Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/7/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zu unserer 102. Plenarsitzung. Ich habe vor Eintritt in die Tagesordnung zwei Mitteilungen über Umbesetzungen zu machen. Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. HansPeter Friedrich aus dem Gemeinsamen Ausschuss ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Kollegin Gerda Hasselfeldt vorgeschlagen. ({0}) Ich könnte mir vorstellen, dass es dazu Einverständnis gibt. ({1}) Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Hasselfeldt in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt. Der Kollege Joachim Günther ist aus dem Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur ausgeschieden. Die Fraktion der FDP schlägt an seiner Stelle die Kollegin Petra Müller vor. Sind Sie auch damit einverstanden? ({2}) - Wir halten den spontanen Jubel im Protokoll fest. Damit ist die Kollegin Müller zum Mitglied des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Gründe des Bundeswirtschaftsministers gegen ein Verbot von Klonfleisch ({3}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundheitsforschung an den Bedarfen der Patientinnen und Patienten ausrichten - Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung überarbeiten - Drucksache 17/5364 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 31 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Netzneutralität im Internet gewährleisten Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln - Drucksache 17/5367 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen - Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Marianne Schieder ({7}) Stephan Thomae Ingrid Hönlinger ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck ({8}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung - Drucksache 17/5363 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen - Drucksache 17/5365 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA - Drucksache 17/5373 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse für Frieden und Abrüstung - Drucksache 17/4863 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({11}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere Energieversorgung ohne Atomkraft und eine lebendige europäische Erinnerungskultur - Drucksache 17/5366 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 19 wird abgesetzt. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss ({12}) und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 17/5096 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({14}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung - Drucksache 17/4243 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15}) Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundheitsforschung an den Bedarfen der Patientinnen und Patienten ausrichten - RahPräsident Dr. Norbert Lammert menprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung überarbeiten - Drucksache 17/5364 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Schavan. ({17})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung ist ein Schwergewicht bei den Rahmenprogrammen für die kommenden Jahre. Dies ist aus gutem Grund so. Denn die demografische Entwicklung in Deutschland - 2050 wird bereits jeder dritte Bürger älter als 65 sein macht eine Konzentration auf damit verbundene Veränderungen notwendig; diese müssen in der Gesundheitsversorgung, im Gesundheitssystem und vorausgehend in der Gesundheitsforschung vorgenommen werden. Deshalb ist das neue Rahmenprogramm für die kommenden acht Jahre von neuen Schwerpunkten, struktureller Weiterentwicklung und Internationalisierung geprägt. Das sind die drei zentralen Merkmale des neuen Rahmenprogramms. Seitens des BMBF werden bis zum Jahre 2014 rund 6 Milliarden Euro investiert werden. Wenn ich von Schwergewicht spreche, dann hat das natürlich auch mit der herausragenden Kompetenz und dem herausragenden Potenzial in der Gesundheitsforschung zu tun, die in unseren großen Forschungsorganisationen stecken. Ich denke nur an die Institute der Helmholtz-Gemeinschaft, aber auch - das ist die entscheidende strukturelle Weiterentwicklung - an das, was an zahlreichen Universitätsinstituten in Deutschland schon geleistet wird. Deshalb ist in meinen Augen die größte Veränderung - übrigens auch die größte Veränderung in der Gesundheitsforschung, die es in Deutschland bislang überhaupt gegeben hat - die Gründung von nationalen Gesundheitsforschungszentren. Dies ist eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung und führt, damit verbunden, zu einer größeren Nähe zu den Erkenntnissen, die in der Forschung gewonnen werden, was den Patienten zugutekommt. Der Grundgedanke ist: Die Erkenntnisse müssen schneller und wirksamer zum Patienten. ({0}) In den vergangenen Jahren sind viele Analysen durchgeführt worden, in denen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Trennung der Hochschulmedizin von den Forschungsinstituten den Weg erschwert. Es braucht eine Bündelung der Kräfte, es braucht Verbindungen, und es braucht, damit zusammenhängend, höhere Investitionen in die Hochschulmedizin. Das Rahmenprogramm ist übrigens auch ein großer Beitrag des Bundes - und somit Konsequenz aus der Entscheidung des Parlamentes - zur finanziellen Unterstützung der Hochschulmedizin. Es ist Zeit, dass das große Potenzial, das in unseren Universitäten vorhanden ist, finanziell entsprechend unterstützt wird. Das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung wird hierfür in den nächsten Jahren die Voraussetzungen schaffen. ({1}) Im April dieses Jahres wird die Auswahl der Standorte stattfinden. Ich werde schon Ende dieses Monats die Deutschlandkarte präsentieren können, die Ihnen zeigen wird, an wie vielen Standorten wir in Zukunft mit sehr viel intensiverer Forschung im Bereich der Gesundheit und mit der Verwirklichung der Schwerpunkte, die in diesem Programm enthalten sind, rechnen können. Ich nenne drei zentrale Schwerpunkte. Erstens: die individualisierte Medizin. Dazu sind erhebliche weitere Forschungsanstrengungen notwendig. Dies ist aber auch eine große Herausforderung für die Versorgungssysteme. Zweitens: die Präventions- und Ernährungsforschung, auch die Versorgungsforschung, die insgesamt eine Verbindung zwischen der Forschung, unserem Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung herstellt. Es geht dabei um mehr individuelle Zugangswege und eine bessere Versorgung vor allem der multimorbiden Patienten. Drittens: das Aktionsfeld internationale Kooperation mit dem Schwerpunkt bei vernachlässigten Krankheiten oder, anders gesagt, Volkskrankheiten in den Entwicklungsländern. Wir haben über diese Themen sowohl im Fachausschuss für Bildung und Forschung als auch im Gesundheitsausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diskutiert. Ich messe dem Aktionsfeld internationale Kooperation eine herausragende Bedeutung bei. Die Gesundheitsforschung muss in den nächsten Jahren angesichts der Möglichkeiten, die wir in Deutschland haben, aber auch angesichts der Möglichkeiten, die wir auf europäischer Ebene haben, noch stärker genutzt werden, um internationale Verantwortung wahrzunehmen. Sie ist ein wichtiges Aktionsfeld der internationalen Verantwortung, auch in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. ({2}) Meine Damen und Herren, ich werde nicht auf weitere Einzelheiten eingehen; denn das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung liegt Ihnen vor. Ich will auf den Antrag der SPD eingehen, der heute in diesem Hause eingebracht worden ist. Mich hat dieser Antrag insofern verwundert, als er die Tatsachen im Hinblick auf das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung an vielen Stellen ins Gegenteil verkehrt. Erstens. Wenn Sie davon reden, dass dieses Rahmenprogramm allgemein gehalten ist, dann muss ich Ihnen sagen - wir haben ausdrücklich und ausführlich darüber diskutiert -: Wir legen bewusst ein Rahmenprogramm vor, das in den nächsten acht Jahren Entwicklungen möglich macht. Wir legen bewusst ein Programm vor, das die Richtung vorgibt, basierend auf dem, worüber wir mit dem Gesundheitsforschungsrat diskutiert haben. Wir legen Schwerpunkte fest. Jeder von Ihnen weiß, dass es einer Verwechslung von Äpfeln mit Birnen gleicht, wenn man ein Rahmenprogramm mit konkreten Förderausschreibungen verwechselt. ({3}) Zweitens. Sie schreiben, die verstärkte Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft - es ist auch die Rede von einer Stärkung der Gesundheitswirtschaft - sei das Leitmotiv dieses Rahmenprogramms. Wir haben lange darüber diskutiert. Wenn in diesem Rahmenprogramm von Translation und Wissenstransfer die Rede ist - und zwar auf der Basis der Zentren, die wir in den letzten Jahren schon aufgebaut haben -, dann geht es eben nicht um verkaufbare Produkte, sondern es geht um neue Therapien, um neue Leitlinien für Diagnose und Therapie, um unmittelbare Verbesserungen für die Patienten. Nachdem wir so viel darüber diskutiert haben, lieber Herr Röspel, kann ich, wenn ich jetzt Ihren Antrag lese, nur davon ausgehen, dass Sie nicht wahrnehmen wollen, dass vieles von dem, was in dieses Rahmenprogramm aufgenommen worden ist, gerade aus den gemeinsamen Diskussionen, die wir geführt haben, resultiert. Ich finde das bedauerlich; denn der Bereich der Gesundheitsforschung wäre wunderbar geeignet, um auch einmal gemeinsam die Richtung für die nächsten Jahre vorzugeben. ({4}) - Das ist wahr. - Ganz abgesehen davon hielte ich es, wenn die Gesundheitswirtschaft und die damit verbundene Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen dieses Parlament und diese Bundesregierung gleichgültig lassen würden, für eine komische Grundeinstellung. Das Leitmotiv ist klar - dabei können wir auch gut auf Entwicklungen der letzten Jahre aufbauen -: Wir wollen die Wege zum Patienten verkürzen. Wir wollen, dass das, was die Gesundheitsforschung an neuen Ansätzen und individualisierter Medizin ermöglicht, in dem gesamten System der Gesundheitsversorgung wirklich Platz greift und wirkt. Aber wir wollen auch, dass sich die Gesundheitswirtschaft in Deutschland gut entwickeln kann, ({5}) weil sie eine Wachstumsbranche schlechthin ist, weil sie gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und vor dem Hintergrund von hochqualifizierten Arbeitsplätzen, die in dieser Branche geschaffen werden, von großer Bedeutung ist. Sie schreiben, es gebe Defizite bei der Ausbildung klinischer Forscher. Sie wissen aber, dass die genannten Defizite mit diversen Förderschwerpunkten ganz gezielt angegangen werden, zum Beispiel in den Klinischen Studienzentren oder in den Integrierten Forschungs- und Behandlungszentren. Sie sprechen davon, dass wir uns zu wenig mit der gesundheitsökonomischen Dimension des ganzen Themas beschäftigen. Sie wissen aber, dass längst Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung eingerichtet werden. Ich nenne diese wenigen Punkte aus Ihrem Antrag, weil ich der Meinung bin, dass wir in der Frage der Gesundheitsforschung einschließlich der damit verbundenen Schwerpunkte und strukturellen Verbindungen und Veränderungen möglichst viel Zusammenarbeit brauchen - auch zwischen Bund und Ländern. Deshalb wünsche ich mir für die gute Umsetzung dieses Schwergewichtes unserer Forschungsstrategie eine gute Verbindung zu den Ländern und einen möglichst weitgehenden parteiübergreifenden Konsens; denn wir reden über ein Forschungsfeld, das zutiefst mit humaner Entwicklung in unserer Gesellschaft, exzellenter Forschung und neuen Verbindungen zwischen der Forschung, dem Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung zusammenhängt. Das Potenzial war noch nie so groß. Die finanziellen Investitionen waren noch nie mit so vielen Möglichkeiten verbunden, und die Strukturen, die wir auf den Weg bringen, sind die Konsequenz aus dem, was in vielen Analysen über das Gesundheitssystem und die Gesundheitsforschung in Deutschland zutage getreten ist. Deshalb geht mein Dank auch an diejenigen, mit denen dieses Programm aufseiten des Parlaments diskutiert werden konnte. Ich bitte um Unterstützung für die Umsetzung in den nächsten acht Jahren. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Oktober 2007 ist die „Roadmap für das Gesundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung“ publiziert worden, herausgegeben vom Gesundheitsforschungsrat des BMBF. Das ist ein Rat, der mit hochkarätigen deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besetzt ist. Er hat sich im Beratungsprozess mit über 900 Beteiligten getroffen - leider waren darunter keine Patientenvertreter und keine Vertreter der Komplementärmedizin; dazu werde ich gleich kurz noch etwas sagen und einige Jahre diskutiert. Er hatte die Aufgabenstellung, zu beraten, welche aussichtsreichen Forschungsthemen im Bereich der Gesundheit zu identifizieren sind und der Bundesregierung sozusagen mit auf den Weg gegeben werden können, um ein Gesundheitsforschungsprogramm zu erarbeiten und zu beschließen. Dieses haben wir im Oktober 2007 auf den Tisch bekommen, und ich muss sagen: Es ist ein richtiges Schwergewicht - 120 Seiten vollgepackt mit Informationen, wissenschaftlichen Arbeiten, Handlungsoptionen und Vorschlägen. Wir waren damals, als wir darüber diskutiert haben, sehr zufrieden damit und haben gesagt: Es wird spannend, was für ein Gesundheitsforschungsprogramm aus den Vorschlägen der beteiligten Wissenschaftler entstehen wird. Knapp anderthalb Jahre später haben wir nachgefragt. Im Januar 2009 bekamen wir die Antwort: Im April/Mai wird es eine Kabinettsbefassung mit dem Gesundheitsforschungsprogramm geben. Ein weiteres Jahr später, im Februar 2010, haben wir noch einmal nachgefragt, wann das Gesundheitsforschungsprogramm vorliegen wird. Es wurde dann eine ähnliche Antwort gegeben: Kabinettsbefassung im April/Mai. Ende 2010 flatterte eine Hochglanzbroschüre des BMBF in unsere Büros - übrigens ohne vorherige Diskussion; ich weiß nicht, in welchen parlamentarischen Zirkeln das vorher besprochen worden ist -, auf der stand: „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung“. ({0}) Das Deckblatt ist übrigens im seit 2005 üblichen CDUOrange gehalten. Wir waren sehr gespannt, was in diesem Rahmenprogramm steht. Es sind 48 Seiten; es müssen ja auch nicht wieder 120 Seiten sein. Aber wenn man hineinschaut, dann findet man erst einmal eine ganze Reihe von Hochglanzfotos. Sehr interessant! Zieht man sie ab, bleiben von den 48 Seiten 30 Seiten Text. ({1}) Auch das ist okay. Wenn man sich diesen Text dann aber ansieht - das ist alles andere als ein Schwergewicht, Frau Schavan, das ist ein wirkliches Leichtgewicht -, dann ist die Enttäuschung sehr groß, ({2}) und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist ein inhaltlicher: Bei der Erarbeitung des Gesundheitsforschungsrahmenprogramms haben Sie die wissenschaftlichen Chancen nicht genutzt; ({3}) sie finden sich im Gesundheitsforschungsprogramm nicht wieder. Sie haben die Arbeit der deutschen Wissenschaft schlicht und einfach nicht genutzt. Der zweite Punkt, der mich fast ärgert, ist: Sie haben nicht die Möglichkeit genutzt, mit dem Gesundheitsforschungsprogramm ein gesellschaftliches und politisches Zeichen mit einer entsprechenden Dimension zu setzen. Wenn man das Programm liest, dann erhält man in der Tat den Eindruck, dass die Gesundheitsforschung in diesem Programm dazu dienen soll, möglichst schnell wirtschaftlich verwertbare Produkte zu generieren. Sie nennen das: Erkenntnisse „an den Patienten bringen“. Das zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Programm. Um das visuell deutlich zu machen, habe ich rote Zettel eingelegt. Überall dort, wo sich ein roter Zettel befindet, wird die Wirtschaft betont. Das darf man machen, aber es dient nicht der Gesundheitsforschung. Wir als SPD haben eine andere Auffassung, Frau Schavan. Gesundheitsforschung soll nicht der Wirtschaft dienen, sondern den Menschen. ({4}) Sie hingegen - das haben wir auch in Ihrem Redebeitrag gerade wieder gehört - zäumen das Pferd von der anderen Seite auf. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Die Frage ist: Wie können wir den Menschen dienen, und wie kann man vom Menschen her darüber nachdenken, welche Gesundheitsforschung betrieben werden muss? ({5}) Dann ergeben sich auch noch andere Fragen: Was müssen wir machen, damit die Menschen gesund bleiben? Was müssen wir in der Forschung tun, damit Kranke wieder gesund werden? Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise ergeben sich wieder andere Fragen: Wie sehen die Lebensbedingungen von Menschen aus? Wie schaffen wir Arbeitsplätze und Situationen, mit denen es gelingt, dass Menschen gesund bleiben? Wie schaffen wir entsprechende Lebensbedingungen? Welche Ernährungsforschung und Versorgungsforschung betreiben wir? Wie gehen wir mit Kranken um? Das sind die Fragen, die sich ergeben, wenn man vom Menschen her denkt, und das finden wir in dem Gesundheitsforschungsprogramm leider nicht. Ihre Antworten sind anders. Zum Teil sind sie nicht vorhanden; die Bereiche Arbeits- und Dienstleistungsforschung gibt es nicht. Es gibt aber ein Kapitel über Versorgungsforschung, Ernährungs- und Präventionsforschung. Wie sehen hier Ihre Antworten aus? Sie können sich hier nicht darauf zurückziehen, dass das nur ein grober Überblick ist. Es muss mehr sein als nur Textbeiträge. Ich habe alles mit Spannung gelesen. Auf Seite 33 schreiben Sie: Die Bedeutung der gesundheitsökonomischen Forschung hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Der Bedarf an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen … wird immer dringlicher. Forschung kann hierfür konsistente Entscheidungsgrundlagen schaffen. Das ist alles richtig. Jetzt warten wir auf die Vorschläge. Was aber kommt? Nichts. Es folgt das nächste Kapitel: „Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“. Darin verweisen Sie darauf, dass mehr Lehrstühle für Versorgungsforschung geschaffen werden müssen. Das ist Länderaufgabe. Wo ist die Verantwortung des Bundes? Welche Vorschläge bieten Sie zur Gesundheitsforschung für die Menschen? ({6}) Das Programm ist eine inhaltliche Enttäuschung für uns. Sie machen keine Gesundheitsforschung, sondern Krankheitenerforschung. Das greift zu kurz. ({7}) Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Einige Kollegen haben gestern an einer Veranstaltung zur Komplementärmedizin teilgenommen, bei der es auch um Naturheilkunde und alternative medizinische Verfahren ging. 90 Prozent der Menschen, die auf diese Weise behandelt werden, sind sehr zufrieden. Das spielt also gesellschaftlich eine Rolle. In der „Roadmap Gesundheitsforschung“ von 2007 wird die Komplementärmedizin im Kapitel „Krebserkrankungen“ berücksichtigt. Es wird ernsthaft vorgeschlagen, sich damit zu befassen. In dem vermeintlichen Schwergewicht Gesundheitsforschungsprogramm findet sich kein Wort dazu. Man findet nicht einmal das Wort „Behinderung“. Aber zu einem Gesundheitsforschungsprogramm gehört, wie ich finde, auch Gesundheitsforschung für Menschen mit Behinderung. Das alles ist sehr enttäuschend. Sie hatten drei Jahre Zeit für das Gesundheitsforschungsprogramm, die Sie nicht genutzt haben. Wir als SPD hatten drei Wochen Zeit, als wir erfuhren, dass die Debatte sehr schnell auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben einen Antrag erarbeitet. Er mag nicht vollständig oder auch verbesserungswürdig sein; aber wir sagen ausdrücklich: Wir wollen Gesundheitsforschung, die von den Bedarfen der Menschen ausgeht. ({8}) Damit stehen wir nicht alleine. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sieht das genauso. Die Frage ist: Was hat der Patient davon? Das gilt auch für die Forschung. Wir wollen einen Aktionsplan Präventions- und Ernährungsforschung. Sie kündigen ihn seit Jahren an. Wir sagen: Legen Sie ihn endlich vor! Wir wollen die Stärkung der Patientenautonomie, und wir wollen die klinische Forschung stärken. Was Sie eben an bereits existierenden Maßnahmen aufgeführt haben, Frau Schavan, ist doch auf eine Initiative der SPD zur Förderung nicht kommerzieller und klinischer Forschung zurückzuführen, die wir in guter Zusammenarbeit, Herr Kretschmer, gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben. Sonst wäre nichts passiert. ({9}) Wir wollen auch Gender- und Kinderaspekte einbeziehen. Das sind nur einige Beispiele aus unserem Antrag. Sie wollen in den nächsten fünf Jahren 5,5 Milliarden Euro einsetzen. Auch darauf sind wir sehr gespannt. Wo sind eigentlich neue Mittel? Denn Sie zählen Forschungsmittel dazu, die längst bewilligt sind. Entscheidend ist aber nicht das Geld oder die Höhe der Summe, sondern die Frage: Was nutzt letzten Endes den Menschen? Dafür ist die Forschung da. Das Gesundheitsforschungsprogramm erfüllt diesen Anspruch nicht. Bedienen Sie sich gerne aus unserem Antrag. Das tut den Menschen im Lande sicherlich gut. Danke schön. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Dr. Peter Röhlinger für die CDU/CSU-Fraktion, Entschuldigung: für die FDP-Fraktion, das Wort. ({0}) - Mögliche Fraktionswechsel sollten schon subjektive individuelle Entscheidungen bleiben. Sie werden nicht durch das Präsidium veranlasst. - Bitte schön, Herr Kollege. ({1})

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich freue mich, dass wir in dieser fröhlichen Stunde auch ein fröhliches Wort übrig haben. Ich begrüße Sie herzlich, Frau Ministerin, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich widme mich im Folgenden dem von Ihnen genannten tatsächlichen Schwergewicht. Ich empfinde es als Veterinärmediziner und Bürger, der 40 Jahre lang das Gesundheitswesen der DDR kennengelernt hat, auch persönlich als eine große Freude, dass wir nun die Chance haben, der Spitze der europäischen medizinischen Forschung zu zeigen: Wir sind hier und wollen unseren Beitrag leisten. ({0}) Ich gehe davon aus, dass das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung die strategische Ausrichtung der medizinischen Forschung für die kommenden Jahre darstellt. Es bildet die Grundlage für die Finanzierung medizinischer Forschung an Hochschulen, Universitätskliniken, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und in Unternehmen. Die Bundesregierung ist einer der wichtigsten Akteure auf dem Gebiet der Gesundheitsforschung, denn sie finanziert anteilig Wissenschaftsorganisationen wie die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. ({1}) Sie unterhält Ressortforschungseinrichtungen, und sie fördert medizinische Forschungsprojekte. Daraus erwachsen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei wird hoffentlich ein Großteil dessen, was Sie, Herr Röspel, angesprochen haben, integriert werden. ({2}) Wir haben als Parlamentarier Zeit, das zu kontrollieren und gegebenenfalls zu ergänzen. Dieses Programm setzt für die institutionelle Förderung und für die Projektförderung des BMBF einen gemeinsamen Rahmen und richtet beide Förderarten neu aus. Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft schneller aus der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung in die medizinische Regelversorgung und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess, der in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedauert hat, soll durch neue Strukturen und neue Formen der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beschleunigt werden. Dafür sind - die Zahlen haben wir zum Teil schon gehört - für das Jahr 2011 insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro in den Haushalt eingestellt, für den Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro. ({3}) Die Laufzeit ist auf acht Jahre angelegt. Auf der Veranstaltung, die wir gestern gemeinsam besucht haben, hatte ich den Eindruck, dass wir überfraktionell, gerade was die Komplementärmedizin angeht, durchaus übereinstimmende Ansichten haben. Die Tatsache, dass die Laufzeit auf acht Jahre angelegt ist, gibt uns die Möglichkeit, nicht im Raster von vier Jahren denken zu müssen, sondern in längeren Zeiträumen. Das sind wir den Bürgern schuldig, und dieser Zeithorizont macht uns Abgeordneten Hoffnung, in den nächsten Jahren etwas mehr Kraft zu investieren. ({4}) Die Patienten stehen - so geht es aus dem Text hervor - im Mittelpunkt. Partner der Regierung sind in erster Linie die Forschungseinrichtungen. Aber wir haben auch - darin unterscheiden wir uns vielleicht, Herr Röspel - ein ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen als Partner bei der Lösung außerordentlich komplizierter Vorhaben. Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung sind sechs Aktionsfelder definiert. Ich möchte an dieser Stelle nur auf einige eingehen, die mir besonders interessant erscheinen. Zunächst geht es um die Erforschung von Volkskrankheiten. Diese Forschung wird gebündelt. Es werden sechs deutsche Zentren der Gesundheitsforschung gegründet. Diese Zentren sind so aufgestellt, dass eine neue Qualität der Zusammenarbeit in der Wissenschaft entstehen kann; das muss auch so sein. Erstmals werden hier universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen mit ihren jeweils besten Forscherinnen und Forschern gleichberechtigt und gemeinsam wissenschaftliche Fragestellungen definieren und bearbeiten. Bei den Vorgesprächen zum Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist mir ans Herz gelegt worden: Wir brauchen nicht mehr Geld, sondern neue Strukturen. Wir brauchen Kooperation, auch mit den Unternehmen. ({5}) Das ist ein neuer Aspekt, der sich in diesem Rahmenprogramm wiederfindet. Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, zum Beispiel Parkinson, Demenz und Alzheimer, und das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung sind bereits gegründet. ({6}) Vier weitere Zentren werden eingerichtet, zu HerzKreislauf-Erkrankungen, zu Krebs, zu Infektions- und zu Lungenkrankheiten. Hier werden sicherlich - darüber sind wir uns alle einig - die Kliniken und Einrichtungen mit großem Interesse dabei sein. Sie werden sich fragen: Sind wir dabei, oder gehören wir zu den Einrichtungen, die aus diesen oder jenen Gründen nicht einbezogen werden? - Da können wir uns auf schwierige Diskussionen gefasst machen. Frau Ministerin, Sie plädierten für eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Ich sehe da durchaus Spannungsfelder. Aber auch dafür sind wir da. Sonst würden das andere schon längst gemacht haben. Beim Aktionsfeld 2 geht es um die Forschungsherausforderung. Das Stichwort heißt individualisierte Medizin. Dieses Aktionsfeld ist der ganzheitlichen Behandlung gewidmet; denn durch die großen Fortschritte der medizinischen Forschung in den vergangenen Jahren ist das Verständnis der grundlegenden Krankheitsmechanismen inzwischen stark gewachsen. Dabei ist deutlich geworden, dass individuelle Unterschiede, zum Beispiel Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und genetische Disposition, eine große Rolle spielen. Die Erforschung dieser Aspekte muss forciert werden, um Diagnose und Therapie künftig stärker als heute auch auf individuelle Bedürfnisse und Voraussetzungen einzelner Menschen oder einzelner Gruppen von Menschen auszurichten. Mir sagen die Chefs in Heidelberg und an anderen Orten: Wenn die Patienten künftig mit ihrem Chip zum Arzt oder in die Klinik kommen und eine Fülle von Informationen mitbringen, dann kann der Mediziner Kosten auf dem einen oder anderen Gebiet vermeiden, weil er sehr speziell reagieren und auf die Anwendung von diesem oder jenem Diagnostikum oder Therapeutikum verzichten kann. ({7}) Die Bundesregierung unterstützt die Entwicklung von Diagnostika und Therapeutika und spannt in der Förde11630 rung den Bogen entlang des Innovationsprozesses von der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung über die präklinische und klinisch-patientenorientierte Forschung bis zur Marktreife. Der Übergang von einer Stufe des Innovationsprozesses zur nächsten wird erleichtert. Die Erforschung seltener Krankheiten wird ebenso besonders intensiv gefördert. Die Präventions- und die Ernährungsforschung liefern Erkenntnisse über den Einfluss von Ernährung und Bewegung. Das betrifft speziell unsere Berufsgruppe; ({8}) denn die Bewegungsarmut betrifft uns alle, die wir hier sitzen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Man sieht, das Ministerium denkt auch an uns, obwohl man sagt: Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. - In diesem Fall haben Sie, Frau Ministerin, auch dieses Tabu gebrochen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, wenn Sie gelegentlich an die Redezeit dächten, würde uns das auch wieder mehr Bewegung am Rednerpult ermöglichen. ({0})

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich nähere mich dem Ende. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wollen wir nicht hoffen, aber die Redezeit geht zu Ende, Herr Kollege Röhlinger. ({0})

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte zum Schluss auf die neuen Strukturen in der internationalen Kooperation und auf die Zusammenarbeit mit dem BMZ verweisen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun das Wort der Kollegin Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sich um die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen, gehört wohl zu den höchsten Ansprüchen einer Gesellschaft. Diese Aufgabe bedarf, soll sie auch nur annähernd gerecht für die Menschen erfüllt werden, eines zutiefst solidarischen Ansatzes. Herr Röspel hat schon gesagt, dass von den Menschen aus gedacht werden soll. ({0}) Für diesen Ansatz bedeutet das, dass das Gesundheitsforschungsprogramm nicht mehr nur in den Grenzen von Nationalstaaten verfolgt werden kann, und für diesen Ansatz bedeutet das, dass die Grenzen zwischen fachwissenschaftlichen Disziplinen überschritten werden müssen. Was heißt das jetzt aus der Sicht der Linken? Ein modernes Gesundheitsforschungsprogramm muss zwangsläufig seinen Horizont erweitern. Deshalb ist uns besonders wichtig, dass soziale, kulturelle, soziologische, demografische, aber auch ökologische Faktoren einzubeziehen sind, weil auch diese die Gesundheit maßgeblich beeinflussen. ({1}) Im Zentrum des Gesundheitsforschungsprogramms sollen nun so große Volkskrankheiten wie Krebs, HerzKreislauf-, Stoffwechsel-, Infektions-, Lungen- oder neurodegenerative Erkrankungen stehen. Der Anstieg bei diesen Erkrankungen und die Dramatik ihres Verlaufs werden, wie zwischenzeitlich belegt, eindeutig auch durch unsere Lebensweise geprägt. Daher müssen in neuer Qualität auch Präventions- und Versorgungsforschung in das Konzept integriert werden. Die Linke hat an dieser Stelle wiederholt kritisiert, dass Gesundheitsforschung in dieser Bundesregierung viel zu sehr auf Pharmaentwicklung, Biotechnologie und Medizintechnik verengt ist. Tatsächlich hätte die Bundesregierung längst weiter sein können. Herr Röspel hat es schon zu Recht gesagt: Immerhin lagen mit dem damaligen als - neudeutsch „Roadmap für die Gesundheitsforschung“ bezeichneten Konzept der schwarz-roten Koalition von 2007 viele deutlich konkretere Vorschläge auf dem Tisch. Aber offensichtlich ist die schwarz-gelbe Gemeinschaftspraxis tapfer entschlossen, ihre konzeptionelle Blutarmut ohne rote Helferzellen zu überstehen. ({2}) Also muss das Parlament die konkrete strukturelle und finanzielle Umsetzung der angekündigten Initiativen kontrollieren und mit eigenen Vorschlägen bereichern. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie uns bereits in den Haushaltsberatungen Auskunft darüber gibt, in welchem Verhältnis die einzelnen Aktionsfelder zueinander stehen und wie sie jeweils finanziell unterlegt werden. Die Erforschung großer Volkskrankheiten ist wahrlich eine Mammutaufgabe, an die sich hohe Erwartungen knüpfen. Das alles ist nicht ohne verlässliche Strukturen, ohne neue bundesweite Vernetzungen und Kooperationen zu schaffen. Also macht die Bildung von Zentren für Gesundheitsforschung unter dem Dach der starken Helmholtz-Gemeinschaft durchaus Sinn. Wenn jedoch die Universitätsklinika auf Augenhöhe mitwirken sollen, dann müssen sich Bund und Länder darüber verständigen, wie der chronischen Unterfinanzierung der Universitätsmedizin begegnet werden kann. ({3}) Ansonsten können die Klinika ihre Chance, endlich wieder stärker in öffentlich geförderte, nicht kommerzielle Forschung einzusteigen, kaum befriedigend wahrnehmen. Insofern hatten Sie in Ihrer Rede recht. Das Ganze muss jetzt aber auch verbindlich festgehalten werden. Eine unabhängige klinische Forschung kann dem Wissen über Therapien entscheidende Impulse geben; das wissen wir. Mithin wird die Möglichkeit, eigene Forschungsvorhaben zu verfolgen, auch für wissenschaftlichen Nachwuchs attraktiv. Deshalb betrachte ich es als Fortschritt, dass Nachwuchsfragen in jedem Themengebiet des Programms eine Rolle spielen. Allerdings müssen Sie jetzt nachlegen und verlässliche Perspektiven konzipieren. Gesundheitsprobleme können, wie ich schon eingangs gesagt habe, nicht mehr nationalstaatlich gelöst werden; sie tragen globalen Charakter. Wer heute meint, dass die wohlhabenden Staaten von den Krankheiten der sogenannten armen Länder verschont bleiben, verkennt den Ernst der Lage. Die Linke sagt: Wir tragen eine hohe Verantwortung dafür, dass Krankheiten, die mit Armut einhergehen, wie HIV, Malaria, Tbc oder tropische Krankheiten, ausgerottet werden können. ({4}) Die Pharmaindustrie ihrerseits ignoriert nämlich erfahrungsgemäß die dramatischen Folgen, weil in den armen Ländern auf sie keine kaufkräftigen Kunden warten. Es ist eine Bankrotterklärung der reichen Staaten, dass die Millenniumsziele der Vereinten Nationen nicht erreicht worden sind. Nicht genug damit, dass so viele Menschen wie nie hungern, nämlich über 1 Milliarde: Nein, sie sind infolgedessen auch noch dramatisch geschwächt und fast wehrlos gegen Krankheiten. So stehen wir weltweit vor verschärften armutsbedingten medizinischen Großproblemen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Konflikten. Krasses Beispiel etwa sind multiresistente Tuberkulosekeime, die sich in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion entwickelt haben und die sich nunmehr über ganz Europa ausbreiten. Deutschland bezeichnet sich immer wieder gern als „Apotheke der Welt“. Angesichts dessen, was ich gerade gesagt habe, kann ich nur feststellen: Dieser Satz ist falsch. Wenn überhaupt, dann sind wir Apotheke höchstens für den reicheren Teil der Welt. Unter den Fördernationen findet sich Deutschland als eines der reichsten Länder nämlich nur auf Platz 20. Das ist völlig inakzeptabel! ({5}) Lediglich 20 Millionen Euro für sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften zwischen Industrie und Forschern stehen beispielsweise 800 Millionen Euro gegenüber, die im Rahmen der Pharmainitiative in den letzten Jahren ausgegeben wurden. Das müssen wir ändern. ({6}) Meine Damen und Herren, das Gesundheitsforschungsprogramm bietet uns durchaus auch auf diesem Feld eine Chance, die hohe Kompetenz wissenschaftlicher Einrichtungen tatsächlich in den Dienst dieser Gesellschaft wie auch der Weltgemeinschaft zu stellen. Packen wir es endlich an! Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Krista Sager vom Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrem nationalen Rahmenprogramm zur Gesundheitsforschung die Präventionsforschung, die Versorgungsforschung und auch die globale Herausforderung mit einem Schwerpunkt auf vernachlässigte und armutsbedingte Krankheiten aufgegriffen und zu eigenen Aktionsfeldern gemacht. Das bewerten wir erst einmal durchaus positiv. Ich sage aber auch: Wenn man sich die finanzielle Gewichtung anschaut, kann man in der Tat nur von allerersten Schritten sprechen. Da müssen mit Sicherheit weitere Schritte folgen. ({0}) Die Bedeutung der Präventionsforschung wird besonders durch den demografischen Wandel unterstrichen. Wir müssen junge Menschen vor Erkrankung schützen, wir müssen ältere Menschen länger gesund und aktiv erhalten. Ein wichtiges Thema für die Präventionsforschung ist aber auch die soziale Spaltung im Präventionsbereich. Prävention darf nicht nur die gebildete Mittelschicht erreichen, sondern sie muss auch Kinder aus armen Familien und Menschen, für die gesunde Ernährung nicht alltäglich ist, erreichen. ({1}) Deswegen muss die interdisziplinäre und kooperative Präventionsforschung ganz besonders verstärkt werden. ({2}) In einer alternden Gesellschaft gibt es aber auch immer mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen, deren Leid gemildert und deren Lebensqualität erhalten werden muss. Gesundheitsforschung muss deswegen auf die Erforschung chronischer Erkrankungen einen Schwerpunkt legen. Auch die Schmerz- und die Pflegeforschung müssen verstärkt werden. Frau Schavan, ich finde, dass in einem nationalen Gesundheitsforschungsprogramm die Pflegewissenschaften einen sehr viel stärkeren Stellenwert brauchen, als das in Ihrem Programm der Fall ist, ({3}) und zwar nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch, was die akademische Professionalisierung des Fachkräftepotenzials angeht. Die Stärkung der Versorgungsforschung war - gerade vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Möglichkeiten - für uns immer ein besonders wichtiges Anliegen. Der medizinische Fortschritt muss auch bei denen ankommen, die es am nötigsten haben und bei denen er am meisten bewirkt - nicht nur bei denen, die es sich leisten können. Deswegen ist gerade die Stärkung der Versorgungsforschung unter dem Gesichtspunkt von Gerechtigkeit, aber auch unter dem Gesichtspunkt von Qualität und Effizienz für uns Grüne ein ganz besonderes Anliegen. Männer und Frauen werden in unserem System unterschiedlich unterversorgt und überversorgt. Man muss sich da nur die Herzkrankheiten und die psychischen Krankheiten anschauen. Zum Teil kommen Medikamente auf den Markt, die nur an männlichen Probanden getestet worden sind. Deswegen muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass genderspezifische Aspekte in die Gesundheitsforschung systematischer integriert werden, als das in der Vergangenheit der Fall war. ({4}) Wir begrüßen - auch Frau Sitte hat das angesprochen -, dass die Bundesregierung jetzt mehr gegen armutsbedingte Krankheiten tun will. Das ist in der Tat nicht nur ein Thema, das Solidarität und globale Verantwortung betrifft, es hat auch etwas mit Selbstschutz zu tun. Resistente Formen der Tuberkulose können auch ganz schnell bei uns ankommen. Bei den geförderten Produktentwicklungspartnerschaften muss jetzt dafür gesorgt werden, dass die Kriterien für Lizenzierung und Erfolg transparent entwickelt werden. Unsere Entwicklungspolitiker werden ganz besonders darauf achten, dass dabei in Zukunft in Zusammenarbeit mit den NGOs Fortschritte erzielt werden. ({5}) Der größte Teil der Mittel aus diesem Rahmenprogramm geht in die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. Ich sage ausdrücklich: Fokussierung auf die großen Volkskrankheiten und Bündelung von Kräften und Ressourcen zur Erforschung der großen Volkskrankheiten finden wir im Prinzip richtig. Zur Erreichung des Ziels der schnelleren Translation, also der schnelleren Überführung der medizinischen Forschungsergebnisse in die klinische Praxis bzw. in die Patientenbehandlung, müssen aber eigentlich die Universitätskliniken ins Zentrum gerückt werden. Warum? Die medizinische Forschung braucht unbedingt die Nähe zu den Patientinnen und Patienten. Sie braucht die Nähe zur klinischen Erfahrung. Sie braucht die Überprüfung ihrer eigenen Erwartung in der klinischen Praxis. Sie braucht aber auch die Nähe zum ärztlichen Nachwuchs; denn wir müssen gerade die jungen Ärzte auch für die medizinische Forschung und für die Kooperation mit der medizinischen Forschung interessieren und gewinnen. Das heißt, wenn man Translation als Ziel ernst nimmt, dann müssen Herzstück und Schnittstelle der Deutschen Zentren eigentlich die Universitätskliniken sein. ({6}) Was ist aber passiert? Wir sind wieder von den Besonderheiten der föderalen Forschungsförderung eingeholt worden. 90 Prozent der Mittel sollen vom Bund kommen. Also wurden, um die Länder im Boot zu halten, die Helmholtz-Zentren in die Mitte gerückt; sie wurden als Partner gesetzt. Sie mussten sich im Gegensatz zu den Universitäten dazu keinem qualitativen Wettbewerb stellen. Sie sind von vornherein privilegiert, weil sie Geförderte und Förderer zugleich sind. Es ist kein Wunder, dass der Verband der Universitätskliniken, der Medizinische Fakultätentag und die Hochschulrektorenkonferenz protestiert haben. Durch ihren Protest und durch ihren Druck gibt es jetzt verschiedene Zentrenmodelle und eine Entwicklung in Richtung einer Netzwerkstruktur. Damit sind aber nicht alle Probleme und Ängste beseitigt. Werden die Helmholtz-Zentren forschende junge Ärzte, Publikationen und Drittmitteleinwerbung aus den Universitätskliniken und aus den Unis zu sich herüberziehen? Werden die Länder Komplementärmittel, die sie jetzt brauchen, bei der Grundfinanzierung der Unikliniken abziehen? Das alles sind offene Fragen. Die Frage „Wird es Kooperation auf Augenhöhe geben?“ ist bisher nicht beantwortet. Ich finde es nicht unproblematisch, so viel Geld auf Dauer in eine Struktur hineinzustecken, die bisher noch so wenig erprobt ist. Wir brauchen ganz dringend nicht nur eine Evaluation der Ergebnisse, sondern beizeiten auch eine Evaluation der Strukturen sowie der Folgen und Risiken dieser Strukturen, bevor wir auf Dauer so viel Geld in diese stecken. Das ist eine Sache, zu der ich von Ihnen, Frau Schavan, eine Zusage erwarte, und das erwarten auch die Universitätskliniken von Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Michael Kretschmer erhält als Nächster das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über 5,5 Milliarden Euro, nahezu 6 Milliarden Euro, wird der Bund zwischen 2011 und 2014 für die Gesundheitsforschung ausgeben. Über nicht weniger Geld sprechen wir heute. Das ist ein gewaltiger Kraftakt. Das macht klar, welche Bedeutung wir der Medizin und der Gesundheitsforschung beimessen. Es ist nicht weniger als knapp die Hälfte des Geldes, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung jährlich als Etat zur Verfügung hat. Es ist ein gewaltiger Kraftakt und, wie ich finde, ein deutliches Zeichen in die richtige Richtung. ({0}) Es reicht in diesem Zusammenhang nicht, über Geld zu sprechen; wir müssen auch über Strukturen und über Qualität sprechen. Ganz wichtig ist, auch im Hinblick auf das 8. Forschungsrahmenprogramm und andere Diskussionen, die derzeit laufen: In der Forschung muss es zuallererst um Exzellenz gehen. Es ist alles nichts ohne Exzellenz. ({1}) Diese Erkenntnis hatte vor Jahren auch schon eine andere Bundesforschungsministerin. Sie hatte festgestellt, dass Deutschland bei der klinischen Forschung weit zurück lag, und deswegen versucht, mit Zentren für klinische Studien und ähnlichen Dingen die Qualität zu heben. Vieles davon ist gut gelungen. Deswegen empfinde ich nicht alle Reden, die wir heute gehört haben, als zielführend. Wir können nämlich gemeinsam auf das stolz sein, was wir auf den Weg gebracht haben. Wir haben heute gehört, das Programm sei zu nahe an der Umsetzung, zu nahe an den Unternehmen, die später die Medikamente herstellen. Das ist erstens falsch, und zweitens widerspricht der Vorwurf dem, was die SPD, als sie in der Regierung war, einmal selber mit vorangetrieben hat. ({2}) Translation ist ein ganz zentrales Thema in der Gesundheitsforschung. Was nutzt es uns, wenn wir im Labor, im Forschungsinstitut die größten Dinge erforschen und Fortschritte erzielen, wenn die Ergebnisse nicht umgesetzt werden, nicht zum Patienten kommen? Es ist richtig, so wie es hier angelegt ist: Translation, also die Überführung des Wissens in die klinische Anwendung, muss zentrales Thema eines jeden Gesundheitsforschungsprogramms sein. ({3}) Wenn Sie die Menschen fragen, was Allensbach und andere Forschungseinrichtungen ab und an machen, was sie sich von der Forschung am meisten wünschen und was die wichtigsten Themen sind, dann wird das Thema Gesundheit genannt. Der Grund ist ihre Sorge um die schweren Krankheiten Demenz oder Krebs. Deswegen glaube ich, dass wir mit diesem Programm vollkommen richtig liegen. Die großen Volkskrankheiten und die Seuchen der Gegenwart gehen wir an. Wir versuchen, dies in Zusammenarbeit mit den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung mit einer neuen Struktur zu bewältigen. Dabei hat das Parlament einen deutlichen eigenen Akzent gesetzt, indem es neben den Zentren für Krebs, Diabetes, Neurodegeneration und Infektion zwei weitere Einheiten errichten will. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben gesagt: Wir wollen, dass die Erkrankungen von Herz und Kreislauf sowie der Lunge auch in diesen Zentren ein Thema sind. Jetzt ist dies auf dem Weg. Ich finde, die Kritik ist an den Haaren herbeigezogen, und sie ist auch ein bisschen verletzend. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist eine der größten deutschen Wissenschaftsorganisationen. Sie hat eine große Exzellenz und ist international anerkannt. Wir haben sie damit beauftragt, diese Deutschen Zentren zu organisieren. Natürlich gibt es einen Wettbewerb bei den Projekten, die in den Deutschen Zentren verfolgt werden. Dabei muss sich auch eine Gruppe, die in der Helmholtz-Gemeinschaft mitarbeitet, im Rahmen dieses Wettbewerbs bewerben. So ist es auch passiert. Wir haben im Übrigen eine große Gemeinsamkeit zwischen Klinikern und außeruniversitären Forschern. Man sollte nicht versuchen, diese durch eine kleinteilige Diskussion in diesem Bereich kaputtzumachen. ({4}) Ich will die Frage aufwerfen, wie es sich mit den Bundesländern, denen die Kliniken gehören, der Hochschulmedizin und der außeruniversitären Forschung verhält. Ich glaube, wir haben auch hier in den vergangenen Jahren deutliche Maßnahmen ergriffen, um zu helfen. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass wir die Universitätskliniken nicht übernehmen sollten. Das würde völlig an der Sache vorbeigehen. ({5}) Wir haben die für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Mittel deutlich erhöht. Wir haben versucht, mit den Zentren für klinische Forschung die Qualität zu erhöhen. Dies ist uns in großen Teilen gelungen. Zuletzt haben wir in der Frage von Programmpauschalen und der Overheadfinanzierung - es werden in Zukunft 20 Prozent sein - dafür gesorgt, dass diejenigen, die wirklich gut sind und sich im Wettbewerb bewähren, am Ende keine Probleme bekommen, weil dies zulasten ihrer Gemeinkostenfinanzierung geht. Nein, meine Damen und Herren, wir haben die Strukturen geändert. Wir haben dies so gemacht, dass Wettbewerb stattfindet und dass am Ende wirklich die Besten erfolgreich sein können, sodass es am Ende in Gänze zu einer Erhöhung von Exzellenz und Qualität kommt. Ich glaube, der Weg ist richtig. ({6}) Es ist die Frage angesprochen worden, ob alle Themen richtig bearbeitet worden sind und ob man sich nicht noch mehr vorstellen könnte. Man kann sich immer mehr vorstellen. Aber auch die Mittel der Bundesrepublik Deutschland und dieses Ministeriums, das einen hohen Etat hat, sind begrenzt. Deswegen ist erstens die Konzentration auf die großen Volkskrankheiten wichtig. Zweitens kommen eine Missionsorientierung und eine Methodenorientierung hinzu. Ich denke, es ist ein großer Schritt, dass wir Qualität in der Breite und Vergleichbarkeit organisieren und neben der klinischen Studie die präklinische Phase und am Ende auch die Markteinführung mit bedenken. Das heißt, vom Menschen her zu denken. Das heißt, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Ich finde die Kritik, die hier geäußert worden ist, völlig falsch. Sie ist in der Sache absolut daneben. ({7}) Der Kollege Röspel hat einen Antrag angesprochen, den wir in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam gefertigt haben. Ich finde, das ist ein großartiges Werk. ({8}) - Es gab eine gute Zusammenarbeit und kluge Ideen. Vieles von dem realisieren wir jetzt, weil die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Ideen einfach nicht umgesetzt hat. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({9}) Ich glaube, mit dem jetzigen Gesundheitsminister haben wir jemanden, der die Dinge mit uns gemeinsam voranbringen will. ({10}) Ich finde, die Ministerin hat vollkommen recht, wenn sie sagt, dieses Thema sollte zu Gemeinsamkeit führen. Wir sollten gemeinsam für die Gesundheit in diesem Land arbeiten. Die Menschen haben so große Hoffnungen, und wir können in diesem Bereich wirklich so viel gemeinsam bewegen: Lassen Sie uns nicht über Kleinigkeiten reden und parteitaktisch das Ganze betrachten, sondern stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt und tun wir etwas für die Gesundheit in diesem Land! ({11}) Wir haben gemeinsam die Möglichkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wohl kaum ein Bereich ist so komplex und solch starken Veränderungen unterworfen wie unser Gesundheitssystem. Die aus dem demografischen Wandel, der hier schon angesprochen worden ist, resultierende Notwendigkeit der Versorgung älterer und multimorbider Patientinnen und Patienten erfordert fortlaufend Anpassungen und in vielen Bereichen auch mutige Strukturreformen. Auch wenn unser Gesundheitssystem zweifelsohne zu einem der besten der Welt gehört, stehen wir doch vor großen Herausforderungen, denen wir uns auch stellen müssen. Vieles in unserem System ist nach wie vor zu unkoordiniert, zu intransparent und viel zu wenig am Patienten orientiert. ({0}) Das führt im Übrigen nicht nur zu unnötigen zusätzlichen Kosten, sondern hat auch Einfluss auf die Qualität der Versorgung von Millionen von Versicherten. Allein im Bereich der Versorgung sind noch ganz viele Fragen ungeklärt: Wie überwinden wir das isolierte Nebeneinander verschiedener Institutionen? Wie schaffen wir eine stärkere Patientenorientierung bei den Versorgungsabläufen? Wie entwickeln wir neue Versorgungsformen, und wie beschleunigen wir deren Einführung dann in der Praxis? Angesichts der demografischen Entwicklung und der vielen offenen Fragen nicht nur im Bereich der Versorgung, sondern auch in anderen Teilbereichen des Gesundheitssystems bedarf es eines breit aufgestellten, gut vernetzten Gesundheitsforschungsbereichs in Deutschland. Grundsätzlich begrüßen wir es daher sehr, dass sich die Bundesregierung dieses Themas annimmt. Wirft man nun aber einen Blick in das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung, so stellt man leider fest, dass es der herausragenden Bedeutung der Gesundheitsforschung und damit dem selbst gestellten Anspruch nicht gerecht wird. ({1}) Wer gehofft hat, dass die ständigen Verschiebungen und Überarbeitungen letztlich genutzt wurden, um hier ein Programm mit Substanz vorzulegen, der wurde enttäuscht. ({2}) Ihr Papier bleibt in überwiegenden Teilen abstrakt, vage, unbestimmt. Weitgehend richtigen Problemdarstellungen folgen leider keine konkreten Lösungsansätze, keine klaren konkreten Maßnahmen und auch keine konkreten Forschungsprojekte. ({3}) Besonders enttäuschend finde ich, dass das Rahmenprogramm einem Hauptproblem der Gesundheitsforschung, nämlich der nach wie vor viel zu geringen Patientenorientierung, viel zu wenig Beachtung schenkt. Auch der Kollege Röspel hat das schon ausgeführt. Das finde ich sehr bedauerlich. Kolleginnen und Kollegen, damit hier kein Zweifel aufkommt: Wir brauchen eine starke Gesundheitswirtschaft im Bereich der Pharmaindustrie genauso wie in der Medizintechnik und der Telemedizin. ({4}) Öffentlich geförderte Gesundheitsforschung muss sich aber immer an den Hilfebedürftigen und an den Kranken orientieren. ({5}) Die Fragen, die im Rahmenprogramm gestellt werden müssen, dürfen nicht lauten: „Wie können wir der pharmazeutischen Industrie am besten helfen?“, oder: „Wie können wir wissenschaftliche Erkenntnisse schneller ökonomisch verwerten?“, sondern die Fragen müssen lauten: „Was hat der Patient davon?“, und: „Wie können wir mit den neuen Erkenntnissen Patienten besser, umfassender und systematischer versorgen?“. Das muss der Leitgedanke eines Gesundheitsforschungsprogramms sein. ({6}) Liebe Ministerin, wären Sie diesem Gedanken gefolgt - Sie haben heute Morgen noch einmal betont, dass Sie den Weg zum Patienten kürzer machen wollen -, dann hätten Sie sich stärker mit der Gesundheitsforschung und den eingangs gestellten Fragen befasst. Gesundheitsforschung und Versorgungsforschung sind enthalten, aber deren Anteil ist eigentlich marginal. Die gegenwärtige Gesundheitsforschung konzentriert sich schwerpunktmäßig immer noch zu sehr an medizinischen Produkten; viel zu wenig sind die Prozesse, die Behandlungsketten und die Abläufe bei der Therapie des Patienten im Blick. Dazu, wie Sie diesem Problem konkret begegnen wollen, findet sich im Papier gar nichts. ({7}) Ebenso wenig befasst sich das Programm mit der Frage der Stärkung der Patientenautonomie in einem immer komplexer werdenden Gesundheitssystem. Bei einer gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft ist das eine der ganz großen Herausforderungen. ({8}) Wirtschaftsminister - Pardon! - Gesundheitsminister Rösler ({9}) - da hat die Berichterstattung der vergangenen Tage Wirkung gezeigt - spricht ja gerne vom mündigen, eigenverantwortlichen Patienten. Bislang beschränkte sich das bei Schwarz-Gelb allerdings auf finanzielle Eigenverantwortung in Form von Zusatzbeiträgen und Kostenerstattungen. Wenn Sie es mit dem mündigen Patienten wirklich ernst meinen würden, dann würden sich in diesem Programm Möglichkeiten zur Stärkung der Patientenautonomie wiederfinden. Aber auch hier leider Fehlanzeige. Eines der sechs Aktionsfelder im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung befasst sich mit Präventions- und Ernährungsforschung. Das ist ohne Frage zu begrüßen; denn gerade im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung und der Zunahme chronischer Erkrankungen wird die Bedeutung der Prävention weiter zunehmen. Doch auch hier geht das Rahmenprogramm nicht über Altbekanntes und Bewährtes hinaus. ({10}) Seit Jahren diskutieren wir im Rahmen des von uns immer wieder geforderten Präventionsgesetzes über die Orientierung an den Lebensverhältnissen. ({11}) Bislang werden mit gängigen Präventionsangeboten genau diejenigen nicht erreicht, die wir aber vor allem erreichen müssen. Lieber Kollege Röhlinger, damit sind nicht sich schlecht ernährende und bewegungsarme Abgeordnete gemeint, ({12}) sondern Menschen mit niedrigem Einkommen, mit niedrigem Bildungsstand und Migrationshintergrund. ({13}) All diese Menschen haben schlechtere Gesundheitschancen in unserem Land. Die Erforschung und Bekämpfung ungleicher Gesundheitschancen in Deutschland gehört mit zu den größten Herausforderungen, vor denen wir in der Gesundheitsversorgung stehen. ({14}) Auch hier schweigt die Bundesregierung; denn dazu findet sich nichts im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung. Allein das zeigt schon, dass dieses Programm von der Versorgungsrealität weit entfernt ist und sich nicht an dem Bedarf der Betroffenen orientiert. Hier müssen Sie dringend nachbessern, wenn Sie den Kampf gegen ungleiche Gesundheitschancen in unserem Land wirklich ernst nehmen. Das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm ist ein Papier der schönen Worte, ein Papier des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf den sich BMBF und BMG gerade noch haben einigen können. Es bleibt deutlich - auch das wurde hier schon angesprochen - hinter der bereits 2007 vorgelegten Roadmap zurück, die wesentlich klarer, konkreter und substanzieller war. Da wurde im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs „Gesundheitsforschung“ sehr klar ausgeführt: Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen für das ärztliche Handeln nutzbar gemacht werden und - umgekehrt - Beobachtungen und Fragen aus der Versorgungspraxis in die Grundlagenforschung eingebracht werden. Da wurde also an prominenter Stelle die Frage angesprochen, was Gesundheitsforschung eigentlich leisten soll. Das vermisse ich jetzt. Dass das, was hier jetzt vorgelegt wurde, etwas mager ist, müssen Sie inzwischen wohl selbst gemerkt haben. Wenn man sich anstatt der Hochglanzbroschüre die entsprechende Bundestagsdrucksache ansieht, dann erkennt man, dass nach 18 Seiten schöner Worte und Situationsbeschreibung darauf hingewiesen wird, dass das Programm in den kommenden Jahren natürlich ausgefüllt und konkretisiert werden muss. Ja, in der Tat, hier muss noch einiges ausgefüllt, konkretisiert und überarbeitet werden, damit Ihr Programm der Bedeutung der Gesundheitsforschung und der Versorgungsrealität gerecht wird. Wenn Sie Ideen brauchen, dann empfehle ich die Lektüre unseres Antrags.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Er zeigt, welche Impulse für eine bessere Gesundheitsforschung im Sinne der Patientinnen und Patienten gegeben werden müssen. Wir wollen, dass das Programm die Versorgungsrealität aufgreift und Projekte für die Versorgung entwickelt. Erst dann ist es wirklich ein Gesundheitsforschungsprogramm, von dem auch Patientinnen und Patienten profitieren, und nicht einfach nur ein Programm, das den Titel tragen könnte: Grundlagenforschung in der Medizin unter besonderer Berücksichtigung von Volkskrankheiten. Danke. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident der Hellenischen Republik, Herr Philippos Petsalnikos, mit seiner Delegation Platz genommen. ({0}) Ich begrüße Sie, Herr Präsident, herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, von denen Sie einige bei Ihren Gesprächen gestern bereits kennengelernt haben. Es ist uns, Herr Präsident, eine große Freude, dass Sie und Ihre Delegation gerade in diesen Tagen Deutschland besuchen. Ihr offizieller Besuch in Berlin findet auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Einmarsch von Truppen der damaligen deutschen Wehrmacht in Griechenland statt, die am 6. April 1941, von Bulgarien kommend, die griechische Grenze überschritten haben. Wir sind uns sehr bewusst, dass die darauf folgenden vier Jahre der deutschen Besatzung Griechenlands in Ihrem Volk tiefe Wunden hinterlassen haben. Umso dankbarer sind wir dafür, dass seit dieser Zeit so viele Griechen - unbeschadet des persönlichen Leids, das sie erfahren haben Deutschen versöhnlich entgegengekommen sind und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass wir die traditionell gute, enge freundschaftliche Verbindung zwischen unseren Ländern haben wiederherstellen können. Seien Sie uns ganz herzlich willkommen. ({1}) Ich will gerne hinzufügen, dass wir im Deutschen Bundestag - übrigens auch aus eigenem Interesse - mit besonderer Intensität, aber auch mit hohem Respekt die beachtlichen politischen und ökonomischen Kraftanstrengungen verfolgen, die Sie zur Stabilisierung des griechischen Staatshaushalts und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Ihrer Volkswirtschaft in den vergangenen Monaten unternommen haben. Wir wünschen Ihnen dafür viel Erfolg. ({2}) Die Debatte wird fortgesetzt mit Ulrike Flach, die für die FDP-Fraktion das Wort erhält. ({3})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute vorliegende Rahmenprogramm Gesundheitsforschung baut - das wissen wir alle - auf Programmen der Vergangenheit auf. Aber es arbeitet mit einem Volumen von 5,5 Milliarden Euro, einer Summe, die, Frau Ministerin, in der Vergangenheit noch nie in Forschung und Innovation hineingegeben worden ist. Ich bin froh und glücklich, dass die Koalition die Kraft gehabt hat, dies auch haushalterisch umzusetzen. ({0}) Aber es ist mehr als ein Forschungsprogramm. Die Ansätze dieses Programms gehen nicht nur fiskalisch über die Ansätze der Vergangenheit hinaus, sondern mit ihnen werden heute neben den Gesundheitszentren vor allem mit den Bereichen Versorgungsforschung und individualisierte Medizin auch neue, sehr patientenorientierte Wege beschritten. Wir wollen, liebe Kollegen, blühende Forschungslandschaften; denn wir wissen, dass die Zukunft unseres Hightechlandes natürlich von Innovation abhängt. Aber wir wollen diese Innovationen auch ganz bewusst aus Sicht der Patienten. Zu Recht weist zum Beispiel der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Professor Windeler, darauf hin - das möchte ich den Kollegen von der SPD an dieser Stelle einfach einmal ins Stammbuch schreiben -: In Deutschland stehen Grundlagenforschung, klinische Forschung und Versorgungsforschung in einem Missverhältnis. … Aber diejenigen, die Innovationen entwickeln, kümmern sich zu wenig darum, wie sie in der Versorgung untergebracht werden können. So Windeler über die Vergangenheit unter Ulla Schmidt und eine SPD-betonte Gesundheitspolitik. ({1}) Innovationen an sich seien kein medizinischer Wert, betonte er. Als wir Ende des letzten Jahres das neue Arzneimittelgesetz auf den Weg brachten, sind wir genau diesem Gedanken gefolgt. Entscheidend ist der medizinische Nutzen von Arzneimitteln, und damit lautet die zentrale Frage, die natürlich auch den heutigen Tag mit Blick auf die Gesundheitsforschung bestimmt: Was hat der Patient von dem, was wir hier machen? Deswegen sind vergleichende Studien so wichtig. Nicht alles, was als Innovation identifiziert wurde, hat auch Platz in der Versorgung. Wir brauchen empirisch gesicherte Daten darüber, welche Innovationen in der Diagnose, der Therapie und in der Medizintechnik die Versorgung der Menschen verbessern. Wir haben begrenzte Ressourcen - das wissen wir alle -, und wir wollen Erkenntnisse darüber gewinnen, wo eine hohe Breitenwirkung erzielt wird. Ein typisches Beispiel - auch das für die Kollegen von der SPD - sind zum Beispiel die sogenannten Disease-Management-Programme oder die integrierte Versorgung, bei denen wir bis heute nicht wissen, ob die einstmals damit verbundenen Hoffnungen sich wirklich erfüllt haben. Hier haben wir sehr viel Geld ausgegeben; aber nach wie vor ist die Frage nicht geklärt, ob die Patienten von den in den Programmen festgelegten Qualitätszielen wirklich profitieren. Der gute Wille allein, liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht eben nicht. Nur eine konsequente Forschung wird zeigen, ob für den Patienten etwas dabei herauskommt. ({2}) Das betrifft auch das zweite Aktionsfeld des Programms, auf das ich an dieser Stelle ganz besonders Bezug nehmen möchte: die individualisierte Medizin. Das ist ein Gebiet, welches vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass es zwischen großen Visionen und noch größeren Bedenken immer hin und her schwankt. Individualisierung als neues Leitbild der Medizin? Das ist eine Frage, die uns in den nächsten Jahren immer wieder umtreiben wird, in der Forschung und in der Gesundheitspolitik. Sind Effektivitätssteigerungen zu erwarten, oder wird die biologisch orientierte Medizin unbezahlbar bleiben? Wie hoch ist der tatsächliche Nutzen für die oft schwerkranken Patienten? Schon heute können wir je nach Krankheit höchst unterschiedliche Kostenentwicklungen erkennen, wie etwa bei Arzneikosten für zielgerichtete Therapien bei Brust-, Darm- oder Lungenkrebs: einerseits horrende Kosten für individuelle Profile, andererseits Preise für Gentests und ganze Genomanalysen im freien Fall. Zwischen 400 und 700 Wirkstoffe, die man zur maßgeschneiderten Therapie rechnen darf, sind inzwischen in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung. Was aber fehlt, sind zum Beispiel standardisierte Gewebeproben und Biobanken. Studienergebnisse sind damit oft nicht mehr reproduzierbar. Der G-BA hat zu Recht darauf verwiesen, dass vor einer Erstattungsfähigkeit durch die Kassen die individualisierte Medizin zuerst von der Diagnose bis zur Behandlung eindeutig ihren Nutzen zeigen muss. Für uns heißt das: Das ist der treibende Grund für Gesundheitsforschungsprogramme. Das müssen wir absichern. Dafür müssen wir sorgen; denn die Menschen in diesem Lande haben einen Anspruch darauf, dass neue Methoden in der Medizin forschungsmäßig unterlegt und dann in der Praxis umgesetzt werden. Die Debatte, ob die Wirtschaft profitiert oder nicht, ist eine völlig virtuelle. Es geht darum, dass wir forschen, damit die Menschen in diesem Lande in eine gesunde Zukunft gehen; in eine Zukunft, in der sie alles nutzen können, was möglich ist, und das zu einem vernünftigen Preis. Ich sage Ihnen ganz offen, Frau Ministerin: Ich bin als Haushaltspolitikerin und als Gesundheitspolitikerin froh, dass wir heute diesen Weg mit diesem Programm gehen können. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Martina Bunge für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich unterstreiche für die Linksfraktion ebenfalls, dass Sie, verehrte Frau Ministerin Schavan, in dem vorgelegten Rahmenprogramm viele wichtige Punkte benennen. Wenn man aber genauer hinschaut, ist die Einschätzung nicht mehr ganz so schmeichelhaft. Herr Kretschmer, das sind unseres Erachtens nicht nur Kleinigkeiten. Ihr Ausgangspunkt ist - und das wiederholen Sie gebetsmühlenartig -, dass Demografie und medizinischer Fortschritt große Herausforderungen sind, uns aber auch vor massive Probleme stellen. Das ist eingängig und klingt beim ersten Hinhören logisch; ich sage aber: Man kann damit ganz schön darüber blenden, wie differenziert die Prozesse dahinter sind. Tatsächlich werden die Menschen älter, und der Anteil der Älteren in der Gesellschaft wird sich erhöhen. Wissenschaftliche Studien zeigen aber: Weder muss die Wirtschaftskraft aufgrund der alternden Gesellschaft sinken, noch müssen die Gesundheitskosten deshalb in die Höhe schießen. Unseres Erachtens pflegen Sie diesen Mythos, um Ihre unsoziale Politik begründen zu können. ({0}) Seit Jahrzehnten betragen die Gesundheitskosten ziemlich konstant 10 bis 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist der wahre Maßstab. Wir stellen immer wieder fest, dass sich die sogenannten Prognosen nicht bewahrheiten. Ich möchte einen Artikel aus dem Spiegel von 1975 zitieren. In diesem Artikel ging es um die Frage, was, wenn es so weiterginge wie damals, im Jahr 2000 sein würde. Dort steht, dass die Westdeutschen dann das ganze Jahr hindurch nur für den Gesundheitsdienst arbeiten müssten. Diese Situation ist nicht eingetreten. Das sind Horrorszenarien. Wir lehnen es ab, solche Horrorszenarien zu verbreiten, und wir werden nicht müde, dieses unwissenschaftliche Herangehen abzulehnen. ({1}) Die Bundesregierung scheint nicht wirklich zu glauben, dass die alternde Gesellschaft ein Problem darstellt. Vergeblich habe ich ein Aktionsfeld gesucht, in dem man sich explizit mit den Folgen des demografischen Wandels für die Gesundheitsforschung auseinandersetzt. Das Wort „Alter“ taucht in Ihrem Programm 7-mal auf, das Wort „Wirtschaft“ hingegen 62-mal; das wurde vonseiten der SPD auch schon angesprochen. Wohlgemerkt: Wir reden hier über das Rahmenprogramm für die Gesundheitsforschung für die kommenden acht Jahre. Daher ist ein langfristiges Denken wichtig. Folgerichtig schreiben Sie im Abspann auch, dass es jetzt darauf ankommt, „diesen Rahmen auszufüllen und weiter zu konkretisieren.“ Dort steht, dass „heute noch nicht absehbare Herausforderungen“ einzubeziehen sind. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich hätte mich gefreut, wenn Sie heute Bekanntes und bereits Erforschtes stärker einbezogen hätten. So hingegen beruht Ihr Ansatz für die Prävention auf altbackenen Konzepten. Verhaltensprävention ist überholt. Wenn Minister Rösler das nicht mitbekommen hat, obwohl dies schon seit vielen Jahren bekannt ist - als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, war er noch in der Grundschule -, ist das die eine Sache. Aber Sie, Frau Ministerin Schavan, hätten das doch mitbekommen müssen. ({2}) Längst wird der Paradigmenwechsel in Richtung Verhältnisprävention eingefordert. Frau Ministerin, Sie geben den Ton an. Ich denke, im Bereich der Forschung können Sie die Stoßrichtung bestimmen. Das haben wir vermisst. In Ihrem Programm ist kein einziges Wort über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit zu finden. Wir wissen, dass maßgeblich soziale Faktoren wie Bildung, Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Einkommen und sozialer Status den Gesundheitszustand, ja, sogar die Lebenserwartung beeinflussen. Als Herausforderungen im Bereich Vorsorge nennen Sie aber nur die Präventions- und die Ernährungsforschung. Das ist zwar ein anderer Ansatz als bisher, greift unseres Erachtens aber viel zu kurz. ({3}) Wir müssen erforschen, was uns gesund erhält, über welche Ressourcen wir verfügen müssen, um gesund zu bleiben. In diesem Zusammenhang spielen die sozialen Faktoren die Hauptrolle. Der Ansatz der Stärkung der Ressourcen ist im Kinder- und Jugendalter und im Erwerbsalter wichtig, er ist für Menschen mit Behinderung und für Menschen im Ruhestand wichtig, also für alle. Es gibt viele wissenschaftliche Erkenntnisse. In manchen Bereichen ist es erforderlich, endlich einmal Studien in Auftrag zu geben, zum Beispiel bei der schon erwähnten Komplementärmedizin, die Potenziale hat. Diese sind aber nicht für alle nachvollziehbar ausgewiesen. Vor allen Dingen brauchen wir Umsetzungsstrategien. Das sind die Aufgaben von heute, die erledigt werden müssen, damit sich das Wohlbefinden in der alternden Gesellschaft tatsächlich und maßgeblich verbessert. Nebenbei bemerkt, würden wir uns dadurch auch an die Definition des Begriffs „Gesundheit“ der Weltgesundheitsorganisation halten, nach der Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen ist, sondern der Zustand eines vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Es geht also nicht nur darum, das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung umzusetzen und zu konkretisieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es gibt Änderungs- und Ergänzungsbedarf. Ich denke, diese Aufgabe müsste bald in Angriff genommen werden. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Eberhard Gienger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon sehr viel über Gesundheit und das Gesundheitsforschungsprogramm gehört. Ich möchte mich bezüglich des Programms besonders auf das Aktionsfeld von Präventions- und Ernährungsforschung konzentrieren, weil mir dieses Thema als Forschungsund als Sportpolitiker natürlich am Herzen liegt. Eine wichtige Aufgabe der medizinischen Forschung sehen wir im Bereich der großen Volkskrankheiten; das ist heute schon mehrfach erwähnt worden. Schon heute leiden Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Krebs, an neurodegenerativen Erkrankungen, an Arteriosklerose oder auch an Störungen des Stoffwechsels. In den nächsten Jahrzehnten wird die Häufigkeit dieser Erkrankungen aufgrund der steigenden Lebenserwartung noch zunehmen. Die steigende Anzahl älterer Menschen hat auch eine Zunahme von Demenzerkrankungen und demzufolge Pflegebedürftigkeit zur Folge. Neben der Suche nach Therapie und Heilung gewinnen somit die Pflege und die Versorgungsforschung rasant an Bedeutung. Da viele Volkskrankheiten durch einen angepassten Lebensstil gelindert oder vielleicht sogar verhindert werden können, werden Prävention und richtige Ernährung zu wichtigen Instrumenten unseres Gesundheitssystems. Alle Teile des Körpers, die eine Funktion haben, werden gesund, wohlentwickelt und altern langsamer, sofern sie mit Maß gebraucht und in Arbeiten geübt werden, an die man gewohnt ist. Wenn sie aber nicht benutzt werden und träge sind, neigen sie zur Krankheit, wachsen fehlerhaft und altern schnell. So hat das Hippokrates vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren ausgedrückt. Was vor zweieinhalbtausend Jahren bereits bekannt war, hat in den industrialisierten Gesellschaften längst zu einem Wandel geführt, und zwar zu einem Wandel unseres Krankheitspanoramas. Die neuen Leiden in unserer modernen Gesellschaft heißen also Zivilisations- oder Volkskrankheiten. Sie betreffen offensichtlich trotz guter medizinischer Versorgung einen zunehmend größeren Teil unserer Bevölkerung. Studien des Robert Koch-Institutes haben ergeben, dass ungefähr ein Viertel der deutschen Bevölkerung an Herz-Kreislauf-Problemen und ungefähr genauso viele an Rückenschmerzen leiden. Der technologisch-gesellschaftliche Wandel führt also zu einem Bewegungsmangel und einem einseitigen Bewegungsverhalten. Diese Faktoren begünstigen natürlich die Entwicklung der bereits erwähnten Krankheiten. Viele Kinder leiden ebenfalls an solchen Erkrankungen. Die Tendenz ist steigend. Ein gesundheitsgerechtes Bewegungsverhalten wirkt also der Entwicklung dieser Krankheitsbilder entgegen und stellt einen Schutzfaktor für die Gesundheit dar. Daher kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu. Zum einen soll sie die Lebensqualität der Menschen in allen Lebensbereichen verbessern, zum anderen führt sie zu einem erhofften Nebeneffekt, nämlich der Senkung der Ausgaben für die Behandlung von chronischen Krankheiten. Dies darf erwähnt werden, ohne den Vorwurf hören zu müssen, dass es in unserem Programm nur um einen ökonomischen Nutzen gehe. Von besonderer Bedeutung ist, dass ein sehr großer Teil der Erkrankungen kaum schicksalhaft ist, sondern weitestgehend verhaltensbedingt. Beispielsweise sind extremes Übergewicht und die daraus resultierenden Folgeerkrankungen nicht allein durch Lebensumstände bedingt und nur in seltenen Fällen durch organische Defekte hervorgerufen, sondern sie sind auch das Ergebnis fehlender körperlicher Aktivität. Das heißt, dass das Auftreten und der Verlauf chronischer Krankheiten in hohem Maße durch persönliches Verhalten sowie durch Fehlanreize und gesundheitliche Belastungen aus dem sozialen und physischen Umfeld verursacht werden. Überzeugende Beweise stützen die Hypothese, dass Inaktivität das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einer Anzahl von chronischen Krankheiten erhöht. Die stichhaltigsten Beweise für diese Kausalzusammenhänge existieren für Koronararterienerkrankungen, Hypertonie, Dickdarmkrebs, Fettleibigkeit und nicht zuletzt auch Diabetes mellitus. Ein körperlich aktiver Lebensstil verringert allerdings die Wahrscheinlichkeit der Mortalität und erhöht die Lebenserwartung. Da durch ein Mehr an Bewegung nicht alle Krankheiten verhindert werden können, ist die Einrichtung der Gesundheitsforschungszentren der richtige Weg. Damit wird im Kampf gegen die Volkskrankheiten ein neuer Weg beschritten. Ich finde, unsere Ministerin hat dies in überzeugender Weise dargestellt. ({0}) Es werden auch neue Ansätze und Wege zur Prävention gesucht, die dazu beitragen, dass diese Krankheiten erst gar nicht entstehen können. Unter dem Dach der nationalen Präventionsstrategie entwickelt das BMBF einen Aktionsplan, der die Forschungsförderung zu allen für Präventions- und Ernährungsfragen relevanten Ansätzen - von der Epigenetik bis hin zur Epidemiologie - zusammenführt und interdisziplinär verknüpft. Wenn wir uns im Jahr 2018 mit der nächsten Auflage des Rahmenprogramms Gesundheitsforschung befassen werden, dann wird schon zu erkennen sein, dass wir viele unserer ambitionierten Ziele erreicht haben. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, lieber René Röspel und Kollegen, dass gerade das Thema „Präventions- und Ernährungsforschung“ ein guter erster Schritt auf einem gemeinsamen Weg ist. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass die SPD und die anderen Oppositionsparteien zur Ausgestaltung dieses Rahmenprogramms beitragen können. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgitt Bender für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Gienger, alles, was Sie zum Zusammenhang zwischen Bewegung, Ernährung und Volkskrankheiten sagen, ist richtig. Was ich bei der Union aber immer wieder vermisse, ist die Erkenntnis, dass es beim Thema Prävention auch und gerade um soziale Fragen geht. ({0}) Es nützt doch nichts, wenn Sie joggen oder ich mit einem Streetstepper in den Bundestag fahre. Es geht darum, dass man sich in die Stadtteile begibt, in denen viele Kinder morgens kein Frühstück bekommen und nicht zu Fuß zur Kita gebracht werden. ({1}) Damit muss man sich befassen. Wenn man sich mit dem Thema Forschung beschäftigt, sollte es auch um die Frage gehen, wie man diese Leute erreicht. Natürlich müssen wir dies auch in der Gesundheitspolitik umsetzen. Auch der Gesundheitsminister redet ja von Eigenverantwortung, meint damit aber nur, dass die Leute mehr zahlen sollen. Er spricht aber nicht von Empowerment und der Befassung mit den unteren sozialen Schichten. ({2}) Das ist bei Ihnen leider immer noch nicht eingepreist. Vielleicht ist dies eine Gelegenheit, das zu ändern. ({3}) Frau Ministerin Schavan, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie sich beim Rahmenprogramm Gesundheitsforschung Gemeinsamkeit wünschen. Ich will ausdrücklich begrüßen, dass - nach jahrelangem Drängen der Grünen - nun endlich ein Aktionsfeld Versorgungsforschung integriert ist. Was Sie dazu an Prosa schreiben, findet teilweise auch unsere Zustimmung, so etwa die Aussage, dass in Bezug auf Psychotherapie, Ergo- und Logopädie geforscht werden muss. Das ist richtig. Aber insgesamt sehe ich in diesem Programm sehr viel Produktorientierung. Da geht es um Arzneimittel, Diagnostik und Medizinprodukte. Was praktisch völlig fehlt, ist der Blick auf Verfahren des Gesamten. Das Wort „Gesundheitssystemforschung“ kommt nicht einmal vor. Ich sehe überhaupt nicht, dass es hier entsprechende Ansätze gibt. Aber wir brauchen einen Blick auf das Gesamte, darauf, was den Menschen nützt und sie am Ende gesünder macht. Darauf werden wir achten. ({4}) Stattdessen sehen wir im Haushalt 2011, dass das BMBF mit gut 5 Millionen Euro ein Projekt zur Magnetresonanztomografie fördert. Brauchen wir aus gesundheitspolitischer Sicht ein solches Projekt? Deutschland ist Weltmeister bei der MRT-Diagnostik. Im Jahre 2009 wurde sie bei fast 6 Millionen Personen angewendet. Anders gesagt: Jeder 15. Bürger wurde innerhalb eines Jahres in die Röhre geschoben. Kassen und Wissenschaft stellen die therapeutische Notwendigkeit in vielen Fällen infrage. Was wir im Bereich der Versorgungsforschung brauchen, ist die Beantwortung der Frage, wann eine MRT-Untersuchung sinnvoll ist und wann nicht. Daran, dass dies bei Ihnen geschieht, habe ich Zweifel. ({5}) Nach dem, was Sie, Frau Flach, vorhin gesagt haben, müssten Sie daran eigentlich interessiert sein. Denn immerhin - das begrüße ich sehr - haben Sie betont, dass nicht alles, was neu ist, den Menschen nützt und dass wir mehr Verfahren brauchen, mit denen der Nutzen überprüft werden kann. Was ich in diesem Rahmenplan auch vermisse, ist die Komplementärmedizin, also die alternativen Heilweisen, die die klassischen Verfahren ergänzen können. Dazu braucht es Forschung, aber wir sehen davon so gut wie nichts. ({6}) Es hat ein Vierteljahr gedauert, bevor mir das BMBF überhaupt mitteilen konnte, wie viele Fördermittel denn dafür in den letzten fünf Jahren geflossen sind. Es waren zusammengerechnet gerade einmal 1,2 Millionen Euro. Im Gegensatz dazu fördert in den USA das National Institute of Health die komplementärmedizinische Forschung jährlich mit mindestens 120 Millionen Dollar. Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und Geld zur Erforschung der Komplementärmedizin in die Hand nehmen. Frau Ministerin, es geht übrigens nicht nur, wie Sie im Ausschuss angedeutet haben, um die chinesische Medizin. Die ist auch ein Ansatz. Aber wir sollten auch etwa die Homöopathie und die Anthroposophie in den Blick nehmen, die Heilweisen mit deutschen Wurzeln. Auch diese haben hier einen ganz hohen Stellenwert. ({7}) Stattdessen ist leider viel von Genetik die Rede. Immerhin habe ich da die kritischen Anmerkungen von Frau Flach gehört. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass sehr nebulös bleibt, was Sie da eigentlich erforschen wollen. Ich erinnere daran, dass jüngst noch Geld in ein Projekt geflossen ist - inzwischen ist es eingestellt -, in dem es um die Forschung an geistig behinderten Kindern, um fremdnützige Forschung ging. Das ist etwas, was als medizinische Untersuchung gar nicht zulässig wäre. Als Forschung haben Sie es aber zunächst unterstützt. Da kann ich nur sagen: Hier ist überfällig, dass der Schutz von Probanden, Datenschutz und Transparenz in der Forschung gewährleistet werden. Frau Ministerin, da haben Sie noch Hausaufgaben zu machen. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Menschen wünschen sich ein langes und vor allem gesundes Leben. Auch wenn wir uns zu vielen Anlässen wie zum Geburtstag oder zum neuen Jahr gegenseitig Gesundheit wünschen, spielt gesundheitsbewusstes Leben und Verhalten im Alltag oftmals keine ausreichende Rolle. Spätestens jedoch, wenn man im Bekannten- oder Familienkreis mit schwerer Krankheit konfrontiert wird, erkennt man auf ganz persönliche Weise, welchen enorm hohen Stellenwert ein unbeschwertes und gesundes Leben einnimmt. Aus diesem Grund stellt die Gesundheitsforschung einen der wichtigsten Bereiche für uns alle dar. Das Ziel des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregierung ist es, dass alle Menschen schnell von den Forschungsergebnissen profitieren können. In der Gesundheitsforschung werden neue oder bessere Diagnoseverfahren und Therapien entwickelt, um kranken Menschen effektiver zu helfen. Für uns als christlich-liberale Koalition steht dabei der erkrankte Mensch mit seinen Nöten im Mittelpunkt, dem wir Hand in Hand mit der Wissenschaft helfen wollen. Was uns die Patienten und deren Gesundheit wert sind, das zeigen auch die enormen finanziellen Mittel, die hierfür aufgewendet werden: Fast 6 Milliarden Euro werden insgesamt zur Verfügung gestellt. Es handelt sich damit um das größte Förderungsprogramm für Gesundheitsforschung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Die Schwerpunkte beim Gesundheitsförderungsprogramm setzen wir bei der Erforschung von Volkskrankheiten sowie der Gesundheitswirtschaft. Doch auch die individualisierte Medizin und die globale Zusammenarbeit sind wichtige Themen des Programms. Wir wollen die Fähigkeiten der Wissenschaft bündeln und Translation beschleunigen. Dazu werden sechs deutsche Gesundheitszentren geschaffen. Letztes Jahr wurde beispielsweise mit dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung in München-Oberschleißheim bereits das zweite eröffnet.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Hahn, darf Ihnen der Kollege Röspel eine Zwischenfrage stellen?

