispielsweise das Thema Klimaschutz. Man mag sich nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn Terroristen oder autokratische Regime durch nukleare Verbreitung Atomwaffen in die Hände bekommen. Das ist das Problem. Wir müssen verhindern, dass die Griffnähe zu nuklearen Waffen kleiner wird. Das ist das zentrale Anliegen. Auch wenn es am frühen Morgen vielleicht nicht den Anschein hat, so gehe ich davon aus, dass die Bemühungen um die Abrüstung und um die nukleare Nichtverbreitung von einer großen Anzahl von Abgeordneten hier im Bundestag nicht nur getragen, sondern auch mit Interesse verfolgt werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek für die SPD-Fraktion.

Michael Groschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004044, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war ein denkwürdig kurzer und knapper Auftritt. Herr Außenminister, wir hätten erwartet, dass Sie nicht nur aus Ihrer Sicht darauf verweisen, dass das ein gutes Jahr für die Abrüstung war, worüber man - was den Anteil der Bundesregierung angeht - streiten kann. ({0}) Wir hätten erwartet, dass Sie auch einen Hinweis darauf geben, wie dieses Jahr ein besseres Jahr für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik werden könnte. Wir hätten deshalb natürlich erwartet, dass Sie auch auf Libyen Bezug nehmen, was Sie leider nicht getan haben, Herr Dr. Westerwelle. ({1}) Ich finde es schon bemerkenswert, dass Ihr erster Auftritt nach der beabsichtigten Degradierung im Kabinett und der Enthauptung in Ihrer eigenen Partei so spurlos an allen politischen Entwicklungen vorbeigeht, die damit verbunden sind. ({2}) Ich finde es schon bemerkenswert - um noch einmal darüber zu reden -, dass die „Kehrtwende Marsch“ zum Ungütesiegel Ihrer eigenen Politik geworden ist. Dabei hatten Sie uns doch eine Politik der langen Linie versprochen. Frau Dr. Merkel hat gesagt: Wir stehen für ein Durchregieren, damit mehr Kohärenz und mehr Konsequenz in die Politik kommt. - Was erleben wir aber? Ein Durchlavieren auf allen wichtigen Feldern der Politik, leider auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das will ich an ein paar Punkten deutlich machen. Der Zusammenhang zu unserem heutigen Thema besteht darin, dass glaubwürdige Politik auch Voraussetzung für Glaubwürdigkeit in der Abrüstungspolitik ist. ({3}) In der Libyen-Frage zum Beispiel haben Sie sich völlig gegenteilig verhalten. Ihre Nein implizierende Enthaltung in New York wurde am nächsten Tag durch den Hinweis gekrönt: Es wird keine Beteiligung von deutschen Soldaten an militärischen Einsätzen in Libyen geben. ({4}) Das war am 18. März. Dann kam die denkwürdige Embargo-Entscheidung. Sie haben gesagt: Nein danke, unsere Marine macht beim Embargo nicht mit. Sie haben die Marineeinheiten abziehen lassen. Dann wurden die Marineeinheiten der NATO unterstellt, und uns wurde gesagt: Es gibt zwar einen NATO-Befehl, aber es wird hierbei eine räumliche Trennung vorgenommen. Schließlich haben wir jetzt im Grunde genommen aus der Zeitung erfahren, dass es drei Tage nach Ihrem Nein zum Einsatz deutscher Soldaten ({5}) - ja, ich komme dazu ({6}) offensichtlich auf einmal ein Ja zum Einsatz der 990 Soldaten der Battle Group EUFOR gab, deren Gros Deutschland stellt. Damit liegt genau das vor, was in unseren Augen Durchlavieren und nicht Durchregieren darstellt. Der Kollege Stinner hat nun erklärt: Wir sind offen für militärische Absicherung humanitärer Einsätze. Der Kollege Rösler hat erklärt: militärisch nein, humanitär ja. Der Kollege Mißfelder hat gesagt: Wir haben die moralische Pflicht, zu folgen. Die Kanzlerin und der Verteidigungsminister schweigen. Letztendlich hat das Außenministerium nur verlautbaren lassen, man könne sich eine robuste Sicherheitskomponente vorstellen. Wenn man, werter Herr Außenminister, Ihr Verhalten beim Embargo nur auf die Stichworte Abrüstung und Rüstungskontrolle überträgt, dann stellt sich natürlich die Frage, welche Position denn die deutsche Regierung beispielsweise im Hinblick auf die in Libyen stattgefundene Aufrüstung einnimmt. Bis vor wenigen Monaten waren es doch unsere italienischen und französischen Verbündeten, die ein ganz enges Verhältnis, das auch Aufrüstung beinhaltete, zu Herrn Gaddafi pflegten. Wir würden deshalb von Ihnen gerne erfahren, wo Sie mit Abrüstung und Rüstungskontrolle ganz konkret ansetzen wollen. Zugleich möchten wir Ihnen auch den Hinweis geben, dass wir es sehr gerne sähen, wenn künftig Rüstungskontrollberichte und Rüstungsexportberichte zeitnäher vorgelegt würden. Das ist unser Appell an Sie; denn dann könnte man auch besser überprüfen, ob die von Ihnen verkündeten eigenen Maßstäbe eingehalten wurden. ({7}) Wir müssen auch noch einmal hinterfragen, auf welcher Mandatsgrundlage hier im Bundestag diskutiert werden soll. Gibt es schon eine UN-Anforderung? Was heißt denn: Schützen ja, kämpfen nein? Wie verhält sich denn der Schutz von Zivilisten gegenüber dem Ziel, Gaddafi aus der Verantwortung zu nehmen? Was bedeutet Ihr Hinweis „Wir stehen für humanitäre Hilfe bereit“ angesichts Ihrer Aussage, keine deutschen Soldaten dort hinzuschicken? Wir sind offen, über diese Punkte zu diskutieren. Wir werden Ihnen aber keinen Freibrief erteilen. Wir werden auch nicht akzeptieren, dass quasi über die Zeitungen ein Vorratsbeschluss gefasst wird. Wir wollen die Diskussion hier und heute und sind enttäuscht, dass Sie mit keinem Wort auf diese neuerliche Kehrtwende Ihrer Politik eingehen. ({8}) Sie sind es, wie ich finde, diesem Parlament auch schuldig, noch einmal deutlich zu machen, warum Sie glauben, in der Außen- und Sicherheitspolitik im Kabinett noch am richtigen Platz zu sein. ({9}) Die Urteile, die Ihre eigenen Parteifreunde über Sie getroffen haben, stammen eben nicht nur von Herrn Kubicki und Herrn Hahn, sondern auch Herr Martin Lindner und Herr Chatzimarkakis äußern eine ganz bestimmte Wertschätzung. ({10}) Und uns wundert schon, dass Sie als Außenminister zu dieser Zurdispositionstellung Ihrer jetzigen Position in der Bundesregierung kein Wort verlieren. ({11}) Herr Außenminister, es hätte ein gutes Jahr werden können. Sie haben allerdings viele Chancen versäumt, deutsche Abrüstungs- und Außenpolitik prominent zu vertreten. Wo waren Ihre Initiativen beispielsweise im Nahen Osten zur Vorbereitung der Konferenz 2012? ({12}) Wo waren Ihre Initiativen zur nachhaltigen zivilen Krisenprävention und -nachsorge in Nordafrika? Wo sind Ihre konkreten Initiativen hinsichtlich des Dialogs mit den Verbündeten als Reaktion auf das Nein zu einem atomwaffenfreien Deutschland? Chatzimarkakis und Martin Lindner haben als Antwort darauf, warum Sie, Herr Außenminister, im Amt bleiben sollten, gesagt, keiner hat so viel über Menschenrechte geredet wie unser Außenminister. Ja, geredet haben Sie viel, aber umgesetzt haben Sie wenig und noch weniger haben Sie Kurs gehalten. Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Ministeriums für diesen Bericht. Aber von Ihnen erwarten wir zumindest eine Erklärung für die erneute Kehrtwende und eine Antwort auf die Frage, warum Sie glauben, noch einmal durchstarten und der Außen- und Sicherheitspolitik neues Profil geben zu können. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben in Ihren Reihen mehrere Kolleginnen und Kollegen, die sich seit vielen Jahren sehr ernsthaft mit dem Thema Abrüstung beDr. Rainer Stinner schäftigen. Frau Zapf und Herr Mützenich werden von uns sehr ernst genommen, und wir stehen mit ihnen sehr gerne im Dialog, weil sie sehr profund an diesem Thema arbeiten. Herr Steinmeier, trotzdem schickt Ihre Fraktion heute diesen Redner in diese wichtige Debatte. Das ist unsäglich ({0}) und zeigt uns, dass Ihre Fraktion, Herr Steinmeier, hier und heute an dem Thema Abrüstung offensichtlich nicht das geringste Interesse hat. ({1}) Sie schickten stattdessen den nordrhein-westfälischen Generalsekretär Ihrer Partei ins Feld, der hier mit allgemeinen Äußerungen das Parlament sozusagen aufgemischt hat. Sehr geehrter Herr Kollege Groschek, Sie haben versucht, sich an der Situation der FDP abzuarbeiten, die in der Tat nicht besonders gut ist; das will ich gerne eingestehen. Wenn Sie schon über Parteien sprechen, dann hätte ich erwartet, dass Sie über den Verlust von 10 Prozentpunkten Ihrer Partei in Rheinland-Pfalz gesprochen hätten und erklärt hätten, wie es dazu gekommen ist. ({2}) Das Thema Abrüstung liegt uns allen am Herzen. Frau Zapf, ich weiß, dass das auch für Sie und für den Kollegen Mützenich gilt. Wir wissen, wie sorgfältig Sie dieses Thema behandeln. Die SPD kann zwar machen, was sie will. Aber dass sie angesichts der schwierigen internationalen Situation einen Vertreter in die Debatte schickt, der eine solche Rede hält, ist erbärmlich angesichts der außenpolitischen und abrüstungspolitischen Kompetenz Ihrer Partei. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jetzt erhält zur Erwiderung der Kollege Groschek noch einmal das Wort. Dann wäre es ganz schön, wenn wir wieder über Abrüstungsfragen reden könnten. ({0})

Michael Groschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004044, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Stinner, ich greife Ihren Hinweis zu Rheinland-Pfalz gerne auf; denn Büchel liegt in Rheinland-Pfalz. Es waren der jetzige Außenminister und die FDP, die immer vollmundig erklärt haben: Wir werden das atomwaffenfreie Deutschland schaffen. - Dann folgte aber die Kehrtwende. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie erst vollmundig Ankündigungen machen, sich aber dann zwergenhaft verhalten, wenn es um die Umsetzung geht. ({0}) Das ist das Problem, das Ihr Außenminister und Ihre Partei haben. Aber der Offenbarungseid der Freien Demokratischen Partei darf nicht zum Offenbarungseid deutscher Außenpolitik werden. Diese Befürchtung haben wir allerdings. ({1}) Sie kennen Herrn Genscher wahrscheinlich besser als ich. ({2}) Christian Lindner berichtete in den Gremien der FDP, dass Herr Genscher die Implosion der FDP vor Augen hat und der Meinung ist, es sei die schwierigste Situation der FDP seit der Nachkriegszeit und man müsse Rösler Zeit geben, den personellen Wechsel zu vollziehen. Was heißt das denn? Das heißt doch, dass die Fraktionsvorsitzende, der Wirtschaftsminister und der Außenminister ihre Ämter nur noch auf Abruf bekleiden. Das besorgt uns; denn das ist nicht allein Privatsache der Freien Demokratischen Partei, sondern auch Sache der Bundespolitik, weil die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung und des Parlamentes berührt wird. ({3}) Sie können gerne solche Ablenkungsmanöver starten. Wir erwarten von Ihnen allerdings, dass Sie nicht nur Ankündigungen machen, sondern Rede und Antwort stehen, wenn es um Ihre außenpolitische Bilanz und um Ihre gescheiterten Ansätze in der Außenpolitik geht. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für ernsthafte Abrüstungspolitiker schon erstaunlich und in Teilen nicht nachvollziehbar, dass ein so wichtiges Thema wie der Jahresabrüstungsbericht als Forum für Oppositionspolitik benutzt wird. Selbst der Fraktionsvorsitzende der SPD hat die Enthaltung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen den Medien gegenüber und auch in den eigenen Reihen für gut geheißen. Ich möchte aber von diesem Thema weg; denn es geht um etwas ganz anderes. Es geht um die Frage, wie sich unser Land in der Abrüstung positioniert. Ich hätte mich sehr gefreut, Herr Kollege Groschek, wenn Sie heute ein ganz wesentliches Datum genannt hätten. Genau heute vor einem Jahr, am 8. April 2010, wurde der START-Vertrag von Obama und Medwedew unterzeichnet. Am 6. Februar dieses Jahres wurden die Ratifizierungsurkunden in Deutschland, nämlich bei der Münchner Sicherheitskonferenz, ausgetauscht. Wir haben im letzten Jahr auch erhebliche Bewegung beim Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gehabt. Erstmals nach fünf Jahren haben sich alle Unterzeichnerstaaten auf ein Kommuniqué geeinigt. Für uns ist es, glaube ich, auch wichtig, dass der KSE-Vertrag, der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, von 1990 endlich eine Wiederbelebung erfährt. Wir feiern in diesem Monat auch das 20-jährige Bestehen des Verifikationszentrums der Bundeswehr in Geilenkirchen. - So weit zu den wirklichen Bollwerken und Bausteinen der Abrüstungspolitik. Damit wird eindeutig klar: Deutschland hat sich mit aller Kraft und erfolgreich für Abrüstung eingesetzt. Zuletzt - Herr Außenminister Westerwelle hat es angesprochen - ist es uns gelungen, zu erreichen, dass Abrüstung im NATO-strategischen Konzept ganz fest verankert ist, und zwar sowohl im nuklearen Bereich als auch im konventionellen Bereich. Abrüstung gehört zum Fahrplan der NATO. Das ist ein Novum nach über elf Jahren mit dem alten Konzept. Hinzu kommt, dass wir im NATO-Hauptquartier - ich möchte das bewusst sachlich ansprechen - jetzt einen Rüstungskontrollausschuss eingerichtet haben. Dieser Rüstungskontrollausschuss ist Verdienst deutscher Außenpolitik. Dafür sind wir Ihnen, Herr Außenminister, dankbar. ({0}) Ich denke, damit haben wir beste Voraussetzungen, um unsere Abrüstungsbemühungen mit Russland noch intensiver fortzusetzen. Bei Russland kommt es darauf an, dass gerade im Bereich der Anpassung der konventionellen Abrüstung Einvernehmen mit den Konfliktparteien im Südkaukasus und auch in Transnistrien hergestellt wird. Wir als CDU/CSU fordern alle Parteien auf, sich gemeinsam an die internationalen Verhandlungsregime zu halten. Dann erzielen wir auch die notwendigen Fortschritte in der konventionellen Abrüstung, und das ist überfällig. ({1}) Es ist keine Binse, dass Deutschland an der Spitze internationaler ernsthafter Abrüstungsbemühungen steht. Aber gerade deshalb möchte ich einige grundsätzliche Positionen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Abrüstungspolitik erläutern. Abrüstungspolitik ist für uns ein Teil kluger und vorsorgender Sicherheitspolitik. Verantwortungsbewusste Abrüstungspolitik hat das Ziel einer friedlicheren Welt im Blick. Das geht nur mit einer effektiven Rüstungskontrolle. Abrüstung allein reicht nicht; die Abrüstung muss auch kontrolliert werden. Aber was heißt „friedlicher“? Friedlicher heißt: weniger militärische Konflikte, eine stärkere Abstützung auf zivile Krisenprävention, wirksamere Krisennachsorge und natürlich eine glaubwürdige militärische Rückversicherung. Das müssen wir auch bei der Bundeswehrreform im Blick haben. Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind die Geschwister von Abrüstung. Das sind Drillinge einer sicherheitspolitischen Familie. Ferner gilt es - ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt -, die Mittel, die durch Abrüstung und Konversion frei werden, möglichst in Bildungs-, Energieversorgungs- und Ernährungsprojekte zu investieren. Gerade wir als Union haben uns in einer Anhörung sehr stark dafür eingesetzt. Es geht uns darum, Konfliktpotenziale abzubauen, zivile Krisenprävention zu stärken. Wir sehen in Nordafrika, wie wichtig es ist, auch die Zivilgesellschaft zu fördern. Das ist aber nur glaubwürdig, wenn wir die Fakten kennen und die Wirklichkeit so akzeptieren, wie sie ist. Anerkennung der Wirklichkeit und ein realpolitischer Umgang mit den Fakten, das ist unsere Position; denn Abrüstung ist harte Arbeit. Abrüstung ist ein wechselseitiger, auf Vertrauen basierender Prozess, und dieses Vertrauen muss mühsam erarbeitet werden. Abrüstung ist für die CDU/CSU kein Selbstzweck. Das bedeutet für uns, Abrüstung nicht nur realpolitisch und wertegebunden zu sehen, sondern auch die Interessen unserer Außenpolitik deutlich anzusprechen. Für uns heißt das: eine enge Abstimmung im Bündnis. Eine enge Abstimmung bei Abrüstungsfragen ist ein sicherheitspolitisches Markenzeichen. Unser Land kann seine Ziele nicht allein erreichen. Bündnissolidarität erleichtert unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit und gestaltet unsere Politik wirksamer. Bündnissolidarität ist der Schlüssel zum Erfolg. Das schließt aber nicht aus, dass wir auch eigene deutsche Interessen verfolgen. Ich sage ganz bewusst: Das zeigt auch das Beispiel Libyen. Wir wollten die Bombardierungen nicht. Jetzt sehen wir die Auswirkungen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Zivilgesellschaft. Was wir aber wollen, ist, humanitäre Hilfe zu leisten und zu unterstützen. Deswegen stehen wir auch dazu, dass EU-Battlegroups humanitäre Hilfe leisten. ({2}) Darum stehen wir bei allen notwendigen abrüstungspolitischen Schritten für eine enge Abstimmung in NATO und EU. So haben wir uns bei der Ausarbeitung des strategischen Konzepts und im konventionellen Bereich bei der Wiederbelebung des KSE-Vertrages erfolgreich eingebracht. Deshalb wollen wir noch viel stärker Abrüstung als Instrument vorsorglicher Krisenprävention und aufmerksamer Krisennachsorge implementieren. Auf unsere Anregung hin wird es deshalb im September eine gemeinsame Anhörung der beiden Unterausschüsse - dem für Abrüstung und dem für zivile Krisenprävention - geben, und zwar mit dem Ziel der Verifikation, das heißt, eine Form der Rüstungskontrolle als Mittel der Krisenprävention zu untersuchen. Wir wollen verklammerte Sicherheit, ganzheitliche Sicherheit. Deshalb ist es für uns wichtig, dass sich Abrüstung auch bewerten lassen muss. Wir wollen ein Mehr an Transparenz, ein Mehr an Vertrauen und Sicherheit. Nur so schaffen wir auch ein Mehr an internationaler Stabilität. Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil Sicherheit unteilbar bleibt, betone ich mit Nachdruck: Abrüstungspolitische Euphorie und blinder Aktionismus führen uns nicht zum Ziel. Es braucht geeignete Foren und Verträge. Das hat im vergangenen Jahr die Nichtverbreitungskonferenz in New York ebenso gezeigt wie die Ratifizierung des START-Vertrages. Für uns ist deshalb ein klarer Fahrplan wichtig. Wohin führt uns die weitere Reise? Für die weitere Abrüstung im nuklearen Bereich gilt es bei uns die sogenannten substrategischen Atomwaffen in den Fokus zu nehmen. Diese Waffen werden gegenwärtig weder politisch noch militärisch benötigt. Da sind wir uns einig. Sie sind durch verantwortungsvolle, bewusste Sicherheitspolitik, aber nicht durch rhetorische Erklärungen überflüssig geworden. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger parteiübergreifender Sicherheitspolitik. Allerdings stelle ich für meine Fraktion sehr deutlich fest - und da bleiben wir auch fest -: Der Abzug dieser Waffen, den wir in unserem fraktionsübergreifenden Antrag im letzten Jahr gefordert haben, muss abgestimmt im Bündnis vorgenommen werden. ({3}) Wie wollen wir das machen? Das Ganze sollte mit einem Dialog mit den Bündnispartnern vorbereitet werden. Nächste Woche ist die Außenministerkonferenz hier in Berlin. Wir müssen mehr Transparenz und Vertrauensbildung mit Russland schaffen. „New START“ war ohne diesen Ansatz gar nicht denkbar. Diese Aufgabe ist lösbar. Ich denke, mit den weiteren Verhandlungen und mit dem Rüstungskontrollausschuss sind wir dort auf dem richtigen Weg. Wesentlich wichtigere und schwierigere Herausforderungen gibt es im weiteren Umfeld Europas. Der Iran verletzt weiterhin UN-Resolutionen mit der fortgesetzten Arbeit an seinem Nuklearprogramm und verweigert sich der Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde. Deshalb setzen wir uns für eine möglichst gemeinsam mit Russland entwickelte Raketenabwehr ein, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Nordkorea und Pakistan sind gleichfalls Staaten, deren Sicherheitspolitik wir nicht teilen. Es fehlt die völlige Bereitschaft dieser Staaten, an internationalen Vertragswerken mitzuwirken. Sie sind weder bei Nichtverbreitung noch bei Teststopps konstruktiv. Nordkorea muss die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Sechs-Parteien-Gesprächs erfüllen. Ich möchte auch etwas zu Pakistan sagen, zumal nächste Woche ein Besuch der deutsch-pakistanischen Freundschaftsgruppe ansteht. Pakistan verweigert Fortschritte bei der Genfer Abrüstungskonferenz, insbesondere beim Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke. Wir werden das im Gespräch mit unseren pakistanischen Freunden verdeutlichen. Auf einer Delegationsreise im Januar dieses Jahres haben wir das Thema bereits intensiv angesprochen. Bei den Parlamentariern in Pakistan stoßen wir auf offene Ohren. Sie sind für uns der Schlüssel für mehr Transparenz in diesem Bereich. Deshalb unterstützen wir auch mit Nachdruck alle Bemühungen der Bundesregierung, sämtliche Hebel und Kanäle auf der diplomatischen Ebene zu nutzen, um Iran, Nordkorea und Pakistan zu angemessenem Verhalten zu bringen. Über Indien werden wir nachher noch sprechen. Der Abrüstungsbericht ist nicht nur umfangreich, er ist ein hervorragendes Kompendium der sicherheitspolitischen Abrüstungsbemühungen weltweit und des Engagements unseres Landes. Es ist absolut erfreulich, dass sich der Bericht auch mit neuen Herausforderungen beschäftigt, zum Beispiel mit der Frage der Sicherheit der Informationstechnik, Stichwort „Cyber“. Hier mahnt die Bundesregierung vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen an. Gerade der Bereich der IT-Sicherheit wird uns in den nächsten Jahren erheblich stärker beschäftigen, als wir das heute erahnen. Wir können einen Beitrag leisten, indem wir im Bereich der Abrüstung intensiv mitwirken und bei der Bundeswehrreform dafür sorgen, dass die Bundeswehr über glaubwürdige militärische Fähigkeiten verfügt. Das ist die andere Seite der Medaille. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Abrüstungsdebatte und keine Debatte über das Personal der FDP. Deshalb werde ich mich an letzterer auch nicht beteiligen. ({0}) Der Tenor des Jahresabrüstungsberichts 2010 liest sich wie der der vorangegangenen Jahresberichte: Danach hat die Bundesregierung eigentlich alles richtig gemacht, und Abrüstung wird im Grunde nur von Staaten außerhalb der NATO gefordert. Das ist so was von einseitig, und das ist auch nicht akzeptabel. Wenn man weltweit Abrüstung will, muss man selbst vorbildlich vorangehen. ({1}) Stattdessen wird aus der Bundeswehr, die im Grundgesetz als Landesverteidigungsarmee konstruiert ist, Schritt für Schritt eine Armee zur weltweiten Intervention gemacht. Sie machen aus einer Verteidigungsarmee eine Kriegsarmee. ({2}) Das Problem ist, dass sich diesbezüglich Union, SPD, FDP und Grüne einig sind. Die Einzigen, die dagegenstehen, ist die Fraktion der Linken. ({3}) Das, was Sie machen, ist nicht Abrüstung, sondern das Gegenteil davon. Sprechen wir ganz kurz über Libyen. Im Unterschied zu den Grünen und anderen fanden wir es richtig, dass sich die Bundesregierung zumindest enthalten hat; man hätte im Sicherheitsrat auch mit Nein stimmen können. Auf jeden Fall haben Sie gesagt: Deutsche Soldaten werden an diesem Krieg nicht beteiligt. - Aber nun schicken Sie deutsche Soldaten nach Libyen, und zwar bewaffnete deutsche Soldaten. Das ist ein Widerspruch in sich und nicht akzeptabel. ({4}) Ich weiß, Herr Trittin, Sie lachen da nur arrogant, weil Sie schon immer für Kriege waren, auch in Bezug auf Jugoslawien. ({5}) Ich sage Ihnen eines: Frieden mag schwieriger sein, aber das ist ein viel besserer Weg, als Krieg zum Mittel der Politik zu machen. ({6}) Man kann über Rüstung und Abrüstung nicht ernsthaft diskutieren, wenn man nicht gleichzeitig über Waffenexporte diskutiert. Ich finde, Deutschland hätte aus dem Zweiten Weltkrieg diese Lehre ziehen müssen: Wir machen nie wieder Geschäfte mit dem Krieg! Wir wollen nie wieder am Verkauf von Waffen verdienen! - Leider ist das Gegenteil realisiert worden: Deutschland ist jetzt der drittgrößte Waffenexporteur der Erde. Ich bitte Sie! Nur die USA und Russland verkaufen mehr Waffen als Deutschland. Deutschland steht in der Rangliste vor Großbritannien, vor Frankreich und vor China. Das ist doch ein Skandal, mit dem man sich auseinandersetzen muss! ({7}) Ein großes Ziel war auch die Eindämmung des Exports von Kleinwaffen. Fehlanzeige! Kleinwaffen aus Deutschland werden in alle Regionen der Welt verkauft. Es wurde sogar der Bau einer Produktionsanlage für Gewehre vom Typ G 36 in Saudi-Arabien genehmigt. Herr Bundesaußenminister, international fordert die Bundesregierung die Markierung des Herkunftslandes auf allen Waffen und auf jeder Munition. Das ist richtig. Aber warum werden Kleinwaffen und Munition in Deutschland trotzdem nicht markiert? Warum dürfen wir nicht wissen, ob die Waffen und die Munition, die in irgendwelchen Kriegen eingesetzt werden, aus Deutschland sind oder nicht? Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, das durchzusetzen. ({8}) Wie Sie wissen, wurde ein Verbot von Streumunition angestrebt. Auch Deutschland hat sich für Ausnahmeregeln für eigene Munitionstypen eingesetzt. Abgesehen davon setzen Sie das Lagerverbot nicht durch. Denn die US-Streitkräfte in Deutschland besitzen nach wie vor Streumunition. Warum sagen Sie Herrn Obama oder Frau Clinton nicht: „Das geht nicht. Es ist nicht hinnehmbar. Es ist aus Deutschland abzuziehen.“? ({9}) Kommen wir zu den Atomwaffen. Der Atomwaffensperrvertrag sieht auch die Abrüstung der damaligen fünf Atommächte vor. Da das so gut wie gar nicht geschehen ist, haben wir jetzt acht Atommächte; denn neben den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich sind Israel, Indien und Pakistan hinzugekommen. Jetzt ruft Obama zur Abrüstung auf. Das ist okay. Aber reale Schritte gibt es, siehe START-Abkommen, eigentlich nur zwischen den USA und Russland, und das auch nur begrenzt. Die haben noch so viele überflüssige Atomwaffen, dass sie diesbezüglich weitermachen könnten. Die anderen Länder unternehmen in dieser Frage keine Schritte. Obwohl auch Sie gesagt haben, Herr Bundesaußenminister, dass Sie dagegen sind, dass US-Atomwaffen in Deutschland lagern, gibt es 20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit immer noch US-Atomwaffen in Deutschland. Sorgen Sie doch einmal dafür, dass diese abgezogen werden! Wir brauchen keine einzige davon. ({10}) Ich hatte vor vielen Jahren ein Erlebnis, das mich beeindruckt hat. Zu der Zeit, als Krieg gegen Jugoslawien geführt wurde, war ich in Indien und habe mit dem damaligen Außenminister Singh gesprochen. Pflichtgemäß habe ich ihm natürlich gesagt, dass ich mir Sorgen mache, dass auch Indien jetzt Atomwaffen hat. - Daraufhin fragte er mich: Sagen Sie mal, waren Sie für oder gegen den Jugoslawien-Krieg? - Da habe ich gesagt: Ich war dagegen. - Darauf fragte er: Hatte Jugoslawien Atomwaffen? - Darauf antwortete ich: Nein. - Dann fragte er: Glauben Sie im Ernst, Belgrad wäre bombardiert worden, wenn Jugoslawien Atomwaffen gehabt hätte? Das ist meine Antwort. - Er sagte mir also: Man macht sich durch den Besitz von Atomwaffen unangreifbar. - Deshalb gibt es nur eine Lösung: Die Atomwaffen weltweit müssen vernichtet werden. Nur dann sind wir berechtigt, weltweit zu verhindern, dass jemand eine Atomwaffe herstellt. ({11}) Ansonsten werden wir das Problem mit Iran und mit Nordkorea nicht los; denn es ist immer die gleiche Logik, die dort herrscht. Lassen Sie mich etwas zur Nuclear Suppliers Group sagen. Dieser gehören die Staaten, die Atomhandel betreiben, an. Der Atomwaffensperrvertrag verbietet Atomhandel mit Ländern, die diesem Vertrag nicht beigetreten sind. Es muss - wie auch immer - die erste Ausnahme bei Israel gegeben haben, worüber so gut wie nie diskutiert wurde. Jetzt hat es eine weitere Ausnahme bei Indien gegeben; denn es gibt ein Abkommen zwischen den USA und Indien über den Atomhandel. Das verletzt den Atomwaffensperrvertrag. Nun hat auch China mit Pakistan ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Dieses ist kritisiert worden, woraufhin China gesagt hat: Aber wenn die USA das mit Indien dürfen, dann dürfen wir das mit Pakistan. - So zieht ein Schritt der Verletzung eines Vertrages den nächsten nach sich. Nun soll Indien Mitglied der Nuclear Suppliers Group werden. Auch das ist vertragswidrig, weil ein Beitritt von Ländern, die dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sind - die Ausnahme bilden die ursprünglichen fünf Staaten -, ausgeschlossen ist, und Indien ist ja nicht beigetreten. Wenn wir hier die erste Ausnahme machen, werden weitere Ausnahmen folgen. Die ganze Richtung ist falsch. Das ist kein Weg zur Abrüstung, sondern eine Animierung zur Rüstung. Auf diesem Weg müssen wir umkehren. ({12}) Zu den Rüstungsexportgenehmigungen; diese liegen im Milliardenbereich. Hören Sie einmal gut zu. Im Jahre 1998 genehmigten Union und FDP in der Kohl-Regierung Rüstungsexporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro. Unter der Regierung aus SPD und Grünen waren die Zahlen erst einmal rückläufig. Aber schon im Jahre 2001 genehmigte die Regierung Rüstungsexporte im Wert von 7,5 Milliarden Euro. Von 2003 bis 2005 hat Rot-Grün, genau wie die Kohl-Regierung, jährlich Rüstungsexporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro genehmigt. Was war in dieser Frage der Unterschied zwischen den beiden Regierungen? Es gab keinen. Danach regierten Union und SPD. Sie haben zum Beispiel in einem Jahr Rüstungsexporte im Wert von 8,7 Milliarden Euro erlaubt. Der größte Anteil der Waffenexporte erfolgt in die NATO oder an Länder wie Australien und Kanada; aber niemals ist vereinbart worden, dass diese die Waffen nicht weiterverkaufen dürfen. Wir wissen überhaupt nicht, wo die Waffen letztlich landen. Darüber hinaus hat der Anteil der sogenannten Drittstaaten, in die Rüstungsexporte stattfinden, ständig zugenommen. Nehmen wir nur das Jahr 2009. In diesem Jahr wurden Waffenexporte in Drittstaaten, davon zwei Drittel in den Nahen Osten, im Umfang von 2,5 Milliarden Euro genehmigt. Aber Waffenexporte in Spannungsgebiete und an Diktaturen sind doch verboten. Wieso werden ständig Waffen an Diktaturen und vor allen Dingen auch in Spannungsgebiete verkauft? Der ganze Nahe Osten ist ein Spannungsgebiet. ({13}) Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Waffenexporte an Diktaturen und in Spannungsgebiete zwischen 2006 und 2009 nennen. Libyen - eine Diktatur - bekam Waffenexporte in Höhe von 83 Millionen Euro. Israel - es ist selbstverständlich keine Diktatur, aber liegt in einem Spannungsgebiet - bekam Waffenexporte im Umfang von 106 Millionen Euro. Andere Länder bekamen noch viel mehr Waffenexporte: Ägypten - eine Diktatur - im Werte von 144 Millionen Euro, Bahrain - eine Diktatur - im Werte von 184 Millionen Euro, Saudi-Arabien - eine feudal strukturierte Diktatur - im Werte von 441 Millionen Euro, die Vereinigten Arabischen Emirate - eine Diktatur - im Werte von 846 Millionen Euro. So werden Geschäfte gemacht. Sogar die Diktatur Syrien bekam Waffenexporte, wenn auch nur im Werte von 550 000 Euro. Ich glaube, schon 1 Euro ist zu viel. ({14}) Waffen werden auch geliefert an Indien, an Indonesien, an Malaysia, an Pakistan - das sind doch Spannungsgebiete, oder nicht? - und an Südkorea. Südkorea ist nun wirklich ein Spannungsgebiet. Im Jahre 2008 wurden Waffenlieferungen an Südkorea im Wert von 1,9 Milliarden Euro genehmigt. Das war der höchste Betrag von allen. Was könnte die Bundesregierung tun? Wofür sollten wir streiten? Ich sage erstens: Wir müssen sehr grundsätzlich darüber nachdenken, ob aus unserer Geschichte nicht die Verpflichtung resultiert, zu sagen: Wir beteiligen uns überhaupt nicht mehr an Waffenexporten. Wir verbieten sie in Deutschland. ({15}) Wenn Sie das nicht wollen, wenn Sie also sagen, Waffenlieferungen innerhalb der NATO, an Kanada, Australien etc. seien notwendig, dann versuchen Sie doch wenigstens, in Verträgen zu vereinbaren, dass ein Weiterverkauf dieser Waffen ausgeschlossen wird. Das wäre doch das Mindeste, was man hinbekommen müsste. Verbieten Sie wenigstens Waffenexporte an Drittstaaten, zumindest an Staaten in Spannungsgebieten - diese müssten dann definiert werden, und zwar ganz eng - und an Diktaturen! Nichts dergleichen geschieht. Wir benötigen endlich ein Ende der Waffenexporte in den Nahen Osten. Das ist doch wohl das Mindeste, worauf man sich hier verständigen könnte, wenn Sie unsere weitergehenden Forderungen schon nicht erfüllen. ({16}) Zweitens: atomare Abrüstung. Wir brauchen den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland, wir brauchen eine Initiative für eine kernwaffenfreie Zone in ganz Europa, und wir müssen eine Initiative für eine kernwaffenfreie Zone im Nahen Osten unterstützen. Das betrifft nicht nur Israel, sondern verhindert vor allem auch eine atomare Aufrüstung im Iran. Drittens. Nicht mehr benötigte Waffensysteme der Bundeswehr müssen vernichtet und dürfen nicht weiter11814 gegeben und verkauft werden. Sie müssen endlich vernichtet werden. ({17}) Viertens. Die Lagerung von Streumunition in Deutschland ist nicht zu dulden. Fünftens. Endlich muss der Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa hier ratifiziert werden. Sechstens. Wir brauchen keinen Ausbau der militärischen Kapazitäten in der EU. Mein Gott, Sie haben doch die NATO! Warum reicht Ihnen das nicht? Warum muss jetzt auch noch die EU militarisiert werden? Das ist überhaupt nicht nachzuvollziehen. ({18}) Siebtens. Ich sage Ihnen, dass der Aufbau einer Raketenabwehr durch die USA in Tschechien und Polen Russland völlig verunsichert. Auch hier wäre es erforderlich, dass die Bundesregierung ihre Stimme erhebt und deutlich macht, dass dies kein Weg zur Abrüstung ist. Lassen Sie uns umkehren! Schluss mit den Geschäften mit Waffen, Schluss mit Kriegen! Lassen Sie Deutschland einen anderen Weg gehen! ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstungspolitik muss ein Grundpfeiler deutscher Außenpolitik sein. ({0}) Denn weniger Rüstung und mehr vertrauensbildende Rüstungskontrolle bedeuten mehr Frieden und Sicherheit für alle. ({1}) Herr Minister Westerwelle, Sie betonen hier im Bundestag immer wieder, wie wichtig Ihnen Abrüstung ist. Das klingt gut. Sie hätten uns Grüne und wahrscheinlich das ganze Parlament an Ihrer Seite, wenn Sie Ihre Versprechen wahrmachen würden. Sie ziehen aber immer mit großen Worten davon und kommen dann mit leeren Händen wieder. Ihre Außenpolitik lässt eine klare Linie vermissen. Ihr Zickzackkurs in Bezug auf Libyen ist dafür wieder einmal bezeichnend. Zuerst sagten Sie generell Nein zu einem militärischen Einsatz in Libyen. ({2}) Dann sagten Sie, dass Sie sich auch nicht am Waffenembargo beteiligen und die deutschen Schiffe abziehen. Jetzt sagen Sie: Bei EUFOR Libya sind wir mit dabei. Man hat das Gefühl, Ihnen fehlt der Kompass und Sie werfen eine Münze, wenn es darum geht, zu entscheiden, an welchem Einsatz man sich beteiligt und an welchem nicht. Es gibt kein Wertefundament, keine Begründungen und keine einheitliche Linie. ({3}) Abrüstungspolitik funktioniert nur dann, wenn sie umfassend, konsequent und ehrlich ist. Ihre Abrüstungspolitik ist in zentralen Punkten reduziert, inkonsequent und halbherzig. Gegenüber grundlegenden Zusammenhängen scheinen Sie oftmals blind zu sein. Sie denken nicht zusammen, was zusammengehört. Das hat schwerwiegende Folgen, wie ich Ihnen mit Blick auf mehrere Bereiche aufzeigen möchte. Bei der Umsetzung von internationalen Abrüstungsverträgen ist es geboten, umfassende Maßnahmen zu treffen, um geächtete Waffen effektiv aus dem Verkehr zu ziehen. Mit dem Inkrafttreten des Abkommens zum Verbot von Antipersonenminen und des Übereinkommens über Streumunition wurden für die weltweite Ächtung dieser barbarischen Waffen wichtige Fortschritte erzielt. Trotz dieser großen Erfolge werden diese Waffen jedoch weiter in vielen Ländern produziert und eingesetzt. Sie töten und verstümmeln Menschen auf grausame Weise und treffen vor allem die Zivilbevölkerung. Viele Unterzeichnerstaaten haben diese Verträge leider noch nicht ratifiziert, Deutschland zum Glück schon. Aber mit Halbherzigkeit ist ein umfassendes Verbot von Landminen und Streumunition nicht zu verwirklichen. Und um effektiv und konsequent den Einsatz, die Lagerung, die Herstellung, die Entwicklung und den Handel dieser Waffen zu verhindern, muss in allen relevanten Bereichen dafür Sorge getragen werden, dass das Verbot dieser Waffen nicht untergraben wird. Zu einem universellen und wirksamen Verbot gehört deshalb zwingend auch das Verbot von Investitionen in Unternehmen, die diese grausamen Waffen herstellen. ({4}) Doch in Deutschland darf weiterhin munter in die Produktion dieser barbarischen Waffen investiert werden. Wer zum Beispiel in Deutschland eine Riester-Rente hat, muss damit rechnen, dass das angelegte Geld in Streumunition investiert wird. Denn die Produkte der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge werden überhaupt nicht daraufhin überprüft, ob ethische Mindeststandards eingehalten werden. Die Bundesregierung scheint es gar nicht zu interessieren, ob mit Steuergeldern Unternehmen unterstützt werden, die diese geächteten Waffen herstellen und entwickeln. Dadurch wird das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition zugunsten der wirtschaftlichen Interessen der Rüstungsindustrie und des Finanzsektors ausgehöhlt. Herr Minister, hier ist kein Herz für Banken und Investmentfonds gefragt, sondern ein beherztes Eintreten für ein Investitionsverbot in Unternehmen, die völkerrechtswidrige Waffen entwickeln und herstellen. ({5}) Deutschland sollte dem Beispiel Belgiens, Luxemburgs, Norwegens oder Neuseelands folgen und diese Investitionen generell gesetzlich untersagen. Denn zu einem Verbot des Einsatzes und der Produktion gehört unweigerlich auch ein Verbot, damit Profit zu machen. Beides muss zusammengedacht werden. ({6}) Deshalb legen wir Grüne heute einen Antrag für ein umfassendes Investitionsverbot in Streumunition und Landminen vor. Wir laden heute auch alle Fraktionen zur Zusammenarbeit ein, um endlich Investitionen in diese Waffen gesetzlich zu verbieten und die steuerliche Förderung zu beenden. ({7}) - Ja, alle. Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr stand die nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung an oberster Stelle auf der abrüstungspolitischen Agenda. Im Koalitionsvertrag wurde vollmundig versprochen, dass sich die Bundesregierung für den Abzug der in Deutschland stationierten amerikanischen Atomwaffen einsetzt. Die breite Mehrheit dieses Hauses hat bei der Debatte zum Jahresabrüstungsbericht im vergangenen Jahr mit einem historischen Antrag, der von CDU/CSU, SPD, FDP und uns Grünen gemeinsam erarbeitet wurde, die Bundesregierung dazu aufgefordert, dieses Versprechen auch einzulösen. Herr Minister, ich darf Sie daran erinnern: Dieser Beschluss des Bundestages ist keine unverbindliche Handlungsempfehlung. Wir sind in dieser Frage aber leider keinen Schritt weitergekommen. Innerhalb der NATO konnte die Bundesregierung keine nennenswerten abrüstungspolitischen Erfolge erzielen. Sie sind daran gescheitert, die Reduzierung der US-Atomwaffen in Europa im neuen strategischen Konzept der Allianz zu verankern. Stattdessen weitet die Bundesregierung ihre Verzögerungstaktik aus und koppelt die Frage des Abzugs der US-Atomwaffen aus Deutschland an Zugeständnisse Russlands im substrategischen Bereich. Damit verschieben Sie den Abzug der US-Atomwaffen absichtlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Diese kurzsichtige Politik lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({8}) Wirkliche Fortschritte werden wir außerdem nur schaffen, wenn wir atomare Abrüstung und den Atomausstieg zusammendenken. Denn es gibt einen höchst problematischen Zusammenhang zwischen atomarer Aufrüstung und der zunehmenden Ausbreitung der zivilen Nutzung von Atomenergie. Wer davor die Augen verschließt, denkt eben nicht zu Ende und nicht an das Ganze. Durch die zivile Nutzung erwerben immer mehr Staaten die Fähigkeit zum Aufbau militärischer Nuklearprogramme. Wir alle wissen: Die Nutzung der Atomkraft ist mit unverantwortlichen ökologischen und sicherheitspolitischen Risiken verbunden. Die furchtbare Katastrophe in Fukushima fordert auch international ein fundamentales Umdenken. Allerdings unterliegen noch immer viele Entwicklungsländer und aufstrebende Staaten dem Irrglauben, Atomenergie sei das Wundermittel für eine sichere Energieversorgung. Dafür sind auch die Atommächte verantwortlich, die jahrelang, statt ihren Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen, allen Nichtkernwaffenstaaten die zivile Nutzung schmackhaft gemacht haben. Dieser Trend muss dringend aufgehalten werden. ({9}) Deutschland muss nicht nur schnellstmöglich aus der Atomenergie aussteigen, sondern auch weltweit dafür werben. Schwarz-Gelb stellt sich hier blind und hält an der fahrlässigen Förderung deutscher Atomexporte fest. Mit Blick auf Indien, das wie kaum ein anderes Land Atomkraftwerke aus dem Boden stampfen will und als Absatzmarkt für die deutsche Industrie lockt, scheinen Sie sogar bereit, alle sicherheitspolitischen Bedenken über Bord zu werfen. Die Brückentechnologie-Kanzlerin selbst befürwortet den nukleartechnologischen Brückenschlag zum Atomwaffenstaat Indien. Dabei erlaubt das nukleare Nichtverbreitungsregime den Handel von Nukleartechnologie und Nuklearmaterial nur unter sehr strengen Auflagen. Deutschland ist Mitglied der Gruppe der nuklearen Lieferstaaten, der sogenannten Nuclear Suppliers Group, und hat hier, wie jedes andere Mitglied, ein Vetorecht. Schon im September 2008 haben die Lieferstaaten unter deutschem Vorsitz die fatale Entscheidung getroffen, für den Nuklearhandel mit Indien eine Ausnahme zu machen. Das haben damals nicht nur wir Grüne, sondern auch die FDP zu Recht sehr scharf kritisiert. Heute ist sogar im Gespräch, Indien in die Nuclear Suppliers Group aufzunehmen und damit den nuklearen Dammbruch endgültig zu besiegeln. Auf unsere Frage hin, wie man zur Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group steht, windet sich die Bundesregierung heraus. Ich fordere Sie auf, hier endlich Farbe zu bekennen! Wenn Sie mit einem Veto nicht Nein zur Aufnahme von Indien sagen, dann sagen Sie Ja zu einem verstärkten Handel von Nukleartechnologie mit einem Staat, der nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrages ist und dessen Atomanlagen nicht unter dauerhafter Aussicht der Internationalen Atomenergie-Organisation stehen. Wenn Sie nicht Nein zur Aufnahme Indiens in die Nu11816 clear Suppliers Group sagen, dann bleibt auch all Ihre Freude über den Erfolg der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag im letzten Jahr letztendlich einfach nur scheinheilig. Die Bundesregierung ist dann auch verantwortlich dafür, dass der Atomwaffensperrvertrag komplett ausgehebelt wird. Mit unserem zweiten grünen Antrag, den wir heute hier vorlegen, erteilen wir deshalb dem Nuklearhandel mit Indien eine entschiedene Absage und stellen uns gegen diese auf kurzsichtigen Profit ausgerichtete Politik. Angesichts der enormen ökologischen und sicherheitspolitischen Risiken gibt es für uns nur eine Lösung: den Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland schnellstmöglich zu vollziehen und international voranzutreiben. Als eines der technologisch fortschrittlichsten Länder kann Deutschland bei dieser Überzeugungsarbeit eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn es selbst zügig und konsequent aus der Atomenergie aussteigt. ({10}) Ein grundsätzliches Umdenken hinsichtlich der weltweiten Energieversorgung anzustoßen und andere Länder durch alternative und ökologische Energiegewinnung in ihrem Streben nach Energiesicherheit zu unterstützen das könnte der wertvollste Beitrag Deutschlands zu einer atomwaffenfreien Welt sein. ({11}) Zusammendenken, was zusammengehört! Ich empfehle Ihnen, sowohl in der Energiepolitik als auch in der Abrüstungspolitik die Denkblockaden zu durchbrechen. Falls Sie dazu Denkanstöße brauchen: In beiden Fällen sind Sie bei uns, wie immer, gut beraten. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nur der Kollege Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Groschek, zu Beginn meiner Rede möchte ich auf Sie eingehen. Erstens. Sie haben gesagt, der Auftritt des Bundesministers sei knapp gewesen. Der Bundesaußenminister Westerwelle hat sieben Minuten gesprochen. Sechs Minuten stehen mir zu. Wir in der FDP-Fraktion lassen eben nicht nur die Minister sprechen, sondern halten es auch für notwendig, dass die Abgeordneten an dieser sehr wichtigen Diskussion teilnehmen. Deswegen kam es bei uns zu einer Splittung der Redezeit. Sie machen das in der SPD-Fraktion vielleicht anders. Zweitens. Sie haben zu Libyen gesprochen. Lieber Herr Kollege Groschek, ich glaube, über Libyen wurde oft und ausreichend diskutiert. ({0}) Das wird die Außen- und Sicherheitspolitik natürlich weiter begleiten, und wir werden in diesem Hohen Hause auch weiter über diese Entscheidung und über weitere Entscheidungen diskutieren. Mich würde aber interessieren, was eigentlich die Position der SPD-Fraktion ist. ({1}) Als wir in der letzten Diskussion über Libyen gesprochen und hier im Hohen Hause über das Mandat abgestimmt haben, wurde auch auf mehrfache Nachfrage der FDP-Fraktion hin nicht deutlich, welche Position die SPD vertritt. Vielleicht können Sie das nachher noch aufklären. Der dritte Punkt ist: Guido Westerwelle spricht nicht als Parteivorsitzender, sondern als Außenminister. ({2}) Das sollte auch Ihnen bekannt sein. Von daher ist es richtig, dass er diese Rede gehalten hat. Frau Malczak, Sie haben gesagt, dass die Außenpolitik der Regierung in der Libyen-Frage keine klare Linie hat. Ich frage mich, ob die Politik und die Äußerungen der Grünen zu Libyen und Afghanistan eine klare Linie haben, wenn Ihre Fraktion teilweise zustimmt, sich enthält oder mit Nein stimmt. Ich glaube, dass wir solche wichtigen Themen durchaus diskutieren können, aber heute steht ein anderer wichtiger Punkt auf der Tagesordnung, nämlich der Jahresabrüstungsbericht. In den vergangenen Jahren gab es in diesem Zusammenhang nicht immer nur Positives zu berichten. Vor allem der Nichtverbreitungsvertrag, der wichtigste internationale Vertrag über die nukleare Abrüstung, war unter Druck. Dazu beigetragen haben die Tatsache, dass Proliferationsfälle bekannt wurden, die Atomtests Nordkoreas und auch die gescheiterte Überprüfungskonferenz 2005. Heute können wir sagen: Der schleichende Erosionsprozess des NVV ist vorerst gestoppt. Schon deshalb war das Jahr 2010 ein gutes Jahr für die Abrüstung. Zwei Entwicklungen haben dazu maßgeblich beigetragen: der Abschluss und die Ratifizierung des New-START-Abkommens und der Erfolg der Überprüfungskonferenz. Vor einem Jahr hat Außenminister Westerwelle an dieser Stelle zur Überprüfungskonferenz gesagt: Wir wollen einen konkreten Aktionsplan. - Genauso ist es gekommen. Ich denke, wir können sehr zufrieden damit sein, was die Bundesregierung und unser Außenminister Westerwelle geleistet haben. Ein positives Signal ist auch, dass die Gründung der Gruppe der „Freunde des NVV“ erfolgt ist und wir uns aktiv beteiligen. ({3}) Der NVV wird auch durch den New-START-Vertrag gestärkt. Er ist ein deutliches Signal dafür, dass die Staaten, die über 90 Prozent aller Kernwaffen besitzen, ihren Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag nachkommen. Auch die NATO kann und sollte Verantwortung übernehmen. Vor dem Gipfel in Lissabon gab es unterschiedliche Stimmen, die den Standpunkt vertreten haben, die NATO sei kein Abrüstungsgremium; deshalb solle man keine Abrüstungsthemen in der NATO diskutieren. Ich denke, die NATO ist ein Instrument der transatlantischen kooperativen Sicherheit. Abrüstung und Rüstungskontrolle tragen wesentlich zu mehr Sicherheit bei. Deshalb sollte auch in der NATO Raum für dieses Thema sein. Die ersten Schritte sind schon getan, und die Bundesregierung hat einen maßgeblichen Anteil daran. Vielen Dank! ({4}) Die NATO hat sich in ihrem neuen Strategischen Konzept verpflichtet, die Voraussetzungen für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen. Außerdem soll sich ein Kontrollausschuss mit abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Themen beschäftigen. Die Einrichtung dieses Ausschusses ist ein wichtiger und richtiger Schritt in die Zukunft. Es muss aber auch in anderen Fragen weitergehen. Es geht zum Beispiel um den Abzug der substrategischen Nuklearwaffen aus Europa. Dazu gab es auch einen Antrag. Wir haben das nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, sondern wir stehen auch dazu und diskutieren darüber. Die Koalition verfolgt dieses Ziel konsequent. Es ist erstaunlich, dass Sie heute so tun, als ob RotGrün nie in der Regierungsverantwortung gewesen wäre. Elf Jahre waren es bei der SPD, sieben Jahre bei den Grünen. Sie haben es nicht geschafft. Das mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf. Wichtig ist nur, dass wir gemeinsam an diesem Ziel weiterarbeiten. Umso mehr freut es mich persönlich, wenn eine große Mehrheit in diesem Haus die Bundesregierung in diesem konkreten Punkt unterstützt. Es geht auch um die Rolle der Atomwaffen in der Militärdoktrin. Hier muss sich die NATO mindestens am Nuclear Posture Review der US-Regierung aus dem letzten Jahr orientieren. Eine Gefahr für unsere kollektive Sicherheit geht aber nicht nur von der reinen Zahl der Kernwaffen aus. Eine große, vielleicht sogar noch größere Gefahr geht von der Proliferation von Kernwaffen aus. Große Sorge sollte uns auch der latente Konflikt zwischen Pakistan und Indien machen. Die Geschwindigkeit der nuklearen Aufrüstung in dieser Region ist jedenfalls beängstigend. Das vergangene Jahr hat uns gezeigt: Wer Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung will, muss auch die konventionelle Abrüstung vorantreiben. Das wird beim New-START-Folgeprozess offensichtlich. Russland hat deutlich gemacht, dass der gerade geschlossene Vertrag und erst recht ein weiteres Abkommen eng mit dem Aufbau einer amerikanischen bzw. transatlantischen Raketenabwehr verknüpft ist. Auch die Einbeziehung von substrategischen Nuklearwaffen in einen START-Folgeprozess wird wohl nur möglich sein, wenn man auch die konventionellen Kräfte einbezieht. Eine weitere wichtige Wegmarke des letzten Jahres war das Inkrafttreten des Übereinkommens über Streumunition und die erste Vertragsstaatenkonferenz dazu in Laos. Die Bundesrepublik hat bei der Aushandlung des Abkommens in Oslo eine wichtige Rolle gespielt. Auch deshalb kommt Deutschland eine besondere Verantwortung zu, wenn es darum geht, die großen Streumunitionsbesitzer an das Übereinkommen heranzuführen. Bei allen Dingen, die den Bundestag teilweise schon seit Jahrzehnten beschäftigen, sollten wir neue Entwicklungen nicht vernachlässigen. Als Beispiel will ich die Gefahren durch Cyberangriffe nennen. 2010 hat uns Stuxnet aus dem informationstechnischen Dornröschenschlaf gerissen. Alle Experten sind sich einig, dass die herkömmlichen Methoden der Rüstungskontrolle hier nicht greifen. Deshalb brauchen wir neue Ideen. Einige Vorschläge liegen auf dem Tisch, zum Beispiel zu vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen. Die Bundeskanzlerin hat angekündigt, dass die Bundesregierung eine internationale Konvention zum Verhalten im Cyberspace anstrebt. Das könnte ein erster Schritt sein. In jedem Fall sollten wir versuchen, eine Aufrüstungsspirale in diesem Bereich zu verhindern. In jedem Fall lässt sich eines sagen: Wir sind unterwegs in die richtige Richtung. In diesem Jahr muss es unsere Aufgabe sein, das Rad am Laufen zu halten, das der amerikanische Präsident mit seiner Prager Rede in Schwung gebracht hat. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Uta Zapf hat nun das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist guter Brauch, dass wir uns in einer Debatte über den Jahresabrüstungsbericht zuerst für die gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt in diesem Bereich bedanken, ({0}) aber auch für die gute Zusammenarbeit, die wir im zuständigen Fachausschuss miteinander pflegen. Wir danken auch für den Jahresabrüstungsbericht, der ein wertvolles Kompendium für alle ist, die sich in Bezug auf Abrüstung und Rüstungskontrolle orientieren wollen. ({1}) Es wurde bereits mehrfach gefragt: Ist 2010 ein gutes Jahr gewesen? Ich habe mir hier ein Fragezeichen notiert. 2010 war sowohl ein gutes Jahr als auch ein Jahr, das sehr viele Fragen aufgeworfen hat. Ich möchte das an der Nuklearfrage deutlich machen. Wir hatten 2008 und in der Folgezeit große Hoffnungen, als sich Obama insbesondere in seiner Prager Rede für eine Welt ohne Kernwaffen eingesetzt hat. Dies hat große Zustimmung gefunden, auch bei denen, die früher in der Verantwortung waren. Entsprechende Artikel wurden veröffentlicht. Es haben sich Initiativen gebildet. Wir hatten die große Hoffnung, dass dies der NATO einen Schub geben würde. Wir haben mit New START einen ersten positiven Erfolg erzielt; darüber freue ich mich sehr. Da gibt es nichts zu meckern. Aber die Tatsache, dass wir beim NATO-Konzept unserem Ziel, eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen, kein Stück nähergekommen sind, bereitet mir große Sorgen, lieber Herr Außenminister. Ich bin enttäuscht darüber, dass die Bundesregierung mit Hinweis auf die Solidarität einen Rückzieher bei den substrategischen Waffen gemacht hat; darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen. Zudem wird aus meiner Sicht die Bedeutung der Nuklearwaffen im NATO-Konzept nicht verringert. Es gibt weiterhin einen Mix aus konventionellen und nuklearen Elementen. Die nukleare Abschreckung besteht fort. Ich sehe keine Verringerung der Bedeutung der Nuklearwaffen. Wir konstatieren genauso wie die Amerikaner in der Nuclear Posture Review: Solange es Nuklearwaffen auf der Welt gibt, brauchen wir eine starke Abschreckung. - Ich glaube, dass die NATO nicht auf Nuklearwaffen zur Abschreckung angewiesen ist. Vielmehr gibt es andere Hebel und Möglichkeiten. Wir müssen zuerst einmal feststellen, welche Aufgaben wir innerhalb der NATO eigentlich haben, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts überhaupt noch eine nukleare Abschreckung nötig machen. Also: Büchel bleibt. Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die noch einmal angegangen werden muss. Frau Malczak hat schon darauf hingewiesen: Wir haben im März 2010 in diesem Haus einen gemeinsamen Antrag - weitestgehend auf der Grundlage eines SPDEntwurfs - beschlossen. Mit diesem Antrag haben wir der Bundesregierung gemeinsam umfangreiche Aufträge gegeben. Herr Präsident, Sie betonen ja immer die wichtige Rolle der Parlamente. Ich bin enttäuscht, dass diese Regierung einen Teil der darin ausgesprochenen Aufträge an die Bundesregierung nicht erfüllt hat. ({2}) Zum einen geht es um die substrategischen Waffen, die, denke ich, als Nächste an der Reihe sind. In einer Untersuchung von Pax Christi in den Niederlanden wurde der Frage nachgegangen, wie die 27 NATO-Staaten zu diesen Nuklearwaffen im Rahmen der NATO stehen. Es erweist sich, dass gerade einmal drei Staaten an diesen Waffen festhalten wollen. Nicht überraschend ist, dass einer der Staaten Frankreich ist. Aber dessen Nuklearwaffen sind ja von der nuklearen Integration der NATO überhaupt nicht betroffen. Ich denke also, dass man hier offensiver vorgehen kann, und wünsche mir, dass die Bundesregierung das in der Folge auch tut. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, zu sagen: Wir brauchen diese Waffen in Europa als Unterpfand, wenn wir in Verhandlungen mit den Russen über deren taktische Nuklearwaffen eintreten. - Die Russen haben ganz deutlich zur Bedingung gemacht, dass die Waffen der USA von fremder Erde abgezogen werden. Wir haben also in den Folgeverhandlungen, die die Amerikaner schon angekündigt haben und die diese taktischen Waffen thematisch beinhalten werden, die Möglichkeit, auf den Abzug zu dringen. Ich denke, das sollte unbedingt erfolgen. Das Ganze steht natürlich auch im Zusammenhang mit der angekündigten Defence and Deterrence Posture Review der NATO. Wir sollen also innerhalb der NATO analysieren, wie wir uns in Bezug auf Abschreckung und Verteidigung aufstellen. Das ist eine umfangreiche Aufgabe. Leider sehe ich nicht, dass diese Bundesregierung eine Vorstellung davon hat, wie das aussehen soll. Meines Erachtens sollte das Konzept ohne Nuklearwaffen auskommen. Meines Erachtens könnte, wie Kollege Kiesewetter gesagt hat, eine zivile Komponente, die ja auch Bestandteil der Strategie ist, enthalten sein, um militärische Mittel eben erst als letzte Möglichkeit einsetzen zu müssen. Es gibt einen Arbeitsplan dafür. Danach sollen bis September 2011 die Terms of Reference aufgestellt werden, die darstellen, worüber wir in dieser Posture Review, bei der Aufstellung der NATO überhaupt reden. Ich denke, das sollte in einer transparenten Art und Weise geschehen, wie dies auch zu Beginn bei der Formulierung der NATO-Strategie der Fall war. Ich sehe das aber bisher nicht und fordere die Regierung daher auf, uns mitzuteilen, wie sie diese Entwicklung sieht. Das Zweite ist - das ist etwas sehr Positives -, dass jetzt der Ausschuss für Rüstungskontrolle und Abrüstung eingesetzt worden ist. Das geschah im Übrigen auf eine Initiative von Frank-Walter Steinmeier als Außenminister. Es hat lange gedauert, bis das in der NATO überhaupt angekommen ist. Der Vorgänger von Rasmussen hat ja noch gesagt, das Thema Abrüstung habe mit der NATO überhaupt nichts zu tun. Ich finde deshalb, die Einsetzung dieses Ausschusses ist schon sehr erfreulich. Das muss aber mit Leben erfüllt werden. Was soll dieser Ausschuss überhaupt machen? Wer sitzt in diesem Ausschuss? Welches Programm haben sie? Wie wird das kommuniziert? Werden die Russen einbezogen? Das wäre ja ein ganz wichtiger Bestandteil der Agenda für diese Arbeitsgruppe. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Ich begrüße es, dass wir auf der Review-Konferenz einen breiten Konsens gefunden haben, wozu sicherlich auch beigetragen hat, dass die amerikanische Regierung eine völlig andere Position eingenommen hat. Wir haben uns in unserem gemeinsamen Antrag dafür ausgesprochen, dass sich diese Regierung proaktiv an der Diskussion über Ansätze für eine Welt ohne Nuklearwaffen beteiligt und sich für eine Konvention zur Ächtung der Atomwaffen einsetzt. Der Entwurf einer solchen Konvention liegt auf dem Tisch. Darüber wird in der VN-Generalversammlung in regelmäßigen Abständen abgestimmt. Die deutsche Regierung hat immer dagegen gestimmt. Auch diesmal, nach der gemeinsamen Entschließung dieses Parlaments, hat sie dagegen gestimmt. Ich halte das nicht für richtig, Herr Außenminister. ({3}) Das Parlament hat beschlossen, dass das ein vernünftiger Weg ist. Deshalb hätten Sie zustimmen müssen. Noch viel besser wäre es, sich dem anzuschließen, was Ban Ki-moon erbittet: dass dafür gesorgt wird, dass eine Gruppe die Rahmenbedingungen beraten kann. Herr Außenminister, Sie haben im Zusammenhang mit CTBT, also mit dem Vertrag über ein Verbot der Erprobung von Nuklearwaffen, von Indien gesprochen. Sie haben gesagt, Sie wollen Indien an den Nichtverbreitungsvertrag heranführen. Das ist zwar ein sehr begrüßenswertes Unternehmen; nur das allein genügt nicht. Wir müssen Pakistan und auch Israel ins Boot holen. Ohne Israel wird es nicht gelingen - auch Sie engagieren sich dafür, jedenfalls nach Ihrer Aussage -, eine nuklearwaffenfreie Zone im Nahen Osten zu schaffen. Wo bleibt das EU-Expertenseminar zu einer solchen nuklearwaffenfreien Zone, das 2011 eingerichtet werden soll? Ich glaube, dass es trotz der veränderten Rahmenbedingungen in Nordafrika wichtig ist, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Zapf!

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Wenn nichts passiert, dann wird die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag genauso ein Desaster wie die Überprüfungskonferenz im Jahre 2005 sein. Wir und auch Sie, Herr Außenminister, sind in der Pflicht, das zu verhindern. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, Sie haben hier wieder rhetorische Plakate aufgehängt. Am Beitrag der Kollegin Zapf konnten Sie sehen, wie man mit diesem Thema angemessen umgeht. ({0}) Hier handelt es sich tatsächlich um eine Baustelle, an der man hart, konsequent und dauerhaft arbeiten muss. Wirkliche Fortschritte werden weder durch ein deutsches Gesetz noch durch einen Willensakt aus dem Deutschen Bundestag oder der deutschen Bundesregierung erzielt, sondern nur durch konsequente Arbeit. Liest man diesen Abrüstungsbericht, stellt man fest: Herr Steinmeier als Außenminister hätte sich gefreut, wenn er so etwas in einen solchen Bericht hätte schreiben können. ({1}) - Nein, keine Luftblasen. - Im Unterschied zu früher enthält dieser Bericht keine Regierungsprosa mehr, sondern beschreibt konkrete Fortschritte, konkrete Maßnahmen. Er zeigt, dass weitergearbeitet wird und dass man vorankommt. Nehmen wir die Umsetzung des Ottawa-Abkommens. Auch wenn sie mit Verzögerungen und anderen Schwierigkeiten einhergeht, zeigt sich, dass konkret etwas passiert. Ich sehe keinen Grund, dem ehemaligen Außenminister Vorwürfe zu machen. Die Umsetzung dieses Abkommens braucht seine Zeit; denn es bedarf bestimmter Konstellationen. Nur in einer bestimmten historischen internationalen Situation, kann man weiterkommen. ({2}) - Ja. Aber auch in dieser Hinsicht ändern sich Situationen und gibt es neue Ansatzpunkte und Überlegungen. Ich finde es ausgesprochen bedauerlich und in der Sache nicht förderlich, wenn es mit Blick auf die Erreichung politischer Ziele, über deren Richtigkeit sich die Republik im Prinzip einig ist - was die Instrumente angeht, sind die Auffassungen logischerweise kontrovers -, nicht möglich ist, einmal eine Debatte ohne populistische Ausfälle wie die zu führen, die sich Herr Groschek hier heute leider geleistet hat. Willy Brandt hätte sich, wenn er hier gesessen hätte, für Ihre Rede heute Morgen geschämt. ({3}) Warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, sich gemeinsam darüber zu freuen, dass wir an konsensfähigen Zielen gemeinsam arbeiten? Warum sollte es nicht möglich sein, im Deutschen Bundestag an bestimmten Stellen - ich glaube, Abrüstung ist eine solche Stelle die Außenwahrnehmung Deutschlands in die innenpolitische Debatte zu übertragen? Fragen Sie doch die Kollegen aus unseren europäischen Partnerländern oder aus der NATO, wie sie Deutschland in dieser Rolle sehen. Ihre Sicht hat mit dem, was Sie, Herr Gysi, sagen, nichts zu tun; denn da sind wir diejenigen, die beim Thema Abrüstung vorangehen. Wir sind diejenigen, die auf diesem Gebiet fordern, Konzepte haben und Überlegungen einbringen. Sie werden die Partner nicht zwingen können, auch nicht durch noch so viele rhetorische Plakate dazu; das wird nur durch kontinuierliche Arbeit gelingen. Ich glaube, wir spielen hier eine sehr positive Rolle, und das hat Tradition. „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen“, heißt es im Schuman-Plan. Dieser Gedanke stand ganz am Anfang der europäischen Entwicklung. Er ist doch durchgängige Politik, und zwar über alle Regierungswechsel hinweg. Abrüstung und Rüstungskontrolle bilden Bausteine für eine globale Sicherheitsarchitektur der Zukunft, heißt es im Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode. Was der Außenminister vorgetragen hat, zeigt, dass das nicht nur in einer Vereinbarung steht, sondern dass daran konkret mit den Kräften gearbeitet wird, die Deutschland mobilisieren kann. „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, heißt es in der Präambel des Grundgesetzes. Meinen Sie denn wirklich, dass wir alle in diesem Haus diesen Auftrag nicht ernst nehmen? Dass der eine populistisch geschickter ist und die anderen mehr die Arbeit verrichten, ist vielleicht eine gerade noch tolerable Arbeitsteilung im Parlament. Es wird aber der Aufgabe und dem Auftrag, den wir aufgrund unserer Verfassung haben, nicht gerecht. Ich glaube, es versteht sich von selbst, dass - auch im Sicherheitsrat - Fragen der Nichtverbreitung und der Abrüstung als Kernanliegen der deutschen Außenpolitik eine wesentliche Rolle spielen. Der Antrag der SPD, wenn man ihn genau liest, dokumentiert eigentlich das Einverständnis mit der Praxis der Bundesregierung. Insofern ist er vielleicht nicht unbedingt nötig. ({4}) Der Rüstungsexportbericht, Herr Kollege Gysi, zeigt im Übrigen, dass es nicht je nach Regierung beliebige Wechsel gibt, sondern dass es Richtlinien gibt, an die man sich hält, und dass es Kriterien gibt, die allerdings nicht einfach abzuwägen sind. Auch Sie müssten, wenn Sie in der Rolle wären, zu entscheiden, ({5}) bei jeder einzelnen Entscheidung die unterschiedlichsten Aspekte abwägen. Das ist etwas, was man nicht pauschal sagen kann. Deshalb muss man der Bundesregierung bzw. den Bundesregierungen attestieren, dass sie bei ihrer restriktiven Rüstungsexportpolitik verantwortlich gehandelt haben. Im Nachhinein sieht man immer auch Fehler. Aber Sie müssen sich einmal mit der Zusammensetzung dessen, was aus Deutschland exportiert wird, beschäftigen, und Sie dürfen im Übrigen nicht - wie in Ihrer Rede dauernd geschehen, Herr Gysi - Rüstungsgüter, Waffen und Ähnliches durcheinanderwerfen, wenn Sie in die Einzelheiten gehen. ({6}) Wir sehen im Hinblick auf den vorliegenden Rüstungsexportbericht - wir sind uns übrigens einig, dass wir ihn etwas früher haben wollen; das haben wir bei jeder Debatte hier angemahnt, egal unter welcher Regierung -, dass sowohl bei den einzelnen Ausfuhrgenehmigungen wie bei den Sammelausfuhrgenehmigungen die Zahlen zurückgegangen sind. Auch die tatsächliche Ausfuhr ist zurückgegangen. Wir engagieren uns im Rahmen einer internationalen Initiative wirkungsvoll im Bereich der Kleinwaffen. Ich glaube, dass das ein ähnlicher Erfolg werden kann wie bei den Antipersonenminen. Aber auch das wird nicht von selbst und von heute auf morgen gehen, sondern es wird der Anstrengung vieler bedürfen. Dem Antrag der Grünen kann man in dieser Absolutheit nicht zustimmen, aber man sollte darüber reden. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, ihn in anderer Form wieder einzubringen. Die Commerzbank bietet Fonds an, bei denen Anlegern garantiert wird, dass keine Investitionen im Rüstungsbereich finanziert werden. ({7}) Warum sollte man anderen nicht vorschlagen, das als Beispiel zu nehmen, und so diejenigen, die vorangehen, sozusagen belohnen? ({8}) Meine Damen und Herren, es ist noch Gelegenheit, über Libyen zu reden. Wer in dieser Woche die Debatten bei der WEU verfolgt hat, in denen das eine Rolle gespielt hat, der konnte feststellen, dass die Begeisterung über das, was man da unternimmt, bei manchen unserer Freunde schon stark gelitten hat - die Überzeugung davon ebenso - und dass plötzlich Nüchternheit eingekehrt ist, was die Ziele, die Mittel und das angeht, was man tatsächlich machen kann. Von daher tun wir gut daran, zu sagen: Ja, wir haben das richtig entschieden. - Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch bereit sein müssen, humanitäre Einsätze zu sichern; denn man kann in bestimmten Situationen Hilfe nicht ohne einen solchen Schutz leisten. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion. ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur heutigen Debatte liegt auch der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse für Frieden und Abrüstung“ vor. Die Wahl Deutschlands in den UN-Sicherheitsrat für zwei Jahre war ein Zeichen der international hohen Anerkennung, die sich Deutschland im vergangenen Jahrzehnt und davor erarbeitet hatte. Bereits nach drei Monaten steht die BundesregieHeidemarie Wieczorek-Zeul rung und mit ihr Außenminister Westerwelle vor einem Scherbenhaufen ihrer internationalen Politik - isoliert von wichtigen Verbündeten, belächelt und verspottet. ({0}) Für das Ziel - erklärtermaßen ein ständiger Sitz im UNSicherheitsrat für Deutschland - ist das eine absolute Katastrophe. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, insbesondere politische Schwerpunkte bei den anstehenden Abrüstungsfragen in den Vereinten Nationen zu setzen. Ich will drei Punkte nennen: Erstens, Streumunition. Das Übereinkommen - die Kollegin Malczak hat das vorhin angesprochen - ist am 1. August letzten Jahres in Kraft getreten. 108 Staaten haben das Übereinkommen unterzeichnet; 46 haben es bereits in nationales Recht umgesetzt. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten, keine Streumunition herzustellen oder einzusetzen, sie auch nicht zu unterstützen. Wir alle wissen, dass Streumunition deshalb besonders gefährlich ist, weil sie durch Blindgänger noch nach Jahrzehnten Menschen tötet. In vollem Umfang trifft das Zivilisten und besonders Kinder. Die Zahlen besagen, dass weltweit rund 85 000 Menschen Opfer von Streubomben und Blindgängern werden. Dennoch sind einige Länder - Sie haben es angesprochen - diesem Übereinkommen bisher nicht beigetreten. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Übereinkommen zum Verbot von Streumunition umzusetzen und vor allen Dingen Haushaltsmittel bereitzustellen, um die Opferfürsorge zu finanzieren. ({1}) Das ist bisher nicht geschehen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auch für ein vollständiges Verbot von Streumunition einzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Länder Russland, USA, China, Indien und Pakistan diesem Übereinkommen beitreten. Zu den Verhandlungen in Genf liegt ein Protokoll vor. Dieses Protokoll fällt hinter die Oslo-Bestimmungen zurück. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass das Oslo-Abkommen nicht ausgehöhlt wird und dass Streubomben nicht wieder legitimiert werden. ({2}) Das ist ein aktueller Konflikt, der ansteht. Ich unterstütze nachdrücklich die Forderung, Investitionen in Hersteller von Streumunition zu verbieten. Recherchen von Nichtregierungsorganisationen zeigen in der Tat, dass Banken und Versicherungen in diesen Bereichen Investments vornehmen. Wir fordern, dass jedwedes Investment in völkerrechtswidrige Waffen per Gesetz verboten wird. ({3}) Zweitens zu den sogenannten Kleinwaffen. Auch hier muss man sich noch einmal den Umfang vergegenwärtigen. Der globale Handel mit Schusswaffen übersteigt - Schätzungen zufolge - jährlich 6 Milliarden US-Dollar, und es sind noch einmal rund 4,3 Milliarden US-Dollar für Munition. Der illegale Handel ist dabei naturgemäß nicht eingerechnet. Im Jahr 2012 findet die Überprüfungskonferenz des UN-Aktionsprogramms gegen den Transfer von kleinen und sogenannten leichten Waffen statt. Das ist eine konkrete Aufgabe, vor der die Bundesregierung steht; denn diese Konferenz muss endlich ein Erfolg werden. Sie hat dieses Mal bessere Chancen, weil die USA in diesen Fragen kooperativer sind. Die Chancen sind also gestiegen. Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie die Themen „Kindersoldaten“ und „Kinder in bewaffneten Konflikten“ in der UN besonders voranbringen will. Es gibt keine wichtigere Voraussetzung dafür, als den Strom der Kleinwaffen zu verhindern. Deshalb erheben wir diese konkrete Forderung. ({4}) Der dritte und letzte Punkt aus einer Fülle von Punkten: Deutschland muss sich aktiver um die Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 bemühen, die vor rund zehn Jahren verabschiedet worden ist. In dieser völkerrechtlich verbindlichen Resolution wird unter anderem auf allen Ebenen die verstärkte Einbeziehung von Frauen in Friedensprozesse gefordert. Im Oktober 2010 hatten erst 23 Staaten einen notwendigen Aktionsplan verabschiedet. Der Deutsche Bundestag hat gefordert, dass es einen gemeinsamen deutschen Aktionsplan geben muss. Angesichts des Elends und der Gewalt in der Welt, die gerade in Kriegen und Bürgerkriegen gegen Frauen ausgeübt wird, ist dies eine wichtige gemeinsame Aufgabe, zu der ich uns gemeinsam aufrufe. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Umsetzung der Vision einer Welt ohne nukleare und andere Arten von Massenvernichtungswaffen ist ein Generationenprojekt. Es ist kein Thema wie andere Themen, die man sich vielleicht für eine Legislaturperiode vornimmt, um dann darauf hinzuarbeiten, innerhalb dieser einen Periode einen Haken daran zu setzen. Nichtsdestotrotz stehen wir zu unserer Verantwortung, unsere aktive Zeit dafür zu nutzen, diesem Ziel Stück für Stück näherzukommen. Das Ziel wird aber nie erreicht werden, wenn man sich nur auf die Waffen selbst konzentriert. Es muss in erster Linie darum gehen, in internationalen Bündnissen Rahmenbedingungen zu schaffen und Vertrauen herzustellen, sodass diese Waffen irgendwann einmal von selbst überflüssig werden. So betrachtet, war das Jahr 2010 ein gutes Jahr. Der Abschluss und die Ratifizierung des neuen START-Vertrags zwischen den USA und Russland markieren einen weiteren Schritt der Annäherung und Kooperation zwischen den beiden Ländern. Mit dem Vertrag wurden Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen beschlossen und neue Obergrenzen für die strategischen Arsenale festgelegt. Der Vertrag ist aber auch ein Signal für die Welt. Das sichtbare Bemühen um nukleare Abrüstung bei beiden Mächten des Kalten Krieges hebt die Bedeutung des Themas auf der internationalen Bühne. Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht ist es aber mindestens genauso wichtig, dass jetzt in einem nächsten Schritt wieder Bewegung in die Verhandlungen mit Russland über die konventionellen Streitkräfte kommt. Die NATO hat im letzten Jahr ebenfalls ein Signal gesetzt: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind wesentliche Elemente des neuen strategischen Konzepts, das im November in Lissabon beschlossen wurde. Erstmalig in ihrer Geschichte hat sich die NATO dem Ziel verschrieben, Voraussetzungen für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen. Das ist auch ein großer Erfolg der diplomatischen Bemühungen der Bundesregierung. Frau Zapf, die Arbeit auf Ebene der NATO geht ja nun weiter mit der Einrichtung des Abrüstungs- und Rüstungskontrollausschusses und der umfassenden Überprüfung des NATO-Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs. Ihr Vorwurf, dass da jetzt nichts mehr passiert, trifft also nicht zu. Natürlich sind das alles kleine Schritte, genauso wie zum Beispiel der Dialog zwischen der NATO und Russland im NATO-Russland-Rat. Aber die Abrüstung innerhalb der NATO und innerhalb Russlands ist nur die eine Seite. Daneben steht - das ist die weitaus konkretere Gefahr - das Streben nach Atomwaffen vor allem in Ländern wie Iran, Syrien oder Nordkorea. Nordkorea weigerte sich auch 2010 konsequent, Transparenz über sein Atomprogramm herzustellen. Im Gegenteil: Durch die Bekanntgabe einer bisher unbekannten Urananreicherungsanlage und einen Angriff auf Südkorea hat sich die Lage in der Region weiter zugespitzt. Es gibt weiter Unklarheiten darüber, was denn Israel 2007 in Syrien überhaupt bombardiert hat. Die starke Vermutung, dass es sich dabei um den Rohbau eines nicht bekanntgegebenen Reaktors handelt, wurde bisher nicht ausgeräumt. Weiterhin kritisch ist auch die Lage im Iran. Auch 2010 ist das Land nicht den Auflagen des UN-Sicherheitsrates gefolgt. Es hat sein Atomprogramm fortgesetzt, die Urananreicherung ausgebaut und mit dem Bau des Schwerwasserreaktors in Arak fortgeführt. Durch Presseveröffentlichungen im Herbst letzten Jahres haben wir erfahren, wie groß die Nervosität in der Region ist, wie groß die Angst vor der iranischen Atombombe ist und welches Konfliktpotenzial damit verbunden ist. Deutschland bringt sich hier sehr konstruktiv in die E3+3-Gespräche ein. Gesprächsbereitschaft auf der einen Seite, aber auch harte Sanktionen auf der anderen Seite, wenn das Angebot zum Dialog und zur Kooperation nicht angenommen wird, sind weiterhin der richtige Weg. Meine Damen und Herren, zu den Risiken der Proliferation kommt die Bedrohung durch den Nuklearterrorismus. Organisationen wie al-Qaida folgen nicht der Logik der Abschreckung und hätten sicher keine Hemmungen, Atomwaffen auch tatsächlich einzusetzen. Es muss deswegen alles unternommen werden, damit solche Organisationen nicht in den Besitz von Atomwaffen kommen. ({0}) Aber selbst, wenn sie nicht in den Besitz eines Sprengkopfes kommen, würde der Diebstahl von nuklearem Material zum Bau einer schmutzigen Bombe die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus auf eine ganz neue Stufe heben. Der Gipfel zur nuklearen Sicherung im April letzten Jahres war deswegen richtig und wichtig. Deutschland stellt beispielsweise bis 2012 für die Einrichtung einer Datenbank durch die IAEO für gering angereichertes Material 10 Millionen Euro zur Verfügung. Aber gerade, was die Etablierung internationaler Standards zur Absicherung von Nuklearanlagen und von Nuklearmaterial angeht, müssen wir noch dringend nachlegen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte auch nicht verschweigen, dass es jenseits der Fragen von nuklearer Abrüstung auch in anderen Bereichen der Rüstungskontrolle im Jahr 2010 wichtige Erfolge gab. Einen Erfolg möchte ich besonders herausstellen - er ist heute schon mehrfach angesprochen worden-: Am 1. August 2010 ist das Übereinkommen über Streumunition in Kraft getreten. Dies ist aus deutscher Sicht besonders erfreulich, weil wir es - auch schon während Ihrer Regierungszeit, verehrte Kollegen von der SPD - vorangetrieben haben und weil wir eines der ersten Länder waren, die diesen Vertrag unterzeichnet und im Parlament ratifiziert haben. Das Übereinkommen beschreibt einen umfassenden Verbotstatbestand für diese Art der Munition, die durch die hohen Raten von Blindgängern über Jahrzehnte hinweg noch eine Gefahr für die Bevölkerung darstellt. Es geht bei diesem Abkommen nicht nur um die Munition selbst, sondern es geht in besonderem Maße um Hilfe für die Opfer. Deutschland war wesentlich am Erfolg des Abkommens und am Erfolg der ersten Vertragsstaatenkonferenz im letzten Jahr beteiligt. Das ist aber nur ein Beispiel für die vielen deutschen Anstrengungen, die der Jahresabrüstungsbericht 2010 aufzeigt. Ich möchte allen Vertretern der Bundesregierung, aber auch allen Nichtregierungsorganisationen, die sich im vergangenen Jahr dafür starkgemacht haben, von dieser Stelle aus ganz herzlich danken. Sie alle leisten kleine Beiträge, kleine Schritte, von denen aber jeder auf dem Weg zu mehr Frieden und Sicherheit in der Welt wichtig ist. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSUFraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2010 war meiner Meinung nach, auch wenn in Frau Zapfs Manuskript an dieser Stelle ein Fragezeichen steht, richtungsweisend, was Abrüstung und Rüstungskontrolle angeht. Ich möchte deshalb gleich zu Beginn meiner Rede der Bundesregierung und allen Beteiligten für ihr Engagement und ihr nachhaltiges Handeln bei allen Bemühungen um dieses Thema und natürlich auch für das Verfassen dieses sehr ausführlichen Berichts herzlich danken. ({0}) Dass für Deutschland die Themen Abrüstung und Rüstungskontrolle von herausragender Bedeutung sind, zeigt dabei nicht allein der Umstand, dass bereits 26 Tage nach Jahresende das Kabinett den Bericht beschlossen hat, sondern vor allem auch die im Berichtszeitraum erzielten Ergebnisse. Sie sind nämlich auf einen wesentlichen Beitrag Deutschlands zurückzuführen, und sie unterstützen maßgeblich den häufig genannten und von Barak Obama eingeleiteten weltweiten Paradigmenwechsel hin zu einer nuklearwaffenfreien Welt. Nicht zuletzt prägen die aktuellen Geschehnisse - ich erinnere da an die Vorkommnisse in der arabischen Welt - auch die heutige Debatte. Durch sie wird einmal mehr auf die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle verwiesen. Dies waren und sind zentrale Bestandteile deutscher Außen- und Sicherheitspolitik und müssen es auch weiterhin sein. Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund auf einige wichtige Punkte eingehen, die speziell im deutschen Fokus stehen und auch weiterhin stehen werden. Mit Sicherheit kann dabei die Einigung auf ein Abschlussdokument der Staaten des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages als zentraler Erfolg gewertet werden. Nach, wie Sie wissen, zehnjährigem Stillstand konnte hier nicht zuletzt aufgrund der Bemühungen Deutschlands ein Konsens zu verpflichtenden Handlungsempfehlungen zur nuklearen Abrüstung gefunden werden. Deutschland hatte sich darüber hinaus intensiv dafür eingesetzt, taktische Atomwaffen, also sogenannte substrategische Nuklearwaffen, die gegenwärtig leider noch keiner Rüstungskontrolle unterliegen, in den weiteren Abrüstungsprozess aufzunehmen. Diese Diskussion steht nun auf der internationalen Agenda. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dies zu einem nicht unerheblichen Teil den Aktivitäten der Bundesregierung zu verdanken ist. Auch dafür gilt mein herzlicher Dank. ({1}) Aber auch mit Blick auf Amerika kann von einer positiven Entwicklung, was die Abrüstung bei den taktischen Atomwaffen angeht, gesprochen werden. So hat Präsident Obama - wir hörten es schon - bei der Unterzeichnung des neuen START-Vertrages erklärt, taktische Atomwaffen in zukünftige Verhandlungen mit Russland unbedingt einbeziehen zu wollen. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und ich hoffe, Russland wird diesen Weg eines Tages mitgehen. Dies soll natürlich keinesfalls die Stellung des neuen STARTVertrages abschwächen, der eine immense politische Signalwirkung für weitere weltweite Bemühungen um die nukleare Abrüstung besitzt. Er gehört neben dem Abschlussdokument mit Sicherheit zu den abrüstungspolitischen Erfolgen der letzten Zeit. Aber auch mit dem neuen Strategischen Konzept der NATO - ich bin nicht ganz der Meinung, dass sich da nichts getan hätte - und der darin formulierten Verpflichtung, Bedingungen für eine Welt frei von Atomwaffen zu schaffen, konnte 2010 ein wahrer Meilenstein zum Paradigmenwechsel bei der nuklearen Abrüstung geschaffen werden. Gerade in diesen Tagen - wir hörten es - tritt hier in Berlin im Rahmen des NATO-Außenministertreffens erstmalig der in Lissabon beschlossene Abrüstungsausschuss der NATO zusammen. Bemerkenswert ist dabei auch, dass dieses Gremium trotz der Vorbehalte einiger Partner - ich nenne da zum Beispiel Frankreich - ins Leben gerufen wurde. Ich meine, das ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt zu mehr Abrüstung auch innerhalb der NATO. Darüber hinaus war es ein zentrales Anliegen der Bundesregierung, die Krise um den KSE-Vertrag nach der bekanntermaßen langen Ruhepause zu beenden. Erfreulicherweise wurde dieses Gesprächsangebot von Russland und den anderen nicht der NATO angehörenden KSE-Staaten grundsätzlich positiv aufgenommen. Ich hoffe, dass auch hier bald Bewegung in die Sache kommt. Das Ziel sollte auf jeden Fall sein - darin kann ich die Bundesregierung nur bestärken -, noch in diesem Jahr den Einstieg in wirklich konkrete Verhandlungen, in denen Maßnahmen der Transparenz dann auch festgezurrt werden, zu schaffen. Aber es sind nicht nur die großen Ereignisse, die das Jahr 2010 abrüstungspolitisch prägten. So leistete Deutschland im Bereich der chemischen Waffen im Zuge des G-8-Programms „Globale Partnerschaft“ finanzielle und technische Hilfe für entsprechende Vernichtungsprogramme, zum Beispiel in Russland. Russische Atom-U-Boote konnten abgewrackt werden, und der Bau einer dritten Anlage zur Vernichtung chemischer Waffen, den Deutschland kofinanzierte, wurde abgeschlossen. ({2}) Und - man glaubt es kaum -: Auch bei uns wurden im Jahre 2010 die letzten Granaten des Lagerbestandes an chemischen Waffen des Ersten Weltkrieges vernichtet. Man sieht also, wie lange Abrüstung dauern kann. Das sind zwar kleine Schritte, aber handfeste und greifbare Abrüstungsschritte, die trotz der großen globa11824 len nuklearen Herausforderungen nicht unter den Tisch fallen sollten. Nicht zuletzt darf bei all diesen Fragen unser Engagement - es wurde mehrfach genannt - bei der Vernichtung von Streumunition nicht unerwähnt bleiben. Seit der Unterzeichnung der Osloer Konvention hat sich Deutschland zu einer der führenden Kräfte unter diesen Vertragsstaaten entwickelt und die Abrüstung im Bereich der Streumunition auch im letzten Jahr entscheidend mit vorangetrieben. Meine Damen und Herren, abschließend kann man zum Jahresabrüstungsbericht festhalten - auch wenn ich weiß, dass hier im Raum nicht alle derselben Meinung sind -, dass alle Bemühungen der Bundesregierung in die richtige Richtung gewiesen haben bzw. weisen. Natürlich ist Abrüstung ein schwieriger, oft auch von Rückschlägen begleiteter Prozess und natürlich sollte alles viel, viel schneller gehen, umfassender sein und mit weit mehr Erfolgen verbunden sein. Aber seien wir nicht blauäugig. Halten wir uns an die Realitäten und kämpfen wir um jeden kleinen Schritt. Alle Themen in dieser Hinsicht gilt es im internationalen Rahmen, im Verbund mit der NATO, mit Russland, mit der EU und mit anderen internationalen Gremien zu vereinbaren. Dabei müssen Abrüstungspolitik und Rüstungskontrolle immer auf Vertrauen und gemeinsamer Verständigung basieren. Alleingänge nutzen da wenig. Das ist sicherlich nicht immer der einfachste und leider nicht immer der schnellste Weg. Es ist aber sicherlich immer der nachhaltigste und ein Weg, der entscheidend zu mehr Sicherheit und zu mehr politischer Stabilität in unserer Welt führen wird. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zu den Überweisungen. Hier geht es um die Tagesordnungspunkte 26 a, d, e und den Zusatzpunkt 8. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4620, 17/4697, 17/5374 und 17/4863 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Atomwaffen unverzüglich aus Deutschland abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2214, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/116 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da- mit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenom- men. Unter dem Tagesordnungspunkt 26 c stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- schusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti- tel „Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrver- trages durch atomare Abrüstung stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/2215, den gerade genannten Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/886 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit angenom- men. Unter dem Tagesordnungspunkt 26 f geht es um die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüs- tung der Atomwaffen vorangehen“. Auch hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/2213, diesen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/122 abzuleh- nen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a und b so- wie den Zusatzpunkt 9 auf. 27 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Nie wieder Tschernobyl - Atomzeitalter been- den - Drucksache 17/5375 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Atomkraftwerke abschalten - Drucksache 17/5379 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere Energieversorgung ohne Atomkraft und eine lebendige europäische Erinnerungskultur - Drucksache 17/5366 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 25 Jahren, am 26. April 1986, wurde im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl ein Versuch durchgeführt. Es sollte nachgewiesen werden, dass der Reaktor einen Stromausfall bewältigen kann. Er konnte es nicht. Das Ergebnis war ein Super-GAU, ein Unfall, der über die Auslegung der Anlage hinausging. Das Ergebnis war die größte Katastrophe in der Geschichte der Atomenergie. Explosionen und ein Grafitbrand verbreiteten die Radioaktivität über ganz Europa. Noch am Tag darauf, am 27. April, begannen über 1 800 Hubschrauberflüge, um den geborstenen Reaktor mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschütten. Die Einwohner der Stadt Pripjat, 48 000 Menschen, wurden evakuiert. Ich selber weiß noch, wie ich am 1. Mai 1986 bei strahlendem Sonnenschein mit vielen Kindern auf dem Göttinger Markt ein Maifest feierte, und zwei Tage später die Feuerwehr Göttingen den hilflosen Versuch machte, Proben aus Pfützen zu ziehen, und zu erschreckenden Werten kam. Kurz darauf wurden Sandkästen und Sportplätze gesperrt. Ich glaube, es gibt nur wenige Ereignisse, die sich so in das Gedächtnis von Menschen einprägen, dass sie später noch sagen können, was sie an diesem Tag, als sie die Nachricht erfahren haben, gemacht und gedacht haben. Tschernobyl gehört zu dieser Art von Ereignissen. Wir müssen klar sagen: Nicht nur die damalige Sowjetunion war auf einen solchen Störfall nicht vorbereitet; auch Deutschland war nicht darauf vorbereitet. Die damalige Bundesregierung spielte die Vorgänge herunter. Ein bayerischer Minister versuchte noch, im Selbstversuch klarzumachen, dass Molkepulver doch nicht so schädlich sei. Schließlich gelang es, zehn Tage später, am 6. Mai 1986, die Freisetzung radioaktiven Materials in Tschernobyl einzudämmen. Bei diesen Arbeiten, die dann folgten, wurden über 800 000 Liquidatoren, wie sie genannt wurden, eingesetzt. Einer von denen, die damals eingesetzt worden sind, wurde jetzt gefragt, wie denn das Leben nach Tschernobyl sei. Er hat geantwortet: Es gab ein Leben vor Tschernobyl, aber es gibt kein Leben nach Tschernobyl. Es gibt nur noch ein Leben mit Tschernobyl. - Das sollten wir uns 25 Jahre danach vergegenwärtigen. ({0}) „Mit Tschernobyl leben“ heißt: mit 4 000 Toten, 400 000 Evakuierten, 1,5 Millionen Hektar Land, die nicht mehr genutzt werden können. Bis heute kostet diese Katastrophe die Ukraine 6 Prozent des Bruttosozialprodukts. Wir müssen uns die Frage stellen: Was wurde eigentlich aus Tschernobyl gelernt? Der damalige Fraktionsvorsitzende der baden-württembergischen CDU, Erwin Teufel, sagte am 18. Mai 1986 in einer Debatte im dortigen Landtag: Tschernobyl mahnt uns, wir müssen die Kernenergie ethisch neu bewerten. - Schon damals hatte Erwin Teufel recht. Wer gibt uns das Recht, die Gesundheit und das Leben von Menschen, die heute noch nicht geboren sind, in einem solchen Ausmaß zu beeinträchtigen? Woher nehmen wir uns das Recht, mit unserer Erde, mit unserer Luft, mit unserem Wasser so umzugehen und uns, um es einmal mit diesen Worten zu sagen, so an der Schöpfung zu versündigen? ({1}) Ja, seit Tschernobyl war klar, dass die Atomenergie ethisch neu bewertet werden muss. Aber betrachten wir auch die Konsequenzen, die daraus hier in Deutschland gezogen worden sind. Nach 1986 wurde zwar kein Neubau eines Atomkraftwerks begonnen - alle Projekte wurden beendet -, die im Bau befindlichen Reaktoren gingen aber samt und sonders ans Netz und erhielten unbefristete Betriebserlaubnisse. Es war nicht Erwin Teufel, der sich durchsetzte, sondern die Auffassung Helmut Kohls, der damals sagte: … die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland [gehören] mit zu den sichersten Anlagen in der Welt. … auf dieser Grundlage ist das theoretisch verbleibende Restrisiko vertretbar und die Nutzung der Kernenergie ethisch zu verantworten. Diese Auffassung stand schon damals in einem scharfen Kontrast zur Mehrheit der Bevölkerung. Es gibt seit 25 Jahren einen Konsens unter den Deutschen. Sie wollen raus aus der Atomenergie, schrittweise, aber raus. Zwei Drittel bis drei Viertel lehnen eine Technik ab, die sich als nicht beherrschbar erwiesen hat. Dieser Konsens ist erst 15 Jahre nach Tschernobyl umgesetzt worden: mit der Begrenzung der Laufzeiten, mit dem Einstieg in den Ausbau der erneuerbaren Energien, mit der rot-grünen Energiewende zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Parallel zu dem Ausbau der erneuerbaren Energien sollten bis um das Jahr 2020 herum schrittweise alle Reaktoren vom Netz gehen. Diesen Konsens, das Risiko einer Kernschmelze für Deutschland endgültig zu beenden, hat die schwarz-gelbe Koalition im Herbst vergangenen Jahres verlassen. Gegen den Willen einer übergroßen Mehrheit der Bevölkerung haben Sie den vier Betreibern ein 100-Milliarden-Euro-Geschenk gemacht und die Laufzeiten im „Herbst der Entscheidungen“ verlängert. Meine Damen und Herren, das war eine historische Fehlentscheidung. ({2}) Es war eine Fehlentscheidung gegen die Sicherheit der Bevölkerung. Es war eine Fehlentscheidung, weil Sie Gräben über eine Frage aufgerissen haben, in der in dieser Gesellschaft ein neuer Konsens entstanden war. Es war eine Fehlentscheidung - das will ich ausdrücklich sagen -, bevor in Fukushima die Kernschmelze in nicht einem, sondern in drei Reaktorblöcken einsetzte. Es war eine Fehlentscheidung, bevor erneut ein Stromausfall bewies, dass solche Anlagen Stromausfälle eben nicht verkraften können. Es war eine Fehlentscheidung, bevor in einem Hightechland mit hohen Sicherheitsstandards dieses passierte. 25 Jahre nach Tschernobyl müssen wir nun lernen, auch mit Fukushima zu leben, mit den Opfern, mit den Folgen und mit der radioaktiven Verseuchung des Pazifiks. 25 Jahre nach Tschernobyl, im Jahr von Fukushima, müssen wir aber endlich Konsequenzen ziehen. Wir müssen raus aus der Atomenergie, und zwar so schnell wie möglich. ({3}) Sie von der Koalition haben sich nun eine dreimonatige Denkpause verordnet, um Ihre gut drei Monate alte Fehlentscheidung zu korrigieren. Ich würde mir am heutigen Tag wünschen, dass Sie in diesem Fall von Erwin Teufel lernen und nicht von Helmut Kohl. Ich würde mir wünschen, lieber Herr Röttgen, dass Sie die Zeit nutzen, um eine Brücke zurück zum Konsens in dieser Gesellschaft zu bauen. Dieser Konsens ist heute übrigens ein anderer als der vor zehn Jahren, für den ich mitverantwortlich war. 30 Prozent der Bevölkerung wollen sofort raus, 27 Prozent innerhalb von fünf Jahren und 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Man kann es so sagen: Drei Viertel sind der Ansicht, wir sollten deutlich vor 2020 alle AKW stilllegen. ({4}) Wie könnte ein solcher neuer Konsens aussehen? Nehmen wir die sieben ältesten Atomkraftwerke und Krümmel endgültig und nicht nur vorübergehend vom Netz. Nehmen wir die Laufzeitverlängerung gemeinsam zurück. Koppeln wir künftig die verbleibenden Reststrommengen an das Wachstum erneuerbarer Energien. Beenden wir gemeinsam die bürokratischen Blockaden für den Ausbau der Windenergie auch in den südlichen Bundesländern. ({5}) Bauen wir gemeinsam neue Netze für eine dezentralere Energieversorgung. Investieren wir mehr und nicht weniger in Wärmedämmung, weil wir das Gas, das dadurch eingespart wird, an anderer Stelle brauchen. Sorgen wir für mehr Pumpspeicher und für mehr Elektrospeicher in Elektrofahrzeugen. Schaffen wir mehr Bioenergiedörfer. Dies alles hieße nicht nur, die Atomkraft ethisch neu zu bewerten, es würde auch unzählige neue Arbeitsplätze schaffen. Es würde den Industriestandort Deutschland stärken. Es würde unsere Versorgungssicherheit erhöhen, und es würde das Klima schützen. Ein solcher neuer Konsens, das hieße, im Jahr von Fukushima aus Tschernobyl zu lernen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition hat den bevorstehenden 25. Jahrestag des schlimmen Reaktorunfalls in Tschernobyl zum Anlass genommen, einmal mehr hier im Deutschen Bundestag eine Debatte über die Zukunft der Kernenergie zu führen. Das ist begrüßenswert, weil es Gelegenheit gibt, uns an die Geschehnisse der Nacht vom 25. zum 26. April des Jahres 1986 zu erinnern. In der Nacht des 26. April 1986 ereignete sich im Kernkraftwerk Tschernobyl der weltweit schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Es ist wichtig, dass wir uns erneut bewusst machen, dass über 350 000 Menschen - Herr Trittin sprach von 400 000 Menschen - aus den betroffenen Gebieten umgesiedelt werden mussten, und wichtig ist auch, dass wir uns an die Tausende von Menschen erinnern, die als sogenannte Liquidatoren und unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit in Tschernobyl eingesetzt waren, und ihnen für ihren Einsatz danken. Die heutige Debatte ist aber auch Anlass, auf die enorme internationale Solidarität bei der Bewältigung der Folgen des Unglücks hinzuweisen. Deutschland hat bereits erhebliche Unterstützung bei der Bewältigung der ökologischen, medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen geleistet. Wir werden diese Hilfe auch künftig fortsetzen. Hierbei geht es nicht nur um die Fortsetzung der deutschen Beteiligung am internationalen Shelter Implementation Plan, also an der Errichtung eines neuen, haltbaren Sarkophags. Enorme Unterstützung leisten auch die über 900 zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich insbesondere um Kinder aus den betroffenen Gebieten in Belarus und der Ukraine kümmern. Sie ermöglichen bis zu 20 000 von ihnen jährlich, an einem Ferienaufenthalt in Deutschland teilzunehmen. Für dieses Engagement sage ich herzlichen Dank. ({0}) Meine Damen und Herren, seit dem schweren Erdbeben vom 11. März 2011 in Japan steht Tschernobyl nicht mehr allein als Synonym für die Gefahren der Kernenergie. Erneut hat es ein schweres Unglück bei der Nutzung der Kernenergie gegeben. Vieles, was in Tschernobyl passiert ist, war bei unseren Kernkraftwerken technisch nicht möglich. Es handelte sich beim Reaktortyp in Tschernobyl um ein sicherheitstechnisch veraltetes Kraftwerk. Die Reaktoren dieses Typs in Greifswald haben wir unmittelbar nach der Wende abgeschaltet. Jetzt aber ist in Japan ein Kernkraftwerk betroffen, das in einem hochindustrialisierten Land steht. Dort sind mit dem schweren Erdbeben vom 11. März 2011 - in der letzten Nacht fand dort wieder ein Erdbeben statt - und dem dadurch ausgelösten Tsunami Ereignisse eingetreten, die so nicht vorhergesehen wurden. Das sogenannte Restrisiko hat sich in Fukushima als reales Risiko erwiesen. Die Sicherheitsannahmen und die Sicherheitsreserven in Japan sind nicht ausreichend gewesen. Aus diesen Ereignissen müssen wir Konsequenzen ziehen. Das Restrisiko auch unserer Kraftwerke muss nach den Ereignissen in Japan neu bewertet werden. Wir müssen die Sicherheit neu bewerten und mit ergänzten Maßstäben prüfen. Genau das tun wir jetzt. Meine Damen und Herren, wir werden die Sicherheitsmaßnahmen und vor allen Dingen die SicherheitsMarie-Luise Dött annahmen zu Erdbebengefahren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen, zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels oder zu terroristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu möglichen Gefahren durch Flugzeugabstürze genau prüfen. Wir werden insbesondere die Wirkungen eines möglichen Zusammentreffens verschiedener Schadensereignisse prüfen. Wir werden auch die technische Situation in den Kraftwerken genau analysieren, zum Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung und die externe Infrastruktur ausgelegt sind, und prüfen, wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Handeln, das ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürger verlassen. ({1}) Der von der Reaktor-Sicherheitskommission in der vergangenen Woche vorgelegte Anforderungskatalog umfasst alle Themen der Anlagensicherheit. Er stellt extrem hohe Anforderungen an alle Anlagen und ist der Maßstab zur Beurteilung jedes einzelnen Kraftwerks. Diese Anforderungen gehen weit über die Anforderungen eines kerntechnischen Regelwerks hinaus. Eine Anlage, bei der die Sicherheit nicht vollständig gewährleistet ist, geht nicht wieder ans Netz. Ein Kraftwerk neueren Typs, das die Anforderungen nicht erfüllt, muss nachgerüstet werden, oder es wird ebenfalls vom Netz genommen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Priorität. ({2}) Wir führen eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland. Wir wollen die Nutzung der Kernenergie möglichst schnell beenden. Wir werden im Lichte der Ereignisse in Japan prüfen, ob das schneller geht, als wir bisher angenommen haben. ({3}) Seit längerem sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien möglichst schnell erreichen wollen. Der Umbau hat bereits begonnen. Wir werden ihn noch einmal beschleunigen. Die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die in diesem Jahr ansteht, wird entsprechende Maßnahmen enthalten. Wir werden zum Beispiel dafür sorgen, dass der Ausbau der Windenergieerzeugung beschleunigt wird. Hier haben wir derzeit das wirtschaftlichste Ausbaupotenzial. Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze und Speicherkapazitäten beschleunigen. Das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz ist dafür die Grundlage. Wir werden gerade bei der Erhöhung der Energieeffizienz für schnelle Fortschritte sorgen. Insbesondere die energetische Gebäudesanierung ist hier ein wichtiger Ansatz. ({4}) Hier haben wir ein hervorragendes Kosten-Nutzen-Verhältnis mit sehr geringen CO2-Vermeidungskosten. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und sehr konkrete Vorhaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz auf den Weg bringen. Ein schnellerer Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ist nicht umsonst zu haben. Gerade deshalb muss stärker als bisher die Effizienz des Mitteleinsatzes betrachtet werden. Wir müssen den Bürgern nachvollziehbar erklären, dass der Netzausbau, die Schaffung von Energiespeichern und die Errichtung von neuen Anlagen Geld kosten. Schließlich handelt es sich um das Geld der Bürger, das sie mit der Stromrechnung bezahlen - und nicht nur die Bürger. Auch die Wirtschaft und hier insbesondere die energieintensiven Unternehmen, die ein wichtiges Element der Wertschöpfungskette in Deutschland sind, brauchen wettbewerbsfähige Energiepreise. ({5}) Der Umbau der Energieversorgung darf nicht zur Abwanderung von Unternehmen und damit zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. Das betrifft übrigens nicht nur die Preiswürdigkeit der Energie, sondern auch die Versorgungssicherheit. Klimaverträglich, sicher, preiswürdig - das bleiben auch beim Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien die Prämissen unserer Energiepolitik. ({6}) Wir wollen einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie; aber ein Umbau Hals über Kopf, nach dem Motto: „Koste er, was er wolle“, ist mit uns nicht machbar. ({7}) Meine Damen und Herren, ich hoffe sehr und bin zuversichtlich, dass die von der Bundeskanzlerin eingesetzte Ethikkommission auch dieses Thema ausgiebig diskutieren wird. Eine sichere, bezahlbare und klimaverträgliche Energiepolitik ist eine gesellschaftspolitische Frage von höchster Relevanz, und damit eignet sie sich nicht für parteipolitische Taktik. Den in Anträgen der Opposition vorweggenommenen Forderungen nach konkreten Jahreszahlen können wir heute - auch wenn es sonst an mancher Stelle Übereinstimmungen gibt - nicht zustimmen. An einem Unterbietungswettlauf darum, wer am schnellsten die Kernkraftwerke abschaltet, werden wir uns ebenfalls nicht beteiligen. Erst die gründliche Analyse, dann konsequentes Handeln - so ist unsere Reihenfolge. Ich hoffe sehr, dass die Signale der Opposition für einen offenen, sachlichen und fairen Dialog ernst gemeint sind; denn die Energiepolitik in Deutschland braucht eine langfristig stabile Perspektive. Wir sind sehr gern bereit, darüber zu diskutieren. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei den vielen Initiativen, Organisationen, Einzelpersonen und Abgeordneten, die sich seit 25 Jahren für die Opfer von Tschernobyl einsetzen und engagieren, für die Aufklärung, die es seit Tschernobyl gegeben hat, bedanken. Beispielhaft will ich das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund und die Abgeordnete Uta Zapf nennen, die in den letzten 25 Jahren sehr viel Engagement aufgebracht haben. ({0}) Selbst nach 25 Jahren ist das wahre Ausmaß von Tschernobyl immer noch nicht bekannt. Wir wissen ungefähr, wie viele 100 000 Quadratkilometer Landfläche unbewohnbar geworden sind, wir wissen, dass Hunderttausende ihre Heimat verloren haben, wir wissen, dass es viele Opfer gegeben hat; aber genau beziffern wird man es nicht können, und selbst nach 25 Jahren kommen immer noch neue Opfer hinzu. Jürgen Trittin hat es gerade schon gesagt: Viele wissen, was sie zu diesem Zeitpunkt vor 25 Jahren gemacht haben. Ich war damals knapp 15 und erinnere mich genau an diesen Tag. Ich erinnere mich auch deswegen daran, weil ich damals als Jugendlicher Fragen gestellt habe. Ich habe gefragt, warum wir auf so eine Energieform setzen und ob es keine Alternativen gibt. Ich erinnere mich daran, dass auch in Deutschland Ratlosigkeit und Unwissenheit vorherrschte, dass Mütter nicht wussten, ob sie ihren kleinen Kindern Milch geben dürfen und ob sie bestimmte Nahrungsmittel essen können oder nicht, dass viele große Angst hatten und sich große Sorgen gemacht haben und dass Antworten nur spärlich gegeben wurden. So bin ich damals übrigens politisiert worden. Hätten Union und FDP damals umgeschwenkt, dann wäre Ihnen meine Rede heute möglicherweise erspart geblieben, weil ich dann vielleicht nicht zur Politik gekommen wäre. ({1}) Ich möchte Ihnen gerne eine Aussage von Franz Alt vorlesen: Ich habe mich 25 Jahre zurückerinnert, an Tschernobyl, wo ich ganz ähnliche Bilder gesehen habe. Damals war ich als CDU-Mitglied noch ein Anhänger der Atomenergie. Ich war damals so bekloppt, den Fachleuten zu glauben, dass da nie etwas passieren kann. Erst dann habe ich angefangen, gründlich zu recherchieren, und habe gemerkt, was uns vor allem die Fachleute an Lügen erzählt haben. … sie hatten nur Angst, ihren Job zu verlieren. Wie viele Atomtechniker habe ich kennen gelernt, die gesagt haben, wir wussten alle um die Gefahren, wir haben sie nur verdrängt. Das kann natürlich keine Zukunftstechnologie sein, wenn sie auf Angst aufbaut. Dieser Mensch hat dazugelernt; viele in dieser Republik haben das leider nicht. In 25 Jahren ist trotzdem eine Menge Bewegung entstanden. Es gab ähnliche Leute, ähnliche Politiker, Wissenschaftler, die umgeschwenkt sind, die die Alternativen untersucht haben und die sich von der Atomenergie abgewandt haben. Leider gilt das vor allen Dingen für die CDU/CSU und die FDP nicht. Im Gegenteil: Vor wenigen Monaten haben Sie einen Konsens, der in diesem Land herrschte und der Frieden in dieser Politik gebracht hat, aufgebrochen. 25 Jahre nach Tschernobyl haben Sie, obwohl wir die Alternativen längst kennen und aufgebaut haben, ganz ohne Not eine Laufzeitverlängerung beschlossen, und zwar ohne die Beteiligung der Länder, ohne eine angemessene Diskussion in diesem Parlament, ohne die vielen internationalen und nationalen Organisationen mit einzubeziehen, die sich um dieses Thema schon lange verdient gemacht haben, aber natürlich nach ausgiebigen Gesprächen mit den vier Atomkonzernen. Man darf hier auch nicht von einer Brücke sprechen; denn es war klar: Es war nur eine Krücke, um die Atomenergie so lange am Tropf zu halten, wie es eben geht. ({2}) Dann gab es die Katastrophe in Fukushima, die uns noch heute in Atem hält und wahrscheinlich auch noch die nächsten Wochen, Monate und vielleicht sogar Jahre in Atem halten wird. Wir haben in der letzten Nacht erfahren, dass es wieder ein starkes Nachbeben gab und dass ein weiteres Atomkraftwerk ein Leck hat, und wir wissen nicht, wo die ganze Geschichte enden wird. Die Japaner bekommen jetzt auch langsam Angst. Die Informationspolitik ist fatal, weil sie hauptsächlich von einem Betreiber ausgeht. Ich finde, es ist ein Skandal, dass ein Unternehmen, das davon lebt, Atomenergie zu produzieren, fast eine Informationsallmacht hat, und das in einer entwickelten Demokratie. Ich halte das für ziemlich gefährlich. ({3}) Aber auf einmal wandeln sich in Deutschland und vielen anderen Ländern die Atomdinosaurier von Kritikern zu Fans der Erneuerbaren und kündigen das baldige Ende der Atomenergie an. Das sind zum Teil dieselben Personen, die uns noch vor ein paar Wochen oder Monaten als Ökospinner, Ideologen oder Panikmacher beschimpft haben. Jetzt können sie nicht schnell genug aus der Atomenergie aussteigen. Sie haben gesagt, dass es keinen Wettlauf gibt, Frau Dött. Es gibt ihn aber gerade in der CDU/CSU. ({4}) Viele Länderchefs versuchen, möglichst schnell von der Atomenergie wegzukommen, schneller als Rot-Grün es jemals beschlossen hat. Ich bin aber froh über jeden, der dazulernt. Besser spät als nie, von mir aus auch erst jetzt nach Fukushima. Dabei sollten wir aber ein paar Fragen stellen dürfen: Warum musste es erst zu einer Katastrophe in Fukushima kommen? Es gab schon vorher andere Katastrophen neben Tschernobyl. Es gab ernstzunehmende Störfälle wie 2006 in Forsmark in Schweden, einem hochindustrialisierten Land, mit einer Technik, die auch in Deutschland eingesetzt wird. Auch daraus wurden keine Lehren gezogen. Warum haben die Politiker von CDU/CSU und FDP nicht den Mut, ähnliche Worte zu finden wie Franz Alt und sich für ihre Politik zu entschuldigen? Stattdessen tun sie so, als ob das, was sie noch vor zwei Monaten gesagt haben, völlig richtig gewesen wäre. ({5}) Warum entmündigen Sie erneut das Parlament? Sie setzen Ethikkommissionen ein, die vor 25 Jahren hätten tagen müssen - unlegitimierte Kommissionen, die heute darüber bestimmen sollen, wie wir mit der Atomenergie umgehen -, statt im Parlament eine lange, ausführliche Debatte zu führen und Anhörungen durchzuführen, zu denen man die Experten hätte einladen können. Denn das Thema gehört ins Parlament. Es sollte nicht etwa en passant im Juni entschieden werden, wie wir es schon einmal erlebt haben. Warum machen Sie das nicht? Das zeigt doch, dass der Lerneffekt sehr begrenzt ist. Sie beschränken sich auf Lippenbekenntnisse, statt wirklich umzudenken. ({6}) Auch nach Fukushima gibt es den Konsens in der Atomdebatte und in der Energiedebatte nicht, den Sie uns vorzuspielen versuchen. Das ist auch ein Hinweis an die Medien; denn es gibt immer noch große Unterschiede. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Energiewende, die jetzt angeblich alle wollen, zu verzögern. Es gibt unterschiedliche Ziele und Vorstellungen über die Zeitabläufe. Es geht nicht nur darum, sieben Pannenreaktoren abzuschalten. Es geht nicht einmal darum, nur über die Atomenergie insgesamt zu sprechen. Denn eine wahre Energiewende ist eine industrielle Revolution, die ein neues Denken erfordert. Albert Einstein hat gesagt: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Deswegen müssen wir komplett umsteigen. Wir müssen die Energie effizienter nutzen und auf die Erneuerbaren umsteigen. Aber nicht nur das: Wir brauchen ein völlig neues System. Wir dürfen nicht wieder die Großstrukturen fördern. Wir müssen Energie dezentral einsetzen. ({7}) Denn eines ist klar - das ist mein letzter Satz -: Ich möchte nicht, dass einige wenige Konzerne darüber entscheiden, wie es mit der Energiepolitik läuft, und dass wir Profitdenken, das für die Konzerne notwendig ist - das kreide ich ihnen nicht an -, im Zweifel über Sicherheit, Transparenz und volkswirtschaftlichen Nutzen stellen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich sehr herzlich die Botschafterin der Ukraine, Frau Natalia Zarudna, sowie Vertreter verschiedener Tschernobyl-Initiativen begrüßen, für deren Arbeit ich im Namen des Hauses sehr herzlich danke. ({0}) Das Wort hat nun Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({1})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre nach Tschernobyl, das ist ein Anlass, sich zu fragen: Wie war es damals bei mir? - Ich war 1986 in der Oberstufe meines Gymnasiums, habe ehrenamtlich die Milchbar gemanagt und irgendwann die Erfahrung gemacht, dass ich meine Milch nicht mehr verkaufen durfte. Ich glaube, so etwas prägt junge Menschen und bringt Erkenntnisse. Bei mir hat es Skepsis gegenüber dieser Technologie bewirkt. Bei allen Abwägungen gegenüber Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit sind dies die Erfahrungen, durch die bei uns, meiner Generation, immer ein Rest von Skepsis geblieben ist, auch wenn es in den letzten 25 Jahren nicht zu einer Katastrophe gekommen ist. ({0}) Wir haben 1986 als Folge von Tschernobyl die Gründung des Bundesumweltministeriums erlebt. Die FDP beschloss im Jahr 1988, dass die Kernkraft nur eine Übergangsenergie sein kann. Seitdem wurden keine neuen Kernkraftwerke mehr in Deutschland gebaut. Ich denke, das waren die damals möglichen Konsequenzen aus Tschernobyl; denn in der Zeit standen uns die technologischen Alternativen nicht in dem Umfang zur Verfügung wie heute. Tschernobyl und die Folgen mahnen uns, menschliche Katastrophen und Tragödien ernst zu nehmen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass sich der Antrag der SPD zum größten Teil mit der menschlichen Tragödie befasst. Demgegenüber enthält der Forderungskatalog des Antrags der Grünen kein einziges Wort zum Verhältnis zur Ukraine und zu den Menschen, die immer noch unter den Folgen von Tschernobyl leiden. Ich beglückwünsche die SPD und finde es schade, dass die Grünen an dieser Stelle hinter den Erwartungen zurückbleiben. ({1}) Nach Fukushima stehen wir erneut vor einer Herausforderung. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Lehren aus Tschernobyl und Fukushima. Tschernobyl war das Ergebnis menschlicher Fahrlässigkeit in Kombination mit einer nichtoptimalen Reaktortechnik. Fukushima zeigt: Selbst wenn ein Kernkraftwerk im genehmigten Betrieb sicher betrieben werden kann, kann es äußere Einwirkungen auf den Reaktor geben, die zur Katastrophe führen. Deshalb müssen wir Lehren aus Fukushima ziehen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die deutschen Kernkraftwerke im laufenden Betrieb sicher sind und es auch immer waren, müssen wir erkennen, dass die Sicherheitsreserven der Reaktoren offensichtlich kleiner sind, als wir uns das vorgestellt haben. Es ist daher richtig, dass wir jetzt Lehren ziehen und im Rahmen des Moratoriums von drei Monaten Sicherheitsüberprüfungen nicht nur der Kernkraftwerke, sondern auch der Sicherheitsreserven und der Sicherheitsregeln angeordnet haben. ({2}) Politik muss eine weitere Lehre ziehen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein klares demokratisches Signal gegeben. Sie wollen schneller raus aus der Kernkraft. Politik muss dies erkennen und entsprechend handeln. Die FDP wird deswegen den Umbau hin zum Zeitalter der erneuerbaren Energien beschleunigen. Das Energiekonzept des letzten Jahres sieht für das Jahr 2050 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien und 0 Prozent Kernkraftstrom vor. Allerdings müssen wir jetzt möglicherweise einen anderen Pfad verfolgen. Wir müssen dieses Energiekonzept nicht auf den Müll werfen. Vielmehr geht es darum, den Umbauprozess, der bereits im Energiekonzept angelegt ist, schneller hinzubekommen. ({3}) Wie können wir ihn schneller hinbekommen? Das Hauptproblem bei den erneuerbaren Energien ist nicht, dass wir nicht schnell genug Kapazitäten aufbauen können. Das Hauptproblem, das wir heute haben, ist, den Strom aus erneuerbaren Energien zum Verbraucher zu bringen. Insbesondere in Norddeutschland, wo Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien effizient angewendet werden können, gibt es riesige Kapazitäten. Aber der Großteil der Verbraucher befindet sich im Süden und im Westen der Republik. Außerdem unterliegen diese Stromquellen Schwankungen. Deshalb sind Speicherung und neue Stromtrassen die Schlüsselherausforderungen für die erneuerbaren Energien. Niemand sollte so tun, als ginge es darum, ein paar Vergütungsstufen anzuheben, und schon wäre das Problem gelöst. Wir müssen umbauen, und zwar nicht nur das Energiesystem, sondern die gesamte Infrastruktur dieser Republik. Das ist eine riesige Herausforderung, die eine gemeinsame nationale Kraftanstrengung und eine gemeinsame Akzeptanzoffensive erfordert. Daraus kann sich niemand verabschieden. Da müssen wir alle gemeinsam Verantwortung tragen. ({4}) Man sollte nicht blauäugig sein und glauben, dass diese Stromtrassen, selbst wenn wir die Genehmigungsverfahren beschleunigen, in ein bis zwei Jahren da sein werden. Wir werden - das ist die bittere Wahrheit - kurzfristig Strom importieren, was wir schon tun, kurzfristig die Kohlekraftwerke und die Gaskraftwerke hochfahren und mehr CO2 produzieren. Deswegen besteht die Herausforderung vor allem darin, den Kernkraftausstieg mit Klimaschutz zu verbinden; denn die Herausforderungen des Klimaschutzes sind durch Fukushima nicht kleiner geworden. Deshalb müssen wir über das Stromsystem hinausdenken, wir müssen über das Thema Gebäudesanierung sprechen, durch die wir schneller und kostengünstig CO2-Emissionen und Erdgas einsparen können. Dafür müssen auch Finanzierungsmittel bereitgestellt werden. Meine Damen und Herren, wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir ernsthaft darangehen wollen, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit, auch für unsere Industrie, sicherzustellen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir im Fernsehen die Bilder aus Japan anschaue, dann denke ich oft an Tschernobyl. Ich war 2006 gemeinsam mit dem Umweltausschuss vor Ort. Vier Fraktionen waren dabei; die christliche konnte sich nicht entschließen, mitzufahren. Ich denke an die verlassenen Städte. Ich denke an das Riesenrad, bei dessen Anblick man sich vorstellen kann, dass dort Kinder gespielt haben. Ich denke an die Läden, die damals nach drei Tagen verlassen wurden und die wir noch sehen konnten. Ich habe das als sehr bedrückend empfunden. Das sind Eindrücke, die man nie mehr vergisst. Wir haben dort gemeinsam einen Kranz niedergelegt und uns geschworen: So etwas darf nie wieder geschehen! ({0}) Wir waren dann in einer Klinik für krebskranke Kinder. Diese Eindrücke wird man ebenfalls nie mehr vergessen. Auch dort haben wir gesagt: Nie wieder! Diesen Menschen muss geholfen werden. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis auch bei uns ein Umdenken spürbar wurde, wie es jetzt der Fall ist. Wir hatten dann im Umweltausschuss eine Anhörung zu einem Bericht der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, mit dem Titel „Tschernobyl: Das wahre Ausmaß des Unfalls“. In diesem Bericht stand - es gab aufgrund der Katastrophe 4 000 Tote, deshalb habe ich mich sehr darüber geärgert -: Die größere Bedrohung als die Langzeitbestrahlung stellen in diesen Gebieten Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Probleme dar. - Das heißt, Sie haben schon damals versucht, zu relativieren, vergessen zu machen. Wir haben darüber sehr gestritten. Es ist genau diese IAEO, die jetzt wieder das Sagen hat. 27 000 Quadratkilometer kontaminierter Boden sowie 9 Millionen Menschen in der Ukraine und in Belarus wurden betroffen, und immer noch kommen Kinder auf die Welt, bei denen die Folgen spürbar sind. Das ist nicht nichts, und deswegen müssen wir umdenken. Es gibt eine Linie: Harrisburg, Majak, Sellafield usw. Ich sage Ihnen: Das muss endlich aufhören. ({1}) Jetzt haben wir eine Zäsur. Wir haben ein Moratorium für drei Monate. Dieses Moratorium ist auch ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung, bei der ich mich hiermit bedanke. Ich sage ihr: Hört nicht auf, macht weiter so; denn wir brauchen den Atomausstieg, und wir brauchen ihn so schnell wie möglich! ({2}) Das Moratorium war auch dem Wahlkampf geschuldet. Viele Menschen haben das natürlich auch gespürt. Im November letzten Jahres gab es einen großen Streit bezüglich der Verlängerung der Laufzeiten. Wir haben Anhörungen dazu durchgeführt. Alle Fakten lagen auf dem Tisch; sie wurden diskutiert, genau wie jetzt. Aber die Koalition war beratungsresistent hoch drei. Sie wollte es nicht hören. Es hieß nur: Das ist eine Brückentechnologie, und die brauchen wir. - Es gab ein Wort, das hieß „alternativlos“. Ich denke, dieses Wort darf in der Politik nie mehr eine Rolle spielen; denn es gibt immer bessere und sichere Alternativen. ({3}) Um es noch einmal zu sagen: Ein abgeschriebenes AKW, das einen Tag länger läuft, bringt einen Profit in Höhe von 1 Million Euro. Es geht also nicht um Peanuts und um Brückentechnologien, sondern um die Profite der Konzerne. ({4}) Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass das Verbot der Atomtechnologie im Grundgesetz verankert wird. Wir wollen darüber hinaus, dass Atomtechnologie nicht mehr exportiert und auch nicht mehr finanziert wird. Wir wollen, dass der Atomausstieg nicht revidierbar ist. Ich war Abgeordnete des Bundestages, als der rotgrüne Atomkompromiss verabschiedet wurde. Meine Fraktion hat dagegengestimmt, aber nicht, weil wir gegen den Atomausstieg waren, sondern weil uns das Ganze damals zu langsam ging. Durch die vereinbarten Restlaufzeiten werden die Atomkraftwerke zu einer Art Gelddruckmaschine. Hinzu kam, dass der damals beschlossene Atomausstieg revidierbar war. Ich muss sagen: Leider haben wir mit unseren Befürchtungen recht behalten, und das, obwohl ich in diesem Punkt nicht recht haben wollte. Wir müssen den Atomausstieg unumkehrbar machen. ({5}) Machen wir uns doch nichts vor: Die Atomkonzerne stehen schon wieder in den Startlöchern. Ihre juristischen Abteilungen überlegen doch bereits, wie sie es der Politik schwermachen können, etwa indem sie Geld fordern. Aus diesem Grund brauchen wir ganz schnell neue Gesetze. Die acht vorübergehend stillgelegten AKWs dürfen nicht wieder ans Netz gehen. Der Atomausstieg muss schnell erfolgen. Zum Schluss: Eine Technologie, die nicht beherrschbar ist, darf nicht weiter angewandt werden. Derzeit nutzen wir zwei dieser Technologien: die Atomkraft und die Gentechnologie. Hinzukommen wird die CCS-Technologie, die Verpressung von CO2 in Gesteinsformationen. Diese Technologien dürfen zum Wohle der Menschen auch dann nicht weiter angewandt oder eingeführt werden, wenn dies möglich ist. Wir, die Politikerinnen und Politiker, sind gewählt, um Schaden vom Volk abzuhalten. In diesem Sinne müssen wir in Zukunft entscheiden. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gilt den Opfern unser Gedenken - vor jeder Debatte, vor jedem Parteienstreit. Die Anzahl der Opfer ist hoch. Die Zahlen machen uns sprachlos. Aber es macht keinen Sinn, über die Summen zu diskutieren. Unser Bedauern gilt jedem einzelnen Menschen. ({0}) Dem Dank an und der Anerkennung für die vielen privaten Hilfsinitiativen und ihren Spendern kann man sich nur anschließen. Bei dieser Gelegenheit muss es auch darum gehen, zu unterstreichen, was der deutsche Staat und mithin der deutsche Steuerzahler in diesem Zusammenhang zu leisten haben: Das sind für den Sarkophag 62,5 Millionen Euro, davon sind 60,5 Millionen Euro direkt für den Chernobyl Shelter Fund. Außerdem zahlt Deutschland 23,5 Millionen Euro in den Nuclear Safety Account. ({1}) Im Übrigen werden wir uns mit geschätzten 10 Prozent an der Deckung der noch bestehenden Finanzierungslücke von immerhin 740 Millionen Euro beteiligen, ganz zu schweigen von über 50 Millionen Euro, die wir anteilig über die EU bezahlen. Ich bitte Sie, es nicht als Populismus zu verstehen, wenn ich bei dieser Gelegenheit unterstreiche, dass in diesem Zusammenhang insbesondere die ehemaligen Sowjetstaaten und ganz besonders das rohstoffreiche Russland gefordert sind, nach dem Verursacherprinzip hier ihren Anteil zu leisten. ({2}) Da ich an diesem Punkt bin: Es wurden die 600 000 Liquidatoren angesprochen, die damals von der Sowjetunion ohne einen angemessenen Schutz vor der Strahlung quasi ins Feuer geschickt wurden, ohne dass sie die Strahlendosis, der sie ausgesetzt waren, gekannt hätten. Zum heutigen Tag gehört, deutlich zu sagen, dass wir alle froh sein müssen, dass das linke Sowjetregime ein Ende hatte und dass auch die Wiedervereinigung dafür Sorge getragen hat - da schütteln die Linken schon den Kopf -, dass uns auf deutschem Boden Umweltkatastrophen solchen Umfangs erspart geblieben sind. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Nüßlein. - Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass in Tschernobyl viel zu viele Menschen gestorben sind. Aber ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass es bei uns eine Initiative „Atomopfer“ gibt. Die meisten Mitglieder der Initiative sind inzwischen gestorben. In dieser Initiative haben sich Atomopfer aus Ost und West zusammengeschlossen. Es handelte sich dabei unter anderem um Leiharbeiter in den AKWs in Westdeutschland. Ist Ihnen bekannt, dass in Japan die meisten Liquidatoren, oder wie sie sich nennen, Leiharbeiter sind? Das finde ich genauso schlimm. Sie haben genauso wenig Schutz wie die anderen. Das ist ein systemübergreifendes Problem, dem wir uns widmen müssen; denn sozialistische Atomkraftwerke sind nicht besser oder schlechter als kapitalistische - das musste ich lernen -, sondern es ist die falsche Technologie. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich zunächst dafür, dass Sie meine Redezeit verlängern. Ich wäre natürlich noch auf Fukushima gekommen. Auch hätte ich betont, dass die dortige Informationspolitik nicht optimal ist. Natürlich tut man sich in einer so schwierigen Phase schwer, eine Regierung von außen zu kritisieren; aber die Informationspolitik, die dort betrieben wird, ist durchaus kritikwürdig. Es ist kritikwürdig, wie - vermutlich kulturbedingt mit den Geschehnissen - ursprünglich mit einem hohen Maß an Gelassenheit - umgegangen wurde. All das muss man durchaus kritisieren. ({0}) Liebe Kollegin, Sie werden aber doch wohl nicht leugnen, dass es in der Umweltpolitik einen Unterschied zwischen dem alten Sowjetregime und den westeuropäischen Demokratien gab. Da können Sie mit dem Waldsterben anfangen, das damals entlang der Zonengrenze besonders spürbar war. Man konnte sehen, woher das kam, nämlich von den Dreckschleudern, die in der DDR standen. Sie haben versucht, das zu einem globalen Problem hochzustilisieren. Das hing aber unmittelbar mit der Tatsache zusammen, dass man in der DDR auf die Umwelt keine Rücksicht genommen hat. - Da können Sie jetzt den Kopf schütteln, aber das ist nun einmal so. ({1}) Diese Reaktoren, die es in Tschernobyl gab, wären - das wissen Sie ganz genau - bei uns nicht genehmigungsfähig gewesen. Das unterscheidet uns aber nicht nur von Sowjetrussland, sondern auch ganz deutlich von der DDR. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefallen wird. Das verstehe ich auch; aber es ist nun einmal eine Tatsache, die zu leugnen für Sie blamabel ist. - Da sieht man wieder, wes Geistes Kind Sie nach wie vor sind. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fell?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Nüßlein, Sie haben gerade das Bild gezeichnet, dass unter den konservativen Regierungen hier im Westen eine wesentlich bessere Umweltpolitik betrieben worden wäre, ohne dass es ein Problem mit der GeHans-Josef Fell sellschaft gegeben hätte. Nur im Osten hätte es Probleme gegeben. Ist Ihnen bekannt, dass es nach der Katastrophe von Tschernobyl in Deutschland ein unglaubliches Unwissen und ein Informationsdesaster gab? Es gab unter anderem Beschwichtigungen und andere Dinge. Ich zitiere aus einem Interview des damaligen Umweltministers Zimmermann von der CSU aus Bayern. Er sagte in diesem Interview im letzten Jahr: Nach Tschernobyl haben Kohl und Schäuble täglich bei mir angerufen und verlangt: herunterspielen, die Leute sollen Gemüse essen. Das Problem mit der Radioaktivität solle nicht so in der Öffentlichkeit dargestellt werden, wie es sei. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens glaube ich nicht, dass Sie, Herr Kollege Fell, für die Informationsdefizite, die es damals ursprünglich gab - sie waren in der Informationspolitik der Sowjetunion begründet -, jetzt einen CSU-Minister verantwortlich machen wollen. Das traue ich Ihnen nicht zu. Zweitens bitte ich Sie - da Sie angeblich einer Umweltpartei angehören ({0}) und wir uns hier in einer demokratischen Vertretung des deutschen Volkes befinden -, schon auch mit einem gewissen Stolz auf das zu schauen, was wir in Westdeutschland und dann in Gesamtdeutschland geleistet haben. Sie werden doch nicht in Abrede stellen wollen, dass das, was sich in den letzten Jahrzehnten hier umweltpolitisch bewegt hat, um Klassen besser als das war, was irgendwo im Ostblock geschah. ({1}) Dazu leisten Sie, lieber Kollege, Ihren Beitrag als Abgeordneter so wie ich. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. ({2}) Lassen Sie mich nach diesem Nebenkriegsschauplatz, den ich gar nicht in dieser umfassenden Form eröffnen wollte, auf das zu sprechen kommen, worauf es ankommt, nämlich: Wie geht es weiter? Was bedeutet Fukushima für uns? Wie bewerten wir das sogenannte Restrisiko neu? Ich bitte Sie: Hören Sie auf, von Wahlkampftaktik zu sprechen! Diese Zeit ist vorbei. Sie müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, dass wir das Restrisiko neu bewerten und uns die Frage stellen, was passiert, wenn sich absolut unvorhersehbare Ereignisse duplizieren. Das wird für unsere Politik natürlich Konsequenzen haben. Ich sage ganz selbstbewusst: So gradlinig, wie Sie es gerne darstellen, meine lieben Kollegen von Rot-Grün, ist Ihre Kernenergiepolitik nie gewesen. Wenn Sie 1986 tatsächlich die Lehren gezogen hätten, die Sie hier beschreiben, wären Sie spätestens, als Sie an die Regierung gekommen sind, sofort ausgestiegen. Das haben Sie nicht getan. Sie hatten 2000 einen Hebel in der Hand, haben aber den Betrieb der Atomkraftwerke für 20 weitere Jahre in Kauf genommen, und zwar auf Basis einer Sicherheitsbetrachtung, über die wir alle uns offenkundig einig waren. Das stimmt doch wohl. Sonst hätten Sie es vermutlich nicht gemacht. ({3}) Sie haben in dem sogenannten Ausstieg, in dem Konsens, den Sie hier beschwören, ganz klar formuliert: Die deutschen Kernkraftwerke laufen auf einem im internationalen Vergleich hohen Sicherheitsniveau. Sie sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen und haben gesagt: Wir werden an diesem Sicherheitsstandard und an der zugrunde liegenden Sicherheitsphilosophie nichts ändern. Das war ein Versprechen an die Versorger. ({4}) - Sie schreien „Lüge“. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtig bei Dingen, die man schwarz auf weiß hat, die man nachlesen kann und die in dieser Vereinbarung so deutlich stehen. ({5}) - Hier geht es nicht darum, ob es mir nützt oder nicht. Ich sehe das nicht parteipolitisch, nicht einfach schwarzweiß, wie Sie das jetzt gern hätten. Sie werden sich noch ganz schön wundern, wenn Sie sehen, in welchem Maße wir bereit sind, die Energieversorgung dieses Landes umzubauen. Eine klare Lehre aus Tschernobyl muss heißen: Radioaktivität macht nicht an Grenzen halt. - Was mich am meisten umtreibt, bei aller Bereitschaft, hier im Lande etwas zu ändern, ist die Tatsache, dass in den Ländern um uns herum, wenn man einmal von Italien absieht, wenig Bereitschaft vorhanden ist, andere Wege zu gehen. Ich sage Ihnen auch ganz offen: Es trifft doch zu, dass der Import von Kernkraftstrom aus Tschechien oder Frankreich, wie er momentan stattfindet, maximal die gefühlte Sicherheit, aber nicht die tatsächliche Sicherheit erhöht. Wir werden Konsequenzen technischer wie ökonomischer Art ziehen. Wenn man das Moratorium ernst nimmt, kann man an dieser Stelle nicht vorgreifen. Aber ich sage Ihnen: Es ist schwierig, den Ausstieg in Jahren zu bemessen. Mir wäre wohler, wenn wir uns beim Ausstieg in diesem Land an Vorgaben, an Umstellungen, an Änderungen, an Strommengen orientieren würden. Es stellt sich nämlich die Frage: Was gelingt uns im Bereich der erneuerbaren Energien? Was gelingt uns beim Ausbau von Stromnetzen? Das ist mir deshalb wichtig, weil man da auch die Opposition in die Pflicht nehmen kann. Auch die Opposition muss ihren Beitrag leisten, nicht nur bei Debatten hier, sondern umfassend, wenn es wirklich um einen Konsens geht, wie ihn Herr Trittin heute angekündigt hat. Was beispielsweise den Ausbau von Infrastruktur angeht, werden wir meiner Auffassung nach über Themen wie die Abschaffung der Verbandsklage oder die Einführung eines eigenen Klageweges reden müssen, um zu einer Beschleunigung zu kommen. Wir werden die Opposition immer wieder bitten müssen, sich nicht in Bürgerinitiativen gegen Stromtrassen, Pumpspeicherkraftwerke oder Wasserkraftanlagen zu engagieren und das auf allen politischen Ebenen auch durchzustehen. ({6}) Wir müssen vom reinen Aufbau von Kapazitäten im Bereich der erneuerbaren Energien wegkommen hin zum Aufbau einer Versorgung mit erneuerbaren Energien. Das ist nicht einfach. Wir brauchen intelligente Modelle zur Netzintegration. Das wird das Kernthema des EEG sein. Wir brauchen echte Innovationsförderung statt der Besitzstandwahrung, die wir an dieser Stelle erleben. Statt der Förderung chinesischer PV-Module brauchen wir etwas, was die Innovationen hier in diesem Land voranbringt. Ich halte das EEG für ein geeignetes Instrument, um das zu tun, wenn man das eine oder andere anders akzentuiert. Dazu sind wir bereit. Das wird auch bedeuten, dass wir die eine oder andere konventionelle Ersatzkapazität brauchen. Dies geht in die Richtung effizienter Gaskraftwerke. Das muss uns klar sein. Es geht darum, Industriestrom zu produzieren, den sich die Industrie noch leisten kann. Wir werden in diesem Zusammenhang auch eine Entlastungsdebatte führen und die Frage beantworten müssen, wie wir energieintensive Betriebe, die physikalisch kein Potenzial zur Effizienzsteigerung haben, entlasten. Das bedeutet in der Konsequenz zusätzliche Belastungen von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das Ganze gibt es nicht zum Nulltarif; das muss uns klar sein. Am meisten beschäftigt mich Ihre Behauptung - die ist populär -, dass wir die Laufzeitverlängerung vereinbart hätten, um die Gewinne der Versorger zu sichern. Wir haben das gemacht, weil wir einen Weg gesucht haben, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Energieforschung zu finanzieren. Dieser Weg bricht jetzt weg. Da muss uns etwas einfallen. Das wird - auch das gehört zur politischen Wahrheit - teuer für die Stromverbraucher. ({7}) Das müssen wir uns alle merken. In diesem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPDFraktion. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte versuchen, auf das Ereignis zurückzukommen und in der Debatte einen anderen Akzent zu setzen. Man muss es wohl wirklich als tragischen Zufall bezeichnen, dass die Reaktorkatastrophe von Fukushima beinahe zeitgleich auf den 25. Jahrestag des Unfalls in Tschernobyl fällt. Tatsächlich kann man Fukushima und Tschernobyl nicht gleichsetzen; das würde der Einzigartigkeit beider Ereignisse nicht gerecht werden. Allerdings gibt es auch heute viele - wie ich finde nicht ganz unberechtigte Stimmen, die befürchten, dass auch die Ereignisse in Japan bald zu einer Episode werden und dass es zu einer Verdrängung kommen kann, wie dies nach Tschernobyl der Fall gewesen ist; ein Verdrängungsprozess, der wirtschaftliche Interessen über Sicherheitsinteressen und einen gesellschaftlichen Konsens stellt. Ich denke, wir sollten auch in dieser Debatte zum Ausdruck bringen, dass wir diesen Verdrängungsprozess in unserem Land nicht geschehen lassen wollen. ({0}) Die Opfer der Katastrophe von Tschernobyl können es sich nicht erlauben, zu vergessen. Für sie ist Tschernobyl nicht die Erinnerung an ein Ereignis vor 25 Jahren. Sie leben bis heute mit Tschernobyl und allen Folgen, wahrscheinlich noch über viele Generationen hinaus. Deswegen darf es allein aus Respekt vor den Opfern und denen, die sich dort engagieren, kein Vergessen und Verdrängen geben, weder von Tschernobyl noch von Fukushima in der Zukunft. ({1}) Tschernobyl ist auch der Ausgangspunkt einer bis heute einzigartigen Solidaritätsbewegung in Europa. In zahlreichen Ländern wurden nach der Katastrophe Vereine und Verbände gegründet, die mit ihrer Arbeit beispielhaft für bürgerschaftliches Engagement stehen. Ohne deren Engagement wären die Opfer der Katastrophe schlicht alleingelassen worden. Es waren und sind die Nichtregierungsorganisationen, die der Bevölkerung die meiste Hilfe zur Minderung der Katastrophenfolgen gewährten. Es wurden und werden heute noch zahlreiche Hilfstransporte organisiert. Krankenhäuser wurden in großer Anzahl umgebaut und neu ausgestattet. Ärztefortbildungen vor Ort haben den Alltag in Krankenhäusern verändert, und aufgrund der besseren medizinischen Versorgung konnten Leben gerettet werden. Vor allem hat mithilfe dieser Organisationen mittlerweile über 1 Million Kinder aus Osteuropa im Ausland Erholungsaufenthalte gehabt. Einige Vertreter dieser Organisationen haben heute auf der Tribüne Platz genommen. Diese Arbeit der VerOliver Kaczmarek eine und Verbände, hinter denen unbezahlbares ehrenamtliches Engagement steht, verdient deshalb höchste Anerkennung. Das wollen wir auch durch diese Debatte und durch unsere Anträge zum Ausdruck bringen. ({2}) Doch 25 Jahre nach der Katastrophe sehen sich die Tschernobyl-Initiativen mit wachsenden Problemen konfrontiert: Mangelnder Nachwuchs und ein allgemein geringeres Spendenaufkommen sind nur die eine Seite. Noch schwerwiegender sind für sie die Schwierigkeiten, mit denen sie bei ihrer Arbeit durch die belarussische Regierung konfrontiert werden. Sie behindert die zivilgesellschaftlichen Organisationen oft durch die Errichtung massiver bürokratischer Hürden. Deshalb mahnt Tschernobyl tatsächlich und ganz konkret: Es mahnt uns, unsere Verantwortung hier bei uns unter der großen Überschrift der „europäischen Verantwortung für Tschernobyl“ wahrzunehmen. Wir wollen die Menschen vor Ort nicht alleine lassen. Wir wollen an Tschernobyl erinnern und am Aufbau einer aktiven Erinnerungskultur mitwirken, gerade jetzt, wo es einen Generationswechsel in den Hilfsorganisationen gibt. Wir wollen diejenigen nach Kräften unterstützen, die es sich nicht nehmen lassen wollen, trotz diverser Schwierigkeiten weiter zu helfen, die sich nicht unterkriegen lassen. Wir als Bundestag können nämlich mehr tun, als nur Danke sagen. Wir können konkrete Unterstützung leisten. Ich will vier Elemente nennen, über die wir schon mit den Initiativen ins Gespräch gekommen sind und die diesen auch besonders wichtig sind. Erstens. Das Förderprogramm Belarus, das im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etatisiert ist, muss auch nach dem Auslaufen der fünften Förderphase über das Ende dieses Jahres hinaus verlängert werden. ({3}) Mit diesem Programm fördert das Ministerium 42 zivilgesellschaftliche Projekte, die jeweils von deutschen und belarussischen Nichtregierungsorganisationen durchgeführt werden. Das Programm ist zudem ein zentrales Element, um den Aufbau der belarussischen Zivilgesellschaft zu unterstützen. Gerade nach der Verunsicherung der Zivilgesellschaft infolge der Präsidentschaftswahlen in Belarus - ich erspare mir, darauf im Detail einzugehen ist es umso wichtiger, dass wir die Aktivitäten weiter unterstützen und deutlich machen: Wir geben Belarus nicht auf. ({4}) Zweitens. Wir müssen Wege finden, den Austausch mit Kindern und Jugendlichen, die heute immer noch in radioaktiv belasteten Regionen leben, dauerhaft zu sichern. Dabei ist es durchaus sinnvoll, mit den vorhandenen ehrenamtlichen Initiativen in Deutschland in Dialog zu treten. Von diesen ist der Gedanke eines europäischen Jugendwerkes entwickelt worden. Dieser Idee sollten wir nachgehen und sie prüfen. Wenn wir nämlich weiterhin für die Ermöglichung dieses Austausches sorgen, senden wir auch das nicht zu vernachlässigende Signal an die junge Generation in Belarus und der Ukraine: Ihr seid willkommen in Europa. Ihr seid Teil von Europa. Das ist eine wichtige Botschaft für die dort Lebenden. ({5}) Drittens. Die Staatsführung in Belarus muss die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützen; sie darf sie zumindest nicht weiter erschweren. Es ist Aufgabe der Regierung und auch des Parlaments - das erwarten wir -, Druck auf die belarussische Regierung auszuüben, damit die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wird, beispielsweise durch eine transparente und unbürokratische Vergabe von Visa. ({6}) Viertens. Erinnerung und Zukunft brauchen Orte in Belarus und in der Ukraine. Tschernobyl ist nicht in erster Linie eine Technikkatastrophe, sondern Tschernobyl ist vor allem eine menschliche Katastrophe. Es ist die Aufgabe, dauerhaft an diese Dimension zu erinnern sowie die Perspektive einer von Atomkraft unabhängigen Energieversorgung zu eröffnen. Wenn wir das schaffen, können wir auch eine dauerhafte Perspektive zum Leben mit Tschernobyl in den betroffenen Regionen ermöglichen. Meine Damen und Herren, wir können das natürlich heute hier nur anreißen und andiskutieren. Mir sind auch die innenpolitischen Umstände dieser Debatte völlig bewusst. Ich weiß, dass zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen in Tschernobyl-Initiativen, -Vereinen und -Verbänden mitarbeiten bzw. Mitglied sind. Deswegen lautet mein Appell, diese Arbeit politisch zu unterstützen. Es wäre schön, wenn wir es gemeinsam schaffen, in den von mir genannten Punkten, die auch die Initiativen betreffen, zu Lösungen zu kommen. Das könnte eine echte Unterstützung für die Menschen darstellen, die auch in Zukunft noch über viele Generationen mit Tschernobyl leben müssen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDPFraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre nach dem verheerenden Unglück von Tschernobyl ist es notwendig und richtig, dass wir uns immer wieder daran erinnern und dass wir nachdenklich bleiben. Ich habe in den drei Anträgen der Opposition unter anderem die Forderungen gefunden, dass wir unsere Unterstützung der zivilen Gruppen aufrechterhalten sollen und dass wir uns weiterhin um die von der Katastrophe betroffenen Menschen kümmern sollen. Dies findet unsere Unterstützung. Die humanitäre Hilfe und die Zusammenarbeit müssen weitergeführt werden. ({0}) Trotz der vielen guten Ansätze, die in diesen Anträgen zu finden sind, haben mich die ewig gleichen Feststellungen zur Kernkraft doch ein wenig ermüdet. In letzter Konsequenz hätten die Anträge der Grünen und der Linken die Überschrift haben können „Kraftwerke in Deutschland abschalten“. Das hat mich ein bisschen genervt. Ich war 2006 ebenso wie Frau Bulling-Schröter, Herr Müller und Herr Fell in Tschernobyl; Herr Müller gehört heute dem Parlament nicht mehr an. Wir haben dort sehr interessante Gespräche geführt. Ich habe eine vielleicht etwas andere Erinnerung daran als Frau Bulling-Schröter oder Herr Fell. An eine Sache kann ich mich besonders gut erinnern. Wir hatten ein gemeinsames Arbeitsessen mit einem Ingenieur, der ehemals in Tschernobyl gearbeitet hatte und der dort in den ersten Tagen nach der Katastrophe tätig war. Er selbst, ein Mann wie ein Schrank, war robust. Aber viele seiner Freunde sind an den Folgen des Unglücks gestorben. Wir haben uns über die damaligen Vorkommnisse unterhalten. Er hat uns erklärt, dass ein RBMK-Reaktor auf einer anderen Technik beruht als die anderen europäischen Reaktoren. In Tschernobyl wurde Grafit als Moderator benutzt, was hochgradig brennbar ist. Die anderen europäischen Reaktoren arbeiten mit Wasser als Moderator. Das kann zum Glück nicht brennen. Wir haben es also mit ganz unterschiedlichen Reaktorfamilien zu tun. Dieser Ingenieur hat uns damals weiterhin erzählt: Wir haben ein Experiment durchgeführt - es war also kein Test, sondern ein Experiment -, das wir nie hätten wagen dürfen. Wir haben nämlich die Notkühlung ausgeschaltet und am Ende vergessen, diese wieder zu aktivieren. - Es hat sich also um einen menschlichen Fehler gehandelt. Das sagt sehr viel aus über die unterschiedliche Sicherheitskultur. Natürlich wurden aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl Lehren gezogen, was dazu geführt hat, dass die Sicherheitstechnik in den osteuropäischen Ländern im Bereich des Machbaren wesentlich verbessert worden ist. Deutschland hat zu Beginn der 90er-Jahre mit dem Transfer von Know-how sehr geholfen. Auch bei uns wurden aufgrund des Reaktorunfalls die Sicherheitsanforderungen für Reaktoren verschärft und die technischen Sicherheitskonzepte verbessert. In Kiew haben wir mit dem Energieminister gesprochen. Wenn Herr Fell und auch Frau Bulling-Schröter an solchen Gesprächen teilnehmen, dann werden natürlich die erneuerbaren Energien angepriesen, und es wird angeboten, entsprechende Anlagen zu liefern. Aber der Energieminister hat uns doch eine deutliche Abfuhr erteilt, indem er darauf hingewiesen hat, dass man angesichts der Probleme bei den Gaslieferungen weiterhin auf die Kernenergie setzen will. Ich will in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen nennen; denn in den Anträgen klingt immer durch, wir könnten anderen Länder vorschreiben, mit der Kernenergie aufzuhören. ({1}) - Man kann es jedenfalls so interpretieren. ({2}) Wir müssen folgende Tatsachen ins Auge fassen: In der Ukraine gibt es vier Standorte mit insgesamt 15 Blöcken. Acht Reaktorblöcke sind seit 1986 in Betrieb gegangen; zwei befinden sich derzeit im Bau. 20 weitere Reaktorblöcke sind noch in der Planung. Das muss man sich einmal vorstellen. Ich glaube nicht - Herr Fell, vielleicht haben Sie andere Informationen -, dass bezüglich der erneuerbaren Energien eine aufgeschlossenere Haltung zu erkennen ist. ({3}) - Das ist wenigstens etwas. Dann können wir ja „ein bisschen“ beruhigter sein. Aber was ich noch sagen wollte, ist Folgendes: Auch Deutschland hat natürlich einiges getan. Wir haben sehr viel Geld in die Hand genommen. Es gibt ein internationales Forum, bestehend aus 24 Geberländern, das viel Geld bereitgestellt hat. Darunter sind auch sechs kleinere Geberländer. Japan hat zugesagt, seine Gelder trotz der Katastrophe weiterhin zur Verfügung zu stellen. Wir haben versucht, die Mittel für die Stabilisierung des zerstörten Reaktorgebäudes bereitzustellen. Es hat lange gedauert. Das Design war lange Zeit nicht bekannt. Wir erhalten auch wenig Informationen über den Fortgang des Bauvorhabens. Ich nenne einmal ein paar Zahlen zu den Folgen eines solchen Unglücks, wobei ich hervorheben möchte, dass die internationale Gemeinschaft den Betroffenen wirklich beisteht: Bei den Kosten für einen Sarkophag, also eine Hülle um den zerstörten Reaktor, ist man zunächst von 715 Millionen Euro ausgegangen. Mittlerweile geht die Kostenannahme sogar so weit, dass man wahrscheinlich 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro wird aufwenden müssen. Die Geberländer haben gesagt: Das wird schwer werden, aber wir werden dieses Geld irgendwie auftreiben. Es ist uns wichtig, dass dieses zerstörte Reaktorgebäude einen ökologisch sicheren Abschluss bekommt und dass von dort keine weitere Gefahr mehr ausgehen kann. Ich weiß, dass die beschädigte Wand mittlerweile stabilisiert worden ist, dass diese Maßnahme vollendet ist. Ich weiß auch, dass die Fundamente für die Kräne in Angriff genommen worden sind, die benötigt werden, um die Hallenbögen schaffen zu können, und dass man - optimistisch gerechnet - im Jahre 2014 die Hülle über den zerstörten Sarkophag wird schieben können. Warum erzähle ich das hier? Ich möchte darauf hinweisen, dass solche extremen Ereignisse, wie wir sie jetzt auch in Japan erlebt haben, die Hilfe der internationalen Gemeinschaft erfordern. Ich habe ein wenig betrübt feststellt - das haben viele andere auch getan -, dass die Japaner sich zunächst nicht haben helfen lassen. Ich hoffe, dass wir da jetzt ins Gespräch kommen und auch etwas tun können. Dazu rufe ich Sie alle - auch in Anbetracht der Erinnerung an Tschernobyl - auf. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben gehört, welche Folgen die Katastrophe in Tschernobyl 1986 hatte: 400 000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Rund 850 000 Menschen, sogenannte Liquidatoren, waren mit der Beseitigung der konkreten Folgen beschäftigt. 280 000 Menschen müssen bis heute in den am stärksten verstrahlten Gebieten leben. Man geht von rund 100 000 Todesfällen aus, die mittelbar oder unmittelbar mit der Katastrophe zu tun haben. Die Folgekosten werden auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar geschätzt. Aber Tschernobyl war nicht der einzige große Unfall; es gibt vielmehr eine ganze Latte. Ich möchte nur wenige aufzählen. Three Mile Island 1979: 200 000 Menschen mussten evakuiert werden. Als in Majak im September 1957 ein Tank mit radioaktiven Abfällen explodierte, starben 1 000 Menschen; 10 000 wurden verstrahlt. Im selben Jahr, einen Monat später, kam es zu einem Unfall in Sellafield, Großbritannien, der auch diverse Todesopfer zur Folge hatte. Es gibt noch weitere Unfälle. Alle diese Unfälle und Störfälle haben eines gemeinsam: Unter gravierenden Sicherheitsmängeln, oftmals verursacht durch Schlamperei, Kosteneinsparungsdruck, Profitsucht einzelner Manager in irgendwelchen Vorstandsetagen, müssen Tausende und Hunderttausende von Menschen leiden. Sie leiden nicht nur im Moment des Unglücks, sondern auch Jahre und Jahrzehnte später, oft über viele Generationen. Ihnen wird ihre Heimat, ihre Existenzgrundlage genommen. Agrarland kann nicht mehr bewirtschaftet werden. All diese Folgen sehen wir in Tschernobyl, und sie drohen in Japan jetzt auch. Landverwüstung, Opferzahlen und andere katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben eigentlich längst das Ausmaß eines permanenten Kriegsschauplatzes, der mit jedem Unfall größer wird. Mehr noch: Die Folgen der radioaktiven Dauerbelastung reichen weit in kommende Jahrhunderte hinein. Ich erinnere nur an die ungelöste Frage der Atommüllverwahrung. Von daher finde ich den Satz sehr richtig und wichtig, den der ehemalige Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag nach den Ereignissen in Fukushima in einem offenen Brief an die Umweltminister aller Staaten formulierte. Er schrieb: Deshalb sind wir die zerstörerischste Generation der Menschheitsgeschichte. Die Opfer von Katastrophen sind immer auch diejenigen, die nach dem Ereignis noch mit den Kosten behelligt werden und diese selber tragen müssen. Atomkraftwerke - das ist bereits angesprochen worden - sind nicht versicherbar. Die immensen Kosten zahlt hinterher die Bevölkerung, von der oftmals ein großer Anteil zugleich die Geschädigten sind. Allein in Deutschland wurden als Ausgleich für die durch Tschernobyl verursachten wirtschaftlichen Schäden bis Juni 2010 rund 240 Millionen Euro Entschädigungsleistungen aus Steuermitteln gezahlt. So viel zu der Frage, ob Atomkraft billig ist. Den Menschen, die von dem Unglück betroffen waren, wurden zunächst großmundige Versprechungen gemacht; letztendlich aber stehen sie alleine da und müssen mit den Folgen klarkommen. Die Entscheidung für Hochrisikotechnologien wie die Atomkraft ist nicht mit arroganten und nach Profit strebenden Konzernen zu treffen. Eine solche Frage muss vielmehr in der Gesellschaft diskutiert und demokratisch entschieden werden. ({0}) Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland hat dazu eine sehr klare Meinung. Jedes Zögern - sei es durch die Industrie oder durch uns selbst verursacht -, das Atomkraftwerke unnötig weiter am Netz lässt, ist dazu geeignet, die Risiken zu mehren. Das ist ein Bruch mit dem Postulat des Grundgesetzes, dass der Wille der Mehrheit der Bevölkerung umzusetzen ist und dass diese Umsetzung unsere Aufgabe ist. Die Respektlosigkeit, mit der zunächst gesagt wurde, das mit dem Moratorium sei doch nur zur Beruhigung gewesen, während hinterher gesagt wurde, es sei ein Protokollfehler gewesen, empfinde ich - und ich glaube, nicht nur ich - als eine Verhöhnung der Opfer von Tschernobyl und Fukushima. ({1}) Wir müssen in dieser Gesellschaft anders diskutieren. Wir müssen in der Breite diskutieren; viele Menschen fordern das berechtigterweise ein. Die Menschen tun selber etwas, indem sie zum Beispiel den Stromanbieter wechseln. Sie machen Druck, sei es, indem sie woanders Kunden werden, oder, indem sie auf die Straße gehen. Denn sie wissen: Erst wenn das letzte Atomkraftwerk vom Netz genommen und in seine Einzelteile zerlegt wurde, wenn die Verwahrung des Atommülls zumindest ansatzweise sicher geregelt ist, erst dann sind Restrisiken minimiert. Erst dann werden wir den Opfern in Tschernobyl, Fukushima und in all den anderen Orten gerecht und haben ihre Botschaft verstanden. ({2}) Dies gilt nicht nur für uns, sondern auch für die Generationen, die uns folgen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Manfred Grund für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war es wohl mit der Menschheitsbeglückung durch billigen Atomstrom. Erinnern wir uns: Zwischen 1969 und 1982 wurde in der alten Bundesrepublik Deutschland mit dem Bau von 19 Kernkraftwerken begonnen. 