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Das kann er danach machen. - Allein in Deutschland sind rund 8 Millionen Menschen von der Zuckerkrankheit betroffen, fast genauso viele Personen haben einen bislang unerkannten Diabetes oder ein hohes Erkrankungsrisiko. Es ist daher wichtig und notwendig, dass wir mit dem Zentrum neue Perspektiven für Prävention, Therapie und Diagnose des Diabetes schaffen. Durch die Kooperation mit Pharmaunternehmen können so Forschungsergebnisse schneller in die Praxis übertragen werden. Wir bringen die Forschung quasi „ans Bett der Patienten“. Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einer globalisierten Welt dürfen nicht nur Wirtschaftsaktivitäten global betrachtet werden, sondern ganz besonders auch die Gesundheitsforschung. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, auf die vernachlässigten Krankheiten hinzuweisen, mit denen wir uns in dem Programm ebenfalls beschäftigen. Sie erzeugen in den Entwicklungsländern großes Leid und sind für den Tod vieler Menschen verantwortlich. Leider war die staatliche Forschungsförderung lange Zeit auf Krankheiten beschränkt, die hauptsächlich unsere Bürger im eigenen Land betreffen. Vor diesem Hintergrund stellen wir uns mit dem Gesundheitsforschungsprogramm neu auf. Wir machen nicht an den nationalen Grenzen halt, sondern helfen auch den Menschen in anderen Teilen der Welt. Dazu sind wir allein schon durch unser christliches Menschenbild verpflichtet. Noch in diesem Jahr wird die Fördermaßnahme für Produktionspartnerschaften anlaufen. Dabei handelt es sich um internationale Non-Profit-Organisationen, deren Aufgabe es ist, Medikamente gegen vernachlässigte Krankheiten zu günstigen Preisen auf den Markt zu bringen. Ich möchte Ihnen nun ein aktuelles Beispiel dafür nennen, wie die Förderung direkt dort ankommt, wo sie benötigt wird. Eines von 100 Kindern leidet an einem angeborenen Herzfehler. Viele von ihnen müssen rasch operiert werden. Der sogenannte RepliCardio ist ein neues Instrument zur Herstellung eines Herzmodells und hilft den Ärzten bei der Entscheidung, ob und wie operiert werden kann. Dieses Verfahren wurde vom Kompetenznetz Angeborene Herzfehler in Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum entwickelt und vom BMBF gefördert. Das individuelle Herzmodell kann insbesondere dazu beigetragen, die Dauer der Operationen drastisch zu verkürzen. Oft entscheiden Minuten darüber, ob der Eingriff erfolgreich abgeschlossen werden kann oder ob es zu irreparablen Spätfolgen kommt. Wie wichtig und weitsichtig die Überlegungen innerhalb des Forschungsförderungsprogramms sind, kann man darüber hinaus an der Alzheimerforschung erkennen. Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit von der unheilbaren Krankheit betroffen. Statistiken gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 rund 3 Millionen Menschen sein werden. Mit dem Alois Alzheimer Research Center, in dem die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Technische Universität München, das Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und das Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung integriert sind, ist ein weiterer Leuchtturm in der Forschungslandschaft geschaffen worden. Insgesamt stellt das neue Förderungsprogramm einen Meilenstein in der Gesundheitsforschung dar. Wir sorgen mit dem enormen Mitteleinsatz von fast 6 Milliarden Euro dafür, dass Innovationen schneller bei den Patienten im Alltag ankommen. Wir lassen der Forschung aber auch genug Spielraum, um innovativ arbeiten zu können; denn das größte Innovationshemmnis - das wissen wir - ist unter anderem die Bürokratie. Die Änderungswünsche und der Antrag der SPD sind gerade auch deshalb abzulehnen. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Gerdes für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege René Röspel und meine Kollegin Carola Reimann haben die Sicht der SPD-Fraktion auf das Rahmenprogramm der Bundesregierung bereits deutlich gemacht. Wir sehen große Lücken im Gesundheitsforschungsprogramm, besonders mit Blick auf sozialpolitische Fragen. Vor allem fehlt uns Sozialdemokraten der Blickwinkel der Patientinnen und Patienten. Mir persönlich fehlt auch der Blickwinkel der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Im Rahmenprogramm finde ich keinen Hinweis darauf. ({0}) Frau Ministerin Schavan, Sie räumen der Gesundheitswirtschaft eine äußerst prominente Stellung ein und begründen dies mit dem Wachstumspotenzial der Branche. Mit moderner Medizintechnik und innovativen Medikamenten kann man offensichtlich viel Geld verdienen. Dagegen habe ich im Grundsatz nichts einzuwenden. Ich habe aber ein Problem damit, wenn die wirtschaftlichen Interessen von Forschung fast wichtiger erscheinen als der medizinische Fortschritt und die Gesundheit der Menschen in diesem Land. ({1}) Ganz deutlich wird diese Auffassung der schwarzgelben Regierung auf Seite 4 der Unterrichtung. Dort steht schwarz auf weiß: Des Weiteren soll die Gesundheitsforschung auf eine wirtschaftliche Verwertbarkeit ihrer Erkenntnisse hinarbeiten … schon in der Grundlagenforschung und der präklinischen Forschung. Aus meiner Sicht darf nicht nur erforscht werden, wie wir neue Technologien schneller oder besser implementieren und vermarkten können; vielmehr muss es darum gehen, welche gesundheitlichen Vorteile die Menschen daraus ziehen können. ({2}) Der Mensch und seine Gesundheit gehören an die erste Stelle, nicht der mögliche Profit. Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich freue mich über jede Branche, die wirtschaftlich erfolgreich ist. Aber wir sollten auch darüber diskutieren, für wen Arbeitsplätze in der Gesundheitswirtschaft entstehen, welche Anforderungen die Beschäftigten erfüllen müssen, wie sich Berufsbilder verändern und unter welchen Bedingungen heute und in Zukunft gearbeitet werden muss. Gibt es Ideen, wie die Arbeitsbelastung von Ärzten und Pflegepersonal gesenkt werden kann? Was muss eine Pflegerin künftig können? Wie schafft sie es, in einer alternden Gesellschaft immer mehr Patienten zu versorgen? Wie kann sie Familie und Beruf vereinbaren? Insbesondere im Bereich der Pflege- und Dienstleistungsforschung sehe ich Lücken in dem Programm von Ministerin Schavan. ({3}) Die Pflegebranche braucht wissenschaftlich fundierte Antworten auf den steigenden Pflegebedarf. Ich habe kürzlich Praxistage in der Seniorenpflege und im Krankenhaus durchgeführt. ({4}) - Wir alle, jawohl. - Dabei ist wahrscheinlich uns allen aufgefallen, dass die Ärzte und Pfleger eine sehr gute Arbeit leisten. Aber sie alle bewegen sich am Rande der Leistungsgrenze. Hohe Fallzahlen und viel Dokumentierung rauben ihnen in vielen Fällen die Zeit für die Patienten. Diese Probleme müssen erforscht werden. Kurzum: Ihrem Programm fehlt das Aktionsfeld, das sich den Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer widmet. Gesundheitsforschung muss sich auch ganz konkret mit den Bedürfnissen der Patienten auseinandersetzen. Haben wir überhaupt genügend Erkenntnisse darüber, was sich Patienten wünschen bzw. welche Anforderungen sie an das Gesundheitssystem stellen? Finden sich Patienten in einem System zurecht, das immer komplexer wird und ständig neue Behandlungsmethoden hervorbringt? Wer heute gesund werden will, braucht im Zweifel einen Case-Manager, der durch das System führt, um medizinische und soziale Dienstleistungen optimal zu koordinieren. Von Patientenautonomie ist da nicht mehr viel zu spüren. ({5}) Auf diese Systemfragen müssen wir Antworten finden. An dieser Stelle sind mir die Ausführungen der Bundesregierung zu abstrakt. Das Aktionsfeld der Versorgungsforschung muss dringend erweitert werden. Denn ohne Verbesserungen im System nützt uns die erfolgreichste Forschung nichts. Neue und verbesserte Geräte machen keinen Sinn, wenn der Patient nicht weiß, ob er die richtige Therapie bekommt oder wie er den richtigen Weg durch das Gesundheitslabyrinth findet. Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, steht das diesjährige Wissenschaftsjahr unter dem Motto „Forschung für unsere Gesundheit“. Das BMBF ruft die Bürgerinnen und Bürger zum Dialog auf und fragt nach den Erwartungen an die Gesundheitsforschung. Diese Herangehensweise wünsche ich mir auch für das vorliegende Rahmenprogramm: Erforschen Sie nicht in erster Linie die Wirtschaftlichkeit der Medizin, ({6}) sondern orientieren Sie sich an den Bedürfnissen der Menschen! ({7}) Lassen Sie sich nicht davon leiten, was der Gesundheitsindustrie hilft, sondern orientieren Sie sich daran, was für die Beschäftigten gut ist und was die Patienten gesund macht. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Opposition ist ein schwieriges Tun. Ich glaube, es ist doppelt schwierig, wenn man an einem Teil der Vorbereitungen für das Gesundheitsforschungsprogramm teilgenommen hat, damals soRudolf Henke gar in einer gemeinsamen Koalition mit der CDU/CSUFraktion in der ersten Regierung Merkel, ({0}) und jetzt erlebt, dass in der zweiten Regierung Merkel ein großer Teil eigener Forderungen umgesetzt wird. Deswegen findet sich auch in dem von Ihnen vorgelegten Antrag an sehr vielen Stellen ein Lob. Sie machen sogar Vorschläge, was alles der Deutsche Bundestag an dem Programm begrüßen soll. In mehreren Spiegelstrichen wird das ausgeführt. Trotzdem müssen Sie hier irgendwie Nöligkeit verbreiten, ({1}) - doch -, damit der Eindruck entsteht, als wäre alles kritisch zu bewerten. ({2}) Sie setzen darauf, dass die Menschen das Programm nicht gelesen haben, und tragen dann in Ihrem Antrag Dinge vor, die im Programm bereits enthalten sind, und tun so, als wären Sie die einzigen Erfinder dieser Punkte. Ein plastisches Beispiel dafür ist das, was gerade geschehen ist. Sie haben behauptet, im Programm befinde sich kein Hinweis auf die Verbesserung der Situation der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Liebe Kollegen, Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass auf der Grundlage des Haushalts der Bundesregierung ({3}) - ich wollte darauf eigentlich nicht an dieser Stelle, sondern zu einem späteren Zeitpunkt eingehen - das Wissenschaftsfeld Versorgungsforschung allein im Jahr 2010 mit einer Ausschreibung in Höhe von 54 Millionen Euro für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen für das Gesundheitssystem bedacht worden ist. Ich bin bereit, darüber zu diskutieren, ob das reicht und ob zum Beispiel die DFG das im Rahmen ihrer Förderung hinreichend ergänzt. Wenn sie das nicht täte, müsste man noch einmal über die Summe diskutieren. Aber Sie tun so, als geschähe hier nichts, und wollen die Leute für dumm verkaufen. Das ist nicht in Ordnung. ({4}) Sie sagen außerdem, das alles sei wirtschaftskonzentriert. Das ist es nicht. Frau Bunges Zählerei mit dem Wortzählautomaten nutzt dabei nichts. ({5}) Was ist denn das für ein Niveau? Das ist ja kleinstes Pepita: Worte zählen durch ihre Bedeutung, nicht durch ihre Zahl. ({6}) Ich zitiere Seite 4 der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Primäres Ziel der Gesundheitsforschung ist es, Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung der Patientinnen und Patienten weiter zu steigern. Das ist das primäre Ziel, um das es geht. Die Frage, ob die Wirtschaft dabei mitwirkt, ist eine Frage des Instrumentes. Wir wären doch töricht und dumm, wenn wir nicht bereit wären, die Produktivkraft der Wirtschaft zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu nutzen. ({7}) Deswegen sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie die Tassen im Schrank! Ich zitiere aus dem gemeinsamen Vorwort von Frau Schavan und Herrn Rösler zum Rahmenprogramm Gesundheitsforschung: Aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entstehen die Ansätze, die bei entsprechender Weiterentwicklung und erfolgreicher Übertragung in die medizinische Praxis den Menschen in unserem Land ein beschwerdefreies, selbstbestimmtes und langes Leben ermöglichen. Das ist die Zielsetzung. Sie versuchen jetzt, es umzumünzen und einen Teil des Publikums mit den bei der SPD und den Linken üblichen und weitverbreiteten Ressentiments über die schwarz-gelbe Koalition zu bedienen. Das ist der Ansatz, den Sie praktizieren. Das ist nicht in Ordnung. Dagegen wehren wir uns. ({8}) In einer Zeit, in der um die finanzielle Stabilität gerungen werden muss, ist es ein deutliches Zeichen des Bundes, für die Gesundheitsforschung in den Jahren 2011 bis 2014 mehr als 5,5 Milliarden Euro allein aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vorzusehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Henke, Sie lassen doch jetzt sicherlich gerne den Kollegen Röspel, der vorhin mit seiner Wortmeldung nicht zum Zuge gekommen ist, zu Wort kommen.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Henke, dass das möglich ist. - Die Zahl 5,5 Milliarden Euro auf fünf Jahre wird ständig hervorgehoben. Sie schreiben im Gesundheitsforschungsprogramm, dass sich diese 5,5 Milliarden Euro auf fünf Jahre aus den Geldern für die institutionelle Förderung, Projektförderung und dem Bundesanteil an der DFGFörderung, jeweils bezogen auf die Gesundheitsforschung, zusammensetzen. Es handelt sich also um nichts anderes als die Aufzählung dessen, was in den letzten Jahren bereits gemacht bzw. etatisiert worden ist. Deshalb lautet meine konkrete Frage: Sie suggerieren 5,5 Milliarden Euro. Wie viele Mittel werden wirklich zusätzlich bzw. neu bereitgestellt?

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Röspel, diese Frage werden Sie sich doch schon beantwortet haben, als Sie den Bundestag aufgefordert haben, zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung für eine Stärkung der krankheitsbezogenen Projektforschung bzw. Projektförderung ausspricht. Das haben Sie an die erste Stelle gesetzt. Ob Sie dieses Geld jetzt zusätzlich haben oder ob Sie dieses Geld bloß ausgeben oder in den Haushalt schreiben ({0}) oder ob Sie dieses Geld in dieses Programm stecken: Der entscheidende Punkt ist doch, dass es zur Verfügung steht. ({1}) Der entscheidende Punkt ist, dass es genutzt werden kann. ({2}) Dann - das verstehe ich gar nicht - sagen Sie, Frau Reimann und andere aus Ihrer Gruppe, das sei alles zu abstrakt und zu unbestimmt. - Ja, klar, es kommen jetzt Ausschreibungen. An diesen Ausschreibungen nimmt natürlich die Wissenschaftsgemeinde teil. Da gibt es Projektträger, die diese Ausschreibungen betreiben. Was hätten Sie denn gern? Wenn ich mir Ihren Katalog von Forderungen zur Konkretisierung ansehe, dann habe ich das Gefühl, Sie wollen schon die 200 000 Adressen und Geburtsdaten derer wissen, die dann in der Bevölkerungskohorte erfasst sein sollen. Das möchten Sie wahrscheinlich offenlegen. ({3}) Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie hier davon träumen, einen wissenschaftlichen Fünf- oder Zehnjahresplan vorgelegt zu bekommen. Das ist aber ein falsches planwirtschaftliches Verständnis des Wissenschaftsprozesses auch in der Gesundheitsforschung. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, leider findet man zurzeit in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen, wo eine schwarz-gelbe Koalition ({5}) dadurch für eine große Stimulation der wissenschaftlichen Entwicklung gesorgt hat, dass sie ein Hochschulfreiheitsgesetz verabschiedet hat, eine aus Ihrer Partei stammende Philosophie, die diese neu geschaffene Hochschulautonomie wieder in eine Welt zurückführen will, in der der Staat den Wissenschaftsprozess steuert. Genau diesen Anspruch, nämlich die Steuerung des Wissenschaftsprozesses durch den Staat, atmet Ihr Antrag. ({6}) Da haben wir lieber mehr Vertrauen in die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus der Motivation des Gesundheitsforschungsprogramms die Beiträge leisten werden, die dann Patientinnen und Patienten zum Wohl gereichen. Deswegen bin ich sehr dafür, über manches zu diskutieren. Ich finde es zum Beispiel falsch -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, „zum Beispiel“ nicht mehr. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nicht mehr? - Also: Ich finde es etwa falsch, dass zur Wertung individualisierter Medizin in diesem Programm steht - Zitat -: Erste Schritte auf dem Weg zur individualisierten Medizin sind das Verständnis grundlegender Krankheitsmechanismen und die Identifizierung molekularer Schaltstellen für die Ausprägung einer Erkrankung. Das halte ich für falsch. Nein, erste Annäherung an individualisierte Medizin ist, dass der Arzt dem Patienten begegnet, ihn nach seinen Beschwerden befragt, sich ihm so weit nähert, dass eine körperliche Befunderhebung stattfindet, und er dann ein individuelles diagnostisches und therapeutisches Konzept daraus macht. Das findet seit Hippokrates statt. ({0}) Deswegen ist das, was im Programm steht, nicht die erste Annäherung an individualisierte Medizin. Individualisierte Medizin ist mehr als bloß molekulargenetisch begründete Medizin. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ist mein Satz, mit dem ich dann gern enden möchte: Dieses Gesundheitsforschungsprogramm als Ganzes nimmt den Menschen in den Blick und dient einer individualisierten Medizin in allen Ausprägungen des Menschseins. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4243 und 17/5364 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Humme, Caren Marks, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen gesetzlich durchsetzen - Drucksache 17/5038 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon auf dem ersten Internationalen Frauentag 1911 forderten Frauen gleiche Rechte. Sie kämpften für ihr Wahlrecht, aber auch für bessere Bezahlung und für gute Arbeit. Was hat sich in 100 Jahren getan? Das Wahlrecht für Frauen wurde 1918 durchgesetzt. Die formalrechtliche Gleichstellung mit den Männern wurde 1949 im Grundgesetz verankert. Unser Recht hier in Deutschland sowie das EU-Recht verbieten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auch beim Lohn. So weit zum geltenden Recht. Doch wie sieht die Arbeitswirklichkeit von Frauen in diesem Land aus? Trotz guter Bildungsabschlüsse haben Frauen nach wie vor schlechtere Chancen in der Arbeitswelt, haben seltener Führungspositionen inne, und sie erhalten deutlich weniger Lohn als Männer. Zur Durchsetzung von gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, in unserem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Herstellung von Entgeltgleichheit vorzulegen. ({0}) Denn eines ist klar: Frauen haben mehr verdient als unverbindliche Sonntagsreden der Frauenministerin und der Arbeitsministerin sowie der Kanzlerin. Traurig, aber wahr: Erwerbstätige Frauen erhalten in unserem Land nach wie vor im Schnitt 23 Prozent weniger Lohn als Männer. Damit liegen wir deutlich über dem Durchschnitt in der Europäischen Union mit 18 Prozent Lohndifferenz. Wir haben hier im Deutschen Bundestag mehr als nur ein Mal über die wirklichen Ursachen der Entgeltungleichheit zwischen Männern und Frauen diskutiert. So haben Frauen vor allem aufgrund fehlender Kinderbetreuungsangebote längere Erwerbsunterbrechungen, und sie sind auch deswegen vermehrt in Teilzeitarbeit beschäftigt. Mit knapp 70 Prozent stellen Frauen die große Mehrheit der Beschäftigten im Niedriglohnsektor dar. Der von uns seit langem zu Recht geforderte gesetzliche Mindestlohn würde also einen wichtigen Beitrag zu mehr Lohngerechtigkeit für Frauen in unserem Land leisten. ({1}) Doch selbst wenn alles gleich ist - Qualifikation, Tätigkeit, Alter, Betrieb -, liegt der Durchschnittslohn von Frauen bei etwa 8 bis 12 Prozent unter dem der Männer. Dies ist nichts anderes als Diskriminierung von Frauen in unserem Land. ({2}) Wenn sowohl von der Frauenministerin als auch von der Kanzlerin so kluge Sprüche wie „Frauen müssten beim Gehalt einfach nur besser verhandeln“ zu hören sind, so ist das erstens zynisch und zweitens lebensfremd. Wie gut, dass weder Frau Schröder noch Frau Merkel ihr Gehalt bisher wirklich verhandeln mussten. ({3}) Statt die Verantwortung bei den Frauen einseitig abzuladen, sollte diese Bundesregierung ihr Nichthandeln als Gesetzgeber infrage stellen. Es helfen keine Appelle an die Freiwilligkeit von Unternehmen; der Gesetzgeber ist bei der Beseitigung der Entgeltungleichheit klar gefordert. Vielleicht sollte die Bundesregierung wieder einmal einen Blick in unser gutes Grundgesetz werfen. So heißt es in Art. 3 Abs. 2: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Da müsste doch auch bei dieser schwarz-gelben Bundesregierung etwas klingeln. Wenn es erwartungsgemäß bei der Frauenministerin nicht klingelt, so vielleicht beim Finanzminister; denn laut EU-Kommissarin Reding würde die Beseitigung der Lohnunterschiede das Bruttoinlandsprodukt um rund 30 Prozent steigern. Das klingt doch auch für einen Finanzminister durchaus interessant. Die Lohndiskriminierung von Frauen werden wir nur mit einem Gesetz beseitigen können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Verantwortlichen aus eigenem Antrieb nicht tätig werden. Also müssen die Arbeitgeber durch ein Gesetz verbindlich dazu aufgefordert und gegebenenfalls auch gezwungen werden, Entgeltgleichheit herzustellen. Ein solches Gesetz muss folgende Kernelemente enthalten: Es muss zuerst einmal Transparenz über die Entlohnung in den Betrieben hergestellt werden. Die Geheimniskrämerei hinsichtlich der Bezahlung in den Betrieben ist zu beenden; denn sie begünstigt vor allem Lohndiskriminierung mit den entsprechenden Auswirkungen. ({4}) Also müssen die Arbeitgeber verpflichtet werden, Entgeltberichte zu erstellen. Diese sind von einer staatlichen Behörde entsprechend zu prüfen. Datenschutz ist natürlich zu gewährleisten. Wird Entgeltungleichheit festgestellt, muss das Gesetz einen Prozess zur Beseitigung der Lohndifferenz einleiten und natürlich auch festlegen. Auch muss es wirksame Instrumente der Kontrolle und Durchsetzbarkeit enthalten. Mit dem Gesetz wollen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Unternehmen zum Tätigwerden verpflichten. Dabei wollen wir auch die Rolle der Gewerkschaften und Betriebsräte stärken. Weigert sich der Arbeitgeber, für Transparenz und Entgeltgleichheit zu sorgen, so ist auch der Klageweg, der im Gesetz zu regeln ist, ein notwendiger Schritt. Die Verbandsklage wird hier unumgänglich sein. Da zu erwarten ist, dass diese Bundesregierung - auch gerade leider diese Frauenministerin; schade, dass sie nach wie vor dieser Debatte nicht beiwohnt - gesetzgeberisch wohl nicht handeln wird, kündige ich Ihnen an: Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden ein Entgeltgleichheitsgesetz vorlegen. Denn wo sich Schwarz-Gelb vor der Wirtschaft wegduckt, werden wir handeln und die Lohndiskriminierung von Frauen endlich wirksam gesetzlich bekämpfen. ({5}) Worthülsen und leere Versprechungen à la Merkel, Schröder und von der Leyen haben Gleichstellungspolitik in diesem Land noch nie vorangebracht. Frauen haben endlich mehr verdient. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Nadine Schön hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. März war der diesjährige Equal Pay Day. Der Durchschnittsmann hätte am 25. März anfangen können, zu arbeiten, und hätte am Ende des Jahres das gleiche Geld auf dem Konto wie die Durchschnittsfrau, die seit Beginn des Jahres gearbeitet hat. ({0}) Das kann ja wohl nicht wahr sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Einen kleinen Moment, Frau Kollegin, wir müssen erst einmal sehen, dass der Ton verstärkt wird, damit Sie nicht schreien müssen. Die Techniker werden sich darum kümmern. Auch das ist eine Frage der Gleichberechtigung. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hoffe aber nicht, dass wir auch die Empfindlichkeit beim Mikro gesetzlich regeln müssen. Das klappt wohl auch so. - In Deutschland beträgt die Entgeltungleichheit 23 Prozent. Das ist eine Zahl, die wir nicht hinnehmen dürfen. Es lohnt sich, sich die Ursachen der Entgeltungleichheit anzuschauen; denn das Thema ist sehr komplex. Die erste Ursache ist der Grad der Qualifikation von Frauen. Glücklicherweise sind die jungen Frauen heute in der Regel genauso gut qualifiziert wie die Männer; aber noch gibt es Unterschiede. Und niedrigere Qualifikation führt selbstverständlich zu niedrigeren Löhnen. Problematisch ist auch die Art der Qualifikation, die Berufswahl. Mädchen entscheiden sich häufig für schlecht bezahlte Dienstleistungsberufe. Zu selten wählen sie technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildungsgänge und Studienfächer. Aber genau die lassen relativ hohe Löhne erwarten. Die Konsequenz: Wir haben zwar viele sehr gut ausgebildete Frauen mit im Schnitt besseren Abschlüssen als die Männer. Im Geldbeutel macht sich das aber leider fast nie bemerkbar. ({0}) Ein weiterer Grund ist die Position im Unternehmen. Wir wissen: Nur selten besetzen Frauen die hohen, gut bezahlten Positionen; nur selten sind Frauen in Führungspositionen. Die Folgen sind: wenig Führungspositionen, geringer Gehaltsdurchschnitt, hohe Entgeltungleichheit. Dieser Zusammenhang ist einfach nachzuvollziehen. Ein weiterer Grund für die Lohnlücke liegt im Lebensverlauf vieler Frauen: Schwangerschaft, Erziehungszeit und Pflegezeiten. Bei Frauen findet man mehr Brüche im beruflichen Lebensverlauf und mehr Erwerbsunterbrechungen. Das verhindert eine Karriere und ein kontinuierliches Aufsteigen in höhere Gehaltsklassen. Besonders verantwortlich für den Einkommensknick ist die hohe Teilzeitquote. Frauen arbeiten überdurchschnittlich oft - etwa zu 35 Prozent - in einem Teilzeitjob, bei den Männern sind es gerade einmal 5 Prozent. Entsprechend geringer ist das Einkommen bei Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Gründe - Art und Grad der Qualifikation, Position, Erwerbsunterbrechungen und vor allem die hohe Teilzeitquote - sind die harten Faktoren, die erwiesenermaßen zum großen Teil zur Entgeltungleichheit beitragen. Ich sage das deshalb so ausführlich, weil die Zahl von 23 Prozent oft so unerklärlich hoch erscheint. Rechnet man diese Faktoren heraus, so gelangt man zu einer Lohnlücke von 6 bis 10 Prozent. Das ist wesentlich weniger als die genannten 23 Prozent, aber natürlich immer noch 6 bis 10 Prozent zu viel. ({1}) Versucht man, diese 6 bis 10 Prozent zu erklären, dann wird es noch schwieriger; denn dann kommt man in den subjektiven Bereich. Zwei Gründe kann man ausNadine Schön ({2}) machen. Erstens müssen wir feststellen: Es ist sicher eine Mentalitätsfrage. Studien haben ergeben - das hat nicht die Ministerin erfunden, liebe Kollegin Marks -, dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen bescheidener sind als ihre männlichen Kollegen. Wir fordern weniger und bekommen deshalb auch weniger. Das ist wohl eine falsche Bescheidenheit. Hier sind wir Frauen selbst gefragt, etwas zu ändern. ({3}) Ich glaube allerdings nicht, dass das der entscheidende Grund für die Lücke von 6 bis 10 Prozent ist. Den zweiten Grund ({4}) halte ich für viel wesentlicher, und das ist schlicht und einfach Diskriminierung, nämlich Diskriminierung, die sich darin äußert, dass Frauen weniger zugetraut wird, dass eine mögliche Schwangerschaft schon beim Berufseinstieg mit eingepreist wird und Frauen deshalb trotz gleicher Qualifikation schlechter bezahlt werden. Das gibt es, und das muss genannt werden, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der eigentliche Skandal. ({5}) Insgesamt kann man festhalten: Die Ursachen der Entgeltungleichheit sind sehr unterschiedlich, aber hinnehmbar ist die Lohnlücke von 23 Prozent deswegen noch nicht. Wir müssen uns fragen: Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Was tun wir? Die SPD hat sich in ihrem Antrag dafür entschieden, die vermeintliche Allzweckwaffe auszupacken, nämlich die staatliche Regulierung. ({6}) Da soll es gesetzliche Fristen, eine neue Entgeltgleichheitskommission und ein Verbandsklagerecht für Antidiskriminierungsverbände geben. In Anbetracht der vielen verschiedenen Ursachen, die wir ausgemacht haben, meine ich, dass Sie bei diesen Forderungen zu staatsgläubig und vor allen Dingen zu undifferenziert sind. Wirksamer erscheinen mir von den Ursachen hergeleitete Gegenmaßnahmen. Wir müssen bei einem so komplexen Thema doch an die Wurzeln, an die Ursachen des Übels, und genau das tun wir, ({7}) zum Beispiel mit Maßnahmen gegen das eingeschränkte Berufswahlverhalten. Von wegen: Die Mädchen interessieren sich nicht für Technik! Schauen Sie sich all die MINT-Initiativen, den Girls’ Day, Roberta an! Es gelingt, mehr Frauen für technisch geprägte Berufe zu interessieren, und der Frauenanteil in diesen Berufen steigt. ({8}) Was ist aber mit denen, die nach wie vor kein Interesse an solchen Berufen haben? Wollen wir hinnehmen, dass alle anderen dann halt schlecht bezahlt werden, weil sie leider Gottes einen frauenspezifischen und damit automatisch schlechter bezahlten Beruf gewählt haben? Nein! Wir müssen uns fragen: Muss die Bezahlung in diesen Berufen zwingend so schlecht sein? Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Lohn bestimmen bei uns in Deutschland die Tarifparteien. ({9}) Deshalb appelliere ich an die Tarifparteien: ({10}) Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Bewerten Sie frauenspezifische Berufe in den Lohnrunden besser! Sorgen Sie dafür, dass es auch in diesen Branchen branchenspezifische Mindestlöhne gibt! Man kann nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen und nach der Politik schreien. Hier haben auch die Tarifparteien Verantwortung, und die müssen sie auch wahrnehmen. ({11}) Aber auch die Politik kann einiges tun. Wir müssen weiter daran arbeiten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. ({12}) Der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur, der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, das Elterngeld mit den Partnermonaten, die Familienpflegezeit, die Initiativen zur familienbewussten Arbeitszeit und die Programme zum Wiedereinstieg - all das trägt dazu bei, dass beide Partner - ich betone: beide Partner - Beruf und Familie vereinbaren können. Alles das sind Schritte zu einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie auch von Frauen. ({13}) Es ist aber auch klar - ich denke, das muss uns allen bewusst sein -: Ganz ohne Unterbrechungen wird es nicht gehen. Gerade weil das so ist, weil wir immer Brüche im Lebensverlauf und immer Auszeiten haben werden, ist es wichtig, dass wir das nicht immer als Nachteil sehen. Solche Unterbrechungen sind doch positiv zu bewerten. Sie bringen neue Erfahrungen und neue Kompetenzen mit sich. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen appellieren: Nutzen Sie diese Kompetenzen und berücksichtigen Sie diese auch in der Gehaltsstruktur! Ermutigen Sie auch die Männer, sich auf solche Auszeiten, beispielsweise bei der Elternzeit oder bei der Pflegezeit, einzulassen! Denn Lebenskompetenz ist doch auch im Unternehmen oft viel wichtiger als dröges Fachwissen. ({14}) Ein weiteres Thema für Politik und Wirtschaft gleichermaßen: Sorgen wir endlich dafür, dass mehr Frauen in Führungspositionen kommen! Die Debatte über Wege dorthin führen wir derzeit. Nadine Schön ({15}) Schließlich müssen wir gemeinsam auch dafür sorgen, dass tatsächliche Diskriminierung aufgedeckt wird. Auch das liegt letztlich im Interesse der Unternehmen selbst; die Kollegin hat darauf hingewiesen. Mit Logib-D gibt es ein Instrument, das die entsprechende Transparenz in einem Betrieb herstellt. Mehrere Hundert Unternehmen haben schon daran teilgenommen. So kann man echte Diskriminierung erkennen und wirksam bekämpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es lohnt sich, die Ursachen der Entgeltungleichheit genauer unter die Lupe zu nehmen; denn nur dann gelangen wir zu einer differenzierten Sicht der Dinge und zu differenzierten Lösungen. Es sind viele kleine Stellschrauben, mit denen wir die Rahmenbedingungen für ein verbessertes Einkommen von Frauen beeinflussen können; hier können wir intelligent und mit vielen kleinen Schraubenziehern arbeiten. Den Vorschlaghammer staatlicher Regulierung brauchen wir dazu nicht. Vielen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schön, ich muss Ihnen sagen: Seit 100 Jahren warten die Frauen auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und kämpfen dafür. ({0}) Wie lange wollen Sie noch an die Wirtschaft appellieren, damit das endlich Wahrheit wird? Das ist mir aus Ihrem Vortrag weiß Gott nicht klargeworden. ({1}) Die Frau Bundeskanzlerin hat zum Internationalen Frauentag eine Videobotschaft versandt. Sie plauderte ein wenig über ihre Kindheitserinnerungen in der DDR und darüber, welche Blumen sie am 8. März ihrer Mutti schenkte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, kennen Sie die Lieblingsblumen Ihrer Kanzlerin? Ich helfe Ihnen ein wenig, weil Sie mich so anschauen. Es sind Freesien. Ich denke, es wäre besser gewesen, wenn die Kanzlerin in der Videobotschaft ein wenig weiter zurück in die Geschichte geblickt und die Begründerinnen des Frauentages und ihre Motive benannt hätte. Es waren nämlich die Arbeiterbewegung und ihre Vorkämpferinnen, allen voran Clara Zetkin. Als im August 1910 in Kopenhagen die II. Internationale Sozialistische Frauenkonferenz beschloss, einen internationalen Frauentag durchzuführen, stellte sie zugleich klar - ich zitiere -: Es muss auch erkannt werden, dass der Weg zur Gleichstellung der Frau mit dem Manne nur durch die ökonomische Gleichstellung der Frau geschehen kann. Ich denke, nur das ist der richtige Weg, nicht Appelle an die Wirtschaft. ({2}) Mehr als 100 Jahre danach ist diese Forderung so aktuell wie damals. Frauen erhalten 23 Prozent weniger Lohn als Männer. Die Verdienstunterschiede in Deutschland sind so groß wie nie und wie nirgendwo sonst in Europa. Und: Sie sind über die letzten Jahre noch gewachsen. Das ist ungerecht. Ich denke, es ist wichtig, dass man als Antwort darauf auch gesetzliche und staatliche Regelungen schafft. 70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor sind Frauen. Das kommt nicht allein daher, dass Frauen oft Teilzeit arbeiten. Nein, rund 7,3 Millionen Frauen arbeiten Vollzeit. Von ihnen erhalten aber 2,5 Millionen Frauen einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle. Ich frage Sie: Ist das gerecht? Das heißt, jede dritte Vollzeit arbeitende Frau ist davon betroffen. Meine Damen und Herren der Koalition, lassen Sie sich diese Zahl bitte noch einmal auf der Zunge zergehen: Jede dritte Vollzeit arbeitende Frau arbeitet im Niedriglohnbereich. Das ist ein Skandal. ({3}) Deshalb ist klar: Wir brauchen in Deutschland endlich einen gesetzlichen Mindestlohn. ({4}) Sie wehren sich dagegen. Der Skandal ist, dass der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland nicht eingeführt wird. In Europa gibt es in 20 von 27 Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn. Das kann doch nicht schlecht sein. ({5}) Das wäre ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Natürlich reicht der Mindestlohn nicht aus. Schaut man sich die Ursachen für die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern an, dann wird schnell deutlich: Es geht um eine direkte Diskriminierung, wenn Frauen am gleichen Arbeitsplatz in eine niedrigere Lohn- bzw. Gehaltsgruppe eingestuft werden als Männer. Um die riesige Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu verringern, ist aber mehr nötig. In den traditionellen Frauenbranchen wie dem Einzelhandel oder auch dem Friseurhandwerk wird deutlich schlechter bezahlt. Hinzu kommt der hohe Anteil von Frauen in Teilzeit und Minijobs. Zu zwei Dritteln sind die Lohnunterschiede aus diesen genannten Gründen zu erklären. Aber statt dieses Problem anzugehen, hat Ihre Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre uns in Deutschland in eine Situation gebracht, in der sich dieses Problem noch mehr verschärft hat: Mit den Hartz-Gesetzen wurden prekäre Beschäftigungsverhältnisse gefördert und der Niedriglohnsektor weiter ausgebaut. Vor allem die typischen Frauenbranchen sind davon betroffen. Deshalb ist zu befürchten: Wenn es nicht zu einem Kurswechsel kommt, wird sich diese Ungleichbehandlung mit der steigenden Frauenerwerbstätigkeit weiter verfestigen oder sogar verstärken. Bei diesem Punkt, meine Damen und Herren von der SPD, hat Ihr Antrag leider eine Leerstelle. Die Linke fordert: Ein Entgeltgleichheitsgesetz, das seinem Namen gerecht wird, muss das Problem der prekären, niedrig entlohnten und unfreiwilligen Teilzeitarbeit angehen. Das ist der richtige Weg. ({6}) Die Wirtschaftsjournalistin Julia Dingwort-Nusseck - sie war von 1976 bis 1988 Präsidentin der Landeszentralbank Niedersachsen; sie ist also nicht dem linken Spektrum zuzuordnen - befürchtete zu Recht: Wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht, werden wir im Jahre 2230 den Zustand der Gleichberechtigung von Mann und Frau erreicht haben. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese düstere Prognose nicht wahr wird. Danke. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Einkommen von Frauen liegt in Deutschland im Schnitt um fast ein Viertel unter dem der Männer. Zudem ist die Lohnlücke in Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn deutlich höher. Sowohl aus Art. 3 Grundgesetz als auch aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz folgt ein Verbot der Lohndiskriminierung. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz verpflichtet uns, dagegen etwas zu tun. Im Koalitionsvertrag haben wir uns zur Umsetzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verpflichtet. Die Umsetzung dieses Ziels ist auf einem guten Weg. Dabei wollen wir aber keine gesetzlichen Regelungen zur Überwindung der Entgeltungleichheit schaffen, wie es die SPD in ihrem Antrag fordert. Wir als FDP setzen auf Selbstverpflichtung und sind der Meinung, dass Selbstverpflichtungen letztendlich auch eine sehr viel nachhaltigere Möglichkeit darstellen, ({0}) solche Ungleichbehandlungen zu beseitigen. ({1}) Die bürokratischen Vorschläge der SPD würden Kosten verursachen und die Wirtschaft erneut belasten. ({2}) Zu dem Argument der Linken, dass eine gesetzliche Regelung, die es in 20 Ländern in Europa gibt, ein Plus darstelle, kann ich nur sagen: ({3}) Die deutsche Wirtschaft ist gerade deshalb leistungsfähig, weil sie solche Verpflichtungen nicht zu tragen hat. ({4}) Wir werden uns dafür einsetzen, dass das nicht kommt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Laurischk, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zulassen?