18 weitere waren in Planung. Regierungspartei war die SPD. Auch die DDR hatte ihre Atomkraftwerke. Im Jugendweihehandbuch Weltall Erde Mensch wurde den staunenden Kindern erklärt, dass mit einer Uranmenge in der Größe einer Eisenbahnfahrkarte der Energiebedarf einer ganzen Stadt gedeckt werden könne. ({0}) In der Zeitung Fröhlich sein und singen gab es das Atomino, um den Kindern die strahlende Zukunft zu erklären. Der Atomtraum war zuerst in der ausgehenden DDR ausgeträumt; die Anlagen wurden geschlossen und demontiert. Die Transporte aus diesen Anlagen sorgen bis heute für Ärger. Was Tschernobyl für die Ukraine und Weißrussland brachte, das wäre als Ergebnis des Uranbergbaus durch die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut über Ostthüringen und Westsachsen gekommen: verseuchte und verstrahlte Tagebaulandschaften, eine verwüstete Umwelt, unbewohnbare Städte und Dörfer. Die Beseitigung der Wismut-Altlasten hat bereits mehr als 7 Milliarden Euro gekostet, und sie kostet immer noch viel Geld. ({1}) Das ist aber gut angelegtes Geld. Aus der ehemaligen Wismut-Region sind so blühende Landschaften entstanden, ausweislich der Bundesgartenschau in Gera und Ronneburg. ({2}) Der vereinten Linken, hervorgegangen aus der Regierungspartei der DDR, fällt dazu nichts ein, ({3}) erst recht keine Entschuldigung oder ein Dankeschön an den bundesdeutschen Steuerzahler. Das hindert die Linke nicht, in ihrem Antrag die unverzügliche Stilllegung aller Atomkraftwerke in Deutschland zu fordern. ({4}) Wer wird sich, wenn es um die Weltrettung geht, schon mit der eigenen Vergangenheit aufhalten? ({5}) Ganz so nassforsch ist der Antrag der Bündnisgrünen nicht. Aber immerhin fordern sie, „auf nationaler Ebene den gesetzlichen und finanziellen Rahmen dafür zu schaffen, die Atomkraftnutzung bis spätestens 2017 zu beenden“. Die geltende Gesetzeslage sieht wie folgt aus, festgehalten im Energiekonzept der Bundesregierung vom Herbst letzten Jahres: Beim Energiemix der Zukunft sollen die erneuerbaren Energien den Hauptanteil übernehmen. Auf diesem Weg werden … die konventionellen Energieträger … durch erneuerbare Energien ersetzt. Auf dem Weg dorthin stellt die Kernenergie eine zeitliche und eine finanzielle Brücke dar. Nach Fukushima trägt diese Brücke nicht mehr. Die Energieumstellung muss wesentlich schneller gehen und wird wesentlich mehr kosten. Beides hat Konsequenzen für die Verbraucher in der Industrie und in den Haushalten, aber auch für die Politik. Einige Hausnummern zu den Kosten: Wenn sich die „grüne“ Kraftwerksleistung bis 2040 auf 120 Gigawatt verdreifachen soll, sind dafür durch die Stromkunden 100 Milliarden Euro zusätzlich aufzubringen. Mit ebenfalls dreistelligen Milliardenbeträgen wird der Umbau des Hochspannungsnetzes zu Buche schlagen. Zurzeit beträgt die Durchschnittsentfernung zwischen Kraftwerk und Großverbraucher 40 Kilometer. In Zukunft werden es 400 Kilometer und mehr sein. Nach einer Studie der dena werden insgesamt knapp 4 000 Kilometer Hochspannungsleitungen neu zu bauen sein. Ähnliches gilt für Anlagen zur Energiespeicherung, zum Beispiel Pumpspeicherkraftwerke. Auch diese müssen neu gebaut werden. Die Internationale Energieagentur rechnet für die Europäische Union für notwendige Investitionen in Kraftwerke und Netze bis 2020 mit Kosten von bis zu 1 Billion Euro. Doch ist es mit Geld allein nicht getan. Es muss auch tatsächlich gebaut und investiert werden. Wer schnell aus der Nutzung der Atomkraft heraus will und ebenso die Kohleverstromung beenden will, der muss genauso schnell für beschleunigte Planungsverfahren sorgen. Die beschleunigte Energieumstellung ist bei den jetzigen Zeiträumen für Planungsverfahren von 20 Jahren und mehr nicht zu machen. Die Bundesregierung bemüht sich auch in dieser Frage um einen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Ich hoffe, dass sich die Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken bei einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz nicht vom Acker machen oder in die grünen Büsche schlagen oder, wie in Thüringen, Demonstrationen gegen den Neubau von Hochspannungsleitungen anführen. ({6}) Das Pumpspeicherwerk Goldisthal in Thüringen kann bei Volllastbetrieb acht Stunden lang Strom liefern, was bedeutet, dass man allein zur Vollversorgung des Bundeslandes Thüringen drei Pumpspeicherwerke in dieser Größenordnung bräuchte. Selbst das Pumpspeicherwerk Goldisthal ist nur über eine Stichleitung angeschlossen. Ich sage das nicht, um zu problematisieren, sondern, um auf die Konsequenzen und die Handlungsnotwendigkeit hinzuweisen. Ich möchte, dass am Ende des beschleunigten Energieumbaus Energie für den Privatkunden bezahlbar und verfügbar ist und dass energieintensive Arbeitsplätze, wie im Zementwerk in Deuna in meinem Wahlkreis, auch nach diesem Energieumbau noch in Deutschland vorhanden sind. ({7}) Vermutlich muss auch bei anderen Strukturen weitergedacht werden. Wir brauchen ein Energie- und Rohstoffministerium; denn die jetzige Kompetenzzersplitterung führt zu strukturellen Reibungsverlusten. ({8}) Wir als Staat müssen uns überlegen, ob der Staat nicht besser wieder als Gestalter im Energiesektor tätig wird. Das heißt, der Staat würde Netze zurückkaufen oder in eigener Regie neu bauen. Das heißt auch, dass die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch stärker als bisher kontrolliert würden und dass diese Anlagen nach dem Ende ihrer Laufzeiten in staatlicher Regie zurückgebaut würden. ({9}) Nach Fukushima kann man Kernkraftwerksbetreibern weltweit so weit trauen wie der Frosch dem Storch, nämlich gar nicht. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte gehofft, dass in dieser Debatte zwei bestimmte Argumente von Kolleginnen und Kollegen der Union und der FDP nicht angeführt werden. Das eine Argument, das immer wieder genannt wird, ist, dass die Notwendigkeit des Atomausstieges in Deutschland durch den Bestand von Atomkraftwerken im Ausland relativiert wird. Ich hatte sehr gehofft, dass dieses Argument nicht vorgebracht wird. Wir hatten gestern die Gelegenheit, mit Zeitzeugen über dieses Thema zu sprechen. Gerade von Zeitzeugen aus Tschernobyl, von Menschen, die die Katastrophe erlebt haben, wird von Deutschland gefordert und erwartet, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen, dass wir die progressive Politik der vergangenen Jahre - das wurde wörtlich so gesagt, und damit ist nicht der Oktober 2010 gemeint -, dass wir das Umsteuern in Richtung Energiewende und den Ausstieg aus der Kernenergie vorantreiben und damit anderen Ländern ein Beispiel geben und helfen. ({0}) Das zweite Argument, das leider genannt wurde - es war fast zu erwarten -, ist, dass man vieles nach Tschernobyl noch nicht so genau wissen konnte, man habe erst die neue Katastrophe in Fukushima gebraucht, um dazuzulernen. Auch hier darf ich eine Zeitzeugin aus dem gestrigen Gespräch zitieren, die wörtlich gesagt hat: „Tschernobyl hat die Einstellung der Menschheit zur Kernenergie grundlegend verändert.“ Ich denke, mehr muss man zu diesen Argumenten eigentlich nicht mehr sagen. Aber ich möchte noch einmal deutlich machen, dass man nach Tschernobyl eigentlich sehr genau wissen konnte, auf welche Risiken wir uns als Menschheit eingelassen haben. Es gab - das ist schon angesprochen worden - etwa 100 000 Tote. Das sind geschätzte Zahlen, weil man es leider nicht genau weiß. Mehrere Millionen Menschen haben damals in verstrahlten Gebieten gelebt und leben dort teilweise noch heute. Knapp 2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche sind ausgefallen. Die Konsequenzen kann man auch sehen, wenn man eine Greenpeace-Studie der letzten Tage liest. Dort steht, dass Pilze aus dem Gebiet Schitomir in der Ukraine den ukrainischen Grenzwert für Cäsium um das 115-Fache überschreiten. Was das für die Ernährung der Menschen bedeutet, kann man erahnen. Wir hatten gestern in dem Gespräch die Gelegenheit, mit einer Ärztin zu reden, die uns eindringlich vor Augen geführt hat, wie viele Schilddrüsenkrebserkrankungen es in diesen Gebieten Weißrusslands und der Ukraine gegeben hat und welche katastrophalen Auswirkungen und Folgen, selbstverständlich auch Todesfälle, das in jedem einzelnen Fall, persönlich für jeden Betroffenen, hat. Das alles konnte man wissen. Das alles musste man wissen. Man musste wissen, dass 600 000 bis 800 000 Liquidatoren ihr Leben eingesetzt haben - viele von ihnen haben ihr Leben verloren -, um die katastrophalen Auswirkungen des Reaktorunglücks in Tschernobyl zu bekämpfen, so gut es mit den damaligen Möglichkeiten ging. Man konnte und musste wissen, dass 420 000 Menschen ihre Heimat, ihre Freunde, ihre Familie - alles, was ihr bisheriges persönliches Leben ausgemacht hat verloren haben. Man konnte und musste auch die volkswirtschaftlichen Folgen kennen, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Weltgemeinschaft. Wenn hier immer so getan wird, als sei Atomenergie sehr billig, muss ich sagen: Die volkswirtschaftlichen Kosten der Atomenergie kann man an dem Unfall, dem Unglück, der Katastrophe von Tschernobyl ablesen. Allein für Weißrussland wurden die Kosten auf 235 Milliarden US-Dollar beziffert. Diese Zahlen kannte man. Diese Zahlen kennt man. Ich glaube, es kommt darauf an - es wäre darauf bereits direkt nach den Ereignissen in Tschernobyl angekommen -, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Was den im Jahre 2000 beschlossenen Atomausstieg angeht, wird häufig so getan, als sei das zu wenig gewesen. Wir haben damals die unbefristete Laufzeit von Atomkraftwerken befristet und damit den Einstieg in das Ende des Atomzeitalters beschlossen. Das war eine herausragende Leistung. ({1}) Es ist egal, ob eine Atomkatastrophe durch eine Naturkatastrophe, durch technisches oder menschliches Versagen oder durch ein systemisches Versagen in einem Land ausgelöst werden kann. Man wusste, welche Folgen die Atomenergie haben kann. Der Ausstieg aus der Atomenergie, aus dieser nicht beherrschbaren Technologie, ist damals die einzig richtige Antwort gewesen, und sie ist es auch heute. ({2}) Ich finde es ganz wichtig, dass wir im Hinblick auf internationale Verantwortung und internationale Politik mit unserer Politik mit gutem Beispiel vorangehen. Von der Kollegin Brunkhorst ist angesprochen worden, dass viele Regierende in der Ukraine noch auf die Atomenergie setzen. Was man in der Ukraine aber auch feststellen kann, ist ein spannender Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung. Es gibt zunehmend mehr Menschen in der Ukraine, denen auch die Risiken der dortigen Kraftwerke und der Atomenergie generell bewusst sind. Es gibt zunehmend mehr Menschen, die auf einen schnellen Umstieg auf erneuerbare Energien und insbesondere - wer die Länder kennt, weiß das - auf Energieeffizienz setzen. Dies erwarten sie auch von uns. Hier müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen und entsprechende Programme auflegen. Zunächst einmal müssen wir aber bei uns im Lande unter Beweis stellen, dass diese Programme funktionieren. ({3}) Wir haben ein CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufgelegt; die Mittel sind um 60 Prozent gekürzt worden. Es gibt auch ein entsprechendes Programm im Hinblick auf die Gebäudeeffizienz in der Ukraine. Der Bedarf wäre riesig. Die Möglichkeiten der Umsetzung sind sehr groß. Aber wir tun zu wenig, um in diesem Bereich mit gutem Beispiel voranzugehen und dort, wo es möglich wäre, zu helfen, einen Energieumstieg, einen Umstieg hin zu mehr Energieeffizienz und erneuerbaren Energien, zu befördern. Dies ist unsere Aufgabe. ({4}) Im Hinblick auf internationale Verantwortung muss ich sagen: Es muss auch Schluss sein mit Hermesbürgschaften für die Nutzung von Atomenergie und Nuklearenergie in anderen Ländern. ({5}) Es kann doch nicht allen Ernstes unser Anliegen als Deutsche sein - wenigstens dies könnte man aus den Ereignissen in Fukushima lernen -, durch Bürgschaften den Bau von Atomkraftwerken in erdbebengefährdeten Gebieten dieser Erde zu unterstützen. ({6}) Wenn es um die richtigen Lehren aus den Ereignissen in Tschernobyl und Fukushima geht, dann ist ein zentraler Punkt, die Energiewende im eigenen Lande voranzubringen. Wir müssen raus aus der Atomenergie. Wir müssen zeigen, was man hier tun kann. Wir müssen den Energieumstieg in anderen Ländern unterstützen. Wir dürfen keine Bürgschaften für die Nutzung von Nukleartechnologie zur Verfügung stellen. All dies ist notwendig. An dem gestrigen Gespräch hat eine Zeitzeugin teilgenommen, die viel mit Schulklassen zu tun hat. Die Schulklassen stellen ihr immer eine ganz einfache Frage: Wie kann es die jetzige Generation verantworten, der nächsten Generation völlig unlösbare Probleme zu hinterlassen? - Wenn wir aus diesem Dilemma herauswollen und der nächsten Generation eine Antwort oder zumindest den Ansatz einer Antwort geben wollen, müssen wir raus aus der Atomenergie, rein in erneuerbare Energien, rein in Energieeffizienz - und das auch als Vorbild mit unserem Handeln auf internationaler Ebene zum Ausdruck bringen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Datum 26. April 1986 wird in unserer Erinnerung immer mit dem Wort Tschernobyl verbunden sein. Die Reaktorkatastrophe führte uns damals - genauso wie heute das Unglück von Fukushima - vor Augen, welche Risiken mit der Nutzung der Kernenergie verbunden sind. Ob wir bereit sind, diese Risiken zu tragen, müssen wir in diesen Tagen neu entscheiden. In Tschernobyl hat die Kombination von besonderem menschlichen Leichtsinn mit sicherheitstechnischen - oder ich sollte besser sagen: die unsicherheitstechnischen - Besonderheiten des sowjetischen Reaktortyps RBMK das Unglück ausgelöst. Wie damals gibt es auch heute eine Welle der Hilfsbereitschaft in unserem Land, getragen auch gerade von vielen privaten Initiativen, um den von den Unglücken Betroffenen zu helfen. All denen, die sich bei dieser Hilfe engagieren, danke ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich. ({0}) Wir sind uns seit einigen Jahren über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass die Kernenergie in Deutschland ein Auslaufmodell ist. Neue Kernkraftwerke wird es nicht geben. Dies wird zwar in der öffentlichen Diskussion kaum wahrgenommen, aber die einzige - ich gebe zu, heftig umstrittene - Frage ist, wie lange die einzelnen Reaktoren in Deutschland noch am Netz bleiben sollen. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben noch im vergangenen Jahr das neue Energiekonzept sehr intensiv diskutiert. Wir haben in diesem Zusammenhang eine Laufzeitverlängerung beschlossen, weil wir sie für ethisch-moralisch verantwortbar und für ökonomisch und ökologisch sinnvoll gehalten haben. Denn das Risiko eines Unfalls muss abgewogen werden gegen die Vorteile einer CO2-freien und preisgünstigen Stromerzeugung dieser Brückentechnologie. Nach dem Unfall von Fukushima haben wir innegehalten, denn für unmöglich Gehaltenes wurde Realität. Zwei Naturkatstrophen bisher nicht gekannten Ausmaßes haben zusammen dazu geführt, dass das Kernkraftwerk in Fukushima zerstört wurde. Bis heute ist in Japan die Bedrohung für Menschen und Umwelt nicht abgewendet. Wir werden jetzt die drei Monate des Moratoriums nutzen, um sowohl die Technik unserer Kernkraftwerke erneut auf den Prüfstand zu stellen als auch die Frage zu beantworten, ob wir bereit sind, das nukleare Risiko für eine bestimmte Zeit zu tragen. Die Beantwortung dieser Frage müssen wir sehr ernsthaft angehen, schon allein aus der Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Aber - das möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen - keine einzige Energieform ist nur vorteilhaft. Kernenergie enthält ein Restrisiko. Erdöl, Erdgas, Stein- und Braunkohle sind endliche Ressourcen, und ihre Verbrennung schadet dem Klima. Sonne scheint nicht immer, Wind weht nicht immer. Der Strom aus Wind und Sonne ist noch immer wesentlich teurer als der aus anderen Energiequellen. Außerdem ist auch die Produktion von Solarzellen nicht nur umweltfreundlich. Biomasse kann auf jedem Hektar nur einmal angebaut werden: entweder für Nahrungsmittel oder als nachwachsender Rohstoff für unsere Industrie als Ersatz für das knappe Öl oder eben als Energiepflanze für die Strom- und Gasgewinnung. Eine Entscheidung darüber, ob die zeitweise Weiternutzung der Kernenergie verantwortbar ist, hängt deshalb maßgeblich auch von den Alternativen ab. Denn ist es moralisch vorzugswürdig, dass weniger Nahrungsmittel angebaut werden, weil wir mehr Energiepflanzen benötigen? Der Druck auf die Land-, Forst- und Wasserwirtschaft wird wachsen, alles zu nutzen, was Land, Wald und Flüsse hergeben. Aber wollen wir wirklich den erreichten Stand an Arten- und Naturschutz gefährden? Ist es ethisch vorteilhaft, wenn wir für eine bestimmte Zeit mehr CO2 in die Atmosphäre entlassen und dadurch das Klima bedrohen? Wollen wir höhere Preise für Strom akzeptieren? Akzeptieren wir diese höheren Preise auch dann, wenn womöglich Tausende von Arbeitsplätzen wegfallen, weil besonders die energieintensiven Unternehmen, aber auch viele mittelständische Firmen in Deutschland dann nicht mehr international wettbewerbsfähig sind? Ist es schließlich richtig, dass wir in Deutschland stärker von einzelnen Energielieferländern abhängig werden? Bei dieser Diskussion muss außerdem berücksichtigt werden, dass das Leben und die Gesundheit nicht nur durch die Risiken der Kernenergie bedroht werden. Vielmehr gibt es gerade in einem Industrieland wie Deutschland vielfältige Risiken. Eine ehrliche Diskussion muss daher alle zivilisatorischen Risiken in den Blick nehmen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir müssen auch klären, wie wir erneuerbare Energien schneller als bisher gedacht aufbauen können. Aber auch hier sind die Fragen, die sich stellen, nicht einfach zu beantworten. Ich beschränke mich einmal auf fünf Fragen: Erstens. Wie können wir Strom aus Wind und Sonne speichern, damit er auch dann zur Verfügung steht, wenn die Sonne gerade nicht scheint und der Wind nicht weht? Immerhin ist das beim Wind zurzeit in über 7 000 Stunden der 8 760 Stunden eines Jahres der Fall. Bei der Sonne sind es sogar 7 910 Stunden des Jahres. Das gesamte Speichervermögen für Elektrizität aller deutschen Pumpspeicherkraftwerke kann zurzeit gerade einmal 2,5 Prozent des Tagesbedarfs an Strom decken. Zweitens. Wie transportieren wir den Windstrom dorthin, wo er gebraucht wird? Die Studien der Deutschen Energie-Agentur - sie wurden schon angeführt sprechen von bis zu 4 450 Kilometer Hochspannungsleitungen, die wir allein bis 2020 gebaut haben müssen, das heißt in weniger als neun Jahren. In den letzten acht Jahren haben wir keine 100 Kilometer realisiert. ({2}) Drittens. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass statt Strom aus deutschen Kernkraftwerken nunmehr ausländischer Atomstrom bei uns verbraucht wird? Bereits jetzt, in den ersten Wochen des Moratoriums, importieren wir Tag für Tag bis zu 50 Millionen Kilowattstunden Strom aus Frankreich und aus Tschechien. ({3}) Da dort der Strom insbesondere aus Kernkraftwerken kommt, heißt das, dass jeden Tag umgerechnet 30 Millionen Kilowattstunden ausländischen Atomstroms im deutschen Netz sind. Viertens. Wie sichern wir die Stabilität des deutschen Stromnetzes, wie verhindern wir also großflächige Stromausfälle? Bisher leben wir, was das angeht, auf einer Insel der Seligen. Bis auf im Durchschnitt 18 Minuten stand zum Beispiel im Jahre 2008 der Strom das ganze Jahr rund um die Uhr zur Verfügung. Diese Stabilität ist nicht nur für jeden Einzelnen von uns, sondern insbesondere auch für unsere Wirtschaft wichtig; denn schon durch kurze Schwankungen oder Ausfälle können hohe Schäden bei sensiblen Produktionsprozessen angerichtet werden. ({4}) Die Stabilität muss deshalb auch in Zukunft gewährleistet sein. Nach dem Abschalten von allein fünf Kernkraftwerken im Süden Deutschlands wird dort die Stabilität zurzeit aber nur durch die geschilderten massiven Stromimporte sichergestellt - auch, weil es zu wenige Stromleitungen von Nord nach Süd gibt. ({5}) Fünftens. Wie hoch ist für uns der Sicherheitsgewinn, wenn nach unserem möglichen Ausstieg allein in Europa noch über 130 Kernkraftwerke am Netz sind? Alle diese Fragen müssen wir ehrlich beantworten. Dazu gehört auch, dass wir das Problem der sicheren Endlagerung radioaktiver Abfälle angehen müssen; ({6}) denn die jahrzehntelange Zwischenlagerung auch der hochradioaktiven Abfälle ist sicherheitstechnisch bestimmt nicht vorteilhafter als die Endlagerung tief unter dem Erdboden. Also müssen wir nun schnell Schritte in Richtung einer dauerhaften Entsorgung zurücklegen. Es ist hier sicherlich nicht verantwortungsvoll, die Erkundung von Gorleben zu blockieren und die Altlasten damit künftigen Generationen aufzubürden. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein letzter Satz ist eine Aufforderung: Bitte beteiligen Sie sich alle an der Diskussion, aber geben Sie auch Antworten auf diese drängenden Fragen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5375 mit dem Titel „Nie wieder Tschernobyl - Atomzeitalter beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von Linkspartei und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5379 mit dem Titel „25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Atomkraftwerke abschalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der SPD auf Drucksache 17/5366 mit dem Titel „Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere Energieversorgung ohne Atomkraft und eine lebendige europäische Erinnerungskultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken abgelehnt. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren ({0}) - Drucksachen 17/4510, 17/4811 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksachen 17/5403, 17/5417 Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Björn Sänger Dr. Gerhard Schick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({2})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben gePeter Aumer rade über einen wichtigen Punkt diskutiert, um Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Die Umwelt und die Energieversorgung sind sicherlich wesentliche Bereiche, in denen wir einen Grundkonsens in unserer Gesellschaft herbeiführen müssen. Dessen hat sich die christlich-liberale Koalition angenommen. Bei den Finanzmarktthemen ist es genauso: Auch hier müssen wir die Lehren aus der Vergangenheit ziehen, nämlich die Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch Europa und unser Land erschüttert haben. Deswegen diskutieren wir heute über ein zugegeben sehr technisches, aber auch wichtiges Thema: die Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie in nationales Recht. In der Anhörung des Finanzausschusses zum Entwurf dieses Gesetzes hat ein Sachverständiger die OGAW-IVRichtlinie als Meilenstein bei der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes im Fondsbereich bezeichnet. Er hat recht: Es ist eine wichtige Entscheidung in diesem Bereich, über die wir heute reden. Insofern ist auch das Technische wichtig, um die einzelnen Punkte für die Zukunft festzuzurren. Die Abkürzung OGAW steht für Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren und ist die europäische Bezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds. Die Neuregelung dieser Wertpapier-Investmentfonds erfolgt durch neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die den größten Teil des heute zu beschließenden Gesetzentwurfs ausmachen. Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Qualität von Investmentfondsgeschäften, aber auch zur Verbesserung des Anlegerschutzes in unserem Land. Im Großen und Ganzen wird die OGAW-IVRichtlinie im Investmentgesetz und im Investmentsteuergesetz umgesetzt. Mit der Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie sollen die Bestimmungen des Europäischen Passes für Gesellschaften auf grenzüberschreitende Verwaltungen von Investmentfonds ausgeweitet werden. Fondsverschmelzungen sollen grenzüberschreitend erleichtert und insgesamt erleichtert werden. Gleichzeitig sollen die Informationen der Anleger erheblich verbessert sowie die Anforderungen und Verfahren zur Verschmelzung von Fonds erstmals EU-weit harmonisiert werden. Weiter sollen doppelstöckige Fondsstrukturen in Form von Master-Feeder-Konstruktionen im Bereich der Publikumsfonds unter bestimmten Voraussetzungen und mit einer umfassenden Anlegerinformation über die damit verbundenen Rechtsfolgen ermöglicht werden. Es sollen außerdem wesentliche Anlegerinformationen in einem zwei-, maximal dreiseitigen Informationsdokument EU-weit vereinheitlicht werden und national auch für nicht richtlinienkonforme Fonds Anwendung finden. Außerdem sollen die bei grenzüberschreitendem Vertrieb von Investmentfonds erforderlichen Anzeigeverfahren, mit denen der Marktzugang für den gesamten Binnenmarkt erreicht werden kann, erheblich beschleunigt werden. Für eine Verbesserung der Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden sollen unter anderem Verfahren für Vorortprüfungen und -ermittlungen der zuständigen Aufsichtsbehörden auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates konkretisiert werden. Auch hier zeigt sich, dass man in Europa stärker zusammenarbeitet. Das ist eine wichtige Lehre, die man aus der schweren Krise gezogen hat. Es gehören noch viele andere Maßnahmen dazu. Die Anforderungen an Mikrofinanzinstitute werden verringert und steuerliche Rahmenbedingungen anders gesetzt. Es wird zudem Regelungen betreffend drohende Steuerausfälle im Bereich des Kapitalertragsteuerabzugsverfahrens geben. Auch hier hat die christlich-liberale Koalition auf die Sparbestrebungen im Bundeshaushalt und die Konsolidierungsbemühungen Rücksicht genommen. Es werden außerdem Umstrukturierungsvergünstigungen von Unternehmen im Grunderwerbsteuerbereich angepasst. Darüber hinaus wurden die Empfehlungen des Finanzausschusses in den Gesetzentwurf eingearbeitet. Das Gesetz sieht konkret eine deutliche Verbesserung des Anlegerschutzes im Bereich der Anlegerinformation vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig Kosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll der Anleger direkt informiert werden, sofern es sich um wesentliche Änderungen handelt. Angesichts der Tatsache, dass Änderungen der Vertragsbedingungen aufgrund gesetzlicher Neuregelungen erfolgen oder oftmals rein technischer Natur sind, sollte man sich hier auf die Information über wesentliche Änderungen konzentrieren. Ein wichtiger Punkt zur Verbesserung der Effizienz des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung grenzüberschreitender Fondsverwaltungen sein. Damit können künftig auch ausländische Fondsverwaltungsgesellschaften in Deutschland ohne inländische Tochtergesellschaften deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls dürfen zukünftig deutsche Kapitalgesellschaften Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohne durch eine eigene Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne dass dies mit Personalverschiebungen einhergehen muss. Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren - bis zu zwei Monate - über die Markteinführung auseinandersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokratische Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer vereinfacht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzeigen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen werden innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt. Damit werden im Sinne des europäischen Binnenmarktes die Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fondsverkauf ganz wesentlich verbessert, und es wird ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet. ({0}) Weiter sollen Fondsgesellschaften künftig bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammenzufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und sogenannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht werden. Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren, zur Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie wird die christlich-liberale Koalition ihrer Verantwortung gerecht, zum einen einen wichtigen Beitrag für den Anlegerschutz zu leisten und zum anderen die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Fondsstandortes sicherzustellen. Deswegen bitten wir um Ihre Zustimmung. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz ist kein technisches Klein-Klein, ({0}) wie es vielleicht den Anschein haben mag, wenn man den Titel liest. Wenn man sich das Gesetz genau anschaut, stellt man fest, dass da eine gewaltige Menge Musik drin ist. Das Problem ist allerdings: Sie haben die parlamentarischen Gesetzesberatungen genutzt, um eine Reihe von schiefen Tönen einzubauen. Das schwächt das, was wir heute zu beschließen haben. ({1}) Ich will in diesem Zusammenhang zu dem Ausgangspunkt und zu der Frage zurückkommen, um die es hier eigentlich geht. Die Finanzkrise hat uns gezeigt, dass die Steigerung von Markteffizienz, Maximierung von Gewinnen, Wettbewerb usw. keine Argumente mehr für den Gesetzgeber sein dürfen. Die Zeit der Deregulierung muss endgültig vorbei sein. Wir müssen dazu kommen, dass wir erstens eine Beschränkung riskanter und spekulativer Geschäftsmodelle erreichen und dass wir zweitens vor allem eine Stärkung des Anlegerschutzes nach vorn stellen. ({2}) Meine Damen und Herren, schauen wir uns jetzt einmal an, was Sie daraus gemacht haben. Vorgestern habe ich eine wunderschöne Presseerklärung von den Kollegen Flosbach und Brinkhaus gelesen, ({3}) die darin jubeln, dieses Gesetz werde die Effizienz des Investmentfondsgeschäfts erhöhen und attraktive Rahmenbedingungen schaffen. ({4}) Das ist altes Denken, das ist die falsche Antwort an dieser Stelle. ({5}) Wir müssen im Einzelnen feststellen, dass Sie mit diesem Gesetz über das, was die EU vorgibt - natürlich, wir bewegen uns hier in einem solchen Rahmen -, hinaus eine Einbeziehung von Hochrisikoprodukten vornehmen und im Beratungsverfahren Informationspflichten der Anlegerinnen und Anleger noch einmal eingeschränkt haben. Die Richtlinie - darauf möchte ich jetzt kurz kommen ist ja für die Sondervermögen wie Aktienfonds, Geldmarktfonds und Rentenfonds geschaffen. Da kann es jetzt zu Verschmelzungen kommen, sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen. Kollege Aumer hat das hier schon angesprochen. Die Koalition ist jetzt ohne Not darangegangen, den Anwendungsbereich auf nichtrichtlinienkonforme Fonds auszudehnen. Damit sind die hochgefährlichen Hedgefonds in diese neuen Freiheiten und neuen Regelungen einbezogen worden. Dazu will ich nur sagen: Hedgefonds können zukünftig in Deutschland fusionieren. Wir als Sozialdemokraten haben das von Anfang an kritisiert. In der öffentlichen Anhörung wurde das von verschiedenen Sachverständigen ebenfalls kritisiert. Die Koalition allerdings blieb unbeeindruckt. Somit sage ich, so ein Gesetz ist schädlich und inakzeptabel. Das kann hier unsere Zustimmung nicht bekommen. ({6}) Ich will auch sagen, dass zum Thema Aufsicht Neuregelungen vorgesehen sind. Da sollen jetzt die Aufsichtsbehörden, auch unsere deutsche Aufsichtsbehörde BaFin, stärker mit anderen europäischen Aufsichtsbehörden kooperieren. ({7}) - Das ist vom Grundsatz her richtig. - Schauen Sie sich aber einmal an - wir sehen uns das ja dauernd an -, wie belastet die Aufsichtsbehörden schon jetzt sind und wie viele Detailregelungen es für sie gibt. Mit Ihrer Erweiterung im nichtrichtlinienkonformen Bereich packen Sie weitere Dinge in den Rucksack der Aufsichtsbehörden. Dann bleibt vernünftiger Aufsicht lediglich das Prinzip Hoffnung. Das geht so nicht, das ist in der Tat gefährlich auch für die Stabilität der Finanzmärkte selber. Auch als eine wichtige Lehre aus der Finanzkrise müssen wir uns in jedem Verfahren vornehmen, dass wir insbesondere die Informationsasymmetrien auf den Finanzmärkten beheben. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe. Das heißt aber, dass die Anlegerinnen und Anleger mehr Informationen brauchen statt weniger Informationen, qualifiziert aufbereitete Informationen. Im Beratungsverfahren im Ausschuss sind es die Koalitionsfraktionen gewesen, die Änderungen eingebracht haben, die dazu führen, dass zukünftig keine vernünftige und umfassende Pflicht mehr besteht, nachhaltig zu informieren. Auch das ist gefährlich und kann so nicht bleiben, weil ja insbesondere Ausgangspunkt war, dass nach Vorliegen des Gesetzentwurfs aus dem Bundesfinanzministerium die Branche aufgeheult und von Bürokratiekosten gesprochen hat. Dann hat die Anhörung deutlich gemacht - dafür sind öffentliche Anhörungen ja da -, dass die Bürokratiekosten bei - hören Sie gut zu! 1,21 Euro liegen. - Bei 1,21 Euro! Das ist also völlig lächerlich. Da wusste auch die Koalition nicht mehr weiter. Also sind Sie dazu gekommen und haben gewisse organisatorische Veränderungen vorgenommen, dass man zukünftig nur auf Anforderung informiert wird, über E-Mail und so weiter und so fort. Das reicht uns nicht. Im Übrigen hat die BaFin selber in der Anhörung deutlich gemacht, dass sie an uns, den Gesetzgeber - ich zitiere -, „appelliert“, es bei dem zu belassen, was vorgesehen ist. Sie von der Koalition haben darauf nicht gehört. Sie haben diese EU-Vorgabe verwässert und machen die deutschen Finanzmärkte damit angreifbar und die Anlegerinnen und Anleger schwach. Es gibt auch Licht, gar keine Frage. ({8}) Sie setzen, Gott sei Dank, pflichtgemäß eins zu eins die Vorgabe um, dass ein Produktinformationsblatt, das sogenannte Key Investor Document, dem Produkt beizufügen ist. Das ist richtig, und das ist gut. Aber kaum hat man Licht bei Ihnen entdeckt, stellt man fest: Es scheint nicht mehr die Sonne, sondern es fängt gleich an, zu regnen. Sie haben nämlich auch in anderen Bereichen Veränderungen vorgenommen, die für uns nicht akzeptabel sind, Stichwort „REITs“. Diese Abkürzung steht für: Real Estate Investment ({9}) - Trust. Vielen Dank für die liberale Hilfe. ({10}) - Das ist wunderbar. Sie helfen auch deshalb gerne, weil Sie, Herr Kollege, wahrscheinlich genau wissen, wie gefährlich dieses Instrument ist. Sie sind für eine flächendeckende Einführung. Dass es dazu in Deutschland nicht gekommen ist, liegt daran, dass wir Sozialdemokraten verhindert haben, dass dieses gefährliche Instrument flächendeckend zugelassen wird. Es gibt nur drei bis fünf Fonds dieser Art. Sie wollen deren Laufzeit jetzt verlängern. ({11}) Ich sehe darin nichts anderes als die Verlängerung eines Steuersparmodells für wenige. Auch das kann nicht Sinn unserer Gesetzgebung sein. Unterm Strich: Was Sie uns vorlegen, ist das Ergebnis von Klempnerei und kein effektiver Anlegerschutz. Es bedeutet nur Steigerung der Effizienz der Investmentfondslandschaft. Das ist gut, darf aber nie alleine stehen. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist für die Branche so etwas Ähnliches wie das Grundgesetz. In der Tat ist das, was hier vorliegt - Kollege Aumer hat es schon gesagt -, mit Sicherheit als ein großer Schritt zu bezeichnen. Vielleicht ist es so etwas wie ein Meilenstein für den Investmentfondsmarkt. Es wird nämlich ein weiterer Schritt getan hin zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Marktes, der einheitlichen Regeln unterliegt. Das sorgt für ein Mehr an Effizienz. Es bringt Kostenvorteile, und das dient am Ende den Anlegerinnen und Anlegern, die ihr Geld in Investmentfonds investieren. Investmentfonds sind ein ideales Vehikel für die Altersvorsorge. Sie dienen dem Vermögensaufbau. Deswegen werden sie sehr gerne für vermögenswirksame Leistungen genutzt, und zwar von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie sollen ja einmal eine Klientel der Sozialdemokratischen Partei gewesen sein. ({0}) Investmentfonds dienen als mittelfristiger Kapitalpuffer und zum Aufbau von Eigenkapital, beispielsweise wenn man sich ein Eigenheim zulegen möchte. Ein Investmentfonds ist im Prinzip eine Art moderner VEB. ({1}) Nirgendwo anders haben breite Bevölkerungsschichten die Möglichkeit, sich leichter am Produktivvermögen einer Volkswirtschaft zu beteiligen. Sie haben die Chance auf ein diversifiziertes Portfolio. Sie haben ein professionelles Anlagemanagement. Sie haben eine Risikooptimierung, und sie haben eine Anlagevielfalt. All das bietet der Investmentfonds. Deswegen ist der vorliegende Gesetzentwurf so wertvoll. Umso wichtiger ist es, dass Vertrauen in dieses Vehikel existiert. Genau dem wird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht, und zwar dadurch, dass die Aufsicht gestärkt wird. Herr Kollege Sieling, ich kann Sie nicht so richtig verstehen: Sie beklagen sich über die Ausweitung auf die Hedgefonds, wodurch sie einer zusätzlichen Aufsicht unterliegen. Gleichzeitig sagen Sie, diese Aufsicht könne das, was von ihr erwartet wird, gar nicht leisten. Sie müssten sich einmal in irgendeiner Art und Weise entscheiden, wofür Sie stehen. ({2}) Wir sind der Auffassung, dass der Anlegerschutz durch die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs gestärkt wird. Entscheidend ist dabei das Key Investor Document, das dem Anleger in übersichtlicher Art und Weise Informationen über das Produkt verschafft, in das er investieren möchte. Die Rückschlüsse aus diesen Informationen muss natürlich jeder Anleger für sich selbst ziehen. Das Anlagerisiko kann man niemandem abnehmen. ({3}) Das ist eine Frage der Finanzbildung. Da gibt es möglicherweise an der einen oder anderen Stelle noch Defizite. Aber auch hier ist die Branche mit einer Initiative unterwegs. Wir haben in die Informationsflut, die ursprünglich vorgesehen war, etwas Struktur hineingebracht. Der Anleger soll nämlich übersichtlich über die wesentlichen Änderungen - und zwar per Post - informiert werden. Wir vermeiden damit eine Informationsüberflutung, behalten aber nach wie vor die Informationspflicht bei. Die Frage ist doch: Was ist denn eine „wesentliche Änderung“? Eine wesentliche Änderung kann sein, wenn sich zum Beispiel die Anlagestrategie bei einem Fonds ändert. Wenn ich eine Anlage bei einem offenen Immobilienfonds habe, der überwiegend in europäische Gewerbeimmobilien investiert hat, plötzlich aber in asiatische Wohnimmobilien hineingeht, dann ist das sicherlich eine wesentliche Änderung der Anlagestrategie. Das hat Auswirkungen auf das Anlagevermögen. Wir wollen, dass der Anleger darüber informiert wird. Das gilt genauso bei Fragen der Kostenänderung. Der Anleger weiß zukünftig, wenn er etwas von seinem Fondsanbieter per Post bekommt, dass es sich um eine wesentliche Änderung handelt, die für ihn wichtig ist und die er lesen muss. Bei allen anderen Änderungen, die zum Beispiel allein aus Gründen der Änderung der Rechtslage entstehen, bekommt er beispielsweise auf dem Jahresdepotauszug einen Hinweis. Er kann sich dann, wenn ihn das interessiert, entsprechend informieren. Die Entscheidung darüber, was wesentlich ist, haben wir bei der dafür richtigerweise zuständigen Stelle angesiedelt, nämlich bei der BaFin. Aus der Anhörung heraus haben wir ein weiteres wichtiges Thema entwickelt, nämlich das Pension Pooling. Auch das ist für Anlegerinnen und Anleger in Bezug auf die betriebliche Altersvorsorge wichtig. Es ist auch wichtig für den Finanzplatz Deutschland. Wir reden da über 250 Milliarden Euro, die in Deutschland angelegt werden können bzw. von Deutschland aus verwaltet werden können. Sie unterliegen damit natürlich auch der deutschen Aufsicht. Auch dazu haben wir eine gute Nachricht, dass sich nämlich die Koalition dieses Themas annehmen und zeitnah einen entsprechenden Referentenentwurf vorlegen wird. Wir gehen davon aus, dass dies bis zum Ende des Jahres 2011 der Fall sein wird. Das bedeutet, die Branche kann sich darauf einstellen: Pension Pooling wird in Deutschland ermöglicht. Darüber hinaus haben wir steuerliche Missstände, bei denen man unter Umständen einen Umgehungstatbestand konstruieren kann, im System beseitigt. Auch deshalb ist das ein guter Tag für Deutschland. Als Fazit kann man sagen: Wir haben eine gelungene Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht vorgelegt. ({4}) Wir haben nationale Akzente gesetzt, ohne Wettbewerbsnachteile für deutsche Anbieter zu generieren. Unterm Strich kann man sagen: Das ist eine gelungene Vorlage, der man getrost zustimmen kann. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die Linke.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als wir im Januar zur ersten Lesung hier zusammenkamen, warnte ich davor, das Wachstum des wuchernden Finanzsektors mit diesem Gesetz auch noch zu beschleunigen und somit Riesenheuschrecken im Fondsmantel zu züchten. Damals konnte ich mich tagesaktuell auf einen renommierten Finanzjournalisten des Handelsblatts berufen, der eindringlich vor dem Schattenbankensystem der Fondsbranche warnte. Genützt hat es leider nichts. Im Gegenteil: In noch größerem Umfang als schon im Kabinettsentwurf geplant, sollen Investmentfonds wachsen können. Das Wachstum wird angetrieben, indem die Fonds durch eine noch exzessivere Mikrokreditvergabe von der Armut in Osteuropa und in den unterentwickelten Ländern dieser Erde profitieren dürfen. Dass dies mit karitativem Anspruch rein gar nichts zu tun hat, hat einer der führenden Mikrofinanzexperten Europas in der Sachverständigenanhörung ausführlich dargelegt. Er stieß damit bei der Koalition leider auf taube Ohren. Wenn Sie den Armen in der Welt wirklich helfen wollen, dann kommen Sie zuerst einmal den Verpflichtungen nach, die Deutschland mit der Zusage einging, den Anteil der Entwicklungshilfe am Sozialprodukt, die sogenannte ODAQuote, spürbar zu erhöhen. Die Regierungskoalition versucht, den Eindruck zu erwecken, sie hätte in der Finanzmarktregulierung ihre Hausaufgaben fast erledigt. Aber ich kann Ihnen heute einen weiteren Zeugen dafür anführen, dass bei der Regulierung der Fondsbranche das Wichtigste noch zu tun ist. In der Aprilausgabe des Monatsmagazins des Bankenverbandes die bank warnt der oberste Finanzaufseher des Landes, Jochen Sanio, davor - Zitat -, „dass man sich nur mit Teilaspekten des nicht oder unterregulierten Finanzsektors beschäftigt und wichtige Bereiche außer Acht lässt. Etwa die Hedge-Fonds, die Private-Equity-UnterHarald Koch nehmen und - nicht zu vergessen - die Rating-Agenturen, die ‚Legitimierer‘ des ‚Schatten Banking‘“. Ähnlich wie im Januar kann ich Ihnen nur wieder sagen: Würden Sie doch wenigstens auf Ihre eigenen Beamten hören, anstatt dem Begehren der Lobby ein ums andere Mal nachzugeben! ({0}) Es ist aber nicht nur die Senkung regulatorischer Standards, mit der Sie die Finanzbranche mästen. Nein, Sie werfen auch noch Steuergeschenke hinterher. ({1}) So sollen Unternehmen, die ihre Immobilien an eine börsennotierte Immobilien-AG veräußern, auf den Erlös weiterhin eine 50-prozentige Steuerbefreiung erhalten. Diese Regelung wurde mit einer weiteren Frist verlängert. Hat man Ihnen dafür wenigstens entsprechend Spenden versprochen? ({2}) Selbst was den Anlegerschutz angeht, haben Sie mehr Gesetzeskosmetik betrieben, als dass Sie substanziell etwas merklich verbessert hätten. Zwar ist das Wort „Anleger“ häufiger im Gesetzestext zu lesen; dieser Anleger kann aber nach wie vor nicht darauf bauen, dass ihm die Kosten seiner Anlageentscheidung wirklich transparent gemacht werden. Die Linke fordert hier unter anderem die Angabe einer umfassenden Gesamtkostenquote. Nachfragen in den Berichterstattergesprächen, warum dies trotz Machbarkeit nicht geschehe, wurden damit beantwortet, dass dann eine erfolgreiche Ansiedlung der Fonds in Deutschland gefährdet sei. Entschuldigung, meine Damen und Herren von Union und FDP! Wer nicht bereit ist, mit offenen Karten an den Markt zu gehen, der sollte doch bitte schön dahin gehen, wo der Pfeffer wächst, anstatt dass ihm hierzulande auch noch alles nach seinem Geschmack gestaltet wird. ({3}) Was Sie der Öffentlichkeit verheimlichen: Sie betreiben bewusst Etikettenschwindel, damit die Fusionierung von Fondsvermögen erleichtert wird. Dies haben die Beratungen zu diesem Gesetzentwurf leider deutlich werden lassen. Kollege Sieling hat schon darauf hingewiesen; ich will es noch deutlicher sagen. So sind deutsche Kunden erfahrungsgemäß eher bereit, in einen Fonds zu investieren, dessen Name den Eindruck erweckt, dass es sich um ein Vehikel ihrer - deutschen - Hausbank handelt. Dieser Eindruck soll auch künftig bestehen bleiben. Allerdings wird es sich nicht auf den ersten Blick erschließen lassen, dass dieser Fonds sein gesamtes Vermögen in einen ausländischen Fonds einbringen kann. In diesen ausländischen Fonds hätte der Anleger womöglich nie direkt investiert. Ich versichere Ihnen: An diesem Bluff wird sich die Linke nicht beteiligen. ({4}) Ich komme zum Schluss. - Wie auch immer man diesen Gesetzentwurf betrachtet - makroökonomisch, aufsichtsrechtlich, entwicklungs- und verbraucherpolitisch oder unter steuerlichen Gesichtspunkten -: Der Finanzsektor darf ohne Rücksicht auf Verluste weiter frei wuchern. Durchgreifende Regulierung? Fehlanzeige!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Koch, Sie hatten angekündigt, dass Sie zum Schluss kommen. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Gesetzentwurf vermag alles in allem in keiner Hinsicht zu überzeugen. Er ist rückschrittlich und kontraproduktiv. Danke schön.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Schick das Wort.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Änderungen in verschiedenen Bereichen; das ist schon deutlich geworden. Ich will zunächst auf den Anlegerschutz eingehen. Es werden einige neue Informationspflichten gegenüber dem Anleger eingeführt, und das ist richtig so. An dieser Stelle kann ich die Bundesregierung in der Finanzmarktpolitik ausnahmsweise einmal loben. ({0}) Sie gehen bei den Informationspflichten im Sinne des Anliegerschutzes über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie hinaus. Das ist bisher an vielen Stellen abgelehnt worden und findet hier richtigerweise einmal statt. Es bleibt trotzdem eine Reihe von gravierenden Defiziten. Es ist zum Beispiel unverständlich, dass die Beweislast, ob er Dokumente erhalten hat oder nicht, auf den Anleger übergeht. Es wird für ihn schwer sein, das leisten zu können. Was überhaupt nicht überzeugt, ist, dass Sie unseren Änderungsantrag in Bezug auf die sogenannte Best-Execution-Regel abgelehnt haben. Diese Regel besagt, dass man - grob gesprochen - bei einer Handelsorder immer den besten Handelsplatz im Sinne des Kunden aussuchen soll. Es ist im Jahr 2007 bei der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie versäumt worden, dies für Investmentfondsanteile einzuführen. Das gilt nur für Aktien und Ähnliches. Damals hieß es in der Begründung der Bundesregierung: Wegen des Prinzips der Eins-zu-einsUmsetzung lehnt die Bundesregierung die Anwendung der Regeln auf Investmentfondsanteile ab. Wenn Sie dieses Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung nun zu Recht an anderer Stelle aufgeben, dann frage ich: warum nicht auch an dieser Stelle im Interesse von Kundinnen und Kunden? ({1}) Es ist bezeichnend, dass von den Koalitionsfraktionen im Finanzausschuss an dieser Stelle kein einziges Argument gegen unseren Antrag genannt worden ist, was den Anlegerschutz verbessern würde. ({2}) Ein weiterer Kritikpunkt, den wir haben, betrifft die Verschmelzung der Nicht-OGAW-Fonds. Das ist schon angesprochen worden. Es besteht konkret die Gefahr: Wenn Sie in einem Fonds drin sind, dann müssen Sie sozusagen Anteile eines schlechteren Fonds mitnehmen, weil im Rahmen der Verschmelzung das Interesse besteht, dem Anleger auch schlechte Portfolien aufzudrücken. Das hat die Bundesregierung in der Gegenäußerung zum Bundesrat selbst eingeräumt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum hier nicht im Interesse des Anlegers gehandelt wird. Hier trifft der Vorwurf, den Herr Koch gemacht hat, zu. Sie setzen die Standortvorteile der Fondsgesellschaften vor das Interesse von Kundinnen und Kunden, und das lehnen wir ab. ({3}) Es ist angesprochen worden, dass es auch ein Problem mit der Umsetzung gibt. Das ist in der Anhörung deutlich geworden. Es gibt eine Reihe von neuen Aufgaben für die Aufsicht. Sie haben bisher nicht dargelegt, wie die Aufsicht in die Lage versetzt werden soll, diesen nachzukommen. Ich habe große Sorge, dass die Aufsicht mangels der entsprechenden Ressourcen nicht in der Lage sein wird, diese Regeln umzusetzen. Ein weiterer Punkt ist richtig ärgerlich: Es gibt immer noch keine vollständige Kostentransparenz. Dieses Gesetz wäre die Gelegenheit gewesen, national auch eine Offenlegung der Transaktionskosten vorzuschreiben. Das wollen Sie in der Koalition nicht, obwohl die Europäische Kommission empfiehlt, auch die Transaktionskosten auszuweisen. Dem Kunden wird also weiterhin suggeriert, dass die jetzt umbenannte Gesamtsumme der laufenden Kosten einen vollständigen Überblick über die Kosten eines Fonds liefert. Das bleibt aber weiterhin nicht der Fall, und das ist im Interesse der Kunden eben nicht die Transparenz, von der häufig gesprochen wird. Wir wollen volle Kostentransparenz. ({4}) Ich will noch auf weitere Punkte eingehen, die im Gesetzentwurf enthalten sind. Ein wichtiger Aspekt ist der steuerliche Teil im Investmentsteuergesetz. Es ist richtig, dass an dieser Stelle versucht wird, ein wichtiges Steuerschlupfloch bei der Kapitalertragsteuer zu schließen. Wir sehen aber die Gefahr, dass eine kleine Lücke, die dabei noch bleibt, in der Zukunft größeren Schaden anrichtet. Konkret könnte es sein, dass ein in Deutschland beschränkt steuerpflichtiger ausländischer Investor, zum Beispiel eine Gesellschaft, die auf den Cayman Islands sitzt, im Fonds Dividendenerträge erzielt, ohne dass dieser Kapitalertragsteuer einbehalten muss, obwohl es sich um ein Vermögen im Inland handelt. Es ist deshalb wenig verständlich, dass Sie hier keine Bereitschaft hatten, das zu korrigieren. Wenn man schon an das Stopfen von Steuerschlupflöchern herangeht, dann muss man schauen, dass man das möglichst konsequent und umfassend tut. ({5}) Sie sehen, es gibt in diesem Gesetzentwurf Licht und Schatten. Die Koalition liegt nicht überall daneben, sie schafft aber auch keine überzeugende Wende in Richtung einer Finanzmarktpolitik zugunsten der Kunden. Wenn es mir abschließend noch erlaubt ist, dann möchte ich sagen: Beim Thema Geldwäsche muss man dieses gesetzgeberische Gewurstel als peinlich bezeichnen. Hier brauchen wir einen Gesamtansatz. Wir können den schlechten Teilen des Gesetzentwurfes nicht zustimmen. Wir finden aber auch, dass wir die guten nicht ablehnen können. Wir werden uns deswegen angesichts der Vielzahl von Regelungen enthalten. Wir werden uns gegenüber den guten Punkten entsprechend positionieren, aber zugleich auch die gravierenden Defizite ansprechen, um in Zukunft für eine Korrektur zu sorgen. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Brinkhaus hat für die Unionsfraktion jetzt das Wort. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Womit beschäftigen wir uns zur Mittagszeit? Es geht in erster Linie darum, europäische Richtlinien für eine bestimmte Art von Fonds umzusetzen. Das tun wir hier. Da diese aber nur für eine bestimmte Art von Fonds gelten, haben wir uns zugleich dazu entschlossen, entsprechende Regelungen auch für Fonds zu erlassen, die von den europäischen Richtlinien nicht erfasst werden, damit es zu Transparenz kommt und gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Ich glaube, das ist nicht zu kritisieren. Es ist ebenfalls nicht zu kritisieren, dass wir in einem Kraftakt Steuerschlupflöcher schließen, die auf sehr komplizierte Weise genutzt werden konnten. Das ist mit einem wahnsinnigen Umbau des Steuererhebungsverfahrens verbunden. Es ist wohl auch nicht zu kritisieren, dass wir dieses Gesetz außerdem nutzen, um einige andere Dinge mit auf den Weg zu bringen, wie zum Beispiel Regelungen im Bereich der Geldwäsche und Nachbesserungen bei dem eigentlich sehr guten Ansatz, mit dem wir Mikrofinanzierung auf den Weg bringen wollten, was aber nicht geklappt hat. Weiterhin gehören hierzu Regelungen zur Haftpflicht von Lohnsteuerhilfevereinen und noch einige andere Sachen. Ich denke, all das ist richtig und gut. Es ist ja auch in der einen oder anderen Bemerkung vonseiten der Opposition angeklungen, dass dem so ist. Werfen wir einmal einen Blick zurück auf das Gesetzgebungsverfahren: Alle Berichterstatter dürften wohl festgestellt haben, dass sie hier an ihre Grenzen gestoßen sind, und zwar deswegen, weil das Investmentsteuergesetz wirklich nur etwas für Leute ist, die sich sehr, sehr gerne mit Steuern beschäftigen, um das einmal vorsichtig auszudrücken. Diese Geschichte ist nämlich wahnsinnig spezifisch. An dieser Stelle sollte man der Öffentlichkeit einmal folgenden Sachverhalt darstellen: Von uns als Parlamentariern wird erwartet, den Schiedsrichter zwischen den Vorlagen, die von der Regierung kommen, und den Interessen, die vonseiten der Bevölkerung und den Verbänden geäußert werden, zu spielen. Aber ganz ehrlich - ich schaue jetzt einmal in die Augen der Coberichterstatter -: Das Investmentsteuergesetz hat uns ein wenig überfordert. Wenn wir weiterhin vernünftige parlamentarische Arbeit machen wollen, ist wirklich zu hinterfragen, ob hierfür ein oder anderthalb Mitarbeiter ausreichen. Auf der einen Seite steht das Finanzministerium mit mehreren Tausend Mitarbeitern und auf der anderen Seite die Finanzbranche mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Wir aber sollen ein gutes Urteil fällen. Das fällt uns, ehrlich gesagt, hin und wieder recht schwer. An dieser Stelle ist es noch einmal gelungen. Wir sollten uns aber überlegen, ob das in Zukunft nicht anders vonstattengehen könnte. Nun zu der Kritik, die an diesem Gesetzentwurf geäußert wurde. Fangen wir einmal mit der Kritik vonseiten der Linken an. Lieber Kollege Koch, das, was Sie hier gebracht haben, stammte ja wohl eher aus dem Satzbaukasten „Kapitalismusbeschimpfung für junge Pioniere“, als dass es eine ernsthafte Kritik darstellte. ({0}) Das hatte höchstens ein wenig Erheiterungswert. Ich möchte aber insbesondere auf ein Argument von Ihnen eingehen, mit dem Sie, wie ich glaube, den Menschen etwas Falsches suggerieren. Sie haben kritisiert, dass es nicht gut sei, dass die OGAW-Richtlinie große Investmentfonds fördere und dass das zu zusätzlichen Risiken führe, und gesagt, dass das nicht Ihrem Bild entspreche. Darüber kann man sich unterhalten. Das ist überhaupt keine Frage. Sie sollten nur so ehrlich sein und den Menschen hier auf der Tribüne und an den Bildschirmen erzählen, dass wir diese Richtlinie umsetzen müssen, ob wir sie gut finden oder nicht. Wenn Sie als Linke hier so tun, als ob es die Freiheit gäbe, sie nicht umzusetzen, dann kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie sich hier unehrlich verhalten. Das sollte nicht zum Stil in diesem Haus werden. ({1}) Bei dem, was außerdem an Kritik geäußert worden ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, der sowohl von der SPD als auch teilweise von den Grünen angesprochen wurde. Dabei geht es darum, dass wir die Verbraucher nicht ausreichend schützen und ihnen nicht genügend Informationen mit auf den Weg geben. Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz ist immer eine Gratwanderung, eine Gratwanderung zwischen Transparenz und Information auf der einen Seite und Bürokratie auf der anderen Seite. Er ist eine Gratwanderung zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevormundung auf der anderen Seite. Ich glaube, das vergessen Sie hin und wieder. Ich möchte das auch an den Beispielen erläutern, die Sie selbst gebracht haben. Herr Sieling, Sie haben gesagt, Anleger bekämen bestimmte Informationen nicht, weil wir die entsprechenden Verpflichtungen im Gesetz abgeschwächt hätten. Ich möchte einmal erläutern, um welche Informationen es geht - Kollege Sänger hat das eben ja auch schon angesprochen -: Wenn Sie an einem Aktienfonds beteiligt sind, werden Sie nach diesem Gesetz zeitnah darüber informiert, wenn sich die Kostenstruktur ändert, wenn sich die Anlagestrategie ändert oder wenn sich wesentliche Vertragsbedingungen ändern wie zum Beispiel Kündigungsfristen, Rückgabemodalitäten und Ähnliches. Auf der anderen Seite haben wir gesagt: Wenn jede kleine Änderung in den AGB dem Verbraucher per Brief mitgeteilt werden würde, dann würde er es nicht mehr lesen. Es würde ein Informationsmüll auf ihm abgeladen werden, den er nicht mehr beherrschen kann. Insofern wundere ich mich wirklich, dass Sie kritisieren, dass wir von der Unionsfraktion zusammen mit unserem liberalen Partner versuchen, den Verbrauchern sinnvolle und zielgerichtete Informationen zukommen zu lassen, anstatt sie mit Briefen zuzumüllen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass wir solche Schreiben ungelesen in den Papierkorb werfen. ({2}) Der Kollege Schick hat weiterhin kritisiert, dass wir die Beweislast umgekehrt haben. Jetzt müsse der Verbraucher beweisen, dass er den entsprechenden Brief von der Kapitalanlagegesellschaft bekommen hat. ({3}) Wie ist es denn vorher gewesen? Vorher hätte die Kapitalanlagegesellschaft es beweisen müssen. Das hätte, zu Ende gedacht, bedeutet, dass jeder Brief als Einwurfeinschreiben hätte aufgegeben werden müssen, weil sonst eine Beweisführung nicht möglich ist. ({4}) Wir haben dann Folgendes gesagt: Wir machen es genauso wie das Finanzamt, das völlig unverdächtig ist, irgendwelche falschen Regelungen anzuwenden. Das Finanzamt schickt einen Brief ab, und es gibt eine Zugangsfiktion, bei der davon ausgegangen wird, dass nach drei Tagen der Brief des Finanzamts beim Bürger angekommen ist. Wenn der Bürger sagt, der Brief sei nicht bei ihm angekommen, dann schaut man beim Finanzamt nach, ob alles korrekt verschickt worden ist. Wir machen das jetzt analog: Die BaFin schaut bei der Kapitalanlage11850 gesellschaft nach. Sie muss nachweisen, dass sie die organisatorischen Voraussetzungen für diese Regelung getroffen hat. Das ist eine erhebliche Verbesserung. Herr Schick und Herr Sieling, ich finde es schon ein bisschen irritierend, dass Sie das kritisieren. Sie müssen den Menschen in diesem Land einmal erklären, warum diese Regelung für sie eine Verschlechterung darstellen soll. Selbst ein Gesetz zu OGAW - darauf will ich den Rest meiner Redezeit verwenden - eignet sich dazu, einige grundlegende Unterschiede zwischen dem Bild, das Sie von unserer Gesellschaft haben, und dem Bild, das wir von unserer Gesellschaft haben, herauszuarbeiten. ({5}) Wir haben immer noch das Bild vom mündigen Verbraucher vor Augen. Für uns zählen die Freiheit und die Freiheit der Entscheidung. ({6}) Wir ermöglichen diese Freiheit. Dazu braucht es faire und transparente Märkte. Dafür schaffen wir gute Rahmenbedingungen. ({7}) Das ist ein anderer Ansatz als der Ihrige. Sie wollen Einfluss darauf nehmen, wie sich die Menschen entscheiden. ({8}) Denn Sie glauben, dass Sie es besser wissen als die Menschen. Das ist Ihr Menschenbild. Sie wollen die Menschen sozusagen zu Tode regulieren und schaffen an allen Stellen neue Vorschriften und Gesetze. ({9}) Das kann man an dieser Diskussion sehen. Das könnte ich auch an allen anderen Diskussionen festmachen, die wir hier zum Verbraucherschutz geführt haben. Was von Rot und was von Grün kommt, ist Bürokratie, das ist eine Vorschrift nach der anderen. Damit sollen die Menschen in ihren Entscheidungen beeinflusst werden. Das ist nichts anderes als gesetzliche Gängelung. ({10}) Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode ist, den Menschen in diesem Land klarzumachen, was Sie für einen Staat wollen und was wir für einen Staat wollen. ({11}) Vorgestern wurde in einem interessanten Artikel in einer Zeitung festgestellt, dass Rot-Grün - man müsste eigentlich Grün-Rot sagen - aus unserem Land einen Ponyhof machen möchte. Ich sage dazu nur: Der Weg von einem Ponyhof zu George Orwells Animal Farm ist nicht weit. Das sollten wir beim Verbraucherschutz hin und wieder beachten. ({12}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir sind die Partei - da stehen wir eng an der Seite der Liberalen; das verbindet uns -, die an den freien und mündigen Bürger glaubt. Sie glauben nicht daran. Sie wollen die Menschen gängeln und ihnen alles vorschreiben. Das ist Ihre Philosophie. Diese werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Danke schön. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Binding für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brinkhaus hat schon recht: An dem Gesetzentwurf kann man erkennen, welchen Staat wir wollen. Ich will an eine Bemerkung von Herrn Aumer erinnern. Er hat, anknüpfend an den vorherigen Tagesordnungspunkt, gesagt: Wir sollten die Lehren aus der Vergangenheit ziehen. - In der Vergangenheit hatten wir einen Atomstaat. Jetzt haben Sie die Lehren daraus gezogen. Diese Lehre hat Herr Aumer interessanterweise auf das OGAW übertragen und einen Vergleich mit der Finanzkrise hergestellt, die vielleicht einen Super-GAU mit Blick auf den Finanzplatz darstellt. Wir wollten diesen schon immer stärker regulieren als Sie. Interessanterweise haben Sie, bezogen auf die Atomkraft, jetzt gelernt, dass es ganz gut ist, wenn ein Staat hinreichend reguliert. ({0}) Auch wir sind für Effizienz. Nur sind wir nicht für die Effizienz des Marktes an sich; denn der Markt an sich hat gar keine Qualität. ({1}) Wir sind dafür, dass die Effizienz des Schutzes verbessert wird. Das ist ein wichtiger Punkt. Uns geht es dabei um die Verbraucher. Das ist eine ganz wesentliche Sache, die vielleicht im Spannungsverhältnis der Erklärung von Gerhard Schick liegt, der ausgeführt hat, warum sich die Grünen enthalten. Er sagte, sie werden sich enthalten, weil es im Gesetzentwurf gute und schlechte Teile gibt. Ich glaube, wenn man einen Gesetzentwurf danach beurteilt, müssten wir uns immer enthalten; denn es gibt kein Gesetz, das nur gut ist. Das ist so ähnlich wie mit dem Orangensaft. Wenn drei Tropfen Arsen darin sind, beurteile ich ihn anders, als wenn sie fehlen. Das ist also eine komplizierte Sache. Ich will aber auf die Gesamtschau abheben; denn wir ziehen ja die Lehren aus der Vergangenheit. Bei allem, was wir im Moment tun, besteht die Gefahr, dass wir angesichts unendlich vieler Einzelregelungen den ÜberLothar Binding ({2}) blick verlieren. Heute OGAW, gestern MiFID, morgen Basel III, Solvency II, EMIR, REMI, MAD. Die Energiehandelsunternehmen wollen auch schon wieder ihre Freiheiten und Ausnahmen haben. Wir sehen, wir reihen Ausnahme an Ausnahme und verlieren die Gesamtschau. Dadurch entsteht ein riesengroßes Problem. Übrigens reicht das bis tief in die Anhörung. Da war ein Mensch von der Deutschen Bank noch nicht einmal in der Lage, seine eigenen Produkte zu erklären. Daran sieht man, wie weit wir in diesem Markt gekommen sind. ({3}) Das geht ja weiter. Wir haben einen Euro-Rettungsfonds im Umfang von 700 Milliarden Euro geschaffen. Was macht denn der Fonds? Es wird immer von Transferunion gesprochen. Da geht es nicht um Transferleistungen zwischen Staaten. Das ist ganz anders. Es geht um einen hochrisikoreichen Markt, nämlich den privaten. Wenn der versagt, infiziert er die Staaten, und die sollen dann zahlen. Diese Rechnung, denke ich, darf nicht aufgehen. ({4}) Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass die Leute, die private Risiken in exorbitanter Dimension eingehen, hinterher auch dafür geradestehen. ({5}) Das ist derzeit nicht der Fall. Im Moment zahlt immer der Staat, oder es zahlen die Staaten aus Europa. Wenn wir da keinen Riegel vorschieben, haben wir ein riesengroßes Problem. Ich will zur Trennung von Verwaltungsgesellschaften und Investmentvermögen oder Depotbanken - bezogen auf grenzüberschreitende Niederlassungen und Verschmelzungen ist schon etwas erwähnt worden - nur sagen: Wenn das immer zu den Bedingungen des Herkunftsstaates passiert, dann infizieren wir die Staaten mit guten Verhältnissen mit den Verhältnissen der schlechten Staaten, und das wollen wir nicht. Das ist ein systematischer Fehler in diesem Gesetz. ({6}) Ganz aktuell vielleicht: Wenn man die Hedgefonds in der Weise europäisch mischt, dann verdirbt man eine exzellente Regelung, die vor sieben oder acht Jahren getroffen wurde, mit der wir Hedgefonds erlaubt, diese aber so reguliert haben, dass dadurch in Deutschland kein Verbraucher geschädigt wird. Deshalb gibt es auch nur 14, und deshalb sind dort auch nur 2 Milliarden Euro investiert und nicht 80 Milliarden, wie die Banker behauptet haben. Aber wenn man das in der Weise reguliert, wie es der Entwurf des OGAW-IV-Umsetzungsgesetzes vorsieht, dann infizieren wir praktisch den guten deutschen Hedgefondsmarkt mit Hedgefondsvorgängen aus anderen Ländern, die uns sehr gefährlich werden können. ({7}) Das bereitet den nächsten GAU vor. Deshalb sind wir dagegen und lehnen den Gesetzentwurf ab. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 15/5403 und 15/5417, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 15/4510 und 15/4811 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für ein modernes Patientenrechtegesetz - Drucksachen 17/907, 17/5227 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({1})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In unserer Koalitionsvereinbarung mit der Union haben wir uns verpflichtet, die Rechte von Patientinnen und Patienten in einem eigenen Gesetz zu regeln. Denn Patientensouveränität und Patientenrechte sind uns ein wichtiges Anliegen. Das habe ich an dieser Stelle schon mehrfach betont. ({0}) Daran wird sich auch nichts ändern. Insoweit sind wir uns mit der SPD im Grunde einig. ({1}) Ihren Antrag werden wir dennoch ablehnen; denn an vielen Stellen offenbaren Sie ein Menschenbild, das mit dem unsrigen nicht übereinstimmt. ({2}) Sie leiten die berechtigten Interessen und Bedürfnisse der Patienten aus einer Opferrolle ab. Das wird den Menschen aber nicht gerecht. ({3}) Für uns sind Patienten nicht per se die Opfer, die Geschädigten oder die Getäuschten, deren schwache Position man gegenüber den übermächtigen Ärzten stärken muss. Nein, ich bleibe dabei: Patienten und Ärzte sind Partner. ({4}) Wir wollen den souveränen, aufgeklärten Patienten, der seine Rechte kennt und nutzt. Deshalb haben wir die unabhängige Patientenberatung zu einem festen Bestandteil des deutschen Gesundheitswesens gemacht. ({5}) Jetzt haben wir eine neutrale UPD, die ihrer Seismografenfunktion gerecht werden kann. In einem nächsten Schritt werden wir ein Patientenrechtegesetz vorlegen. Mit diesem Gesetz verfolgen wir das Ziel, Transparenz über die heute bereits bestehenden umfangreichen Rechte der Patienten herzustellen. Nur wer seine Rechte kennt, kann als mündiger Patient selbstbewusst gegenüber Behandlern und Krankenkassen auftreten. Darüber hinaus wollen wir zum einen die tatsächliche Durchsetzung dieser Rechte verbessern und zum anderen insbesondere in Fällen von Behandlungsfehlern den Patienten stärker unterstützen. Gleichzeitig sollen die Patienten im Sinne einer verbesserten Gesundheitsversorgung geschützt werden. Daher freue ich mich sehr, dass unsere Minister Philipp Rösler und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ein Papier vorgelegt haben, das den im Koalitionsvertrag formulierten Ansprüchen mehr als gerecht wird. ({6}) Ich möchte einzelne Punkte aufgreifen, weil sie mir besonders wichtig sind. Erstens. Bewilligungsverfahren von Sozialversicherungsträgern sollen verkürzt werden. Dies ist ein ganz zentraler Punkt im erlebten Alltag der Versicherten. Dem Patienten ist es doch mehr oder weniger egal, an welcher Stelle im Gesetz genau steht, welche Rechte er hat. Wichtig ist ihm aber, dass er die Leistungen, die ihm zustehen, schnellstmöglich erhält. Wir sorgen für kürzere Bewilligungsverfahren, und zwar zum Wohle der Patienten. ({7}) Genau in diesem Sinne, im Sinne des konkreten Nutzens für die Versicherten, werden wir die Verfahrensrechte bei einem Behandlungsfehlerverdacht stärken, nämlich mit einheitlichen Schlichtungsverfahren, Mediation und spezialisierten Kammern bei den Landgerichten. Ganz wichtig ist uns auch die Förderung der Fehlervermeidungskultur. ({8}) Behandlungsfehlern vorzubeugen, hat höchste Priorität. Ich denke, da sind wir uns einig. Risikomanagement und Fehlermeldesysteme in der stationären und ambulanten Versorgung werden gestärkt. Im Rahmen der Verpflichtung zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement wird das Beschwerdemanagement in den Krankenhäusern vorgeschrieben. Da wir Behandler und Patienten als Partner begreifen und nicht als Gegner, legen wir auf die Schaffung finanzieller Anreize großen Wert: zur Einführung eines Fehlervermeidungssystems, zum Beispiel im Rahmen von Qualitätszuschlägen - ambulant und stationär -, sowie durch Transparenzvorgaben, insbesondere für den Qualitätsbericht der Krankenhäuser. Wir dürfen bei alledem nicht die Leistungserbringer vergessen, die tagtäglich den Herausforderungen des Medizineralltags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechte darf deshalb nicht auf dem Prinzip des Misstrauens aufgebaut werden. Zwei Dinge müssen uns klar sein: Erstens. Ärzte dürfen nicht mit immer mehr unnötigen Dokumentationspflichten überlastet werden. Zweitens. Durch weitere Beweiserleichterungen, die über die Rechtsprechung hinausgehen, gerät man schnell in eine Situation der Defensivmedizin. Diese Defensivmedizin kann bei einer überzogen vorsichtigen Haltung schlimmstenfalls zur Behandlungsverweigerung führen. ({9}) Es kann aber auch zu einer extremen Überversorgung des Patienten kommen. Mit beidem ist den Patienten nicht gedient. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die übermäßige Strahlenbelastung bei häufigem Röntgen. Wir wollen keine Kultur des Misstrauens. Wir bauen auf das Prinzip von Vertrauen und Fairness. ({10}) Deshalb gibt es weder eine allgemeine Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlerverdacht noch über das Richterrecht hinausgehende weitere Beweiserleichterungen. Wir kodifizieren das Richterrecht. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze und Instrumente zur Beweislastverteilung werden in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt. Diese angemessene Beweislastverteilung wird den Ansprüchen, Rechten und Pflichten aller Beteiligten gerecht. Wenn wir über das Arzthaftungsrecht sprechen, muss uns klar sein: Für eine Haftung des Arztes müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens. Es muss eine ärztliche Pflichtverletzung vorliegen, also eine Verletzung des geltenden medizinischen Standards. Zweitens. Es muss ein Gesundheitsschaden eingetreten sein. Drittens. Es muss ein eindeutiger Ursachenzusammenhang bestehen. Um genau diesen Ursachenzusammenhang geht es. Bei Fragen des beherrschbaren Risikos, bei Befunderhebungsmängeln und bei groben Behandlungsfehlern gilt durch die Rechtsprechung bereits die Beweislastumkehr. Eine darüber hinausgehende Beweislastumkehr zulasten der Ärzte wird es mit uns nicht geben; ({11}) denn wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse. ({12}) Wir wollen keine Defensivmedizin. Wir wollen keine Kultur des Misstrauens. Wir wollen bestmögliche Versorgung auf der Basis von Vertrauen und Fairness zum Wohle der Patientinnen und Patienten in Deutschland. Danke. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Volkmer das Wort. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die SPD ist die Selbstbestimmung der Menschen und damit auch die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten ein hohes Gut. Von daher haben für uns die Patientenrechte einen ganz hohen Stellenwert. ({0}) Das haben wir in der Regierungszeit von Rot-Grün bewiesen. Wir haben das Amt des Patientenbeauftragten der Bundesregierung eingeführt; sonst könnte Herr Zöller dieses Amt heute nicht bekleiden. Wir haben die unabhängige Patientenberatung eingeführt. Das ist ein Erfolgsmodell, das jetzt in die Regelversorgung überführt worden ist. ({1}) Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass Patientenvertreter in dem Gremium sitzen, das entscheidet, welche Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. ({2}) Deswegen ist es folgerichtig, dass wir einen Antrag für ein Patientenrechtegesetz vorgelegt haben, den wir heute beraten. Patienten haben Rechte, die sie häufig nicht kennen. Sie kennen diese Rechte nicht, weil diese Rechte verstreut in unterschiedlichen Gesetzen niedergelegt sind, im Sozialgesetzbuch, im Bürgerlichen Gesetzbuch, aber auch in Berufsordnungen. Von daher ist es richtig und wichtig, dass wir das in einem Gesetz zusammenführen, und zwar in einem Patientenrechtegesetz. ({3}) Dabei geht es nicht nur darum, mehr Übersichtlichkeit für die Patienten zu schaffen, sondern auch für die Ärztinnen und Ärzte; denn manchmal kennen auch meine Arztkollegen die Rechte von Patientinnen und Patienten nicht so ganz genau. Wir können dabei gleichzeitig Lücken schließen. Zum Beispiel muss gesetzlich verankert werden, dass bei der Aufklärung von Patientinnen und Patienten auch über Alternativen zu einer diagnostischen Methode oder zu einer bestimmten Therapie informiert wird. Wir wollen viel mehr, als nur das jetzt schon geltende Recht zu kodifizieren. Ein ganz wichtiger Punkt ist die sichere Behandlung von Patientinnen und Patienten. Nun kann man sagen: Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. - Ja, eigentlich schon, aber es ist leider Tatsache, dass in Deutschland mehr Menschen an den Folgen von Behandlungsfehlern in Krankenhäusern sterben als durch Verkehrsunfälle. Von daher können wir da nicht ruhig bleiben, sondern müssen sagen: Wir wollen Fehlervermeidungssysteme in allen Krankenhäusern verbindlich vorschreiben. - Es gibt Krankenhäuser, die das schon jetzt auf freiwilliger Basis machen. Das ist richtig und gut, aber das reicht uns nicht. In jedem Krankenhaus muss das geschehen. Natürlich werden überall dort, wo gearbeitet wird, Fehler gemacht. Das ist ganz normal. Aber es ist vor allen Dingen wichtig, dass Fehler und Beinahefehler erfasst werden, um daraus Rückschlüsse für zukünftiges Arbeiten und für die Sicherheit ziehen zu können. Deswegen halten wir es für dringend erforderlich, dass Men11854 schen, die einen eigenen oder einen fremden Fehler melden, keine arbeitsrechtlichen Sanktionen befürchten müssen. ({4}) Ein Patientenrechtegesetz muss aber auch die Opfer von Behandlungsfehlern stärken. Zum Beispiel wollen wir gesetzlich vorschreiben, dass Nachbehandler bei Verdacht auf einen groben Behandlungsfehler den Patienten darauf aufmerksam machen müssen. Wir wollen sowohl die gesetzlichen als auch die privaten Krankenkassen verpflichten, im Falle des Verdachtes eines Behandlungsfehlers die Versicherten zu unterstützen. Eine Schwierigkeit für die betroffenen Patientinnen und Patienten ist der Nachweis der Kausalität. Dabei geht es um die Frage, ob der Gesundheitsschaden tatsächlich aufgrund eines Behandlungsfehlers eingetreten ist oder ohnehin aufgrund einer anderen Erkrankung oder der Erkrankung, wegen der der Betroffene behandelt wird, eingetreten wäre. Wir fordern bei groben Behandlungsfehlern in bestimmten Fällen eine Beweislastumkehr, zum Beispiel dann, wenn Dokumentationen nicht vollständig sind oder wenn diese Dokumentationen den Gerichten nur verzögert oder scheibchenweise zur Verfügung gestellt werden. ({5}) Um das noch einmal ganz klar zu sagen: Eine generelle Beweislastumkehr wollen wir nicht; denn da sehen auch wir Gefahren für den Patienten. Es könnte sein, dass die Versicherungen dann sehr hohe Beiträge verlangen und dass gefährliche Eingriffe bei Patientinnen und Patienten nicht durchgeführt werden. Es stimmt nicht, dass wir eine generelle Beweislastumkehr fordern; mit dieser Behauptung soll nur Stimmung gegen ein solches Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte gemacht werden. Sehr wichtig ist uns auch die Stärkung der kollektiven Rechte von Patientinnen und Patienten. Ich habe schon gesagt, dass wir die Beteiligung von Patientenvertretern im Gemeinsamen Bundesausschuss eingeführt haben. Jetzt geht es darum, ein Stimmrecht der Patientenvertreter zumindest in Verfahrensfragen in dem Gemeinsamen Bundesausschuss auf den Weg zu bringen. Heute liegt Ihnen ein ziemlich umfassender Antrag vor, in dem wir beschreiben, wie wir uns die Ausgestaltung eines Patientenrechtegesetzes vorstellen. Das, was bisher vonseiten der Koalition vorgelegt worden ist, würde ich nur als Ankündigung bezeichnen. Es besteht nämlich nicht einmal Einigkeit darüber, welchen Status Ihr Papier hat. Manche sagen, es sei ein Eckpunktepapier; manche sagen, es sei ein Positionspapier. Es besteht bei Ihnen noch nicht einmal Einigkeit darüber, wie das Gesetz heißen soll. Herr Zöller, Sie sprechen immer von einem Patientenrechtegesetz; das finde ich sehr gut. Aber es gibt viele Kollegen, gerade in der FDP, die von einem Patientenschutzgesetz sprechen. Da frage ich Sie: Welchen Blick haben Sie denn auf die Patienten? Wir glauben nicht, dass Patienten unbedingt schützenswert sind. ({6}) Aber wir glauben, dass Patienten ganz klar über ihre Rechte Bescheid wissen müssen, damit sie fachgerecht entscheiden können, gemeinsam mit dem Arzt. Wir halten eine Verbesserung ihrer Situation bei Behandlungsfehlern für notwendig. Hier ist der Patient tatsächlich in einer sehr ungünstigen Position. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die Unionsfraktion.