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte fortfahren. ({0}) - Wir sind dabei, das zu ändern; das wissen Sie. Das brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht zu diskutieren. Wir haben allerdings zu klären, auf welche Ursachen die noch immer bestehende Ungleichbehandlung zurückzuführen ist. Das liegt im Wesentlichen an folgenden Punkten: Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohnverhandlungen schlechter bewertet und vergütet als klassische Männerberufe. Hier wäre natürlich auch vonseiten der Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie noch einiges zu tun. Frauen sind in bestimmten Berufen, Branchen und auf höheren Stufen der Karriereleiter unterrepräsentiert. Vor allem ist trotz höherer und besserer Schulabschlüsse und einer fachlich hervorragenden Ausbildung das Arbeitszeitvolumen bei Frauen geringer als bei Männern. Familienbedingte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit ist ein weiterer Faktor. Die hohe Anzahl von Teilzeit arbeitenden Frauen und von Frauen in niedrig bezahlten und gering qualifizierten Arbeitsverhältnissen trägt nach wie vor zum Fortbestehen der Lohndiskriminierung von Frauen bei. Die Überwindung der Rollensterotype bei Ausbildung und Beschäftigung sowie ein modernes Rollenverständnis gerade der Männer würden einen erheblichen Beitrag zur Überwindung der Entgeltdiskriminierung leisten. Auffällig in Bezug auf das unterschiedliche Lohngefüge zwischen Männern und Frauen ist, dass ein deutliches Gefälle zwischen West- und Ostdeutschland besteht. Frauen, die in Ostdeutschland arbeiten, verdienen zwar ebenfalls weniger als ihre männlichen Kollegen, aber die Lohnlücke ist dort deutlich geringer als im Westen. Dies wird wohl mit der besseren Kinderbetreuungsinfrastruktur zusammenhängen. Deswegen ist für uns der Ausbau der Kinderbetreuung mit dem Ziel, bis 2013 für bundesweit durchschnittlich 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder Betreuungsplätze zu haben, eine der wesentlichen Maßnahmen, die wir zur Überwindung des Gender Pay Gap verfolgen. ({1}) Ein weiteres wichtiges Instrument zur Beseitigung der Lohnlücke ist die Einführung des Logib-D-Verfahrens. Dies eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, in einem freiwilligen Selbsttest zu untersuchen, inwieweit Entgeltgleichheit im Unternehmen sichergestellt ist. Dieses Verfahren wurde gut angenommen. Es ist ein Instrument, das im Rahmen der Selbstverpflichtung, auf die wir setzen, Wirkung zeigt. Darüber hinaus haben wir zur Bekämpfung des Gender Pay Gap das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ zur Durchsetzung einer familienbewussten Personalpolitik und das Aktionsprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“ auf den Weg gebracht, welches Frauen nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung die Reintegration ins Berufsleben erleichtert. Die Überwindung der Lücke zwischen den Löhnen von Frauen und Männern ist ein wichtiges gleichstellungspolitisches Signal. Dafür ist ein Umdenken in der Gesellschaft genauso erforderlich wie das Aufbrechen von Rollenbildern und das Selbstverständnis eines modernen Familienbildes. Wir haben in diesem Jahr den 100. Internationalen Frauentag gefeiert. Ich verweise nochmals darauf, dass unser Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 ausführt: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Meine Damen und Herren, daran arbeiten wir. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Monika Lazar hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ begleitet uns schon lange. Wir finden sie in den Römischen Verträgen von 1957, und Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes haben Sie gerade angesprochen, zu Recht. Sie haben ja das Zitat gebracht, in dem steht, dass sich der Staat dafür einsetzen soll. Er hat also eine entsprechende Verpflichtung. Von daher gebe ich den Hinweis, dass wir nicht allein auf Freiwilligkeit setzen sollten. Wir als Gesetzgeber, im Parlament, haben durchaus die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen. ({0}) Es gibt ferner das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Wir könnten also der Meinung sein, wir hätten genug Gesetze. Aber wir kennen die Zahlen: Seit Jahren beträgt der durchschnittliche Lohnunterschied 23 Prozent. Damit sind wir im EU-Vergleich auf einem hinteren Platz. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir uns von dort wegbewegen. Wir wissen - das wurde schon ausgeführt -: Es handelt sich hierbei um eine komplexe Materie. Beim Gender Pay Gap kommt einiges zusammen: die hohe Teilzeitquote bei Frauen, die häufigeren und längeren Erwerbsunterbrechungen wegen der Erziehung der Kinder oder der Pflege von Angehörigen, die geringere räumliche Mobilität von Frauen. Dazu gehört aber auch die sogenannte vertikale Polarisation auf dem Arbeitsmarkt. Das bedeutet nichts anderes, als dass Frauen in Führungspositionen unterrepräsentiert sind und selbst dort dramatisch weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Natürlich ist es immer noch so, dass junge Frauen und Mädchen schlecht bezahlte Berufe wählen und sich auf deutlich weniger Berufe und Branchen als Männer konzentrieren. Nun könnten wir, wie es Ministerin Schröder gerne macht, sagen: Selber schuld! Die jungen Frauen können ja Maschinenbau studieren und den Beruf in den Vordergrund stellen. - Aber so einfach ist das nicht. Wir brauchen durchaus vieles: bessere Kinderbetreuung, mehr Männer, die ihre Vaterrolle auch zeitlich stärker ausfüllen, ({1}) flexible Arbeitszeiten gerade für Eltern und selbstverständlich eine andere Arbeitskultur. Ich denke, darin sind wir uns im ganzen Hause einig. ({2}) Aber das ist nicht alles. Der verschieden hohe Lohnunterschied in Ost- und Westdeutschland wurde schon angesprochen. In Westdeutschland beträgt er 25 Prozent, in Ostdeutschland 6 Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass die ostdeutschen Männer weniger verdienen. Es gibt sicherlich auch einige westdeutsche Männer, die weniger verdienen würden. Der geringere Unterschied im Osten ist aber nicht nur der besseren Kinderbetreuung geschuldet. Es ist nämlich auch so, dass die große Mehrheit der ostdeutschen Frauen wirtschaftlich für sich selbst verantwortlich ist; das ist für sie eine SelbstverMonika Lazar ständlichkeit. Die Hausfrauenehe spielt keine Rolle mehr; es gibt sie nur zu einem geringen Prozentsatz. Bei knapp drei Vierteln aller Paare in Ostdeutschland sind beide Partner erwerbstätig. Auch der Anteil der Teilzeitarbeit ist wesentlich geringer als in Westdeutschland. Die Frauen im Osten sind also aufgrund ihrer Ausbildung hochqualifiziert, und sie wollen mehr und auch eher Vollzeit arbeiten. Interessant ist auch, dass es einen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. In ländlichen Regionen ist die Lohnlücke um fast 10 Prozent größer als in der Stadt. Auch wenn die Ursachen noch nicht ausreichend erforscht sind - entsprechende Forschungen laufen -, gibt es einige Auffälligkeiten: Die Frauen auf dem Land nehmen noch häufiger Minijobs an, sind häufiger Hinzuverdienerinnen, und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wegen der größeren räumlichen Entfernungen meistens noch schwieriger zu bewerkstelligen. Zu den Führungspositionen - das habe ich vorhin schon angesprochen - gibt es eine aktuelle Studie vom WSI, nach der der Lohnunterschied 18 bis 24 Prozent beträgt. Er ist also kein bisschen geringer, obwohl die Frauen sicherlich genauso qualifiziert sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir sind uns in vielem einig, was Ihren Antrag und auch die Eckpunkte betrifft, die Sie jetzt für ein Entgeltgleichheitsgesetz vorlegen. Viele dieser Forderungen finden Sie auch in unserem Antrag „Frauen verdienen mehr“, den wir im März hier im Plenum diskutiert haben. Auch wir wollen den Ausbau der Verbandsklage. Ich denke, das ist wirklich ganz wichtig. Wir wollen die Tarifparteien zu einer diskriminierungsfreien Arbeitsbewertung verpflichten. Wir brauchen endlich Transparenz bei den Entgelten. Wir möchten auch erreichen, dass sich die Beschäftigten über ihr Arbeitsentgelt und dessen Zusammensetzung austauschen dürfen. Ich denke, das ist sehr wichtig. Klauseln in Arbeitsverträgen, die das verbieten, sind nicht rechtmäßig. Notwendig ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch ein flächendeckender Mindestlohn. Dass Frauen einen Anteil von knapp 70 Prozent an den Niedriglohnbeschäftigten haben, hat die Kollegin bereits ausgeführt. Neben den gesetzlichen Regelungen für die Entgeltgleichheit brauchen wir dringend ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Ich denke, da sind wir auch sehr nahe beieinander. ({3}) Der Equal Pay Day war in diesem Jahr der 25. März. Ich würde mich sehr freuen, wenn es an diesem Tag mehr als nur warme Worte geben würde, warme Worte, wie sie unter anderem in der lauen Pressemitteilung der Ministerin Schröder standen. Ich würde mich freuen, wenn wir da gemeinsam vorankommen, damit es mehr gibt als nur warme Worte oder Selbstverpflichtungen. Ich denke, wir sollten auch unserem Anspruch als Gesetzgeber gerecht werden und die Rahmenbedingungen vorgeben. Deshalb lade ich die Koalitionsfraktionen herzlich dazu ein, mit uns gemeinsam den Weg zu gehen, nicht nur auf Freiwilligkeit zu setzen, sondern den Rahmen selber vorzugeben. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ewa Klamt hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleichberechtigung ist keine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie muss - immer noch - in unserer Gesellschaft ausgebaut und gelebt werden. Frauen meiner Generation können bei diesem Thema aufgrund langjähriger Erfahrungen mitreden. Wir wissen, was wir hier einfordern wollen. Die existierende Lohnungleichheit in Deutschland ist eine der ungelösten Herausforderungen. Die entscheidende Frage ist: Was sind die Ursachen der Lohnlücke, und wie können wir sie bekämpfen? Wir wissen, dass die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen drei Kernursachen hat: Erstens. Frauen sind in bestimmten Berufszweigen und Branchen unterrepräsentiert. Zweitens. Qualifikationen, die Frauen in das Erwerbsleben einbringen, werden häufig schlechter bewertet. Drittens. Frauen steigen öfter und länger aus dem Erwerbsleben aus. Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen aus circa 350 Ausbildungsberufen im Wesentlichen nur zehn aus dem Dienstleistungs- und Sozialbereich auswählen. Die Wahl der Studiengänge zeigt ein ähnliches Bild: Männer fokussieren sich auf die technisch-naturwissenschaftlichen Zweige, Frauen wählen vermehrt sprachoder sozialwissenschaftliche Studiengänge. Frauen und Männer gehen also bereits zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn unterschiedliche Wege; sie richten ihre Berufswahl nach unterschiedlichen Kriterien aus. Das Problem ist jedoch, dass jeder Einzelne individuell entscheidet. Wir als Gesetzgeber können vom Kindergarten bis hin zur allgemeinen schulischen Bildung versuchen, Frauen frühzeitig für technische oder naturwissenschaftliche Berufe zu begeistern. ({0}) Deshalb sind die Programme des Familienministeriums wie „Komm, mach MINT“, der Girls’ Day, aber auch „Neue Wege für Jungs“ der richtige Ansatz, das Berufswahlspektrum von jungen Frauen und Männern zu erweitern. Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass nach wie vor Frauen und ihre Qualifikationen im Berufsleben schlechter bewertet werden. ({1}) So sehen Unternehmen Frauen häufig als Unsicherheitsfaktor, da sie dem Arbeitgeber durch Elternzeit und Erziehungspausen nur bedingt zur Verfügung stehen. Ihre Tätigkeit wird, bewusst oder unbewusst, nach dem Ausfallrisiko bewertet. Entscheidend ist daher in den Betrieben ein Bewusstseinswandel dahin gehend, ({2}) das Potenzial und die Fähigkeiten von Frauen besser zu nutzen. Der Fachkräftemangel und der demografische Wandel zeigen vielen Unternehmen bereits heute die richtige Weichenstellung auf. Wer dringend benötigte Fachkräfte haben und halten möchte, muss das Potenzial von Frauen nutzen. Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit wird darüber entscheiden, wer zukünftig in diesem Land über genügend Fachkräfte verfügt. ({3}) Der dritte Aspekt ist die familienbedingte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Es sind nach wie vor mehrheitlich junge Frauen, die sich der Kindererziehung widmen und dafür ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Nach ihrer Rückkehr ins Berufsleben reduzieren sie verstärkt ihre Stundenzahl; sie nehmen besonders häufig Teilzeitmodelle in Anspruch. Statistiken und Studien belegen, dass insbesondere in Deutschland die Erwerbsunterbrechung ein maßgeblicher Faktor der ungleichen Entlohnung ist. Insofern trifft der Satz des SPD-Antrages zu, dass es Aufgabe der Politik ist, Prozesse in Gang zu setzen und bei der Überwindung typischer Blockaden zu helfen. Das von der CDU vorgeschlagene „audit berufundfamilie“ ist ein richtiger Ansatz. Die Politik zeigt hier den Unternehmen Lösungswege auf. So kann sich ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel entfalten. Unternehmen mit einem großen Frauenanteil nehmen dies heute in hohem Maße an. Sie verzichten schon aus ökonomischen Gründen nicht mehr auf gut ausgebildete Frauen. Fakt ist: Wir sind keine Erziehungsdiktatur. Auch wenn wir uns wünschen, dass sich mehr Männer in Familienarbeit und Kinderbetreuung einbringen, bleibt die Entscheidung, welcher Partner sich der Kindererziehung widmet, eine individuelle Entscheidung. ({4}) Die Hoheit über die Kinderbetten zu erlangen, wie es der ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz verlangte, ist nicht Ziel unserer CDU/CSU-Politik. ({5}) Für mich sind alle drei geschilderten Problembereiche komplex miteinander verknüpft. Klar ist, dass wir die Ungleichheit in der Entlohnung ursachengerecht angehen müssen. Fest steht auch, dass gesellschaftlicher Wandel nicht per Gesetz verordnet werden kann. Aber mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, dem Projekt „Perspektive Wiedereinstieg“ und dem Elterngeld für beide Elternteile hat die CDU die Weichen richtig gestellt. ({6}) Der Unterschied in der Lohnlücke zwischen Deutschland Ost und Deutschland West zeigt eines: Die Rahmenbedingungen von Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind entscheidend; eine Kollegin hat das bereits genannt. Weil in Ostdeutschland 61 Prozent der Frauen nach einer Kinderpause in eine Vollzeitbeschäftigung zurückkehren, beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern hier nur 6 Prozent, während er im Westen bei 24 Prozent liegt. Das zeigt, dass ein gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem die Rückkehr in die Vollbeschäftigung ermöglicht und für mehr Entgeltgleichheit sorgt. Der Antrag, den die SPD heute vorlegt, wird keiner der genannten Herausforderungen gerecht. Ihre Forderungen, von denen ich nur einige wenige zitieren möchte, sehen folgendermaßen aus: … die Unternehmen werden aufgefordert, einer behördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in Form eines betrieblichen Entgeltberichts in regelmäßigen Abständen vorzulegen; - ich zitiere weiter die behördliche Stelle prüft den Entgeltbericht auf Verdachtsmomente, die auf eine geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung hinweisen. Das Ergebnis ist betriebsöffentlich zugänglich zu machen; ({7}) die Unternehmen stellen sicher, dass bei der Erstellung des Berichts Betriebs- und Personalräte, Gleichstellungsbeauftragte und Beschäftigte sowie Tarifvertragsparteien einbezogen werden. ({8}) - Liebe Frau Humme, wenn ich mir vorstelle, was das an bürokratischem Aufwand für die rund 3,4 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die Selbstständigen bedeutet, stellt sich mir die Frage, ob sie demnächst überhaupt noch Frauen einstellen. ({9}) Ich sage Ihnen: Wir brauchen weder neue Behördenmitarbeiter, die unzählige Daten sammeln und verarbeiten, noch brauchen wir neue Berichtspflichten, die zuallererst unseren Mittelstand treffen. Die Quintessenz einer lösungsorientierten und realistischen Gleichstellungspolitik muss sein ({10}) - Schreien macht nichts besser; Sie können für Ihre Fraktion reden -, die sozialen Risiken in den Lebensläufen und Erwerbsbiografien der Menschen zu erkennen und familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann erreichen wir, dass Frauen der Wiedereinstieg in sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs gelingt und die wesentlichen Ursachen für eine fehlende Entgeltgleichheit beseitigt werden. Statt immer neue Gesetze zu erfinden, sollten auch Sie, liebe Kollegen von der SPD, erkennen, dass wir uns auf unsere Kernaufgabe konzentrieren müssen, nämlich auf die Schaffung von Grundlagen und Rahmenbedingungen. Ich danke Ihnen. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sigmar Gabriel gebe ich jetzt als erstem Mann in der Debatte das Wort. Sollte sich die Entgeltgleichheit bei uns in Redezeit ausdrücken, haben die beiden Männer sehr gut verhandelt. Er spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wir sind uns aber sicher einig, dass die Herstellung von Gleichberechtigung keine alleinige Aufgabe der Frauen ist. ({0}) Meine Damen und Herren! Ich will den Argumenten begegnen, dass das nur für mehr Bürokratie sorgen würde, dass dies eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien sei und die Politik sich herauszuhalten habe. Ich lese Ihnen einen Satz vor, um den es hier eigentlich geht: Niemand darf wegen seines Geschlechts … benachteiligt oder bevorzugt werden. Das ist einer der fundamentalen Sätze der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Recht und Gesetz in Deutschland durchzusetzen, ist nicht die Aufgabe von Privatpersonen, auch nicht von Tarifvertragsparteien, sondern die Aufgabe des Gesetzgebers, der Exekutive, des Staates. Deswegen geht es hier um staatliches Handeln und nicht um Fragen der Bürokratie oder um Aufgaben von Privatpersonen. ({1}) Es geht auch nicht um Bewusstseinsbildung. Es geht um Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und um die Durchsetzung unserer Verfassung. Es geht nicht darum, dass den Unternehmen ein Lernauftrag erteilt werden soll. Frau Schön, es geht auch nicht um ein Privatvergnügen. Es ist nicht egal, ob man das macht oder nicht. Es geht darum, dass wir der Verfassung unseres Landes Geltung verleihen. Es ist einer der gröbsten Verstöße gegen die Verfassung, dass Frauen und Männer in diesem Land für gleiche Arbeit ungleich bezahlt werden. Das ist einer der größten sozialpolitischen Skandale in dieser Republik. ({2}) Damit wir uns hier verstehen: Wir haben diesen Antrag schon zur Zeit der Großen Koalition eingebracht. Frau Merkel und die nicht anwesende Familienministerin bzw. ihre Vorgängerin haben ihn im Duett abgelehnt. Für uns ist das keine neue Erkenntnis. Es ist übrigens spannend, wie wichtig die zuständigen Kabinettsmitglieder diese Debatte offensichtlich finden. Leistung lohnt sich nicht für Frauen in Deutschland. Es geht darum, Frau Kollegin Schön, dass wir der sozialen Marktwirtschaft Geltung verleihen und dass sich Leistung lohnt. Es ist übrigens ein interessanter Meinungswandel, dass Sie das für die Aufgabe der Tarifvertragsparteien halten; denn ich habe noch gut in Erinnerung, dass CDU/CSU und FDP die Tarifvertragsfreiheit infrage stellen und den Flächentarifvertrag abschaffen wollten. Aktuell verhindern Sie im Kabinett ein Gesetz über die Tarifeinheit. Sie zerstören die Tarifverträge und sagen gleichzeitig, dass sich die Tarifvertragsparteien um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen kümmern sollen. Das kennzeichnet Ihre Politik in diesem Bereich. ({3}) - Wenn das reine Polemik ist, dann beschließen Sie endlich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Sie wissen, dass 70 Prozent der Niedriglöhner in Deutschland Frauen sind. Machen Sie das doch endlich! ({4}) - Herr Kollege Kauder, ich weiß, dass Sie wenig Zugang zu diesem Lohnsektor haben. Nein, es geht darum, dass für Männer und Frauen eine Untergrenze eingeführt wird. Wenn wir wissen, dass in weiten Teilen Deutschlands keine Tarifverträge gelten, weil sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht mehr trauen, sich zu organisieren, dann muss der Staat eine untere Grenze einführen. Das wussten Ihre Vorgänger Ludwig Erhard und andere besser als Sie heute. ({5}) Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, es geht nicht an, dass die Bundeskanzlerin das zum Privatproblem der Frauen macht. Ich zitiere einmal aus einem Interview mit der Emma. Dort rät die Bundeskanzlerin Frauen, die weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen, „selbstbewusst zum Chef zu gehen und zu sagen: Da muss sich was ändern!“ ({6}) Wo sind wir eigentlich hingekommen? Es geht doch nicht darum, dass die betroffenen Frauen aufgefordert werden, etwas zu tun. Es ist die Aufgabe der Politik, einen Missstand, der Millionen von Frauen betrifft, zu beseitigen. Das ist unsere Aufgabe. Das geht auch Sie an. Sie können sich nicht ständig vor der Verantwortung drücken. Ich sage hier ganz offen: Lernen Sie doch auch von den Fehlern der Sozialdemokratie. Wir haben auch einmal gedacht, dass Selbstverpflichtungen helfen. Heute wissen wir: Sie helfen nicht. ({7}) Sie möchten jetzt eine freiwillige Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen einführen. Ich stelle mir einmal vor, wie wir zu den DAX-Vorständen und Aufsichtsräten sagen: Jungs, ihr müsst jetzt zu 40 Prozent freiwillig auf den Millionenjob verzichten, damit Platz für die Frauen ist. - Wenn Sie glauben, dass das funktioniert, dann glauben Sie auch, dass man mit Gänsen über Weihnachten diskutieren kann. ({8}) Das kann man nicht ohne den Gesetzgeber durchsetzen. Es ist schlimm, dass die Kanzlerin diese Entwicklung, die bei Ihnen durch Frau von der Leyen in Gang gekommen war, wieder gestoppt hat. Es gibt immer nur Window Dressing in der CDU/CSU und FDP. Wenn es darauf ankommt, schlagen Sie sich in die Büsche. Vielleicht hilft es Ihnen ja, sich die Realität in den unterschiedlichen Lohnsegmenten in Deutschland anzuschauen; es geht dabei nicht nur um den Niedriglohnsektor. Sie scheinen auch in diesen Bereichen ein Wahrnehmungsproblem zu haben. Ihre Familienministerin sagte in einem Interview: Wir können den Unternehmen nicht verbieten, Elektrotechniker besser zu bezahlen als Germanisten. Darum geht es aber nicht. Erklären Sie Ihrer Familienministerin bitte, dass es nicht darum geht, unterschiedliche Gehälter zu nivellieren, sondern dass man etwas dagegen tun muss, dass Ingenieure besser bezahlt werden als Ingenieurinnen. Das muss doch die Politik interessieren. ({9}) Der Lohnunterschied im Beruf der Ingenieure beträgt zwischen den Männern und Frauen 17 Prozent. Wie erklären Sie das einer fleißigen und gut qualifizierten Frau? Nun komme ich zum Größten, das Sie sich bisher geleistet haben. Ihre Frauenministerin sagte über die Frauen: Zumindest müssen sie sich darüber bewusst sein, dass mit bestimmten Berufswünschen gewisse Einkommensperspektiven verbunden sind. Das würde bedeuten, dass es an der Berufswahl liegt, dass Frauen in Teilzeit arbeiten und schlechter bezahlt werden. Es liegt aber daran, dass sie häufig keine ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder haben. Deswegen müssen sie in Teilzeit gehen. ({10}) Es liegt auch daran, dass Sie nicht bereit sind, dafür zu sorgen, dass in Deutschland vernünftige Löhne gezahlt werden. Deshalb werden Frauen in diese Bereiche gedrängt. ({11}) Wenn Sie sagen, dass es an der Wahl des falschen Berufs liegt, dann schauen Sie doch einmal typische Frauenberufe, in denen nur oder im Wesentlichen Frauen beschäftigt sind, an. Drei Viertel der Bürokaufleute sind Frauen; das ist also deutlich die Mehrheit. Bürokauffrauen verdienen trotzdem 15 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Oder schauen wir ins Bankgewerbe. Bankkauffrauen bekommen im Monat im Durchschnitt 700 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Bemerkenswert ist auch ein Blick in die soziale Wirklichkeit der oberen Gehaltsgruppen. Die Zahlen zeigen, dass auch Frauen in Führungspositionen für die gleiche Tätigkeit deutlich weniger Geld bekommen. Auf der Ebene der Hauptabteilungsleiter verdienen Frauen ein Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Da sagen Sie: Fangen wir mit der Bewusstseinsbildung an! Warten wir auf die Bewusstseinsbildung in den Unternehmen! Nein, wir sagen ganz klar: Das ist eine Aufgabe, der sich die Politik stellen muss. Wir sind dafür verantwortlich, dass Recht und Gesetz in Deutschland eingehalten werden. Das ist keine Frage der Freiwilligkeit. ({12}) Immer wenn es konkret wird, ist von Ihren Schaufensterreden nichts mehr zu hören. Sie fallen den Frauen regelmäßig in den Rücken, wenn es konkret wird. ({13}) Das war übrigens auch bei den Hartz-IV-Verhandlungen der Fall. Als wir gefordert haben, die Beschäftigten in der Leih- und Zeitarbeit genauso zu behandeln wie die Stammbelegschaften, wussten wir doch, dass davon viele Frauen betroffen wären, die dann vernünftig bezahlt worden wären. Sie haben sich dagegen gewehrt. Vielleicht haben auch noch nicht alle mitbekommen, wie Ihre Definition von Equal Pay ist. Sie haben zunächst einen Equal-Pay-Day ausgerufen. Nächtens hat dann die FDP mit Zustimmung der Union folgendes Modell erarbeitet: Equal Pay - gleicher Lohn für gleiche Arbeit - soll schon ab dem ersten Tag gelten, wenn der Betrieb, in den ein Leiharbeitnehmer verliehen wird, schlechter bezahlt, als es der Tarifvertrag in der Zeitarbeit vorsieht. Wenn der Betrieb besser bezahlt als in der Zeitarbeit vorgesehen, dann - so war Ihr Vorschlag - soll das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach neun Monaten gelten. Wissen Sie, wie ich das nenne? Solche Vorschläge nenne ich asozial, meine Damen und Herren. ({14}) - Nein. Beschämend ist, sich immer vor der Verantwortung zu drücken und immer nur von anderen zu fordern, sich zu kümmern. ({15}) - Ja, passen Sie auf. Dann gebe ich mir Mühe und zitiere die von Ihnen offensichtlich immer noch, jedenfalls zeitweise, geschätzte Kanzlerin. ({16}) Sie sagt: Über Frauenpolitik darf man nicht nur reden. Man muss handeln. ({17}) Na, dann handeln Sie einmal, meine Damen und Herren! ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Beck erhält das Wort, und zwar, wie ich annehme, zu einer Kurzintervention.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich möchte einen Geschäftsordnungsantrag stellen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, in dieser Debatte zum Thema „Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern“ geht es um eine zentrale Frage der Frauenpolitik. ({0}) Ich vermisse nicht nur viele Kolleginnen und Kollegen aufseiten der Koalition, ({1}) sondern vor allen Dingen auch die Bundesfrauenministerin. ({2}) Wir möchten sie zu dieser Debatte herbeizitieren, weil wir finden: Eigentlich müsste sie dem Haus in dieser Diskussion Rede und Antwort stehen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über diesen Geschäftsordnungsantrag. ({0}) Wer dem Antrag auf Herbeizitierung zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? ({1}) Wir sind uns nicht einig. ({2}) Deswegen können wir die Mehrheit nur auf andere Weise feststellen. Wir werden jetzt einen Hammelsprung durchführen. ({3}) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenarsaal zu verlassen. Wir würden auch noch ein paar Stühle herausstellen lassen für den Fall, dass Sie gern weiter sitzen wollen. Aber vielleicht begeben Sie sich nach und nach hinaus. Es sind im Verhältnis zu allen anderen noch übermäßig viele FDP-Kolleginnen und -Kollegen im Saal. Sind alle Türen mit Schriftführern besetzt? - Noch nicht. Es fehlen noch zwei Schriftführer von der Regierungskoalition. - Jetzt sind alle Türen besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung. Gibt es immer noch Kolleginnen und Kollegen, die vor der Tür stehen und nicht hereinkommen können, weil das Gedränge so groß ist? Ich frage das in Richtung der Schriftführerinnen und Schriftführer. - Jetzt scheint außer den Besucherinnen und Besuchern niemand mehr vor der Tür zu sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die Kolleginnen und Kollegen Schriftführer, uns das Ergebnis mitzuteilen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben zweierlei festgestellt: Erstens. Der Deutsche Bundestag ist - wie eigentlich immer - beschlussfähig, weil wir bei der Zählung das entsprechende Quorum erreicht haben. Zweitens. Mit Ja zum Antrag auf Herbeizitierung haben 173 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Mit Nein haben 230 gestimmt. Enthalten hat sich niemand. Damit ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt. ({4}) Wenn jetzt die Gespräche der CSU-Landesgruppe, der Geschäftsführung von Bündnis 90/Die Grünen und von Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion an anderer Stelle fortgesetzt werden - besonders die CSULandesgruppe ist hartnäckig; Frau Hasselfeldt identifiziert sich offenbar noch nicht ausreichend mit ihrer neuen Funktion; wenn ich CSU-Landesgruppe sage, hört sie noch nicht automatisch -, setzen wir die Debatte fort. Erhöhter Aufmerksamkeit erfreut sich jetzt die Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. ({5})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Um der Legendenbildung keinen Vorschub zu leisten: Ich wollte nicht vor mehr Publikum sprechen und habe deswegen nicht diese sportliche Aktivität von Ihnen verlangt. Ich möchte an das anknüpfen, was Sigmar Gabriel hier eben gesagt hat. Ich habe den Eindruck, dass die SPD den Gewerkschaften überhaupt nichts mehr zutraut. Nicht anders ist es zu verstehen, dass Gewerkschaften offensichtlich Tarifverträge abschließen, die nicht diskriminierungsfrei sind. Sie stellen damit der Tarifautonomie ein Armutszeugnis aus. Ich finde es erstaunlich, dass Sie das tun. Wer handelt denn die Tarifverträge aus? Das sind doch die Gewerkschaften. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Gewerkschaften von Ihnen nicht dauernd vorgehalten bekommen wollen, ihren Aufgaben nicht zu genügen. Auch beim Mindestlohn misstrauen Sie der Tarifautonomie und rufen immer nach dem Gesetzgeber. ({0}) Was Ihnen zum Erreichen des Ziels „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ bei Männern und Frauen einfällt, ist eigentlich sehr enttäuschend. Was Sie verlangen, führt zu zusätzlicher Bürokratie. Unternehmen sollen verpflichtet werden, Entgeltdaten zu melden. Sie wollen eine neue Superbehörde in Deutschland schaffen. Dabei müssen Sie doch sehen, dass das Bürokratiemonster ELENA überhaupt nicht funktioniert hat. Blinde Datensammelwut löst keine Probleme, sondern sorgt nur für mehr Verwaltungsaufwand. ({1}) Ich finde außerdem die Wortwahl in Ihrem Antrag unerhört. Sie sprechen von „Verdachtsmomenten“ bei der Lohnfindung. Ich finde es schon allerhand, dass Sie hier Unternehmen kriminalisieren und von „Verdachtsmomenten“ sprechen. Ich denke, das ist nicht der richtige Weg. ({2}) - In einer Welt, die auch darauf setzt, dass eben nicht pauschal verkürzt wird, wie Sie das auch mit Ihren Statistiken tun, ({3}) auf die Sie Bezug nehmen. Denn Sie sagen, angeblich besteht bei Frauen und Männern ein durchschnittlicher Gehaltsunterschied von 23 Prozent. Dabei hält diese Prozentzahl einer differenzierten Überprüfung nicht stand. Viel interessanter ist in meinen Augen eine aktuelle Studie der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft. Hier werden erstaunliche Ergebnisse aufgezeigt: Bei jungen Frauen ohne Kinder oder mit kurzen Babypausen ist eine Lohnungleichheit statistisch nicht mehr nachweisbar. ({4}) So beträgt etwa die Entgeltlücke zwischen 25- bis 35-jährigen erwerbstätigen Männern ohne Kinder und der vergleichbaren Gruppe von Frauen nur knapp 2 Prozent und fällt damit in den Bereich der statistischen Unschärfe.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll zulassen?

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin, da Sie ja jetzt vertieft in Zahlen einsteigen, aber als Ausgangszahl auch die Zahl 23 Prozent Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern genannt haben - das ist bekanntlich die Zahl des Statistischen Bundesamts -, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mir darin zu, dass bereits diese Zahl eindeutig von einem männerzentrierten Denken geprägt ist? Denn wenn man einfach einmal rechnet, eine Frau verdient in der Stunde 15 Euro, ein Mann verdient in einer Stunde 20 Euro, kann man sagen, die Frau verdient ein Viertel weniger, aber man kann natürlich auch sagen, der Mann verdient ein Drittel mehr als die Frau. Das heißt, da ist der reale Lohnunterschied 33 Prozent. Die Frau muss, um das Gleiche wie der Mann zu verdienen, nicht ein Vierteljahr arbeiten, sondern vier Monate. Das heißt also, diese allgemein verbreitete Zahl von 23 Prozent Lohnunterschied, im Durchschnitt gerechnet, verschleiert bereits die Unterschiede, die es in der Bundesrepublik DeutschDr. Barbara Höll land gibt, und verschleiert, dass Frauen in der Realität noch viel stärker benachteiligt werden.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gebe Ihnen vollkommen recht, Frau Kollegin, dass Zahlen verschleiern und dass Zahlen nicht immer unbedingt die Tatsachen widerspiegeln. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass wichtige Faktoren ausgeblendet sind, nämlich Teilzeitarbeit, unterschiedliche Qualifikation bei den Tätigkeiten, Ausbildungs- und Berufserfahrung. Für eine solche objektive Analyse - da müssen wir ansetzen - reicht der Blick auf die Zahlen nicht aus. Ich denke, es geht der Antragstellerin, der SPD, im Wesentlichen darum, unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung Mindestlöhne einzufordern ({0}) - ja -, und das hilft uns an dieser Stelle nicht weiter. Dass dadurch vor allem die durch Frauen ausgeübten Teilzeitbeschäftigungen ({1}) sowie die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte eingeschränkt werden, scheint Sie nicht zu stören. Das finde ich sehr ignorant. ({2}) Hauptsache, man hat ein Gesetz auf den Weg gebracht. Sinn oder Unsinn interessiert an dieser Stelle nicht. Die Koalitionsfraktionen hingegen wissen, dass wir nur auf der Basis einer vernünftigen Analyse eine sachgerechte Strategie entwickeln können. Diese Analyse muss dann eben auch den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Beschäftigungsanteil von Frauen ständig erhöht. Auch die Gehälter von Frauen haben sich erhöht. Viele Frauen machen heute Karrieren, von denen ihre Mütter nur träumen konnten. Ich denke, der richtige Weg ist es, auf die qualifizierte Berufsausbildung zu schauen und dafür zu sorgen, dass Mädchen verstärkte Aufmerksamkeit in ihre Ausbildung lenken. ({3}) Gerade mir als Mutter ist es besonders wichtig, dass diese Dinge in den Vordergrund gerückt werden. Auf diesem Weg werden wir weiterkommen. Denn mit gesetzlichen Keulen und Mindestlöhnen ist an dieser Stelle niemandem geholfen, zuallerletzt den Frauen. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bundesministerin Frau Schröder, die heute hier nicht anwesend ist, ({0}) hat aus Anlass des ersten Internationalen Frauentags vor 100 Jahren erklärt, dass die großen Mauern auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit nun eingerissen seien, auch wenn im Alltag noch viel Dickicht sei, das Frauen bremse. Wahrscheinlich hält sie das Dickicht für nicht so wichtig; deshalb ist sie heute nicht da. ({1}) Sie sagt, man brauche zur Beseitigung dieses Dickichts nicht den großen Hammer, sondern nur noch feinere Instrumente. Kollegin Schön hat sich vorhin ganz ähnlich geäußert. Ich möchte ein bisschen in dieses Dickicht eintauchen. Im Durchschnitt ist jeweils ein Drittel der Frauen in Vollzeit, Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig. Aber schon bei den Frauen mit einem Kind steigt die Teilzeitquote auf fast 44 Prozent an. Bei Familien mit zwei Kindern arbeitet fast die Hälfte der Frauen nur noch Teilzeit. Je höher die Kinderzahl, desto mehr Frauen sind überhaupt nicht erwerbstätig. Nun sagt die Bundesministerin, der Ausbau der Kinderbetreuung helfe Frauen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Das stimmt. Seit 1996 hat die Zahl der nicht erwerbstätigen Frauen aus Familien mit Kindern tatsächlich deutlich abgenommen. Gleichzeitig ist die Zahl derer, die mit mehr als zwei Kindern Vollzeit arbeiten, deutlich gesunken. Das muss Ursachen haben. Dafür gibt es ein gängiges Erklärungsmuster: Frauen wollen sich in den ersten Jahren eben der Kindererziehung widmen, und das sei schließlich gut so. Aber so einfach ist es nicht. Ich frage Sie: Wieso eigentlich Frauen, wieso nicht Männer? ({2}) Die Männer dürfen das inzwischen. Ich frage Sie außerdem: Wie sollen Eltern Vollzeit arbeiten, wenn Ganztagsbetreuungsplätze überhaupt nicht zur Verfügung stehen? In den östlichen Bundesländern, zumindest in drei der fünf, wollen weit mehr als 38 Prozent der Frauen mit Kindern unter drei Jahren erwerbstätig sein, die meisten Vollzeit. In Sachsen-Anhalt sind es über 50 Prozent. In Sachsen und Thüringen ist das nicht so. Gute Kinderbetreuung, denkt man, spricht für sich. Aber warum ist das in Sachsen und Thüringen anders? Die Antwort ist ganz einfach: Dort gibt es eine Prämie für das Zuhausebleiben. Das nutzen in ihrer Not vor allem Frauen. Familien denken da nämlich ganz praktisch: Derjenige oder dieje11658 nige bleibt zu Hause, der oder die am wenigsten zum Familieneinkommen beitragen kann. Nun soll diese „Zuhausebleibeprämie“ auch noch bundesweit kommen. Frau Ministerin sollte dieses Dickicht wegräumen, wenn sie wirklich für eine Entgeltgleichheit sorgen will. ({3}) - Ich benutze hier Zahlen der Bundesregierung, keine anderen. Ein weiterer Fakt: Bezüglich meines Bundeslandes, Sachsen-Anhalt, weist der Gleichstellungsatlas des Bundesministeriums einen sehr kleinen Einkommensunterschied aus; das ist hier schon erwähnt worden. Da scheint alles in Butter zu sein; die Richtung scheint zu stimmen. Da ich mich zu Hause ein bisschen auskenne, habe ich nachgeschaut. In Sachsen-Anhalt liegen die Lohnunterschiede im produzierenden Gewerbe sogar bei 25 Prozent. Wenn ich so rechne wie meine Kollegin Höll, heißt das: Männer verdienen ein Drittel mehr als Frauen. Wir haben allerdings nicht so viel produzierendes Gewerbe und darum auch nicht so viele hohe Einkommen. Was wir viel haben, ist Niedriglohn, und zwar für Frauen und Männer. Das heißt, weiter nach unten mit dem Lohn geht es kaum noch. Dagegen gäbe es allerdings ein Mittel: gesetzlicher Mindestlohn. ({4}) Diesen einzuführen, löst zwar noch nicht alle Probleme, würde aber unmöglich machen, dass man, etwa im Friseurhandwerk, für Stundenlöhne von 3,83 Euro arbeiten muss. Das wäre dann ausgeschlossen. Das wäre ein Beitrag zur Entgeltgleichheit und im Übrigen zur Verbesserung der Einkommen von Männern. ({5}) Gestrüpp zu beseitigen, gilt es auch an anderer Stelle. Mädchen und junge Frauen haben in der Bildung im letzten Jahrhundert deutlich aufgeholt. Sie haben mehr höhere Schulabschlüsse und studieren häufiger. In Sachsen-Anhalt erwerben fast 70 Prozent der 18- bis 21-jährigen jungen Frauen eine Studienberechtigung - da ist Sachsen-Anhalt Spitzenreiterin -; aber nur 17 Prozent der Professuren in diesem Land wurden an Frauen vergeben. Frauen finden wir dafür überproportional in Erziehungsberufen, besonders in der frühkindlichen Bildung und in der Grundschule, aber auch in der Pflege. Dort sind Männer eher die Ausnahme. Ich war neulich in einer Grundschule. Sie arbeitet inklusiv - ich hoffe, hier nicht mehr erklären zu müssen, was das bedeutet -; es wird also niemand an eine andere Schule geschickt. 40 Prozent der Kinder, die diese Grundschule besucht haben, setzen ihren Bildungsweg auf dem Gymnasium fort. Ihr Bildungsweg ist also erfolgreich. Die Stunde, die ich miterleben durfte, war beeindruckend. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Die Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen aus diesem Hause - ich schließe mich da ein -, die irgendwann schon einmal vor einer Klasse gestanden und unterrichtet haben, wären mit dieser Arbeit vollständig überfordert. Es ist eine Arbeit, die viel Wissen und Können, hohe Flexibilität und hohe Kreativität erfordert. Aber können Sie mir erklären, warum Grundschullehrerinnen so viel schlechter bezahlt werden als Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien, wo im Übrigen auch mehr Männer arbeiten? ({6}) Hier hat die Politik Handlungsmöglichkeit; denn hier geht es um die öffentliche Hand, die Arbeitgeberin ist. Sie könnte dieses Problem lösen. ({7}) In solchen aus Standesdünkel gewachsenen Einkommenshierarchien entstehen genau jene Ungerechtigkeiten der Bezahlung in dieser Gesellschaft. Das gilt auch für andere soziale Erziehungs- und Pflegeberufe. Das alles sind Frauendomänen. Darum geht unsere Forderung über das „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ hinaus. Wir fordern gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit; denn es kann doch niemand erklären, wieso Arbeit in einer Grundschule weniger wert sein soll als an einem Gymnasium. Das ist doch wohl nicht mehr zeitgemäß. ({8}) Ich glaube, die Frau Ministerin, die heute Wichtigeres zu tun hat, hat hier noch viel Dickicht hinwegzuräumen. Aber ich fürchte, Frau Schön, mit dem Schraubenzieherchen wird es nichts werden. Dann sind wir damit nämlich noch die nächsten hundert Jahre beschäftigt. Ich danke schön. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Rita Pawelski hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie den Film Und täglich grüßt das Murmeltier? Der TV-Wetteransager Phil Connors durchlebt alptraumhaft immer und immer wieder denselben Tag. Ähnlich geht es mir bei dem Thema „Gleiche Löhne für Männer und Frauen“. Fast alptraumhaft steigt immer und immer wieder das gleiche Thema hoch. ({0}) - Hören Sie doch einfach zu! - Frauen demonstrieren für gleiche Löhne, der Lohnabstand bleibt. Die Fraktionen stellen Anträge, wollen etwas verändern, der Lohnabstand bleibt. Die Regierungen wechseln, der Lohnabstand bleibt. Geändert hat sich inzwischen die Bezeichnung. Es heißt oftmals nicht mehr „Entgeltgleichheit“, sondern „Equal Pay“; aber auch das hat das Problem nicht erledigt. In Deutschland gibt es eine ungleiche Entlohnung bei Männern und Frauen, und das ist nicht akzeptabel. Die offiziellen Zahlen zeigen, dass bei uns die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen 23,2 Prozent beträgt. Im Laufe des Arbeitslebens steigt der Einkommensunterschied auf 30 Prozent. Wie ist das zu erklären? Wo liegt das Problem? Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat dazu ein paar interessante Untersuchungen vorgelegt. Dabei kam heraus, dass ein entscheidender Faktor für die Verdienstlücke zwischen Männern und Frauen die Zeiten der Erwerbsunterbrechung, zum Beispiel die Babypause, sind. Denn die Lohnschere öffnet sich ab einem Alter von 30 Jahren, und das ist exakt die Zeit, in der viele Frauen ihr erstes Kind bekommen und für eine bestimmte Zeit aus ihrem Job heraus müssen. Teilzeitarbeit - das haben wir heute schon oft gehört nehmen Frauen oft nur deshalb in Anspruch, weil sie Familie und Beruf nicht anders vereinbaren können; aber Teilzeitarbeit führt karrieremäßig und finanziell in eine Sackgasse. Das gilt übrigens auch für Minijobs. Deutschland ist ein Land mit einer dramatischen demografischen Entwicklung. Der Nachwuchs fehlt. Aber werden bei uns Frauen mit schlechteren Löhnen und schlechteren Aufstiegschancen bestraft, wenn sie wegen ihrer Kinder nicht berufstätig sind oder für eine bestimmte Zeit zu Hause bleiben wollen, um die Kinder zu erziehen? Denn klar ist: Bei einer schnellen Rückkehr in den Beruf nach der Babypause beträgt der Lohnabstand nur 4 Prozent. Wir müssen also unter anderem dafür sorgen, dass Frauen wieder frühzeitig in den Beruf zurückkehren können. Da sind wir bereits auf einem guten Weg. Wie keine Regierung zuvor hat die Merkel-Regierung in den letzten fünf Jahren eine sehr gute Familienpolitik entwickelt und durchgesetzt. ({1}) Das hat kein anderer vorher geschafft. Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen, um eine Vorbildfunktion und ein Umdenken - für mehr Betriebskindergärten, vor allem für familienfreundliche Arbeitszeiten - zu erreichen. Wir müssen den Unternehmen sagen, dass sie etwas an ihrer Arbeitszeitphilosophie ändern müssen. Mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung für Frauen und Männer! Das gilt besonders für junge Eltern; denn Mütter wollen länger arbeiten, und Väter wollen weniger arbeiten. Es muss doch möglich sein, dass man sich da entgegenkommt. ({2}) Zum großen Lohnunterschied trägt natürlich auch die Berufswahl entscheidend bei. Für die akademischen Berufe wurde das schon angesprochen. Für mich ist erschreckend, dass eine unglaublich große Zahl von Mädchen - das sage ich besonders in Richtung der Mädchen und jungen Frauen, die hier oben sitzen - sich immer noch für frauentypische Berufe entscheiden. Auch hier grüßt täglich das Murmeltier; denn schon vor 20 Jahren waren Einzelhandelskauffrau, Bürokauffrau, Verkäuferin, Friseurin, medizinische Fachangestellte und Hotelfachfrau die Lieblingsausbildungsberufe für Mädchen. ({3}) Bis heute hat sich so gut wie nichts geändert, leider. Hallo, Mädchen, wenn ihr weiterkommen wollt, ergreift andere Berufe! ({4}) Ihr könnt auch Mechatronikerin oder Ingenieurin werden. ({5}) Geht in diese Fächer! Ihr müsst es nur wollen. ({6}) Wir haben unglaublich viele Programme aufgestellt, um junge Frauen und Mädchen auch für geschlechtsatypische Berufszweige zu motivieren. Es gibt den Girls’ Day, „Komm, mach MINT“ und viele andere gute Programme. Aber selbst wenn frau sich für einen typischen Frauenberuf entscheidet, bleibt eine Frage: Warum werden diese Berufszweige so schlecht bezahlt? ({7}) Ich frage die Gewerkschaften, ob der tarifliche Stundenlohn von 4,71 Euro brutto für eine ausgebildete Friseurin in Sachsen oder 6,63 Euro im Hotel- und Gaststättengewerbe in Hessen angemessen ist. ({8}) - Die Tarifautonomie steht im Grundgesetz, und das ist wohl auch für Sie immer noch die Grundlage aller Politik. Liebe Tarifpartner, kommen Sie endlich Ihrer Pflicht nach! Anständige Löhne auszuhandeln, ist Ihre Sache und nicht unsere. Dafür sind Sie verantwortlich. ({9}) Den Unternehmen sei gesagt: Sie wollen keinen Zwang, keine weiteren gesetzlichen Regelungen. Dann verpflichten Sie sich doch bitte tatsächlich einmal selbst! Wir helfen Ihnen dabei, zum Beispiel mit dem Computerprogramm Logib-D. ({10}) Mit dieser kostenlosen Software können die Unternehmen aktiv die Ursachen erkennen, die zu unterschiedlicher Entlohnung führen, und sie können sie dann abschaffen. Meine lieben Unternehmer, gleicher Lohn für gleiche Arbeit fördert die Motivation. Das macht sich letztend11660 lich auch in der Bilanz bemerkbar, und es ist eine Imageförderung auch für das Unternehmen. Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der SPD sagen. Erst einmal möchte ich daran erinnern, dass in der hier schon oft zitierten Vereinbarung, die 2001 zwischen Kanzler Schröder und der Wirtschaft geschlossen wurde, das Thema Entgeltgleichheit - man höre: das Thema Entgeltgleichheit - als eine von vier Zielgrößen verankert wurde. Aber auch hier, wie bei der Quote: Nichts als weiße Salbe!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Pawelski, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach zulassen? - Anscheinend ja. Bitte schön.

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Sie sprachen gerade die Vereinbarung an, die seinerzeit unter Kanzler Schröder geschlossen wurde. Können Sie mir und den Kolleginnen und Kollegen vielleicht noch einmal sagen, wo da der Kollege Gabriel stand? ({0}) Er hat gerade sehr emotional reagiert und deutlich gemacht, wie er sich des Themas angenommen hat, vor allem in der Zeit danach, als er im Bundestag war. Wie ernsthaft und ehrlich waren seine Worte in der Rede gerade, wenn er es als Chef der SPD nicht schafft, seiner Generalsekretärin beim Eintritt in den Mutterschutz die Angst davor zu nehmen, nicht zurück in ihren Job zu kommen? ({1}) Wäre das nicht auch eine Form von Unterstützung der Frauen? Er war gerade der große Frauenversteher. Wie bewerten Sie das?

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der Tat, mich hat schon sehr gewundert, dass die Generalsekretärin einer großen Volkspartei in den letzten Schwangerschaftsmonaten Angst davor haben musste, dass andere ihr den Job wegnehmen. ({0}) Das war ein verdammt schlechtes Beispiel oder gibt einen tiefen Einblick in die Frage, wie es in der SPD wirklich zugeht. Wenn das die Personalpolitik der SPD ist, dann muss ich sagen: Sigmar, schämt euch, das war nicht in Ordnung! ({1}) Wo war Sigmar Gabriel 2001? Ich weiß es nicht mehr. War er Fraktionsvorsitzender? Oder war er schon Ministerpräsident? Das wechselte damals in Niedersachsen bei der SPD sehr häufig. Da gab es einen größeren Verschleiß. Zumindest hätte er das Thema über den Bundesrat einbringen können. Das ist nicht passiert. Wie ging es mit dem Thema weiter? Hier wurde viel davon geredet, dass das Ganze asozial sei und dass man sich vor der Verantwortung drücke. Herr Gabriel hat noch einmal auf das Grundgesetz hingewiesen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

„Herr Gabriel“ ist ein gutes Stichwort. Der möchte Ihnen nämlich gern eine Zwischenfrage stellen.

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen nicht an frühere Diskussionen im Landtag anknüpfen; lassen wir das lieber. ({0}) - Nein, Angst habe ich nicht. Es gab während der Regierungszeit Schröder keinen Antrag von der Fraktion oder von den Frauen. Man hat sich auch da - wie bei der Quote - in den Senkel stellen lassen und schön die Klappe gehalten. Ich habe hier eine Pressemitteilung vom 16. Februar 2005. Da wird Christel Humme, SPD-Abgeordnete und schon damals, vermute ich einmal, frauenpolitische Sprecherin, mit dem Satz zitiert - 2005! -: Wir setzen darauf, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer stärker mit dem Thema auseinander setzen … ({1}) Schon bisher hätten Frauen gegen Diskriminierung beim Gehalt klagen können, … Das war 2005, aber die Zahlen waren schon im Jahr 2005 genauso wie heute. Hier gibt es kaum einen Unterschied. ({2}) Mit anderen Worten: Die SPD wird immer dann mutig, wenn sie in der Opposition ist. Ihr seid eine tolle Oppositionspartei, bleibt da, wo ihr seid. ({3}) - Entschuldigung, Sie haben den Mund ganz schön voll genommen. Die Wahlergebnisse sehen bei Ihnen wesentlich schlechter aus als bei uns. Man sollte sich ein bisschen in Bescheidenheit üben. ({4}) Jetzt komme ich noch einmal zu dem Antrag. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sorgfältig zu recherchieren. Ich helfe kurz nach: Der Grundsatz des gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit bzw. bei gleichwertiger Arbeit ist nicht mehr in Art. 141 des EG-Vertrags verankert, wie es in dem Antrag steht; denn den gibt es seit dem 1. Dezember 2009 nicht mehr. Seitdem gibt es nämlich den Vertrag von Lissabon. Sie meinen wohl Art. 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Da ist dies jetzt enthalten. Der Antrag muss also sowieso noch einmal umgeschrieben werden. Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag darüber, „dass es der Respekt vor der Tarifautonomie gebietet, die gesetzlichen Eingriffe des Staates so gering wie möglich zu halten“. Trotzdem fordern Sie - das ist mir überhaupt nicht klar und ist für mich auch nicht nachvollziehbar -, dass zivilgesellschaftliche Akteure von außerhalb der Betriebe, also außerhalb der Betriebsräte, auf die wir großen Wert legen, mit Einflussmöglichkeiten ausgestattet werden, um staatliches Eingreifen auf ein Minimum zu reduzieren. Was das außerhalb der Betriebsräte soll, ist mir ein Rätsel. Sie wollen eine behördliche Stelle, die Entgeltberichte von Unternehmen entgegennimmt und auswertet. Wollen Sie eine neue Behörde? Wollen Sie mehr Bürokratie und mehr Aufgaben? Ist es das, was Sie wollen? Nein, wir wollen das nicht. Sie fordern wieder einmal das Verbandsklagerecht und den gesetzlichen Mindestlohn. ({5}) Auch hier grüßt täglich das Murmeltier.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Pawelski, das Murmeltier hält jetzt auch Ihre Zeit an. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Frau Präsidentin. Ich denke, es ist wichtig, dass sich hier etwas entwickelt. Dass sich etwas entwickelt hat, zeigt übrigens der Staat - es gibt hier ausnahmsweise einmal ein Lob an den Staat -: Im öffentlichen Dienst ist der Lohnunterschied auf unter 8 Prozent zurückgegangen. Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiges Thema. Ich glaube, das weiß jeder von uns. ({0}) Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Murmeltierschleife entzerrt und dass wir auch für Frauen anständige Löhne haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir machen das, aber Sie müssen erst einmal Ihren Antrag überarbeiten. Da stehen Forderungen drin, die mit uns so nicht zu machen sind. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Nächste ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist eine Selbstverständlichkeit, und Frauen arbeiten natürlich in allen Branchen. Dass beispielsweise Pilotinnen sich nicht mehr lange so kluge Männersprüche anhören müssen wie: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen fliegen, dann wäre der Himmel rosa geworden“, dafür werden wir auch noch sorgen. ({0}) Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ ist gesetzlich festgeschrieben. Grundsätzlich ist das ja auch gesellschaftlicher Konsens; aber leider sieht die Realität anders aus. Die Erklärungen für die ungleiche Entlohnung von Frauen sind natürlich vielfältig - wir haben ja auch heute schon viele gehört -, wie zum Beispiel unterschiedliche berufliche Präferenzen oder berufliche Unterbrechungen wegen Kindererziehung. Das sind aber nur Erklärungen. Eine zentrale Ursache ist die unterschiedliche und somit diskriminierende Behandlung von Frauen im Berufsleben. Wir sehen es also genauso wie die SPD: Das Verbot der Entgeltdiskriminierung ist vorhanden, was fehlt, ist ein Verfahren, wie die Entgeltgleichheit durchgesetzt werden kann, und vor allem der politische Wille, etwas zu verändern. ({1}) Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung bringen keinen Erfolg, liebe FDP. Wir wollen zwar die Betriebsräte und Personalräte stärken, aber auch in die Pflicht nehmen; denn sie haben eine wichtige Schlüsselrolle inne. Vor allem aber brauchen wir gesetzliche Regelungen, damit endlich Schluss ist mit der Lohndiskriminierung von Frauen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, warum verdienen Teilzeitbeschäftigte weniger als ihre Kollegen in Vollzeit? Natürlich deswegen, weil dort häufig Frauen arbeiten. Bei wem fransen die Löhne im Niedriglohnbereich besonders nach unten aus? Natürlich bei den Frauen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, Sie wollen die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen abschaffen. Dann tun Sie doch etwas. ({2}) Machen Sie endlich den Weg frei für einen gesetzlichen Mindestlohn, für mehr branchenspezifische Mindestlöhne, für mehr allgemeinverbindlich erklärte Tariflöhne, und reformieren Sie insbesondere die Minijobs! ({3}) Das fordert auch der Gleichstellungsbericht „Neue Wege - Gleiche Chancen“. Auch wenn die Ministerin das Gutachten nicht persönlich entgegengenommen hat: Lesen sollte sie die Handlungsempfehlungen schon, und vor allem sollte sie endlich tätig werden. ({4}) Die mittelbare Diskriminierung von Frauen ist kein einfaches Thema. Aber genau das geht die SPD zu Recht an. Auch wir Grünen arbeiten an einem Konzept. Es geht um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und um die Kriterien, wie Arbeit bewertet wird. Fakt ist, dass hinter vermeintlich geschlechtsneutralen Formulierungen viel zu häufig Kriterien stehen, die eindeutig zu Einkommensunterschieden und somit zu Benachteiligungen von Frauen führen. So wird beispielsweise bei frauendominierten Tätigkeiten die Anforderung „soziale Kompetenz“ nicht bewertet, in klassischen Männerberufen, zum Beispiel auf dem Bau, wird aber die notwendige Muskelkraft besonders hoch bewertet, hingegen werden die körperlichen und psychischen Belastungen der Pflege wiederum ignoriert. ({5}) Hier finden wir unsere Geschlechterrollen wieder, die direkt und indirekt in die Bewertung von Arbeit auf betrieblicher Ebene und ebenso in Tarifverträgen einfließen. Die schlecht bezahlten Berufe sind eindeutig noch immer Frauensache. Das muss endlich durch eine geschlechtsneutrale Arbeitsbewertung verändert werden. ({6}) Warum bekommen Männer, die Baumaterial tragen, mehr Lohn als Erzieherinnen, die quirlige Kinder tragen? Warum verdienen in Bayern Kraftfahrer, die Bier fahren, um die 2 600 Euro, Kellnerinnen aber, die Bier schleppen, nur 1 900 Euro? Warum werden Hochschulsekretärinnen, obwohl von ihnen häufig die Kenntnis von zwei Fremdsprachen verlangt wird, wie Schreibkräfte eingestuft? Ich frage also die Ministerin, die ja leider heute nicht da ist, wie sie den jungen Frauen erklären möchte, dass sie sich zwar um die Jungs in der Gesellschaft kümmern möchte, dass sie allerdings nichts, aber auch gar nichts macht, um diese Einkommenslücke zu verkleinern. Stattdessen schiebt sie sogar den Frauen selbst die Schuld in die Schuhe, dass sie so wenig verdienen. Ich zitiere aus dem Spiegel-Interview vom 8. November 2010: Viele Frauen studieren gern Germanistik und Geisteswissenschaften, Männer dagegen Elektrotechnik - und das hat dann eben auch Konsequenzen beim Gehalt. So einfach ist das für die Ministerin. ({7}) Das ist aber blanker Hohn in den Ohren vieler gut ausgebildeter und motivierter Frauen. Nicht die Frauen entscheiden sich für die falschen Berufe, vielmehr muss der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ durchgesetzt werden, ({8}) damit die sogenannten Frauenberufe endlich aufgewertet werden. So wird ein Schuh daraus, Frau Ministerin; denn Frauen verdienen mehr. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Claudia Bögel hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Antragsteller der SPD! ({0}) Ja, es stimmt: Der Grundsatz des gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit für Frauen und Männer ist seit 1957 in der Europäischen Union verankert. Meine Fraktion würde dieser Tatsache nie widersprechen. Unser Gesellschaftssystem steht hinter dieser Forderung, und sie ist Gesetz. Ihr Antrag lässt zwischen den Zeilen vermuten, dass in Deutschland geltendes Recht verletzt wird. Das stimmt aber nicht. ({1}) So erkennt der werte Leser Ihres Manuskripts sehr schnell, worum es geht. Sie möchten nämlich durch die Hintertür einen flächendeckenden Mindestlohn ins Spiel bringen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Tarifautonomie bekannt. Sie ist ein hohes Gut und ein unverzichtbarer Ordnungsrahmen. ({2}) Wir werden davon nicht abrücken. Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist mit uns nicht zu machen. ({3}) Zurück zum vermeintlich eigentlichen Thema Ihres Antrags: die Entgeltgleichheit. Frauen arbeiten häufiger in Bereichen, in denen das Entgeltniveau niedriger ist. ({4}) Wir haben es heute schon häufiger gehört. Selbst bei gleicher Qualifikation - so ist es halt im Moment noch ({5}) verdienen Frauen durchschnittlich 8 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen; das ist richtig. Aber man muss sagen: Frauen arbeiten häufiger in Bereichen, in denen das Entgeltniveau niedriger ist. ({6}) Man muss immer wieder feststellen, dass typische Frauenberufe schlechter bewertet und bezahlt werden. ({7}) Ich möchte hier alle Frauen aufrufen: Zeigen Sie mehr Selbstbewusstsein! ({8}) Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel! Verhandeln Sie geschickt, damit Sie für gleiche Arbeit auch gleichen Lohn erhalten! ({9}) Seien Sie nicht mit niedrigen Löhnen einverstanden, und orientieren Sie sich nicht an niedrigen Löhnen! ({10}) Gute Verdienstmöglichkeiten zeigen sich in den naturwissenschaftlich-technischen Bereichen. Genau das ist der Punkt. Schule, Wirtschaft und Verbände müssen für jungen Frauen Anreize schaffen, Berufe wie beispielsweise den des Ingenieurs zu erlernen. Gefordert sind hier vor allem die Unternehmen dieser Bereiche. Es ist an ihnen, ihre Vorzüge und Chancen richtig zu vermitteln und im wahrsten Sinne des Wortes an die Frau zu bringen. Im Hinblick auf den demografischen Wandel geht es dabei nicht um Sympathiepunkte. Hier zählen knallharte ökonomische Gründe. Die Wirtschaft muss durch flexible Arbeitszeitmodelle und Möglichkeiten der betrieblichen Kinderbetreuung ihren Beitrag dazu leisten, damit Beruf und Familie zu vereinbaren sind. Dies wird zu einem echten Faktor im Wettbewerb, dem sich die Unternehmen in Deutschland stellen müssen - aber freiwillig. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was Sie fordern, ist nichts weiter als die Schaffung einer neuen bürokratischen Hürde. ({12}) Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren: … die Unternehmen werden aufgefordert, einer behördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in Form eines betrieblichen Entgeltberichts … vorzulegen … Na bravo! ({13}) Sie fordern eine detaillierte expertengestützte Prüfung mittels eines Lohnmessverfahrens. Sie wollen außerdem eine Prüfung auf Verdachtsmomente. ({14}) Allein das Wort „Verdacht“ sagt alles. Dies wäre ein weiteres bürokratisches Monster. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen würden darunter leiden. ({15}) Zu unrühmlicher Popularität in 2011 könnte Ihre Wortkreation „Entgeltgleichheitskommission“ kommen. Sie hätte große Chancen, zum Unwort des Jahres 2011 gekürt zu werden. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sofort fertig. - Was sich aber dahinter verbirgt, ist nur wieder eine weitere Kontrollstelle, die die Unternehmen Unmengen an Geld kostet, frei nach dem Motto „Kontrollieren und Abkassieren“. Das machen wir nicht mit. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christel Humme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau Pawelski, in den letzten Jahren haben wir leider feststellen müssen, dass die Lohnlücke in Deutschland größer geworden ist, dass sie in Westdeutschland sogar auf 25 Prozent angewachsen ist. Ich gebe zu: Auch ich habe einmal geglaubt - so auch im Jahre 2001 -, wir könnten mit den Unternehmen eine freiwillige Vereinbarung für mehr Lohngleichheit schließen. Sie können auch gerne meine Äußerungen aus dem Jahr 2005 zitieren. Ich war immer davon überzeugt: Ja, wenn wir mit denen eine Vereinbarung treffen, dann bewegen die sich. - Aber genau das Gegenteil ist eingetreten. Von daher bin ich froh, dass wir jetzt den Beweis dafür haben, dass Freiwilligkeit eigentlich nichts bringt. Wir brauchen ein Gesetz. ({0}) Frau Pawelski, Sie haben gesagt, Entgeltgleichheit ja; das Murmeltier, das Sie jeden Tag grüßt, seien Sie schon leid. Erschlagen wir es doch endlich. Sie haben gesagt, Sie machen das. ({1}) Aber ich bezweifle, dass Sie wirklich einen Gestaltungswillen haben. Ich bezweifle das allen Ernstes; denn wer zulässt, dass Frauen mit Niedriglöhnen abgespeist werden, und noch nicht einmal einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hinbekommt, dem fehlt doch jeder Mut für weitere Regelungen und Veränderungen in dieser Gesellschaft. ({2}) Wir wollen uns mit den Ungerechtigkeiten, die es gibt, nicht mehr abfinden. Sie haben in epischer Breite in verschiedenen Reden immer wieder erklärt, warum es diese Ungerechtigkeiten geben müsse. Sie haben dabei auch die Teilzeitarbeit angeführt. Sagen Sie einmal: Finden Sie es wirklich gerecht, wenn der Unterschied beim Stundenlohn von Frauen und Männern in Teilzeitarbeit knapp 4,40 Euro beträgt? ({3}) Das hat mit Teilzeit und Vollzeit gar nichts zu tun, sondern das ist echte Diskriminierung von Frauen. Finden Sie es gerecht, dass eine Buchhalterin durchschnittlich 816 Euro weniger verdient als ein Buchhalter? ({4}) Und - was viel schlimmer ist -: Finden Sie es gerecht, dass Frauen im Laufe ihres Lebens 58 Prozent weniger Einkommen haben als Männer und dass die Frauen es sind, die das Armutsrisiko im Alter tragen? Finden Sie das wirklich gerecht? ({5}) - Sie sagen Nein, aber Sie sagen nicht, was Sie dagegen tun wollen. ({6}) Wenn ich mir anschaue, was die Frauenministerin anbietet, dann stelle ich fest: Sie hat tatsächlich 4,5 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. 4,5 Millionen Euro - wofür? Für eine Homepage, von der man sich freiwillig ein Lohnmessverfahren herunterladen kann, das man freiwillig anwenden kann, und für ein Programm für den ländlichen Raum, das vielleicht gar nicht so schlecht ist; denn da sind die Lohnunterschiede in der Tat größer. Aber warum hat sie ein solches Programm nicht auch für andere Branchen aufgelegt, in denen die Lohnunterschiede größer als 23 Prozent sind? Schauen Sie sich die gesamte Kreativwirtschaft an. Da gibt es Lohnunterschiede von bis zu 38 Prozent. Ich denke, das können wir letztlich nicht zulassen. Wir können auch nicht zulassen, dass die Frauenministerin sagt, sie möchte in den nächsten zehn Jahren - man höre genau zu: in den nächsten zehn Jahren - die Lohnlücke von 23 Prozent auf 10 Prozent senken. Die freiwillige Vereinbarung ist zehn Jahre alt. Wir haben gerade gehört, wozu sie geführt hat. ({7}) Ich glaube, wenn wir solch ein zögerliches Ziel formulieren, Absenkung der Lohnlücke, dann kann daraus nichts werden. Wir wollen die Abschaffung der Lohnlücke und gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. ({8}) Mit der Unverbindlichkeit, die Sie da an den Tag legen, schaffen Sie es noch nicht einmal, die Lohnlücke in den nächsten 100 Jahren um 1 Prozent zu senken. Frau Schön, Sie haben von der Staatsgläubigkeit der SPD gesprochen. Das ist ja immer schnell ein Argument gegen uns Sozialdemokraten: Sie wollen mehr Staat, und damit ist das alles schlecht. - Gleichzeitig sprechen Sie von Bürokratieaufbau. Ich wundere mich immer, gerade was die FDP angeht. Ich möchte Sie an Ihre Gesundheitsreform erinnern, an das Bürokratiemonster, was den Sozialausgleich und die Berechnung der Zusatzbeiträge betrifft. ({9}) Da haben Sie alle zugestimmt. Wenn es um die Gleichstellung von Frauen und Männern geht, dann bemühen Sie das Argument der Bürokratie. Ich verstehe das nicht mehr. ({10}) Frau Schön, noch einmal ein Hinweis zur Staatsgläubigkeit: Lesen Sie unseren Antrag sehr genau. Dann werden Sie feststellen, dass wir eine Vorstellung haben von einem Gesetz, das nicht den Staat in den VorderChristel Humme grund stellt, sondern die Akteure selbst, sprich: die Unternehmen und Tarifvertragsparteien. Wir wollen, dass mehr Transparenz herrscht. Wie kann denn eine Frau etwas ändern wollen, wenn sie noch nicht einmal weiß, wie die Bezahlung und die Entgeltstruktur ist? Und wie kann man das beseitigen? Man kann das doch nur über Mitbestimmung, über die Beteiligung von Betriebsrat, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen machen. Anders wird es nicht gehen. Das hat doch mit Bürokratie und Staatsgläubigkeit nichts zu tun. Wenn auf diesem Gebiet nichts passiert, wenn dieser Prozess nicht stattfindet, dann müssen die Frauen ein Recht haben, zu klagen, und zwar als Verbandsklage, nicht als Individualklage.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Denn das würde sie vielleicht den Arbeitsplatz kosten. Ich denke, wir legen Ihnen ein Gesetz vor, mit dem wir, Frau Pawelski, vielleicht das Murmeltier erschlagen bekommen. ({0}) Danke schön. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass ich der letzte Redner bin, hat nichts mit der Diskriminierung der Männer zu tun, sondern bedeutet die besondere Ehre, diese Debatte abschließen zu dürfen. Ich bedauere allerdings, dass Herr Beck nicht mehr da ist, der es für notwendig hielt, die Frau Ministerin herbeizuzitieren. Unmittelbar nach dem Hammelsprung ist er offenbar gegangen. So wichtig kann es ihm also nicht gewesen sein. ({0}) Auch Herr Gabriel fehlt. Hieran kann man eine Gewichtung erkennen. Da meine Redezeit um zwei Minuten gekürzt worden ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, den ich jetzt anführe: Ich glaube, dass ein wesentlicher Anteil daran, dass wir einen Unterschied von 23 Prozent zwischen dem durchschnittlichen Erwerbseinkommen der Frau und dem des Mannes haben, in der Tatsache begründet ist, dass die Frauen, wenn sie Kinder bekommen, in die Familienphase gehen und dass sie in dieser Familienphase einen Erwerbsnachteil erleiden. ({1}) Gleichzeitig nehmen sie in Kauf, dass ihr berufliches Fortkommen nicht mehr wettgemacht werden kann. Das halte ich im Grunde für einen Skandal; denn das darf doch wohl nicht sein. Eine Frau, die daheim bleibt, um ihre Kinder zu erziehen, erbringt eine große Leistung, nicht nur für die eigene Familie, sondern für die gesamte Gesellschaft. Trotzdem wird sie benachteiligt. Die Leistung der Mutter wird von unserer Gesellschaft nicht gebührend anerkannt. ({2}) - Wissen Sie, das ist mir einfach zu billig. Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist ein dummer Spruch. Dümmer kann man es nicht mehr machen, tut mir leid. ({3}) Das ist nämlich ein Allerweltsurteil, ein Totschlagargument. Damit wollen Sie Vorteile erzielen. Das können Sie aber nicht, weil die Menschen die Dummheit dieses Arguments erkennen. Sie haben noch nicht begriffen, dass eine Frau, die daheim bleibt und Kinder erzieht, eine große Leistung nicht nur für die Familie, sondern für die Gesellschaft erzielt, ({4}) weil die Gesellschaft einen großen Nutzen daraus zieht. Die Gesellschaft hat einen großen Nutzen davon, dass die Frau die Kinder daheim erzieht. Sie muss sich zum einen nicht um die Kinderbetreuung kümmern, es kostet weniger Geld, und zum anderen dürfen wir davon ausgehen - ({5}) - Lassen Sie mich doch einmal in Ruhe ausreden. Sie lassen mir ja gar keinen Platz für meine Darlegungen. Ich wollte eigentlich am Ende dieser Debatte gar nicht mehr zu einem solch lauten Disput aufrufen. Es muss doch möglich sein, sich dieses Argument einmal anzuhören. Ich glaube wirklich, dass die Leistung der Mutter von unserer gesamten Gesellschaft - nicht nur von einer Partei - nicht richtig gewürdigt wird. In Wirklichkeit ist es nämlich eine große Leistung. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Nachteile ausgleichen können, die die Frau hat, die in die Familienphase geht und dadurch Nachteile im Erwerbseinkommen und auch im Beruf hat. ({6}) In diesem Zusammenhang ist das Elterngeld sicherlich eine große Hilfe. Wenn eine Frau aber länger in der Familienphase bleibt und während dieser Familienphase ein zweites Kind bekommt, dann bezieht sie Elterngeld auf dem Niveau der untersten Stufe, dann bekommt sie, um in Ihrem „Wortgehege“ zu bleiben, einen Mindestlohn von 300 Euro. Das ist zu wenig. Trotzdem haben Sie sich dagegen gesperrt, dass die Frau das bekommt. Das finde ich schon sehr bemerkenswert. Dieser Ausgleich für die Familienphase erscheint mir zu gering. Außerdem möchte ich betonen, dass beim Wiedereinstieg nach der Familienphase viel zu hohe Hürden zu überwinden sind. Die Kita ist in diesem Zusammenhang sicher eine gute Einrichtung. Die Frau kann das Kind, wenn es ein Jahr alt ist, in die Kita geben und kann ihrem Beruf nachgehen. ({7}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. Wir haben es aber noch nicht geschafft, dass Beruf und Familie in Deutschland besser vereinbart werden können, was in anderen Ländern der Fall ist. ({8}) Ein Grund dafür ist, dass wir eine im internationalen Vergleich niedrige Geburtenrate haben. Da nehme ich durchaus Ihren Vorwurf auf: Ich bin der Meinung, dass die Frau, die einen Beruf erlernt hat, das gute Recht haben muss, ihrem Beruf mit Familie nachzugehen. ({9}) Ich bin auch der Meinung, dass sich die Männer dann partnerschaftlich verhalten müssen, was in einer guten Ehe sicherlich der Fall ist. ({10}) Sie müssen ihren Anteil dazu beitragen, dass Beruf und Familie auch für die Frau möglich sind. Das kann nicht nur für den Mann gelten, sondern muss auch für die Frau gelten. ({11}) Viele Frauen, die Kinder haben, arbeiten nicht Vollzeit, weil sie Angst haben, dann keine Zeit mehr für die Kinder zu haben. Das behindert den Wiedereinstieg. Das kann es nicht sein. Meiner Meinung nach müssen wir uns hierzu einiges einfallen lassen. Es muss möglich sein, dass die Frau trotz Beruf genug Zeit hat, sich ihren Kindern zu widmen. ({12}) In diesem Zusammenhang müssen wir uns überlegen - darauf kommt es an, auch wenn Ihnen das nicht gefallen mag -, ob die haushaltsnahen Dienstleistungen nicht in größerem Maße absetzbar sein sollten. Warum soll eine Familie nicht einem kleinen Betrieb gleichgestellt werden? Der Betrieb kann die Kosten absetzen, die Familie aber nicht. Ich meine, dass dazu eine steuerrechtliche Regelung gefunden werden muss. ({13}) Wenn Frauen in den Beruf zurückkehren - auch das ist zu sagen -, werden sie oft schlecht behandelt, weil man ihnen vorwirft, dass sie nicht mehr das gleiche Wissen wie ihre Kolleginnen und Kollegen haben, die nicht in der Familienphase waren. Das kann es aber nicht sein. ({14}) Ich meine, an dieser Stelle muss man ein Benachteiligungsverbot vorsehen. ({15}) Wir haben ein solches Benachteiligungsverbot zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetz. Die Betriebsräte dürfen, wenn sie in ihren normalen Beruf zurückkehren, nicht benachteiligt werden. Das steht in § 78 des Betriebsverfassungsgesetzes. Eine ähnliche Regelung könnte ich mir für die Mütter vorstellen. ({16}) Darüber sollte man nachdenken. Danke schön. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5038 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis f so- wie Zusatzpunkt 3 auf: 31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Austauschs von strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Europäischen Union und zur Änderung registerrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/5224 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz ({1}) - Drucksache 17/5261 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern - Drucksache 17/5262 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Verteidigungsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 11. Oktober 1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur - Drucksache 17/5263 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 17/5264 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung gewerberechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/5312 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Netzneutralität im Internet gewährleisten Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln - Drucksache 17/5367 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis h auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 32 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10 - Drucksache 17/5398 Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder ({8}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5398, in den Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten, die übrigen Fraktionen haben zugestimmt. Tagesordnungspunkte 32 b bis 32 h. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 32 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 242 zu Petitionen - Drucksache 17/5211 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 243 zu Petitionen - Drucksache 17/5212 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch SPD und Koalition. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 32 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 244 zu Petitionen - Drucksache 17/5213 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 32 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 245 zu Petitionen - Drucksache 17/5214 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen und SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Die Sammelübersicht ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 246 zu Petitionen - Drucksache 17/5215 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke und die Koalitionsfraktionen haben dafür gestimmt, dagegen Bündnis 90/ Die Grünen und SPD. Die Sammelübersicht ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 247 zu Petitionen - Drucksache 17/5216 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke dagegen. Es gab keine Enthaltung. Die Sammelübersicht ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 248 zu Petitionen - Drucksache 17/5217 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Koalitionsfraktionen haben dafür gestimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen. Die Sammelübersicht ist angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({6}) zu der Unterrichtung durch die Deutsche Welle Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2010 bis 2013 - Drucksachen 17/1289, 17/1485 Nr. 3, 17/5260 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Ulla Schmidt ({7}) Kathrin Senger-Schäfer Zwischen den Fraktionen ist verabredet, dass hierzu eine Dreiviertelstunde debattiert wird. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Herrn Staatsminister Bernd Neumann für die Bundesregierung. ({8})