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Grundsätzlich stelle ich hier im Haus einen großen Konsens fest. Wir wollen die Rechte der Patienten und Patientinnen stärken, und wir wollen das Verhältnis Arzt-Patient auf eine saubere Grundlage stellen und damit insgesamt transparenter machen. Wir kündigen nicht nur an, sondern wir werden in diesem Jahr den Entwurf eines Patientenrechtegesetzes vorlegen! ({0}) Das künftige Regelwerk wird zwei Bedingungen erfüllen: Es wird Vorschriften bündeln und die Rechte der Patienten in vielfältiger Weise stärken. Die christlich-liberale Koalition hat die Absicht, mit den konkreten Beratungen über ein Patientenrechtegesetz zu beginnen, um die Rechte der Patienten im Umgang mit Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen zu verbessern und die Versicherten vor Behandlungsfehlern stärker zu schützen. Dabei ist uns ein zentrales Anliegen, den Patientinnen und Patienten mehr Souveränität im Umgang mit Ärzten zu verschaffen, sie zu Partnern auf Augenhöhe zu machen und gleichzeitig das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht zu zerstören. ({1}) Wir wollen eine ausgewogene Balance der Interessen und sehen keinen Sinn darin, einzelne Gruppen in unserem Gesundheitssystem gegen andere Gruppen in Stellung zu bringen. ({2}) Deshalb haben wir den vorliegenden Antrag der SPD im Gesundheitsausschuss abgewiesen. Wir halten ihn für nicht zielgenau und für überzogen. Ich nenne stellvertretend nur das Stichwort „Leichenschau“. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich selbst das in der vergangenen Legislaturperiode von der SPD geführte Gesundheitsministerium seinerzeit gehütet hat, sich diese Vorstellungen der SPD-Fraktion zu eigen zu machen. Umso mehr begrüße ich das vom Patientenbeauftragten der Bundesregierung jüngst vorgelegte Grundsatzpapier. ({3}) Namens der CDU/CSU-Fraktion danke ich unserem Kollegen Wolfgang Zöller für seine Arbeit. ({4}) Er hat in zahllosen Gesprächen mit allen gesellschaftlichen Gruppen und allen Beteiligten in unserem Gesundheitswesen einen breiten gesellschaftlichen Konsens für dieses Grundlagenpapier hergestellt. Mein Dank gilt ebenso dem Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler ({5}) und der Frau Bundesjustizministerin, die beide engagiert und konstruktiv an diesem Papier mitgearbeitet haben. ({6}) Die Vorschläge des Patientenbeauftragten sind von der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband positiv aufgenommen worden. ({7}) Die Bundesärztekammer würdigt das Papier als gutes Ergebnis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung begrüßt, dass damit die Rechte der Patienten gestärkt werden und ihre Beteiligung in der Selbstverwaltung ausgebaut wird. Der GKV-Spitzenverband beurteilt die Vorschläge ausdrücklich als sehr positiv. Auch der Bundesverband der Verbraucherschützer bewertet die Eckpunkte als Schritt in die richtige Richtung. ({8}) Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, das Jahr 2011 zum Jahr der Patienten zu machen, und wir halten Wort. ({9}) Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetzlich verankert. Wir haben den Gesetzentwurf zur durchgreifenden Verbesserung der Krankenhaushygiene eingebracht. Gestern haben wir über das 5,5-Milliarden-EuroProgramm zur Erforschung der Volkskrankheiten debattiert. Wir haben heute die Eckpunkte für ein umfassendes Versorgungsgesetz vorgelegt - Stichworte hierzu: flächendeckende Bedarfsplanung und Versorgungsgerechtigkeit für den ländlichen Raum. Wir werden mit dem Patientenrechtegesetz die Kräfte im Gesundheitswesen so ausbalancieren, dass die Patienten gestärkt werden, ohne das unabdingbare Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu beschädigen. ({10}) Zu den Kernpunkten unseres Vorhabens gehören die Verankerung des Behandlungsvertrags im BGB, die gesetzliche Klarstellung der Aufklärungs- und Dokumentationspflichten sowie die Vereinheitlichung des außergerichtlichen Schlichtungsverfahrens bei den Ärztekammern. Wir stärken die Rechte der Patienten auf Akteneinsicht, wir fördern das Beschwerdemanagement in den Krankenhäusern, und wir werden nachhaltig die Fehlervermeidung vorantreiben, indem wir die Einführung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen forcieren. Ferner werden wir die Beteiligung der Patienten - zum Beispiel im Gemeinsamen Bundesausschuss ausweiten und die künftigen Aufgaben des Patientenbeauftragten präzisieren. Ein Schwerpunkt unserer Vorhaben betrifft Behandlungsfehler. Hier wollen wir in einfachen Fällen - wie bisher -, dass sich der Patient an die Schlichtungsstelle der zuständigen Ärztekammer wendet. Bereits heute werden rund 70 Prozent der Streitfälle auf diese Weise außergerichtlich geklärt. Kommt es zu einem Haftungsprozess, gelten die von der Rechtsprechung entwickelten Instrumente zur Beweislastverteilung, die in das BGB aufgenommen werden; denn wir haben nicht die Absicht, Ärzte unter Generalverdacht zu stellen. Allerdings werden wir bei groben Behandlungsfehlern verbindlich festschreiben, dass der Arzt nachweisen muss, den Schaden nicht verursacht zu haben. Weiter werden Länder und Ärztekammern angehalten, dafür zu sorgen, dass Ärzte über eine entsprechende Berufshaftpflichtversicherung verfügen. Zudem werden die bislang in jedem Bundesland unterschiedlich geregelten Schlichtungsverfahren bei ärztlichen Behandlungsfehlern vereinheitlicht. Die Kranken- und Pflegekassen sollen ihren Versicherten künftig Hilfestellung bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen geben, indem sie die Patienten - etwa durch medizinische Gutachten - unterstützen und so dazu beitragen, oft jahrelang dauernde gerichtliche Auseinandersetzungen zu beschleunigen. Die Kassen können schon heute ihre Versicherten bei der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen unterstützen; ich denke aber, wir sollten aus dieser Kann-Regelung eine verbindlichere Lösung für die Versicherten entwickeln. Meine Damen und Herren, ich komme zu einem Punkt, den ich für besonders wichtig halte. Es geht um die Einführung einer Frist, innerhalb derer die Krankenkassen über Reha- und Hilfsmittelanträge entscheiden müssen. Der Patientenbeauftragte schlägt vor, Anträge nach Ablauf einer Frist als genehmigt gelten zu lassen. Das ist eine bedeutende Verbesserung für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Prüfung der Frist, nach der Patienten bei den Sozialgerichten gegen ausstehende Entscheidungen der Sozialversicherung klagen können; hier denken wir daran, diese Frist von sechs auf zwei Monate zu verkürzen. Alle diese Maßnahmen entsprechen dem Leitbild eines souveränen und mündigen Patienten, der seine Rechte kennt - und genau darum geht es. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung hat es so ausgedrückt: Die Patientinnen und Patienten sollen ihr Gesundheitssystem als gerecht empfinden. - Das bedeutet: Patienten dürfen nicht das Gefühl haben, Bittsteller zu sein. Sie dürfen sich gegenüber Leistungsträgern und Leistungserbringern nicht ohnmächtig fühlen. Es geht uns in diesem Jahr der Patienten darum, den Menschen, der krank ist, mit Nachdruck in den Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems zu stellen; denn das ist der Platz, der ihm zusteht und auf den er Anspruch hat. Es geht uns gleichzeitig aber auch um einen vernünftigen Ausgleich der Interessen von Patienten und Leistungserbringern. Nur gemeinsam mit Ärzten und Krankenkassen können wir ein Patientenrechtegesetz machen, das seinen Namen verdient. Wir wollen keine Grabenkämpfe, sondern ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis auf Augenhöhe. Es bleibt dabei: Alle Fraktionen dieses Hauses sind eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rüddel, ich hatte es bisher immer so verstanden, dass der Herr Minister Rösler dieses Jahr zum Jahr der Pflege erklärt hat. Sie haben es jetzt zum Jahr der Patienten gemacht. ({0}) Vielleicht einigen Sie sich da koalitionsintern, damit wir wissen, was jetzt eigentlich angesagt ist. ({1}) Ich habe einmal das Wort „Patientenrechte“ gegoogelt und 143 000 Einträge gefunden. Bei demselben Begriff auf Englisch oder Spanisch erhalte ich jeweils 17 Millionen Einträge, und wenn ich den französischen Begriff eingebe, sind es sogar 19 Millionen Einträge. ({2}) Wenn ich ihn auf Niederländisch eingebe, sind es immerhin noch 219 000 Einträge. Zumindest hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung scheint es mit den Patientenrechten in Deutschland und im deutschsprachigen Raum nicht ganz so weit her zu sein, wie uns das hier immer dargestellt wird. ({3}) Worüber reden wir jetzt eigentlich? Dazu will ich Ihnen einmal eine Geschichte aus meiner Heimat erzählen, die sich etwa vor einer Woche zugetragen hat. Es wäre ganz gut, wenn Sie zuhören würden, weil das nicht erfreulich ist: ({4}) Ein 83-jähriger blinder Mann kommt zu einer Untersuchung ins Krankenhaus. Dort erleidet er einen Kreislaufzusammenbruch und wird stationär aufgenommen. Nach einigen Untersuchungen wird er entlassen und mit einem Krankenwagen nach Hause gebracht: allein, im OP-Hemd und noch mit der Infusionsnadel im Arm. Dieses Ereignis ist einfach mehr als ein Fehler, den Menschen nun einmal machen. Für mich ist das Ausdruck eines Gesundheitswesens, das immer mehr von der Ökonomie beherrscht wird, in dem der Patient nicht mehr ein leidender Mensch ist, dem zu helfen ist, sondern so etwas wie ein Werkstück, das im Fließbandtakt die Fabrik durchläuft, und in dem die Pflegenden und Behandelnden immer mehr zu selenloser und entwürdigender Fließbandarbeit gezwungen werden. Die Linke setzt sich deswegen für ein Gesundheitswesen ein, das allen Menschen barrierefrei und unabhängig von ihrem Einkommen eine gute medizinische Versorgung garantiert. Ich finde es ganz wichtig, dass die Wahrung ihrer Würde und Selbstbestimmung dabei stärker als bisher in den Mittelpunkt gerückt wird. ({5}) Die derzeitigen Rechte für Patientinnen und Patienten - ich glaube, darin sind wir alle uns einig - finden sich in vielen Einzelgesetzen wieder, und vieles ist gar nicht gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich nur aus der Rechtsprechung. ({6}) Ich glaube, die Patientinnen und Patienten haben den Gerichten in Deutschland in den letzten Jahren tatsächlich mehr zu verdanken als der Politik. Der Antrag mit dem Titel „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“, den die SPD hier vorgelegt hat, hat ja schon vor einem Monat seinen ersten Geburtstag gefeiert. ({7}) Er kann also schon fast laufen. Er enthält einige richtige und wichtige Gedanken - das möchte ich auch unterstützen -, wie den Entschädigungsfonds und die Regulierung der sogenannten IGeL. Man merkt ihm aber doch noch ein bisschen seine Entstehungsgeschichte an. Gleich zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie ihn eilig aus dem zusammengezimmert, was Sie in der gemeinsamen Regierungsarbeit mit der CDU/CSU liegenlassen mussten. Die Linke - auch ich - kann sicher mit Ihnen mitgehen, wenn Sie fordern, die Rechte der Patientinnen und Patienten zusammenzufassen und zu stärken. Ich kann es mir aber nicht verkneifen, Sie daran zu erinnern, dass Sie bis 2009 die Verantwortung für das Justizund das Gesundheitsministerium hatten. Insofern stellt sich die Frage, warum Sie damals nicht eine der Maßnahmen durchgesetzt haben, die Sie jetzt von Schwarz-Gelb fordern. ({8}) Meiner Ansicht nach hätten Sie die 13 Monate Liegezeit dafür nutzen können, den Antrag nachzubessern und konkreter zu machen; denn bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss sind seitens der Patientinnen- und Patientenorganisationen einige gute Impulse gekommen. Das haben Sie leider versäumt. Deswegen und wegen des völlig überzogenen Eigenlobs in der Einleitung muss sich die Linksfraktion leider in der Abstimmung enthalten. Es gibt aber erhebliche Schnittmengen zwischen unseren Auffassungen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir dann, wenn die Regierungsfraktionen ihren schon lange angekündigten Gesetzentwurf vorlegen, gemeinsam unsere Alternativvorschläge formulieren. Die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte zum Patientenrechtegesetz lassen befürchten, dass der lang und breit angekündigte Entwurf nicht die nötige Weite haben wird und nicht mehr als ein kleiner Hopser wird: kein Satz zum Entschädigungsfonds, kein Gedanke an Beweiserleichterung. Lediglich den Krankenkassen wollen Union und FDP neue Lasten auferlegen. Ich fand es schon symptomatisch, dass Sie in der Anhörung die anwesenden Patientenvertreter fast völlig ignoriert haben. Was sie zu sagen hatten, schien für Sie völlig uninteressant zu sein. Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, machen Sie es sich bitte nicht so einfach. Wenn man etwas im Sinne der Menschen erreichen will, muss man sich eben auch manchmal mit Lobbygruppen anlegen. ({9}) Wenn Ihnen dazu der Mut fehlt, dann überlassen Sie das Regieren bitte anderen. Denn Regieren ist nichts für Feiglinge. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Präsidentin! Ich will jetzt etwas tun, was vor mir gar nicht so viele getan haben, nämlich tatsächlich auf den vorliegenden Antrag eingehen. Wir reden ja heute über einen SPD-Antrag, der es unserer Meinung nach verdient hat, gewürdigt zu werden. ({0}) Herr Rüddel, wenn Sie anbieten, gemeinsam Positionen zu entwickeln, dann hätte es Ihnen auch gut angestanden, das zu tun. Denn in diesem Hause gibt es eine relativ breite Übereinstimmung darin, auf ein modernes partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patienten zu setzen, statt einen Konflikt zwischen ihnen heraufzubeschwören. Zum einen stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen wir brauchen. Zum anderen müssen wir in den Fällen, in denen die Patienten schwach sind und sich nicht durchsetzen können, unsere Schutzfunktion als Gesetzgeber wahrnehmen. Diese Punkte gehören eng zusammen. Ich glaube - das kann man auch als politischer Wettbewerber sagen -, der SPD-Antrag wird in großen Teilen beiden Punkten gerecht. ({1}) - Genau. Das können Sie gerne bestätigen. - Denn in dem Antrag werden verschiedene Aspekte angesprochen, zum Beispiel die Frage, was an Information nötig ist, welche Unterstützung im Verlauf der Leistungserbringung gegeben sein muss und was an Fehlervermeidungskultur und Qualitätssicherungssystemen erforderlich ist. Er geht darauf ein, was nötig ist, um die Behandlungssituation insgesamt sicherer zu machen, und welche Unterstützung diejenigen brauchen, die Opfer eines Behandlungsfehlers geworden sind, aus welchen Gründen auch immer er gemacht worden ist. Von daher ist dem Antrag Respekt zu gewähren. Von unserer Seite heißt das nicht, dass wir alle Punkte abschließend behandelt finden. Es gibt etliche Positionen, die wir gerne genauer gefasst hätten, und Etliches ist durch den Lauf der Ereignisse längst erledigt. Die unabhängigen Beratungsstellen müssten aus unserer Sicht viel stärker ausgebaut werden, wenn wir dem Anspruch gerecht werden wollten, tatsächlich für Information und Unterstützung von Patienten auf gleicher Augenhöhe zu sorgen. ({2}) So viel zum Antrag. Jetzt komme ich zu dem, wofür Sie von der Koalition den heutigen Tag auch genutzt haben, nämlich das gemeinsam vereinbarte Grundlagenpapier für ein Patientenrechtegesetz vorzustellen und auch ein bisschen zu feiern. In der Tat gebührt dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung insofern ein Lob, ({3}) als dass er es geschafft hat, ein Stück weit über Ihre Koalitionsvereinbarung hinauszugehen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht nur, dass Sie die geltenden Rechte bündeln wollen. Herr Zöller hat aufgrund des Kontaktes und der Auseinandersetzung mit Patientenorganisationen dafür gesorgt, dass auch Bereiche, die ursprünglich nicht Bestandteil Ihres Papieres waren, einbezogen werden, Bereiche, die auch im SPD-Antrag berücksichtigt werden. Gleichwohl will ich an dieser Stelle auf einen besonderen Unterschied hinweisen. Sie sprechen in Ihrem Koalitionsvertrag nicht von einem Patientenrechtegesetz, sondern von einem Patientenschutzgesetz. Dieser eigentlich sehr engen Auffassung werden Sie aber mit dem Grundlagenpapier in keiner Weise gerecht; das finde ich schon erstaunlich. Schauen wir uns an, welche Vorschläge Sie für eine Fehlervermeidungskultur machen. Sie setzen im Bereich der Patientensicherheit auf freiwillige Anreize, die heute in 900 Krankenhäusern schon bestehen. Aber es geht jetzt darum, das Recht des Patienten auf eine sichere und gute Versorgung so festzuschreiben, dass in allen Krankenhäusern und Praxen bestimmte qualitätsgesicherte und risikogeprüfte Verfahren eingehalten werden. ({4}) Keiner von uns steigt in ein Flugzeug, ohne darauf zu vertrauen, dass zuvor ein Sicherheitscheck durchgeführt wurde. Auch Patienten haben Anspruch auf einen solchen Check. Das muss rechtsverbindlich geregelt werden. ({5}) Wenn es darum geht, Patienten zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn sie Opfer von Behandlungsfehlern geworden sind, bleiben Sie weit hinter dem zurück, was eigentlich notwendig wäre. Sie versuchen zwar, die Rechtsprechung ein Stück weit in Recht zu fassen, machen das aber handwerklich so schlecht, dass die Patienten letztendlich schlechter gestellt werden. Da müssen Sie dringend nachlegen und korrigieren. Wir werden den Gesetzgebungsprozess und den Diskussionsprozess nutzen, um auf diese Mängel hinzuweisen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich nehme gerne das von Ihnen unterbreitete Angebot an, Herr Rüddel, gemeinschaftlich an einer Verbesserung zu arbeiten. Sowohl der vorliegende SPD-Antrag als auch der Antrag, den wir in Kürze einbringen werden und der weitere qualifizierte Vorschläge beinhalten wird, und auch Ihr Grundlagenpapier werden Grundlage weiterer Diskussionen sein. Heute haben wir sicherlich nicht das letzte Mal darüber diskutiert. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kollegin KleinSchmeink, es ist erstaunlich, dass Sie uns handwerkliche Fehler vorwerfen, ohne ein Gesetz gesehen zu haben. Wie das gehen soll, kann ich nicht beurteilen. Wir diskutieren jedenfalls über ein Grundlagenpapier. Seit etwa 15 Jahren gibt es die Diskussion über ein Patientenrechtegesetz. Jetzt hat diese Diskussion die Zielgerade erreicht. Es wird eine gesetzliche Regelung geben. ({0}) Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, hat nach gründlicher Vorarbeit und nach umfangreicher Abstimmung mit allen Betroffenen die Grundlagen dieser gesetzlichen Regelung am 22. März vorgestellt. ({1}) Dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung gebührt Dank, dass er das Projekt in die Hand genommen, es engagiert koordiniert und mit über 300 Verbänden besprochen hat. Es war im Übrigen richtig, zuerst mit den Verbänden, mit allen potenziell Betroffenen zu sprechen und eben nicht ein wohlklingendes Papier an den Anfang zu stellen. Anlass unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der SPD. Es ist nicht alles falsch, was darin steht. Aber bezogen auf diesen Antrag ist manches differenzierter zu betrachten und manches überholt. Überholt ist etwa die Forderung, die Modellvorhaben der Unabhängigen Patientenberatung, UPD, auf Dauer abzusichern; denn das, Frau Kollegin, haben wir bereits im letzten Jahr mit dem AMNOG getan. Die UPD gehört jetzt zur gesetzlichen Regelversorgung. Wir wissen, dass Patientenrechte heute an vielen unterschiedlichen Orten geregelt sind: in Gesetzen, Richtlinien, Berufsordnungen und in Bundesmantelverträgen der Selbstverwaltung. Viele Details sind durch die Rechtsprechung ausgestaltet worden. Wir sind uns einig in der Bewertung, dass im Interesse von Patientinnen und Patienten mehr Transparenz hergestellt werden muss. Wer wie ich als Rechtsanwalt in der Praxis Mandanten in medizinrechtlichen Haftungsauseinandersetzungen betreut hat, kennt die Situation, dass der Laie die Verfahrensabläufe in der Regel nicht mehr überblicken kann bzw. dass er sie überwiegend nicht versteht. Diese Situation wollen wir verbessern. Grundlage jeder ärztlichen Behandlung ist der Behandlungsvertrag, der bisher nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Heute kommt ein Behandlungsvertrag meist mündlich oder auch konkludent zustande, indem sich der Patient in die Behandlung begibt. Ein Vertrag in Schriftform ist nur in besonderen Fällen vorgeschrieben. Die Pflichten des Arztes ergeben sich in diesem Zusammenhang aus seiner Berufsordnung, dem Bundesmantelvertrag Ärzte, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem SGB V sowie gegebenenfalls aus der Gebührenordnung oder auch aus Hausarztverträgen. Künftig wird der Behandlungsvertrag ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch stehen, und es wird den Behandlungsvertrag nicht nur im Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten geben, sondern auch im Verhältnis zwischen Patienten und anderen Heilberufen wie Physiotherapeuten, Heilpraktikern, Hebammen usw. Patienten sind verständlich und umfassend zu informieren. Sie müssen auch auf Kosten für solche Heilbehandlungen hingewiesen werden, die von den Leistungsträgern nicht übernommen werden. Wirksamkeit erlangt ein solcher Vertrag nur dann, wenn über die zur Erstellung der Diagnose erforderlichen Maßnahmen, über die Diagnose selbst und über die Therapie aufgeklärt wurde. Nur dann gilt die Einwilligung des Patienten in die Behandlungsmaßnahme als erteilt; ansonsten ist sie unwirksam. ({2}) Im Streitfall muss der Behandelnde die ordnungsgemäße Aufklärung des Patienten beweisen. Die im Wesentlichen richterrechtlich geprägte Aufklärungspflicht und die Dokumentationspflicht werden wir gesetzlich konkretisieren. Krankenakten sind vollständig und sorgfältig zu führen. Dies kann unter Beachtung des Datenschutzes und der Datensicherheit auch elektronisch erfolgen. Versäumt die behandelnde Person ihre gesetzliche Dokumentationspflicht, dann wird zu ihren Lasten vermutet, dass die nicht dokumentierte Maßnahme auch nicht stattgefunden hat. Schließlich wird das Recht auf Akteneinsicht durch die Patienten gesetzlich abgesichert. Patienten steht das Recht zu, Einblick in die Patientenakte zu nehmen und diese - auf eigene Kosten - zu kopieren. Wir wollen Patienten besonders schützen, wenn die Akte nicht herausgegeben wird. Damit wollen wir keine Belastung oder Gängelung zum Beispiel der Ärzte einführen, sondern klare Vorgaben setzen, die das Vertrauen zwischen Arzt oder in anderen Heilberufen Tätigen und Patient entscheidend stärken können und sollen. In Haftungsprozessen geht der Streit häufig darum, ob ein Behandlungsfehler ursächlich für einen Schaden ist. Hier werden wir im Interesse der Patienten mehr Rechtssicherheit herstellen. ({3}) Wir werden eine differenzierte Regelung in das BGB aufnehmen und damit die von der Rechtsprechung entwickelten Ansätze zur Beweislast aufgreifen. Im Falle eines groben Behandlungsfehlers, der generell geeignet ist, den Schaden herbeizuführen, wird vermutet, dass der Fehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war. Es tritt eine Beweislastumkehr ein: Der Behandelnde kann dann den Beweis führen, dass sein Fehler nicht kausal für den Eintritt des Schadens war. Wir wollen, dass Auseinandersetzungen über Behandlungsfehler deutlich verkürzt werden. Wir befürworten bundesweit einheitliche Schlichtungsverfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung und spezialisierte Kammern bei den Landgerichten. Auch die am 4. Februar 2011 auf den Weg gebrachte Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO, also die Nichtzulassungsbeschwerde in Berufungssachen mit einer Beschwer über 20 000 Euro, schafft in diesem Zusammenhang mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Für betroffene Patienten ist es von entscheidender Bedeutung, dass ihre Schadenersatzansprüche tatsächlich erfüllt werden. Deshalb müssen Ärzte über eine durchgängige Berufshaftpflichtversicherung mit ausreichenden Deckungssummen verfügen und diese auch belegen. Dies durch geeignete Mechanismen sicherzustellen, liegt zunächst bei Ländern und Ärztekammern. Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf zu Patientenrechten debattieren. In der Zielrichtung sind wir uns weitgehend einig: Wir wollen Rechtsklarheit und Transparenz deutlich verbessern und Vollzugsdefizite abbauen. Wir wollen dies auch durch gesetzliche Regelungen erreichen. Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte auf der Basis des kommenden Gesetzentwurfes. Den über ein Jahr alten Antrag der SPD müssen wir heute leider ablehnen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau, Coesfeld nach vorn - und vor allen Dingen Berlin. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer genau zugehört hat, hat festgestellt, dass im Jahr des Vertrauens noch nicht einmal die Koalitionspartner und -partnerinnen untereinander einig sind. ({1}) Egal ob man von einem Positionspapier oder von einem Eckpunktepapier ausgeht - Herr Monstadt hat uns vorgetragen, was man alles will -: Entschieden ist noch nichts. ({2}) Wer genauer hingeschaut hat, hat gesehen: Zwischendurch gab es Kopfschütteln. Wir werden sehen, was die Koalition tatsächlich auf den Weg bringt. ({3}) Es ist gut, dass wir ein anderes Menschenbild haben als Sie, Frau Aschenberg-Dugnus. Wer Patienten ausschließlich als Opfer beschreibt, greift zu kurz. ({4}) Wir wollen starke und mündige Patienten. ({5}) Nichtsdestotrotz ist es so: Wenn jemand ein Opfer von Behandlungsfehlern geworden ist, dann gilt über den Opferschutz hinaus, dass dieser Mensch krank ist und unseres besonderen Schutzes bedarf. Daher ist es kein Widerspruch, hier von Opfern zu reden. Ich möchte einen anderen Aspekt aufgreifen, der im Jahr des Vertrauens heute hier noch kaum eine Rolle gespielt hat; gleichwohl ist er Teil unseres Antrages. Wir haben Sie, die Regierung, aufgefordert, zur Stärkung der Patientenrechte gegenüber Sozialleistungsträgern und Leistungserbringern etwas dazu beizutragen, dass der Griff ins Portemonnaie der Patientinnen und Patienten aufhört. ({6}) Wir beobachten einen sprunghaften Anstieg der sogenannten IGeL-Leistungen, also eine ständige Ausweitung der individuellen Gesundheitsleistungen. Wir reden hier von einem Markt, dessen Volumen mittlerweile von 1 Milliarde Euro auf 1,5 Milliarden Euro angewachsen ist. Der allergrößte Teil dieser Leistungen ist nicht notwendig. Hier ist heute schon viel davon die Rede gewesen, wie wichtig Vertrauen ist, und zwar insbesondere im Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Ausweitung der sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen zerstört das für die medizinische Behandlung so wichtige Vertrauensverhältnis. ({7}) Der Glaube an die Leistungsfähigkeit und an die Zuverlässigkeit unseres Gesundheitswesens wird erschüttert. Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen erscheint minderwertig oder nicht ausreichend. Ich bin auch ganz sicher, dass sich hiermit das ärztliche Berufsbild ändert. Wir haben Sie aufgefordert, hierzu einen Bericht abzuliefern. Sie sind bis dato leider Gottes untätig gewesen. Zuzahlungen, IGeL-Leistungen - die Bundesregierung lässt den Griff in die Portemonnaies der Versicherten geschehen. Etwas anderes sei an dieser Stelle aus Zeitgründen nur erwähnt. Sie haben vorhin wieder die Qualität des AMNOG herausgestellt. Wo aber beweisen Sie, dass mit dem AMNOG eine Verbesserung der Arzneimittelversorgung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Wirkungen erzielt wird? ({8}) Wer bestreitet, dass es geschlechtsspezifische Wirkungen gibt, dem sage ich eindeutig, dass er sich insbesondere an der individuellen Gesundheit von Frauen versündigt. ({9}) Infolgedessen würde ich mich an Ihrer Stelle nicht darüber lustig machen, sondern zügig an die Arbeit gehen, damit der Aspekt „Gender-Medizin und geschlechtergerechte Gesundheitsförderung“ endlich Wirklichkeit für alle in Deutschland wird. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/5227, den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/907 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Nešković, Harald Koch, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung - Drucksache 17/1412 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das ist offenkundig unstreitig. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über Bestechung und Bestechlichkeit in der Politik. In unserem Grundgesetz heißt es: Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. So weit das geschriebene Wort. Doch wie sieht die Realität aus? Ganz genau kann dies vermutlich niemand sagen. Denn das, worüber wir heute reden, geschieht zumeist im Dunkeln und eben nicht im Licht der Öffentlichkeit. Offiziell bekannt ist ein Fall, den das Landgericht Neuruppin zu entscheiden hatte. Eine Investitionsgesellschaft hatte einem Mitglied des Neuruppiner Stadtrates ein persönliches Darlehen von 100 000 Euro angeboten, um von der Stadt eine Ausfallbürgschaft von 13,7 Millionen Euro zu bekommen. Das Gericht sah darin einen Stimmenkauf. Der Kauf von Stimmen bei Abstimmungen und Wahlen ist also strafbar. Das ist gut so; aber es reicht nicht aus. Denn auch in anderen Fragen gibt es genug Motive und leider auch genug Gelegenheiten, Politikerinnen und Politiker mit Geld- und anderen Leistungen dazu zu bringen, bestimmte Entscheidungen zu treffen oder eben nicht zu treffen. Auch wenn wir Linken sonst eher skeptisch sind, was die Erweiterungen des Straftatenkatalogs angeht, fordern wir an dieser Stelle genau dies. Wir wollen es in Bezug auf die Abgeordnetenbestechung nicht bei symbolischer Politik belassen. Es kann nicht sein, dass allein der Kauf von Stimmen bei Abstimmungen und Wahlen strafbar ist, ansonsten aber jede Politikerin und jeder Politiker sich kaufen lassen kann. ({0}) Der Ruf von Politikerinnen und Politikern ist nicht der beste. Wir alle müssen uns fragen, welchen Beitrag wir dazu leisten, dass der Ruf nicht besser, sondern eher schlechter wird. Die Menschen haben das Vertrauen in Parteipolitik verloren, nicht in Politik an sich. Wenn wir nicht aktiv daran arbeiten, Vertrauen in politische Prozesse wiederherzustellen, und wenn wir es versäumen, die Menschen daran zu beteiligen und mehr Transparenz herzustellen, dann gefährden wir die Demokratie. Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck: Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen. Diesen Eindruck können wir nicht mit guten Worten entkräften. Hier sind Taten gefordert. ({1}) Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn Abgeordnete dem Anspruch gerecht werden wollen, den das Grundgesetz zu Recht aufstellt, dann dürfen sie nicht korrumpierbar sein. Wenn sie sich doch korrumpieren lassen, dann muss das Folgen haben. Wir alle haben unser Mandat nur auf Zeit; aber in dieser Zeit sind wir - so sagt es die Verfassung - Vertreterinnen und Vertreter des ganzen Volkes. Deswegen haben alle Menschen, ob sie uns gewählt haben oder nicht, ein Anrecht darauf, dass wir uns um einen gerechten Interessenausgleich bemühen und nicht die Interessen derjenigen vertreten, die uns dafür Geld oder andere Annehmlichkeiten versprechen. Wenn wir das nämlich zulassen und als gegeben hinnehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die anderen - also die große Mehrheit - sich ohnmächtig fühlen und an der Politik insgesamt das Interesse verlieren. Das wollen wir nicht. Wir wollen Politik für die, aber vor allen Dingen mit den Menschen gestalten. ({2}) Wir wollen, dass Entscheidungen und Entscheidungsprozesse transparent sind. ({3}) Wir wollen, dass Entscheidungen des Parlaments im Parlament ({4}) und nicht im Vorzimmer, im Hinterzimmer oder im Kaminzimmer der Kanzlerin getroffen werden. ({5}) Wir wollen Lobbyismus aufzeigen, und wir wollen Lobbyismus begrenzen. Wir wollen - das ist der Kern dieses Gesetzentwurfs - unsichtbare Korruption öffentlich machen und unter Strafe stellen. Die Linke steht damit nicht allein. Auch Transparency International hat sich für eine grundlegende Neufassung der Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung ausgesprochen. Die Experten der Staatengruppe gegen Korruption des Europarates haben ebenfalls gefordert, die Missstände bis Mai 2011 zu beseitigen. Wir reden hier tatsächlich über Korruption. Die UNKonvention gegen Korruption vom 31. Oktober 2003 verlangt eine Gleichbehandlung von Mitgliedern der Gesetzgebungsorgane oder kommunalen Volksvertretern mit Amtsträgern. Diese Konvention hat Deutschland noch nicht ratifiziert. Warum eigentlich nicht? Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, FDP, SPD und auch von den Grünen, wir haben heute die Chance, ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen, dass der Kampf gegen Korruption kein Lippenbekenntnis ist, ein Zeichen, dass die Interessen der Einwohnerinnen und Einwohner im Mittelpunkt politischer Entscheidungen stehen und nicht die Interessen derjenigen, die über die meisten finanziellen Mittel verfügen, ein Zeichen, dass gilt, was in unserer Verfassung steht: dass die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte die im Dunkeln sieht man nicht. So lautet eine allseits bekannte Strophe aus der „Moritat von Mackie Messer“ von Bertolt Brecht. Mit ihrem Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung, im Übrigen im Großen und Ganzen ein Aufguss aus der vorangegangenen Legislaturperiode, meint die Fraktion Die Linke wohl, Licht in ein vermeintliches Dunkel zu bringen oder bringen zu müssen. Vielleicht ist es dort aber doch viel heller, als die Kolleginnen und Kollegen links von mir meinen. Denn hier im Deutschen Bundestag und in den anderen deutschen Parlamenten steht man doch schon gleichsam im Lichte. Wir, die Abgeordneten, stehen mit unserem Tun und Lassen im Lichte der Öffentlichkeit. Nach Art. 38 des Grundgesetzes sind wir grundsätzlich frei und nur unserem Gewissen unterworfen. Aber seien wir ehrlich: Wir haben uns dabei stets auch eine - wenn auch nicht verfassungsrechtlich definierte - Schranke zu vergegenwärtigen: die Öffentlichkeit. In unserer Republik haben wir ein fein differenziertes und stark ausgeprägtes System öffentlicher Kontrolle der Politik. Sie beginnt in diesem Hause im parlamentarischen Widerstreit von Regierungsfraktionen und Opposition, also auch eine Form der gegenseitigen Kontrolle. Sie setzt sich fort durch Partizipation und Willensbildung in den Parteien und der Bevölkerung. Nicht zuletzt haben Presse und Medien eine machtvolle Kontrollfunktion inne. Alles das ist schlichtweg konstitutiv für unsere offene Gesellschaft. Missstände können, ohne dass Repression befürchtet werden muss, benannt werden, und je nach Schwere haben sie auch außerhalb von Wahlen und gerichtlichen Verfahren unmittelbare Konsequenzen für denjenigen, der Fehlverhalten an den Tag legt. Beispiele dafür gibt es genug. Das unterscheidet im Übrigen unsere Gesellschaft und ihre Verfassung auch deutlich von korruptionsanfälligen politischen Systemen und Regimen, Systemen, die es auf deutschem Boden schon hinlänglich gegeben hat, Systemen, die es andernorts auch heute noch gibt. Was waren und sind deren Charakteristika? Einerseits setzen sie oft auf Scheinlegalität. Formal waren und sind solche Systeme oft sogar geradezu Weltmeister in der Umsetzung entsprechender Regeln und Konventionen. Ja, sie brauchen die formale Fassade geradezu, um sich den Anschein der Lauterkeit zu geben. Doch hinter dieser Fassade herrschen Intransparenz und mangelnde öffentliche Kontrolle. Das zeigt vor allem eines: Es reicht nicht aus, wenn ein Staat formal über Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Korruption verfügt. Es bedarf einer aktiven Zivilgesellschaft, die - wie eingangs beschrieben - über vielfältige Kontroll- und Einflussmöglichkeiten verfügt. Ich bin froh, dass wir in einer solchen Gesellschaft und in einem solchen Staat leben. Ich bin froh, dass wir bei unseren Rechtsvorschriften bereits über einen hohen Standard verfügen. Ich bin froh, dass unsere Gesellschaft ausreichend über unabhängige und öffentliche Institutionen und Instanzen verfügt, die auf Fehlverhalten aufmerksam machen und auch in strafrechtlicher Hinsicht bereits über vielfältige Möglichkeiten der Ahndung verfügen. ({0}) Ich meine, wir brauchen uns als Bundesrepublik keineswegs zu verstecken. ({1}) Es mag den Linken gefallen, nachdem ihre geistigen Vorväter einst schon dafür gesorgt haben, dass in der Vergangenheit so manches Gespenst hier und in Europa umgegangen ist, nun auch den Teufel an die Wand zu malen. Aber lassen Sie uns auf dem Teppich bleiben. ({2}) - Ich bin sehr erstaunt darüber, dass gerade die SPD so darauf reagiert. ({3}) Der Gesetzentwurf konstruiert nun vor allem eines: eine vermeintliche Lücke, weil Abgeordnete und Amtsträger nicht gleich behandelt werden. Sie sind aber auch nicht gleich. Schon an meinen Eingangsbemerkungen lässt sich ein entscheidender Unterschied zwischen Amtsträgern der Exekutive und Abgeordneten festmachen: Während die Ersteren einen klar umrissenen Pflichten- und Aufgabenkreis haben, den sie weithin unbemerkt von der Öffentlichkeit im Wege von Einzelentscheidungen, also einzelnen Diensthandlungen, vollziehen, treffen Letztere allgemeine Entscheidungen abstrakt-genereller Natur für eine Vielzahl von Sachverhalten, und sie tun dies öffentlich. Natürlich vertreten Abgeordnete dabei Interessen. Das müssen sie sogar. Aus diesen Interessen formt sich dann im demokratisch-parlamentarischen Prozess das allgemeingültige Recht. Interessengeleitetes Handeln und Öffentlichkeit sind dabei zwei einander bedingende und sich gegenseitig korrektiv ausbalancierende Elemente politischen Handelns. Das ist mithin ein Spannungsfeld, keine Frage; aber es ist eben auch ein Unterschied zum Amtsträger. Das alles ist bei jenen nämlich gerade nicht der Fall. Sie vertreten keine Interessen. Sie müssen unparteiisch handeln, allein orientiert an Recht und Gesetz. Sie müssen das von anderen gesetzte Recht anwenden, unbeeinflusst durch Versprechungen und Verlockungen. Schon allein deshalb lassen sich die Regelungen von Amtsträgern nicht einfach auf Abgeordnete übertragen. Es würde schlichtweg hinten und vorn nicht passen. ({4}) Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben sollte - und einen solchen müsste man sehr sorgfältig identifizieren -, dann ist es mit einem gesetzgeberischen Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots Genüge tut, sicherlich nicht getan. Das ist der Sache auch nicht angeAnsgar Heveling messen, und der Schaden wäre hinterher weitaus größer als der Nutzen. Den Gesetzentwurf der Linken lehnen wir daher ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD erhält der Kollege Michael Hartmann das Wort. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der in der öffentlichen Wahrnehmung des politischen Betriebs auch hier in Berlin immer die Regierung im Vordergrund steht. Tatsächlich - gelegentlich muss man an diese vermeintliche Selbstverständlichkeit erinnern - befinden wir uns aber in einem parlamentarischen Regierungssystem. Deshalb ist es schon wichtig, dass wir unsere Selbstachtung als Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit dem nötigen Selbstbewusstsein nach außen zeigen und unsere Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung in ausreichendem Maße wahrnehmen. Deshalb sollten wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, nicht kleinmachen. Wir sollten nicht selbst dem jeweils anderen unterstellen, dass er der Gemeinte ist, wenn es um den Vorwurf der Korruption oder der Bestechlichkeit geht. Vielmehr sollten wir auf Selbstheilungskräfte setzen und für eine Selbsthygiene sorgen. Dazu bedarf es in der Tat klarer Regeln. Deshalb kann ich nicht verstehen, wieso Sie von den Koalitionsfraktionen bei dem, worüber wir hier heute debattieren, von einem Schnellschuss sprechen. Wir reden ja in Wirklichkeit über eine Konvention zum Kampf gegen Korruption, die von der UN beschlossen und von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003 unterzeichnet worden ist, die wir aber bis zum heutigen Tage nicht ratifiziert haben. Es wird höchste Zeit, dass wir hier etwas tun, meine Damen und Herren! ({0}) Ich sage Ihnen auch, warum: Es geht nämlich nicht an - dabei will sich die SPD die Antworten gar nicht leicht machen -, dass wir Abgeordnete immer wieder in den Geruch der Vorteilsnahme, des überbordenden Lobbyismus oder des Durchstechens oder gar der Korruption geraten. Es gibt aber leider immer wieder aktuelle Anlässe, diese Themen zu diskutieren. Ich verstehe vor diesem Hintergrund nicht, wie diese Woche von der Kanzlerin entgegen § 3 des Normenkontrollratgesetzes eine Richterin des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes und ein Herr, der Ihnen persönlich bekannt ist, sehr geehrter Herr von Klaeden - das scheint auch seine einzige Qualifikation zu sein -, nämlich der Vorsitzende der JU Niedersachsen, für den Normenkontrollrat benannt werden konnten. Das verstößt eklatant gegen das Gesetz und zeugt davon, dass es Einflussnahmen und Kumpanei gibt, die ungesund und falsch sind und abgestellt werden müssen. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur Umsetzung der genannten UN-Richtlinie können wir zunächst einmal festhalten: Es gibt seit dem Jahr 1994 eine gesetzliche Vorschrift, nämlich § 108 e des Strafgesetzbuches, die den Stimmenkauf verbietet. Das ist eine klare strafrechtliche Norm. ({2}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind aber der Meinung, dass diese Norm ausgeweitet und verschärft werden muss, meinethalben in Form eines § 108 f, der zumindest drei Kriterien umfassen muss: Erstens. Es muss erkennbar geworden sein, dass ein Abgeordneter sich bereit erklärt hat, entsprechend zu agieren. Es muss also ein objektiver Beweis erbracht werden. Zweitens. Es muss eine Unrechtsvereinbarung vorliegen, das heißt, eine Bindung gegenüber dem Vorteilsgeber muss festzustellen sein. Drittens. Es darf - das meine ich, wenn ich von Selbstbewusstsein und Selbstheilungskräften des Parlaments rede - eine Verfolgung nur mit Ermächtigung durch die jeweilige Volksvertretung, also in unserem Falle durch den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, erfolgen. ({3}) Der Antrag der Linken geht uns zu weit. Wir sind aber durchaus bereit, Gespräche über die Grundstoßrichtung zu führen; denn Abgeordnete sind parteiisch, sie müssen es sein. ({4}) Demokratie funktioniert nämlich nur im Widerstreit verschiedener Interessen, die am Schluss über Mehrheitsbeschlüsse zusammengeführt werden. Das heißt, parteiisch müssen wir sein, käuflich dürfen wir aber nicht sein. Deshalb müssen wir Regeln einführen. ({5}) Es gibt nun einmal nicht den über dem Wasser schwebenden Abgeordneten. Wir sollten durch entsprechende Diskussionen und Debatten auch nicht jenen Affen Zucker geben, die so gerne das Bild vom unpolitischen Politiker zeichnen, der in ihrer Vorstellung das einzig Wahre und Gute verkörpert. Wir dürfen auch nicht durch eigene Stellungnahmen und eigene Aussagen jenes Bild vom verkommenen Abgeordneten bzw. Volksvertreter verfestigen und vertiefen, der in verrauchten Hinterzimmern Geldbündel entgegennimmt und dementsprechend handelt. Diesen gibt es nicht, allenfalls in schlechten Fil11864 Michael Hartmann ({6}) men und vielleicht da und dort in den Köpfen mancher überengagierter Staatsanwälte. ({7}) Bei all dem sollten wir nicht vergessen, das Vertrauen in politische Lösungen darf durch ein entsprechendes Vorgehen, das sicherlich unabweisbar notwendig ist, nicht noch mehr erschüttert werden. Ich füge noch etwas anderes hinzu: Wo Korruption beginnt und wo sie endet, ist letztendlich nicht immer judizierbar. Da sollten wir uns nichts vormachen. Denn letztlich geht es dabei auch um Charakterfragen. Deshalb ist eine kritische Öffentlichkeit genauso wichtig wie eine Verschärfung der entsprechenden Strafvorschriften. Es gilt nach wie vor: Die oberste Instanz für Abgeordnete sind nicht die Gerichte, sondern die Wählerinnen und Wähler. Lassen Sie uns auf diesem mittleren Weg weitergehen und eine gemeinsame Lösung finden! ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Jörg van Essen hat nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war auffällig, dass die Kollegin der Linken in ihrem Beitrag kaum rechtliche Ausführungen gemacht hat. Sie hat zwar Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit gegen Abgeordnete erhoben werden, vorgetragen. Aber sie ist nicht auf die Fragen, mit denen wir uns schon seit ganz langer Zeit befassen - beispielsweise: Welche Möglichkeiten haben wir, das Ganze in einen Straftatbestand zu fassen? -, und auch nicht auf die Voraussetzungen für einen Straftatbestand, wie die Klarheit der Norm, eingegangen. ({0}) Sie hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang, der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parlament abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abgeordneter aus Österreich die Verhandlungen führte und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen wollte. ({1}) - Das sehe ich genauso wie Sie, Herr Hartmann. Das ist eine Schande. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt: Kontrolle funktioniert. ({2}) Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete hat eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung sein könnte. Er musste sein Mandat aufgeben und ist gesellschaftlich geächtet. Das ist, finde ich, eine Strafe, die durch keinen Strafrichter höher ausgesprochen werden könnte. ({3}) Es ist richtig, was hier gesagt worden ist: Wir stehen hier unter schärfster öffentlicher Beobachtung, insbesondere was die Entgegennahme von gewissen Gefälligkeiten anbelangt. Ich weiß, wie streng Journalisten sind; sie selbst unternehmen eine von einer Firma gesponserte Reise in den Süden, aber regen sich hier auf, wenn ein Politiker mit dem Schiff eines Prominenten, beispielsweise eines Industriellen, von einem zum anderen Ufer eines Sees gefahren wird. Wie gesagt: Kontrolle muss funktionieren. Ich habe ganz klar das Gefühl, dass das der Fall ist. ({4}) Ich war schon Anfang der 90er-Jahre Berichterstatter, als wir damals den § 108 e in das Strafgesetzbuch eingeführt haben. Es ist interessant: All diejenigen, die jetzt Neufassungen fordern, gehören Fraktionen an, die damals zum gleichen Ergebnis gekommen sind wie wir, nämlich dass es eine wirklich vernünftige und fassbare Strafvorschrift über das hinaus, was wir in § 108 e StGB unter Strafe gestellt haben, nicht gibt. ({5}) All die Argumente, die bisher vorgetragen worden sind, haben mich überhaupt nicht überzeugt. ({6}) - Herr Kollege Ströbele, das Stichwort „die ganze Welt“ habe ich erwartet. Im Gesetzentwurf der Linkspartei ist das Beispiel China aufgeführt. Das chinesische Parlament hat, wie jeder von uns weiß, keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten. Die heben die Hand für das, was die Regierung ihnen vorschlägt. ({7}) Deshalb gibt es im chinesischen Parlament auch keinerlei Anlass, irgendjemanden zu irgendeinem Zweck zu bestechen, weil man schon vorher weiß, dass er die Hand heben wird. Deshalb ist es sehr „beeindruckend“, dass Sie das Beispiel China anführen. Mich hat gewundert, dass Italien nicht erwähnt worden ist; denn Italien wurde in der Vergangenheit immer als Beispiel genannt. ({8}) Jeder, der sich einmal die Rechtswirklichkeit in Italien anschaut, weiß: Jedes Mal dann, wenn es für Regierende und für Abgeordnete aus dem Regierungslager schwierig wird, wird ein neues Immunitätsgesetz verabschiedet. ({9}) Das macht deutlich: Wir sollten uns nicht an anderen orientieren, sondern wir sollten schauen, dass wir das machen, was nach deutschem Recht und gemäß unseren Anforderungen umsetzbar ist. ({10}) Ganz wichtig ist mir - das ist bisher nur am Rande gestreift worden; der Kollege Heveling hat allerdings einige Ausführungen dazu gemacht -, dass das, was uns aufgegeben wird, beispielsweise von den Vereinten Nationen, aber auch vom Europarat, keinen Unterschied zwischen Amtsträgern und Abgeordneten macht, und das ist falsch. Das ist sogar beweisbar falsch, lieber Herr Kollege Ströbele; ({11}) denn der Bundesgerichtshof hat kürzlich noch einmal festgestellt, dass Abgeordnete keine Amtsträger sind, und er hat gut begründet, dass das so ist. Ich kann es wiederholen: Das Abgeordnetenmandat ist ein freies Mandat. ({12}) Der Amtsträger ist ganz klar an das Recht gebunden, und er ist verpflichtet, das völlig unparteilich anzuwenden. Jeder von uns ist aber Interessenvertreter. Es ist auch gut so, dass er das ist, ({13}) und zwar unabhängig davon, wo man politisch steht. Wir sind zum Beispiel die Vertreter der Interessen unserer Wahlkreise. Ich habe beispielsweise einmal die Interessen meines Wahlkreises vertreten, als ich wusste, dass meine Argumente für meinen Wahlkreis schlechter waren als die des Kollegen aus dem Nachbarwahlkreis, ({14}) der eine bestimmte Institution in seinen Wahlkreis bringen wollte. ({15}) Das zeigt, wie schwierig es ist, gegeneinander abzugrenzen, was hinnehmbar ist und was nicht hinnehmbar ist. Ich habe es auch schon erlebt, dass mir jemand gesagt hat: Sie bekommen meine Stimme, wenn Sie das durchsetzen. - Da wird mir etwas versprochen. Das ist genau die Formulierung, die wir in den entsprechenden Strafvorschriften haben. Das zeigt, dass das Ganze eben nicht abzugrenzen ist. Genau das war das Ergebnis unserer Beratungen, die wir Anfang der 90er-Jahre hatten, und zwar in Übereinstimmung mit den Grünen und in Übereinstimmung mit der SPD. Deshalb haben wir damals so agiert. Ich habe hier keinerlei neue Argumente gehört. Ich habe hier keinerlei neue Formulierungen gehört. Das Letzte, was ich sagen wollte und was mir auch ganz wichtig ist, ist Folgendes: Andere Länder sind zum Teil auch deshalb so großzügig, beispielsweise mit der Unterzeichnung der Konvention der UN, weil dort ganz andere Immunitätsregeln gelten als bei uns. Ich finde es gut, dass Abgeordnete bei uns wie jeder Bürger behandelt werden. Wenn wir im Immunitätsausschuss etwas vorgelegt bekommen, dann winken wir das durch, damit Strafverfolgung stattfinden kann, damit Ermittlungen stattfinden können. ({16}) Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen, ({17}) in denen wir das Gefühl haben, dass es beispielsweise politische Gründe gibt, oder in denen es uns rechtlich nicht überzeugt, halten wir es an. Aber es gibt ja Länder, in denen es überhaupt keine Strafverfolgung gibt, solange man im Parlament ist. Im Europaparlament ist das beispielsweise so. Deshalb gibt es da auch keinerlei Versuchung, jemanden mit entsprechenden Vorwürfen in eine Ecke zu stellen. Auch das ist für mich ein sehr wichtiger Gesichtspunkt dafür, dass wir ganz streng darauf achten müssen, dass das, was gegebenenfalls gesetzlich kodifiziert ist, auch den Ansprüchen des Strafrechts genügt. Wenn man diesen Ansprüchen folgt, muss man sagen: Das, was die Linkspartei hier vorgelegt hat, tut das ganz offenkundig nicht, beispielsweise indem sie nicht gemerkt hat, dass zwischen Gemeindevertretern und Abgeordneten ein Unterschied besteht. - Das sollte meine letzte Bemerkung sein. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte darüber, ob eine Regelung über die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung eingeführt werden sollte oder nicht, wird in diesem Haus seit Jahren, über mehrere Legislaturperioden hinweg geführt. Ich empfinde sie als unwahrhaftig und in einem wirklichen Wortsinn auch als erbärmlich. Ich will diese harten Vorwürfe untermauern und deren Richtigkeit unter Beweis stellen, indem ich noch einmal die Geschichte der Entscheidungen von internationalen Organisationen und der Stellungnahme Deutschlands dazu aus den letzten Jahren rezitiere. Ich fange mit der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, an. Die OECD hat am 21. November 1997 ein Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Abkommen am 21. November 1997, am Tag der Verabschiedung, unterzeichnet. Bereits ein Jahr später, am 10. September 1998, hat dieser Bundestag - da hat Schwarz-Gelb regiert - ein Gesetz verabschiedet. Darin heißt es: Wer in der Absicht, … einem Mitglied eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates … einen Vorteil … als Gegenleistung dafür anbietet, verspricht oder gewährt, dass es eine mit seinem Mandat oder seinen Aufgaben zusammenhängende Handlung oder Unterlassung künftig vornimmt, wird … bestraft. Herr Heveling, Herr van Essen, da hatten Sie keine Bedenken mit der Klarheit der Norm. Da war alles ganz klar. Innerhalb von neun Monaten hatten Sie eine Strafvorschrift, ohne jegliche Bedenken; denn es ging nur um die ausländischen Abgeordneten und nicht um uns selber. ({0}) Der nächste Punkt. Europarat in Straßburg, 21. Januar 1999: Das Strafrechtübereinkommen über Korruption wird verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei. Am gleichen Tag, am 21. Januar 1999, unterschreibt die Bundesrepublik Deutschland dieses Strafrechtübereinkommen. ({1}) In diesem Übereinkommen wird dargelegt, welche existenzielle Bedeutung die Korruption für demokratische Rechtsstaaten hat: eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, eine Bedrohung der Menschenrechte. Wortwörtlich heißt es in diesem Übereinkommen als Aufforderung: Jede Vertragspartei … stellt das unmittelbare oder mittelbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines ungerechtfertigten Vorteils an … ein Mitglied einer Vertretungskörperschaft, die Gesetzgebungsoder Verwaltungsbefugnisse ausübt, … unter Strafe. Das haben wir unterschrieben. Inzwischen ist dieses Übereinkommen von 43 Staaten der OECD ratifiziert. Wir tragen die rote Laterne und gehören heute noch zu den letzten sieben Staaten, die es immer noch nicht ratifiziert haben. Das finde ich peinlich, oberpeinlich sogar. ({2}) Der nächste Punkt. Im Dezember 2000 beschließt die Generalversammlung der Vereinten Nationen, an einem Rechtsinstrument gegen Korruption zu arbeiten. Dieses Instrument wird am 9. Dezember 2003 in Mexiko verabschiedet. Wer ist dabei? Am 9. Dezember 2003, am ersten Tag, unterzeichnet die Bundesrepublik Deutschland dieses UNO-Übereinkommen. Auch dort heißt es, dass die Korruption keine begrenzte Angelegenheit ist, sondern eine Erscheinung, die alle Gesellschaften - Herr Heveling, „alle Gesellschaften“, das haben wir unterschrieben -, also auch unsere Gesellschaft, betrifft und die bekämpft werden muss. Wozu haben wir uns da verpflichtet? Zitat: Jeder Vertragsstaat stellt das unmittelbare oder mittelbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines ungerechtfertigten Vorteils an Personen, die durch Wahl ein Amt in der Gesetzgebung innehaben, - also keine Amtsträger, sondern Mandatsträger unter Strafe. Wie viele Staaten dieser Welt haben dieses Übereinkommen ratifiziert? 151. Nicht ratifiziert haben: Syrien, Saudi-Arabien, der Sudan, Myanmar und Deutschland. Meine Damen und Herren, das ist oberpeinlich. ({3}) Es ist peinlich, dass wir - und zwar nicht die Bundesregierung, sondern wir als Parlament - uns Jahr um Jahr in die Reihe dieser Staaten stellen. ({4}) Wir halten Sonntagsreden - verzeihen Sie, wenn ich das so sage - wie die, die Sie heute gehalten haben, über den Stand der Gesellschaft und unseres Landes. Sie haben das ja richtig beschrieben. Wenn es dann aber darum geht, das Ganze mit Fleisch zu füllen, dann kneifen Sie. Das ist eine peinliche Situation, in die Sie die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Rahmen bringen. Wir sind von der OECD aufgefordert, ja sogar gerügt worden, bis zum 30. Juni 2011, also in wenigen Monaten, endlich eine Verschärfung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung vorzulegen. Zum Schluss sage ich: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieses Vorhaben ist unter anderem an den Sozialdemokraten gescheitert. Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie jetzt eine andere Position dazu einnehmen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden mit allen diskutieren. Wir werden unseren Gesetzentwurf wieder vorlegen. Wir warten auf bessere Vorschläge. Wir werden uns über die FormulierunJerzy Montag gen noch einmal unterhalten. Ich möchte, dass alle Fraktionen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Eines ist aber nicht akzeptabel: dass wir weiterhin nichts machen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Siegfried Kauder das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die folgende Situation kommt in diesem Haus schon einmal vor: Jemand, der im Jahr 2008 den Petitionsausschuss angeschrieben hat, weil ihm etwas nicht passte, bekam eine Antwort. Im Jahr 2011 kommt er mit dem gleichen Anliegen aber noch einmal. Dann schreiben wir: Sie haben vor vielen Jahren auf diese Frage eine Antwort bekommen. Eine nochmalige Antwort werden Sie von uns nicht bekommen. Wir bitten um Verständnis. Fairerweise muss ich sagen, dass die Kollegin Wawzyniak im Jahr 2008, als wir in diesem Hohen Haus über das Thema „Abgeordnetenbestechung“ diskutiert haben, noch nicht im Deutschen Bundestag war. Deswegen gehe ich auf das Thema noch einmal ein. Meine Damen und Herren, wir sind Abgeordnete, frei gewählte Abgeordnete, dem ganzen Volk verpflichtet und nur unserem Gewissen verantwortlich. ({0}) Wir sind keine Beamten. Wir sind keine Amtsträger; denn der Amtsträger ist an Vorschriften gebunden, und er ist auch ersetzbar. Wenn er krank ist, vertritt ihn ein anderer. Den Kollegen van Essen kann niemand vertreten, wenn er nicht da ist. ({1}) Als Abgeordneter kann nur er in Person handeln. ({2}) - Sie wissen genau, warum ich den Kollegen besonders gerne erwähne. - Deswegen ist ein Bundestagabgeordneter anders zu beurteilen als das Mitglied eines Gemeinderates. ({3}) Frau Kollegin Wawzyniak, gehen Sie nach Hause und erzählen Sie den in Ihrem Wahlkreis in Gemeinderäten und Kreistagen ehrenamtlich politisch Tätigen, dass Sie ihnen in Zukunft zur Kontrolle den Staatsanwalt auf die Pelle schicken wollen. Das kommt gut an. ({4}) In Ihrem Gesetzentwurf ist auch der Vertreter im Gemeinderat einbezogen. ({5}) Sie differenzieren nicht einmal zwischen einem Parlamentarier und einem Gemeinderatsmitglied. Überlegen Sie sich genau, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen. Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt hier im Parlament auftaucht, wo dann das passiert, was vielen Ärzten in Deutschland widerfahren ist. Man hat sie ins Messer laufen lassen. Es gab den Vorwurf der Korruption, obwohl sie nur pflichtgemäß Drittmittel eingeworben haben. Statt ein Dankeschön zu bekommen, kam der Staatsanwalt, und es wurden Freiheitsstrafen verhängt. Das musste der Bundesgerichtshof richten. Dort gab es Freisprüche. Als Gesetzgeber haben wir uns nicht bemüßigt gefühlt, zu helfen. Wir wären gut beraten, auf diesem Gebiet einmal etwas zu tun. ({6}) Wir wollen nicht wie Amtsträger behandelt werden, und wir dürfen auch nicht so behandelt werden. ({7}) Das ist der Webfehler dieser UN-Konvention. Schon der Ansatz stimmt nicht. Wer sagt: „Der Parlamentarier muss behandelt werden wie ein Amtsträger“, der scheitert schon im Ansatz. ({8}) Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden das Anliegen so nicht weiterverfolgen. ({9}) Wir dürfen nicht rein formaljuristisch argumentieren und sagen: Bloß weil andere Staaten ins Messer gelaufen sind, tun wir das auch. ({10}) Schauen Sie nach Österreich. Die Österreicher haben versucht, dieses Dilemma zu lösen. Sie behandeln den Abgeordneten wie einen Amtsträger und führen dann dazu aus: Aber wie ein Amtsträger ist er nur dann zu behandeln, wenn er abstimmt im Parlament, wenn es um Dinge geht, die die Geschäftsordnung im Parlament betreffen. - Man hat also einen Umweg versucht, um diesem UN-Abkommen formaljuristisch beitreten zu kön11868 Siegfried Kauder ({11}) nen, dessen Ziel aber nicht herbeiführen zu müssen. Sie sehen daran, dass das so nicht funktioniert. Daher sind wir lieber ehrlich und sagen, dass wir dieser Konvention nicht beitreten. Wir werden sie nicht unterschreiben. ({12}) - Es ist unterschrieben, aber nicht ratifiziert. ({13}) Sie merken selbst, dass Ihr Gesetzentwurf so, wie Sie ihn konstruiert haben, nicht funktionieren kann, Frau Kollegin. ({14}) Sie versuchen nämlich, den Sachverhalt mit der Verwerflichkeitsklausel, die Sie § 240 StGB, Nötigung, entnommen haben, einzufangen. Das ist sehr wohl zu erkennen. Parlamentarismus lebt von den Kontakten mit Lobbyisten und Interessenverbänden. ({15}) Wie wollen Sie das in den Griff bekommen? Was ist noch sozial verträglich, was ist politisch gemünzt, und wo fängt der strafbare Sachverhalt an? ({16}) - Nein, lieber Kollege Hartmann. - Das haben hochrangige Juristen in der Großen Strafrechtskommission von 1957 bis 1960 in zahlreichen Sitzungen immer wieder versucht. Lesen Sie es nach. Nach drei Jahren kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich politische Sachverhalte nicht so einordnen lassen wie eine Amtshandlung eines Amtsträgers. ({17}) Politik ist ein eigenes Geschäft. Kollege Montag, wer argumentiert, dass ein Politiker nicht die Hand aufhalten darf, der verkürzt doch den Straftatbestand der Bestechung, der Bestechlichkeit. ({18}) Das wissen Sie als Jurist genauso gut wie ich. Wenn wir diesen Straftatbestand, der vorgeschlagen wird, einführen, ist jeder Vorteil, den der Abgeordnete annimmt, schädlich. ({19}) Es gäbe keine Erheblichkeitsschwelle, sondern nur diese vorgesehene Klausel. Bei der Sozialadäquanz weiß keiner, wo es anfängt und wo es aufhört.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident. - Herr Kollege Kauder, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Europaratsübereinkommen und auch die UNO-Vereinbarung, die ich zitiert habe und die die Bundesregierung für Deutschland unterschrieben hat, nicht von Vorteilen sprechen, sondern von ungerechtfertigten Vorteilen? In der Sprache der UNO und des Europarates ist das kein Straftatbestand, sondern ein ungerechtfertigter Vorteil. ({0}) Deswegen besteht sehr wohl die Möglichkeit - das wäre dann sozusagen der Schweiß der fleißigen Juristen wert -, ({1}) dass wir gemeinsam daran arbeiten, das in die Sprache des Strafrechts zu übersetzen, um die Vorteile, die Abgeordnete und Mandatsträger annehmen dürfen - das steht auch in unseren Richtlinien -, von denjenigen zu unterscheiden, die tatsächlich verwerflich sind. Beantworten Sie doch meine schlichte Frage. Stellen Sie sich vor, dass jemand zu Ihnen kommt und sagt: Wenn Sie sich für mein Interesse in diesem Hause einsetzen, in der Fraktion, in den Ausschüssen, wo auch immer, wenn Sie in meinem Interesse handeln, lieber Abgeordneter Kauder, bekommen Sie 100 000 Euro. ({2}) - Nein, das ist nicht strafbar. - Was haben Sie dagegen, dass diese klaren Sachverhalte unter Strafe gestellt werden? ({3})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, es geht doch um den Begriff Vorteil mit einem Zusatz, der nicht definierbar ist. Genau das ist das Problem. Sie bekommen das juristisch nicht in den Griff. Ein Straftatbestand muss bestimmt sein. Ist er nicht bestimmt, ist er nicht gesetzeskonform. Herr Kollege Montag, ich werde auch der Kollegin Wawzyniak ein bisschen weiterhelfen, was die juristischen Dinge anbelangt. Es gibt in einer wunderschönen Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahre 2008 Ausführungen von Frau Regina Michalke zu diesem Thema; diese umfassen 17 Seiten. Siegfried Kauder ({0}) ({1}) Wer diese gelesen hat, ist bestens informiert, warum es so, wie die Linken es vorschlagen, nicht gehen kann. ({2}) Der Sachverhalt ist strafrechtlich nicht in den Griff zu bekommen. Deshalb sollten wir dieses Vorhaben schlichtweg sein lassen. ({3}) - Herr Kollege Ströbele, das ist doch das dümmste Argument, das Sie vortragen können. ({4}) Sie sagen: Alle machen es. - Wenn alle in den Brunnen springen, springen wir dann hinterher? ({5}) Die Österreicher haben doch im Jahr 2009 erkannt, dass die Vorschrift, so wie sie sie ausgestaltet haben, nicht funktioniert. ({6}) Sie haben sie geändert, aber sie funktioniert noch immer nicht; das hat der Kollege Heveling schon gesagt. In Deutschland ist der Druck viel größer als in allen anderen Ländern. ({7}) Wir brauchen keinen Straftatbestand. ({8}) Bei einem Politiker genügt schon der Verdacht, der Anschein, ({9}) und schon ist das Amt, das er hat, beschädigt. ({10}) - Auch bei anderen Personen gibt es den Anfangsverdacht. Sie werden aber erst dann aus dem Amt gejagt, wenn sie strafrechtlich belangt worden sind. ({11}) Die öffentliche Kontrolle, der öffentliche Druck ist viel mehr wert als ein Strafgesetz, das nicht funktioniert und nicht funktionieren kann. ({12}) Ich sage zum Schluss: Ich möchte nicht, dass dieses Thema in zwei Jahren wieder ansteht. ({13}) Deswegen von meiner Seite - ich glaube, die FDP trägt das mit - eine ganz klare Ansage: ({14}) Wir werden ein solches Gesetz nicht veranlassen und einem solchen Gesetz nicht zustimmen, weil es unsinnig ist, niemandem nützt und nur dem Parlamentarismus schadet. Das machen wir nicht mit. Das können Sie von uns nicht verlangen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Christine Lambrecht ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr van Essen, Sie haben die Kollegin Wawzyniak vorhin kritisiert, weil es von ihr keine ausführlichen rechtlichen Bewertungen und Ausführungen zu diesem Thema gegeben habe. Ich glaube, an den Anfang dieser Debatte muss man keine rechtlichen Ausführungen stellen. Sie müssten im weiteren Verfahren folgen. Was hier im Parlament an erster Stelle stehen muss, ist die Aussage, dass wir uns als deutsche Politiker gegen Bestechung und Bestechlichkeit wehren und dies auch strafrechtlich verankern wollen. ({0}) Ich will Ihnen eines sagen: Auf der Zuschauertribüne sitzen junge Leute, die uns zuhören. Ich glaube, wenn sie unsere bisherige Debatte verfolgt haben, dann können sie die Welt nicht mehr verstehen. Natürlich ist es so, dass Amtsträger und Politiker nicht vergleichbar sind. Natürlich ist es so, dass Politiker interessengeleitet sind und Interessen zu vertreten haben. Natürlich ist es so, dass man hier differenzieren kann. Man kann aber nicht einfach sagen: Weil zwischen Amtsträgern und Politikern zu unterscheiden ist, darf im Hinblick auf eine der beiden Gruppen kein Tatbestand eingeführt werden, der Bestechung unter Strafe stellt. - Das dürfen wir nicht zulassen; denn auch dies führt zu Politikverdrossenheit. ({1}) Jetzt will ich zu einigen Sachargumenten kommen. ({2}) Herr van Essen, Sie haben gesagt, seit dem Zeitpunkt, als Sie den § 108 e StGB mit initiiert haben, habe es für Sie keine neuen Erkenntnisse gegeben. ({3}) Ich meine, wenn eine Staatengemeinschaft, bestehend aus 151 Staaten, sich darauf verständigt, nicht nur eine solche Erklärung abzugeben, sondern sie auch in den jeweiligen Parlamenten im Rahmen entsprechender Gesetzgebungsverfahren zu verankern, dann ist das, wie ich finde, durchaus ein Argument, das man nicht einfach von der Hand weisen kann. Wo stehen wir denn? Wir werden mit Staaten in eine Reihe gestellt, mit denen wir in anderen Zusammenhängen beim besten Willen nicht in einer Reihe stehen wollen. ({4}) Herr Kauder, wenn Sie sagen, all diese Staaten seien ins Messer gelaufen, muss ich Ihnen entgegnen: Ich weiß nicht, wo Sie in den letzten Jahren gelebt haben. ({5}) Ich habe nicht mitbekommen, dass die Staaten, die entsprechende Regelungen umgesetzt haben, in große Krisen gestürzt sind. ({6}) - Herr van Essen, wir waren jahrelang Mitglieder des 1. Ausschusses. Es ist doch nicht so, dass in anderen Ländern, in anderen europäischen Ländern ein völlig anderes Immunitätsrecht gilt. ({7}) Natürlich bestehen Unterschiede; aber es gibt auch Länder, die ein Immunitätsrecht haben, das mit dem deutschen vergleichbar ist. Es kann doch nicht wahr sein, dass wir nicht in der Lage sind, ein solches Gesetz zu formulieren. Hier sitzen hervorragende Juristen; ich schaue jetzt bewusst in Richtung der Koalitionsfraktionen. ({8}) Wir werden ja wohl in der Lage sein, den Erfordernissen entsprechend ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das auch den Bestimmtheitsanforderungen genügt. ({9}) Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das hinbekommen werden. Dafür muss allerdings die Voraussetzung erfüllt sein, dass man sagt: Jawohl, wir wollen gegen Bestechung vorgehen. - Das ist die erste Voraussetzung. In diesem Zusammenhang habe ich von Ihnen gerade die ganz klare Ansage gehört, dass CDU/CSU und FDP daran kein Interesse haben. ({10}) Wir haben daran ein Interesse. Wir werden uns weiterhin mit diesem Thema befassen, damit Deutschland nicht länger im Aus steht. ({11}) Jetzt noch zwei, drei Anmerkungen. Herr Montag, Sie haben gesagt, die SPD habe sich verweigert bzw. nicht mitgemacht. Ich war in der 15. Wahlperiode schon dabei. ({12}) Ich war in diesen Arbeitskreisen, in denen Herr Ströbele, Herr Beck und auch Herr Montag saßen. Wir waren ganz kurz davor, etwas umzusetzen. ({13}) Damals ist eine verkürzte Wahlperiode dazwischengekommen. Das mag man beklagen, und man kann sich überlegen, wer dafür der Verursacher war. Nichtsdestotrotz haben wir damals sehr konstruktiv daran gearbeitet, ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. ({14}) Sie haben da keine Verweigerungshaltung der SPD erlebt. ({15}) - Ich glaube, wir sollten das niemandem vorhalten, weil es nicht der Fall war, weil es in der SPD keine Verweigerungshaltung gab. ({16}) Es gibt auch keine Verweigerungshaltung. ({17}) Deswegen werden wir uns in den nächsten Wochen und Monaten selbstverständlich konstruktiv einbringen, um ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das auf der einen Seite diesen Straftatbestand klar definiert, auf der anderen Seite aber auch dafür sorgt, dass wir als Parlamentarier arbeiten können. Ich sage das ganz bewusst. Ich war im Immunitätsausschuss. Ich habe da Fälle kennengelernt, wo Strafverfolgung stattgefunden hat, was zum Teil wirklich Fragen aufgeworfen hat. Aber da waren die Gesetze klar definiert. Nichtsdestotrotz gab es eine Strafverfolgung, nichtsdestotrotz haben Staatsanwälte einen Anfangsverdacht ausgemacht. Deswegen kann man nicht argumentieren, so ein Gesetz bekämen wir hier nicht hin.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Lambrecht, darf Ihnen der Kollege Kauder kurz vor Schluss dieser Debatte noch eine Zwischenfrage stellen?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen. ({0}) - Das kann man so interpretieren, Herr Buschmann.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lambrecht, wenn Sie fragen, ob es nicht blamabel sei, dass so viele gute Juristen ein solches Gesetz nicht hinbekommen, darf ich die Gegenfrage stellen: Meinen Sie nicht, dass es blamabel wirkt, wenn Sie hier vor der Bevölkerung auftreten und sagen, Sie hätten es jahrelang versucht, aber nicht hinbekommen?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, nein. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben es nicht hinbekommen, weil Sie es unterm Strich genauso wenig für vertretbar halten wie wir. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

2003 gab es die UN-Konvention, und wir haben es tatsächlich nicht geschafft, bis Mai 2005 eine entsprechende Regelung auf den Weg zu bringen. Das war nämlich genau die Zeitspanne, die wir hatten. ({0}) Danach kam die Große Koalition. In dieser Großen Koalition gab es auf Betreiben der CDU/CSU-Fraktion die ganz klare Ansage, an dieses Thema nicht heranzugehen. ({1}) Das war der Hintergrund, warum zwischen 2005 und 2009 an dieser Fragestellung innerhalb der Großen Koalition nicht gearbeitet wurde. ({2}) Momentan - wie Sie vielleicht mitbekommen haben, vielleicht bekommen Sie es aber auch nicht mit - sind wir nicht in Regierungsverantwortung. Aber selbstverständlich werden wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Dann bin ich gespannt, ob Sie sich zumindest auf konstruktive Beratungen einlassen. ({3}) Ich will nur deutlich machen: Ich glaube, es steht uns nicht gut zu Gesicht, wenn wir als Juristen sagen, dass wir es zwar in vielen anderen Bereichen hinbekommen, Gesetze und Straftatbestände genau zu definieren, dass das aber nicht gilt, wenn es uns betreffen könnte. ({4}) Dann strecken wir lieber gleich alle Waffen und sagen, dass wir es nicht hinbekommen. Lassen Sie uns deshalb mit dieser Diskussion aufhören. Machen Sie mit, und verweigern Sie sich nicht von vornherein. Lassen Sie uns schauen, ob wir etwas Praktikables, etwas Umsetzbares auf den Weg bringen. Ich bin mir da ziemlich sicher, denn ich kenne den Sachverstand der Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/1412 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich habe zum Schluss einen Hinweis und eine Bitte. Der Hinweis lautet wie folgt: Es kommt im parlamentarischen Alltag nicht selten vor, dass ein Gesetzesvorschlag aus beachtenswerten Gründen für die angestrebte Problemlösung nicht für geeignet gehalten wird und man sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es zu dem Problem Klärungs- und vielleicht auch Handlungsbedarf gibt. Ich empfehle auch bei diesem Punkt, diese Differenzierung im Auge zu behalten. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0}) Nun zu der Bitte. Das Thema ist ganz offenkundig entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. ({1}) Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Weil hier zweifellos ein Zusammenhang mit dem Immunitätsrecht besteht, könnte die Betrachtung dieses Zusammenhangs ein Bestandteil der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themenumfeld sein. ({2}) Jede weitere Bemerkung verkneife ich mir, weil wir die gute Tradition haben, dass sich amtierende Präsidenten nicht in Debatten einzumischen haben. ({3}) - Herr Kollege Hartmann, ich bedanke mich für den Zwischenruf. ({4}) Deswegen habe ich das sorgfältigst vermieden. Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. April 2011, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein schönes und hoffentlich geruhsames Wochenende.