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutsche Welle, unser Auslandsrundfunk, ist die mediale Visitenkarte Deutschlands in der Welt. Sie vermittelt das Bild unseres Landes weltweit. Dazu gehört die Darstellung deutscher Sichtweisen und Interessen sowie besonderer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Umweltschutz. Die Pflege und Förderung der deutschen Sprache bleibt ein wichtiges Ziel. Wenn man weiß, dass ARD und ZDF für ihre Programme jährlich etwa 8,3 Milliarden Euro zur Verfügung haben, ({0}) die Deutsche Welle dagegen mit 283 Millionen Euro im Jahr auskommen muss und damit Hörfunkprogramme in 30 verschiedenen Sprachen, ein 24-stündiges Fernsehprogramm, ein attraktives Internetangebot und eine Ausbildungsakademie verantwortet, dann ist die Leistung der Deutschen Welle gar nicht hoch genug zu bewerten. ({1}) Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle und auch dem Intendanten Bettermann, der heute anwesend ist, einen herzlichen Dank sagen. ({2}) Aufgrund der rasanten technischen Entwicklung gibt es einschneidende Veränderungen in der Mediennutzung. Damit der deutsche Auslandssender auch in Zukunft seinem Auftrag gerecht werden kann, ist eine strukturelle Neupositionierung der Deutschen Welle unabdingbar. Dabei muss die Deutsche Welle in Zukunft auf eine Stärkung des Internetangebots sowie auf regionale fremdsprachige TV- und Audioangebote setzen. Eine Reform der Angebots- und Verbreitungsstrategie der Deutschen Welle ist geboten. Der Sender wird dabei immer wieder prüfen müssen, auf welchem Übertragungsweg und mit welcher Sprache ein relevantes Publikum gefunden werden kann; denn auf das kommt es ja an. Die lineare Radioausstrahlung über Kurzwelle wird mit Ausnahme weniger Regionen wahrscheinlich zu beenden sein. Die von der Deutschen Welle vorgelegte Aufgabenplanung, über die wir jetzt diskutieren, trägt diesen notwendigen Veränderungen in vollem Umfang Rechnung. Deswegen hat die Bundesregierung ihr auch zugestimmt. Durch die Neupositionierung der Deutschen Welle entstehen Synergieeffekte, die sich auch finanziell auswirken. Wir werden etwaige frei werdende Mittel aber nicht einsparen, sondern im Haushalt der Deutschen Welle belassen, um dem Sender auch auf diese Weise zusätzliche Maßnahmen im Hinblick auf Programminnovationen und die Verstärkung der medialen Präsenz Deutschlands in der Welt zu ermöglichen. ({3}) Zur Verbesserung des Angebots der Deutschen Welle können - so steht es im Übrigen auch in der Koalitionsvereinbarung - öffentlich-rechtliche und private Medienunternehmen einen Beitrag leisten. Die Bundesregierung sieht es deshalb als ein sehr wichtiges Ziel an, die Kooperation der Deutschen Welle mit ARD, ZDF und Deutschlandradio entscheidend zu verstärken. ({4}) Hierin liegt auch ein Schlüssel für eine mögliche Qualitätsverbesserung bei vertretbaren Kosten. ({5}) Dabei könnte zum Beispiel an das Modell German TV, das, soweit es die Programmbeschaffung und die Planung anbelangte, durchaus erfolgreich war, angeknüpft werden. ({6}) Denkbar ist, wie bei German TV ein von ARD, ZDF und Deutscher Welle besetztes Gremium zu schaffen, das über die Zulieferung von Programmmaterial und den gemeinsamen Rechteerwerb sowie die Übernahme von ständigen Formaten berät und dies in Abstimmung mit den beteiligten Intendanten auch beschließt. Dabei ist die politische Unterstützung durch die Länder wichtig und unverzichtbar; sie sind in diesem Bereich auch zuständig. Ich habe deshalb Kontakt mit dem Vorsitzenden der Rundfunkkommission der Länder - konkret: mit Staatssekretär Stadelmaier - aufgenommen, um diese Thematik alsbald gemeinsam erörtern zu können. Erfreulich ist: Es wurde die Bereitschaft zugesagt, dazu beizutragen, zu besseren Ergebnissen zu kommen. ({7}) Meine Damen und Herren, ich komme zum letzten Punkt. In meiner bisherigen, mehr als fünfjährigen Amtszeit konnte sich die Deutsche Welle auf konstante finanzielle Rahmenbedingungen verlassen. Ich habe die drastischen jährlichen Kürzungen der damaligen rot-grünen Bundesregierung sofort beendet. ({8}) Das haben wir zusammen in der Großen Koalition gemacht. ({9}) Wir haben Sie, Frau Kollegin Schmidt, auf den Weg der Besserung geführt. ({10}) Dies soll auch in Zukunft nicht anders sein. Trotz der drastischen Sparmaßnahmen im gesamten Bundeshaushalt im Umfang von 80 Milliarden Euro in der mittelfristigen Finanzplanung bis 2014 habe ich für meinen Bereich entschieden, die Größenordnung des Haushaltes der Deutschen Welle im Wesentlichen beizubehalten, obwohl er mehr als ein Viertel meines Etats ausmacht. ({11}) Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt zum Beispiel ein Blick nach Großbritannien, wo wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise Kürzungen beim Auslandssender in der Größenordnung von 20 Prozent geplant sind. Wir stehen zu unserem Ziel, die mediale Präsenz Deutschlands in der Welt durch die Deutsche Welle zu erhalten und möglichst zu verbessern. Vielen Dank. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Als Nächste hat unsere Kollegin Ulla Schmidt von der Fraktion der Sozialdemokraten das Wort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Noch einmal herzlichen Glückwunsch von dieser Stelle aus, dass Sie jetzt unser neuer Präsident sind! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir erleben heute täglich: Nichts ist globaler als der Austausch von Informationen und Nachrichten. Weil das so ist, haben auch die Auslandsmedien eine ganz wichtige Aufgabe: als Botschafter, als Wertevermittler und als Informationsträger. Unsere Deutsche Welle spielt im großen globalen Wettbewerb mit. Die internationale Medienpolitik erfährt große Wertschätzung. Das sehen wir an der Zunahme der Zahl der Auslandssender. Ob der Iran, Russland, China, die USA oder eines von vielen weiteren Ländern: Heute versucht jeder, in dieser globalen Welt, in der Weltöffentlichkeit seinen Platz zu finden und für sein Land und seine Werte zu kämpfen, damit wir uns als Freunde in dieser Welt darstellen können. Hillary Clinton hat in ihrem Parlament engagiert für mehr Geld geworben und gesagt: Wenn wir nicht handeln und wieder versuchen, eine Rolle zu spielen, sind wir einem War of Information ausgesetzt. - Das hat nichts mit Krieg zu tun, sondern es geht einfach darum, im Kampf um die öffentliche Weltmeinung, im Kampf um Werte und um Demokratie seinen Einfluss geltend zu machen. Wenn man das so betrachtet, ist die Deutsche Welle für uns eine ganz wichtige Stimme in dieser Weltöffentlichkeit. Sie ist das Instrument in diesem Spektrum, das dazu beiträgt, dass wir ein wirklich positives Deutschlandbild fördern können. Dafür herzlichen Dank an die Deutsche Welle! ({1}) Die Stärkung dieses Instruments ist der Konsens unserer gemeinsamen Stellungnahme, und ich möchte mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Wir haben eben vom Staatsminister gehört, dass bei der Deutschen Welle ein enormer Reformprozess notwendig ist, um in diesem globalen Wettbewerb mithalten zu können. Es ist gut, wenn der Bundestag dahintersteht und klarmacht, dass wir auf diese für uns wichtige Stimme in der Außenpolitik auch zukünftig nicht verzichten wollen. Wenn wir unsere Beschlussempfehlung heute verabschiedet haben, sollten wir den Worten Taten folgen lassen. Herr Staatsminister, ich kann Ihnen sagen, dass Sie von unserer Seite die volle Unterstützung haben, wenn es darum geht, die Deutsche Welle zu stärken. Sie haben es gesagt: Sie ist unsere Visitenkarte in der Welt. Es ist eine Visitenkarte in doppelter Hinsicht. In den Ländern, in denen es Nutzer der Deutschen Welle gibt, ist das Bild von Deutschland positiver und differenzierter. Aber die Deutsche Welle hat auch eine andere Funktion. Sie ist Botschafterin gesellschaftlicher und kultureller Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit. ({2}) Derzeit wird uns durch die Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt ganz deutlich vor Augen geführt, wie enorm wichtig die Rolle einer vom Staat unabhängigen Öffentlichkeit für die Entwicklung dieser Gesellschaften ist. Smartphones, Twitter und Facebook, aber vor allem die mutigen Menschen in den arabischen Ländern tragen dazu bei, dass sich Freiheitsideen und Gedanken über Demokratie verbreiten können. Medien wie der Deutschen Welle kommt dabei eine ganz bedeutende und wichtige Funktion zu. Wir vergessen zu leicht, dass zwei Drittel der Menschen auf dieser Welt in Ländern leben, in denen es keine Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit gibt, wie sie für uns alltäglich sind. Diese Menschen brauchen Unterstützung, und wir haben im Ausschuss deutlich gemacht, dass wir sehr froh darüber sind, dass wir durch die Präsenz der Deutschen Welle in vielen Ländern, in denen es eine Pressezensur gibt, durch die Möglichkeit einer umfassenden und pluralistischen Berichterstattung und durch Initiativen wie den Weblog Award „The BOBs“ und besonders auch durch die Deutsche-Welle-Akademie mit dazu beitragen können, dass Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus gefördert werden. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem Intendanten Dank sagen, dass er gegen Zensur und gegen Einschränkungen der Pressefreiheit immer wieder das Wort ergriffen hat. Das halten wir für richtig, und deshalb vielen Dank dafür! ({3}) Ich begrüße es, dass wir uns in der Stellungnahme darauf einigen konnten, die Deutsche-Welle-Akademie weiter zu fördern und uns gemeinsam dafür einzusetzen, dass notwendige ODA-Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden; denn ihr Wirken ist auch ein wichtiger Beitrag zur auswärtigen Politik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Welle hat einen schwierigen Reformprozess hinter sich, und sie hat noch viele Herausforderungen vor sich. Es ist nicht einfach, Kostensteigerungen zu bewältigen, wenn der Haushalt nicht wächst. Wir alle wissen, dass durch Reformen, wie sie in der Deutschen Welle notwendig sind, auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen großen Veränderungsprozessen unterworfen werden. Das geschieht allein schon durch die Zusammenlegung von Online-, Fernseh- oder Radioredaktionen. Deshalb hat die Sozialdemokratie, auch unsere Fraktion, immer - auch in dieser gemeinsamen Stellungnahme - großen Wert darauf gelegt, dass diese Reform sozialverträglich und transparent gestaltet wird, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle in diesem Prozess als Partner auf Augenhöhe gesehen werden und agieren können, dass sie ausreichend informiert werden und dass es ausreichend Angebote zur Fort- und Weiterbildung gibt, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu befähigen, auch in anderen Feldern weiterarbeiten zu können; denn unser Ziel ist, dass betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden. Ulla Schmidt ({4}) Ich fordere auch von dieser Stelle aus den Intendanten und die Gremienmitglieder, von denen einige im Deutschen Bundestag sitzen, auf - ich sehe den Kollegen Fritz Rudolf Körper aus meiner Fraktion dort sitzen, der ein sehr engagierter Verfechter der Rechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist; herzlichen Dank dafür -, dass sie in diesem Prozess darauf achten, dass die notwendigen Veränderungsprozesse sozialverträglich gestaltet werden. Ich glaube, das sind wir, auch nach der gemeinsamen Stellungnahme, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Welle schuldig. An dieser Stelle danke ich der Deutschen Welle für ihr Engagement in der Hinsicht, dass die Reform bzw. Umgestaltung der Deutschen Welle zukunftsgerecht auf den Weg gebracht wird, um dem technologischen Wandel und dem veränderten Nutzerverhalten gerecht werden und auch im internationalen Wettbewerb um die Weltöffentlichkeit bestehen zu können. Ich nenne hier nur einige Stichworte: Zielgruppenausrichtung auf Informationssuchende und Multiplikatoren, mehrsprachige Programme, Ausbau der Multiplattformstrategie, trimediale Redaktionen. Ich glaube, das ist eine riesige Aufgabe, für die wir unseren Auslandssender stärken müssen. An dieser Stelle deshalb ein klares Wort: Für diese Aufgaben - Herr Staatsminister, Sie haben es angesprochen und Ihre Bereitschaft erklärt - braucht die Deutsche Welle eine sichere finanzielle Basis. Sonst kann sie in diesem Reformprozess nicht bestehen. ({5}) Herr Staatsminister, deshalb haben Sie unsere Unterstützung, wenn Sie nicht nur in Ihrem Haushalt, sondern auch gemeinsam mit den Ministern Westerwelle und Niebel dafür Sorge tragen, dass das notwendige Geld da ist ({6}) auch dann, wenn manche Reformen zunächst einmal mehr Geld kosten, als sie einsparen -, damit langfristig Synergieeffekte erzielt werden können. Das Geld dafür muss da sein, wenn sich die Deutsche Welle langfristig behaupten können soll. In der kommenden Zeit müssen die Koalitionsfraktionen ihren Worten deshalb auch Taten folgen lassen. Wir werden darauf bestehen, dass die Deutsche Welle nach dem Deutsche-Welle-Gesetz finanziert wird und dass die Forderung, mehr ODA-Mittel zur Verfügung zu stellen, umgesetzt wird. Dabei kann man die Verantwortung nicht auf einzelne Haushaltspolitiker schieben, sondern Sie müssen mit der Mehrheit, für die Sie sorgen müssen, entscheiden. Dabei haben Sie auf jeden Fall unsere Unterstützung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform und die entsprechende finanzielle Ausstattung sind ein Muss für die Deutsche Welle, damit sie den gesamtgesellschaftlichen Auftrag für Deutschland wahrnehmen und unsere gesellschaftlichen Werte vermitteln kann und damit sie möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt erreicht. Dabei ist es egal, ob sie Meinungsmacher, Multiplikatoren aus der Bildungselite erreichen will, ob sie Unternehmer erreichen will, die in Deutschland investieren, ob sie junge Menschen erreichen will, die sich für Deutschland interessieren und vielleicht zu uns kommen wollen, ob sie Touristen informieren oder mutige Freiheitskämpfer unterstützen will. Wir wollen, dass die Deutsche Welle auch weiterhin uneingeschränkt den von ihr eingeschlagenen Weg verfolgen und ihre Aufgabe der Unterstützung von Menschen, die für Freiheit kämpfen, gerade in den Transformationsstaaten, wahrnehmen kann. Deswegen sage ich der Deutschen Welle hier die uneingeschränkte Unterstützung durch die SPD-Fraktion zu. Ich bedanke mich. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. - Als Nächster steht unser Kollege Burkhardt Müller-Sönksen von der Fraktion der FDP auf der Rednerliste. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann! Sehr geehrter Herr Intendant Bettermann! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine russische Teilnehmerin des Internationalen Parlaments-Stipendiums erzählte mir, Herr Kollege Börnsen, neulich begeistert, wie sie die Programme der Deutschen Welle im Deutschunterricht ihrer Schule kennen- und schätzen gelernt hat. Inzwischen spricht sie die deutsche Sprache längst fließend und schätzt umso mehr die journalistischen Angebote der Deutschen Welle wie DW-TV und das Internetportal DW-World. Ihr Beispiel zeigt: Die Deutsche Welle wirkt, und sie lebt, und das seit über 50 Jahren. Die Deutsche Welle erreicht mit ihren verschiedenen Angeboten wöchentlich 86 Millionen Menschen - das ist mehr als die Einwohnerzahl Deutschlands - und gilt in Umfragen als vielfältig und glaubwürdig. Darauf können wir stolz sein. Mit ihrem Auftrag zur Wertevermittlung orientiert sie sich an unseren außenpolitischen Interessen und bewahrt gleichzeitig durch eine staatsferne Organisation ihre journalistische Glaubwürdigkeit. ({0}) Die Deutsche Welle ihrerseits hat mit ihrer Aufgabenplanung und den darüber hinausreichenden Konzepten auf die veränderte Medienlandschaft reagiert und wird sich zukünftig noch mehr auf ihre Kernkompetenz und ausgewählte Zielgruppen konzentrieren. Nach wie vor besteht ein großes Finanzierungsdefizit - das wollen wir nicht verheimlichen -, dem die Deutsche Welle mit Konsolidierungsmaßnahmen wirksam begegnet und begegnen wird. Da kaum weiterer Spielraum besteht, ist nunmehr eine umfassende Strukturreform erforderlich. Die von der Deutschen Welle vorgeschlagene Neuausrichtung ist zukunftsweisend und verdient unser aller Unterstützung und Respekt. ({1}) Sie wird nicht von uns aufgezwungen, sondern stammt aus dem eigenen Hause. Meine Bitte um Unterstützung richte ich an dieser Stelle aber auch an die Abgeordnetenkollegen in den Bundesländern, damit schnellstmöglich ein Modell für die lizenzkostenfreie Nutzung von Produktionen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entwickelt wird. ({2}) Hier werden der Deutschen Welle nach meiner Meinung völlig unnötig hohe Kosten aufgebürdet. ({3}) Der Weg, den die Deutsche Welle mit ihren Reformvorschlägen beschritten hat, ist noch lang und vor allem steinig. Damit der Umbau hin zu schlankeren und effektiveren Strukturen gelingt, müssen alle Bereiche einbezogen werden. Die erfolgreiche Programmarbeit beweist das Vertrauen zwischen der Senderführung - ich meine damit nicht nur die Intendanz, sondern alle Leitungsfunktionen - und den Mitarbeitern. Wir haben deswegen keine Sorge, Frau Kollegin Schmidt, bezüglich der Sozialverträglichkeit der notwendigen Maßnahmen. Aber darauf sollte man in jedem Fall achten. Zur Qualität gehört auch, dass alle Mitarbeiter zufrieden sind. Auch bei dem Reformkurs bei der Programmgestaltung braucht die Deutsche Welle starken Rückenwind. Wir Liberalen begrüßen dabei vor allem die Konzentration auf Kernaufgaben. Wir wollen der Deutschen Welle sowohl in der Programm- als auch in der Verbreitungsstrategie einen Gestaltungsspielraum einräumen, damit sie die jeweilige Zielgruppe, auf die es uns ankommt, bestmöglich erreichen kann. Für uns ist das Angebot von 30 Sprachen kein Dogma. Ausgangspunkt soll immer die Erreichbarkeit der avisierten Zielgruppe sein. Wichtig ist für uns die Zielgruppe in den Kernregionen. Hier ist meiner Meinung nach eine neue Schwerpunktsetzung notwendig. Die Deutsche Welle bietet Hörfunk auf Griechisch an, musste aber die Fernsehnachrichten für Afghanistan trotz sehr erfreulicher Quoten einstellen. Ich glaube, dieses Sprachregime gehört außenpolitisch auf den Prüfstand. Entsprechendes gilt für die Einstellung von Übertragungswegen. Frau Kollegin Schmidt, Sie hatten gerade von Nutzern statt von Zuhörern oder Zuschauern gesprochen. Durch diesen Versprecher - oder vielleicht war es ja auch Absicht - haben Sie die neue Strategie der Deutschen Welle vorweggenommen. Die Deutsche Welle ist unsere Visitenkarte, unser Schaufenster über Deutschland in die Welt. Erlauben wir ihr ein zeitgemäßes Programm und zeitgemäße Übertragungswege! Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste spricht unsere Kollegin Kathrin Senger-Schäfer von der Fraktion Die Linke. - Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsche Welle ist eine gemeinnützige Anstalt des öffentlichen Rechts für den Auslandsrundfunk. Gesetzlich ist sie dazu verpflichtet, alle vier Jahre eine Aufgabenplanung zu erstellen. Genau deshalb sind auch wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dazu verpflichtet, zu dieser Planung selbst Stellung zu nehmen. Was bedeutet das nun für das Parlament bis 2013? Für das Parlament waren - das ist schon öfter angesprochen worden - die Unabhängigkeit des Journalismus und die Staatsferne des Rundfunks bislang zu Recht das Fundament für die Meinungsbildung mündiger Bürgerinnen und Bürger. Beides soll nun allerdings auf einmal nicht mehr gelten. Sie, meine Damen und Herren der Koalition, fordern, dass die Deutsche Welle mit den Ministerien zusammenarbeitet, die für die deutsche Außenpolitik zuständig sind, mit dem Auswärtigen Amt sowieso, aber auch mit dem Verteidigungs- und mit dem Wirtschaftsministerium. Die Bedürfnisse der deutschen Außenpolitik sollen sich mit den Möglichkeiten des Senders verbinden. Bei den Schwerpunkten der medialen Präsenz sollen außenpolitische Interessen beachtet werden. Im Klartext heißt das doch, dass die Journalistinnen und Journalisten augenscheinlich ihre Sendemanuskripte den genannten Ministerien vorlegen sollen. ({0}) Was aber hat das mit unabhängigem Journalismus zu tun? Das fasse ich nicht. Erklären Sie es mir bitte! Zusammenarbeit mit Ministerien, Verbindung von Bedürfnissen, Beachtung von Interessen, das ist doch nichts anderes als ein Eingriff in die journalistische Freiheit. ({1}) Ich sage: Wenn Ministerialbeamte den Journalistinnen und Journalisten den Griffel führen, ist von journalistischer Freiheit keine Rede mehr. Frau Schmidt, journalistische Freiheit sieht für uns anders aus. Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus lassen sich nicht mit außenpolitischen Aufgaben, die von Ministerien diktiert werden, verbinden. ({2}) Wenn ich außerdem lesen muss, dass die Bundesregierung die Deutsche Welle als „mediales Instrument zur Positionierung Deutschlands angesichts veränderter Rahmenbedingungen auf den internationalen Medienmärkten“ betrachtet, dann kann ich kaum davon ausgehen, dass es sich hier um einen sprachlichen Lapsus handelt. Sie reden wirklich davon, dass der Auslandsrundfunk ein mediales Instrument ist. Sie reden darüber so, als hätten Sie inzwischen Eingriffsrechte, als wäre es selbstverständlich, den Journalistinnen und Journalisten staatlicherseits vorzuschreiben, was sie über das deutsche Auslandsbild zu berichten haben. Das finde ich unglaublich. ({3}) Ich frage Sie: Welche Auffassung von Staatsferne schwebt Ihnen denn hier vor? Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Fall Nikolaus Brender, der aufgrund politischen Drucks vonseiten der CDU seinen Hut als ZDF-Chefredakteur nehmen musste. ({4}) - Dazu komme ich gleich. - Ich erinnere auch daran, dass Ulrich Wilhelm, der Pressesprecher von Angela Merkel war, heute Intendant des Bayerischen Rundfunks ist. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass das politische Geschrei 2008 um die angeblich tendenziöse China-Berichterstattung der Deutschen Welle nicht dazu beigetragen hat, die Unabhängigkeit des Senders zu stärken. Das, was die Bundesregierung hier auf den Tisch gelegt hat, wird von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. Das verstehe ich überhaupt nicht. ({5}) Meine Fraktion fordert dagegen in ihrem Änderungsantrag, dass der Deutschen Welle die journalistische Unabhängigkeit ohne Wenn und Aber garantiert wird. Das heißt konkret: keinerlei Vorschriften zur Zusammenarbeit mit Ministerien, keine Vorschriften zur Beachtung von außenpolitischen Interessen, von niemandem. Der Vorschlag von Schwarz-Gelb verstößt eindeutig gegen das Deutsche-Welle-Gesetz. Ich zitiere aus § 4 a Abs. 1: Die Deutsche Welle erstellt in eigener Verantwortung unter Nutzung aller für ihren Auftrag wichtigen Informationen und Einschätzungen, insbesondere vorhandenem außenpolitischen Sachverstand, eine Aufgabenplanung für einen Zeitraum von vier Jahren. Auch Sie, meine Damen und Herren, müssen sich an dieses Gesetz halten. Wenn Sie jedoch inzwischen der Meinung sind, dass sich journalistische Unabhängigkeit und Staatsferne mit dem Begriff des „medialen Instruments“ decken, dann müssen Sie mir einmal Ihre neue Definition von Rundfunkhoheit erklären. Die Linke jedenfalls wird dem vorliegenden Entschließungsvorschlag nicht zustimmen. Es ist nicht so, dass nicht auch wir die Deutsche Welle wertschätzen, aber wir stehen für unabhängigen Rundfunk ohne Wenn und Aber. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächste hat unsere Kollegin Tabea Rößner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Rößner.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Lieber Herr Bettermann! Der Staatsminister hat schon das Bild von der „modernen medialen Visitenkarte Deutschlands in der Welt“ gezeichnet. Eine Visitenkarte, die alles leistet, was die Deutsche Welle als Auslandssender laut Gesetz leisten soll, müsste ungefähr so aussehen: gedruckt auf schwerem Diplomatenkarton mit schicker Prägung und Goldrand, Hologramm womöglich, und auf Knopfdruck spricht sie den Text in 30 Sprachen. So ungefähr sehen die Aufgabenplanung der Deutschen Welle und ihr Auftrag aus: Sie soll die Medienpräsenz Deutschlands im Ausland sicherstellen, sie soll die Positionen und Werte Deutschlands vermitteln, demokratische Entwicklungen, einen rechtsstaatlichen Staatsaufbau in der Welt sowie die deutsche Sprache und Kultur fördern. Zusätzlich soll sie auch noch einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit leisten sowie den Tourismus fördern. Das ist ein ganz schön breites Portfolio. Natürlich ist das ein legitimer Wunsch der Politik; aber die Deutsche Welle ist nicht der Wunschbrunnen der Nation, sondern sie ist unser Auslandssender und trotz ihrer schwierigen Lage ein sehr guter. ({0}) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten hervorragende Arbeit, um alle Anforderungen zu erfüllen. Regelmäßig werden Programmbeiträge der Deutschen Welle mit Preisen ausgezeichnet. Die Journalistenausbildung dort hat einen ganz ausgezeichneten Ruf. Aber die Politik macht es dem Sender mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht gerade leicht, wenn nicht gar unmöglich, allen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu werden; denn eines ist klar: Das Budget des Senders steht in keinem Verhältnis zu der breiten Palette von Anforderungen. Deshalb müssen wir uns sehr deutlich die Frage stellen: Was soll und kann die Deutsche Welle für das Geld, das sie bekommt, tatsächlich leisten? Mehr Geld? Das ist angesichts der Haushaltssituation unrealistisch und schwierig. Wenn man viel will, aber nur wenig investiert, besteht immer die Gefahr, dass vor allem eines darunter leidet: die Qualität. Im Fall der Deutschen Welle wäre das vor allem die Qualität des Journalismus oder der Ausbildung. Damit genau das nicht passiert, hat der Intendant einige sehr vernünftige Vorschläge vorgelegt, wie die Deutsche Welle zukunftsfähig gemacht werden kann. Es ist eine richtige Entscheidung, Schwerpunkte zu setzen, sowohl regional als auch im Hinblick auf das Programm, die Übertragungswege und die Zielgruppen, die der Sender erreichen will. Dabei setzt die Deutsche Welle stark auf das Internet. Das wurde eben schon erwähnt. Sie passt sich also einer veränderten Mediennutzung in den allermeisten Teilen der Welt - das muss man dazu sagen - an. Das ist richtig. Sie muss aber auch aufpassen, dass sie in den unendlichen Weiten des Internets gut sichtbar und auffindbar ist. Gerade in Transformationsstaaten wie jetzt im arabischen Raum - das haben wir gesehen - oder in Schwellenländern sind die Menschen politisiert, sie wollen diskutieren. Dort muss die Deutsche Welle zum Beispiel auch in sozialen Netzwerken präsent sein, interaktive Angebote machen und politische Debatten multimedial begleiten. Positive Beispiele dafür gibt es bereits, zum Beispiel die Portale der Deutschen Welle in Farsi oder die Dialogplattform Qantara. Tagesaktuelle Berichterstattung, zumal in Krisensituationen, kann die Deutsche Welle mit ihrem Budget nur in Ansätzen leisten. In diesem Zusammenhang bin ich sehr froh über das eindeutige Signal, das von unserer Beschlussempfehlung ausgeht, dass nämlich die öffentlichrechtlichen Sender aufgefordert werden, enger mit der Deutschen Welle zusammenzuarbeiten. ({1}) Herr Staatsminister, wenn Sie diesen Weg zusammen mit den Ländern gehen, dann haben Sie unsere Unterstützung. Das betrifft die Übernahme von Sendungen aus dem öffentlich-rechtlichen Programm, vor allem den Zugriff auf das Korrespondentennetz und die Infrastruktur. Ich hoffe, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen entgegenkommend zeigen. Dies wäre nicht nur für die Deutsche Welle ein großer Gewinn. ({2}) Die vorliegende Beschlussempfehlung soll meinem Verständnis nach vor allem eine Wirkung haben: dem Intendanten bei seinen Reformbemühungen den Rücken zu stärken. Die Unruhe, die in der Deutschen Welle vorhanden ist, wurde schon angesprochen. Diese Unruhe ist verständlich. Wenn eine große Umorganisation eines Unternehmens geplant ist, dann sorgt das für Verunsicherung der Beschäftigten, gerade wenn damit möglicherweise der Abbau von Arbeitsplätzen verbunden ist. Ich habe nach Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Welle die begründete Hoffnung, dass die Führungsebene und das Personal gemeinsam einen guten Weg gehen werden. Ein solcher Wandel kann nämlich nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen, und zwar in eine Richtung. Unstrittig ist bei allen Beteiligten, dass sich die Deutsche Welle an die finanziellen und medienpolitischen Gegebenheiten anpassen muss, damit sie ihre Aufgaben weiterhin erfüllen kann. Dabei können wir als Gesetzgeber sie unterstützend begleiten, indem wir ihr Aufgabenprofil besser spezifizieren und auch priorisieren. Wir sollten unsere mediale Visitenkarte etwas schlichter, dafür aber klar und übersichtlich gestalten. Dann könnte sich die Deutsche Welle ganz auf das konzentrieren, was sie am allerbesten kann: journalistisch gut arbeiten. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster spricht er ist schon auf dem Wege hierher, also bevor er aufgerufen wurde - Kollege Reinhard Grindel. Bitte schön, Kollege Reinhard Grindel, für die Fraktion CDU/CSU.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr neugewählter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass die Entschließung, die wir vorlegen, durch und durch ehrlich ist. Wir sagen nämlich: Die Mittel für die Deutsche Welle werden stabil bleiben; aber es wird in den kommenden Jahren auch nicht viel mehr geben, und das ist eigentlich zu wenig, um all das zu leisten, was die Deutsche Welle leisten könnte, leisten müsste. - Wenn man ehrlich ist, dann muss man sagen: Als wir das letzte Mal hier im Bundestag über die Aufgabenplanung der Deutschen Welle gesprochen haben, sind alle möglichen Prioritäten formuliert und Wünsche angemeldet worden. Mit all dem ist die Finanzausstattung im Grunde nicht in Deckung zu bringen. Jetzt machen wir das, was die Mitarbeiter der Deutschen Welle und auch ihr Intendant erwarten können: Wir sagen, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollen. Der erste Schwerpunkt liegt bei den Übertragungswegen. In der Tat, die Zukunft der Deutschen Welle liegt im Fernsehen, und bei DW-World, also im Onlineangebot. Gerade in diesen Tagen erleben wir, dass die Kraft der Bilder einfach durch nichts zu ersetzen ist. Wenn wir unsere Sicht auf die Probleme der Welt vermitteln wollen, dann kommen wir nicht darum herum, bei der Auseinandersetzung auch auf die Wirkkraft der Bilder zu setzen und dieses Medium besonders zu bedienen. Die große Bedeutung der Onlineangebote ist hier schon genannt worden. Angesichts des Lobs, das vielfach gespendet worden ist, will ich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass vor allen Dingen DW-World in den letzten Jahren ein hervorragendes Angebot präsentiert hat. Ich will darüber hinaus deutlich sagen: Dass das dortige Programm zunächst in englischer Sprache präsentiert wird, ist ebenfalls richtig. Der zweite Schwerpunkt, den wir setzen, ist nämlich, dass wir uns auf diejenigen Informationssuchenden konzentrieren, die wir in erster Linie erreichen wollen: auf ausländische Multiplikatoren, ({0}) auf Menschen, die in Deutschland studiert haben, die sich für Deutschland interessieren und die für demokratische Anregungen, für demokratisches Gedankengut, für Stellungnahmen aus demokratischen Ländern offen sind, die wissen wollen, wie wir die großen Herausforderungen der Welt bestehen wollen. Es ist eben nicht mehr der Deutsche im Ausland, auf den sich die Deutsche Welle konzentrieren muss; schließlich kann er in fast allen Ecken der Welt die Sender, die ihn interessieren, über die Onlineangebote verfolgen. Die Satellitentechnik ermöglicht es, viele deutsche Fernsehsender im Ausland zu empfangen. Der Deutsche im Ausland wird von dem Informationsmedium bedient, auf das er sich auch in Deutschland stützt. Insofern ist es eben der ausländische Multiplikator - derjenige, der sich im Ausland für Deutschland interessiert -, den wir in erster Linie erreichen wollen. Deswegen ist es richtig, das Angebot von DW-World auf Englisch zu präsentieren. Drittens sollten wir Schwerpunkte in bestimmten Regionen setzen. Wir können nicht alle Regionen in gleicher Weise bedienen, sondern wir müssen Schwerpunkte setzen. Dabei handelt es sich - das muss man gerade in diesen Tagen nicht besonders begründen - um den arabischen Raum, um Afrika, um Lateinamerika und, wie wir ausdrücklich sagen, um Russland. Es handelt sich nicht um Südosteuropa und die anderen osteuropäischen Länder. Das heißt wohlgemerkt nicht - das ist in manchen öffentlichen Debatten ein bisschen durcheinander gegangen -, dass wir auf Sprachen verzichten würden. Wir bleiben bei dem Sprachenangebot - den 30 Sprachen im Internet. ({1}) Aber gerade was unsere Fernsehangebote angeht, setzen wir Schwerpunkte. Das ist auch richtig. Ich meine übrigens - das ist vielleicht ein neuer Gedanke -, dass wir auch bei unseren Fernsehangeboten regionsspezifische Sendungen brauchen. In Bezug auf die zentrale Informationssendung Journal der Deutschen Welle können heute journal oder die Tagesthemen nicht die Benchmark sein. Ein Koalitionsstreit ist schon beim heute journal nicht schön; aber im DW-Journal hat der überhaupt nichts verloren; denn die Menschen im arabischen Raum, in Afrika oder Lateinamerika interessiert das nicht. Die interessiert - gerade in Asien -, wie wir die erneuerbaren Energien nutzen und welche wirtschaftlichen Antworten wir auf die Finanz- und Weltmarktkrise geben. Ganz aktuell wäre zum Beispiel von Bedeutung, dass wir breit über die Fußballweltmeisterschaft der Frauen berichten, dass wir auch berichten, dass Frauen und Mädchen gerade mit Migrationshintergrund in unseren Vereinen ein ganz normaler Teil der Gesellschaft sind und sich hier - ob mit oder ohne Kopftuch - verwirklichen. ({2}) Insofern erwarte ich, dass nicht nur zur Primetime das Journal in der entsprechenden Sprache gesendet wird; die auf die meiste Akzeptanz stößt, wir sollten auch überlegen, dass unser Angebot im Fernsehbereich für Asien ein anderes sein muss als für Afrika oder Lateinamerika. Lassen Sie mich ein Letztes zur „Deutsche-WelleAkademie“ sagen. Ich finde das, was dort geleistet wird, unendlich wertvoll. Die anwesende Staatssekretärin aus dem Entwicklungshilfeministerium darf ich ermuntern, sich dort finanziell noch mehr zu engagieren. ({3}) Es gibt manchmal die Diskussion über die Frage: Dürfen wir Journalisten aus Diktaturen, die bei Staatssendern arbeiten, ausbilden? Ich bekenne mich ausdrücklich dazu: Ja, auch die wollen wir ausbilden; ({4}) denn es macht Sinn, dass ihnen gezeigt wird, wie demokratischer Journalismus funktioniert. In den Wochen, in denen sie in der Akademie sind, soll ihnen ein bisschen Freiheit um die Nase wehen. Vor allen Dingen sollen sie einen Austausch mit anderen Journalisten aus Ländern mit einer freien Presse bzw. Meinungsfreiheit haben, um sich ein bisschen abzuschauen, wie es sein kann, wenn man ohne Zwang und Zensur seiner Profession nachgeht. Insofern sage ich ausdrücklich: Es ist auch in Ordnung, wenn die Deutsche-Welle-Akademie Journalisten aus Diktaturen ausbildet; denn das kann dazu führen, dass demokratischer Geist in diese Sender - auch wenn sie dem Staat gehören - einzieht. ({5}) Der Deutschen Welle und ihren Mitarbeitern herzlichen Dank. Ich sage natürlich auch dem Staatsminister herzlichen Dank dafür, dass er die Deutsche Welle nicht zum Steinbruch seines Kulturhaushalts gemacht, sondern sie gestärkt hat. Das ist wichtig, und das ist gut für unser Schaufenster in die Welt. Herzlichen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Reinhard Grindel. - Als Nächster spricht unser Kollege Patrick Kurth für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister! Hallo, Frau Grütters! Herr Staatsminister, wir alle haben eigenständig - nicht voneinander abgeschrieben - ein Zitat in unsere Reden eingestreut, nämlich dass die Deutsche Welle die mediale Visitenkarte Deutschlands ist. Wenn das so viele unabhängige Institutionen sagen, muss tatsächlich etwas daran sein. Ich will einige ergänzende Gedanken vortragen. Die Deutsche Welle ist auch ein ganz wichtiger Akteur in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie ist eine Botschafterin und eine Diplomatin Deutschlands im Ausland. Somit gehört auch sie in starkem Maße - das Patrick Kurth ({0}) dürfen wir nicht vergessen - zur Außenpolitik Deutschlands. Sie ist vorrangig im Ausland aktiv. Deswegen ist es nur richtig, dass das vorgelegte Konzept zur Neuausrichtung des Senders auch auf die Netzwerkbildung abstellt. Uns fällt öfter auf, dass die deutschen Netzwerke im Ausland nicht funktionieren. Unterschiedliche Institutionen sind im Ausland vor Ort, kommunizieren aber wenig miteinander. Das wollen wir ändern. Das ist notwendig. Deswegen ist es auch richtig, dass es zum Beispiel zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit dem Bundeswirtschaftsministerium, mit dem Verteidigungsministerium und eben auch mit dem Auswärtigen Amt kommt. Es ist schon seltsam, wenn hier so stark der Vorwurf der Staatsnähe erhoben wird. Es sagt auch viel über Ihr Gesellschaftsbild, über Ihr Bild von einer Gesellschaftsordnung aus, ({1}) wenn Sie glauben, dass unabhängige Journalisten, die bei der Deutschen Welle arbeiten, plötzlich in Kadavergehorsam verfallen, nur weil nach der Konzeption auch mit den Ministerien zusammengearbeitet werden soll, die im Ausland aktiv sind. Ich kann Ihnen sagen: Wir sind hier in einem freien Land. Die Journaille ist frei und bleibt es auch bei der Deutschen Welle. ({2}) Bei der Neuausrichtung müssen wir natürlich beachten, dass die Deutsche Welle in den letzten 10, 15 Jahren eine Entwicklung mitgehen musste, die die gesamte Medienlandschaft durchlebt hat, und dass es gerade im Ausland - Kollege Grindel hat darauf hingewiesen - ein verändertes Konsumentenverhalten gibt. Die Deutschen im Ausland versammeln sich nicht mehr allabendlich vor den Rundfunkempfangsgeräten und hören die Deutsche Welle, um Nachrichten aus der Heimat zu erhalten. Man kann jetzt fast überall auf der Welt heute.de, tagesschau.de oder sogar regionale Programme wie das Thüringen Journal empfangen ({3}) und ist dann bestens informiert. Ich glaube vor allen Dingen, dass wir nicht nur diejenigen für das Angebot interessieren müssen, die zum Beispiel einmal als Ausländer hier in Deutschland waren. Mir scheint sehr wichtig zu sein, auch an diejenigen zu denken, die ein Interesse an der deutschen Sprache haben, die ihre Kenntnisse der deutschen Sprache vielleicht wieder auffrischen wollen, die über die deutsche Sprache mehr wissen möchten oder die dabei sind, die deutsche Sprache zu lernen. Viele von uns schauen sich englische Nachrichten an, um so ihren englischen Wortschatz zu erweitern. Entsprechend kann man sagen, dass man im Ausland über die Deutsche Welle aktiv an der deutschen Sprache Anteil haben kann. Ich glaube, man muss darüber nachdenken, ob die Programminhalte bei der Deutschen Welle nicht viel stärker auf das ausgerichtet werden können, was bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ohnehin vorhanden ist. Ich denke an Die Sendung mit der Maus - im Ausland, auf Deutsch -, Löwenzahn, Trickfilmserien, Sketchsendungen oder Ähnliches. Das meine ich nicht im Scherz. Ich glaube, dass wir darüber die Attraktivität der Deutschen Welle im Ausland für Ausländer stärken und insofern auch für die deutsche Sprache etwas leisten können. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Der Letzte auf unserer Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Wolfgang Börnsen für die Fraktion CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Wolfgang Börnsen. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident Oswald! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Mai 1953 ging die Deutsche Welle erstmals auf Sendung. Es war einer Ihrer Kollegen, Theodor Heuss, der ein rein deutsches 3-Stunden-Programm eröffnete. Er plädierte damals für eine Entkrampfung der Außenbeziehungen der jungen Bundesrepublik, für eine mediale Brücke zu den Deutschen im Ausland. Von Beginn an verstand sich die Deutsche Welle als Stimme der Freiheit. Heute, fast 60 Jahre später, hat sich die Aufgabenstellung ebenso gewandelt wie der Stellenwert der Deutschen Welle. Aber der Freiheitssender ist sie geblieben. Gut so! ({0}) Heute steht der Rundfunk im weltweiten Wettbewerb mit 24 anderen Staaten. 1992 gab es nur zwei weitere Fernsehstationen, nämlich BBC World und CNN. Jetzt kommt die mediale Konkurrenz nicht mehr aus Europa oder Nordamerika allein; mit Macht melden sich Russland, die arabischen Staaten und besonders die Volksrepublik China auf der Weltbühne der Meinung. Das sind Länder mit anderen Weltanschauungen, Länder mit anderen Wertvorstellungen, Länder, die auf die Freiheit nicht achten, die den Parlamentarismus missachten, Länder, die Menschen- und Bürgerrechte in die Ecke stellen; die Deutsche Welle setzt dagegen. Gut so! ({1}) Sie ist unser mediales Fenster. 86 Millionen Menschen weltweit erfahren wöchentlich durch sie unsere demokratischen Werte. 86 Millionen Menschen werden über Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit in unseWolfgang Börnsen ({2}) rem Land informiert. 86 Millionen Menschen werden über die Wirkung der sozialen Marktwirtschaft unterrichtet. 86 Millionen Menschen erhalten einen Eindruck davon, was made in Germany praktisch bedeutet. Die Deutsche Welle bringt ein breites Bild über den Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Das nützt uns als Exportnation, das dient der Reputation unseres Landes. Gut so! ({3}) Doch die Konkurrenz schläft nicht. Sie rüstet massiv auf. BBC World erhält jährlich 293 Millionen Euro. Washington investiert 570 Millionen Dollar. Russland hat seine Ausgaben verdreifacht. Dem chinesischen Auslandsrundfunk stehen nach Auskunft von Experten 6 Milliarden Dollar zur Verfügung. Und wie ist es bei uns hier in Deutschland? Über Jahre wurde unser Auslandssender - das muss ich Ihnen leider sagen - unter Außenminister Fischer der Steinbruch für den Bundeshaushalt. Es handelte sich um fast 70 Millionen Euro. Von den radikalen Kürzungen der rot-grünen Jahre hat sich der Sender bis heute nicht erholt. Die Wende kam mit Staatsminister Bernd Neumann. ({4}) Derzeit beträgt der Bundesbeitrag 375 Millionen Euro. Von den globalen Minderausgaben wurde der Sender ausgenommen. Das hat dem Sender 30 Millionen Euro gebracht. Aus dem Konjunkturprogramm II erhielt der Sender 7 Millionen Euro, zusätzlich erhielt er von 2008 bis 2011 eine Erhöhung seines Budgets von 4 Millionen Euro jährlich.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Börnsen, wenn Sie einmal kurz durchschnaufen würden: Der Kollege Koppelin hat eine Zwischenfrage an Sie.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für den Schleswig-Holsteiner bin ich gern bereit, Herr Präsident. Auch für andere.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gut. - Bitte schön, Herr Kollege Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Börnsen, ich schließe mich dem Lob an den Staatsminister gern an. Darf ich fragen, ob das Lob auch für die Haushälter der Koalition gilt, die sich dafür eingesetzt haben?

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jürgen Koppelin, das gilt ganz besonders für das Parlament. ({0}) Die Haushälter repräsentieren das Parlament. ({1}) - Ich bin doch noch gar nicht fertig. Das gilt für die Haushälter aller Fraktionen, ({2}) die hinter den Überlegungen von Jürgen Koppelin standen. Nur durch deren Rückenstärkung konnte er jetzt hier diesen bedeutenden Auftritt haben. ({3}) Ganz ernsthaft, Herr Koppelin: Damit wird dokumentiert, dass das Parlament zu seinem Auslandsrundfunk steht. ({4}) Damit wird auch dokumentiert, dass das Parlament um die Wirkung des Senders und um die Qualität der Mitarbeiter weiß. Wir wissen: Der Auslandsrundfunk ist eine Werbung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die deutsche Gesellschaft. Dieser Auslandsrundfunk ist nicht ersetzbar. Er braucht nach unserer Auffassung eine Zukunft. Deshalb sage ich Dank für die Mittel aus dem Haushaltsausschuss. ({5}) Ich gebe meinen beiden Vorrednern recht, dass es zu Reformen kommen muss. Doch wenn es zu Reformen kommt, dann dürfen weder der Standort Bonn noch der Standort Berlin Verlierer der Reform werden. Was die Kompetenz, die Reputation und die Qualität angeht, ist die Deutsche Welle für die Zukunft durchaus kraftvoll aufgestellt. Darüber hinaus sprechen sieben Pluspunkte für Deutschlands Außensender: Motivierte Mitarbeiter und eine hohe Qualität der Berichterstattung mit Erik Bettermann, der heute mehrfach genannt wurde. Er hat heute einen besonders guten Tag. Durch ihn und sein Team gibt es eine Intendanz mit Kompetenz und diplomatischem Durchsetzungsvermögen. Es gibt eine Sendeleistung in 30 Sprachen, wobei die Kernbotschaft in deutscher Sprache ist, und das ist gut für 20 Millionen Menschen, die weltweit Deutsch lernen, ({6}) eine Akademie mit exzellenter Ausbildung. - Das alles spricht für die Deutsche Welle. Ein achter Pluspunkt könnte dazukommen, nämlich dann, wenn aus der losen Kooperation mit ARD und ZDF eine echte Zusammenarbeit wird, aber wirklich auf Augenhöhe. Das brauchen wir in Zukunft. Am kurzen Zügel darf die Deutsche Welle nicht gehalten werden. Mehr Programmüberlassung, mehr Nutzungsrechte für Ausstrahlungen im Ausland und eine Einbindung des Korrespondentennetzes würden die weltweite Wirkung deutlich verbessern. Wolfgang Börnsen ({7}) Um Nägel mit Köpfen zu machen, plädieren wir für die Einrichtung einer Bund-Länder-Rundfunkkonferenz. Dem Staatsminister danken wir dafür, dass er hierfür das richtige Gespür hatte und, wie er sagte, bereits die ersten Gespräche mit den Ländervertretern aufgenommen hat. Auch die Länder müssen wissen: Es nützt dem gesamten Land, wenn wir den Auslandsrundfunk stärken. Das stärkt den Wirtschaftsstandort, das stärkt die Arbeitsplätze, das stärkt die Exportnation, das stärkt letzten Endes insgesamt unsere Stellung in der Welt. ({8}) Aber: Wir erwarten eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Dazu muss es kommen. Deshalb braucht dieser Sender - das ist heute auch praktiziert worden - die Unterstützung des gesamten Parlamentes. Ich bedanke mich bei allen, die mit dazu beigetragen haben, und bei den Autoren aus meiner Fraktion und auch aus der FDPFraktion, die eine kluge, gewissenhafte und ehrliche Vorlage erarbeitet haben. Herzlichen Dank und Glück auf für die Deutsche Welle! ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu der Unterrichtung durch die Deutsche Welle über ihre Aufgabenplanung 2010 bis 2013. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5260, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/1289 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters - Drucksache 17/2096 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Hartmann ({1}), Sören Bartol, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehr Transparenz beim Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung - Bericht des Bundesrechnungshofes vollständig umsetzen - Drucksache 17/5230 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz schaffen - Verbindliches Register für Lobbyistinnen und Lobbyisten einführen - Drucksache 17/2486 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster unser Kollege Raju Sharma von der Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege. ({5})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich danke den Wählerinnen und Wählern für ihr Vertrauen“ ist ein oft zitierter Satz nach Wahlen. Tatsächlich ist Vertrauen die Grundlage von Politik; denn Wähler vertrauen darauf, dass wir ihre Interessen wahrnehmen. Transparenz ist dafür die Grundlage. Durch Politik nach dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, ein Satz, der Konrad Adenauer zugeschrieben wird, leidet das Vertrauen der Bürger in die Politik. Es ist bereits jetzt schwer beschädigt. Die Folgen sind Wahlenthaltung, Flucht in außerparlamentarische Aktivitäten und vieles mehr. Auch mangelnde Transparenz ist ein Grund dafür. Bekannt ist der Fall Hennenhöfer. Er leitete unter der Umweltministerin Angela Merkel die Abteilung Reaktorsicherheit, wechselte dann als Lobbyist zu Eon, beriet die Betreiber von Asse II und arbeitet heute wieder als oberster Aufseher in der Atomabteilung des Umweltministeriums. Ich möchte noch einige Beispiele nennen: Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von der FDP das nicht gerne hören, muss ich an die Sache mit Mövenpick erinnern; das ist natürlich nicht vergessen. Ein ähnliches Beispiel, das alle Parteien hier im Hause außer unserer trifft, ist die Gauselmann-Spende. Dann ist daran zu erinnern, dass 100 Lobbyisten zwischen 2004 und 2006 in Ministerien Gesetze schrieben und damit nicht etwa die Interessen der Bürger, sondern die ihrer Unternehmen verfolgten. Im hessischen Innenministerium war ein Mitarbeiter des Flughafenbetreibers Fraport mit Genehmigungsverfahren für den Flughafen befasst. Die Barmer-Chefin Birgit Fischer, SPD, wechselt demnächst nahtlos an die Spitze des Pharmaverbandes vfa. Christian Weber, ehemals Spitzenlobbyist der privaten Krankenversicherungen, ist nun Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium. Daher ist es doch kein Wunder, dass viele Menschen glauben, dass Politik käuflich sei. ({0}) Zu unserem Antrag. Das Einhalten von Wahlversprechen kann nicht gesetzlich erzwungen werden, aber Transparenz kann gesetzlich geregelt werden. Die Linke hat deshalb einen Antrag zur Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters eingebracht, in dem Auftraggeber und Honorare veröffentlicht werden und in dem es Informationen zu Leihbeamten gibt. Außerdem sollen klare Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen werden. Das ist zwar keine revolutionäre Großtat, aber es wäre eine notwendige Mindestregelung, die der Haushaltausschuss 2008 einstimmig beschlossen hat, die die OECD von Deutschland fordert und die vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wird. Für dieses Mindestmaß an Transparenz bohrt die Linke seit Jahren dicke Bretter. Inzwischen sind die Grünen und sogar die SPD mit vernünftigen Initiativen gefolgt. ({1}) - Es hat schon seinen Grund, liebe Kollegen von den Grünen und von der SPD, warum ich heute als Erster sprechen darf. Das hängt einfach damit zusammen, dass wir dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. ({2}) Ich muss den Kollegen von Union und FDP noch eine Frage stellen: Warum wehren Sie sich eigentlich dagegen, Verflechtungen von Lobbyisten und Politik offenzulegen, damit Bürgerinnen und Bürger beurteilen können, wer mit welchen Interessen an einem Gesetz mitgeschrieben hat? Bei Lebensmitteln muss klar sein, welche Farb-, Aroma- und Konservierungsstoffe enthalten sind. Dann kann der mündige Verbraucher selbst entscheiden, ob er beispielsweise einen Erdbeerjoghurt mit Farbstoff oder einen Quark mit Aromastoffen essen will. Er muss nur vorher wissen, was drin ist. So, wie jetzt auf der Packung von manchen Müslis „Achtung! Dieses Nussmüsli kann Spuren von Nüssen enthalten!“ aufgedruckt ist, sollten die Bürgerinnen und Bürger künftig den Hinweis bekommen: Dieses Gesetz zur Laufzeitverlängerung kann Beratungselemente von Eon, RWE und Vattenfall enthalten. ({3}) Aber es gibt auch Lobbyisten, mit denen wir sehr gerne zusammenarbeiten. Dazu gehört LobbyControl. LobbyControl hat auf vieles zu Recht hingewiesen, zum Beispiel darauf, dass für die EU-Richtlinie zu Managern alternativer Investmentfonds gut 1 500 Änderungsanträge eingebracht worden sind. Rund die Hälfte davon kam direkt aus den Schreibstuben der Finanzindustrie. Solche Meldungen beschädigen das Vertrauen in die Politik, und sie beschädigen die Demokratie. Das Lobbyistenregister kann daher nur der erste Schritt zu mehr Transparenz sein. Wie wir heute über Schranken für Lobbyisten reden, brauchen wir auch einfache demokratische und transparente Regeln zu Parteispenden, zum Parteisponsoring. All das haben wir in Arbeit. Da müssen wir weitermachen. Den ersten Schritt können wir heute gehen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächster spricht Kollege Bernhard Kaster für die Fraktion der CDU/ CSU. ({0})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns haben häufig Schülergruppen zu Besuch oder besuchen Schulklassen, um Politik und Abgeordnetentätigkeit zu erläutern. Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal, wenn es darum geht, den Begriff des Schaufensterantrags zu erläutern, genau diesen Antrag zum Lobbyistenregister vorzustellen; denn er ist ein sehr gutes Beispiel für einen Schaufensterantrag; das ist Populismus pur. ({0}) Es wurde nach einem ganz einfachen Rezept verfahren: Man nehme einen möglichst negativ besetzten Begriff - in diesem Fall Lobbyist oder Lobbyismus -, man zeichne ein düsteres Bild und präsentiere eine scheinbar ganz einfache Lösung in dem Wissen, dass die Öffentlichkeit die Parlamentswirklichkeit im Detail nicht kennt. Genau darauf setzt man. Der Antrag zum Lobbyistenregister beinhaltet erstens ein bürokratisches Monster. ({1}) Zweitens entspricht er überhaupt nicht der parlamentarischen Wirklichkeit - er ist nämlich gar nicht umsetzbar -, und drittens wird damit das eigentliche Ziel, wenn es denn eine Berechtigung hätte, überhaupt nicht erreicht. Alle vorliegenden Anträge zu diesem Punkt basieren auf einem Zerrbild über die Arbeitsweise des Deutschen Bundestages. Ein solches Zerrbild muss von allen 621 Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses zurückgewiesen werden. ({2}) Ich will dies auch begründen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird im Kern mit dem Vorhandensein von schwarzen Schafen, Korruption und Beste11680 chung begründet. Er enthält also einen Generalverdacht gegen den Deutschen Bundestag. Bestechung und Korruption werden jedoch - ich denke, da sind wir uns hier im Hause einig - mit Strafrecht bekämpft und nicht mit irgendwelchen Registern oder Listen. Aber jetzt zu der Frage: Welcher Lobbyismus soll hier bekämpft oder besser kontrolliert werden? In Ihren Anträgen machen Sie richtigerweise deutlich, dass die Übergänge zwischen richtig wahrgenommener Interessenvertretung in einer pluralistischen Gesellschaft und mit unzulässigen Mitteln massiv manipulierter Interessendurchsetzung fließend sein können. Die Wirklichkeit ist doch die, dass jede Kollegin, jeder Kollege im gutgemeinten Sinne des Wortes Lobbyist, Bürgerlobbyist, Vertreter von Interessen seines Wahlkreises oder auch seines gesellschaftspolitischen Hintergrundes ist. Genau diese Vielfalt von Interessen muss dann zu richtigen Abwägungen führen. Das führt dann letztlich auch zu guter Politik. ({3}) Ich will jetzt zur Praxis kommen. Ich erinnere mich daran, dass wir hier im Plenum einmal die Änderung des Schornsteinfegergesetzes beraten haben. Da sind viele Kollegen von Verbandsvertretern angesprochen worden, und zwar von Verbandsvertretern aus dem Bereich des Schornsteinfegerwesens und von Verbandsvertretern des Heizungsinstallationshandwerks. Deren Interessen waren durchaus unterschiedlich. Es war für die Kollegen durchaus wissenswert, verschiedene Positionen zu einer Gesetzesänderung zu erfahren. So funktioniert das, und so ist das auch richtig. ({4}) Sie werden wahrscheinlich sagen, hier geht es nicht um Schornsteinfegerverbände oder Handwerksverbände. ({5}) Hier müssen die üblichen Verdächtigen ran. Das ist dann die Pharmaindustrie. Das sind Energiekonzerne. Das ist die Rüstungsindustrie usw. ({6}) Ein solches Bild wird hier gemalt. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, egal über welchen Lobbyismus wir sprechen; wir müssen zur zweiten Frage kommen: Können Interessen, die vorgebracht werden, tatsächlich von Abgeordneten unbemerkt und wissentlich mit nicht korrekten Mitteln durchgesetzt werden? Damit sind wir wieder bei der Parlamentspraxis hier im Haus. Wir haben die erste, zweite, dritte Lesung. Wir haben Beratungen in fraktionsinternen Arbeitsgruppen. Wir haben Beratungen in den Ausschüssen. Wir haben Anhörungen auf der Basis von Minderheitenrechten. Wir haben hier immer den Streit zwischen verschiedenen Interessen, die abzuwägen sind und über die wir als Abgeordnete entscheiden. Was die Arbeitspraxis unseres Parlaments angeht, so bin ich persönlich der Auffassung, dass wir alle miteinander - ob Regierungsfraktionen oder Oppositionsfraktionen - durchaus sehr stolz auf den Deutschen Bundestag sein können; denn dies ist ein Arbeitsparlament, in dem viele Kolleginnen und Kollegen sich im Rahmen eines Berichterstattersystems spezialisiert haben und daher die Debatten auch auf hohem Niveau stattfinden. Das ist nicht unbedingt die Tradition in allen Parlamenten. Deswegen muss auch ein Wort zum Selbstverständnis unseres Parlaments und zum Selbstverständnis, was das Abgeordnetenmandat angeht, gesagt werden. ({7}) Mit wem ich als Abgeordneter Gespräche führe oder nicht, mit wem ich in Kontakt treten will oder nicht, entscheide ich als freier Abgeordneter und ohne irgendwelche Regulierungen über Listen. ({8}) Der Deutsche Bundestag hat bereits seit 1972 ein Lobbyistenregister. Der Bundestagspräsident führt eine öffentliche Liste, in die sich Verbände eintragen lassen können, um ihre Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung zu vertreten. Zu den Angaben - das sind sehr viele - gehören Name und Sitz des Verbandes, die Zusammensetzung von Vorstand und Geschäftsführung, sein Interessenbereich, Mitgliederzahl, die Anzahl der angeschlossenen Organisationen, die Namen der Verbandsvertreter. Das Ganze wird ständig aktualisiert. Der Eintrag in diese Liste ist vor allem eine Voraussetzung für die Teilnahme an Anhörungen. Zum Thema Transparenz: Diese Liste ist zudem im Internet und im Bundesanzeiger veröffentlicht. In der bereits bestehenden Liste sind über 2 000 Verbände registriert. Hierzu bedarf es wirklich keiner weiteren Ergänzung, bedarf es nicht eines solchen Schaufensterantrages, der auch nicht praktizierbar ist. Er sieht ein bürokratisches Monster vor. Außerdem sollen die Angaben alle drei Monate aktualisiert werden. Wir wissen doch alle, mit wem wir sprechen, wer uns gegenübersitzt, und wir wissen auch, richtig abzuwägen. ({9}) Es kommt ja nicht darauf an, mit wem man spricht, sondern es kommt darauf an, wie man mit den Dingen umgeht. ({10}) Die Übergänge zwischen gutem oder schlechtem Lobbyismus sind fließend. Deswegen fasse ich zusammen: Die Fraktionen im Deutschen Bundestag - und da schließe ich ausdrücklich die Oppositionsfraktionen mit ein - wissen sehr wohl mit Lobbyinteressen umzugehen, sowohl im Guten wie auch im Schlechten. Das kann das deutsche Parlament. Das muss das Selbstverständnis des deutschen Parlamentes sein. Deswegen bedarf es keiner weiteren Ergänzung der bereits bestehenden Liste. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. - Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael Hartmann. - Bitte schön, Kollege Michael Hartmann. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! An Ihr Gesicht hat man sich schnell gewöhnt. Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege Kaster, ich fand das sehr gut, was Sie eingangs erwähnten, ({0}) nämlich die Idee, einmal Schulklassen mit diesem Thema zu konfrontieren. Denn gerade Schulklassen - das erlebe ich bei Schulklassen aus unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen Jahrgängen - empfinden das Thema durchaus als ein brennendes. Man bekommt gelegentlich schon die Frage gestellt, ob unsere Republik eine gekaufte Republik ist. ({1}) Das ist eine Ansicht, die wir beide nicht teilen werden. Weil aber dieses Bild in der Welt ist, müssen wir auch fragen, warum es in der Welt ist. Deshalb, sehr geehrter Herr Kaster, sage ich Ihnen gleich zu Beginn: Es geht nicht darum, dass das Vorbringen von Interessen als illegitim gebrandmarkt wird. Interessen sollen auf uns einströmen. Es geht vielmehr darum, dass die versteckte und damit nicht transparente Einflussnahme schärfstens zurückgewiesen oder aber offengelegt werden muss. ({2}) Wir reden bei diesem Thema schließlich nicht über eine Nebensache und auch nicht über eine Randfrage, sondern am Schluss reden wir über das Selbstverständnis von Staat, Politik und öffentlicher Verwaltung. Deshalb sage ich zum einen ausdrücklich: Auch wir als SPD sind der Meinung, dass wir endlich ein verbindliches Lobbyistenregister brauchen. ({3}) Zum anderen sage ich, dass wir unbedingt mehr Transparenz beim Einsatz Externer in den Ministerien benötigen. ({4}) Das ist wichtig, um unmissverständlich klarzumachen, dass unser Land nicht von Lobbyisten regiert wird, sondern dass immer noch der Deutsche Bundestag und die von ihm gewählte Bundesregierung die Geschicke dieses Landes in der Hand haben. ({5}) An die Kolleginnen und Kollegen der Union gerichtet: Wir waren übrigens bei diesem Thema einmal sehr weit, und zwar in der letzten Wahlperiode. Im Innenausschuss hatten wir uns - sehr geehrter Herr Dr. Uhl, Sie erinnern sich - schon fast auf einen Antrag verständigt, der für den Einsatz Externer strengere Regeln definieren wollte. Das Vorhaben wurde leider auf den letzten Metern ausgebremst. Ich will damit sagen: Auch Sie waren so weit, und ich glaube, auch die Kollegen der FDP - Herr Stadler hat jetzt auf der Regierungsbank Platz genommen - haben eingesehen, dass Handlungsbedarf besteht. So ist es auch. Um nicht missverstanden zu werden: Beim Einsatz Externer ist zwischenzeitlich eine Menge geschehen, und zwar deshalb, weil infolge eines Berichts des Rechnungshofes und unserer parlamentarischen Aktivitäten mittlerweile halbjährlich im Haushaltsausschuss und im Innenausschuss über Art und Umfang des Einsatzes von Externen berichtet wird. Und siehe da: Seither ist die Zahl der externen Beschäftigten in erheblichem Maße zurückgegangen. Demnach war der parlamentarische Druck gut, notwendig und keineswegs überflüssig. Lassen Sie uns auf diesem Weg weitergehen; denn Handlungsbedarf besteht nach wie vor. ({6}) Das will ich Ihnen gerne begründen. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich denke da - sehr geehrter Herr Ruppert, Sie werden noch die Chance haben, zu antworten, und auch Sie, Herr Schuster - auch an frühere Regierungen, auch an Regierungen, an denen Sozialdemokraten beteiligt waren. Das sage ich ausdrücklich. Jetzt sind wir aber in einer Phase, in der sich vieles verbessert und verändert hat. Eine Ausnahme bilden jedoch zwei Ressorts, und zwar ausgerechnet FDP-geführte Ressorts und ausgerechnet im Zusammenhang mit dem BDI. Warum, frage ich Sie, sind über zwei Jahre hinweg externe Beschäftigte, die weiterhin vom BDI bezahlt werden, ausgerechnet im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ausgerechnet im Auswärtigen Amt tätig? Stellen Sie das ab! Machen Sie Ihren Einfluss auf die Regierung geltend, meine Damen und Herren! ({7}) Michael Hartmann ({8}) - Sie meinen, deshalb besteht diese Verpflichtung für Sie nicht mehr? Das zeigt, dass Sie ein ganz falsches Parlamentsverständnis haben, sehr geehrter Herr Kollege von der FDP. Das ist aber kein Wunder. Von Herrn Brüderle haben wir ja gelernt, dass BDI und FDP sehr eng beieinander sind. ({9}) Durch diese Berichte haben wir in der Tat ein Loch gestopft; allerdings sind andere dadurch aufgetaucht. Durch einen neuen Bericht des Bundesrechnungshofs sind wir in der letzten Woche belehrt worden, dass sich die Externen nun nicht mehr in den Ministerien ausbreiten, sondern externer Rat nun freihändig, ohne Beschluss, ohne Information des Parlaments und immer wegen einer angeblichen Dringlichkeit eingeholt wird. Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele: Erstes Beispiel. Kanzleien haben ein Protokoll einer Sitzung des Verkehrsausschusses getätigt. Warum? Zweites Beispiel. Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung wurde von einer Kanzlei beantwortet und nur pro forma von dem zuständigen Ressort. ({10}) Ich nenne ein drittes Beispiel: Von dem staatlichen Bankenrettungsfonds, SoFFin, wurden freihändig, ganz nebenbei und ohne Beschluss Aufträge an Kanzleien vergeben. Einer dieser Kanzleien gehört übrigens ein früherer Fraktionsvorsitzender von Ihnen an, der sich nun in der Privatwirtschaft breitgemacht hat. Entspricht das einem konservativen oder liberalen Staatsverständnis? Hoffentlich nicht! Wir können also gemeinsam feststellen, dass noch Handlungsbedarf besteht. Ein probates Mittel ist die sogenannte legislative Fußspur, die wir ebenfalls fordern. Dazu werden wir hier noch weitere Anträge einbringen. ({11}) Uns sollte die Einsicht einen - das sage ich zum Schluss -, dass wir jeden Anschein, dass Deutschland eine gekaufte Republik ist, vermeiden müssen. Deshalb müssen wir an den Stellen, an denen ein solcher, unberechtigter Vorwurf angedockt werden könnte, entsprechend agieren. Das Parlament sollte in diesem Zusammenhang selbstbewusst agieren. Es geht um die Selbstheilungskräfte der parlamentarischen Demokratie. Es ist Gefahr im Verzug. Nehmen Sie unsere Anträge ernst. Das sind keine Schaufensteranträge. Lassen Sie uns im Interesse des Parlaments gemeinsam arbeiten. Nun will ich gerne noch eine Frage des Kollegen Hinsken beantworten. - Entschuldigung, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Eigentlich ist die Redezeit beendet. Ich meine aber, angesichts der Bedeutung dieser Debatte sollte der Kollege Ernst Hinsken seine Frage stellen, nachdem der Kollege Hartmann dies erlaubt hat. - Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Weil ich Sie so eingeschätzt habe, habe ich eingangs eine lobende Bemerkung gemacht, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich habe es so verstanden. Vielen Dank, Herr Kollege Hartmann.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich dafür, dass ich die Frage stellen darf, Herr Präsident. Ich stelle sie gerne, weil ich den Kollegen Hartmann sehr schätze. Herr Kollege Hartmann, einer der größten Lobbyisten in der Bundesrepublik Deutschland ist der ehemalige Vorsitzende und jetzige Ehrenvorsitzende der SPD, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({0}) Er ist nach meiner Information bei Gazprom als Lobbyist beschäftigt. In welche Kategorie würden Sie ihn einordnen?

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Herr Schröder war nicht mehr im Amt, als er diese Funktion übernommen hat. ({0}) Zweitens. Wenn wir über Herrn Schröder reden, fällt mir der frühere hessische Ministerpräsident ein. In Frankfurt wird gerade ein Flughafen ausgebaut. Nun ist Herr Koch in ein entsprechendes Unternehmen gewechselt. Dort wird er gut bezahlt; er wird bestimmt auch einen guten Job machen. Bei aller Wertschätzung warne ich davor, die Debatte so zu führen. Ich habe vorhin ganz bewusst auch frühere Regierungen erwähnt, an denen wir beteiligt waren. Wenn wir ein Pingpongspiel nach dem Motto „Wer ist der Größere?“ spielen, verschandeln wir das Selbstverständnis des Parlaments. ({1}) Ich will, dass wir als Parlament allen, die Lobbyismus betreiben, die Rote Karte zeigen. Machen Sie einfach mit. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Michael Hartmann. - Als Nächster spricht unser Kollege Dr. Stefan Ruppert für die Fraktion der FDP. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie so oft komme ich als junger Abgeordneter in eine Debatte und erhoffe mir, ein ernstzunehmendes und schwieriges Problem auch entsprechend behandelt zu sehen. ({0}) Wir alle haben den Eindruck, dass sich die erste Gewalt in diesem Staat, das Parlament, in einer gewissen Legitimationskrise befindet. Wir haben immer wieder den Eindruck, dass der Deutsche Bundestag bei den Bürgern nicht das Ansehen genießt, das ihm eigentlich laut Verfassung zusteht. ({1}) Wir haben den Eindruck, dass die Menschen in andere Gewalten, beispielsweise die Judikative, vertreten durch das Bundesverfassungsgericht, sehr viel mehr Vertrauen setzen als in den Deutschen Bundestag. Wir haben den Eindruck, dass die Menschen auch sehr viel mehr Vertrauen in einzelne Ministerien setzen als in den Deutschen Bundestag. Ein Grund dafür ist, dass wir es nicht schaffen, uns gegenseitig unsere eigene kritische Haltung gegenüber unsachgemäßen Interessen, unseren eigenen inneren Kompass gegenüber Menschen, die auf uns zukommen und dies oder jenes erreichen wollen, zuzugestehen. Wir tun immer so, als ob wir alle im konkreten und mit Beweisen belegten Verdacht stehen, dass wir käuflich sind und nur den Einflüsterungen irgendwelcher Interessenvertreter zugewandt sind. Ich glaube, wenn Sie diese Diskussion so anfangen, werden Sie sie nicht gewinnen. ({2}) Ihr Lobbyismusbegriff ist unscharf. ({3}) Als ich hierher gekommen bin, hatte ich - genau so, wie Sie es gerade gesagt haben, Herr Sharma - den Eindruck, dass die mächtigsten Vertreter sicherlich die Pharmaverbände sind. Heute habe ich den Eindruck: Nein, die mächtigsten Verbände sind - ich finde das nicht negativ - die Gewerkschaften, die Kirchen und Umweltorganisationen. ({4}) Sie haben durch Massenbriefe oder das Vortragen der Anliegen einzelner Personen die Möglichkeit, sehr konkret auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen. ({5}) Leider werden sie von Ihrem Lobbyismusbegriff überhaupt nicht erfasst. ({6}) Ich zitiere dazu aus dem Antrag der Grünen: Dabei sollte die Absicht, Entscheidungen und Abläufe der Exekutive und Legislative im Sinne der Auftraggeber zu beeinflussen, das entscheidende Kriterium sein. Vorausgesetzt - das sagt der Jurist in mir - wird also ein Auftragsverhältnis zwischen einer Person, die Interessen wahrnimmt, und einer anderen, der auftraggebenden Person, die sagt, was er zu tun hat. Das ist doch ein völlig unterkomplexes Bild davon, wie hier Entscheidungen getroffen werden. Es ist doch nicht so, dass einzelne Personen Aufträge von anderen entgegennehmen, sondern es sind Interessen aus der Mitte der Gesellschaft, die hier institutionell verfestigt uns gegenüber artikuliert werden. Das ist auch gut so. Wir sollten nicht zwischen Menschen in Auftragsverhältnissen und Gewerkschaften, Kirchen, Umweltverbänden und anderen unterscheiden. ({7}) Das führt meiner Meinung nach dazu, dass es den negativen Geruch klassenkämpferischer Ideen bekommt.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Michael Hartmann?

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das ist der Fall. - Bitte schön, Kollege Hartmann.

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Ruppert, dass Sie die Frage zulassen. Seien Sie versichert, mir geht es tatsächlich um das ernsthafte Voranbringen eines für das Selbstverständnis des Parlaments wichtigen Themas. Deshalb frage ich Sie: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass Lobbyismus, so legitim er auch sein mag, dann nicht mehr legitim ist, wenn er versteckt und intransparent stattfindet? Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, dass wir als gewählte Volksvertreter einen Anspruch darauf haben, zu erfahren, wer an einem Gesetz mitgestrickt hat? Es kann Sie doch nicht erfreuen, wenn beispielsweise im Verkehrsministerium ein Vertreter von Fraport ausgerechnet am Fluglärmgesetz mitstrickt. Wenn das der Fall ist, wollen Sie das nicht wissen? Sind Sie da nicht auch für mehr Transparenz?

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Hartmann, ja, wir sind völlig einer Meinung, dass es Transparenz bedarf, um genau zu sehen, wie Entscheidungen getroffen werden. Aber glauben Sie wirklich, dass ein Lobbyist, der sich in dieses Register eintragen lässt, auf eine Entscheidung Einfluss nimmt? Glauben Sie, dass es dadurch, dass er in diesem Lobbyistenregister registriert ist, mehr Transparenz gibt? Wir alle wissen doch, wie Kontakt aufgenommen wird. ({0}) Es ist doch eben nicht so, dass die konkrete Einflussnahme durch die Eintragung in ein Lobbyistenregister ausgeschlossen ist. Wir teilen das gleiche Anliegen. Ich bin allerdings der Auffassung, dass der von Ihnen beschrittene Weg ein un11684 tauglicher Versuch ist; denn er führt eben nicht dazu, dass das eintritt, was Sie aus guten Motiven und, wie ich finde, völlig zu Recht bezwecken. Unsachgerechte Einflussnahme, die wir alle bekämpfen wollen, ist so, wie Sie es uns vorschlagen, leider nicht zu unterbinden. Insofern: Das Anliegen teilen wir. Was den Weg angeht, sind wir unterschiedlicher Meinung. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Jerzy Montag.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne, ja.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Herr Kollege.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, Danke schön. - Lieber Herr Kollege, nachdem Sie gerade wortwörtlich aus dem Grünen-Antrag zitiert haben, habe jedenfalls ich den Eindruck, dass Sie nicht verstanden haben, was wir in unserem Antrag geschrieben haben. ({0}) Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir von einem Auftragsverhältnis sprechen, meinen wir nicht ein Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und einem Abgeordneten, sondern wir meinen, dass in dieses Register verpflichtend diejenigen einzutragen sind, die zum Beispiel im Auftrag von Greenpeace, im Auftrag der Pharmaindustrie oder im Auftrag des Schornsteinfegergewerbes tätig werden. Zu einem solchen Auftragsverhältnis gehört, dass Herr Müller oder Herr Meier, der einen Hausausweis bekommt - es ist Sinn und Zweck dieses Registers, dass man einen Hausausweis und einen ungehinderten Zugang zum Bundestag und zu den Ausschüssen bekommt -, offenlegen muss, wer sein Auftraggeber ist. Dies unterscheidet unseren Antrag vom Antrag der Linken. Die Linken möchten jeden Bürger, der sich in seinem eigenen Interesse an uns wendet, als Lobbyisten in eigener Sache in das Register aufnehmen. ({1}) Dies wiederum geht für uns absolut an der Sache vorbei. Ich bitte Sie also, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit dem Auftragsverhältnis, das Sie zitiert haben, nicht das Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und Ihnen oder mir meinen.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Montag, genau hier liegt das Problem. Sie haben das nämlich nicht juristisch präzise, sondern eher in Alltagssprache formuliert. Aber ich frage Sie: Wäre ein Vertreter von Greenpeace, der Mitglied bei Greenpeace ist und für Greenpeace arbeitet, in Ihrem Register erfasst? Wäre ein Gewerkschaftsvertreter, der hier auftaucht, darin erfasst? ({0}) Die stehen nämlich nicht in einem Auftragsverhältnis, sondern in einem Arbeitsverhältnis; das ist der erste Punkt. Zweitens haben Sie meiner Meinung nach nur eine Berufsgruppe gekennzeichnet - Ihrem Antrag liegt ein striktes, sehr enges Verständnis von Lobbyismus zugrunde -, eine Berufsgruppe, die im Auftrag anderer direkt lobbyistische Initiativen ergreift. Das ist, würde man Ihrem Anliegen Rechnung tragen, viel zu wenig, weil man eine viel zu kleine Gruppe erfassen würde, ({1}) die tatsächlichen Formen der Interessenbeeinflussung aber überhaupt nicht erfassen würde. ({2}) Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück. Es ist so, dass der Lobbyismusbegriff bei Ihnen oft negativ konnotiert ist. Im Antrag der Grünen ist er dankenswerterweise positiv konnotiert. Sie sagen, Lobbyismus ist eine sinnvolle und in einem gewissen Rahmen auch wichtige Form der Informationsgewinnung, auch für Abgeordnete. ({3}) Ich teile Ihre Ansicht ausdrücklich. Aber was heißt das in der Konsequenz? Wenn sich mein Sportverein, mein Kreisverband des Roten Kreuzes, der Landessportbund Hessen, die Caritas oder die Diakonie Niedersachsen nicht in Ihr Register eintragen lassen, dürfen sie dann in meinem Wahlkreis nicht mit mir in Kontakt treten? ({4}) Was Sie an dieser Stelle vorschlagen, ist nicht praktikabel. ({5}) Meiner Meinung nach haben Sie ein sinnvolles Anliegen in völlig untauglicher Form in einen Antrag gegossen. Dabei können wir Ihnen aber leider nicht helfen. Diese Arbeit müssen Sie schon selbst machen. ({6}) Ich will nun auf die externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien zu sprechen kommen; denn auch um sie geht es in dieser Debatte. Wir haben dieser Tage den sechsten Bericht des Bundesrechnungshofs über externe Mitarbeiter in den Ministerien zur Kenntnis genommen. ({7}) Es ist also keineswegs so, dass diese Form der Kooperation nicht erfasst wird. Ich sage Ihnen: Sie ist dann negativ - durchaus auch in den Fällen, die Sie genannt haben -, wenn es dabei um Interessenverbände geht, die ihr Handeln auf nicht transparente Art und Weise in eine Form gießen, die den Eindruck erweckt, es handele sich eigentlich um hoheitliches Handeln. ({8}) Das ist das Problem. Kein Problem ist es aus meiner Sicht, wenn sich temporär ein Ministerium externen Sachverstand - auch über ein befristetes Arbeitsverhältnis - einkauft. Es ist doch eine alte Vorstellung von Verwaltung, zu denken, dass wir alle Bereiche, auch wenn sie nur punktuell und temporär von Interesse sind, jederzeit kompetent vorhalten müssen. Wir müssen also zwischen den Fällen unterscheiden, in denen es richtig und wichtig ist, dass wir uns externen Sachverstand einkaufen, und den Fällen, die Sie genannt haben, bei denen es jemanden gibt, der eigentlich eigene Interessen verfolgt, sie aber in die Form hoheitlichen Handelns kleidet. Aus unserer Sicht leistet der sechste Bericht diese Transparenz in vollem Umfang. Wir führen dort auf - es sind übrigens wesentlich weniger in den Ministerien geworden, seit wir regieren -, ({9}) dass in Ihrer Regierungszeit sehr viele Menschen unter anderen Vorzeichen in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet haben. ({10}) Seit Schwarz-Gelb, seit die christlich-liberale Koalition regiert, arbeiten wesentlich weniger Menschen unter falscher Flagge in den Ministerien. ({11}) Deswegen sollten wir uns das nicht gegenseitig vorwerfen, aber wir sollten auch nicht so tun, als ob auf der einen Seite die Heiligen und auf der anderen Seite die Unheiligen sitzen. ({12}) Ihr Anliegen ist richtig, aber Ihr Weg ist leider nicht praktikabel, und er bringt nicht mehr Transparenz in die Beeinflussung von politischen Entscheidungen. Wir müssen ihn deshalb ablehnen. Vielen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ruppert. Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck. - Bitte schön, Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mal ein bisschen Ordnung in die wirre Debatte bringen, die von den Koalitionsrednern gründlich durcheinandergewirbelt worden ist. ({0}) Zum einen: Wenn Sie selber keinen Vorschlag haben, sollten Sie anderen nicht vorwerfen, dass der Weg nicht so optimal ist. ({1}) Wo ist denn eigentlich Ihr Weg? - Der führt wie immer bei der FDP ins Nichts. Da sind Sie auch überwiegend. Aber wenn Sie den Antrag gelesen hätten, den Sie gerade versucht haben zu zerrupfen, hätten Sie darin den Satz gefunden, mit dem wir Lobbyisten tatsächlich definieren, nämlich: Lobbyistinnen und Lobbyisten, die die im Gesetz vorgesehenen Rechte in Anspruch nehmen wollen, müssen sich im Register registrieren lassen. Dann wird abgeschichtet. Ihr DRK-Vorsitzender kann eben einmal ein Briefchen schreiben. Es kann vorgesehen werden, dass Lobbyistinnen und Lobbyisten, deren Lobbytätigkeit einen bestimmten zeitlichen und finanziellen Aufwand nicht übersteigt, ({2}) nicht registrierungspflichtig sind. Wir haben also alles mit Maß und Realitätssinn erfasst, weil wir in der Tat einen anderen Ansatz haben, als Sie, Herr Kaster, uns unterstellt haben. Ich zitiere aus unserer Begründung, damit die Bürgerinnen und Bürger nicht meinen, das, was Sie hier behauptet haben, sei richtig. Die Begründung fängt zu Recht damit an: Die Organisation von Interessen gehört zur Demokratie. Der Austausch von Meinungen ist Kernbestandteil einer pluralistischen Gesellschaft. Daher sind auch der Lobbyismus und sein Ansinnen, Interessen in der Gesellschaft in organisierter Form zu kanalisieren und bei den politischen Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit für deren Umset11686 Volker Beck ({3}) zung zu werben, legitimer Bestandteil einer demokratischen Zivilgesellschaft und nicht per se anrüchig. Dann weisen wir auf die problematischen Fälle der schwarzen Schafe hin. Das ist doch der richtige Ansatz. Wir dürfen auch die ehrlichen Lobbyisten, die uns mit Expertisen ausstatten und auf Fehler bei Gesetzentwürfen hinweisen oder auch nur ihre Interessen vortragen, die mit anderen Interessen im Widerstreit sind, nicht diffamieren. Aber davon zu unterscheiden sind diejenigen, die hier mit Geld unterwegs sind, die nicht sagen, wer sie eigentlich sind - wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, wo man nicht so genau weiß, wer dahintersteckt. Die beste Prophylaxe von Korruption, von anrüchigen Hinterzimmerpolitiken ist die Transparenz. Das ist der Ansatz für ein Lobbyistenregister. ({4}) Deshalb ist das sehr richtig. Ich würde mir wünschen, dass Sie mit uns gemeinsam über die Details reden. Über die muss man reden, und man muss das sachlich machen. Aber wenn Sie nur diffamieren und behaupten, wir würden hier gegen die Interessenvertretung der Gesellschaft in diesem Land agitieren, dann zeigt das, dass Sie offensichtlich etwas befürchten, wenn das transparenter wird. ({5}) Das kommt bei der Mövenpick-Koalition allerdings nicht ganz von ungefähr. Sie haben in der Tat ein Problem; denn bei Ihnen gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Geldüberweisungen an die Parteien und gesetzgeberischen Bonbons hinterher, die den Steuerzahler teuer zu stehen kommen. ({6}) So etwas sollten wir abstellen. Ein Beitrag dazu kann das Lobbyistenregister sein. ({7}) Zu Ihnen, Herr Kollege Hinsken. Sie haben vorhin den Kollegen von der SPD nach Herrn Schröder gefragt. Mir hat es auch nicht gefallen, dass er zu Gazprom gewechselt ist. Mir gefällt auch das, was Herr Koch macht, nicht. ({8}) - Auch das, was Birgit Fischer gemacht hat, finde ich ein bisschen schwierig. ({9}) Aber: Warum haben Sie denn dann unseren Antrag in der letzten Wahlperiode abgelehnt, der forderte, dass sich Mitglieder der Bundesregierung, die aus ihrem Amt ausscheiden, in einer Übergangszeit - analog zu den Regelungen für die Europäische Kommission - von einem Gremium der Bundesregierung ihre neue berufliche Tätigkeit genehmigen lassen müssen und dass diese Genehmigung versagt werden muss, wenn der Verdacht aufkommt, früheres Handeln im Amt habe etwas mit der Anschlusstätigkeit zu tun und sei sozusagen indirekt ein Dankeschön oder führe zu einem „Absaugen“ von Wissen und Insiderkenntnissen der Verwaltung, die man für das Wirtschaftsleben gewonnen hat? ({10}) Wir haben den Vorschlag gemacht. Seit dem Fall Bangemann von der FDP und seinem Gang vom Kommissarsposten zu einem spanischen Telekomunternehmen hat die Europäische Union eine solche Regelung. Warum können wir das nicht machen? Sie haben hier einen Popanz aufgebaut. Es ging dabei um Bürokratie. Zugegeben: Der Antrag der Linken würde zu Bürokratie führen, unser Antrag aber nicht. Warum macht Österreich das gerade? Warum hat die EU ein freiwilliges Register, das genau unseren Kriterien hier entspricht? Warum gibt es im US-Kongress seit 1995 den Lobbying Disclosure Act, wonach dort genau diese Angaben, die wir hier aufgeschrieben haben, veröffentlicht werden müssen? Warum ist das in den anderen Staaten eine Selbstverständlichkeit und hier bei uns bürokratischer Wahn oder die Diffamierung von Interessenvertretungen? Diesem Umstand müssen Sie Rechnung tragen. ({11}) Seit Urzeiten liegt dieses lustige Papier hier vor: „Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“. Die Liste wächst jedes Jahr an. ({12}) Inzwischen sind es 2 163 Verbände. Warum machen wir das nicht zu einem wirklichen informativen und transparenten Instrument, damit jeder Bürger, jede Bürgerin, jeder Abgeordnete und jeder Journalist entsprechende Informationen finden kann? Das hier ist völlig intransparent und uninformativ, kostet aber auch Arbeit. ({13}) - Ich sehe, der Kollege von der FDP will mir zu mehr Redezeit verhelfen. Ich bedanke mich dafür.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ja, genau. Ich habe Ihre Redezeit jetzt auch schon gestoppt, Kollege Beck, damit die Zwischenfrage gestellt werden kann, die Sie erkannt und ich zugelassen habe.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beck, ich habe eine Frage: Warum haben Sie das Register nicht in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt? Es gibt auch noch einige Bundesländer, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen. Haben Sie dort irgendwelche Überlegungen angestellt und schon etwas eingeführt? Das würde mich jetzt einmal interessieren.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben schon in der letzten Wahlperiode ein Lobbyistenregister gefordert und sind hier konsequent. Ich glaube, wenn Sie in der nächsten Wahlperiode noch einmal ins Parlament kommen sollten, dann werden Sie von der anderen Seite aus daran denken, dass man hinterher nicht alles mit dem Hinweis abtun kann, man hätte das alles in vier Jahren machen können. Man kann nicht die ganze Welt auf einmal verändern. Lassen Sie uns doch ernsthaft darüber reden, und nicht nach dem Motto: Warum haben Sie das nicht schon vor 20 oder 30 Jahren gemacht, als die FDP an der Regierung war? Das sind doch alberne Spielchen. ({0}) - Ich weiß nicht, ob die Kollegen in Nordrhein-Westfalen gerade dabei sind, aber ich finde, dass der Bund hier eine besondere Vorbildfunktion hat. Die entscheidende Gesetzgebung - auch in den Bereichen, in denen das Bundesrecht durch die Länderverwaltungen „exekutiert“ wird - findet doch hier im Deutschen Bundestag statt. ({1}) Die entscheidenden Korruptionsvorwürfe und Verbandelungen zwischen Lobbyismus, Gesetzgebung und Politik hat es doch hier in Berlin oder früher in Bonn gegeben. ({2}) Das Gesetz muss so gut werden, dass wir es allen Landesparlamenten zur Übernahme empfehlen können. Lassen Sie uns gemeinsam eine Gesetzesinitiative auf den Weg bringen, statt mit billigen Ausflüchten davor davonzulaufen. Lobbyismus ist keine schlechte Sache. Ob die Deutsche Bischofskonferenz oder der Lesben- und Schwulenverband, ob die Solarindustrie oder das Deutsche Atomforum hier ihre Interessen vortragen: Das ist nichts Schlechtes. Wir haben als Parlamentarier die Aufgabe, die Argumente zu wägen und im Interesse des Allgemeinwohls auszugleichen. Dabei sind wir aber darauf angewiesen, zu wissen, mit wem wir es jeweils zu tun haben. Das Lobbyistenregister kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Beck. - Als Nächster hat unser Kollege Manfred Behrens für die Fraktion der CDU/ CSU das Wort. ({0})

Manfred Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit den Anträgen zum Thema Lobbyistenregister. Das Thema ist uns allen nicht ganz neu. Es wurde in diesem Hause bereits in der 16. Wahlperiode debattiert. Die Bundesregierung wird aufgefordert, verbindliche Register vorzuschreiben. Verbände sollen verpflichtet werden, sich darin einzutragen. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die versuchte Einflussnahme durch Lobbyisten ist ein legitimes Mittel zur Interessenwahrnehmung. Sie gehört in unserem Staat zum politischen Entscheidungsprozess. Die Meinungsfreiheit, aus der sich letztlich der Lobbyismus herausbildet, ist eines der feinsten Rechte der Demokratie. Lobbyisten können wichtige Erfahrungen aus der Praxis in den politischen Entscheidungsprozess einbringen. Dieser ständige Informationsaustausch wirkt sich zumeist positiv in der Sache aus. Doch die versuchte Einflussnahme ist durch zahlreiche innerparteiliche Prozesse und Entscheidungen begrenzt. Seit fast 40 Jahren existiert die „Öffentliche Liste über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter“. Verbände können sich eintragen, wenn sie Interessen gegenüber dem Bundestag vertreten möchten. Aufgrund der Tatsache, dass diese Liste öffentlich ist, ist eine gewisse Transparenz gegeben. Inzwischen haben sich, wie schon gesagt wurde, mehr als 2 000 Verbände eingetragen. Diese öffentliche Liste ist 800 Seiten stark. Wo fehlt es da an Transparenz? Sie können Anschriften in Erfahrung bringen. Sie bekommen Namen von Geschäftsführern geliefert. Sie erhalten sogar Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Zudem fordern Sie die Offenlegung der finanziellen Mittel der Interessenvertretungen und deren Nutznießer. So steht es in Ihren Anträgen. Geht daraus mehr Transparenz hervor? Sie meinen, dass es besser wäre, wenn Interessenvertreter ihre finanziellen Mittel offenlegen würden. Das ist aber nur ein bedingt geeignetes Mittel. ({0}) Die Finanzierungsquelle lässt aus meiner Sicht nicht darauf schließen, ob ich gute oder schlechte Gespräche führe. Ich werde meine Gespräche weiterhin offen, frei, unvoreingenommen und mit der nötigen sachlichen Distanz führen. Ich selbst werde auch weiterhin abwägen, was für meine parlamentarische Arbeit von Bedeutung ist und was nicht. In Ihren Anträgen steht, dass Sie illegale Einflussnahme, sprich: Korruption, nicht ausschließen. Würde Manfred Behrens ({1}) ein verpflichtendes Lobbyistenregister das Problem lösen oder ausschließen? Ich denke, eher nicht. Korrumpierbarkeit kann man nicht mit einem Lobbyistenregister oder sonstigen Listen bekämpfen. Die moralische Verantwortung eines jeden Abgeordneten und die Stärke der Demokratie sind ein starkes Netz dagegen. Sie schreiben, dass Politik einerseits aufgrund der Komplexität auf externe Informationen angewiesen ist. Aber andererseits verstehen Sie Lobbyismus als Privatisierung von Politik und definieren dies als „kontrollfreien Raum“. Aber seriöse Lobbyisten treten öffentlich in Erscheinung. Mir ist nicht bekannt, wo Sie Ihre Gespräche führen. Ich jedenfalls führe meine Gespräche öffentlich, zum Beispiel bei Empfängen oder parlamentarischen Abenden. Dies sind transparente Räume. Dies sind keine - so wie Sie es formulieren - kontrollfreien Räume. Im Fazit komme ich zu dem Schluss, dass Lobbyismus in der Bundesrepublik Deutschland zur Demokratie gehört. Er darf allerdings niemals die einzige Informationsquelle für Abgeordnete sein. Die CDU/CSU steht für offene und freie Gespräche, zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort; denn der Austausch von Meinungen ist ganz einfach Kernbestandteil unserer vielfältigen Demokratie. Vielen Dank. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat als Nächste auf unserer Rednerliste das Wort unsere Frau Kollegin Dr. Eva Högl für die sozialdemokratische Fraktion. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Mir ist wichtig, gleich zu Anfang zu betonen, dass Lobbyismus alles andere als verwerflich ist. Darüber habe ich hier in der Debatte Konsens festgestellt. Ich gehe sogar so weit und sage, dass Lobbyismus und gezielte Interessenvertretung für unsere gemeinsame Arbeit hier im Parlament unerlässlich sind und dass die Vertretung von Interessen zu den Wesensmerkmalen unserer Demokratie gehört. Mir ist auch wichtig, gleich zu Anfang zu sagen: Es geht nicht um eine Hetzjagd auf PR-Agenturen, Gewerkschaften, Verbände oder sonstige Interessenvertretungen. Vielmehr geht es darum, die Interessenvertretung sinnvoll und richtig zu regeln. ({0}) Deutschland ist kein Land, in dem Korruption regiert. Das hat der Bundesrechnungshof gerade erst wieder festgestellt. Wenn aber laut einer Umfrage von Transparency International sieben von zehn Bürgerinnen und Bürgern der Auffassung sind, dass die Bestechlichkeit in Deutschland zugenommen hat und dass gerade die Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Interessenvertretung und professionellen Lobbyistinnen und Lobbyisten kritisch gesehen wird - Stichwort „Schulklasse“ -, dann muss uns das Sorgen bereiten. Wir müssen als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ein Interesse daran haben, diesen Bereich zu regeln und hier zu Verbesserungen zu kommen. Es gibt zwei Punkte, die mir wichtig sind. Das Erste ist: Wir müssen immer sehr genau überprüfen, wer auf was tatsächlich Einfluss nimmt. Das müssen wir immer im Blick haben. Das Zweite ist - das ist der Hauptpunkt -: Es geht um Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit. Denn das Problem ist, dass Interessenvertretung meistens unerkannt, im Hintergrund stattfindet und nicht kontrolliert werden kann. Deswegen sollte der Schwerpunkt bei der Errichtung eines Lobbyistenregisters auf öffentlicher Kontrolle und Transparenz liegen. Wir brauchen klare Regeln. Deswegen begrüße ich für die SPD-Fraktion die von den Grünen und der Linken vorgelegten Anträge. Es ist schon gesagt worden: Innerhalb der Europäischen Union war der Deutsche Bundestag das erste Parlament, das 1972 eine Verbändeliste eingeführt hat. Das ist ein großer Vorteil. Da sind wir nach vorne gegangen. Doch diese Regelung, Herr Kollege Kaster, ist unzureichend, und zwar aus zwei Gründen. Es werden lediglich Verbände erfasst, nicht aber alle anderen Interessenvertreterinnen und -vertreter. Außerdem sind die Angaben, die gemacht werden, nicht ausreichend. Wir brauchen viel mehr Angaben, um Lobbyismus kritisch hinterfragen und kontrollieren zu können. ({1}) Ich möchte, dass wir in diesem Punkt - wie Sie wissen, nehme ich gern zum Thema Europa Stellung - wieder Vorreiter in Europa werden. In Europa wird gerade darüber diskutiert, ob das Lobbyistenregister verbindlich gemacht werden und wie es verbessert werden soll, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Vorfälle, die alles andere als schön sind. Lassen Sie uns doch gemeinsam gute Regeln erarbeiten! Ich lade ausdrücklich die Koalitionsfraktionen dazu ein, nicht nur zu kritisieren, was vorliegt, sondern auch konkrete Vorschläge zu machen, wie wir das verbessern können. ({2}) Noch ein paar Gedanken. Wie gesagt, es müssen alle Interessenvertreterinnen und -vertreter erfasst werden. Ein solches Register muss verpflichtend sein. Es darf nicht nur freiwillig sein; das ist ganz entscheidend. Es müssen Angaben über die Herkunft und Höhe der finanziellen Mittel gemacht werden. Das ist wichtig, um beurteilen zu können, wer welche Interessen wie wahrnimmt. Ich möchte außerdem sehr gerne einen Überblick über den Tätigkeitsbereich sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Dann ist eines wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen dieses Register veröffentlichen. Wir müssen es im Internet veröffentlichen, wir müssen es allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen. Wenn Sie mal ehrlich auf unsere Parlamentspraxis schauen: Wer kennt denn überhaupt die Verbändeliste, wer arbeitet denn damit? ({3}) Das ist doch eher ein Geheimdokument. Ich möchte sehr gern, dass das Register, das wir haben, allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich ist. Es geht - ich sage es noch einmal - um Transparenz. ({4}) Außerdem brauchen wir Sanktionen. Die Nichteintragung, die Nichtbefolgung unserer Regeln müssen auch sanktionsbewehrt sein. Wir brauchen auch hier klare Regeln. Ich will dann noch einen weiteren Punkt anfügen, der in den Anträgen nicht auftaucht. Wir werden als SPDFraktion auch noch Vorschläge vorlegen und uns an der Diskussion beteiligen. Wir brauchen auch einen Verhaltenskodex für Interessenvertreterinnen und -vertreter, geprägt von Offenheit - ich wiederhole es -, von Transparenz, Ehrlichkeit und Integrität. Deswegen brauchen wir einen solchen Kodex, an den sich alle halten. ({5}) Zum Schluss appelliere ich noch einmal an uns alle hier in diesem Hohen Haus: Wir haben das gemeinsame Interesse - das ist schon gesagt worden -, hier so transparent wie möglich zu arbeiten und so nachvollziehbar wie möglich zu machen, welche Interessen hier vertreten werden; denn wir sind alle davon abhängig. Wir kennen das: Wir wissen, dass gute Gesetzgebung häufig nur dann gemacht werden kann und Vorschläge nur dann wirklich ausgewogen und gut sind, wenn wir die verschiedenen Interessen abwägen. Aber es gibt keinen Grund dafür, vor der Öffentlichkeit Angst und vor Transparenz Scheu zu haben. Deswegen fordere ich uns alle auf, gemeinsam an guten Regeln zu arbeiten. Es würde uns auszeichnen, und es würde dem Deutschen Bundestag gut zu Gesicht stehen. Herzlichen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Högl. - Als Letzter auf unserer Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt folgt jetzt unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege Armin Schuster. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich glaube, diese Debatte wird auch auf der Zuschauertribüne als sehr interessant bewertet. Es ist kein Zufall, dass die architektonische Gestaltung der neuen Bundestagsgebäude nicht einfach den Architekten überlassen wurde, sondern dass durch große Fensterfronten, durch komplett einsehbare Büros, durch die Möglichkeit, auf Zuschauertribünen zu sitzen, durch die Möglichkeit, mit Besuchergruppen zu arbeiten, genau die Offenheit, die Transparenz gezeigt werden soll, über die wir jetzt seit einer Dreiviertelstunde hier diskutieren. Jeder kann uns sozusagen live auf die Finger schauen, und das soll auch so sein. ({0}) Die vorliegenden Anträge befassen sich ehrenhafterweise alle mit dieser Idee. Gleichwohl - das ist hier herausgearbeitet worden - spüren wir im Gespräch mit dem Bürger, dass da ein anderes Empfinden, eine andere gefühlte Temperatur ist. Ich habe den Eindruck, dass das gar nicht daran liegt, dass wir ein Problem mit zu viel Korruption etc. haben, sondern daran - ich habe Frau Dr. Högl gehört, ich habe Herrn Hartmann gehört, ich habe Herrn Beck ({1}) mit einem tollen Plädoyer gehört -, dass wir eigentlich gar kein Problem haben. Wir nehmen in diesem Haus den Lobbyismus sehr wichtig. Dann frage ich mich aber: Woher kommt der Eindruck, den der Bürger hat? - Dazu möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen - ich nehme da meine Fraktion nicht aus -: Ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir hier im Deutschen Bundestag dieses Thema diskutieren, sehr zur Meinungsbildung beiträgt. Ich bin nicht damit einverstanden, dass wir uns gegenseitig vorhalten, welcher ehemalige Politiker jetzt wo arbeitet. Solange er nicht 67 ist, halte ich es für legitim, dass er einen anständigen Job macht. ({2}) Ich halte es nicht für richtig, dass den einen die Mövenpick-Geschichte vorgeworfen wird und im Gegenzug Sie vielleicht erklären müssen, wo Ihnen die Windenergiebranche entgegengekommen ist. Das alles, diese Kultur in diesem Haus, meine Damen und Herren, sorgt sehr viel für die gefühlte Temperatur draußen. Es sind nicht die tatsächlichen Korruptionsfälle. Deshalb glaube ich, dass wir in dieser Debatte ein wenig zu stark mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn wir mal tatsächlich an die Fakten denken. Ich komme jetzt zu den Fakten und nenne zunächst das Thema externe Personen. Herr Hartmann beschäftigt sich damit im Innenausschuss sehr intensiv, und ich befürworte das auch. Hintergrund ist die Befürchtung, dass wir zu viele ausgeliehene Referenten haben, die auf anderen Payrolls arbeiten und unter Umständen sachfremde Dinge tun. Mit Ihrer Hilfe haben wir 2008 eine tolle Verwaltungsvorschrift gemacht. Dort sind sehr viele Forderungen, die jetzt in den Anträgen stecken, bereits verarbeitet worden. Wir erhalten die Berichte des Bundesrechnungshofs, die uns attestieren: Ihr habt kein Problem. Wir bekommen halbjährlich aus dem Bundesinnenministerium Berichte über den Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung - der aktuelle Bericht umfasst Armin Schuster ({3}) 63 Seiten; Fleißarbeit! -, in denen im Detail dokumentiert wird, was hier los ist. Es gibt, alle Ressorts zusammengenommen, ganze 56 Fälle. Zwei davon entfallen nicht auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Goethe-Institut, die Max-Planck-Gesellschaft, den Deutschen Naturschutzbund Deutschland oder eine ähnliche Einrichtung, sondern auf den BDI - und angesichts dessen wird hier ein Fass aufgemacht! In Gottes Namen, ist es denn so unrealistisch, dass der Bundeswirtschaftsminister mit dem BDI zusammenarbeitet? Wo sind wir denn? Diese Kritik kann ich wirklich nicht verstehen. Ich glaube, man muss die Kirche im Dorf lassen. Der letzte Bericht des Bundesinnenministeriums beweist eindeutig, dass wir eine absolut saubere Politik machen. Jetzt komme ich Ihnen aber entgegen, Frau Dr. Högl: Erstens. Den Bericht über den Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung öffentlich zugänglich zu machen - eine Forderung von Herrn Hartmann -, halte ich ebenfalls für angemessen. Darüber sollten wir reden. ({4}) Zweitens. Nicht erfasste, befristete Arbeitsverträge unter bestimmten Kriterien in diese Verwaltungsvorschrift aufzunehmen, halte auch ich unter bestimmten Umständen für sinnvoll. Über beide Dinge sollten wir reden. ({5}) Eventuell muss man die Verwaltungsvorschrift ändern. Ich biete an, darüber zu beraten. Ich weiß, dass die Regierung mit uns diesbezüglich eigentlich im Konsens ist. ({6}) Jetzt komme ich auf das Lobbyregister zu sprechen. Ich darf als ehemaliger Beamter sagen: Wenn man der deutschen Verwaltung unter Anwendung der von Ihnen geplanten Regeln den Auftrag gibt, Lobbykontakte in einem Register zu dokumentieren, dann wird man ganze Kohorten von Planstellen schaffen müssen; schließlich muss jeder Besuch, auch wenn er nur ein einziges Mal stattgefunden hat, dokumentiert werden. Wissen Sie, was Sie damit erreichen? ({7}) Überhaupt nichts! Unlautere Einflussnahme läuft nämlich subtil ab und ist nicht zu verorten. Die Techniken kennen Sie. ({8}) Was das buchhalterische Erfassen in Registern gewährleisten soll, das erschließt sich mir nicht. Ich glaube, wir müssen noch ein paar Jahre miteinander reden, bis es Ihnen gelingt, mich von der Richtigkeit dieses Erfassens zu überzeugen. Wie gesagt, wenn Sie einen ehemaligen Beamten nicht überzeugen können, dann zeigt das, wie schwach Ihre Argumente sind. ({9}) - Beurlaubt. Fazit: Wir haben eine gute Verwaltungsvorschrift. Wir haben sehr gute und aktuelle Rechenschaftsberichte. Wir haben ausweislich des letzten Berichts kein Transparenzproblem. Wir haben noch nicht einmal einen Verdachtsfall. Der BRH sagt: Wir sind clean. In RheinlandPfalz gibt es einen Komiker, der Menschen anruft und sagt: „Ich hätt’ da gern mal ein Problem.“ ({10}) - Stimmt, das ist ein Hesse. - Ungefähr das ist es, was diese Debatte kennzeichnet. Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger auf der Zuschauertribüne, Sie dürfen stolz darauf sein, nachweislich - ich betone: nachweislich - eine für das Thema sensible, sich selbst kontrollierende, transparente Regierung, eine durchschaubare Verwaltung und ein offenes Parlament zu haben. Das ist die Kernbotschaft, die ich gern vermitteln wollte. Danke schön. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/2096, 17/5230 und 17/2486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 17/2096 und 17/2486 sollen federführend beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Emissionshandels - Drucksache 17/5296 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat das Wort die Parlamentarische Staatssekretärin Kollegin Ursula Vizepräsident Eduard Oswald Heinen-Esser. - Bitte schön, Frau Kollegin HeinenEsser. ({1})

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf der Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz bringen wir heute den europäischen Emissionshandel für die Zeit ab 2013 hier in Deutschland auf den Weg. Dieser Emissionshandel wird sich künftig ganz deutlich von dem Emissionshandel unterscheiden, wie wir ihn in den ersten beiden Handelsperioden von 2005 bis 2012 kennengelernt haben. Diese beiden Perioden waren durch einen - um es vornehm auszudrücken sehr großen Handlungsspielraum gekennzeichnet, den die ursprüngliche Emissionshandelsrichtlinie den Mitgliedstaaten eröffnete. Denn im Grunde - um das einmal deutlich zu sagen - konnte jeder Staat es halten, wie er wollte. Er konnte die Mengen und die Zuteilungsregeln selber festlegen. Wir haben erfahren, was das im europäischen Kontext bedeutete, nämlich einen Wettlauf der Mitgliedstaaten um die jeweils besten Wettbewerbsbedingungen. Deshalb war es überhaupt nicht verwunderlich, dass sich ein breiter Konsens für eine deutlich stärkere Harmonisierung der Regeln innerhalb des EU-Emissionshandelssystems abgezeichnet hat. Das betraf insbesondere die Festlegung einer EU-weit einheitlichen Gesamtemissionsmenge und einheitlicher Zuteilungsregeln, mit denen man hofft, diesen Wettlauf einzudämmen. Wir wollen eben nicht 27 verschiedene nationale Emissionshandelssysteme, sondern ein europäisches Emissionshandelssystem. Die Novelle hat drei Hauptanliegen. Erstens. Es soll keine nationalen Alleingänge geben, sondern eine konsequente Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie. Zweitens geht es um die Nutzung von Gestaltungsspielräumen, die die Richtlinie insbesondere für Kleinanlagen eröffnet. Und schließlich geht es drittens um eine sinnvolle Fortentwicklung der nationalen Vollzugsregelungen, insbesondere um die Neuaufteilung der Vollzugsaufgaben von Bund und Ländern. Lassen Sie mich das anhand von drei Themen kurz darstellen. Der erste Punkt betrifft den Anwendungsbereich der Novelle und damit die Frage, welche Anlagen ab 2013 mit einbezogen werden. Zum einen wollen wir das Problem des Flugverkehrs in dieser Novelle mit lösen, das heißt, erstmals werden die Fluggesellschaften mit in den Emissionshandel einbezogen, und zum anderen wird die Anzahl der betroffenen Anlagen in Deutschland ab 2013 auf etwa 2 000 anwachsen. Das sind etwa 20 Prozent mehr als bisher. Durch die Eins-zu-eins-Umsetzung können sich die betroffenen Unternehmen aber rechtzeitig auf die veränderte Situation einstellen, ohne dass ihnen bei der kostenlosen Zuteilung langjährige Streitereien etwa mit der Kommission drohen. Der zweite Punkt betrifft die in der Novelle eröffnete Möglichkeit zur Privilegierung von Kleinanlagen. Es gibt eine Option für Kleinanlagen, die von der Pflicht zur Abgabe von Zertifikaten dann befreit werden, wenn sie anstelle der Teilnahme am Emissionshandel gleichwertige Maßnahmen zur Emissionsreduzierung erbringen. Diese Regelung ist vor allem für kleine und mittlere Unternehmen wichtig, die im Verhältnis zu ihrer Emissionsmenge überproportional von den Transaktionskosten des Emissionshandels betroffen sind. Die dritte Regelung - da werden wir sicherlich noch in Diskussionen mit dem Bundesrat eintreten - betrifft die Neuaufteilung der Vollzugszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Die Zuständigkeit des Umweltbundesamtes für die gesamte Emissionsüberwachung sichert einen bundeseinheitlichen Vollzug und trägt damit auch zur Wettbewerbsgerechtigkeit zwischen den in Deutschland am Handel beteiligten Unternehmen bei. Die Genehmigung der emissionshandelspflichtigen Anlagen soll wie bisher unverändert bei den Ländern bleiben. Gestatten Sie mir dazu eine Anmerkung. Wir können nicht in Europa einheitliche Bedingungen haben und es in Deutschland in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich regeln. Es ist wichtig, dass wir auch innerhalb Deutschlands zu einheitlichen Regelungen kommen. Es gibt natürlich Wünsche - auch darüber werden wir noch sprechen -, die in der Novelle nicht enthalten sind. Dies betrifft die viel diskutierten Regeln für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten. Diese Regeln werden ab 2013 EU-weit vereinheitlicht. Die Mitgliedstaaten - das muss man klar sagen - haben bei der Umsetzung dieser Regeln keinen nennenswerten Gestaltungsspielraum mehr. Deshalb sieht der Entwurf der Novelle die Umsetzung der Zuteilungsregeln im Wege einer Rechtsverordnung vor. Weil es aber ein besonderes politisches Thema ist und auch immer wieder besondere politische Aufmerksamkeit bekommt, wird vorgeschrieben, dass die Zustimmung des Deutschen Bundestages zu der Zuteilungsverordnung erforderlich ist. Damit ist gewährleistet, dass es immer wieder hier im Parlament diskutiert wird. Der Emissionshandel ist für die von ihm erfassten Bereiche das zentrale Instrument zur Erreichung unserer Klimaschutzziele. Er ist das wirklich umfassendste klimapolitische Instrument. Wir sehen unsere Industrie und unsere Unternehmen auch für den Emissionshandel nach 2012 sehr gut aufgestellt. Deshalb können wir jetzt frohen Mutes in die neue Handelsperiode eintreten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider sind die Unternehmen nicht so gut aufgestellt, Frau Staatssekretärin, weil Sie mit Ihrer nationalen Umsetzung etwas spät dran sind; es hätte schneller gehen können. Das bringt Probleme für manche Unternehmen. Sie wissen nicht genau, wie das demnächst eigentlich aussieht und wie sie dann an die Zertifikate kommen, weil das Gesetz noch nicht beschlossen ist und Sie den Zeitplan, den Sie sich vorgenommen haben, nicht einhalten werden. „Gesetz zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Emissionshandels“, das ist der sperrige Titel. Es ist eine recht sperrige Materie. In der Tat - Sie haben es erwähnt, Frau Staatssekretärin -: Die nationalen Spielräume sind sehr gering. Ich sage: Zum Glück sind sie national sehr gering. Wir werden uns im Rahmen der Anhörung am Montag intensiver mit diesen geringen Spielräumen beschäftigen. Es ist gut, dass die nationalen Spielräume eng sind. Warum? Weil der Emissionshandel eines der zentralen Instrumente des Klimaschutzes ist und wir uns einig sind, dass die Herausforderungen des Klimawandels nur in größeren Zusammenhängen zu bewältigen sind. Das gilt weltweit und eben auch EU-weit. Es wird viel Kritik an der EU geübt. An der Stelle muss man aber einmal eine Eloge auf die EU halten. Wir haben mit der dritten Handelsperiode endlich ein einheitliches europäisches System, abseits von nationalen Egoismen des Status quo, die die Verhandlungen zur ersten und zweiten Periode leider bestimmt haben. In der ersten Periode ist etwas herausgekommen, das am Ende gar keine Steuerungswirkung mehr hatte. In der zweiten Handelsperiode ist es deutlich besser geworden, aber auch da hätte man sich mehr vorstellen können. Ich will aus Sicht des Parlaments in Deutschland sagen: Wir - ich meine diejenigen, die damals schon dabei waren - haben das Bestmögliche herausgeholt. Mit einem Versteigerungsanteil von am Ende 8,8 Prozent sind wir fast an die Grenze dessen gegangen, was wir eigentlich durften. Nichtsdestotrotz gab es Mitnahmeeffekte in einer Größenordnung von 30 bis 35 Milliarden Euro bei den großen Energieversorgungsunternehmen. Wir von der Politik müssen uns schon zurechnen lassen, dass wir das nicht verhindert haben. Was heute Grundlage ist, was wir heute diskutieren und demnächst hier beschließen werden, ist letztendlich Produkt des EU-Gipfels von Ende 2008. Ich will daran erinnern, dass es Umweltminister Gabriel war, der damals mit dafür gesorgt hat, dass diese Regeln durchgesetzt worden sind. Die Hauptregel ist, dass es im Bereich der Energieversorgung, des Stroms, eine hundertprozentige Versteigerung gibt. Das wird ab dem 1. Januar 2013 seine Wirkung haben. Ich will auch hervorheben, dass wir als Bundestag sehr selbstbewusst auf den Zeitpunkt Ende 2008 schauen können, weil wir als Deutscher Bundestag ein Stück Geschichte geschrieben haben. Wir haben nämlich die Beteiligung des Parlaments an der EU-Gesetzgebung mit Leben gefüllt. Ich glaube, dass man daraus lernen kann. Es ist gut, ein selbstbewusstes Parlament zu haben. In der aktuellen Situation kann man lernen: Es sind nicht Regierungen, nicht Sonderkommissionen und auch nicht Talkshows, die am Ende entscheiden, sondern es ist der Deutsche Bundestag; er ist vom Souverän mit der Macht ausgestattet, zu entscheiden. Heute sollten wir uns daran erinnern, dass das Ende 2008 geklappt hat. Auch bei dem, was in den nächsten Wochen und Monaten ansteht, sollten wir uns darauf besinnen. ({0}) Das alles sind Erfolge der Vergangenheit, die sich jetzt auszahlen. Die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb - vielleicht kann man das Herrn Umweltminister Röttgen ausrichten -, muss sich an dem Hier und Jetzt messen lassen und daran, was im Moment Klima- und Energiepolitik in diesem Lande ist. Da weiß die Regierungskoalition nicht mehr, wo hinten und vorn ist. Sie haben eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt, von der Sie nicht wissen, wie Sie davon wieder loskommen. Sie haben auf 29 schwach beschriebenen Seiten ein sogenanntes Energiekonzept erstellt, das mittlerweile pulverisiert ist. Sie haben es versäumt, das Klimaprogramm von Meseberg weiterzuentwickeln, das 2007 aufgestellt wurde und deutlich detaillierter war als das sogenannte Energiekonzept. Sie haben gegen Ihren eigenen Koalitionsvertrag verstoßen. Sie haben von „Brückentechnologien“ geredet und gleichzeitig die Pfeiler der Brücke eingerissen. Sie haben die Mittel für den Klimaschutz gestrichen. Sie haben einen ominösen Energieund Klimafonds aufgelegt, von dem Sie nicht genau wissen, ob überhaupt etwas in diesen Fonds hineinkommt und wie viel das sein wird. Sie haben den Exportschlager EEG ins Abseits gestellt und auf die verrottete Atomtechnologie gesetzt. All das hat einen Torso, eine Karikatur von Energieund Klimaschutzpolitik hinterlassen. Es bringt auch nichts, wenn Herr Röttgen ständig schöne Sätze spricht, die man bald alle auswendig kann. Denn er ist nicht dafür gewählt worden, Zukunftsforscher, Philosoph oder Leitartikler zu sein. Er ist dafür gewählt worden, Dinge umzusetzen. Ich meine beispielsweise die Frage, welchen Klimaschutz die Europäische Union zukünftig leisten wird. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Frage des Emissionshandels: Wollen wir eine Verschärfung der Klimaschutzziele innerhalb der Europäischen Union von 20 auf 30 Prozent, ja oder nein? Es ist die Zeit gekommen, darüber nicht weiter zu reden, sondern sich endlich durchzusetzen und die Dinge zu vollziehen. ({1}) Ich empfehle sehr, das Gutachten zu lesen, das der Wissenschaftliche Beirat „Globale Umweltveränderungen“ heute auf den Tisch gelegt hat; ich habe es zumindest anlesen können. Er ermahnt uns, die Dynamik zu nutzen, die in einem beschleunigten Atomausstieg in Deutschland, aber auch darüber hinaus liegt. Er ermahnt uns, die Chancen zu nutzen, die Dinge anzugehen und den Energieumbau voranzutreiben. Dafür braucht man einen effizienten Emissionshandel. Ich denke - so viel Gemeinsamkeit kann sein -, dass das, was wir am Ende, vielleicht mit leichten Veränderungen, als Gesetz verabschieden werden, durchaus einen Beitrag dazu leistet. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Dezember 2009 haben die Grünen einen Antrag gestellt, die alten ineffizienten, CO2 und Quecksilber emittierenden fossilen Kraftwerke am besten vom Netz zu nehmen. ({0}) Heute werden diese alten ineffizienten Dreckschleudern in vielen Studien und beispielsweise auch in Studien des Öko-Instituts „kalte Reserven“ genannt. Es wird darauf verwiesen, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn diese kalten Reserven jetzt hochgefahren werden. Warum? Weil wir auf europäischer Ebene den Zertifikatehandel haben. Spätestens jetzt hat sogar der Letzte gemerkt, dass Verschmutzungen in einen Naturraum einzupreisen, besser ist, als Techniken nach wechselnden Befindlichkeiten zu bestrafen oder zu bevorzugen. Es ist viel sinnvoller, auf europäischer Ebene ein marktwirtschaftliches Instrument einzuführen, als auf lokaler Ebene einzelne Kraftwerke hoch- oder herunterzufahren. Der Zertifikatehandel ist hierfür das richtige Instrument. Insofern finden wir es gut, dass wir diesen in der nächsten Handelsperiode weiter verstärken. ({1}) Es ist auch richtig, dass energieintensive Unternehmen kostenfreie Zuteilungen bekommen. Warum? Wir wollen das Klima schützen, wir wollen nicht die europäische Industrie schwächen. Unternehmen, die auf dem globalen Markt bestehen wollen, brauchen Rahmenbedingungen, damit sie sich am globalen Markt durchsetzen können. Zu diesen Rahmenbedingungen insbesondere für energieintensive Unternehmen gehört einfach auch, dass wir in dieser Frage helfen müssen. Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass im Bereich der Chemie 95 Prozent der Zertifikate frei zugeteilt werden. Warum ist dieser Bereich so wichtig? Wir sind in Deutschland bei der Chemie Weltmarktführer. Wir haben hier wichtige Arbeitsplätze. Ich danke Herrn Röttgen und Herrn Wirtschaftsminister Brüderle dafür, dass sie sich auf europäischer Ebene so stark für Deutschland eingesetzt haben. ({2}) Bei allem Lob: Es gibt auch drei Kritikpunkte, die ich am Anfang des parlamentarischen Verfahrens anbringen möchte. Frau Heinen-Esser hat die Kleinemittenten erwähnt. 50 Prozent der Anlagen, die neu in den Zertifikatehandel einbezogen werden, sind Kleinemittenten, die insgesamt 2 Prozent der CO2-Emissionen verursachen. Für sie gibt es folgende Ausnahmeregelung: Wenn die CO2-Reduzierung entsprechend der im Zertifikatehandel vorgesehenen Reduzierung vorgenommen wird, also parallel zu dieser läuft, können sie vom Zertifikatehandel ausgenommen werden, einfach aus dem Grund, dass die Bürokratiekosten wahrscheinlich höher wären als die Kosten für die Zertifikate. Hier gibt es nun Spielräume. Man kann sich vorstellen, dass es zum Beispiel für eine kleine Ziegelei wie die in meiner Gemeinde, die Kunsthandwerk macht, ziemlich schwierig ist, jedes Jahr den CO2-Ausstoß genau um 1,74 Prozent zu reduzieren. Es gibt vielleicht Nachrüstmaßnahmen, die nur 1,7 oder 1,69 Prozent oder auch nur 1,59 Prozent Reduzierung bringen. Für solche Fälle wurde ein kleiner Spielraum vorgesehen; das heißt, wenn sie weniger schaffen, also beispielsweise nur 1,6 Prozent, müssen sie für diese Differenz in Höhe des Gegenwertes der Zertifikate zahlen, also quasi eine Ersatzzahlung leisten. Einen solchen Spielraum gibt es aber nur bei einer Reduzierung von 1,6 bis 1,74 Prozent. Wenn die Einsparung demgegenüber beispielsweise bei 1,59 Prozent liegt, muss der volle Betrag bezahlt werden. Wir wollen mit dem Zertifikatehandel nicht Geld verdienen, sondern für Klimaschutz sorgen. Vor diesem Hintergrund ist jedes eingesparte Tönnchen CO2 eine gute Maßnahme. Deswegen fordere ich hier für die FDP eine Nachbesserung in der Form, dass jemand, der gar nichts macht, den vollen Gegenwert zahlt, dass jemand, der nur halb so viel wie vorgesehen einspart, die Hälfte zahlen, und jemand, der drei Viertel der vorgesehenen Einsparungen schafft, nur ein Viertel zahlen soll. Hier einfach einen Grenzwert festzulegen, halten wir nicht für gerechtfertigt. Das würde nur Kleinunternehmen und den Mittelstand und damit diejenigen treffen, die jetzt nach der Wirtschaftskrise wieder Kapazitäten aufbauen. Deswegen denken wir, dass man hierüber durchaus noch reden sollte. ({3}) Es gibt einen zweiten Kritikpunkt; dieser betrifft den Bereich der Müllverbrennung. Es gibt Hausmüll, es gibt aber auch Plastikmüll. Dieser Plastikmüll, der aus Erdöl besteht, kann wiederaufgearbeitet werden und wird dann als Ersatzbrennstoff bezeichnet. Jetzt kann man auf der einen Seite sagen: Die Verbrennung von Öl und die Verbrennung dieses Brennstoffs, der auch einmal Öl war, ({4}) ist im Prinzip gleichzusetzen. Beides emittiert ja in gewisser Weise CO2 und fällt damit unter den Zertifikatehandel. Auf der anderen Seite wird aber in fast allen Gutachten nachgewiesen, dass die Verwendung von Ersatzbrennstoffen dem Klima nützt: Zum einen wird das gleiche Produkt mehrfach verwertet, zum anderen ist unter dem Strich tatsächlich ein positiver Klimaeffekt, ein positiver CO2-Effekt vorhanden. Ob man diese positive Maßnahme, diese Klimaschutzmaßnahme, jetzt unbedingt in den Zertifikatehandel einbeziehen soll, kann man durchaus noch einmal diskutieren. Schon im Vorfeld wurde ja darüber diskutiert. Man hat dann gesagt: Bei einem Brennwert über 13 000 Kilojoule handelt es sich um einen Ersatzbrennstoff; alles, was darunter liegt, ist vom Zertifikatehandel freigestellt. Aber diese Grenze ist nicht sachlich gerechtfertigt, sondern das Ergebnis von Verhandlungen. Über diesen Punkt könnte man also durchaus auch noch nachverhandeln. Der dritte Kritikpunkt betrifft den Flugverkehr. Der Flugverkehr wird 2013 in den Zertifikatehandel miteinbezogen. Davon sind allerdings auf globaler Ebene nicht alle begeistert. Eine amerikanische Airline hat dagegen bereits Klage bei der EU-Kommission eingereicht. Man kann darüber diskutieren, ob ein Gericht diese Frage entscheiden soll. In vielen Fällen kann man das bejahen. Wir denken allerdings, dass Europa eine Handelszone darstellt, in der wir es mit Handelspartnern zu tun haben. Wenn von Handel, von Vertrauensverhältnissen und Partnern gesprochen wird, dann sollte man sich vielleicht darum bemühen, solche Gerichtsverfahren zu vermeiden und stattdessen im Vorfeld mit den Partnern sprechen. ({5}) Die Liberalen auf europäischer Ebene führen diese Gespräche schon. Wir möchten, dass auch die EU-Kommission verstärkt in die Gespräche eintritt, damit die Differenzen, die im Moment noch bestehen, in harten, aber fairen Gesprächen einvernehmlich aufgelöst werden und wir am Ende nicht die Gerichte darüber entscheiden lassen, wie unser Handel mit europäischen und außereuropäischen Partnern abgewickelt wird. ({6}) In unseren Haushaltsplänen ist die Flugticketabgabe noch enthalten. Diese soll ja 2013 von der Flugverkehrsteuer abgelöst werden. Deshalb freue ich mich auf den Haushalt 2013, in dem die Flugticketabgabe nicht mehr enthalten sein wird. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles von dem, über das wir heute beraten, ist bereits 2008 auf europäischer Ebene entschieden worden. Auf die Emissionshandelsrichtlinie der EU hatte Deutschland großen Einfluss. Doch hier ist offensichtlich einiges schiefgelaufen - jedenfalls aus Sicht des Klimaschutzes. Nachdem die Politik seit 2005 die Stromkonzerne fett gemacht hat, indem die Konzerne die wertvollen Emissionsrechte vom Staat geschenkt bekommen haben und diese aber unbegründet eingepreist haben, sollen die Zertifikate ab 2013 wenigstens im Stromsektor versteigert werden. Dies könnte auch im Kraftwerksbereich tatsächlich Lenkungswirkung entfalten, allerdings nur dann, wenn nicht zu viele Emissionsrechte auf den Markt geworfen werden. Doch genau hier liegt das Problem; denn überschüssige Rechte können von dieser Handelsperiode 2012 in die nächste Handelsperiode ab 2013 übertragen werden. Zurzeit liegen Rechte für 100 bis 160 Millionen Tonnen CO2 sozusagen auf Halde. Bedingt durch die Wirtschaftskrise wurden sie nicht gebraucht. Es besteht daher die Gefahr, dass der Markt mit Emissionsrechten überschwemmt wird und es daher keine Anreize für Klimaschutzmaßnahmen gibt. ({0}) Umweltminister Röttgen will das Minderungsziel der EU von minus 20 auf minus 30 Prozent gegenüber 1990 verschärfen. Ich sage noch einmal: Wir unterstützen dieses Ziel. Es ist aber nur unter der Voraussetzung zu erreichen, dass im Emissionshandelssektor entsprechend gekürzt wird. Die EU-Kommission hatte dazu auch einen klugen Vorschlag gemacht, nämlich im Jahr 2013 rund 1,4 Milliarden Zertifikate stillzulegen. Sie würden also von jenen Emissionsrechten abgezogen, die bislang zur Versteigerung vorgesehen sind. Wir haben die Bundesregierung schriftlich gefragt, was sie davon hält. Sie hat ganz frech geantwortet, einen solchen Vorschlag der Kommission gebe es überhaupt nicht. Dabei steht er in der Kommissionsmitteilung zur Analyse eines verschärften Minderungsziels schwarz auf weiß. Ich vermute Folgendes: Entweder nimmt die Bundesregierung die Kommission und ihre Mitteilungen nicht ernst oder aber das Fragerecht des deutschen Parlaments - vielleicht auch beides. ({1}) Inzwischen hat Klimakommissarin Conni Hedegaard diesen Vorschlag mehrfach wiederholt. Ich kann ankündigen, dass wir, die Linke, die Kleine Anfrage noch einEva Bulling-Schröter mal stellen und die Antwort der Bundesregierung an Frau Hedegaard schicken. Wir sind gespannt. ({2}) Die eigentliche Katastrophe in der EU-Emissionshandelsrichtlinie ist aber die weitgehend kostenlose Zuteilung der Emissionsrechte an die Industrie. Die in jeder Hinsicht einfachste und wirksamste Methode einer Versteigerung wurde unter deutschem Druck verworfen. Ich sage nicht, dass eine Versteigerung keine Probleme mit sich bringen würde; denn ich kenne ja Herrn Obermeier. Er wird dazu sicher etwas sagen. Aber man hätte es differenzierter ausgestalten können. Wir haben in diesem Zusammenhang im Ausschuss über Kriterien diskutiert. Diesen Weg wollten Sie nicht beschreiten. Die Folge ist erneut ein bürokratisches Monstrum mit einem Wirrwarr von Zuteilungsregeln. Das zeigt sich auch bei der TEHG-Novelle, also der Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, um die es heute geht. Durch das Hickhack zwischen Umwelt- und Wirtschaftsministerium ist das Ding zudem fast unlesbar geworden. Die Lobbyarbeit der einzelnen Wirtschaftszweige und die Empfänglichkeit von Herrn Brüderle dafür liegen wie Mehltau über der Rechtspflege. ({3}) Dabei stehen die kompliziertesten Geschichten noch gar nicht im Gesetz: Über den Verordnungsweg sollen noch 52 EU-weit gültige Benchmarks eingeführt werden. Was sind Benchmarks? Das sind Vergleichszahlen für branchentypische Emissionen. Sie sind nötig, um die Zuteilung an die Industrie im Detail zu regeln. Einzelne Anlagen lassen sich dabei noch in fiktive Teilanlagen zerlegen. Sie sehen, wie kompliziert das Ganze ist. Die Folge ist: Es gibt Schlupflöcher ohne Ende; eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ist quasi ausgeschlossen. Dass hier unter dem Strich viele Firmen vom zusätzlichen Klimaschutz befreit werden, pfeifen die Spatzen vom Dach. Ab nächstem Jahr wird der Flugverkehr in den Emissionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Das ist allerdings wenig ermutigend; denn die zugeteilte Gesamtmenge wird im Jahr 2020 95 Prozent des Durchschnitts der Jahre 2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klimaschutz sieht anders aus. ({4}) Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte versteigert werden. Ferner - das halte ich für schlimm ignoriert das System die indirekten Effekte des Flugverkehrs wie NOx und Wasserdampf, die die Treibhauswirkung je Tonne ausgestoßenes CO2 um den Faktor zwei bis vier erhöhen. Das heißt, in Flughöhe ist CO2 wesentlich klimawirksamer als am Boden, beispielsweise bei einem Auto. Dann müsste man das entsprechend der Wirksamkeit auch so einpreisen. Das wird jedoch nicht gemacht. Insgesamt setzen wir mit dem TEHG nur ein halbherziges Klimapaket der EU um. Das sollte heute, bevor es in den Ausschüssen um Details geht, noch einmal gesagt worden sein. Zum Schluss vielleicht noch Folgendes: Für besonders schäbig halte ich es, dass Sie von der Koalition die Kompensation für Flugreisen schon im Vorfeld gestrichen haben. Das finde ich grob unanständig. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hermann Ott für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz bringt unbestritten einige Verbesserungen, etwa die Vollversteigerung im Stromsektor, die Einbeziehung weiterer Klimagase und Anlagen oder auch die längst überfällige Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel. Wahr ist aber auch, dass der Emissionshandel in der dritten Handelsperiode weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und damit den Herausforderungen des Klimawandels nicht gerecht wird. Ich will an dieser Stelle nur einige Kritikpunkte nennen. Da gibt es nach wie vor die weitgehend kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Industrie oder die viel zu großzügige Nutzung des Clean Development Mechanism, der teilweise höchst problematisch ist. Dies sind Regelungen, die den Emissionshandel schwächen. Doch es gibt sogar explizit klimaschädliche Regelungen in der Richtlinie. So erlaubt es die europäische Regelung sogar, neue Kohlekraftwerke mit den Erlösen aus dem Emissionshandel zu subventionieren. Die Bedingung: Sie müssen „CCS-ready“ sein. Das heißt im Grunde nicht mehr, als dass sie über einen zusätzlichen benachbarten Bauplatz verfügen müssen, wo man so eine Abscheidungsanlage hinsetzen könnte - könnte, aber nicht muss. Es ist, meine Damen und Herren, eine Schande, dass ein Instrument des Klimaschutzes für die Finanzierung von Kohlekraftwerken, also von Klimakillern, missbraucht werden kann. ({0}) Dass Sie diese Regelung umsetzen wollen, steht zwar im Koalitionsvertrag, aber die Regelung steht Gott sei Dank nicht im Gesetz. Ich komme jetzt zu der Situation in Deutschland. Es muss festgestellt werden, dass der gesamte Emissionshandel in seiner jetzigen Ausgestaltung den Klimaschutz in Deutschland eher behindert, indem er nämlich die Erreichung des 40-Prozent-Ziels fast unmöglich macht; denn die Verpflichtungen für Deutschland setzen nur das europäische 20-Prozent-Ziel um. Die Minderung für den Strom- und Industriesektor in Deutschland beträgt entsprechend eben auch nur 20 Prozent. Das ist nicht nur viel zu schwach. Es ist auch nicht ersichtlich, wie diese schwache Regelung von den übrigen Sektoren kompensiert werden könnte, wo doch der Emissionshandel nur knapp die Hälfte der Emissionen in Deutschland erfasst. Wie viel mehr soll denn der Verkehrssektor erbringen? Wie viel mehr sollen die privaten Haushalte erbringen? Nein, das deutsche 40-Prozent-Ziel entspräche einem europäischen Ziel von 30 Prozent. Das wäre - das wissen Sie auch - sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll. Aber die Bundesregierung blockiert die europäische Einigung auf ein 30-Prozent-Ziel. Sie blockiert damit auch die Erreichung des eigenen Ziels. Ist es Schizophrenie oder kühle Kalkulation? Wir wissen es nicht. Aber so nebenbei wird dadurch auch der seit Regierungsantritt bestehende Geburtsfehler dieser Koalition deutlich, dass es nämlich keine Solidarität unter Ihnen gibt. ({1}) Wirtschaftsminister Brüderle bremst gnadenlos Umweltminister Röttgen aus, der sich für die Erhöhung des Ziels auf 30 Prozent einsetzt. Röttgen bekommt zum Dank nicht einmal die Unterstützung seiner Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker. Ein im Umweltausschuss eingebrachter interfraktioneller Antrag zur Erhöhung des EU-Ziels bekam die Stimmen der Grünen, der SPD und der Linken, aber nicht die Stimmen von Union und FDP. Damit, meine Damen und Herren von der schwarz-gelben Koalition, haben Sie schnöde Ihren eigenen Minister im Regen stehen gelassen. ({2}) Zurück zum vorliegenden Entwurf. Leider müssen - wie so oft bei dieser Regierung - auch handwerkliche Mängel konstatiert werden. Die Novelle kommt viel zu spät. Sie hätte bereits am 2. Februar 2010 vorgelegt werden müssen. Da ist die offizielle Frist abgelaufen. Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU ist anhängig. Das dritte und letzte Mahnschreiben der Kommission geht derzeit an Deutschland heraus. Deutschland sieht neben Polen, Estland und Zypern ziemlich schlecht aus. Dabei stehen für die Industrie im Juni und September wichtige Fristen an. Schon bis zum 30. Juni müssen zum Beispiel die Anträge der Fluggesellschaften auf kostenlose Zuteilung bei der EU-Kommission vorliegen. Das ist für die Unternehmen nur schwer zu schaffen. Diese Verspätung ist aber nicht zufällig. Die vorliegende Novelle kommt auch deshalb auf den letzten Drücker, weil innerhalb der Bundesregierung um Ausnahmen und Sonderregelungen gefeilscht worden ist, zum Beispiel für die sogenannten Kleinemittenten. Statt angesichts des fortschreitenden Klimawandels mit einer zügigen und klaren Novelle den Anspruch eines Vorreiters beim Klimaschutz zu unterstreichen, hat sich die Regierung in Ausnahmeregelungen und Detaildebatten verzettelt. Das ist ein völlig falsches Signal, insbesondere für die Klimakonferenz Ende dieses Jahres. ({3}) Die internationale Klimapolitik braucht Vorreiter; es bräuchte Deutschland, es bräuchte die EU. Doch diese Vorreiterrolle wollen Sie offenbar nicht annehmen. Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat eine Energiewende in Deutschland angekündigt. Dabei geht es nicht nur um den Ausstieg aus der nicht beherrschbaren und tödlichen Atomenergie, sondern auch um den Einstieg in eine Energieversorgung durch erneuerbare Energien und den Umbau zu einer effizienteren und grüneren Wirtschaft. Die vorliegende Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz hätte ihren Beitrag dazu leisten können, die Weichen in diese Zukunft zu stellen. Doch wie bei fast allem, was diese schwarzgelbe Koalition anpackt, packt sie es nicht. Es ist ein Jammer. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst unterstreichen - zumal Herr Kollege Dr. Ott dies angezweifelt hat -: Die Umweltpolitiker der Union stehen mit Überzeugung und großer Geschlossenheit hinter dem Eintreten des Bundesumweltministers für ein Aufstocken des EU-Ziels auf 30 Prozent. ({0}) Das zeigt dieser Applaus, das zeigt unser Eintreten dafür in der Öffentlichkeit, und das zeigt auch unser Werben dafür in den Koalitionsfraktionen. Wir wollen, dass die Entscheidung der Koalition am Ende in genau diese Richtung geht. Wir stehen selbstverständlich zu unserem Klimaziel, bis 2020 die Treibhausgase gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren. Ein wesentliches Instrument des Klimaschutzes ist der Emissionshandel, über den wir heute diskutieren. Ich glaube sagen zu können, dass mit der Emissionshandelsperiode ab 2013 Verbesserungen erzielt und in drei Bereichen dieses Emissionshandelssystems Quantensprünge gemacht werden können. Erstens. Wie bereits von mehreren Rednern angesprochen worden ist, werden wir weitgehende einheitliche Andreas Jung ({1}) europäische Regelungen haben. Wir überwinden so das bisher geltende Emissionshandelssystem, in dem es zwar europäische Vorgaben, aber weiten Spielraum für nationale Regelungen gibt. Damit erreichen wir zweierlei: Zum einen erreichen wir auf europäischer Ebene ein gemeinsames Vorgehen beim Klimaschutz im Bereich des Emissionshandels, zum anderen erreichen wir Wettbewerb auf Augenhöhe für unsere Industrie. Aus beiden Gründen haben wir uns dafür eingesetzt, und aus beiden Gründen ist das ein wichtiger Schritt. Zweitens. Erstmals wird der Flugverkehr in den Emissionshandel einbezogen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Einstieg. Ich glaube auch, dass es notwendig sein wird, Schritt für Schritt zu einer weiteren Reduzierung des Caps, zu einer weiteren Auktionierung zu kommen. Es ist aber aus klimapolitischer Sicht zunächst einmal ein Anlass zur Freude, dass dieser Einstieg gelungen ist und dass die jahrzehntelange Diskussion, in der es immer wieder geheißen hat, man würde die umweltfreundlichen Verkehrsmittel wie Bus und Bahn mit der Ökosteuer belasten, aber das Flugbenzin sei steuerfrei, damit überwunden ist. In Zukunft muss der, der mit dem Flugzeug unterwegs ist, auch für den CO2-Ausstoß bezahlen. Das finde ich richtig. Drittens. Wir werden - auch das ist angesprochen worden - zu einer 100-prozentigen Auktionierung im Strombereich kommen. Das bedeutet in der Tat einen Quantensprung, ausgehend von einer vollständig kostenlosen Zuteilung über eine Teilauktionierung in der letzten Legislaturperiode hin zu einer 100-prozentigen Auktionierung mit einer Differenzierung zwischen dem Energiebereich und dem Industriebereich. Das halten wir für richtig, weil es zeigt, dass wir den Weg in eine kohlenstofffreie, eine kohlenstoffarme Wirtschaft gehen wollen, dass wir aber gleichzeitig Industrie und Arbeitsplätze in Europa im Blick haben. Wir kämpfen für ein globales Abkommen, in dem sich alle Staaten der Welt verpflichten, vergleichbare Ziele anzustreben, weil dann eine Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht mehr möglich ist. Wir wollen eine 100-prozentige Auktionierung im Energiebereich. Wir haben auch im Bereich der Industrie anspruchsvolle Ziele, aber noch nicht die Auktionierung. Lassen Sie mich drei Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf machen, über den wir heute diskutieren, mit dem das TEHG novelliert werden soll: Erstens. Wenn wir einheitliche Regelungen und Wettbewerb auf Augenhöhe haben wollen, dann müssen wir darauf achten, dass die europäischen Regelungen tatsächlich eins zu eins umgesetzt werden; dadurch wird sichergestellt, dass wir dieses Ziel erreichen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die EmissionshandelsRichtlinie durch diesen Gesetzentwurf genau so umgesetzt wird. Es wurde schon angesprochen, dass das vonseiten der Wirtschaftsverbände an der einen oder anderen Stelle infrage gestellt wird. Wir wollen uns in der Anhörung und bei den Beratungen Zeit nehmen, um diese Fragen zu klären, damit wir am Ende sicher sein können, dass diese Richtlinie tatsächlich eins zu eins umgesetzt wird. Es gibt, wie gesagt, nur noch einige Detailfragen zu klären. Zum Zweiten wollen wir uns anschauen, inwieweit der Spielraum genutzt wurde, den die Richtlinie bei Kleinanlagen bietet. Diese Anlagen müssen nicht in den Emissionshandel einbezogen werden, sondern können davon befreit werden. Dieser Spielraum wird genutzt. Auch das halten wir für richtig. Wir wollen uns die Regelung noch einmal genau anschauen, damit bei diesen vom Emissionshandel befreiten Unternehmen so wenig Bürokratieaufwand wie möglich entsteht. Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, dass die Erfordernisse des Klimaschutzes berücksichtigt werden. Drittens und letztens. Es gibt Regelungen, die in diesem Gesetzentwurf nicht enthalten sind. Sie sind in der europäischen Richtlinie verbindlich geregelt und werden in Deutschland durch eine Verordnung umgesetzt. Union und FDP haben darauf gedrungen, dass diese Verordnung der Zustimmungspflicht des Deutschen Bundestages unterliegt. Es geht dabei um maßgebliche Fragen, zum Beispiel um die Regelung zur kostenlosen Zuteilung im Bereich der Industrie. Wir finden, es ist richtig und notwendig, dass der Deutsche Bundestag an dieser Stelle ein Mitspracherecht hat. Wir wollen uns deswegen Zeit für die Beratung dieser Fragen nehmen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Emissionshandel - ich glaube, darüber sind wir uns einig - ist ein wichtiges Klimaschutzinstrument und damit ein wichtiges umweltpolitisches Instrument. Deswegen ist es schade, dass unser Kollege Frank Schwabe eben die Staatssekretärin bitten musste, dem Bundesumweltminister über den Verlauf dieser Debatte Bericht zu erstatten. Es wäre schön, wenn er hier wäre. ({0}) Der Emissionshandel ist aber auch ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument. Zumindest hat dieses Instrument eine hohe wirtschaftspolitische Relevanz. Deswegen ist es umso bedauerlicher, dass nicht einmal ein Bote hier ist, ein Staatssekretär, der dem Bundeswirtschaftsminister Bericht erstatten könnte. Ich denke, das zeigt deutlich, welchen Stellenwert der amtierende Bundeswirtschaftsminister diesem Thema beimisst. ({1}) Als Wirtschaftspolitiker werde ich mich wirtschaftspolitischen Fragen natürlich in besonderer Weise widmen. Der Erfolg eines solchen Klimaschutzinstrumentes, des Emissionshandels, hängt auch davon ab, dass man neben den gewünschten Wirkungen, die man erreichen möchte, unerwünschte vermeidet. Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist - darüber haben wir uns hier schon häufiger unterhalten - Carbon Leakage. Wir wollen vermeiden, dass Unternehmen den Standort Deutschland verlassen, weil das Instrument Emissionshandel hier bestimmte Folgen hat. Wir wollen vermeiden, dass Unternehmen in Länder abwandern, in denen es dieses Instrument nicht gibt, in denen sie ihre Produkte gegebenenfalls auf klima- und umweltschädliche Weise herstellen können. Ich glaube, das ist ein honoriges Ziel, das gerade auch den Bundeswirtschaftsminister beschäftigen muss. Ich denke da insbesondere an die energieintensive Grundstoffindustrie in Deutschland. Sie wissen: Wir sind das Industrieland Nummer eins in Europa. Wir sind dadurch natürlich in besonderer Weise von diesen Aspekten des Emissionshandels betroffen und besonders gefordert, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden oder zumindest einzuschränken. Wie kann man das tun? Man kann es tun - so ist es Ende 2008 vom Europäischen Rat festgelegt worden -, indem man dort, wo es notwendig ist - und nur dort, wo es notwendig ist -, entsprechende Kompensationsregelungen vorsieht, zum einen für die direkten Kosten des Emissionshandels, also die, die durch die Zertifikate entstehen, und zum anderen für die indirekten Folgen des Emissionshandels, die sich beim Strompreis bemerkbar machen. Der Bundeswirtschaftsminister war seit Ende 2008, zumindest seit Beginn dieser Legislaturperiode aufgefordert, in einen Dialog mit der Wirtschaft einzutreten und Vorschläge zu erarbeiten, wie solche Kompensationsmöglichkeiten aussehen können. Der Wettbewerbskommissar Almunia hat längst ein Konsultationsverfahren eingeleitet und wartet auf die Vorschläge der nationalen Regierungen. Nach unserer Kenntnis und nach dem, was wir aus Brüssel hören, gibt es aus Deutschland dazu bisher keine Vorschläge. Wir hören das auch von den Unternehmen, die händeringend darum bitten, dass es endlich zu konkreten Regelungen kommt. Warum ist das für sie so wichtig? Diese Unternehmen haben in der Regel sehr langfristige Investitionszyklen, verkaufen ihre Produkte meist Jahre im Voraus an den Weltmärkten, zum Beispiel Aluminium, und sind darauf angewiesen, auch Jahre im Voraus ihre Kosten zu kennen. Die kennen sie aber nicht, wenn zum Beispiel über die wichtige Frage der Kompensation nicht zeitig Entscheidungen getroffen werden. Deswegen richten wir die dringende Aufforderung an den Bundeswirtschaftsminister - möglicherweise liest er die Protokolle des Deutschen Bundestages -, sich endlich in dieses Konsultationsverfahren einzuschalten, ({2}) den notwendigen Dialog mit der Wirtschaft zu führen und konkrete Kompensationsvorschläge vorzulegen. Das ist für uns wichtig, nicht nur für die Grundstoffindustrie, sondern für die Industrie insgesamt, weil - das wissen wir mittlerweile; spätestens seit der Wirtschaftskrise ist es allen bekannt - wir eine hochvernetzte Industrie haben. Die Wertschöpfungsketten funktionieren; sie funktionieren auch deshalb, weil wir über die Grundstoffindustrie verfügen. Es gibt also neben all den wichtigen, hier schon genannten Klimaschutzaspekten auch diese Seite des Emissionshandels. Wir fordern den Wirtschaftsminister auf, zu erkennen, dass dies auch sein Thema ist und dass er sich darum kümmern muss. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Herr Hempelmann, für Ihre Ausführungen, zumindest für den größten Teil, in denen Sie die Debatte über den Emissionshandel einigermaßen realistisch dargestellt haben. Der Verweis auf den Bundesumweltminister ist nicht so recht zu verstehen, wenn ich die Präsenz Ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen in dieser Debatte betrachte. Vorhin waren nur fünf Kollegen anwesend, jetzt zähle ich sechs. In der SPD-Fraktion wird das Thema offenbar auch nicht als so wichtig angesehen. Der Emissionshandel wurde von uns in der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren als das Instrument angesehen, das am geeignetsten ist, unsere CO2-Minderungsziele zu erreichen. Die Begründung dafür ist, dass er ein wettbewerbliches Instrument ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Obermeier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die SPD-Bundestagsfraktion parallel zu dieser Aussprache und zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes ein seit langem anberaumtes Gespräch mit Zeitzeugen aus Tschernobyl führt und ein großer Teil unserer Umweltpolitiker an diesem Gespräch teilnimmt? ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das nehme ich zur Kenntnis. Es geht um die Frage, wie wir unsere Klimaziele erreichen und die Minderung des Umfangs der CO2-Emissionen so gestalten, dass wir die anderen Ziele, die wir verfolgen, die Ziele volkswirtschaftlicher Natur, ebenfalls erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen zum wiederholten Male, dass Deutschland hier eine ganz besondere Rolle spielt. Dem Klima ist mit Sicherheit nicht gedient, wenn wir Produktion und Fertigung aus Deutschland in andere Länder vertreiben, indem wir die Produktionskosten erhöhen und unsere Wettbewerbsfähigkeit im Allgemeinen so sehr schwächen, dass die Produzenten an andere Standorte gehen. Rolf Hempelmann hat die Themen, die relevant sind, schon angesprochen. Es geht um Schlüsselindustrien in Deutschland, die wir im Blick haben müssen. Ich bin der Bundesregierung ausgesprochen dankbar, dass auf diese Belange in den Verhandlungen innerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb der Europäischen Union Rücksicht genommen wurde. Ganz konkret geht es beispielsweise um die Abfallverwertung. Bei der Abfallverwertung entstehen Kosten. Diese Kosten sind von den Verarbeitern, den Nutzern, beispielsweise von der Verpackungsindustrie, zu tragen. Es kommt sehr wohl darauf an, wie man damit umgeht. Eine Lösung ist, die klassischen Müllverbrennungsanlagen davon auszunehmen. Ich könnte mit der Lösung leben, dass die Zertifikatspflicht auch dort zur Geltung kommt, wo Ersatzbrennstoffe industriell eingesetzt werden. Denn hier geht es ganz konkret um die Produktion und die wirtschaftliche Verwertung von Abfällen. Was den Zertifikatehandel betrifft, ist dieser Aspekt von eminenter Bedeutung, weil die bundesdeutsche Volkswirtschaft ohnehin mit einer Wettbewerbsverzerrung besonderen Ausmaßes zu kämpfen haben wird, wenn die Dinge erst einmal ins Laufen gekommen sind. Denn auch innerhalb der Europäischen Union gibt es Wettbewerbsländer, die eine völlig andere Energieproduktionsstruktur aufweisen, deren Stromwirtschaft beispielsweise deutlich weniger CO2 emittiert, als es in Deutschland der Fall ist. In Anbetracht der Strategie des Energiekonzeptes und der Neuerungen, die sich aus den Lehren, die wir aus den Ereignissen in Japan ziehen, möglicherweise ergeben, müssen wir uns auch mit anderen Emissionsstrukturen befassen, als wir es uns noch vor wenigen Monaten vorgestellt haben. Ich bitte die Bundesregierung, bei den Verhandlungen weiterhin sehr behutsam vorzugehen, was die Emissionen im Allgemeinen betrifft. Des Weiteren verweise ich auf die am kommenden Montag stattfindende Anhörung, in der wir mit den Experten noch einmal darüber diskutieren wollen, wie wir den Zertifikatehandel im Interesse unseres Landes so gestalten können, dass die nachteiligen Wirkungen möglichst gering bleiben. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Integration Älterer in den Arbeitsmarkt verbessern - Drucksache 17/5235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Es ist ungefähr ein Jahr her, dass Frau von der Leyen gesagt hat, es gehe jetzt darum, den Silberschatz des Alters zu heben, und nicht etwa darum, die Älteren zu entsorgen. Ich finde, das klingt gut. Das hat etwas Prosaisches. Das Problem ist aber, dass - anders als im Märchen - in der Realität leider niemandem ein solcher Silberschatz einfach in den Schoß fällt. Dafür muss man etwas tun. ({0}) Wenn man sich die Zahlen dazu anguckt, dann sieht man, dass seit diesen bahnbrechenden Worten leider nicht viel passiert ist. Die Zahlen sprechen da eine deutliche Sprache. In 35 Prozent aller Betriebe gibt es keinen einzigen Beschäftigten über 50 Jahre. Ich gebe zu: Die Beschäftigungsquote Älterer hat sich etwas verbessert. Aber es lohnt sich schon, sehr genau hinzugucken. In der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen sind nur noch 38 Prozent überhaupt beschäftigt. Arbeitslose über 50 haben es besonders schwer, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, schlittern sie im Regelfall in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das können wir uns angesichts des Fachkräftemangels nicht mehr leisten, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass diese Generation, deren Potenziale wir jetzt nicht nutzen, besser ausgebildet ist als die nachfolgenden Generationen. ({1}) Die Regierung geht offensichtlich davon aus, dass die durch den demografischen Wandel bedingte Nachfrage dieses Problem lösen wird. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir hier nicht mit einer konzertierten Aktion vorgehen, wird sich gar nichts daran ändern. Wir sind gerade im Begriff, in eine Situation zu schlittern, die auf der einen Seite durch einen hohen Fachkräftemangel beschrieben werden kann und auf der anderen Seite durch eine hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Älteren. Ja, wir sind der Auffassung, dass die Lebensarbeitszeit an die steigende Lebenserwartung angeglichen werden muss. Aber dazu muss man dann auch die Voraussetzungen schaffen. Wir weigern uns, anzuerkennen, dass das Prinzip „Rente mit 67“ zu einem Prinzip der Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht. ({2}) Wir wollen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass die Menschen qualifiziert, motiviert und gesund das Rentenalter erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, auch wenn sie mit über 50 Jahren arbeitslos werden, eine echte und realistische Chance haben, wieder einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Der Antrag, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, enthält eine Menge von Vorschlägen zu diesem Problem. Wir wollen, dass kontinuierliche Qualifizierung in den Betrieben ansetzt. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit den Maßnahmen zu beginnen, wenn die Menschen alt sind. Sie müssen beginnen, wenn man in den Beruf einsteigt. Es geht darum, alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen zu schaffen, und es geht darum, die Vermittlung insbesondere der Älteren zu verbessern. Ich habe nur vier Minuten Redezeit und kann deswegen nicht ins Detail gehen; aber drei grundlegende Voraussetzungen für die Kultur der Altersarbeit will ich Ihnen nennen. Das Erste ist: Wir müssen ehrlich sein. 90 000 Ältere sind arbeitslos und werden nur deswegen nicht als solche gezählt, weil sie über ein Jahr lang kein Angebot bekommen haben. Das ist nicht ehrlich, das verschleiert das reale Problem. ({3}) Zweitens. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem in Qualifizierung investiert werden muss, weil es einen anspringenden Arbeitsmarkt gibt, für den wir die Menschen qualifizieren müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-FDP-Koalition, ich bitte Sie: Stoppen Sie Ihren Finanzminister und Ihre Arbeitsministerin, die Mittel zur Arbeitsförderung um Milliardenbeträge zu verringern. ({4}) Drittens. Wir wollen die Betriebe nicht aus der Verantwortung entlassen. Sie sollen die Älteren nicht nur schätzen, sondern auch einstellen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wir müssen endlich aufhören, Menschen ab 45 als arbeitsmarktpolitische Methusalems zu behandeln. Damit werden wir ihnen nicht gerecht. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist unstrittig richtig, dass die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in der Vergangenheit katastrophal schlecht war und dass sie auch heute noch nicht besonders gut ist, sich aber immerhin verbessert. Frau Kollegin Pothmer, es ist gut, wenn man Analysen vorträgt, wie Sie das gemacht haben, aber man muss natürlich auch etwas zu den Ursachen sagen. Eine Ursache dafür, dass die Zahlen heute so schlecht sind, ist natürlich die über Jahre hinweg praktizierte Frühverrentungspolitik in Deutschland. ({0}) Gott sei Dank haben wir, schon in der Großen Koalition beginnend, die Anreize für eine Frühverrentung konsequent abgebaut. Das war ein klares und deutliches Zeichen dafür, dass wir hinsichtlich der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland umsteuern und auch zum Umdenken auffordern. Ich glaube, dafür gibt es zwei wichtige Anlässe. Der erste Anlass ist: Auch in den Chefetagen und Personalbüros deutscher Unternehmen lernt man hinzu. Wer auf das Erfahrungswissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leichtfertig verzichtet, der erleidet einen Wettbewerbsnachteil. Deswegen findet Gott sei Dank ein Umdenken statt. Der zweite Anlass ist: Die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden deutlich anders aussehen als die vergangenen, weil die Zahl der Menschen in Deutschland, die erwerbsfähig sind, dramatisch zurückgehen wird. Peter Weiß ({1}) Im Rahmen einer von der Unionsfraktion kürzlich durchgeführten Fachveranstaltung hat uns Herr Professor Brücker vom IAB vorgetragen, dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2050 von heute 45 Millionen auf nur noch 27 Millionen zurückgehen wird. Das ist eine dramatische Veränderung, die zeigt, dass die Frage der Zukunft, der nächsten Jahrzehnte, nicht sein wird: „Wie werde ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einer Frühverrentungspolitik möglichst bald los?“, sondern dass die Frage für die Unternehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben und Fachkräfte halten wollen, sein wird: „Wie begeistere ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, möglichst lange zu bleiben, weil ich auf sie angewiesen bin?“. Deswegen wird sich die Politik in Bezug auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber der in der Vergangenheit deutlich verändern müssen. ({2}) Unsere Aufgabe in der Politik ist es, dafür zu sorgen, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch tatsächlich länger in Arbeit bleiben können. Es gibt hier eine ganze Menge an Aufgabenstellungen: Weiterbildung während des ganzen Berufslebens, Gestaltung moderner, gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, weitere Fortschritte bei der Humanisierung und der Gestaltung der Arbeitswelt, Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, Ausbau von Prävention, betrieblicher Gesundheitsförderung und Rehabilitation. Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass mittlerweile der größte Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente stellen, sprich: vorzeitig in Rente gehen müssen, diesen Antrag wegen psychischer Erkrankungen stellen. ({3}) Das Gesundheitsmanagement in Deutschland, was das Vermeiden psychischer Erkrankungen anbelangt, ist in den Betrieben völlig unterentwickelt. Hier muss ein Schwerpunkt gesetzt werden. Die Arbeitswelt muss nicht zwangsläufig so gestaltet sein, dass psychische Erkrankungen in Deutschland von Jahr zu Jahr zunehmen. ({4}) Wir brauchen neue Arbeitsformen, die besser auf die Erfordernisse älterer Arbeitnehmer eingehen. Wir brauchen auch Projekte und Programme, die auf einen Berufswechsel im Laufe des Erwerbslebens abzielen. Im Antrag der Grünen wird ein bisschen so getan, als gäbe es bisher gar nichts in diesem Bereich. Deswegen möchte ich sagen, was wir mittlerweile politisch an Programmen initiiert haben, die auch laufen. Es gibt zum Beispiel INQA, die Initiative Neue Qualität der Arbeit, die auf die Schaffung gesundheits- und leistungsfördernder Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist, mit einem ganzen Bündel von Projekten; es gibt die Gemeinsame Deutsche Arbeitsstrategie von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern zur Förderung präventiven Arbeitsschutzes und das Programm Perspektive 50plus mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Von meinen Besuchen in etlichen Betrieben, die an diesem Programm teilnehmen, weiß ich, dass es erstaunlich ist, was entgegen dem, was landläufig an Auffassungen vertreten wird, möglich ist, um Beschäftigung für über 50- oder auch über 60-Jährige zu schaffen. Aktuell arbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am Aufbau einer strategischen Partnerschaft mit wirtschaftsnahen regionalen Akteuren, Initiativen und Projekten, um ein Konzept zu entwickeln, das insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt die Arbeitskräftebasis sichert. Neben dem Handeln des Staates gibt es aber auch das Handeln der Sozialpartner, zum Beispiel im Rahmen von Tarifverträgen wie in der Eisen- und Stahlindustrie oder in der Chemieindustrie mit ihrem Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“. Des Weiteren gibt es die neuen Programme der Sozialversicherungsträger. So wendet sich die Deutsche Rentenversicherung Bund zum Beispiel mit ihrem Rahmenkonzept zur Erprobung von Präventionsleistungen „Beschäftigungsfähigkeit teilhabeorientiert sichern“ an Versicherte mit ungünstigen Bedingungen am Arbeitsplatz und versucht, Änderungen möglich zu machen. Ich will zusammenfassend festhalten: Ich glaube, das, was an Initiativen staatlicherseits, durch die Sozialpartner und durch die Sozialversicherungen auf den Weg gebracht worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten das nicht kleinreden, sondern stärker publik machen. Ich freue mich über den Antrag der Grünen zu diesem Thema. ({5}) Ich muss Ihnen aber sagen: Angesichts dessen, was wir bereits auf den Weg gebracht haben, ({6}) bleibt mir nur, aus Schillers Wallenstein zu zitieren: „Spät kommt ihr - doch ihr kommt!“ Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Anton Schaaf für die Fraktion der SPD. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Peter Weiß, der Antrag zum Thema „ältere Arbeitneh11702 mer“ ist vor allen Dingen deshalb richtig und notwendig - das sage ich gleich am Anfang -, weil diese Koalitionsregierung in diesem Bereich nichts tut. Deswegen ist er richtig, und er kommt zum richtigen Zeitpunkt. ({0}) Übrigens verstoßt ihr damit gegen euren eigenen Koalitionsvertrag, Peter Weiß. Auf Seite 111 habt ihr insbesondere ältere Arbeitnehmer in den Blick genommen und festgestellt: Da muss man was machen. Das hat viel mit Wertschätzung der Älteren und deren Kompetenz zu tun. Wie sieht die Wertschätzung konkret aus, Peter Weiß? ({1}) Das macht die geplante Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente deutlich. Darin geht es beispielsweise um die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer nach SGB III. Sie soll als dauerhaftes Instrument beibehalten werden, was völlig richtig ist, weil es ein sinnvolles Instrument ist. Weiter heißt es: Die Nettoentgeltdifferenz soll mindestens 100 Euro statt wie bisher 50 Euro betragen; es soll Aufstockungsbeträge geben, und zwar 60 Prozent bzw. im zweiten Jahr 40 Prozent. Dann kommt es: Das, was bisher das Instrument sehr attraktiv gemacht hat und auch Wertschätzung ausdrückte, nämlich die Aufstockung für die Rentenversicherung, soll ersatzlos gestrichen werden. So sieht Ihre Wertschätzung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Bereitschaft, geringer entlohnte Jobs anzunehmen, aus. Das ist Pharisäertum. Dann lassen Sie die Sonntagsreden sein und sagen Sie ehrlich, meine Damen und Herren von der Koalition: Wir schätzen die Aufnahme von Arbeit durch ältere Arbeitnehmer nicht. ({2}) Das korrespondiert übrigens mit Ihrer Ignoranz beim Thema Rente mit 67, um das sehr deutlich zu sagen. Wenn wir uns die Beschäftigungsquote älterer Menschen genau anschauen, dann stellen wir fest, dass die Beschäftigung älterer Menschen zwar leicht gestiegen ist, dass aber die Beschäftigungsquote bei den über 60-Jährigen dramatisch einbricht. ({3}) Wenn man sich die Beschäftigungsarten genau anschaut, dann stellt man fest, dass viele nur noch teilweise beschäftigt sind und dass die Steigerung der Quote auch damit zusammenhängt, dass vor allen Dingen ältere Frauen wieder Arbeit aufgenommen haben, um beispielsweise hinzuzuverdienen. Wenn man das mit dem Gesetz vergleicht und sich die Situation der älteren Menschen genau anschaut, dann kommt man überhaupt nicht darum herum, sich einzugestehen, dass man jetzt, wenn man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht durch ein höheres Renteneintrittsalter bestrafen will, die Rente mit 67 nicht einführen darf, ich betone: jetzt nicht. ({4}) An dieser Stelle sind Sie völlig ignorant. Das hat nichts mit Wertschätzung zu tun. Wenn ein älterer Mensch arbeitslos geworden ist, muss er vor dem Hintergrund nachrangiger Leistungen nach SGB II mit 63 vorzeitig die Rente beantragen. Er muss das tun! Ab dem nächsten Jahr hat er dann nicht nur für zwei Jahre, sondern für zwei Jahre und einen Monat Abschläge hinzunehmen, und zwar dauerhaft. Das ist Ihre Art der Wertschätzung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Frau von der Leyen hat sich um die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - wie ich finde: sehr bezeichnend - gekümmert. Sie hat gesagt: Wenn die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, sollen sie etwas anderes machen. - Hunderttausende Hausmeisterstellen werden wir wohl nicht zur Verfügung stellen können. Frau von der Leyen muss sich auch einmal hierhin stellen und sagen, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, anderes machen sollen. Sie nehmen auch nicht an der Debatte über die Frage teil: Was ist eigentlich mit einem sozialen Arbeitsmarkt? Sollten wir darüber nicht einmal ernsthaft diskutieren? ({5}) Aber da ist bei Ihnen überhaupt nichts. Sie überlassen das alles schlichtweg der Wirtschaft und setzen auf das Verständnis der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wenn wir nicht ernsthaft über die Verursacherfrage diskutieren und die Verursacher benennen, wird sich bei der Wirtschaft nichts ändern. Dann werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange ausgepowert, bis sie nicht mehr können, und dann aus den Betrieben hinausgejagt. Ich mache das an einem Beispiel klar. Der eine oder andere von Ihnen weiß bereits, dass ich früher bei der Müllabfuhr gearbeitet habe. Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die schwere Arbeit leisten mussten, mehr Arbeit hinzubekommen haben, habe ich als Betriebsrat zugegebenermaßen immer als Erstes nach mehr Geld geschrien. Mehr schwere Arbeit, mehr Geld! Wenn die Kollegen durch den Job dann vorzeitig kaputt waren, habe ich nach dem Sozialstaat geschrien und gesagt: Kümmert euch um die Kaputten! - So ist es gelaufen; denn ein kaputter Müllmann bekommt nirgendwo anders einen Job. Die entscheidende Frage lautet: Was machen wir dagegen, dass Menschen durch Arbeit - körperlich oder psychisch - vorzeitig kaputt sind? Die Verursacher nehmen wir nicht in Haftung. Wir machen nichts. Die Verursacher sind die Arbeitgeber, die solche Arbeit zur Verfügung stellen. Diese nehmen wir nicht in Haftung, weder bei Weiterbildung und Qualifizierung noch bei der Übernahme sozialer Verantwortung, wenn Menschen durch Arbeit kaputt sind. Auch Sie übernehmen übrigens keine Verantwortung. Sie haben sich komplett verweigert und noch nicht einmal über das Thema Erwerbsminderungsrente diskutiert. Hier nehmen Sie sich komplett aus der Verantwortung. Wenn wir das Renteneintrittsalter erhöhen, dann müssen wir die Frage beantworten: Was machen wir mit den Menschen, die durch Arbeit vorzeitig kaputt sind? Mittlerweile gibt es einschlägige Urteile betreffend Abschlagsregelungen bzw. Zurechnungszeiten. Aber auf Ihrer Seite gibt es überhaupt keine Bewegung. Stellen Sie sich also in Zukunft nicht mehr hierhin und schätzen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbal! Denn immer wenn es darauf ankommt, etwas für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun, streichen Sie beispielsweise die Mittel im Eingliederungstitel. Gerade jetzt, wo die Arbeitsmarktlage so gut ist, wären mehr Mittel zur massiven Förderung älterer Menschen, die schon länger arbeitslos sind, richtig eingesetzt; denn nur so haben die Betroffenen eine Chance auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Aber nein, Sie machen es genau anders herum. Sie streichen die Mittel im Eingliederungstitel massiv zusammen. So werden Sie keinen Beitrag dazu leisten, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder in Arbeit zu halten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Ja, auch ich kann mich dem Kollegen Peter Weiß anschließen. Das Ziel teilen wir. ({0}) - Nein, Frau Kollegin Pothmer, Ihrer Rede kann ich mich natürlich nicht anschließen. Das ginge zu weit. Aber wir teilen das Ziel. - Denn natürlich ist das nötig, nicht nur, um den Menschen, die älter sind und auf dem Arbeitsmarkt noch Probleme haben, eine Perspektive zu geben, sondern auch - Sie haben es selber angesprochen -, um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. Bei 6 Millionen Arbeitskräften, die uns bis 2030 fehlen, muss man an vielen Schrauben drehen. Da werden wir über die Erwerbsquote, die Beteiligungsquote von Frauen reden müssen, da werden wir auch über Zuwanderung reden müssen, und da werden wir ganz zentral auch über die Frage reden müssen, welche Rolle Ältere eigentlich auf dem Arbeitsmarkt spielen. Ich freue mich, dass Sie das so wie wir sehen. Ich glaube, dass Sie aber doch ein bisschen - deswegen kann ich mich Ihrer Rede auch nicht anschließen, Frau Kollegin - zu schwarz gezeichnet haben. Das wissen Sie auch. ({1}) - Nein, nicht schwarz-gelb, sondern schwarz. Schwarzgelb wäre ja gut, Toni Schaaf. ({2}) Aber Sie haben es ein bisschen schwarz gezeichnet. Wenn man eine Situation etwas verbessern will, muss man erst einmal schauen, was denn schon gut läuft. Ich glaube, die Steigerungsraten bei den Zahlen von Älteren auf dem Arbeitsmarkt, die wir in den letzten Jahren hatten, lieber Toni Schaaf - die Rente mit 67 ist ja genau in der Erwartung dieses Effekts von Ihnen auch eingeführt worden -, sind in absoluten Zahlen natürlich noch verbesserungsfähig. Das ist ganz klar. Das liegt aber auch daran, dass die Altersteilzeit eben erst ausläuft. Trotzdem sind die Steigerungsraten beeindruckend. Ich will es noch einmal zitieren. Wir hatten vor zehn Jahren 2,6 Millionen Ältere sozialversicherungspflichtig beschäftigt, heute sind es immerhin 3,8 Millionen. ({3}) In den letzten fünf Jahren hatten wir bei den 55- bis 60-Jährigen 35 Prozent plus, und, Toni Schaaf, bei denjenigen über 60 sind es sogar noch mehr, nämlich 40 Prozent plus. ({4}) Nachher wird der Kollege Birkwald wahrscheinlich sagen, ja, es geht nicht nur um Prozente, es geht auch um absolute Zahlen. ({5}) Da bin ich bei Ihnen. Aber eine 40-prozentige Steigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erheblich. Das müssen wir natürlich ausbauen. Aber mehr hat man übrigens auch bei der Einführung der Rente mit 67 nicht zu hoffen wagen können. Insofern müssen wir erst einmal festhalten, dass der Trend in die richtige Richtung geht. ({6}) Übrigens ist die Steigerungsrate bei den Beschäftigten bei den über 55-Jährigen höher als bei den unter 25-Jährigen. - Das nur einmal mit Blick auf die unterschiedlichen Gruppen am Arbeitsmarkt. Als besonderes Schmankerl, liebe Frau Kollegin Pothmer - wir beide zitieren ja immer gern das IAB -: Der IAB-Kurzbericht 16/2009 hat genau das festgehalten; er hat nämlich festgehalten, dass es einen positiven Trend bei den Älteren auf dem Arbeitsmarkt gibt, ({7}) und er hat das als langfristiges Phänomen festgestellt. Das ist nicht nur kurzfristig, das ist nicht nur Konjunktur. Es ist ein langfristiges Phänomen. Und was war der entscheidende Vorschlag, den politisch umzusetzen uns das IAB noch geraten hat? Die geförderte Altersteilzeit als Frühverrentungsprogramm auslaufen zu lassen. Johannes Vogel ({8}) ({9}) Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben als Koalition entgegen Ihrem Antrag zu Beginn der Legislatur genau das gemacht, weil wir Ältere auf dem Arbeitsmarkt sehen wollen und nicht in die Frühverrentung drängen. ({10}) Jetzt gucken wir auch einmal auf die Unternehmen. Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben eben gesagt: Wir wollen das nicht den Unternehmen überlassen. - Das ist richtig. Auch der Staat hat da etwas zu tun, auch die Solidargemeinschaft. Aber, Frau Kollegin, wir haben eben und in erster Linie auch die Unternehmen in der Pflicht. ({11}) Deshalb ist es doch wichtig, auf zwei Dinge hinzuweisen. Erstens. Wenn die Unternehmen auch in der Pflicht sind, dann ist das Beste, was man politischerseits für die Chancen von Älteren auf dem Arbeitsmarkt tun kann, durch gute Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Dazu verweise ich nur auf die heutigen Konjunkturdaten. Die Institute haben ihre Prognosen von 2,3 Prozent auf 2,8 Prozent hochkorrigiert. Das ist die Politik der schwarz-gelben Koalition. Wir schaffen die Rahmenbedingungen für Wachstum auf dem Arbeitsmarkt, und das ist auch die beste Grundlage für Ältere auf dem Arbeitsmarkt. ({12}) Wenn ich mir dann anschaue, dass sich das Bild von Älteren in den Unternehmen dramatisch wandelt - das sagen uns alle Erhebungen, die es dazu gibt -, dass Ältere in den Unternehmen endlich stärker anerkannt werden, dann, glaube ich, haben wir einen positiven Trend, den wir verstärken müssen. Damit komme ich zur Intention Ihres Antrags, die wir in der Tat verstärken müssen. Aber das tun wir bereits. In der Arbeitsmarktpolitik zum Beispiel wird diese Koalition den Gedanken beibehalten, dass wir eben auch diejenigen fördern, die in Beschäftigung sind, den Gedanken - Sie sprechen es in Ihrem Antrag selber an -, der hinter dem Wegebauprogramm steht. Es geht aber übrigens politischerseits auch darum, dass wir Programme, die es gibt, bekannter machen. Ich verweise nur einmal auf das Angebot an Bildungsprämien aus dem Bildungsund Forschungsministerium. Das ist ein Programm, mit dem auch Unterstützungen aus Steuermitteln für berufliche Weiterqualifikation, gerade für geringer qualifizierte Arbeitnehmer, zur Verfügung gestellt werden. Das Programm ist kaum bekannt. ({13}) Bevor Sie hier Anträge stellen, in denen behauptet wird, die Regierung würde zu wenig tun, es gäbe zu wenig Programme, sollten wir, liebe Opposition, vielleicht gemeinsam daran arbeiten, dass die Programme, die es gibt, bekannter werden. ({14}) Das wäre eine Aufgabe, der Sie sich mit uns widmen könnten. Damit würden Sie für Ältere auf dem Arbeitsmarkt mehr tun als mit den Anträgen, die Sie vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Der Kollege Toni Schaaf hat auf die Rentenpolitik - Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Rente mit 67 hingewiesen. Ich will zum Abschluss auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der deutlich macht, dass in der Tat noch etwas zu tun ist - im Gegensatz zu dem, was aus Ihrem Antrag, liebe Kollegin Pothmer, hervorgeht, nehmen wir uns vor, auf diesem Gebiet etwas zu tun -, nämlich auf den flexiblen Renteneintritt. Ich will einen der profiliertesten Rentenpolitiker im Deutschen Bundestag zitieren, einen gewissen Dr. Heinrich Leonhard Kolb. ({16}) Er sagt: Es ist Sache des Einzelnen, zu entscheiden, wann er aufhören will, zu arbeiten, nicht die Sache des Staates. Das ist richtig. ({17}) Deshalb brauchen wir nach Meinung meiner Fraktion und auch nach meiner Meinung ein flexibles Renteneintrittsalter. Zumindest brauchen wir einen Wegfall der Zuverdienstgrenzen für diejenigen Menschen, die vorzeitig in Rente gegangen sind. Diese Koalition spricht also zu Recht gerade genau darüber. Wir müssen diesen Bereich angehen. Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben gesagt: Wir müssen uns der Frage „Was ist, wenn jemand in seinem Beruf nicht mehr tätig sein kann und etwas anderes machen will?“ stellen. Es ist richtig, dass wir uns dieser Frage stellen müssen; denn die Menschen und die Berufe sind unterschiedlich. Mein Vater etwa ist vorzeitig in Rente gegangen. Er wollte etwas anderes machen; er kann etwas anderes machen. Das Problem ist: Unser Staat lässt ihn nicht, weil er nur 400 Euro dazuverdienen kann. Das ist eines der konkreten Probleme, denen sich diese Koalition widmen wird. Frau Kollegin Pothmer, es geht darum, den Silberschatz des Alters zu heben. Ich freue mich, dass Sie daran mitarbeiten wollen. Aber grundsätzlich ist das Ganze bei uns in guten Händen. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Pothmer, „motiviert, qualifiziert und gesund“ bis zum Renteneintritt arbeiten zu können, ist eine Vorstellung, die von vielen Menschen und ganz gewiss auch von allen hier im Parlament vertretenen Parteien geteilt wird. Auch die Linke, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, will die Politik in die Pflicht nehmen, um die Voraussetzungen für ein erfülltes Erwerbsleben zu schaffen. Sie stellen sehr richtig fest, dass auch die Politik für die missliche Lage Älterer am Arbeitsmarkt verantwortlich ist. Gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente, das ist der Dreiklang, dem wir Linken uns verpflichtet fühlen. ({0}) Das ist auch der Maßstab, mit dem wir den von den Grünen vorgelegten Antrag bewerten. Daran gemessen ist Ihr Antrag leider mangelhaft. Warum? Einerseits muten Sie mit der Rente erst ab 67 all jenen, die nicht bis 67 arbeiten können, drastische Rentenkürzungen zu. Das ist sehr konkret. Das ist die Peitsche, die Ältere auf dem Arbeitsmarkt halten oder dorthin treiben soll. Andererseits reden Sie von verbesserten Chancen, von einem Sollen hier, von einem Können dort. Doch das alles bleibt sehr unkonkret. Sie bringen es fertig, knallharte Rentenkürzungspolitik mit windelweicher Chancenpolitik zu kombinieren. Sie garantieren die Peitsche und stellen das Zuckerbrot vage in Aussicht. Das ist unseriös. ({1}) Von Ihren warmen Worten kann niemand im Alter leben. Treten Sie mit uns für die Abschaffung der Rente erst ab 67 ein! Dann reden wir gerne weiter. ({2}) Wer kann, darf; wer nicht kann, muss auch nicht bis 65 und schon gar nicht bis 67 arbeiten. Eine solche Regelung bräuchten wir. ({3}) Wir Linken sind der Überzeugung, dass viele Menschen durchaus bereit sind, bis 65 zu arbeiten. Wer es darüber hinaus auch noch kann und will, soll weiterhin, wie bisher, dafür belohnt werden. Wer es bis dahin aber nicht schafft, darf nicht bestraft werden. Das ist der entscheidende Punkt. ({4}) Sanktionspolitik, wie sie mit der Rente erst ab 67 und auch mit Hartz IV betrieben wird, ist und bleibt der falsche Weg. Geänderte Hinzuverdienstmöglichkeiten und Teilrenten, wie sie die Grünen vorschlagen - dafür hat eben auch der Kollege Vogel plädiert -, sind nichts anderes als die Fortsetzung der Kombilohnpolitik mit rentenpolitischen Mitteln. Im Klartext: Niedriglohn und Tüten einpacken im Supermarkt, weil die Rente nicht reicht, das wollen wir nicht. ({5}) Immer dann, wenn die Nachfrage nach Arbeitskraft nicht da ist, kommen Sie uns mit demselben alten Rezept: Arbeit müsse billiger werden, ({6}) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten williger werden, Geringverdienende sollten im Alter aufstocken dürfen, weil sie bis 67 arbeiten müssten. Das ist ja wie bei der FDP. So sieht also grüne Sozialpolitik aus? Sie wollen die FDP zu Tode kuscheln! ({7}) Nur zu, aber bitte nicht auf dem Rücken der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({8}) Die Linke will die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern und die Arbeitgeber fordern. Und das heißt unter anderem, die Rente erst ab 67 muss weg. Wir wollen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern und nicht bestrafen. ({9}) Wir brauchen einen guten, öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, der gute Arbeit fördert. Zwangsverrentung aller Art lehnt die Linke ab. Da sind wir uns einig. Wir wollen eine gute Arbeitsmarktpolitik, die allen Menschen, die arbeiten wollen, ermöglicht, zu guten Löhnen zu arbeiten. Deshalb wollen wir prekäre Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Minijobs und befristete Beschäftigung deutlich zurückdrängen oder auch abschaffen. ({10}) Geringqualifizierte und ältere Beschäftigte müssen in den Unternehmen mehr als bisher und dauerhaft weitergebildet werden. Nicht zuletzt müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber endlich in die Pflicht genommen werden. Wer ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne zwingenden Grund entlässt, muss zur Kasse gebeten werden und die Kosten des Arbeitslosengeldes erstatten. Das wäre eine wichtige Maßnahme. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pothmer! Auch wir sehen in Ihrem Nachdenken ein lobenswertes Unterfangen, aber nur so weit, wie es gerade eben möglich ist. Also zum Kuscheln reicht es wirklich nicht. ({0}) Am Ende muss ich doch dem Kollegen Weiß mit seinem Wallenstein-Zitat recht geben. Wenn man nämlich vergleicht, was die Bundesregierung in den letzten Jahren da beziehe ich die Große Koalition, lieber Kollege Schaaf, ausdrücklich mit ein ({1}) - zu Recht mit ein - schon geleistet hat, so sprechen, glaube ich, auch die Zahlen durchaus für das, was in den letzten Jahren in diesem Bereich passiert ist. Im Jahr 2000 waren noch rund 20 Prozent der 60- bis 65-Jährigen erwerbstätig. Kollegin Pothmer, Sie haben selber von jetzt knapp 40 Prozent gesprochen. Das ist immerhin eine Verdoppelung in diesem Bereich. ({2}) Wir liegen im europäischen Vergleich sicherlich über dem Durchschnitt, sind aber bei weitem nicht gut genug. Denn wir wissen alle, dass wir dieses Potenzial oder diesen Schatz heben müssen. Aber - darauf hat der Kollege Weiß vorhin schon ganz richtig hingewiesen - mit der Initiative „50 plus“ haben wir in der Großen Koalition die ersten Schritte unternommen: Erhöhung der Weiterbildungsquote und Abbau der Frühverrentung. Lieber Kollege Schaaf, Sie haben vorhin ein Beispiel in Bezug auf die Müllabfuhr bei Ihnen genannt. Wir wissen aber beide, wie wir in den letzten Jahren mit diesem Problem und mit dem Altersteilzeitgesetz umgegangen sind. In erster Linie haben wir nämlich das Blockmodell gewählt. Damit haben wir ganz bewusst viel Erfahrung und Wissen aus dem aktiven Arbeitsleben genommen, um vor allem jüngeren Menschen eine Chance zu geben. ({3}) - Ich darf bitte den Satz zu Ende führen. - Das haben wir getan, weil wir - deswegen kritisiere ich das jetzt auch nicht - damals auf eine Arbeitslosigkeit von fast 5 Millionen reagieren mussten. Diesen Ansatz haben wir gewählt. Er hat aber natürlich dazu geführt, dass die Quote damals geringer war.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

So, Herr Kollege, jetzt dürfen Sie die Zwischenfrage stellen.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Würden Sie mir bestätigen, dass nicht die Altersteilzeit abgeschafft wurde, sondern nur die Förderung der Altersteilzeit nicht fortgeführt worden ist? Die jetzt existierende Altersteilzeit ist die nicht geförderte Altersteilzeit. Nach Ihrer Logik müsste die Altersteilzeit ganz verschwinden. Die jetzige Altersteilzeit bedeutet sozialverträgliche Arbeitsplatzvernichtung und sonst gar nichts. Die geförderte Altersteilzeit beinhaltete, dass der Arbeitsplatz auf Dauer erhalten bleiben muss. Das ist genau der entscheidende Punkt.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Schaaf, wir beide wissen, dass der Ansatz diesbezüglich sehr theoretisch ist. ({0}) - Nein, er ist sehr theoretisch. Deswegen ist es richtig, dass diejenigen, die weiterhin dieses Modell wählen wollen, es wählen können. Aber es gibt derzeit keine Notwendigkeit, das Modell von unserer Seite mit großzügiger Förderung zu bedenken. ({1}) Wir haben darüber hinaus - auch darauf hat der Kollege Weiß schon hingewiesen - mit INQA einen neuen Abschnitt aufgemacht. Wir glauben, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. Ich bin auch davon überzeugt - das unterscheidet uns jetzt wieder wesentlich -, dass nicht der Staat allein diese Sache regeln kann, sondern dass wir diesen Weg nur gemeinsam mit den Unternehmen - ich habe das Vertrauen in die Unternehmen - beschreiten können. ({2}) Ich brauche Ihnen nur ein positives Beispiel aus dem Bayerischen zu nennen, nämlich BMW in Dingolfing. Dort ist ein Werk im Rahmen des Demografieprojekts „Heute für morgen“ aufgebaut worden. Dort sind altersgerechte Arbeitsplätze eingerichtet worden. Die Teilebereitstellung wird individuell angepasst. Es ist ein Belastungswechsel möglich. Die Industrie und die Unternehmen haben also erkannt, dass sie selber mit in der Pflicht sind und reagieren müssen. Wir alle wissen um die Erfahrungen und die Leistungsfähigkeit der älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kollege Schaaf, ich sage es trotzdem noch einmal: Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, auch wenn Sie es bestreiten, unsere ausdrückliche Wertschätzung. Wir wissen, was diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben zu leisten imstande sind. ({3}) Die Rente mit 67 haben wir gemeinsam beschlossen. Frau Pothmer, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist der Grundsatz zunächst richtig. ({4}) - Bei Ihnen sowieso nicht. Da warten wir immer noch auf den Reichtum für alle. Ceterum censeo: Reichtum für alle. Sie haben wieder Ihren ganzen Kasten vorgestellt. Es hat kaum etwas gefehlt. Vor dem Hintergrund der notwendigen Fachkräftesicherung glauben wir an die strategische Partnerschaft. Die Handlungsfelder, die Arbeitskräfteallianz, gemeinsam mit den Unternehmen, das, was wir mit unserer Bundesministerin voranbringen, das ist der richtige Weg. Wir werden den Schatz heben. Wir vertrauen gemeinsam auf die Unternehmen und auf unsere Maßnahmen. Dann - da bin ich sicher - werden wir älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine größere Chance im Produktionsprozess geben. Heben Sie mit! Heben wir gemeinsam! Dann sind wir sicherlich auf einem guten Weg. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5235 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksache 17/4981 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksache 17/2766 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 17/5355 Berichterstattung: Abgeordnete Kirsten Lühmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Andreas Scheuer das Wort. ({1})

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt „Feuerwehrführerschein“ hat uns alle in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr eingehend beschäftigt. Die Problematik ist hinreichend bekannt und seit Jahren intensiv diskutiert worden. Es stehen immer weniger junge ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung, die über eine zum Führen der Einsatzfahrzeuge notwendige Fahrerlaubnis verfügen. Nur Fahrerlaubnisinhaber, die vor dem 1. Januar 1999 ihre Fahrerlaubnis erworben haben, können aufgrund ihres Bestandschutzes auch weiterhin schwerere Fahrzeuge mit dem bisherigen Führerschein der alten Klasse 3 fahren. Diese Fahrer stehen aber den freiwilligen Feuerwehren zunehmend aus Altersgründen nicht mehr zur Verfügung. Es müssen jüngere Fahrer nachrücken, die aber nicht mehr über die benötigte Fahrerlaubnis für die Einsatzfahrzeuge verfügen. Es geht also um unser aller Sicherheit; vor allem im ländlichen Raum. Nicht nur in Süddeutschland mit der dortigen Ehrenamtsstruktur, sondern auch in allen anderen Bundesländern führt dies zu dramatischen Engpässen bei den Einsatzfahrten. Ursache für diese Entwicklung ist die sogenannte Zweite EG-Führerscheinrichtlinie von 1991, nach der das Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die deutschen Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen waren. Seither dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B für Pkw nur noch Kraftfahrzeuge bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden. Für Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen 3,5 Tonnen und 7 Tonnen ist hingegen seit 1999 eine Fahrerlaubnis der Klasse C1, und für Fahrzeuge über 7,5 Tonnen eine Fahrerlaubnis der Klasse C erforderlich. Diese Rechtsänderung wurde von der Europäischen Gemeinschaft eingeführt, um eine auf die unterschiedlichen Fahrzeugklassen ausgerichtete spezifische Ausbildung und Prüfung zu vereinheitlichen. Der Forderung, eine Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehörige der freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht anerkannten Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatzfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 4,25 Tonnen fahren dürfen, konnte aus europarechtlichen Gründen nicht entsprochen werden. Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlossene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung reicht demnach aus meiner Sicht nicht aus, um die Einsatzfähigkeit der betroffenen Organisationen tatsächlich zu verbessern. Die dort getroffenen Regelungen waren zu bürokratisch und zu teuer. Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat ein intensiver Dialogprozess mit der Europäischen Kommission stattgefunden. An dieser Stelle möchte ich dem EU-Kommissar Siim Kallas sehr herzlich danken, der gestern bei uns im Ausschuss war. Wir alle haben über die Jahre intensiv an diesem Vorhaben gearbeitet, aber die christlich-liberale Koalition hat jetzt umgesetzt, was lange Zeit nur dahingewabert hat und was zwar immer mit Briefen an die EU-Kommission unterlegt war, aber nie mit persönlichem Kontakt und mit Sensibilisierung für das deutsche Interesse an der Weiterentwicklung und Zukunftsfähigkeit unserer Ehrenamtsstrukturen. Ich sage Dank an den EU-Kommissar. Der Minister hat sofort Kontakt aufgenommen und in vielen persönlichen Gesprächen rübergebracht, dass wir eine andere Struktur haben. Ich möchte Dank an den EU-Kommissar sagen. ({0}) Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die Vereinbarung der Koalitionsfraktionen im Koalitionsvertrag um. Wir schaffen weitere Erleichterungen für die Ehrenamtlichen, die kostengünstig und unbürokratisch zu handhaben sind. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die betroffenen Organisationen eine organisationsinterne Einweisung und - das ist das Entscheidende - auch eine organisationsinterne Prüfung auf Einsatzfahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen durchführen können. So wird ein einfaches und kostengünstiges Verfahren geschaffen, mit dem, den jeweiligen Bedürfnissen vor Ort entsprechend, mit den vorhandenen Einsatzfahrzeugen ausgebildet und geprüft werden kann. Ich wünsche dazu viel Erfolg. Ich denke, das ist ein tolles System. ({1}) Dabei wird zwischen einer Sonderfahrberechtigung bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen einerseits und bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen andererseits differenziert, da die Anforderungen an die Fahrerinnen und Fahrer mit der Höhe des Fahrzeuggewichts zunehmen. Aufgrund des tatsächlich bestehenden Bedarfes werden jetzt erstmalig auch Anhänger in die Fahrberechtigung aufgenommen. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, die Ausbildung in Anlehnung an das in Deutschland bewährte System der professionellen Ausbildung auch durch Fahrlehrer vornehmen zu lassen. Jetzt müssen die Landesregierungen dieses System in ihre regionalen Gegebenheiten übertragen. Ich denke auch, dass hervorzuheben ist, dass wir hier ein einfaches und unbürokratisches System wählen. Ich bedanke mich noch einmal für die intensiven Gespräche auch im Ausschuss. Es ist ein gutes Signal an die Ehrenamtlichen, dass der Ausschuss einstimmig dem Entwurf zugestimmt hat. Somit wünschen wir unseren Ehrenamtlichen gutes Gelingen und vor allem unseren Verbänden, die im Rettungsdienst tätig sind, dass sie auf viele junge Leute zurückgreifen können, die von dieser Regelung profitieren. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Unter diesem Tagesordnungspunkt reden wir über Katastrophenschutz und Feuerwehr. Das heißt, wir reden über 2,5 Millionen Menschen, 2,5 Millionen freiwillig Helfende, die ihre Freizeit und oft auch ihr Leben aufs Spiel setzen, um andere zu retten. Wenn sie im Ausland eingesetzt werden - das ist ja häufiger der Fall, weil sie sehr gut ausgebildet sind -, sind sie auch noch Botschafter unserer Bundesrepublik Deutschland. Die Hilfsorganisationen nehmen außerdem viele soziale Aufgaben wahr, insbesondere in den Bereichen Integration und Ausbildung junger Menschen. Die gute Infrastruktur, die wir in der Not- und Katastrophenhilfe haben, sichert auch den Wohlstand in Deutschland. Dies - da sind wir uns sicher einig - gilt es zu unterstützen. Das Ehrenamt muss gestärkt werden. Das ist umso wichtiger, als die Hilfsorganisationen allenthalben unter Nachwuchssorgen zu leiden haben. Das hat mehrere Gründe. Der eine Grund - darüber haben wir hier schon sehr viel geredet - ist der demografische Wandel. Ein anderer Grund ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Durch diese Entscheidung ist bei vielen Hilfsorganisationen wie zum Beispiel beim THW eine Rekrutierungsquelle weggefallen. Der dritte Grund ist die geplante Verkleinerung der Bundeswehr aus Kostengründen. Die genaue Größe steht noch nicht fest; aber es sind schon viele Zahlen im Umlauf. Wenn man den Fachleuten glauben darf, ergibt sich aus all diesen Zahlen zumindest Folgendes: Die neue Bundeswehr wird nicht mehr in dem Maße, wie sie es bisher konnte, in der Katastrophenhilfe tätig sein. Das heißt, zukünftig werden wir in der Bundesrepublik noch mehr auf Freiwillige angewiesen sein. Wir müssen also helfen, dass sich mehr junge Menschen für die Arbeit in den Hilfsorganisationen entscheiden, damit wir im Katastrophenfall ausreichend gut ausgebildete Kräfte zur Verfügung haben. ({0}) Auch unter diesem Aspekt ist der Antrag auf Erteilung einer Sonderfahrerlaubnis zu sehen. Das Ziel ist, ausreichend gut ausgebildeten und ausgestatteten Nachwuchs zu erhalten. ({1}) Die vorliegende Lösung ist pragmatisch, unbürokratisch, kostengünstig, und - das war uns sehr wichtig sie geht nicht zulasten der Sicherheit. Heute findet die abschließende Beratung statt. Der Gesetzentwurf beinhaltet die Schaffung einer Ausnahmeregelung im Führerscheinrecht, da durch den Generationenwechsel - das wurde eben vom Staatssekretär angesprochen - immer weniger Ehrenamtliche mit der neuen Führerscheinklasse C1 zur Verfügung stehen. Da es relativ unattraktiv ist, für den privaten Gebrauch eine Fahrerlaubnis für diese Klasse zu erwerben, gibt es auch immer weniger, die privat eine entsprechende Prüfung machen. Sie nur dafür zu machen, um die Fahrerlaubnis als Hilfskraft einsetzen zu können, ist verständlicherweise viel zu teuer. Mit dieser Regelung schaffen wir also Mobilitätsverbesserungen für Feuerwehr und Rettungsdienste sowie technische Hilfsdienste. Von daher ist es sehr wichKirsten Lühmann tig, dass auch das Fahren mit Anhängern in diese Regelung einbezogen wurde. Aber bereits in der ersten Lesung hatte ich einige Anmerkungen gemacht, die uns sehr wichtig sind. Die Verkehrssicherheitsverbände haben nämlich bezüglich dieser Regelung erhebliche Bedenken. Die erste Frage ist, ob die Neuregelung konform mit EU-Recht geht. Ich habe nicht ganz verstanden, was der Staatssekretär dazu gesagt hat. Er hat von Gesprächen berichtet, die mit Herrn Kallas geführt wurden. Ich gehe davon aus, dass die Gespräche dergestalt endeten, dass Herr Kallas der Meinung ist, dass unsere Regelung EU-konform ist. ({2}) - Er hat genickt, für das Protokoll. ({3}) - Beide. Hervorragend! - Das heißt, wir werden eine Regelung haben, die für die vielen ehrenamtlich Helfenden eine klare Situation schafft. Zu den anderen beiden Punkten hatten wir im Verkehrsausschuss einen Antrag eingebracht. Dieser Antrag wurde von der Mehrheit leider abgelehnt. Er beinhaltet zum einen, dass die Vorgaben für die Einweisung und Prüfung bundeseinheitlich geregelt werden sollten, und zum anderen, dass die Prüfungsfahrten für die Klasse zwischen 4,75 und 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse durch die Kfz-Sachverständigen und nicht organisationsintern abzunehmen seien. Obwohl auch der Verkehrsausschuss des Bundesrates der Meinung war, man brauche eine bundeseinheitliche Lösung, konnte sich der Fachausschuss unserem Vorschlag nicht anschließen. Das wäre sinnvoll gewesen, da die Sonderfahrerlaubnis bundesweit gültig ist. Ich hoffe jetzt inständig, dass sich die Länder in eigener Regie eng abstimmen, damit wir auf freiwilliger Basis doch noch eine bundeseinheitliche Lösung hinbekommen. Wenn diese nicht zustande kommt, hätte das eine völlige Zersplitterung der Verordnungslage zur Folge. Ich glaube, das würde keinem nutzen. ({4}) Auch unser zweiter Vorschlag hat den Charakter eines Appells, diesmal an die Hilfsorganisationen. Die Feuerwehrmänner und Ehrenamtlichen in den Hilfsorganisationen leisten hervorragende Arbeit. Ich habe volles Vertrauen, dass sie in der Lage sind, die Einweisung auf den Fahrzeugen zu organisieren. Dennoch bitte ich sie, zu überprüfen, ob es nicht sinnvoll ist, das Geld für einen externen Kfz-Sachverständigen auszugeben, wenn es um die Prüfungen geht. Das sollte es uns aus Gründen der Rechtssicherheit und insbesondere mit Blick auf die Helfenden, die später mit dieser Sonderfahrerlaubnis unterwegs sind, wert sein. Um zu überprüfen, ob das funktioniert, regen wir an, dass wir uns in zwei oder drei Jahren gemeinsam die Regelung anschauen, um zu beurteilen, ob sie wirklich so greift, wie wir uns das vorstellen, oder ob es bei den Hilfsorganisationen noch Probleme gibt, sodass wir nachsteuern müssen. Die Hilfsorganisationen ringen sehr kreativ um Lösungen, wie ich feststellen konnte. Es gibt schon eine Regelung - der Herr Staatssekretär hat es bereits angesprochen - für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen. Eine Feuerwehr in meiner Region hat ein solches Feuerwehrfahrzeug selbstständig umgebaut, und es mit einer zweiten Bremse und zusätzlichen Spiegeln ausgestattet, sodass bei den Einweisungsfahrten der Einweisende eingreifen kann, falls der einzuweisende Fahrer einen Fehler macht. Es gibt eine weitere clevere Idee, und zwar von einem Feuerwehrmann aus Oberfranken, der es allerdings mit der Bürokratie zu tun bekam. Es handelt sich um einen Fahrschullehrer aus der kleinen Gemeinde Litzendorf. Er ist seit 15 Jahren ehrenamtlich und unentgeltlich für seine Feuerwehr tätig und wollte die Feuerwehrleute auf richtigen Einsatzfahrzeugen schulen. Deswegen kaufte er ein solches Fahrzeug und schenkte es seiner Feuerwehr. Im Gegenzug wollte er das Feuerwehrfahrzeug für seine Schulungsfahrten nutzen und es kostenlos in der Garage der Feuerwehr unterstellen. So weit, so gut. Jetzt fing der Amtsschimmel an, zu wiehern. Das Innenministerium lässt nun prüfen, ob ein auch privat genutztes Fahrzeug in einer öffentlichen Garage stehen darf. Das Finanzamt lässt prüfen, ob ein Feuerwehrfahrzeug, das auch privat genutzt wird - und sei es nur eine Stunde im Monat -, weiterhin steuerbefreit sein kann. Das Innenministerium forderte eine Klärung des Sachverhalts durch die Regierung von Oberfranken. Diese wendete sich an das Landratsamt Bamberg, das wiederum den Bürgermeister von Litzendorf anschrieb. Um mit den Worten der Feuerwehr Reichenbach zu sprechen: Jetzt kann uns wohl nur noch Sankt Florian helfen. ({5}) Diese kurze Geschichte zeigt uns, mit wie viel Einfallsreichtum die Ehrenamtlichen unserer Gesellschaft helfen wollen. Wir müssen dieses Engagement unterstützen und tun dies mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz. Es freut mich besonders, dass es einstimmig geschieht. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in letzter Lesung über die Entwürfe der Bundesregierung und des Bundesrates zur Schaffung des sogenannten Feuerwehrführerscheins. Wir haben uns in den letzten Wochen intensiv und, wie ich finde, auch konstruktiv über diese Entwürfe ausgetauscht. Lassen Sie mich noch einmal auf die Kernpunkte eingehen. Wir verfolgen mit der Einführung des Feuerwehrführerscheins drei Kernziele. Wir tun dies, um die Einsatzfähigkeit der freiwilligen Feuerwehren und der anderen Dienste dauerhaft aufrechterhalten zu können und damit den Freiwilligendienst in den Katastrophenschutzorganisationen zukunftsfest zu machen. Sowohl die Entwürfe der Bundesregierung als auch des Bundesrats sehen eine Lösung vor, nach der organisationsintern sowohl eingewiesen als auch geprüft wird. Ich glaube, das ist unbürokratisch und spart Kosten. Deswegen unterstützen wir diesen Ansatz. ({0}) Ein weiteres wichtiges Ziel ist Folgendes. Wir reden ja immer über hochverschuldete Kommunen, die Geld sparen müssen. Dieses Vorgehen hilft genau hierbei; denn sonst zahlen Kommunen häufig für Nachschulungen zum Erwerb von Führerscheinen, gerade bei der Feuerwehr. Ich kenne das auch aus meiner Ratstätigkeit. Gleichzeitig wollen und müssen Kommunen natürlich die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Ich glaube, der Feuerwehrführerschein ist eine gute Lösung, um beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen. Unser drittes Kernziel ist - fraktionsübergreifend -, dass wir das Ehrenamt stärken wollen. Dafür müssen wir Anreize schaffen. Ein solcher Anreiz ist der Feuerwehrführerschein. Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der von Beginn an zu Recht eine wichtige Rolle spielte. Das ist die Verkehrssicherheit. Es gab Bedenken, dass der Feuerwehrführerschein eine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellt. Natürlich ist klar, Blaulichtfahrten bergen ein höheres Risiko als normale Fahrten. Aber wir haben uns einem intensiven Abwägungsprozess gestellt. An dessen Ende kann man guten Gewissens sagen, dass wir die Möglichkeit der organisationsinternen Einweisung und Prüfung unterstützen. Es sind ja nicht irgendwelche Chaoten, denen wir das übertragen, sondern pflichtbewusste Bürgerinnen und Bürger, die sich in den Diensten engagieren. Vor allem sind im Gesetzentwurf klare Anforderungen für diejenigen vorgesehen, die einweisen und prüfen dürfen. Gerade deswegen haben wir auch die Klarstellungswünsche des Bundesrates durch Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen aufgegriffen. Es ist nun explizit geregelt, dass Ausbildung und Prüfung auch durch Fahrlehrer vorgenommen werden können. Ich glaube, das ist ein guter Fortschritt, den wir in den Beratungen erzielt haben. ({1}) Abgesehen davon, dass es den Fahrschulen ausdrücklich ermöglicht werden soll, durch attraktive Angebote weiter Kunden zu gewinnen, haben wir also auch in Zukunft in jedem Fall gut ausgebildete Fahrer auf den Einsatzfahrzeugen. Lassen Sie mich noch kurz auf das Thema der Vereinbarkeit des Feuerwehrführerscheins mit dem Europarecht eingehen. Ich bin der Überzeugung, das Ganze wurde durch das BMJ sorgfältig geprüft. Es gibt keine Bedenken gegen die Rechtsförmlichkeit. Sonst läge uns der Gesetzentwurf heute so auch nicht vor. ({2}) Ich bin der Meinung, es ist inhaltlich gut zu vertreten, dass die nun genannten Organisationen zum Katastrophenschutz im Sinne der 3. EG-Führerscheinrichtlinie zu zählen sind. Das Thema der bundeseinheitlichen Lösung, das auch die SPD angesprochen hat, ist natürlich eines, über das wir sprechen müssen; das haben wir im Ausschuss bereits getan. Ich möchte noch einmal festhalten: Im Bundesrat ist weiterhin eine Länderlösung vorgesehen, auch wenn der federführende Ausschuss es anders gesehen hat. Somit entspricht das, was wir hier verabschieden, auch dem Willen der Länder, übrigens auch der SPD-geführten Länder. Ich halte es immer noch für sinnvoll, dass wir maßgeschneiderte Lösungen für jedes Bundesland haben; denn die Anforderungen an Katastrophenschutzdienste sind beispielsweise in Schleswig-Holstein vielleicht anders als in Bayern, Niedersachsen oder im Saarland. Deswegen ist es sinnvoll, dies vor Ort zu entscheiden. ({3}) Die Länder sind natürlich nicht davon abgehalten, sich eng abzustimmen. Insbesondere was die gegenseitige Anerkennung angeht, ist dies ja auch wünschenswert. Deswegen halte ich es für richtig, dass das BMVBS hier eine Art Koordinierungsrolle einnimmt. Staatssekretär Scheuer hat im Ausschuss ja angesprochen, dass es eine Art Basistext für den Feuerwehrführerschein gibt. Das ist, glaube ich, gut und richtig. Ich freue mich und die FDP freut sich über den breiten Konsens, der im Grundsatz zwischen den Fraktionen besteht. Jetzt kommt es auch darauf an, dass die Länder die Regelungen zügig umsetzen und die Chancen nutzen, die sich mit dem Feuerwehrführerschein bieten. Die zahlreichen Ehrenamtlichen im Land warten darauf. Sie werden es Ihnen und uns auch danken. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass wir heute endlich eine Lösung für die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer finden, die für unsere Gesellschaft eine so wichtige Arbeit machen. Die unzähligen Freiwilligen bei Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk und den Rettungsdiensten leisten einen unschätzbaren Beitrag für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. ({0}) Diesen Dank einmal vom Rednerpult des Parlaments auszusprechen, ist mir umso wichtiger, weil die Freiwilligen oft auch hoheitliche Aufgaben, wie zum Beispiel die Brandbekämpfung, übernehmen. Man kann sagen, dass unser Gemeinwesen in dieser Form ohne das Engagement dieser Frauen und Männer nicht funktionieren würde. Diese Menschen erwarten von uns zu Recht, dass wir nicht nur nette Worte für sie übrig haben, sondern sie erwarten auch Unterstützung vom Gesetzgeber. Dazu gehört es auch, dass wir ihre Arbeit nicht unnötig erschweren. Die Arbeit von Feuerwehr, dem THW und den Rettungsdiensten wurde in der Vergangenheit aber leider erheblich erschwert. Der Staatssekretär hat es bereits ausgeführt: Seit im Jahre 1999 das europäische Recht im Führerscheinwesen vereinheitlicht wurde, finden diese Organisationen kaum noch Nachwuchskräfte, die über einen geeigneten Führerschein bis 7,5 Tonnen verfügen. Das wollen wir hier und heute korrigieren, und wir sind uns dabei auch über Fraktionsgrenzen hinweg einig. Ein immer wieder diskutierter Punkt bei den Beratungen war die Verkehrssicherheit. Dabei wird häufig übersehen, dass bis 1999 jeder Fahranfänger mit einem PkwFührerschein ins Führerhaus eines 7,5-Tonners steigen durfte - ohne jede Einweisung und ohne eine einzige Fahrstunde auf diesem Lkw. Eine wie auch immer vorgeschriebene Einweisung innerhalb der Organisation stellt daher in jedem Fall eine Verbesserung der Ausbildung im Vergleich zur früheren Situation dar. Mir ist überdies keine Statistik bekannt - vielleicht ist eine solche in einer anderen Fraktion oder bei der Regierung vorrätig -, dass die Inhaber der alten Führerscheinklasse 3 eine höhere Unfallquote beim Führen von 7,5-Tonnern aufweisen. In Ihrer Gesetzesvorlage wollen Sie, vor allem der Bundesrat, dass die Bundesländer bei der Prüfung und Ausbildung Sonderregelungen treffen können. Für die Linksfraktion ist das weiterhin ein Makel, der allerdings nicht dazu führt, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen werden. Wir bleiben dennoch dabei, dass eine bundeseinheitliche Regelung mehr Sinn macht, da sich die Situationen in den einzelnen Bundesländern kaum voneinander unterscheiden. Herr Kollege Luksic, Sie müssen mir irgendwann in aller Ruhe erklären, wo sich für eine freiwillige Feuerwehr die Situation in Schleswig-Holstein von der im Saarland unterscheidet. ({1}) - Ja gut, das Hochwasser haben wir an der Saar auch oft genug gehabt. Ich sehe vielleicht einen Unterschied zwischen den drei Stadtstaaten; aber bei den Flächenländern sehe ich beim besten Willen keinen Unterschied. ({2}) - Das nehmen wir jetzt einmal nicht zu Protokoll. Mir ist klar, dass bei den Einsätzen über Ländergrenzen hinweg ein einheitlicher Ausbildungsstand wünschenswert wäre. Oder soll zum Beispiel eine Feuerwehr bei einer Grenzüberschreitung erst einmal einen Fahrerwechsel vornehmen? Die Linke stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Ich würde mir sehr wünschen, dass die anderen Fraktionen - ich schaue gerade in die entsprechende Richtung - bei nächster Gelegenheit bei vergleichbaren Anträgen auch einmal zustimmen würden, wenn die Opposition ihre Anträge vorlegt. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Problematik der Feuerwehrführerscheine haben wir lang und breit diskutiert, hier im Plenum und auch in den Ausschüssen. Ich will deswegen nicht noch einmal das gesamte Thema ausbreiten. Die Kolleginnen und Kollegen haben das schon vorab gemacht. Auch die Grünen finden die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes richtig und wollen keine Differenzen konstruieren, wo es keine gibt. Als konstruktive Opposition wollen wir greifbare Verbesserungen für die Menschen in unserem Land erreichen. Wir fällen unsere Entscheidungen sachorientiert und in aller Ruhe. Von der Panik, die jetzt die eine Seite des Hauses ergriffen hat, lassen wir uns nicht anstecken. Die Lage dieser Regierung ist desolat. Verbesserungen sind vielfach nicht mehr zu erwarten. Aber die Zeit dreht sich weiter, und die Menschen wollen von uns Lösungen sehen. Bei sehr vielen Regierungsvorhaben müssen und werden wir auch weiterhin sehr skeptisch sein. Hier sind wir es nicht und stimmen deswegen zu. ({0}) Wir stellen uns einer pragmatischen Lösung nicht in den Weg. Wir gehen davon aus, dass die Gesetzesänderung im Einklang mit dem europäischen Recht erfolgt - der Staatssekretär und der Bundesminister haben das eben ja auch bestätigt -; denn alles andere wäre Ausdruck einer unverantwortlichen Politik gegenüber den Katastrophenschützern, den Helfern und den Feuerwehrleuten, die ihre Arbeit ehrenamtlich machen. Meine Damen und Herren, im Verkehrsausschuss haben wir darüber beraten, ob die Zuständigkeit beim Bund liegen sollte. Da Feuerwehren regional organisiert sind, denken wir, dass die Verantwortung auch bei den Ländern liegen sollte. Dort kennt man die örtlichen Bedürfnisse am besten und weiß, wie die Veränderungen schnellstmöglich umgesetzt werden können. Natürlich regen wir an, dass sich die Länder abstimmen - nach dem, was wir gehört haben, ist das vorgesehen - und die Regeln untereinander harmonisieren, aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Am Ende ist nicht entscheidend, ob die Bedingungen für den Führerscheinerwerb in Schleswig die gleichen sind wie in Passau, sondern dass unsere ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer die Einsätze sicher fahren können und die Führerscheine überall in Deutschland gültig sind. Ich habe Vertrauen in die Menschen vor Ort, dass die Lösung richtig umgesetzt wird. Wir müssen beobachten, ob sich die Neuregelung in der Praxis bewährt. Deswegen müssen wir die Auswirkungen der Gesetzesänderung nach Inkrafttreten des Gesetzes im Verkehrsausschuss prüfen. Ich hatte ja schon angeregt, dass wir uns das Thema in zwei Jahren noch einmal vornehmen und uns Bericht erstatten lassen. Dabei sollten wir insbesondere auf folgende Punkte achten: Erstens. Haben sich die Unfallzahlen infolge der Einführung der neuen Führerscheine erhöht? Zweitens. Wie funktioniert der Austausch zwischen den Ländern? Drittens müssen wir selbstverständlich fragen, ob wir das Problem, das der Einführung dieses Führerscheins zugrunde lag, gelöst haben; denn niemandem wäre geholfen, wenn die Feuerwehren und die Katastrophenschutzorganisationen weiterhin zu wenige Fahrerinnen und Fahrer für ihre Einsätze hätten. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Einigkeit wie bei dieser Änderung des Straßenverkehrsgesetzes habe ich in diesem Haus selten erlebt. Das ist bei diesem Thema, bei dem es um die Stärkung des Ehrenamtes geht, sehr wichtig. Ich habe jedoch keine Angst, dass wir jetzt nur noch traute Harmonie erleben werden. Diese Regierung bietet uns wahrlich genug Anlass, ihr ganz genau auf die Finger zu schauen und da einzugreifen, wo Murks gebaut wird. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wilms, ich glaube, diese Regierung wird Ihnen auch viel Anlass geben, mit uns zu stimmen und unseren Anträgen zu folgen. ({0}) Ich bin überzeugt davon, dass die vielen freiwilligen Helfer, aber auch die Verantwortlichen am Ende dieser Debatte endlich wissen - das ist wichtig -, wie es mit dem Transport ihrer schweren Rettungs- und Löschtechnik auf Fahrzeugen bis 7,5 Tonnen weitergeht. Meine Vorredner haben bereits gesagt, dass diejenigen, die nach 1999 einen Pkw-Führerschein erworben haben, damit keine Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen fahren dürfen. Entsprechend der EU-Regelung dürfen sie nur Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen fahren. Aus Gesprächen mit Feuerwehrleuten, mit Vertretern des THW und anderer Organisationen des Rettungswesens weiß ich, dass man die Sache so auf den Punkt bringen kann: Den Organisationen gehen die Fahrer aus. Es ist ein Riesenproblem, die notwendigen Einsätze abzusichern. Deswegen haben der Bundesfeuerwehrverband und das THW schon sehr frühzeitig darauf hingewiesen, dass Handlungsbedarf besteht. Mit dem neuen, sogenannten großen Feuerwehrführerschein für Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen können wir diese Lücke entscheidend schließen. Wer in der letzten Legislaturperiode mit dabei war, weiß, dass wir uns schon damals dieses Themas angenommen haben. In der Großen Koalition hatten wir gemeinsam eine Regelung für das Führen von Kraftfahrzeugen bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen gefunden. Aber die Praktiker unter uns wussten schon damals, dass das nur eine kleine Lösung war; denn schon damals war klar, dass die Löschtechnik immer schwerer wird - ich sage ausdrücklich: zum Glück - und immer mehr Ausrüstungsgegenstände zur Unfallrettung mitgeführt werden, was Fahrzeuge mit einer Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen erforderlich macht. Die Regelung, die wir jetzt unter Einbeziehung der Länder gefunden haben, ist, denke ich, vor allen Dingen praxistauglich. Man muss eines sehen - darüber haben wir diskutiert -: Die Festlegung der Durchführungsbestimmungen und die Anwendung liegen bei den Ländern. Das ist auch richtig so; denn man muss die regionalen Besonderheiten beachten. Eine Rettungsfahrt auf einer Deichkrone in Schleswig-Holstein ist anders als eine auf einem Waldweg im Thüringer Wald. ({1}) Daher müssen einige Regelungen regional getroffen werden. Die Verbände werden es uns danken und sehen die Regelung, die wir jetzt beschließen, als positiv an. Sie wird insgesamt 16 000 Fahrzeuge im Bestand betreffen. Um den Einsatz dieser 16 000 Fahrzeuge abzusichern, werden rund 80 000 Fahrer ({2}) - und Fahrerinnen; danke für den Hinweis, ich nehme ihn gerne auf, wobei „Fahrer“ die Mehrzahl ist und die Fahrerinnen mit einschließt - benötigt, die natürlich nicht alle den Lkw-Führerschein C1 haben können. Sie können ihn auch deshalb nicht haben, weil er finanziell nicht schulterbar ist, weil nicht jede Kommune in der Lage ist, den Fahrern diesen Lkw-Führerschein zu finanzieren. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir diese Regelung getroffen haben. Meine Kreisfeuerwehrverbände im Altenburger Land und im Landkreis Greiz haben mir in Volkmar Vogel ({3}) den letzten 14 Tagen auf ihren Verbandstagungen gesagt: Wir brauchen unbedingt Nachwuchs. Wir brauchen junge Leute im Ehrenamt, die uns auch in Zukunft zur Verfügung stehen. ({4}) Ich glaube, mit dieser Regelung haben wir einen vielleicht kleinen, aber doch wichtigen Beitrag für das Ehrenamt geleistet, für diejenigen, die jeden Tag bereitstehen, um Menschen, die in Not geraten, zu helfen und um Sachwerte, die in Gefahr geraten, zu retten. ({5}) Bei allen hehren Zielen - das möchte ich hier noch einmal zum Ausdruck bringen - hat die Sicherheit oberste Priorität. Frau Lühmann, ich habe unsere Gespräche im Ausschuss sehr genau verfolgt; wir nehmen das sehr ernst. Aber man muss auch eines beachten: Ein junger Kraftfahrer, der den C1-Führerschein, den LkwFührerschein, hat, ist nicht davor gefeit, leichtsinnig zu sein oder fahrlässig zu handeln. Ich glaube, an der Stelle ist wichtiger als alles andere, dass man dies immer im Hinterkopf behält. Kameradschaft, gegenseitige Hilfe, Besonnenheit im Einsatz, Respekt vor der Gefahr, aber auch, wenn es darauf ankommt, die Ermahnung untereinander sind allemal wichtiger als das, was wir hier gesetzlich regeln können. Mein Appell an alle freiwilligen Helfer vom THW und von der Feuerwehr ist, dass sie dies bei ihren Einsätzen immer beachten. Wir wollen den gesetzlichen Rahmen schaffen, damit es einfach zu regeln ist. Meine Bitte an die Bundesländer lautet, in ihren eigenen Bestimmungen, die jetzt zu erlassen sind, nach Möglichkeit einfache, unbürokratische und kostengünstige Regelungen zu finden, die, wenn es unter Beachtung der regionalen Besonderheiten irgendwie geht, unter Umständen in mehreren Bundesländern Gültigkeit haben können. Mir bleibt zum Schluss nur noch, zu sagen, dass es mir ein Herzenswunsch ist, all denjenigen, die im Rettungswesen tätig sind, die freiwillig diesen Ehrendienst leisten, von dieser Stelle aus herzlich zu danken. Ich wünsche ihnen, dass sie immer wohlbehalten und gesund von ihren Einsätzen zurückkehren. Weil ich selber Feuerwehrmann bin, rufe ich den Gruß - er ist von Feuerwehr zu Feuerwehr verschieden -: Gut Wehr! Gut Schlauch! Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jetzt müssen wir nur noch gut abstimmen. Das tun wir zu dem eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes, nachdem wir die Aus- sprache geschlossen haben. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/5355, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- sache 17/4981 in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegen mir eine Reihe von persönlichen Erklärun- gen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll wie üb- lich beifügen.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Wer möchte sich der Stimme enthalten? Wer möchte dagegen stimmen? - Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig angenommen. ({0}) Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes ab. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/5355, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf der Drucksache 17/2766 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit einvernehmlich angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Waltraud Wolff ({1}), Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherschutz in der Telekommunikation umfassend stärken - Drucksache 17/4875 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren - Drucksache 17/5376 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medien 1) Anlage 2 Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen - Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Marianne Schieder ({5}) Stephan Thomae Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort. ({6})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle, die den Saal verlassen, kann ich nur bitten, hierzubleiben, weil dieses Thema uns alle angeht. Es geht um den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Bereich der Telekommunikation. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie auf der Zuschauertribüne sitzen und diese Debatte verfolgen, das ist ein Thema, das auch Ihnen zu Hause unter den Nägeln brennt. 19 Cent pro Minute für ein Ferngespräch innerhalb Deutschlands - heute klingt das absurd teuer. Aber 1998 war das ein Kampfpreis. Damit begann damals der Wettbewerb im deutschen Festnetz. Die relativen Kosten sind seitdem zwar drastisch gesunken; aber in absoluten Zahlen ist das eigentlich nicht der Fall. Eher zahlen wir heute mehr. Aber wir alle müssen auch konstatieren: Heutzutage telefonieren wir nicht mehr nur mit dem Telefon und nutzen nicht mehr nur diese Leitungen, sondern sind auch an ein neues Kommunikations- und Konsumsystem angeschlossen. Der Telekommunikationsmarkt ist einer der dynamischsten Märkte in Deutschland. Neue technische Möglichkeiten sorgen natürlich immer wieder für neue Geschäftsmodelle. Die Telekommunikationsbranche ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland geworden. Sie ist ein wichtiger Motor für Innovation, Wachstum und Beschäftigung. Sowohl die Zahl der Unternehmen als auch die Umsätze wachsen. Dies ist eigentlich eine sehr positive Entwicklung. Anbieter von Informationstechnik, Telekommunikation und Internetdiensten sind mit mehr als 840 000 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber in der deutschen Industrie. Das hätte 1998 niemand geglaubt. Auch die Anzahl der Anbieter ist gestiegen, die Anwendungen sind viel komplexer geworden, und ebenso sind die Tarife vielfältiger und komplexer geworden. Wir, die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitieren davon aufgrund niedriger Preise und leistungsfähiger Produkte. Eigentlich ist das toll; das kann man nicht anders sagen. Aber die zunehmende Unübersichtlichkeit in dieser Branche ist zu einer großen Herausforderung für den Verbraucherschutz geworden; darüber unterhalten wir uns heute. Dies ist zum Teil deshalb der Fall, weil Verbraucherinnen und Verbraucher damit überfordert sind, sich im Dschungel der Angebote und Tarife zurechtzufinden, zum Teil aber auch deshalb, weil die Unübersichtlichkeit ausgenutzt wird und Verbraucherinnen und Verbraucher schlichtweg betrogen werden; so muss man das sagen. Wir als Gesetzgeber sind an dieser Stelle aufgefordert, ganz genau zu beobachten: Wo gibt es Fehlentwicklungen? Wir müssen uns fragen: Wie kann man ihnen entgegenwirken? Wir müssen aufgreifen, was falsch läuft, wir müssen nachjustieren, und wir müssen die Rechte der Telefonkundinnen und -kunden wahren und stärken. ({0}) Dabei geht es um höchst unterschiedliche Probleme. Da gibt es zum einen die Call-by-Call-Anbieter, die unvorhersehbar ihre Preise erhöhen, ohne dass man Einfluss darauf nehmen kann. Dann gibt es Unternehmen, die Sie und uns alle mit unerwünschten Werbeanrufen belästigen. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen in Warteschleifen bei Hotlines - die Frage lautet: Warum? Außerdem werden uns Verträge untergeschoben. Mit Gewinnversprechen werden Kundinnen und Kunden auf teure 0900er-Nummern gelockt. All diese Probleme gilt es in den Griff zu bekommen. Wir als SPD-Fraktion haben einen hervorragenden Antrag geschrieben, in dem ein ganzes Maßnahmenbündel diesen Problemen entgegenwirkt. ({1}) Gleichzeitig liegt - endlich, muss man sagen - der Entwurf der Regierungsfraktionen für eine Novelle zum Telekommunikationsgesetz vor. Kostenfreie Hotlines - das werden uns auch die Kollegen von der Regierungsseite zugestehen - fordern alle Fraktionen. Der Gesetzentwurf enthält bessere Vorgaben zur Preisangabe und zur Beschreibung der Qualität der Angebote, und die Verbraucherrechte beim Umzug und beim Anbieterwechsel werden gestärkt. Es ist eine gute Sache, dass das in dem Gesetzentwurf steht. Sie als Bundesregierung haben einen Aufschlag gemacht, und Bundesrat und die Verbraucherzentralen haben schon ihre Stellungnahmen dazu abgegeben. Waltraud Wolff ({2}) Auf dieser Grundlage sollten wir alle gemeinsam zu guten Lösungen kommen. Wir als SPD werden uns jedenfalls ganz konstruktiv daran beteiligen. ({3}) Ich habe auch schon einen ganz konkreten Vorschlag, nämlich die Verpflichtung, dass die Call-by-Call-Anbieter die Preise anzugeben haben. Das darf man nicht erst irgendwann mit einer Verordnung regeln, sondern das gehört jetzt sofort ins Gesetz. ({4}) Wozu sollten wir denn warten? Wir kennen doch alle die Abzocke durch unerwartete Preissprünge. Wenn Sie sich dazu nicht durchringen können, sondern das auf dem Verordnungsweg regeln wollen, muss es aber bitte schön gleichzeitig mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs geschehen. Meine Damen und Herren, wir haben hier zwar einen guten Aufschlag der Bundesregierung; aber wenn man sich den ganzen Bereich anschaut, muss man konstatieren: Beim Verbraucherschutz in der Telekommunikation haben die Bundesregierung und die Regierungskoalition total versagt; ({5}) denn Ihr Gesetzentwurf sieht keine Hilfe bei Kostenfallen, untergeschobenen Verträgen und der Abzocke bei Gewinnspielen vor. ({6}) Zu diesen Themen brauchen Sie bloß einmal bei den Bürgerinnen und Bürgern nachzufragen. Da gilt es, von uns aus etwas zu tun. Wir als SPD haben bereits in der letzten Legislaturperiode ein Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen auf den Weg gebracht. ({7}) - Jawohl. - Mit diesem Gesetz haben wir die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher erheblich gestärkt, insbesondere im Hinblick auf unerlaubte Telefonwerbung und auf die untergeschobenen Verträge. Gleichzeitig hat die SPD-Fraktion eine Evaluation dieses Gesetzes auf den Weg gebracht. Ich denke, die Evaluation vorzuziehen, war genau der richtige Weg; denn die Zahl der Beschwerden ist in dieser Zeit nicht zurückgegangen. Was sagen die nun vorliegenden Ergebnisse aus? Sie zeigen erstens, dass das Gesetz zum Teil greift. Zweitens zeigen sie, dass die Unternehmen zwar weiterhin mit ungewollten Initiativanrufen gegen das Gesetz verstoßen, die Zahl dieser Anrufe aber deutlich zurückgeht. Zugenommen hat dagegen die Zahl der Anrufe von Telefonbetrügern, die vermeintliche Gewinnversprechen mit der Aufforderung machen, teure 0900er-Nummern anzurufen. Auch das Abgreifen von Kontaktdaten ist durch die vorhandenen gesetzlichen Maßnahmen nicht ausreichend eingedämmt worden. Mit anderen Worten kann man sagen: Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden jetzt zwar seltener belästigt, aber sie werden schneller und mehr abgezockt. Darum müssen wir hier gesetzlich eingreifen. ({8}) Noch eines steht fest: Verbraucherrechte müssen künftig besser durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit dazu ist die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Dazu haben wir aus dem Bundesrat bereits positive Signale vernommen. Ich glaube, dass wir es hier schaffen, konzertiert vorzugehen. Meine Damen und Herren, wir haben eine sogenannte Button-Lösung eingebracht und hätten die Verbraucherinnen und Verbraucher stärken können. Das hat die Regierungskoalition abgelehnt. Sie haben sich darauf zurückgezogen, dass das EU-weit geregelt werden muss. Heute trommelt der Buschfunk aber, dass Sie vielleicht doch eine nationale Lösung haben wollen. Sie haben noch nichts vorgelegt. ({9}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden weiter abgezockt, und das ist nicht spaßig.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Verbraucherschutz in der Telekommunikation ist mehr als das, was im Telekommunikationsgesetz geregelt wird. Wir haben die Lösungsansätze aufgezeigt. Stimmen Sie unserem Antrag zu und lassen Sie uns konstruktiv im Sinne aller Verbraucherinnen und Verbraucher daran arbeiten. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wolff, ich habe Ihrer Rede und der Kommentierung Ihres „hervorragenden Antrages“ gelauscht. Ich denke, uns eint die Forderung nach dem Ausbau des Verbraucherschutzes und nach der Stärkung der Rechte der Verbraucher. Ich weiß aber nicht so recht, ob die Diskussion, die wir jetzt führen, nicht völlig deplatziert ist; denn - Sie haben es selbst erwähnt - die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf schon am 2. März dieses Jahres verabschiedet. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme dazu geschrieben, und es wäre sinnvoll gewesen, in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes hier im Deutschen Bundestag, also im Mai, genau die Fragen, die Sie vorgetragen haben, zu erörtern. ({0}) - Ja, genau. Ich muss Ihnen auch sagen, dass Ihr Antrag ein bisschen spät vorgelegt worden ist; denn die CDU/CSUFraktion hat schon lange ein Papier zu den verbraucherschutzrechtlichen Regelungen im Gesetzentwurf vorgelegt. 80 Prozent Ihrer gesamten Regelungsvorschläge können Sie jetzt im Gesetzentwurf der Bundesregierung nachlesen. ({1}) Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich also sagen: Haken, Haken, Haken - alles eigentlich erledigt, weil es im Gesetzentwurf steht. ({2}) Insofern ist die Diskussion heute eine kleine Spiegelfechterei. Wir sollten das in den Ausschüssen debattieren. Es lohnt sich sicherlich, darüber zu diskutieren, wenn der Gesetzentwurf eingebracht ist. Deswegen möchte ich jetzt auch nur drei Punkte ansprechen, die uns hier wirklich sehr beschäftigen. Jeder hier im Raum hat sich in der vergangenen Zeit wahrscheinlich schon einmal sehr über Anrufe mit unterdrückter Nummer, über falsche Angaben von Bandbreiten bei Internetanschlüssen und über teure Warteschleifen geärgert. Deswegen bestätige ich Ihnen ja auch, dass Handlungsbedarf besteht. Die Warteschleifen sind, glaube ich, im Moment eines der größten Probleme. Ich denke, wir haben hier im Hause und auch mit der Regierung eine große Einigkeit, dass in Bezug auf kostenlose Warteschleifen Regelungen geschaffen werden müssen, und auch über die Wege sind wir uns jetzt wohl einig, nachdem die Anbieter lange Zeit erklärt haben, was alles technisch nicht geht. Letztendlich geht vieles dann aber doch; das haben wir in der politischen Praxis ja schon oft erlebt. Ich denke also, das Thema wird sich regeln lassen. In Bezug auf den Anbieterwechsel innerhalb eines Kalendertages gehen wir andere Wege als Sie. Sie fordern Sanktionen, wenn ein Anbieterwechsel nicht innerhalb eines Tages abgeschlossen wird. Was nützt es mir, wenn der Anbieter, nachdem ich fünf Tage lang kein Telefon hatte, vielleicht 100 Euro zahlen muss? Ich will den Anbieterwechsel an einem Tag realisiert haben. Wir sind der Meinung, dass es wesentlich besser ist, wenn der alte Anbieter den Endkunden so lange weiter versorgen muss, bis der Anbieterwechsel innerhalb eines Tages gewährleistet ist. Ich denke, dass unsere Regelung besser ist und auch wesentlich weiter geht als Ihre Forderung nach Sanktionen. Ein anderes Thema ist die zwölfmonatige Höchstvertragslaufzeit für Telekommunikationsverträge. Das ist ein leidiges Thema; das muss ich zugeben. Mir ist das auch schon oft passiert: Man wechselt den Anbieter und muss einen Zweijahresvertrag unterschreiben. Wenn man vergisst, diesen Vertrag innerhalb einer bestimmten Frist zu kündigen, läuft er weiter, dann allerdings nur noch ein Jahr. Wir sind der Auffassung, dass eine zwölfmonatige Höchstvertragslaufzeit notwendig ist. Zumindest muss die Möglichkeit dazu bestehen. Ob der Verbraucher einen Vertrag über zwei, drei, fünf oder zehn Jahre unterschreibt, bleibt ihm überlassen; aber er muss auch die Möglichkeit haben, einen Vertrag abzuschließen, der nur ein Jahr läuft und entsprechend gekündigt werden kann. Ein weiteres Thema sind die Verbraucherrechte beim Umzug. Umzüge kommen im praktischen Leben oft vor; die Menschen sollen schließlich mobil sein. Gefordert wird, dass für den Fall eines Umzugs ein Sonderkündigungsrecht im Gesetz verankert wird. Sie befürworten sogar, dass die Telekommunikationsunternehmen eine Kompensation für die überlassene Hardware erhalten. Damit sind Sie sehr wirtschaftsfreundlich. Über diesen Vorschlag werden wir diskutieren müssen. Wir sind der Auffassung, dass es eine vertraglich vereinbarte Abstandszahlung geben soll. Der Verbraucher muss wissen, worauf er sich bei einem Umzug einlässt. Ich denke, in den weiteren Themen, die Sie angesprochen haben, wie die Mitnahme von Mobilfunkrufnummern und Preistransparenz bei Call-by-Call-Dienstleistungen, liegen wir nicht weit auseinander. Insofern denke ich, dass die Beratung, was den ersten Teil Ihres Antrages angeht, in großer Gemeinsamkeit gelingen kann. Beim zweiten Teil Ihres Antrags wird es schon schwieriger. Das wissen Sie auch genau. Herr Dörmann lächelt schon insgeheim in sich hinein, weil er genau weiß, dass verschiedene Regelungen, die darin gefordert werden, einen sehr hohen bürokratischen Aufwand nach sich ziehen. Da wir alle eigentlich für Bürokratieabbau sind, werden wir uns dabei sicherlich kaum einig werden. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Sie wird sicherlich sehr produktiv werden. Der Verbraucher wird der Gewinner sein. Das ist unser Ziel. ({3}) Es ist die Aufgabe der Politik, die Verbraucherrechte zu stärken. Das werden wir mit dem Gesetzentwurf und den weiteren Diskussionen im Ausschuss auch tun. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Caren Lay ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Lämmel, ich muss mich schon wundern. Ich denke, dass die Beratung der Anträge der Linken, aber auch der anderen Oppositionsfraktionen zu dem wichtigen Thema Verbraucherschutz im Telekommunikationsbereich nun wirklich nicht deplatziert ist, wie Sie gesagt haben. Vielmehr ist es längst überfällig, dass die Bundesregierung handelt. Wieder einmal muss die Opposition Sie vor sich hertreiben. ({0}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren schließlich durch ungebetene Telefonanrufe, Kostenfallen im Internet und viele andere Dinge mehr jedes Jahr sehr viel Geld. Ich denke, jeder von uns kennt dieses Problem auch aus der eigenen Erfahrung. Man bekommt zum Beispiel eine SMS auf das Handy mit der Mitteilung: „Sie haben gewonnen! Rufen Sie uns bitte unter folgender Nummer an.“ Dann landet man in einer Warteschleife, die am Ende sehr viel Geld kostet. Der Hauptgewinn bleibt aber aus. Ein anderes Beispiel sind die scheinbaren Billigtarife, bei denen die Telekommunikationsunternehmen besonders preiswerte Anrufe ins Ausland oder in Mobilfunknetze versprechen. Dann aber erhöhen die Anbieter kurzfristig und auch unbemerkt die Minutenpreise oft um das Vielfache, und die Verbraucherinnen und Verbraucher bleiben auf den Kosten sitzen. Insofern erleben viele Verbraucherinnen und Verbraucher die Telekommunikationsbranche als einen Markt der Abzocke. Wir als Linke sagen, dass diese Abzocke im Internet und bei der Telekommunikation endlich ein Ende haben muss. ({1}) - Dann bin ich auf Ihre Vorschläge gespannt. Denn das ist kein neues Problem. Seit Jahren sorgt der Telekommunikationsmarkt für den höchsten Beratungsbedarf bei den Verbraucherzentralen. Fast die Hälfte der Verbraucherinnen und Verbraucher hat Probleme mit Telefonund Internetdiensten. Das Schlimmste ist, dass die beliebtesten Opfer dieser unseriösen Geschäftspraktiken sehr häufig Jugendliche und ältere Menschen sind. Deswegen ist es unsere soziale Verpflichtung, uns hier einzusetzen. Was macht aber die Bundesregierung? Ich habe in der Tat aus den Reihen der Union immer wieder einmal eine Presseerklärung zum Thema „sauberes Telefon“ gelesen. Aber geändert hat sich die Gesetzeslage bislang nicht. Das gilt auch für den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Beispielsweise beim Thema Warteschleifen gibt es nach wie vor Schlupflöcher, die die Koalition den Unternehmen zubilligen möchte. Anstatt zu sagen, dass die Warteschleifen kostenlos sein sollen, wollen Sie, dass das nur bei Sondertelefonnummern gilt. ({2}) Insofern ist die Behauptung von Verbraucherministerin Aigner, das Problem kostenpflichtiger Warteschleifen sei gelöst, sicher nicht die richtige Formulierung. Auch wir als Linke haben hier einen Antrag vorgelegt. Wir sagen zum Beispiel: Warteschleifen müssen komplett kostenlos sein. Auch die Wartezeit muss begrenzt werden. Denn wer möchte schon viele Stunden mit Dudelmusik am Telefon verbringen? Ebenso fordern wir klare Preisobergrenzen und Preisinformationen. Was für das Festnetz schon längst gilt, muss auch für das Handy gelten. ({3}) Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher besser vor Kostenfallen im Internet geschützt werden. Es muss klar erkennbar sein, wie viel ein Kauf im Internet kostet und wann der Kauf tatsächlich abgeschlossen ist. Deswegen fordern auch wir, ebenso wie in der letzten Legislaturperiode, einen Internetbutton. Besonders bedrückend finde ich, dass sich die Telekommunikationsbranche in der Zwischenzeit eine goldene Nase verdient. Im letzten Jahr hat die Branche in Deutschland einen Umsatz von 61 Milliarden Euro erzielt, einen Teil davon mit unseriösen Praktiken. Wir sagen als Linke: Verbraucherabzocke darf sich nicht länger lohnen. Die Zögerlichkeit von SchwarzGelb ist Teil einer Politik zugunsten der Unternehmen. Verbraucherinteressen bleiben dabei auf der Strecke. Das muss endlich ein Ende haben. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Claudia Bögel für die FDP-Fraktion.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Novelle zum Telekommunikationsgesetz setzt zwei große Schwerpunkte. Sie bringt den Verbrauchern besseren Schutz, und sie schafft einen sicheren Rahmen für den Ausbau modernster Internetinfrastruktur. Ihre Vorschläge zu Änderungen im TKG, die ich in Ihrem Antrag wiederfinde, hat das Kabinett bereits vor gut einem Monat zu großen Teilen abgesegnet; Kollege Lämmel sagte das vorhin. Somit, liebe Opposition, gehören Sie der Vergangenheit an. Aber wir kennen das ja: Dort, wo Sie nur fordern - und das auch noch mit großer Verspätung -, haben wir uns bereits gekümmert und umfassende Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger erwirkt. ({0}) So wird die Bundesnetzagentur in Zukunft darüber wachen, ob die Angaben zu den Geschwindigkeiten von Breitbandanschlüssen mit den Fakten übereinstimmen. Sie wird darüber wachen, ob die Preistransparenz bei sogenannten Call-by-Call-Gesprächen und mobilen Datendiensten gewährleistet wird. Der Schutz vor Abrechnung von Internetkostenfallen über die Handyrechnung wird auch auf den Mobilfunk ausgeweitet. Ein ganz wesentlicher Faktor für Unternehmen ist die Verkürzung der Wartezeit bei Anbieterwechsel auf einen Tag. ({1}) Wir haben das Problem erkannt: Telefonanbieterwechsel und schon ist man unter Umständen mehrere Tage nicht erreichbar. Für den Bürger ist das ärgerlich, für ein Unternehmen ist es von existenzieller Bedeutung. Mit der entsprechenden Regelung und vielen weiteren Regelungen bietet das TKG zeitgemäßen Verbraucherschutz für alle Formen der elektronischen Kommunikation, und das auf höchstem Niveau. ({2}) Das ist unsere Politik. Ihr folgen Taten statt warmer Worte, verpackt in populistische Forderungen. ({3}) Noch in diesem Jahr können wir die letzten weißen Flecken in der flächendeckenden Grundversorgung mit DSL-Internetanschlüssen und LTE beseitigen. Die Zusage hierzu wurde von den TK-Unternehmen aktuell bekräftigt. Wir wollen, dass auch in den ländlichen Räumen bis spätestens 2018 besonders schnelle Breitbandanschlüsse flächendeckend verfügbar sind. ({4}) Der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbandes fordert deshalb eine kosteneffiziente und für die Verbraucher auch bezahlbare Ausbaustrategie. Absolut richtig. Augenmaß und nicht blinder Aktionismus ist hier von größter Wichtigkeit; ({5}) denn es geht um Investitionen in Höhe von immerhin 40 Milliarden Euro. Der Ausbau soll mit dem Ziel erfolgen, für die Verbraucher die geringsten Kosten zu erreichen. Ohne den Wettbewerb als den wichtigsten Antreiber wird dies nicht gelingen. Allein der Wettbewerb, der allen Verbrauchern freie Wahl unter den Anbietern gibt, hat den Telekommunikationsmarkt zum erfolgreichsten Modell für die Liberalisierung staatlicher Monopole gemacht. Daran sollten wir uns auch künftig halten; denn gute Wettbewerbspolitik - davon bin ich überzeugt - ist die beste Verbraucherpolitik. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein ganz wichtiges Feld, über das wir heute diskutieren; denn ganz viele Menschen sind von großen Problemen betroffen, die wir weiterhin bei der Telekommunikation haben. Deshalb sage ich: Auch ein mündiger Bürger braucht einen bestimmten Schutz. Es reicht einfach nicht, nur auf Wettbewerb zu setzen, um das einmal sehr deutlich zur FDP zu sagen. ({0}) Wir haben Telefon, wir haben Handy, wir haben Internet und wir haben neue Medien, die eine immer größere Rolle spielen. In vielen Bereichen herrschen in der Tat immer noch Wildwestmethoden. Deshalb müssen wir dem Verbraucherschutz mehr Gewicht geben. Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung diesen Herausforderungen nicht gewachsen ist; denn sie braucht extrem lange, um zu reagieren, und wenn sie reagiert, springt sie zu kurz. Es ist wichtig, heute diese Debatte zu führen, damit wir endlich im Verbraucherschutz bei der Telekommunikation vorankommen. ({1}) Angesichts der kurzen Zeit nenne ich drei Beispiele. Das ganze Thema ist extrem breit. Ein Beispiel sind die Telefonwarteschleifen. Wir von den Grünen haben das Thema 2009, als wir eine Studie vorgelegt haben, in die Diskussion gebracht und auf den Missbrauch und die Abzocke hingewiesen - jetzt haben wir 2011. Wir haben dieses Thema im März des letzten Jahres in den Bundestag eingebracht. Ein Jahr später wird endlich ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Da kann man nun sagen: Lieber spät als nie. - Aber man muss auch sagen: Er ist noch nicht einmal gut geworden. ({2}) Daher finde ich schon, dass man fragen muss, was Frau Aigner dazu sagt. Frau Aigner hat sich gerühmt, sie habe das Problem der kostenpflichtigen Warteschleifen gelöst. Sie hat gesagt: Wird vom Unternehmen keine Leistung erbracht, dürfen auch keine Kosten berechnet werden. Das ist ein Zitat.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Höhn, lassen Sie Zwischenfragen zu?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sofort. Ich möchte den kleinen Satz noch zu Ende bringen, und dann werde ich eine Zwischenfrage zulassen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Aber sicher.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann erhalte ich wieder ein bisschen mehr Zeit.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wollen wir dann sehen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir dieses Zitat von ihr - wird vom Unternehmen keine Leistung erbracht, dürfen auch keine Kosten berechnet werden - jetzt auf seine Richtigkeit überprüfen, dann stellen wir fest: In der Tat werden immer noch Kosten fällig, es gibt immer noch Schlupflöcher. Dieser Satz ist einfach falsch. Wenn die Ministerin am Weltverbrauchertag sagt, irreführende Aussagen in der Lebensmittelwerbung dürfe es nicht mehr geben, dann sagen wir: Sie sollte keine irreführende Werbung in eigener Sache machen. Auch das ist verboten und sollte nicht geschehen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höhn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Problem der Abzocke bei telefonischen Warteschleifen nicht erst seit der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb, also 2009, als Sie die Umfrage durchgeführt haben, existiert, sondern schon viele Jahre früher existierte? Deswegen möchte ich Sie fragen: Warum widmen Sie sich diesem Thema erst seit 2009? Warum haben Sie sich diesem Thema nicht schon zu der Zeit gewidmet, als Sie die Regierungsverantwortung hatten? Da gab es das Problem nämlich schon. ({0})

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Das ist nun wirklich nicht logisch; denn wir waren hier im Bundestag immerhin die Ersten, die den Antrag dazu eingebracht haben, und wir waren immerhin diejenigen, die dann wenigstens 2009 mit dieser Anfrage das Ganze an die Öffentlichkeit gebracht haben. Wenn ich sehe, dass die Franzosen heute schon in der Lage sind, kostenfreie Warteschleifen zu garantieren, dann verstehe ich nicht, warum die Ministerin das, was die Franzosen können, hier in Deutschland nicht kann. Das ist das Problem. Schnelles Handeln wäre möglich gewesen. Von 2009 bis 2011 ist eine lange Zeit. Sie von der FDP wollen immer so schnell sein. Das war nicht schnell in Ihrer Regierungsverantwortung. ({0}) Ich komme zum nächsten Punkt: unerlaubte Telefonwerbung. Da dieses Problem schon lange bekannt ist, haben wir schon vor einiger Zeit einen entsprechenden Antrag eingebracht. Die Bundesnetzagentur hat festgestellt: 2010 gab es 30 Prozent mehr Beschwerden als 2009. Mittlerweile haben sich 130 000 Menschen bei der Bundesnetzagentur beschwert. Das lässt uns ahnen, wie viele Personen tatsächlich betroffen sind. Zwar wird nun eine Lösung des Problems vorgelegt, aber auch da muss man sagen: späte Einsicht. Auch hier hätte viel früher eine Lösung gefunden werden können. Wir als damalige Oppositionsfraktion haben Vorlagen mit Lösungen eingebracht. Damals haben Sie gegen uns gestimmt. Jetzt stellen Sie fest: Um den Verbraucher zu schützen, muss er eine schriftliche Bestätigung abgeben. Um das zu verstehen, haben Sie Jahre gebraucht. Auch hier ist der Verbraucherschutz bei Ihnen eine Schnecke. ({1}) Letzter Punkt: Kostenfallen im Internet. Verstehen Sie endlich, dass Menschen, die über das Internet eine Leistung in Anspruch nehmen, sehen müssen, wie viel diese Leistung kostet. Mit einem entsprechenden Button ist das ganz einfach zu erreichen. Wir sind uns eigentlich einig, dass dafür gesorgt werden muss. Deshalb sage ich - Frau Ministerin ist nicht da -: Herr Bleser Sie sind mir der beste Verbraucherschützer, den ich mir vorstellen kann ({2}) - genau -; denn Sie sind nun für mehr als nur für Landwirtschaft zuständig -, setzen Sie Ihr Vorhaben endlich um und reden Sie nicht immer nur darüber! Ich finde diese von der SPD angestoßene Debatte gut. Die Regierung muss endlich etwas tun. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Mechthild Heil ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat den Verbraucherschutz fest im Blick. Wir freuen uns, dass die Opposition uns mit ihren Anträgen heute bei diesem Vorhaben unterstützen will. Vielen Dank! In den letzten Jahren haben wir mit der Verschärfung des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwer11720 bung erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht: Uns ist es gelungen, dass unlautere Anrufe strenger geahndet werden. Außerdem haben wir ein deutlich höheres Bußgeld durchgesetzt. Wir haben Rufnummernunterdrückungen verboten, und wir haben das Widerrufsrecht ausgeweitet, auch bei Gewinnspielen. ({0}) Darüber hinaus haben wir festgesetzt, dass Anbieterwechsel und Vertragsänderungen nur noch mit schriftlicher Bestätigung des Kunden erlaubt sind. Das alles war und ist ein großer Erfolg für Verbraucherinnen und Verbraucher. Aber unsere Ideen und unsere Durchsetzungskraft gehen noch weiter. ({1}) Das Bundeskabinett hat am 2. März den Entwurf der Novelle zum Telekommunikationsgesetz beschlossen. Damit setzen wir unsere verbraucherpolitischen Ziele konsequent weiter um. Mit überteuerten und endlosen Warteschleifen, Frau Höhn, den Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen, ist mit uns nicht zu machen. Wir sorgen dafür, dass ein Anrufer erst dann bezahlen muss, wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der sich seines Problems annimmt. Ja, Servicenummern dürfen etwas kosten, aber erst ab der Sekunde, ab der dem Kunden auch wirklich geholfen wird. Ein weiteres Ärgernis für die Verbraucher sind einige Call-by-Call-Anbieter. Mit unübersichtlichen Tarifsprüngen werden Kunden bewusst in die Irre geführt. Die Folge kann eine massiv überhöhte Rechnung sein. Dieses Problem wurde auf der europäischen Ebene erkannt, und Europa hat gehandelt. Deshalb können heute nationale Regulierungsbehörden - bei uns ist das die Bundesnetzagentur - Transparenzvorgaben für die Telekommunikationsunternehmen machen. Dazu gehört eine Tarifansage zu Beginn jedes Gesprächs. Wechselte bisher ein Kunde den Wohnort, musste er meist den alten Vertrag fortführen, auch wenn am neuen Wohnort die Leistungen gar nicht angeboten wurden. Damit soll jetzt Schluss sein. Wir wollen ein gesetzlich verankertes Sonderkündigungsrecht bei Umzug. Wird die gleiche Leistung am neuen Wohnort angeboten, darf auch die vereinbarte Vertragslaufzeit nicht mehr geändert werden. ({2}) Es soll Schluss sein mit endlosen automatischen Vertragsverlängerungen. ({3}) Auch der Wechsel zwischen den Telefongesellschaften muss vereinfacht werden. Wechselt man zur Konkurrenz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lang stillgelegt werden. So lange bleibt der alte Anbieter Vertragspartner. Dann muss alles wieder funktionieren. Wir wollen auch, dass der Mobilfunkkunde in Zukunft seine Rufnummer zum neuen Anbieter mitnehmen kann. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Kundenservice. ({4}) Unser Ziel als CDU/CSU ist es nämlich, mehr Wettbewerb zu ermöglichen und damit für die Kunden die Kosten zu senken. Deshalb wird jeder Telefon- und Internetanbieter verpflichtet, auch Verträge mit zwölf anstatt mit 24 Monaten Laufzeit anzubieten. Und: Handyabrechnungen müssen so transparent und verständlich erstellt werden, dass der Kunde erkennen kann, was wie viel gekostet hat. Er muss auch Widerspruch gegen einzelne Rechnungsposten einlegen können. Diese Vielzahl von Verbesserungen im TKG bringt uns dem Ziel eines „sauberen“ Telefons wesentlich näher. Damit ist der Unionsfraktion eine weitere Stärkung der Verbraucher gelungen. ({5}) Auch mit dem Geschwindigkeitsschwindel bei DSLAnschlüssen ist jetzt Schluss. Derzeit geben die Anbieter die Geschwindigkeit von DSL-Anschlüssen mit „bis zu“ an. In der Realität heißt das oft: Die Höchstgeschwindigkeit wird auch unter günstigsten Bedingungen nicht erreicht. Oft entpuppt sich der Datenhighway als verkehrsberuhigte Zone. Deshalb werden wir die DSL-Anbieter verpflichten, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten anzugeben. ({6}) Der zweite Schwerpunkt unseres Gesetzes, das wir vorlegen werden, ist der Breitbandausbau. Wir wollen möglichst bis 2015 eine flächendeckende Verfügbarkeit von Breitbandanschlüssen mit einer Bandbreite von 50 Megabit pro Sekunde erreichen. ({7}) Wir wissen, dass in ländlichen Regionen Breitbandnetze ebenso wichtig sind wie in Ballungsräumen. Sie sind wichtig für die Ansiedlung von Unternehmen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und auch für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft. Die CDU/CSU macht keine Qualitätsunterschiede zwischen Verbrauchern aus städtischen und Verbrauchern aus ländlichen Räumen. Große Städte mit Internethochgeschwindigkeitsstrecken und Dörfer auf dem Internetabstellgleis - das ist mit mir und mit der CDU/CSU nicht zu machen. ({8}) Menschen im ländlichen Raum sind für mich keine Verbraucher zweiter Klasse. Schnelle Internetanschlüsse sind heute mit der Versorgung von Wasser und Strom gleichzusetzen. Sie sind Teil der Daseinsvorsorge. Es gibt einen Wunsch nach und ein Recht auf ungehinderten Informationszugang. Dafür kämpfe ich. ({9}) Gerade als Verbraucherschützerin liegt mir dies sehr am Herzen. Ohne den freien Zugang zu Informationen gibt es keine mündigen Bürger. Aus diesem Grund streben wir eine flächendeckende Versorgung für Land und Stadt an. ({10}) Mehr Rechte, weniger Abzocke, schnelleren Anbieterwechsel, fairen Wettbewerb und besseren Durchblick im Telekommunikationsdschungel - dies alles wollen Verbraucher. Wir, die CDU/CSU, schaffen die gesetzlichen Grundlagen dafür. Wenn Sie von der Opposition uns hierbei unterstützen wollen, sind Sie herzlich eingeladen. ({11}) Ich freue mich auf eine intensive Diskussion mit Ihnen. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, wie die Debatte hier läuft. Es wird so getan, als ob wir Ewigkeiten brauchten, um zu handeln. ({0}) Dabei hätten manche zwölf Jahre lang die Möglichkeit dazu gehabt, haben aber nichts getan. Dann wird uns vorgeworfen, dass wir bestimmte Punkte nicht ins TKG aufgenommen hätten. Dabei weiß jeder von uns, der sich im Verbraucherausschuss mit diesem Thema viele Stunden lang befasst hat, dass diese Punkte überhaupt nicht ins TKG gehören, sondern ins UWG, weil die unerlaubte Telefonwerbung im TKG gar nicht abgehandelt wird. ({1}) Daher wünsche ich mir, dass wir über diese Themen an der richtigen Stelle diskutieren. Das können wir tun, ({2}) aber bitte werfen Sie uns nicht vor, dass wir fachfremde Punkte einbringen. ({3}) Trotzdem enthält der Antrag von der SPD einiges Gute. Allerdings frage ich mich, warum das so ist. Ich frage mich, ob das Guttenberg-Syndrom so langsam bei Ihnen angekommen ist; denn die guten Sachen entstammen dem Plagiieren. ({4}) Wir haben gesagt - das steht im Entwurf der TKGNovelle -: Ein Anbieterwechsel soll funktionieren. Wir haben sogar die Rückfallmöglichkeit für den Fall vorgesehen, dass es nicht funktioniert. ({5}) Damit gehen wir über die Forderung hinaus, die Sie aufstellen. Ich kann die Liste weiter durchgehen. Wir sehen die garantierten Tarifvarianten, maximal zwölf Monate, vor; Seite 29, § 43 b. ({6}) Aber das kennen Sie ja. Sie haben es schließlich abgeschrieben. Von daher sind Sie im Thema drin. Das gilt auch für die Regelung im Umzugsfall. Frau Wolff, zur Pflicht zur Tarifansage im Call-byCall-Bereich: § 66 b TKG; ich habe es gerade noch einmal nachgesehen. Das ist drin. Sie können nicht sagen, es sei nicht drin. Es ist drin, weil wir uns um die Verbraucher kümmern und genau wissen, wo der Schuh drückt. ({7}) Außerdem haben wir als schwarz-gelbe Regierungskoalition die Evaluation vorgezogen, um in vielen Bereichen überhaupt tätig werden zu können. Sie wissen, dass Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger handelt, vorzieht und die notwendigen Entwürfe vorlegt. Das ist richtige Politik. Das ist nicht nur Ankündigung. Ihre Kritik soll darüber hinwegtäuschen, dass Sie zwölf Jahre lang nichts gemacht haben. Denen, die lauthals rufen: „Was kann denn noch reguliert werden, wo können wir uns noch einmischen?“, muss ich sagen: Alle, die bei mir im Büro waren, haben mir gesagt: Das funktioniert nicht. Das könnt ihr nicht machen. - Wir waren diejenigen, die nicht eingeknickt sind und die ganz klar gesagt haben: Es geht um die Verbraucher. Wir werden die Verbraucherabzocke beenden. Da finde ich schon interessant, wie manche Diskussionen in diesem Hause laufen. Wir dürfen auch eines nicht vergessen, Kolleginnen und Kollegen. Wir haben mit Rainer Brüderle jemanden, der das Thema der Telefonwarteschleifen aufgegriffen und die Lösung des Problems beschleunigt hat. Also, nehmen Sie sich daran ein Beispiel! So kann es funktionieren. So kann man das Notwendige gesetzlich umsetzen - zum Wohle der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen, dann werden Sie feststellen: Nicht nur abschreiben macht glücklich, sondern vielleicht auch einmal zustimmen, wenn die Punkte, die da hingehören, tatsächlich umgesetzt werden. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4875 und 17/5376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 4 zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf der Drucksache 17/3587. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh- nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 17/3041 mit dem Titel „Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste war die Mehrheit. Damit ist die Be- schlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/3060 mit dem Titel „Un- erlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss- empfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europäischen Betriebsräte-Gesetzes - Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG über Europäische Betriebsräte ({0}) - Drucksache 17/4808 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 17/5399 - Berichterstattung: Abgeordneter Josip Juratovic b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen - Drucksachen 17/5184, 17/5399 Berichterstattung: Abgeordneter Josip Juratovic Auch für diese Aussprache ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erörtern hier in zweiter und dritter Lesung die Novellierung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes, wobei das Gesetz nicht grundsätzlich neu gefasst werden soll; es geht um einige Anpassungen an aktuelle Entwicklungen. Ich möchte grundsätzlich dazu sagen, in welchem Geist meine Fraktion diese Novelle beraten und beschließen möchte. Wir glauben daran, dass sich die Betriebspartnerschaft in Deutschland bewährt hat, dass sie ein Modell für gelebte Demokratie in einem Betrieb ist, dass sie ein Erfolgsmodell ist, dass sie kein Wettbewerbsnachteil ist, sondern dass sie für die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sorgt, dass sie dafür sorgt, deren Engagement für den Betrieb zu vergrößern, dass sie ein intelligentes Führungsinstrument für den Inhaber des Unternehmens ist und dass wir insofern auch hier von einem Exportschlager Deutschlands sprechen können. Wir finden die Betriebspartnerschaft gut. Wir finden sie richtig. Wir wollen sie stärken, und wir wollen sie an die europäischen Gegebenheiten anpassen. ({0}) An zweiter Stelle geht es darum, europäisches Recht - also eine Richtlinie - umzusetzen. Das machen wir so, wie wir es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP vereinbart haben. Wir setzen europäisches Recht eins zu eins um. Wir denken uns nichts Zusätzliches aus und wollen nicht europäischer sein als Europa. Herr Juratovic, ich werde ergänzend zu Ihren Änderungsvorschlägen und dem Zusatzantrag noch etwas sagen. Wir sind der Auffassung, dass wir nicht immer wieder in Sonntagsreden beklagen dürfen, dass es in Deutschland einen Regelungswust gibt, dass uns Europa sozusagen den Krümmungsgrad der Gurke vorschlägt ({1}) und dass unsere Regelungen immer detaillierter werden. Das kann man nur dann einhalten, wenn man das europäische Recht so umsetzt, wie es vorformuliert ist, nämlich eins zu eins, und das tun wir. ({2}) Deswegen werden die Begriffe Unterrichtung und Anhörung erweitert und verbessert. Sie stellen eine Verpflichtung zur rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung des Europäischen Betriebsrats vor einer endgültigen Entscheidung des Unternehmens über eine geplante Maßnahme sicher. Es entspricht dem Geist des Betriebsverfassungsrechtes, dass der Unternehmer - bevor er eine Entscheidung trifft - den Betriebsrat hört und die Anregungen, die Bedenken, die Sorgen, die Nöte und die Kritik, aber auch die Verbesserungsvorschläge der Arbeitnehmerschaft, die durch den Betriebsrat artikuliert werden, in seine Entscheidung aufnimmt und insofern eine noch bessere Entscheidung trifft. Wir definieren die länderübergreifenden Angelegenheiten neu. Dies ist in den allgemeinen Teil der Richtlinie übernommen worden und wird selbstverständlich auch in unseren deutschen Gesetzestext aufgenommen. Die Anhörung hat gezeigt, dass der Umsetzungsakt - wir als Koalitionsfraktionen wollen den vorliegenden Gesetzentwurf redaktionell leicht verändern - übergreifende Anerkennung gefunden hat. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften einen Entwurf begrüßen. Ich darf den Deutschen Gewerkschaftsbund zitieren: Aus gewerkschaftlicher Sicht wird begrüßt, dass der GE überwiegend Änderungen und Ergänzungen zu Vorschriften des bislang geltenden EBRG enthält, mit denen die neue Richtlinie konform und umfassend umgesetzt wurde. So ein Lob hören wir gern. Da es auch von Arbeitgeberseite kommt, glaube ich, dass der Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist. Ich will noch etwas zu zwei Kritikpunkten sagen: Zum einen sind dies die Katalogtatbestände der sogenannten nicht wesentlichen Strukturänderung. Weshalb bleiben wir bei diesen Katalogtatbeständen? Erstens. Wir bleiben dabei, weil die Sozialpartner dies ausdrücklich gewünscht haben. Wir sind als Gesetzgeber gut beraten, darauf zu hören und den Sozialpartnern dann, wenn sie sich einig sind und Rechtssicherheit haben wollen, auch Rechtssicherheit zu gewähren und diesen Katalog von wesentlichen Betriebsänderungen aufzunehmen. Zweitens. Wenn wir das herausnähmen, dann würden wir nicht nur mehr Rechtsunsicherheit schaffen, sondern wir würden gerade durch den Akt des Herausnehmens dafür sorgen, dass aus meiner Sicht wesentliche Betriebsänderungen mit einem Mal nicht mehr mitbestimmungspflichtig wären, und das würde ich nicht wollen. Das Beispiel, das ein Sachverständiger genannt hat, ist die Fusion zweier Tochtergesellschaften eines größeren europäischen Konzerns. Diesen Zusammenschluss würde er für eine nicht wesentliche Strukturänderung halten. Ich sehe das anders. Ich bin der Meinung: Wenn zwei juristische Personen, die durch ein Unternehmen verselbstständigt wurden, fusioniert werden, dann sind das wesentliche Strukturänderungen. Das sollte dann auch aufgenommen werden. Ein weiterer Punkt: Die Sozialdemokraten schlagen vor, ein Zugangsrecht aufzunehmen. Hierzu möchte ich nur sagen, was wir auch schon im Rahmen der Ausschussberatungen gesagt haben: In der Sache sind wir uns doch einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion. Wir sind nur der Auffassung, dass dies nicht besonders gesetzlich geregelt werden soll. Es ist für uns selbstverständlich, dass der Europäische Betriebsrat ein Zugangsrecht zum Betrieb haben soll. Was man nicht normieren muss, sollte man auch nicht normieren. Ich möchte hier ausdrücklich für die Koalitionsfraktionen im Protokoll festhalten: Selbstverständlich hat der Europäische Betriebsrat ein Zugangsrecht zum Betrieb. Das darf ihm nicht streitig gemacht werden. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Wadephul, darf unmittelbar vor Schluss Ihrer Rede der Kollege Dörflinger Ihnen zu zusätzlicher Redezeit verhelfen? ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, selbstverständlich.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Wadephul, können Sie das Hohe Haus darüber aufklären, wie viele Finger Sie benötigen, um die Präsenz der SPD-Bundestagsfraktion bei diesem Thema darzustellen? ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hohe Interesse der sozialdemokratischen Fraktion findet seinen Ausdruck darin, dass besonders engagierte und qualifizierte Mitglieder dieser Fraktion heute bei den Beratungen anwesend sind. ({0}) In diesem Sinne will ich auch die SPD-Fraktion bitten, noch einmal darüber nachzudenken, ob es angesichts der doch in der Sache großen Einigkeit, Herr Kollege Juratovic, nicht möglich ist, zuzustimmen, statt es bei einer Enthaltung zu belassen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält die eine Hälfte der anwesenden, besonders qualifizierten Mitglieder der SPD-Fraktion in Gestalt des Kollegen Juratovic das Wort. Bitte schön. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Basis unserer Wirtschaft ist, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die meisten Entscheidun11724 gen im Betrieb gemeinsam treffen. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen: Unternehmen mit Mitbestimmung sind erfolgreicher als Unternehmen, in denen der Arbeitgeber allein die Richtung vorgibt; denn die Mitarbeiter sind motivierter, wenn sie wissen, dass ihre Arbeit und ihre Meinung Wertschätzung erfahren. ({0}) Unser deutsches Wirtschaftswunder, zuletzt in der Wirtschaftskrise, beruht auch auf Mitbestimmung. Das vielgelobte Kurzarbeitergeld wäre ohne diese Zusammenarbeit der Tarifpartner nicht möglich gewesen. Neben diesen wirtschaftlichen Gründen, die für mehr Mitbestimmung sprechen, sprechen auch gesellschaftliche Gründe dafür: In unseren Betrieben wird das hohe Gut der Demokratie lebhaft umgesetzt. Dieses Gut müssen wir erhalten, schützen und ausbauen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass die Mitbestimmung von den allermeisten oft lobend und anerkennend in Reden erwähnt wird. Das ist wichtig; denn Mitbestimmung braucht politische Unterstützung. Auch die Kanzlerin spricht immer davon, wie wichtig die Mitbestimmung für unsere wirtschaftliche Leistung ist. Aber das deutsche Mitbestimmungsmodell, das so erfolgreich ist, darf nicht an den Grenzen haltmachen. Vielmehr brauchen wir europaweite Regeln für Mitbestimmung. Die Bundesregierung hat jetzt die Möglichkeit, sich auch auf europäischer Ebene für mehr Mitbestimmung einzusetzen, wie sie es immer in Sonntagsreden verkündet. Besonders wichtig ist das bei der Umsetzung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte und bei den Verhandlungen zur Europäischen Privatgesellschaft. In den Vorschlägen zur Europäischen Privatgesellschaft, die derzeit diskutiert werden, ist die Mitbestimmung nämlich völlig unzureichend geregelt. Die vorgesehene Möglichkeit, Satzungs- und Verwaltungssitz aufzuteilen, wird dazu führen, dass Unternehmen ihren Satzungssitz problemlos in Länder mit wenig Mitbestimmungsrechten verlegen können. Die Regeln des Satzungssitzes sollen dann auch für den Rest des Unternehmens gelten. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht zulassen, dass das Erfolgsmodell Mitbestimmung auf diese Weise ausgehebelt wird! ({2}) Ich fordere die Bundesregierung daher auf, in Brüssel im Sinne der Mitbestimmung und unserer Arbeitnehmer tätig zu werden. Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihren Einfluss auf die Bundesregierung, damit über Mitbestimmung nicht nur geredet wird, sondern den Worten auch Taten folgen, die allen Arbeitnehmern helfen! Die Europäische Privatgesellschaft ist nur ein Beispiel, um zu zeigen: Bei allen wirtschaftspolitischen Überlegungen in Europa muss Mitbestimmung mitgedacht werden. Es geht nicht, dass wir in Europa nur über Wirtschaft, Finanzkrise und Euro reden. Mitbestimmung hängt unmittelbar mit diesen Fragen zusammen und muss daher eine viel größere Aufmerksamkeit auf der europäischen Ebene bekommen. ({3}) Auch bei der Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten müssen wir zeigen, dass uns europaweite Mitbestimmung ein wichtiges Anliegen ist. Die neugefasste Richtlinie von 2009 war ein hartes Stück Arbeit. ({4}) Die deutsche Wirtschaft und besonders der Arbeitgeberverband haben bei der Neufassung der Richtlinie keine rühmliche Rolle gespielt. Es war harte Arbeit der europäischen Gewerkschaften, unterstützt von den Betriebsräten vor Ort, und des Europäischen Arbeitgeberverbandes, bis es zu einer Einigung kam und der destruktive Widerstand der deutschen Arbeitgeber gebrochen war. Die Richtlinie ist letztendlich ein Kompromiss geworden. Der Europäische Gewerkschaftsbund konnte einige Verbesserungen durchsetzen, aber bei mehreren Punkten sind wir als nationaler Gesetzgeber gefordert. Unsere Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag zur Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht hat mir gezeigt: Wir brauchen nicht nur juristische Theorie, wenn es um die Umsetzung der Richtlinie geht, sondern wir brauchen zuallererst wichtige Erfahrungen aus der Praxis; denn die Politik darf sich nicht nur an der Theorie abarbeiten, sondern muss sich am praktischen Bedarf orientieren. ({5}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Ihr Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie mag rein juristisch gesehen korrekt sein, aber er geht am praktischen Bedarf der Europäischen Betriebsräte vorbei. Ein Beispiel dafür ist das Zutrittsrecht. Es muss gewährleistet sein, dass besonders ausländische Europäische Betriebsräte, die nach Deutschland kommen, um die Mitarbeiter hier in einem Betrieb über Verhandlungen im Europäischen Betriebsrat zu unterrichten, nicht daran gehindert werden, das Unternehmen zu betreten. Aus rein juristischer Sicht mag man sagen, dass das wohl kein Problem geben dürfte. Aber die praktische Erfahrung von Arbeitnehmern sagt uns, dass wir das gesetzlich regeln sollten. ({6}) Ein zweites Beispiel dafür, dass wir die Richtlinie nicht nur streng juristisch umsetzen dürfen, sondern auch den praktischen Blick brauchen, sind die Sanktionen. Die Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen festlegen müssen. Der Gesetzentwurf sieht dafür, rechtJosip Juratovic lich korrekt, 15 000 Euro vor. Aber Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, das zahlen die allermeisten Unternehmen doch aus der Portokasse. Diese Sanktionen sind wirklich nicht abschreckend. ({7}) Wir brauchen aber Sanktionen, die Wirkung zeigen. Deswegen appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu, um Ihren Gesetzentwurf besser zu machen und den Europäischen Betriebsräten mehr Chancen zu echter Mitbestimmung zu geben! Wie ich schon am Anfang gesagt habe: Mehr Mitbestimmung hilft allen Beteiligten: wirtschaftlich und gesellschaftlich, aber auch rein rechtlich. Denn für alle Beteiligten ist es besser, klare Regeln zu haben, als nur unklare Bestimmungen. Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung der Richtlinie ist wichtig für die Arbeit der Europäischen Betriebsräte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die Richtlinie teils korrekt um. Jedoch fehlen einige Dinge, die wir Sozialdemokraten in unserem Antrag fordern. Wir müssen die Richtlinie nicht nur rechtlich korrekt umsetzen, sondern wir müssen das Recht auch gestalten. Ein gutes Gesetz schaffen wir also, wenn unser Antrag in den Gesetzentwurf eingearbeitet wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das Wort. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! International tätige Unternehmen treffen ihre Entscheidungen nicht nur aus einer nationalen, sondern auch aus einer europäischen und weltweiten Perspektive heraus. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Mitbestimmung auf europäischer Ebene weiter gestärkt wird. Länder mit einer starken Mitbestimmungskultur wie Deutschland und die Niederlande zum Beispiel praktizieren die Einrichtung des Europäischen Betriebsrates ganz selbstverständlich. Ein Unternehmen, das global handelt und denkt und sich international weiterentwickeln möchte, wird das Potenzial dieses Gremiums zu schätzen wissen und es zum beiderseitigen Wohle auch nutzen wollen. Die Internationalisierung von Firmen hat auch zu einer Weiterentwicklung der klassischen Aufgaben von Betriebsräten geführt. Dabei sollten wir nicht nur auf den Krisenfall schauen, wenn es zum Beispiel um Personalabbau geht. Das würde im Augenblick auch gar nicht zur Lage passen; denn wir haben heute gerade vernommen, dass die Wirtschaftsforscher die Wachstumsprognose auf 2,8 Prozent angehoben haben. Das sind sehr gute Nachrichten. Diese guten Nachrichten beziehen sich hoffentlich auch auf ganz Europa. Dass sich das Wachstum in ganz Europa ausbreitet, dazu kann auch der Europäische Betriebsrat beitragen; ({0}) denn ihm fällt eine aktive und verantwortungsvolle Rolle zu. Er muss sich auch mit langfristig wirkenden Modernisierungs- und Innovationsstrategien in den Unternehmen auseinandersetzen, sie einbringen und mit voranbringen. Die neu gefasste EU-Richtlinie von 2009 stärkt das Recht des Europäischen Betriebsrates auf Unterrichtung, Anhörung und gestaltet Beteiligungsverfahren praxistauglicher. Es wird sichergestellt, dass der Europäische Betriebsrat vor einer endgültigen Entscheidung der Unternehmensleitung rechtzeitig beteiligt wird. Auch wurde klar definiert, wofür der Betriebsrat zuständig ist. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt die EU-Richtlinie adäquat in nationales Recht um. Das haben in der Anhörung am Montag auch die Experten bestätigt. Sie haben bestätigt, dass der Umsetzungsvorgang sich wirklich an die Vorgaben aus Brüssel hält. Die Zustimmung kam auch von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie. Nur die SPD-Fraktion will mehr Regelungen, als erforderlich sind. Sie will draufsatteln. ({1}) Wir werden in Diskussionen mit Bürgern immer wieder mal gefragt, warum denn Deutschland bei der Umsetzung von EU-Recht immer so übereifrig sein muss. ({2}) Man sollte auf die Empfehlungen der Experten hören, die sagen, dass die Umsetzung den Anforderungen der Richtlinie gerecht wird, auch wenn Sie, meine sehr geehrten Kollegen von den Oppositionsfraktionen, dies offensichtlich anders sehen und wiederholt thematisieren, dass eine Zusammenarbeit ohne das Festschreiben von Sanktionen und Strafen im Gesetz nicht funktionieren wird. Sie arbeiten hier leider immer nur mit Drohungen. ({3}) Erkennen Sie doch einfach einmal an, dass ein Vorschlag zur Umsetzung gelungen ist, anstatt Forderungen zu erheben, die über das Ziel hinausschießen. Stattdessen legen Sie einen eigenen Antrag mit dem rabiaten Titel vor: „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“. ({4}) Sie fordern ein Mehr an finanziellen Sanktionen zur Abschreckung. Sie fordern auch, bestimmte Rechte festzuschreiben, damit Betriebsräte vor Gericht klagen können. Das geht meilenweit an der Wirklichkeit vorbei; denn die Praxis zeigt, dass die Zusammenarbeit funktio11726 niert. Das zeigt sich auch an der Zahl von mittlerweile 960 Europäischen Betriebsräten, die arbeiten. Es zeigt sich auch an der sehr geringen Zahl von gerichtlichen Streitigkeiten. ({5}) Es gab gerade einmal vier einschlägige Fälle vor Gericht, und die liegen wiederum Jahre zurück. Erstmals klagte der Europäische Betriebsrat von Renault im Jahre 1997, als das Unternehmen eine Standortschließung verkündete, ohne dass der Betriebsrat durch vorherige Unterrichtung oder Anhörung Kenntnis davon hatte. Die weiteren drei einschlägigen Fälle gab es ebenfalls vor französischen Gerichten. Die Regelungen im Gesetz lassen den Unternehmen viele Freiräume. Das ist auch wichtig und richtig. So können beispielsweise die Partner selbst festlegen, wie groß der Betriebsrat sein soll und wie viele Mandate jedes Land erhält. Erst wenn keine Einigung stattfindet, greifen in einem zweiten Schritt die Regelungen des Gesetzes. Allgemein verbindliche Vorgaben gibt es also nicht, dafür den großen Vorteil, unternehmensspezifisch handeln zu können. Wir müssen schließlich anerkennen, dass die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrates einen zusätzlichen Aufwand für Unternehmen bedeutet. Eingeschränkte Planungsfreiheit, ein großer zusätzlicher Zeitaufwand und der Kostenfaktor sind hier zu nennen. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. ({6}) Im Vorfeld gab es auch kritische Themen, wie beispielsweise das Zutrittsrecht für ausländische europäische Betriebsratsmitglieder. Die Richtlinie sieht ein solches Zutrittsrecht nicht vor. Es bedarf an dieser Stelle auch keiner gesetzlichen Festlegung; denn dieses Recht ergibt sich aus der Aufgabe des Betriebsrates heraus. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen kurzen Ausflug in die Praxis machen. Ich war in der vergangenen Woche bei einem international tätigen Unternehmen in meinem Wahlkreis. Dort ist ein Europäischer Betriebsrat selbstverständlicher Bestandteil des Unternehmens und als solcher gelebter Teil der Corporate Identity. ({7}) Insofern kann ich die Befürchtungen der Opposition, ohne Sanktionen gehe nichts, nicht teilen. Stattdessen rufe ich Ihnen zu: Vertrauen ist die Basis für gute Zusammenarbeit. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Krellmann hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle großen deutschen Unternehmen sind mittlerweile europaweit tätig. Von daher ist es absolut richtig und notwendig, dass die Rechte der Arbeitnehmer in diesen Unternehmen gestärkt werden. Auf der einen Seite stehen die Profite der Unternehmen, die mittlerweile auch europaweit erwirtschaftet werden, und auf der anderen Seite die Beschäftigten, bei denen es darum geht, ihre Einkommens- und Arbeitssituation zu schützen. Das passiert über Europäische Betriebsräte. Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Rechte von Arbeitnehmern in diesen europaweit tätigen Betrieben massiv eingeschränkt und diese dadurch geschädigt wurden. Ich will ein Beispiel nennen: Nokia. Es ist noch gar nicht so lange her, im Jahr 2008, da wurde ein Betrieb mit 2 300 Beschäftigten und 800 Leiharbeitnehmern - ich sage noch einmal: 800 Leiharbeitnehmern - in Bochum geschlossen. Das geschah bei dem renommierten Handyhersteller Nokia - jeder Zweite hat ein NokiaHandy in der Hand -, und alle haben mitbekommen, was da passiert ist. ({0}) Der Grund: In Rumänien waren die Löhne niedriger. Der Betriebsrat und auch der Europäische Betriebsrat hatten zu dieser Zeit keine Informationen erhalten und waren nicht ausreichend an dem Verfahren beteiligt worden, in dem es um viele Arbeitsplätze ging. Ebenfalls betroffen waren viele Personen aus dem Umfeld. Immer wieder werden europaweit Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt, und immer geht es um Arbeitsplätze. Aktuell gibt es ein Beispiel aus Niedersachsen, das heißt ALSTOM LHB. LHB steht für LinkeHofmann-Busch. Das ist ein altes, renommiertes Unternehmen hier in der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Salzgitter. ({1}) In diesem Betrieb sollen 1 400 Stellen im Rohbau abgebaut werden. Das ist die Hälfte aller Beschäftigten. Der Standort in Salzgitter ist massiv gefährdet. Hier stellt sich die Frage: Wenn so viele Arbeitsplätze abgebaut werden, kann dann der Rest des Betriebes noch bestehen bleiben und weitergeführt werden? Deutschlandweit sollen bei dem französischen Unternehmen ALSTOM 4 000 Beschäftigte in verschiedenen Betrieben entlassen werden. Der Europäische Betriebsrat hat in dem Zusammenhang keine Möglichkeiten, zu erzwingen, dass von ihm aufgezeigte Alternativen aufgegriffen und umgesetzt werden. Die Konzernleitung verweigert bisher mit Hilfe von Ausflüchten, sich mit einer Strategie zu befassen, die den Stellenabbau in den Betrieben verhindert. Den Arbeitnehmern fehlt es an rechtlichen Mitteln, Informationen zu erzwingen und die Unternehmensleitung dazu zu bringen, auf ihre guten Angebote einzugehen. Eine Strafe in Höhe von 15 000 Euro, wie von der Regierung vorgeschlagen, ist Pillepalle. Das zahlen die aus der Portokasse. Wir wollen ein Gesetz, das bei drohender Standortverlagerung die Initiativrechte der Europäischen Betriebsräte zur Sicherung der Arbeitsplätze für die Beschäftigten stärkt. Wir wollen, dass nicht mehr gegen die Menschen entschieden wird. ({2}) Wir wollen eine Mitbestimmung darüber, was, wie und wo produziert wird, weil das im Interesse der Menschen an den verschiedenen Standorten ist. Die Europäische Linke will eine Mitbestimmung bei der Frage, was wo produziert wird. Im Grunde fordern wir die Stärkung des Europäischen Betriebsrates, und zwar nicht nur durch die Revision einer Richtlinie. Wir wollen, dass grundsätzlich überlegt wird, was man tun kann, um die Arbeitnehmerrechte zu stärken. Die Unternehmen sind global tätig und werden das auch weiterhin sein. Wir müssen den Arbeitnehmern eine gleich starke Position verschaffen, damit sie in der Lage sind, mit den entsprechenden Unternehmensleitungen auf Augenhöhe zu verhandeln. ({3}) Wir als Linke werden dem Gesetzentwurf der Regierung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir werden dem Antrag der SPD zustimmen, ({4}) weil wir ihn richtig finden und der Meinung sind, dass das ein Schritt in die richtige Richtung ist. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Müller-Gemmeke hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte der Europäischen Betriebsräte ist eine Erfolgsgeschichte. Heute existieren europaweit etwa 900 Europäische Betriebsräte, davon circa 160 in Deutschland. Ihr Engagement ist enorm wichtig. 2009 trat die notwendige Neufassung der EU-Richtlinie in Kraft. Auch das ist ein Erfolg. Es stimmt: Das war harte Arbeit. Die Rechte auf Anhörung und Unterrichtung sind endlich klar definiert. Die Arbeitnehmerseite kann zur Gründung eines Europäischen Betriebsrats Sachverstand aus den Gewerkschaften hinzuziehen, und die Mitglieder haben endlich Anspruch auf Schulung und Qualifizierung. Das alles ist notwendig und eine Korrektur, die wir begrüßen. ({0}) Jetzt muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Die meisten Regelungen müssen eins zu eins umgesetzt werden. Diese Forderung erfüllt der vorliegende Gesetzentwurf weitgehend. Das ist allerdings eine Selbstverständlichkeit. Es gibt auch nationale Spielräume und Kannbestimmungen. Durch die Nutzung dieser Möglichkeiten könnten die Arbeitnehmerrechte weiter gestärkt werden, aber das war für die Bundesregierung dann wohl doch zu viel. In der Expertenanhörung wurde deutlich, dass manche Regelungen nicht präzise genug und einige Punkte zu ergänzen sind. Mein Fazit ist: Der Gestaltungsspielraum wurde von der Bundesregierung nicht genutzt. Ich möchte drei Beispiele nennen: Erstens. In der Richtlinie werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, wirksame, abschreckende und im Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessene Sanktionen festzulegen. Die Bundesregierung hat hier nichts verändert. Sie bleibt bei einer Obergrenze von 15 000 Euro Geldbuße. ({1}) Seien Sie doch ehrlich: Für multinationale Konzerne sind das Peanuts. ({2}) - Eine Null dranhängen, genau. Zweitens. Wenn Europäische Betriebsräte nicht unterrichtet und angehört wurden, brauchen sie, gerade weil diese Sanktionen so schwach sind, zudem ein Unterlassungsrecht, damit die Umsetzung von Beschlüssen verhindert werden kann. Drittens. Wie soll in der Praxis die Unterrichtung der örtlichen Arbeitnehmervertretungen durch die Europäischen Betriebsräte aussehen? Dafür müssen sie Zutritt zu den jeweiligen Betriebsstätten erhalten. Die Bundesregierung meint, dies sei implizit geregelt. Ich meine, das ist zu wenig. Die Regelung des Zutrittsrechts im Gesetz ist notwendig. Ansonsten sind Rechtsstreitigkeiten vorprogrammiert. ({3}) In dem SPD-Antrag werden diese Punkte aufgegriffen. Deswegen werden wir diesem Antrag zustimmen. In dem Gesetzentwurf hingegen erkenne ich weitere Mängel. So macht die Bundesregierung beispielsweise von einer Kannbestimmung zuungunsten der Arbeitnehmerseite Gebrauch. In Tendenzbetrieben sollen die Anhörungsrechte der Europäischen Betriebsräte einge11728 schränkt werden. Das ist nicht gerechtfertigt und auch nicht notwendig. Auch die Inhalte von Schulungen sollten präzisiert werden, damit die Europäischen Betriebsräte ohne Probleme alle notwendigen Qualifizierungen erhalten. ({4}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, viele Unternehmen in der Europäischen Union sind grenzüberschreitend aktiv. Sie operieren global, sind vernetzt und treffen über Staatsgrenzen hinweg Entscheidungen. Die Arbeitnehmerseite sitzt einfach am kürzeren Hebel. Es ist unsere Aufgabe, ihre Mitwirkungsrechte zu stärken, und es ist unsere Aufgabe, auf nationaler Ebene das europäische Sozialmodell weiterzuentwickeln. Hier wäre mehr möglich gewesen, um die Sozialpartner besser auf Augenhöhe zu bringen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Ich meine, die Europäischen Betriebsräte hätten mehr Unterstützung von der Bundesregierung verdient. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Straubinger für die Unionsfraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes, durch das die Richtlinie über Europäische Betriebsräte umgesetzt werden soll. Ich glaube, dass es ein Erfolg ist - Kollege Wadephul hat bereits die Hauptschwerpunkte dargelegt - und eine Stärkung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in international tätigen Unternehmen bedeutet. Darauf sollten wir hier gemeinsam stolz sein. Es ist entscheidend, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestärkt werden. Sie können bezüglich ihrer eigenen Anliegen tätig sein, werden über Betriebsentscheidungen rechtzeitig informiert, und vor allen Dingen können sie Mitwirkungsmöglichkeiten und Anhörungsmöglichkeiten ausschöpfen. Damit verbunden sind umfassende Beratungs- und Bildungstätigkeiten der Betriebsräte; dies wird mit diesem Gesetz gestärkt. Es ist notwendig, dass wir eine Übergangszeit schaffen. Zum Teil wird ja beklagt, dass die bestehende Regelung besser sei als die neue Regelung. In der Übergangszeit kann in eigener Zuständigkeit über alte Vereinbarungen neu verhandelt werden. Unter Betriebspartnerschaft in den Betrieben verstehen wir gute Betriebsratsarbeit und darüber hinaus auch eine gute Vertretung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Kollege Wadephul hat bereits darauf hingewiesen, dass dies in der Anhörung zum Ausdruck gebracht worden ist und dass auch der DGB letztendlich lobende Worte gefunden hat. Heute, in dieser abschließenden Debatte, wurden von der Opposition Erweiterungen gefordert. Es wurde gefordert, die Sanktionen zu verschärfen. Hier wird immer in den Vordergrund gestellt, die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten würden nicht ausreichen. Dabei wird immer auf den Betrag von 15 000 Euro abgestellt. Leider hat es die Opposition, in diesem Fall die SPD, versäumt, einen in ihren Augen angemesseneren Betrag zu formulieren. Welcher Geldbetrag wäre angemessen? ({0}) Dies ist nämlich unterschiedlich zu bewerten. Hier haben Sie gekniffen. Auch die anderen Parteien, die diesen Antrag unterstützen, haben nicht gesagt, wie hoch eine angemessene Geldstrafe sein sollte. Sie alle verschweigen in der Debatte jedoch, dass es möglich ist, einen Verstoß gegen das Gesetz als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße oder auch mit einer Haftstrafe zu sanktionieren. Das ist das schärfste Schwert bei der Sanktionsregelung. Dies ist Bestandteil des bestehenden Gesetzes. Deshalb bedarf es in diesem Gesetzentwurf keiner Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten; das ist entscheidend. ({1}) Von der SPD-Fraktion wurde noch eine zweite Forderung aufgestellt; diese wurde in den Redebeiträgen der Kolleginnen Krellmann und Müller-Gemmeke unterstützt. Die SPD-Fraktion fordert, dass im Gesetz ein Anspruch auf Unterlassung beteiligungswidriger Maßnahmen festgeschrieben wird. Das würde aber die Zuständigkeiten in einem Unternehmen verwischen. ({2}) Ich frage mich, warum dies bei der Novelle 2002 von SPD und Grünen nicht umgesetzt wurde. ({3}) Sie haben dies nicht eingebracht; seinerzeit wurde darauf verzichtet. Also kann es nicht so falsch gewesen sein. Es geht eben auch um die Durchsetzung von unternehmerischen Entscheidungen. Das kann nicht nach dem Motto gehen, Frau Krellmann, das Sie vorhin in Ihrem Redebeitrag dargestellt haben. Natürlich ist eine Umstrukturierung, die mit Arbeitsplatzverlusten verbunden ist, für die Betroffenen immer schmerzlich. Wahrscheinlich wird es dazu nie die Zustimmung des örtlichen Betriebsrates geben, ja nicht geben können. Aber es wäre fahrlässig, wenn, weil nicht umstrukturiert wird, der gesamte Betrieb von der Bildfläche verschwinden würde. Wollen Sie wirklich, dass alle ArbeitnehmeMax Straubinger rinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb die Leidtragenden sind? Wäre es dann nicht besser, eine Umstrukturierung, wenn sie notwendig ist, zur Rettung der noch verbleibenden Arbeitsplätze durchzuführen? Dies muss möglich sein, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Ich möchte darauf hinweisen: Die Umstrukturierungen, die in den vergangenen drei, vier Jahren in der deutschen Wirtschaft stattgefunden haben, haben in der Gesamtbilanz letztendlich zu mehr und nicht zu weniger Arbeitsplätzen in Deutschland geführt. Darauf sind wir stolz. ({5}) Eines ist mir noch wichtig - darüber wurde immer wieder diskutiert -: Das Zutrittsrecht ergibt sich aus der normalen Betriebsratstätigkeit. Dieses Thema wurde auch auf europäischer Ebene andiskutiert, dann aber von beiden Sozialpartnern im Einvernehmen nicht mehr aufgegriffen. Auch dies gehört mit zur Wahrheit. ({6}) Deshalb glaube ich, dass die Umsetzung gelungen ist. Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause nur die Zustimmung empfehlen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes. Von der Kollegin Müller-Gemmeke liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen sie entsprechend unseren Regeln zu Protokoll.1) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/5399, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4808 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfrak- tion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der übrigen 1) Anlage 3 Fraktionen des Hauses in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5399, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5184 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für faire Lebensmittelpreise und transparente Produktionsbedingungen - Gegen den Missbrauch von Marktmacht - Drucksache 17/4874 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion. ({2})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! „Ombudsmann wird Lieblingskind“, so lautete vor drei Wochen eine Überschrift in der Lebensmittel Zeitung. Dies habe ich sehr erfreut gelesen und zur Kenntnis genommen. Denn darin waren wir uns alle nach der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Juli des letzten Jahres einig. ({0}) Doch mittlerweile ist das neun Monate her - ich betone: neun Monate -, und bisher ist nichts passiert. Aber von sich aus - das wissen wir allmählich - wird der Handel nicht bereit sein, etwas zu ändern. Gestern erreichte mich beispielsweise eine Stellungnahme des Einzelhandels. Zu unserer Forderung, die Praktikabilität des Verbots des Verkaufs unter Einstandspreis zu prüfen, heißt es dort: Das Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis ist wettbewerbsökonomisch verfehlt und muss ersatzlos abgeschafft werden. - Wenig Bereitschaft also dort, wo es darum geht, die eigenen Pfründe zu verteidigen. Doch es muss endlich etwas getan werden. Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir haben Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, die Arbeit abgenommen. Sie brauchen unseren Vorschlägen nur zuzustimmen. ({1}) In einer Pressemitteilung vom 14. Februar dieses Jahres meldet das Bundeskartellamt eine Konzentration von 85 Prozent des Absatzmarktes auf die vier größten Handelsunternehmen - 85 Prozent bei vier Handelsunternehmen! Das Bundeskartellamt hat inzwischen eine Sektoruntersuchung im Bereich des Lebensmittelhandels eingeleitet. Das begrüßen wir sehr; denn das ist notwendig, und das war auch eine unserer Forderungen. Die Situation am Lebensmittelmarkt ist extrem angespannt. Die Konzentration bringt auch den Lebensmitteleinzelhandel in eine gefährliche Machtposition gegenüber den Lieferbetrieben. Der Handel kann nämlich Bedingungen diktieren, zu denen die Produkte abgenommen werden. Unfaire Einkaufspraktiken wie Preisdrückerei bis unter Einstand, die Zahlung von Treueboni oder willkürliche Auslistungen scheinen dabei keine Einzelfälle zu sein. ({2}) Das geht zulasten des fairen Wettbewerbs, aber auch zulasten der Beschäftigten. Denn mit Verweis auf den Preisdruck vergeht in der Ernährungswirtschaft kaum eine Verhandlung ohne Forderung der Unternehmensvertreter nach niedrigeren Löhnen und geringeren Sozialleistungen. Darauf wird Frau Hiller-Ohm nachher noch eingehen. Am Ende der Kette stehen die Verbraucherinnen und Verbraucher. Auch sie leiden unter dem Konzentrationsprozess und dem Marktmachtmissbrauch. Für sie wird er in Angebotseinschränkungen und Qualitätseinbußen spürbar. Denn immer häufiger werden billigere Ersatzstoffe in der Lebensmittelproduktion eingesetzt. Ich nenne da nur Klebeschinken, Analogkäse ohne Milch und Joghurt mit Aroma aus Holzspänen. Frischmilch ist beispielsweise zur Rarität geworden - sicher nicht, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher keine Frischmilch wollen. Sie ist nicht mehr im Angebot, weil die sogenannte ESL-Milch logistische und finanzielle Vorteile gegenüber der schnell verderblichen Frischmilch bietet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass unser Antrag an den Verbraucherausschuss als federführenden Ausschuss überwiesen wird. Die von Ihnen bei diesem Thema beabsichtigte Verlagerung der Federführung in den Wirtschaftsausschuss können wir nicht nachvollziehen. Sie betonen doch auch immer die starke Stellung des mündigen Verbrauchers und seine Mitverantwortung bei der Gestaltung des Marktes. Der Handlungsbedarf geht weit über Ombudsstelle und Kartellrecht hinaus. Wir brauchen einen ganzen Maßnahmenkatalog, um den Fehlentwicklungen am Lebensmittelmarkt entgegenzuwirken. Deshalb sollten wir die Kette vom Ende her denken und Verbraucherpolitik endlich ernst nehmen. Wir bleiben dabei: Die Federführung gehört in den Verbraucherausschuss. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Nüßlein hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! „Für faire Lebensmittelpreise und transparente Produktionsbedingungen - Gegen Missbrauch von Marktmacht“ lautet der geradezu Beifall und Zustimmung heischende Titel Ihres Antrages. Ich gebe ganz offen zu, dass ich für das, was Sie in Teilen formuliert haben, insbesondere wenn es um die Problembeschreibung geht, ein hohes Maß an Sympathie habe. Ich habe mich zunächst einmal über diesen Antrag gefreut, weil die Probleme, die Sie gerade eben auch beschrieben haben, im Lebensmittelhandel evident sind. Es gibt in der Tat eine Marktmacht des Handels, und wenn es eine solche Marktmacht gibt, ist Missbrauch nicht von der Hand zu weisen. Es stimmt auch, dass davon auf der einen Seite die Lieferanten und auf der anderen Seite die noch verbliebenen mittelständischen Händler sowie natürlich auch deren Mitarbeiter betroffen sind, die dadurch unter einen gewissen Druck kommen. Ich fand es nur ein bisschen schade, dass Sie in Ihrem Antrag in Richtung Ideologie abschweifen, ({0}) von sozialen und ökologischen Verbesserungen weltweit schwärmen ({1}) und den Mindestlohn mit einbauen. Das, was Sie an dieser Stelle fabriziert haben, gehört wahrscheinlich auch unter die Kategorie Analogkäse. Mit Verlaub: Es wäre schön gewesen, wenn Sie sich an dieser Stelle auf das eiDr. Georg Nüßlein gentliche Thema konzentriert hätten; denn das ist durchaus wichtig. Weil Sie das nicht getan haben, finde ich es durchaus richtig, dass die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie liegen wird. ({2}) Wir werden uns auf das Wesentliche konzentrieren. „Konzentration“ ist dabei das Stichwort. Diese Konzentration hat über viele Jahre hinweg zugenommen. Sehr geehrte Frau Vorrednerin, Sie haben es deutlich beschrieben: Die vier größten Händler erwirtschaften inzwischen 85 Prozent des Branchenumsatzes. Ich weiß, dass man an dieser Stelle differenzieren muss, weil REWE eine Mittelstandskooperation ist, aber natürlich handelt es sich auch um eine Einkaufskooperation, sodass auch hier natürlich Marktmacht auf den Beschaffungsmärkten ausgeübt werden kann. Das ist etwas, was wir nicht wegschieben dürfen. Es gibt eine Studie des Instituts für Handelsforschung und der BBE Retail Experts im Auftrag des Handelsverbands Deutschland vom September 2009. Darin steht folgendes Ergebnis: Es gibt keine generelle Nachfragemacht des Handels. Ich betone das Wort „generelle“. Keine generelle Nachfragemacht heißt: Es gibt in bestimmten Konstellationen eben sehr wohl eine solche Marktmacht. Diese wird teilweise auch missbraucht. Seit zwei Jahren gibt es ein Kartellverfahren gegen Edeka, das Plus von Tengelmann übernommen hat. Hier wird dem Verdacht nachgegangen, dass es den Versuch gab, über Boni von Lieferanten der Plus-Märkte den Kaufpreis zu refinanzieren. ({3}) Das muss man sich einmal vorstellen: Es wird der Versuch unternommen, das zu refinanzieren, was man gekauft hat, indem man die Lieferanten des aufgekauften, des akquirierten Unternehmens unter Druck setzt, Boni zu gewähren. Wenn sich das erhärtet - ich spreche ausdrücklich von einem Verdacht -, dann ist das natürlich schon etwas, das uns alle miteinander bedenklich stimmt. Das zeigt, dass es hier offenkundig ein ganz deutliches Mittelstandsproblem gibt. Das Gegenargument ist, der Handel würde nur Spielräume ausloten, und das sei ja eben gerade das Kennzeichen von Handel. Ich meine aber, hier stellt sich die Frage des Kräftegleichgewichts. Das ist schwer herzustellen, eventuell auf der einen Seite durch Kooperationen und auf der anderen Seite dadurch, dass diejenigen, die als Markenartikler die Finanzkraft haben, einen entsprechenden Pull-Effekt erzeugen können, sodass der Händler das Unternehmen letztendlich auch listen muss. Ich gebe zu: Wir in der Politik haben lange zugeschaut. Das ist der Schwierigkeit dieses Themas, aber auch dem intelligenten Einsatz von Marktmacht an der Stelle geschuldet, weil man sich eben nicht auf die Absatzmärkte bezieht, sondern weil der Druck auf der Beschaffungsseite aufgebaut wird, das heißt, die Verbraucherpreise sind natürlich niedrig. Das kann man ganz deutlich sehen. Wenn man die Lebensmittelpreise in unserem Land mit denen in Europa vergleicht, dann wird man feststellen, dass sie relativ niedrig geblieben sind, was auch die Monopolkommission in ihrem 47. Sondergutachten zu Preiskontrollen in Energiewirtschaft und Handel ganz deutlich bestätigt. Das ist einem intensiven Wettbewerb geschuldet, der sich aber nur im Handel vollzieht und davon lebt, dass auf die Lieferanten entsprechender Druck ausgeübt wird. Davon sind nicht nur mittelständische Lieferanten, sondern ist auch unsere Landwirtschaft betroffen. Das möchte ich betonen. ({4}) - Nur die Ruhe: Das kommt alles noch. Sie haben am Rande das Qualitätsbewusstsein der Verbraucher angesprochen und darauf hingewiesen, was ihnen alles vorgesetzt werde. Dazu sage ich offen: Dabei kommt es aber auch auf die Verbraucher selber an, die gerade im Lebensmittelbereich offenkundig gern vor allem billig einkaufen wollen, ({5}) nach dem Motto „Geiz ist geil“. Das halte ich geradezu für katastrophal. Diese Preissensibilität können wir als Gesetzgeber aber sicherlich genauso wenig ändern wie das Bewusstsein derjenigen, die sich in dieser Frage falsch verhalten. ({6}) Sie haben die Instrumente angesprochen. Wie Sie wissen, haben wir präventiv die Fusionskontrolle und repressiv die Missbrauchsaufsicht. Jetzt müssen wir die Frage erörtern, ob der Gesetzgeber etwas tun kann, damit die Vielfalt des Einzelhandels wieder entsteht und die Forderung Ludwig Erhards nach Wohlstand und Teilhabe für alle auch in diesem Bereich wieder eine Rolle spielt. Das ist nicht trivial und auch nicht einfach zu beantworten. Wir müssen bei der Achten Novelle dieses Gesetzes aus meiner Sicht bei der Fusionskontrolle zu einem Wechsel von der Voraussetzung der Marktbeherrschung hin zu der einer erheblichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs als Fusionshindernis kommen. Das ist aus meiner Sicht ein Kriterium, das an der Stelle etwas weiterhelfen könnte. Was die Missbrauchsaufsicht angeht, schneiden Sie in Ihrem Antrag die Nachweisproblematik an, die auf die Frage hinausläuft: Wer traut sich, seinen erpresserischen Abnehmer anzugehen und eine Auslistung zu riskieren? Das ist insbesondere deshalb schwerwiegend, weil unabhängig davon, ob man bei einer Beschwerde obsiegt, die Abhängigkeit fortbesteht. Sie schlagen die Einrichtung einer Ombudsstelle vor, die Beschwerden auch anonym aufnehmen sollte. Das ist ein interessanter Gedanke. Ich befürchte aber, dass er nur bis zu einem bestimmten Punkt trägt. Denn an ir11732 gendeiner Stelle in einem Verfahren müssen Ross und Reiter genannt und gesagt werden, wem was widerfahren ist. ({7}) Deshalb wird das Problem dadurch nicht gelöst, wenn ich auch zugebe, dass ich an der Stelle etwas ratlos bin, wie man das letztlich hinbekommt. ({8}) Der bürokratische Wust, den Sie vorschlagen - noch mehr Informationspflichten, Herkunftsbezeichnungen und anderes -, ist mittelstandsfeindlich. Sie werden genau denen, für die Sie sich angeblich einsetzen, damit nicht helfen. Auch das muss in aller Klarheit gesagt werden. ({9}) Es bringt auch nichts, dass Sie den Antrag mit Selbstverständlichkeiten erweitern, indem Sie schreiben, der Bund müsse soziale und ökologische Ausschreibungskriterien anwenden. Das haben wir bei der letzten Novelle diskutiert und gemeinsam entschieden, dass die eigentlich vergaberechtsfremden Aspekte mit aufgenommen werden, um den Ausschreibungsspielraum zu erweitern. Was mir mehr am Herzen liegt, ist die Frage, wie wir mit § 20 Abs. 3 und 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen umgehen. Es gibt nämlich für bestimmte Instrumente Befristungen, die in naher Zukunft auslaufen. Ich meine, wir sollten im Interesse des Ganzen diese Befristungen aufheben und die Instrumente weiter einsetzen. Insbesondere mit dem Verkauf unter Einstandspreis müssen wir uns noch einmal intensiv beschäftigen. § 20 Abs. 4 des Gesetzes, der diesen regelt, ist in einem Punkt befristet. Aber das Bundeskartellamt ist, als es gegen Rossmann ging, böse auf dem Bauch gelandet. Wir werden daher im Rahmen der Novellierung des Gesetzes noch einmal darüber diskutieren müssen, wie man dieses Schwert schärfen kann. Dazu finde ich in Ihrem Antrag leider nichts. Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn Sie hierzu einen Hinweis gegeben hätten. Stattdessen fordern Sie eine ganze Reihe von Studien ein. Ich glaube, die zentrale Studie ist - diese wird in Ihrem Antrag nicht genannt, aber Sie haben sie vorhin angesprochen - diejenige, die das Bundeskartellamt gerade vorbereitet, nämlich eine Befragung der Unternehmen im Rahmen der Sektoruntersuchung. Das Ziel ist, die Abläufe auf dem Markt nachzuvollziehen und Missstände zu ermitteln. Das Bundeskartellamt rechnet - ambitioniert - mit einem Abschluss dieser Studie im Laufe dieses Jahres. Wir sollten diese Studie abwarten und dann als Gesetzgeber, basierend auf den Ergebnissen dieser Studie, entscheiden und dafür Sorge tragen, dass das von Ihnen zu Recht angesprochene Problem zügig einer Lösung zugeführt wird. Vielen herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Binder für die Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft wird immer älter; die Menschen werden immer älter. Das ist sicherlich ein erfreulicher Umstand. Aber gleichzeitig beobachten wir, wie ganze Regionen, insbesondere ländliche Gegenden und Dörfer, fast aussterben. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass nicht einmal mehr ein Laden da ist. Es gibt in vielen Orten keinen Bäcker, keinen Metzger und keinen Lebensmittelhändler. Warum nicht? Weil sechs Supermarktketten in Deutschland - damit komme ich auf das eigentliche Thema zu sprechen, das in engem Zusammenhang mit dem Antrag der SPD zu sehen ist - den Markt beherrschen. Dadurch hatte der kleine Händler schlichtweg keine Überlebenschance mehr. Es gibt den Tante-Emma-Laden nicht mehr, weil die großen Sechs mit ihren Dumpingpraktiken dafür sorgen, dass andere Läden nicht mehr überleben können. Das Dumping bezieht sich unter anderem auf die Preisgestaltung. Die Dumpingpreise liegen teilweise unter den Erzeugerpreisen. Das kann nicht funktionieren. Viele Lebensmittel sind nicht mehr preiswert, sondern billig. Das bedeutet letztendlich, dass zwangsläufig auch die Produktion billig wird. Kein Erzeuger und keine Lebensmittelindustrie ist auf Dauer in der Lage, zu den Dumpingpreisen, die die Supermarktketten von ihnen erwarten, zu liefern. Das muss aufhören. ({0}) Wir wollen qualitativ hochwertige Produkte; diese haben ihren Preis. Letztendlich müssen die Menschen auch von ihrer Arbeit leben können, die Erzeuger genauso wie die Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie oder der Landwirtschaft. ({1}) Sie müssen Löhne bekommen, die deutlich höher sind als das, was heutzutage in vielen Bereichen gezahlt wird. Die SPD plädiert in ihrem Antrag für einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. Das ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Wir fordern 10 Euro. Ich begründe auch, warum. Bei einem Stundenlohn in Höhe von 8,50 Euro kommt man auch bei 38 oder 40 Stunden in der Woche höchstens auf 1 400 Euro im Monat. Wer in der Stadt lebt, kann damit gerade die Miete und die Nebenkosten begleichen. Aber dann bleibt zum Leben nicht mehr viel übrig. Daher ist es dringend notwendig, auch in der Lebensmittelwirtschaft und der Landwirtschaft für Mindestlöhne einzutreten. ({2}) Aber das ist nicht alles. Zu den Forderungen nach mehr Transparenz, die es den Verbraucherinnen und Verbrauchern möglich machen sollen, ihren Einkauf nach sozialen und ökologischen Kriterien selbstbestimmt vorKarin Binder zunehmen, gehört, dass der Verbraucher weiß, woher ein Produkt kommt. Es ist wichtig, dass er weiß, dass die Rosen, die bei uns so billig für den Muttertag oder auch für den Valentinstag verkauft werden, in Kenia von Arbeiterinnen für den Versand verpackt werden, die für 56 Euro im Monat arbeiten. Diese Frauen arbeiten von morgens 7 Uhr bis abends 18 Uhr, und in den Hauptzeiten arbeiten sie möglicherweise bis zu 18 Stunden am Tag. Jedem hier im Raum ist klar, dass auch in Kenia niemand von 56 Euro im Monat existieren kann. Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass diese Blumen so billig wie möglich sein müssen, damit die Supermärkte ihre Lockangebote finanziert bekommen. Es gibt darüber hinaus viele Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit schlechten Arbeitsbedingungen in den Erzeugerländern. Deshalb tragen die Unternehmen hier in Deutschland die Verantwortung nicht nur für das, was sie hier anstellen - ich erinnere nur daran, wie Lidl und Schlecker mit ihren eigenen Beschäftigten umgehen

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- ja, letzter Satz -, sondern es geht auch um die Verantwortung dieser Unternehmen für die gesamte Lieferkette. Hier müssen wir sie in die Pflicht nehmen. Deshalb bin ich der SPD für diesen Antrag dankbar, und ich hoffe, dass die Beratung im Ausschuss mehr Zeit findet als hier in der 30-minütigen Plenardebatte. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Binder, Sie haben gerade das Thema „Der Tante-Emma-Laden stirbt aus“ angesprochen. Dazu muss man aber fairerweise sagen: Wenn die Verbraucher immer zu den Märkten auf der grünen Wiese fahren und nur dann, wenn sie den Zucker vergessen haben, dort mal kurz einkaufen gehen, dann können sich die kleinen Einzelhandelsgeschäfte natürlich auch nicht halten. Man darf das Verbraucherverhalten in dem Bereich also nicht außen vor lassen. ({0}) Ich komme zum Antrag. Was sind denn faire Lebensmittelpreise? Ein fairer Preis entsteht eigentlich durch funktionierenden Wettbewerb zwischen Angebot und Nachfrage, so weit die Theorie. Diese Theorie ist auch ganz wichtig; denn funktionierender Wettbewerb steigert Qualität, Effizienz und beschleunigt Innovationen. Da, wo Auswahl ist, ist der Verbraucher König, und in dem Moment, in dem der Verbraucher König ist, ist der Handel gezwungen, sich an diesen Bedürfnissen der Verbraucher auszurichten. Dann hat der Verbraucher Marktmacht, und ich muss sagen: Das ist eine Marktmacht, die mir persönlich gefällt. Wenn dieser Wettbewerb aber lahmt, dann dreht sich die Marktmacht um, der Verbraucher bleibt auf der Strecke. Aber nicht nur die Verbraucher - das ist ja angesprochen worden -, sondern auch die Ernährungsindustrie, die Landwirte und die Arbeitnehmer bleiben auf der Strecke. Angesichts dessen bringt uns das derzeit niedrige Preisniveau, das wir im europäischen Vergleich haben, erst mal nichts. Denn wenn das eine Folge von oligopolen Händlerstrukturen mit Niedrigpreisstrategien ist, dann wird sich das irgendwann mal drehen, dann wird die Vielfalt zurückgehen, die Qualität sinken, und die Verbraucherpreise werden anziehen. Deshalb ist es für uns wichtig, sich dieses Thema genau anzuschauen; denn wir wollen keine Strukturen haben, in denen Oligopole oder gar Monopole vorhanden sind. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage: Ist dies im Lebensmitteleinzelhandel der Fall? Wir haben zu diesem Thema am 5. Juli des letzten Jahres eine Anhörung durchgeführt. Da wurden zwei Zahlen genannt: Fünf haben 75 Prozent, sechs haben 85 Prozent Marktmacht in diesem Bereich; die dominieren. Dann hat ein Hersteller praktisch keine Ausweichmöglichkeit, wenn er eines von diesen großen Einzelhandelsunternehmen verliert. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen einmal so wie ich über mehrere Jahre hinweg Jahresgespräche mit dem Handel geführt haben. Ich weiß, wie sich da ein kleines Herstellerunternehmen fühlt. Wenn man dort hineingeht, ist das - das kann ich Ihnen sagen - nicht immer ganz angenehm. Denn wenn eine Auslistung im Raum steht, dann ist man vielleicht zu Zusagen bereit, die man unter normalen Margengesichtspunkten nicht eingehen würde. Aber ich sage Ihnen auch ganz offen: Wenn ich mit meinen Kollegen aus größeren Firmen, von Markenfirmen geredet habe, dann war es gerade umgekehrt. Es gibt auch eine Marktmacht von Herstellern. Ich nenne mal Coca-Cola. ({1}) - Frau Drobinski-Weiß, es kann sich heute ein Händler fast nicht mehr leisten, manche dieser Produkte nicht mehr zu haben. Das muss man einfach sehen, ({2}) und deswegen ist es richtig, dass wir in diesem Bereich eine Sektoruntersuchung durchführen und nicht alles über einen Kamm scheren, meine Damen und Herren. ({3}) Nicht jede Auslistung ist nur mit Marktmacht zu begründen. Es gibt auch Sortiments- und Preisstrategien. Ich glaube, der richtige Weg ist, dieses Thema detailliert, gut und ordentlich anzuschauen. Ich halte es für richtig, dass wir diesen Weg gehen. Ich halte es übrigens auch für richtig, einen Ombudsmann für den Lebensmitteleinzelhandel einzurichten. ({4}) Im Gegensatz zum Kollegen Nüßlein bin ich diesbezüglich gar nicht so negativ eingestellt. Natürlich ist es wichtig, erst einmal Anonymität herzustellen. Oftmals haben Händler nicht nur ein Produkt im Angebot, sondern mehrere. Häufig sind es die gleichen Konsorten, die Druck ausüben. Davon betroffen sind nicht nur die jeweiligen Hersteller, sondern auch andere. Der große Vorteil eines Ombudsmannes ist es, dass er Beschwerdefällen anonymisiert nachgehen kann. Fühlt sich ein Hersteller in Preisverhandlungen ungerechtfertigt benachteiligt, hat dieser eine Anlaufstelle, ohne Gefahr zu laufen, dass seine Produkte als Sanktion des Handels ausgelistet werden. Allein die Institutionalisierung eines Ombudsmannes ist der richtige Weg. Damit greifen wir übrigens nicht in die Vertragsfreiheit ein, was manche fordern. Vielmehr wird somit ein Weg eröffnet, um aus diesem Dilemma herauszukommen. ({5}) Neben der Frage der Marktmacht behandeln Sie in Ihrem Antrag noch andere Fragen. Dieser Antrag ist geradezu ein Sammelsurium von Einzelthemen, die meines Erachtens gar nichts mit der entscheidenden Frage, nämlich der Marktmacht und ihrer Begrenzung, zu tun haben, etwa Verbraucherinformationsgesetz, flächendeckender Mindestlohn. Anscheinend darf es jetzt keinen SPD-Antrag mehr geben, in dem der flächendeckende Mindestlohn nicht gefordert wird. Erklären Sie mir bitte einmal, inwiefern der flächendeckende Mindestlohn für Friseure - ich weiß, gleich ruft Herr Kelber dazwischen etwas mit Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel zu tun hat. ({6}) Ich muss mich schon wundern, dass Sie in Ihrem Antrag schreiben: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf … zu prüfen, wie das Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unter Einstandspreis neu und praktikabel geregelt werden kann … Das ist eigentlich eine Art verspäteter Offenbarungseid; denn bis 2012 gilt das Gesetz zur Bekämpfung von Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und des Lebensmittelhandels. Es stammt aus dem Jahr 2007. Wer hat 2007 regiert? Ich kann daher nur staunen, dass die SPD jetzt sagt, es müsse zu einer praktikablen Regelung kommen. ({7}) Hier entlarvt sich wieder einiges. Es wurde einfach nicht effizient genug an das Thema „Faire Lebensmittelpreise und transparente Produktionsbedingungen“ herangegangen. Dieser Antrag ist Ausdruck einer Placebogesetzgebung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Dieser Antrag ist nichts als ein Sammelsurium von Einzelthemen. Was werden wir tun? Wir warten die kartellrechtliche Prüfung ab. Wir werden evidenzbasiert handeln, also auf der Grundlage der Zahlen und Fakten, die dann vorliegen. Wir machen keine Placebogesetze, sondern Gesetze, die dem Verbraucher etwas bringen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Kelber hat zu einer Kurzintervention das Wort. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Kurzintervention findet nur deswegen statt, weil der Kollege Professor Schweickert mich persönlich angesprochen hat, noch bevor ich irgendetwas dazwischengerufen hatte. Ich möchte deutlich machen, worum es mir ging. Ist Ihnen bekannt, dass sich der Arbeitsminister aus Schleswig-Holstein, Heiner Garg, FDP, heute für bundesweit einheitliche Mindestlöhne ausgesprochen hat? Ich darf zitieren: Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit heranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe … Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Menschen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und sich und ihre Familien davon nicht ernähren können. ({0}) Nachdem wir heute im Bundestag dreimal von der FDP eine Ablehnung der Mindestlöhne gehört haben, muss ich feststellen: Auf dem Land sind sie schon ein bisschen schlauer. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Schweickert, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kelber, Sie haben recht: Ich hatte Sie angesprochen. Immer wenn ich rede, erwarte ich fast, dass Sie darauf mit einer Kurzintervention reagieren. Irgendwie hatte ich Sie schon vermisst. Herr Kelber, was das Thema Mindestlöhne angeht: Ich bin ganz sicher jemand, dem es fernliegt, zu sagen, er stehe links. Ich bin der Meinung, dass jemand, der orDr. Erik Schweickert dentlich arbeitet, sprich: eine 40-Stunden-Woche hat, sich einmal im Jahr einen Urlaub leisten und ein ordentliches Auto fahren können muss. Mit anderen Worten: Er muss von seinem Gehalt ordentlich leben können. Da bin ich bei Ihnen. ({0}) Das ist eines unserer Ziele. Ich stelle mir allerdings die Frage: Sind Mindestlöhne der richtige Weg, dieses Ziel zu erreichen? Ist es nicht vielmehr so, dass den Menschen durch Mindestlöhne etwas weggenommen wird, etwa weil Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden? Kommt man durch Mindestlöhne diesem Ziel also womöglich nicht näher? Lassen Sie uns darüber streiten, wie der Weg dahin aussehen soll, dass die Menschen ein Mindesteinkommen haben. Es ist eine etwas zu verengte Sichtweise, zu glauben, dass die Mindestlöhne der richtige Weg dahin sind. ({1}) Lassen Sie uns gemeinsam darüber streiten, wie die Ziele, die ich Ihnen genannt habe, erreicht werden können. Man sollte aber nicht einfach nur plakativ einen flächendeckenden Mindestlohn fordern. Es ist genau wie bei der Sektorenuntersuchung: Man muss sich die Sektoren einzeln anschauen, um zu erkennen, was man im jeweiligen Bereich zu tun hat. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ostendorff hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer sich heute in der Gesellschaft umschaut, bemerkt einen klaren Bewusstseinswandel: Die Menschen leben bewusster, planen bewusster und konsumieren auch bewusster als vor 10 oder 20 Jahren. Das sagen Ihnen alle Studien. Im heutigen Charta-Prozess bei Ministerin Aigner sagte sogar der Chef des Vion-Fleischkonzerns, dass für 77 Prozent der Verbraucher artgerechte Tierhaltung wichtig sei. „Geiz ist geil“ und „Hauptsache billig“ haben zunehmend ausgedient. ({0}) Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass die Preisschilder in den Supermärkten oft nicht die soziale und ökologische Wahrheit abbilden. Viele Billigprodukte wären viel teurer, wenn die gesellschaftlichen Folgekosten der agrarindustriellen Produktion mit eingerechnet werden würden. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen Preisen und Werten. Darin sind wir uns mit der SPD einig. Wir sind uns sicherlich auch darin einig, dass die Regierungskoalition diesen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung nicht aufnimmt und ihren agrarindustriellen und exportorientierten Kurs weiter fortsetzt. ({1}) Leider gerät der Antrag insgesamt zu allgemein, um zielgenau konkrete Verbesserungen zu erreichen. In den Details werden wichtige aktuelle Entwicklungen nicht ausreichend berücksichtigt. Natürlich stimmen wir zu, wenn Sie die Verbraucherinteressen in der Anwendung des § 54 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen berücksichtigt sehen wollen. Auch die Abschaffung der EU-Agrarexportsubventionen bleibt richtig. ({2}) Insgesamt aber bleibt doch der Eindruck, dass Sie viele Politikbereiche nur streifen, ohne ein schlüssiges und zielgerichtetes Maßnahmenpaket zu entwickeln. Bei einigen Ihrer konkreten Vorschläge teilen wir zwar die Analyse, doch die Forderungen sind nicht zielführend. So schlagen Sie eine Ombudsstelle vor, um dem Missbrauch von Marktmacht zu begegnen. Das ist aus unserer Sicht ein viel zu bürokratischer Weg. Warum stärken Sie nicht stattdessen die Verbraucherzentralen in ihrer Marktwächterfunktion? Ihre Maßnahmen in Bezug auf transparente und nachhaltige Produktionsbedingungen sehen wir grundsätzlich als positiv an, auch wenn wir zum Beispiel beim Verbraucherinformationsgesetz weiter gehende Vorstellungen zum Informationsanspruch von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Unternehmen haben. Dem Antrag fehlt insgesamt der rote Faden, der klare Kompass. Er entwickelt keine Leitidee zur ökologischen und sozialen Fairness in den Lebensmittelmärkten. Uns als Agrarpolitiker treibt die Frage um, wie wir den Erzeugern von Lebensmitteln, zum Beispiel den Milchbauern, einen Rahmen für faire Produktionsbedingungen schaffen können. Der Trend bei der Milch geht zurzeit in Richtung Monopol, vor allem in Norddeutschland. Hier müssen wir etwas tun und den Markt wiederherstellen. Die Regierung verzichtet leider vollständig auf jegliche Ordnungspolitik. Wir müssen den Rahmen dafür setzen, dass Bäuerinnen und Bauern angemessene Preise für ihre Produkte erhalten, ohne dass wir sie weiter in die industrielle Produktion treiben, eine Produktionsweise, die weder umwelt- noch tierschutzgerecht ist, viele bäuerliche Existenzen zerstört und in der Gesellschaft auf keine Akzeptanz mehr stößt. Der vorliegende Antrag reißt viele richtige und wichtige Fragen an, bleibt aber in seinen Maßnahmen zu allgemein und stößt an einigen Stellen in die falsche Richtung vor. Lassen Sie uns in der weiteren parlamentarischen Beratung gemeinsam an der Stoßrichtung arbeiten! Denn eines ist klar: Die Regierung wird erfahrungsgemäß nichts unternehmen, um den Lebensmittelmarkt fair und transparent zu gestalten. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat die Letzte auf unserer Rednerliste, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, für die Sozialdemokraten das Wort. - Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Ostendorff, schade, dass Sie den roten Faden nicht erkennen können. ({0}) Ich glaube, das liegt daran, dass Sie ein Grüner und eben kein Roter - so wie wir - sind. ({1}) Es ist schon erschreckend, dass sich gerade einmal vier Handelsriesen praktisch den gesamten Lebensmittelmarkt aufteilen. ({2}) Sie alleine bestimmen, wohin die Reise geht. ({3}) In der Anhörung im letzten Juli ist sehr klar geworden, was diese gigantische Monopolisierung im Einzelhandel bedeutet: Qualitätsverfall und miese Löhne. ({4}) Die Leidtragenden sind die Angestellten in den Supermärkten und Discountern. Der Einzelhandel ist die größte Niedriglohnbranche in Deutschland. 12 Prozent der Beschäftigten erhielten 2008 weniger als 5 Euro brutto. Besonders Frauen - sie stellen 70 Prozent der Beschäftigten - sind Opfer der miesen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie arbeiten zu einem großen Teil in ungesicherten Minijobs. Altersarmut ist vorprogrammiert. Das, meine Damen und Herren, werden wir nicht hinnehmen. ({5}) Wir fordern deshalb einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Der würde schon enorm helfen. Der gewaltige Preisdruck, den die Supermarktgiganten ausüben, verläuft entlang der gesamten Lieferkette der Konzerne. Die unabhängige Hilfsorganisation Oxfam weist seit Jahren auf schockierende Arbeitsbedingungen in Asien und Mittelamerika hin. Es ist beschämend, wenn beim Handelsriesen Metro Lieferanten in Indien den Landarbeiterinnen gerade einmal 85 Cent bezahlen, und zwar nicht pro Stunde, sondern für zehn bis zwölf Stunden harter Arbeit pro Tag. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss Schluss sein. ({6}) Leider bleibt die Bundesregierung hier untätig. Wie die Antwort auf unsere Kleine Anfrage gezeigt hat, sieht sie keinen Handlungsbedarf. Dabei waren sich fast alle Sachverständigen in der Anhörung einig: Wir brauchen Regeln, um den Missbrauch von Marktmacht wirksam einzudämmen. Die SPD legt deshalb - übrigens als einzige Fraktion - einen umfassenden Maßnahmenkatalog vor. Meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß ist schon auf eine zentrale Forderung eingegangen: die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle. Diese Stelle soll auch Ermittlungen einleiten, wenn bei Einkaufspraktiken eines Unternehmens negative Auswirkungen auf die Beschäftigten entlang der Lieferkette zu befürchten sind. ({7}) Unternehmen wären dann auskunftspflichtig und die Ergebnisse der Untersuchungen öffentlich einsehbar. ({8}) Das führt zur zweiten zentralen Forderung: Insbesondere große Unternehmen müssen verpflichtet werden, Berichte über die Wahrung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte in der gesamten Wertschöpfungskette vorzulegen. Denn klar ist: Die bestehenden Selbstverpflichtungen von Unternehmen zur Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen reichen nicht aus. ({9}) Natürlich sind Initiativen von Unternehmen wünschenswert, die sich freiwillig über das normale Maß hinaus für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren. Deshalb hatte Olaf Scholz als SPD-Arbeitsminister in der Großen Koalition die nationale CSR-Strategie auf den Weg gebracht. Wir müssen aber den Druck erhöhen, dass alle Unternehmen faire Arbeitsbedingungen einhalten. Wir müssen dafür sorgen, dass nur solche Unternehmen öffentliche Aufträge erhalten, die soziale und ökologische Mindeststandards im eigenen Betrieb und in der Zulieferkette einhalten. Stärken wir auch diejenigen, auf die es im Markt letztendlich ankommt, die Verbraucherinnen und Verbraucher! Wir fordern im Verbraucherinformationsgesetz einen Informationsanspruch zu der Frage, ob sich Unternehmen fair verhalten, auch entlang der Zulieferkette. Dann können Kunden beim Einkauf schwarzen Schafen die Rote Karte zeigen. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. Jetzt schließe ich die Aussprache. Vizepräsident Eduard Oswald Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der Sozialdemokraten wünscht die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 13 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung - Drucksachen 17/5334, 17/5388 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung - Drucksache 17/5363 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Erster Redner unserer Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler. Ich gebe ihm das Wort. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Stadler. ({1})

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ist seit längerer Zeit Gegenstand einer heftigen rechtspolitischen Debatte. Nach dieser Regelung, die im Jahr 2002 eingeführt worden ist, muss das Berufungsgericht in aussichtslosen Fällen die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch einen unanfechtbaren Beschluss zurückweisen. Damit war seinerzeit eine Verfahrensbeschleunigung beabsichtigt. Dieses Ziel ist durchaus erreicht worden. Die Regelung wird aber dennoch von vielen Bürgerinnen und Bürgern als unangemessene Beschränkung ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten empfunden. ({0}) Deshalb haben die Innen- und Rechtspolitiker der CDU/CSU und der FDP schon bei den Koalitionsverhandlungen eine Änderung dieser Vorschrift verabredet. Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir tätig werden sollten. Die Statistik belegt, dass die Berufungsgerichte die Vorschrift im bundesweiten Vergleich sehr unterschiedlich anwenden. ({1}) Beispielsweise werden beim Oberlandesgericht Bremen in 5,2 Prozent aller Fälle Berufungen durch Beschluss zurückgewiesen. Beim Oberlandesgericht Rostock erfolgt dies in 27 Prozent aller Fälle. Auch diese unterschiedliche Handhabung in der Praxis ist ein Anlass für ein Eingreifen des Gesetzgebers. ({2}) Die Bundesregierung schlägt daher im vorliegenden Entwurf vor, bei Zurückweisungsbeschlüssen die gleiche Anfechtbarkeit wie bei den streitigen Berufungsurteilen einzuführen. Künftig soll der Bundesgerichtshof auf die Nichtzulassungsbeschwerde einen Zurückweisungsbeschluss ab einer Beschwer von 20 000 Euro in gleicher Weise überprüfen wie jetzt schon ein Berufungsurteil. Wenn die Zulassungsgründe vorliegen, wird der Beschluss im Revisionsverfahren auf Rechtsfehler kontrolliert. Damit wird es für den Zugang zum Bundesgerichtshof unerheblich, ob das Berufungsgericht durch Beschluss oder durch Urteil entschieden hat. Meine Damen und Herren, das ist eine Verbesserung des Rechtsschutzes, und das ist keine rein technische Angelegenheit; denn von vielen Betroffenen haben uns Beschwerden erreicht, dass das jetzt geltende System auch bei bedeutenden Rechtssachen nicht den vollen Rechtsschutz bereitstellt, weil die beschlussmäßige Verwerfung derzeit unanfechtbar ist. Wir haben auch bedacht, ob die Berufungsgerichte durch den Begründungsmehraufwand für die künftig anfechtbaren Zurückweisungsbeschlüsse im Übermaß belastet werden. Dies glauben wir nicht; denn die eigentliche Begründungsarbeit wird bereits bei dem Beschluss geleistet, der dem Zurückweisungsbeschluss vorangeht und die Parteien auf den voraussichtlichen Ausgang des Rechtsstreits hinweist. ({3}) In besonderen Fällen, zum Beispiel, wenn die Sache für den Berufungsführer existenzielle Bedeutung hat, muss künftig wieder mündlich verhandelt werden. Das war nämlich das zweite große Beschwernis aus der Praxis: Die Betroffenen hatten den Eindruck, sie würden mit ihrem Anliegen nicht hinreichend gehört. Bürgerinnen und Bürger haben nämlich oft den Eindruck, eine bloß schriftliche Vortragsweise habe nicht denselben Wert wie die mündliche Verhandlung. Mit der Neuregelung besteht nunmehr eine Möglichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes wieder rechtliches Gehör zu gewähren. Eine mündliche Erörterung bietet im Übrigen auch die Chance für die vergleichsweise Lösung eines Rechtsstreits, aber auch für Berufungsrücknahmen, wenn im Rechtsgespräch dem Berufungsführer die mangelnde Erfolgsaussicht seines Rechtsmittels dargelegt worden ist. Wir meinen daher, dass der Entwurf, den wir Ihnen vorlegen, einen ausgewogenen Kompromiss darstellt. Wir schaffen die Vorschrift nicht gänzlich ab, weil sie durchaus eine gewisse Beschleunigungswirkung hatte und auch künftig haben soll, sondern greifen einen Lösungsansatz auf, den die FDP-Fraktion bereits in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hat. Wir glauben, dass damit die aufgetretenen Probleme aus der Praxis und das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, stärkeren Rechtsschutz zu erhalten, in einer sinnvollen Weise einer Lösung zugeführt werden. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir für unseren Entwurf eine breite parlamentarische Unterstützung erhalten würden. Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Jetzt als Nächste auf unserer Liste aus der Fraktion der Sozialdemokraten Frau Kollegin Sonja Steffen. - Bitte, Frau Kollegin Steffen, Sie haben das Wort. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Irrend lernt man“, hat Johann Wolfgang von Goethe einmal gesagt. Diese Weisheit sollte sich in der geplanten Änderung der Vorschrift des § 522 Abs. 2 ZPO wiederfinden. Wir erinnern uns - der Staatssekretär Stadler hat ja schon darauf hingewiesen -: Im Jahre 2001 beschloss der Deutsche Bundestag eine praktisch sehr weitreichende Änderung des § 522 ZPO. Die Berufungsgerichte wurden berechtigt und verpflichtet, eine Berufung zurückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundlegende Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert. ({0}) - Ich weiß. Ich komme auch noch darauf zu sprechen. Der entscheidende Punkt der Vorschrift ist folgender: Der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 ZPO ergeht ohne mündliche Verhandlung, und er ist unanfechtbar. Den Rechtsuchenden ist also bislang der Weg zum Bundesgerichtshof gegen den Zurückweisungsbeschluss versperrt. Das Fehlen eines Rechtsmittels gegen diesen Beschluss ist umso gravierender, als die Zurückweisungspraxis der Gerichte erheblich variiert. Einige Zahlen hat der Staatssekretär schon genannt. Ich will sie noch ein bisschen vervollständigen, und ich muss gestehen: Mecklenburg-Vorpommern ist hier wirklich ganz weit hinten, warum auch immer. Bei den Landgerichten beträgt die Zurückweisungsquote zum Beispiel beim Landgericht Karlsruhe 6,4 Prozent und beim Landgericht Rostock 23,8 Prozent. Bei den Oberlandesgerichten sind die regionalen Unterschiede ähnlich stark ausgeprägt: Sachsen 10,5 Prozent, Hamburg 24,4 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern 27,1 Prozent. Unverändert steht die Bestimmung des § 522 ZPO seitdem im Brennpunkt der rechtspolitischen Diskussion und vor allem in der Kritik. Insbesondere die Anwaltschaft hat sich in der Vergangenheit für die Abschaffung der Vorschrift sehr stark gemacht. Der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Wolfgang Ewer, hat dies erst kürzlich auf dem diesjährigen Neujahrsempfang des DAV erneut deutlich gemacht, indem er den vorliegenden Änderungsentwurf der Bundesregierung lediglich als ersten Schritt bezeichnet hat. Eigentlich, so sagte er, gehöre die Vorschrift abgeschafft. ({1}) Betroffene Kläger, denen eine mündliche Verhandlung und der Gang zur Revisionsinstanz versperrt bleiben, fordern das ebenfalls. Dies wird beispielsweise auch an den vielen Petitionen deutlich, die dem Bundestag zum Thema § 522 vorliegen. Es wird mit dem neuen Formulierungsvorschlag der Bundesregierung nicht gelingen, die unterschiedliche Zurückweisungspraxis einzudämmen. Allein die Änderung des Wortlauts der Vorschrift von bisher „weist die Berufung … zurück“ zu „hat … zurückzuweisen“ wird an der Praxis voraussichtlich nichts ändern. Die mit dem Änderungsvorschlag der Bundesregierung nun vorgesehene Nichtzulassungsbeschwerde bedeutet in der Praxis eine für alle Beteiligten vermeidbare Zusatzbelastung. Wenn der BGH zukünftig die Berufung nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde an das Berufungsgericht zurückverweist, bedeutet dies für den Rechtsuchenden einen zusätzlichen zeit- und gebührenintensiven Umweg zum Erreichen des Ziels einer mündlichen Verhandlung. Herr Staatssekretär Stadler, das ist keine Verbesserung des Rechtsschutzes. Ich meine auch, dass die Vorschrift insgesamt keine besondere Beschleunigungswirkung - zumindest unter diesem Aspekt - hat. Darüber hinaus ist ein weiterer entscheidender Punkt zu nennen. Die meisten Kläger werden die Hürde der Streitwertgrenze bei der geplanten Nichtzulassungsbeschwerde ohnehin nicht überwinden. Sie ist nur bei einer Beschwer von mehr als 20 000 Euro eröffnet. Dies haben Sie vorhin nicht dargestellt. Nach den Statistiken des BMJ weisen jedoch 80 bis 90 Prozent aller anhängigen Gerichtsverfahren Streitwerte von unter 6 000 Euro auf. Der Gang zum BGH wird also nach der geplanten Gesetzesänderung ohnehin nur für 10 bis 20 Prozent der Fälle möglich sein. Die bestehenden Gerechtigkeitslücken werden dadurch nicht geschlossen. Nun fordert der Bundesrat in seiner aktuellen Stellungnahme sogar, von der Einführung eines Rechtsmittels gegen den Zurückweisungsbeschluss ganz abzusehen. In der Begründung heißt es, gewichtige Gründe für eine Änderung seien nicht zu erkennen. Ignoriert werden dabei die Gerechtigkeitsdefizite, die durch die Vorschrift entstanden sind. Ignoriert wird auch die Rechtszersplitterung durch die unterschiedliche Anwendungspraxis der Gerichte. Statt der Einführung eines Rechtsmittels schlägt der Bundesrat übrigens die Einführung einer Ausnahmevorschrift vor, nach der die mündliche Verhandlung aus Angemessenheitsgesichtspunkten doch noch angeordnet werden kann. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn das Berufungsgericht durch einstimmigen Beschluss zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO vorliegen, dann wird es sich doch nicht im nächsten Schritt wieder umentscheiden und eine mündliche Verhandlung nun doch für angemessen und notwendig erachten. Der Vorschlag des Bundesrates ist daher abzulehnen, weil er den Anlass für das Änderungsbedürfnis nicht zielführend berücksichtigt. Er geht an der Beseitigung der Gerechtigkeitslücken vorbei. Daher fordern wir in unserem Antrag die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO, weil er sich in der Praxis nicht bewährt hat. ({2}) Den Parteien steht ein fairer Instanzenzug zu. Die Grünen fordern dies in ihrem Antrag ebenfalls. Ich hoffe, dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens auch die Regierungskoalition von der Streichung der Vorschrift überzeugen können. Nun möchte ich zum Abschluss noch auf eine weitere geplante Regelung zu sprechen kommen. Das ist die beabsichtigte Streichung des § 7 der Insolvenzordnung. Damit wären Rechtsbeschwerden gegen Entscheidungen des Insolvenzgerichts künftig nur noch statthaft, wenn das Beschwerdegericht sie zulässt. Diese Abschaffung halten wir für ausgesprochen problematisch. Weder die Anzahl der Verfahren noch die den Verfahren zugrunde liegenden Konflikte rechtfertigen diesen Schritt. Insolvenzverfahren sind für die Betroffenen fast immer von wesentlicher persönlicher und wirtschaftlicher Bedeutung. Nach der geplanten Neuregelung werden zukünftig durch eine Vielzahl von Landgerichten rechtskräftige Entscheidungen getroffen, wodurch eine Zersplitterung der Rechtsprechung droht. Die Einführung dieser Vorschrift hatte seinerzeit den Sinn, mit der Umsetzung der damals neu erlassenen Insolvenzordnung eine höchstrichterliche Klärung durch den Gang zum BGH zu ermöglichen. Jedoch steht nun eine weitere Reform der Insolvenzordnung vor der Tür. Es wird daher auch zukünftig wieder Streitfragen geben, die höchstrichterlich geklärt werden müssen. Die generelle Rechtsschutzmöglichkeit durch die uneingeschränkte Rechtsbeschwerdemöglichkeit zum BGH muss daher erhalten bleiben. Vielen Dank fürs Zuhören. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir danken Ihnen, Frau Kollegin Steffen. - Als Nächster hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Jan-Marco Luczak das Wort. Bitte schön, Herr Kollege. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren im Bundestag ja schon seit geraumer Zeit über die Regelung des § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung. In der letzten Legislaturperiode - Herr Staatssekretär hat das schon angeführt - hat die FDP dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Anfang des Jahres haben wir über einen Antrag der SPD dazu debattiert. Anfang der Woche haben nun auch die Grünen einen Vorstoß hierzu gemacht. Lassen Sie mich deswegen mit einem ganz klaren Bekenntnis anfangen: Auch ich halte den aktuellen Rechtszustand, den uns § 522 Abs. 2 bietet, für wirklich unbefriedigend. ({0}) Besonders die tragischen Einzelschicksale, wie etwa das der kleinen Deike - ich denke, wir kennen das alle -, führen uns allen vor Augen, dass die Zurückweisung einer Berufung im Beschlussverfahren tatsächlich zu Ergebnissen führen kann, die in der Sache falsch sind und die niemand von uns will. Deswegen ist es auch absolut richtig, dass die christlich-liberale Koalition hier etwas ändert. ({1}) Derzeit, meine Damen und Herren, sieht § 522 Abs. 2 vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen - sie sind hier schon genannt worden; das brauche ich nicht zu wiederholen - eine Berufung im Beschlusswege zurückgewiesen werden kann. Das führt dazu, dass eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet. Vor allen Dingen ist der Zurückweisungsbeschluss für den Kläger nicht anfechtbar. Obwohl § 522 Abs. 2 die kumulativen Voraussetzungen abschließend und ohne die Eröffnung eines gerichtlichen Ermessens darstellt, bestehen in der Praxis erhebliche regionale Unterschiede in seiner Anwendung. Auch hierzu haben wir die Zahlen schon gehört. Ich brauche sie nicht mehr im Einzelnen anzuführen. Es gibt in den einzelnen Gerichtsbezirken eine Spreizung von bis zu 20 Prozent. Nun kann man vielleicht trefflich über die Evaluierung der einzelnen Quoten streiten. Aber unter dem Strich bleibt es dabei, dass die Handhabung regional sehr unterschiedlich ist. Das führt dazu, dass - je nachdem, wo ein Kläger gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung einlegt - ein Rechtsschutzsuchender ganz unterschiedliche Chancen hat. Einmal kann er mündlich über das erstinstanzliche Urteil verhandeln und ein gegen ihn ergehendes Berufungsurteil anfechten. Das andere Mal gibt es keine mündliche Verhandlung, und er hat keine ordentlichen Rechtsmittel mehr. Wir haben hier also eine Ungleichheit in der Rechtsanwendung. Das ist in der Tat ein Problem. Ich glaube zwar, dass das kein verfassungsrechtliches Problem ist, wie es hier zum Teil behauptet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ja mit der Frage des § 522 Abs. 2 diverse Male beschäftigt und immer wieder bestätigt, dass das Beschlussverfahren als solches nicht zu beanstanden ist. Was aber in jedem Fall bleibt, ist ein Gerechtigkeitsproblem. Da sage ich: Wenn es auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwendig ist, dass wir hier etwas machen, so ist es doch ein rechtsstaatlich gebotener Auftrag an uns, hier etwas zu tun, hier zu handeln. ({2}) Es stellt sich nun die Frage: Wie handeln wir? Wie beseitigen wir diesen unbefriedigenden Rechtszustand? Die SPD und seit wenigen Tagen ja nun auch die Grünen schlagen vor, das Beschlussverfahren ersatzlos abzuschaffen. Das ist doch - das muss man auch einmal festhalten - einigermaßen erstaunlich. Meine Damen und Herren, hier lohnt sich einmal ein Blick in die Vergangenheit. SPD und Grüne schlagen uns heute die Streichung einer Regelung vor, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001 geschaffen wurde. ({3}) Sie schlagen also die Streichung einer Regelung vor, die unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung, also in ihrer eigenen Verantwortung, ins Werk gesetzt wurde. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist noch keine zwei Jahre her, da hat die SPD-Justizministerin Zypries hier im Plenum vehement diese rot-grüne Reform, die Regelung der Zurückweisung durch Beschluss, als - wörtlich ordentliche Reform, die voll akzeptiert werde, verteidigt. Jetzt sagen Sie einfach: Abschaffen! Die Kollegin Steffen - wir haben es gerade gehört; wir hatten die Diskussion Anfang des Jahres auch schon einmal - stellt auf einmal verwundert fest, dass die rotgrüne Vorschrift des § 522 Abs. 2 besonders anfällig für Verletzungen des verfassungsrechtlichen Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör sei und dass sich der Rechtsuchende der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Richter ausgeliefert sehe. Meine Damen und Herren, ich sehe nicht, welche bahnbrechenden Rechtserkenntnisse Sie auf einmal in den letzten Jahren gewonnen haben, die nicht schon bei der Debatte im Jahre 2009 vorlagen und die Sie jetzt zu einer 180-GradWendung veranlassen. Das hat mit glaubwürdiger und konsistenter Politik nichts mehr zu tun. ({5}) Der Vollständigkeit halber will ich hier nur noch einmal erwähnen, dass die Union 2001 gegen die Neuregelung des § 522 war und das seinerzeit auch entsprechend kritisiert hat. Wir wollten durch die ZPO-Reform nämlich mehr Bürgernähe und nicht weniger Rechtsschutz erreichen. Das war damals richtig, und das ist auch heute noch richtig. ({6}) Nun gut, jetzt sind wir zehn Jahre weiter. Das bedeutet, wir müssen uns einmal anschauen: Was in der Zwischenzeit passiert ist? Wie hat sich die Einführung des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 entwickelt? Wie hat sie sich ausgewirkt? Was hat sich bewährt, und was konnte in der Praxis nicht überzeugen? Zu den Defiziten dieser Regelung habe ich bereits selber einiges gesagt, und wir haben es auch schon an anderer Stelle gehört. Wahr ist: Wo Schatten ist, muss auch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer seriösen Diskussion, zu fragen, welche positiven Aspekte das Beschlussverfahren bewirkt hat und welche Folgen dessen ersatzlose Streichung nach sich zöge. Es gibt durchaus einige Punkte, die man berücksichtigen muss. Die Reform der ZPO im Jahre 2001 war notwendig; darüber besteht im Hause wohl Einigkeit. Menge und Länge der Verfahren sollten auf ein gesundes Maß zurückgeführt werden, um jedem Bürger den ihm zustehenden Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es so, dass auch solche Berufungen terminiert werden mussten, die offensichtlich unbegründet waren und die keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Das ist aber nicht effizient und bindet richterliche Arbeitskraft, die dann an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur das konkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle anderen, für die dann keine oder jedenfalls weniger Zeit zur Verfügung steht. Guter, effizienter Rechtsschutz setzt aber auch voraus, dass er in angemessener Zeit gewährleistet wird. Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Ministerin Zypries hat im Jahr 2009 hier im Deutschen Bundestag ausgeführt, dass es vor der Möglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss kein gutes, weil nur langsames Recht gab. Im Kern ist das durchaus richtig. Die Daten zeigen uns, dass das Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrensbeschleunigung geführt hat. Deswegen wollen wir - im Interesse aller Rechtsuchenden - diese positiven Effekte nicht wieder völlig aufgeben. Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen, dass es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichtigen gilt: das Interesse des weiterhin Rechtsschutzsuchenden, also des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des Berufungsbeklagten. Dieser hat in der ersten Instanz obsiegt und daher verständlicherweise ein Interesse daran, dass das erstrittene Urteil möglichst schnell durchgesetzt werden kann. Dafür benötigt er aber die Rechtskraft des Urteils, die unmittelbar durch den Zurückweisungsbeschluss herbeigeführt wird. Ich glaube, es ist richtig, den Zurückweisungsbeschluss, also die schnelle Rechtskraft, für die Fälle zu erhalten, in denen die Berufung tatsächlich ohne Aussicht auf Erfolg ist. ({7}) Denn sonst stünde zu befürchten, dass vermehrt Berufung wieder nur deswegen eingelegt würde, um das Verfahren zu verzögern und die Vollstreckung eines zu Recht titulierten Anspruchs zu vereiteln. Dazu wollen wir aber keine Anreize setzen. Wir wollen, dass die in erster Instanz erfolgreiche Partei möglichst schnell Klarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens und damit Rechtssicherheit hat. Die christlich-liberale Koalition verfolgt deshalb einen anderen Weg als SPD und Grüne, einen Weg, der die Schwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt, gleichzeitig aber die Vorteile der ZPOReform bewahrt. Unsere Lösung schafft einen Ausgleich zwischen den Interessen von Kläger und Beklagtem und nimmt zudem auch Rücksicht auf die Belastung der Gerichte. Mit unserem Gesetzentwurf stellen wir zunächst klarer den zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO heraus; denn wenn seine Voraussetzungen vorliegen, muss das Berufungsgericht einen Zurückweisungsbeschluss erlassen. Unterschiede bei der Anwendung, die daraus resultieren, dass ein Gericht vermeintliches Ermessen ausübt, werden so in der Praxis gemindert. Zugleich ermöglichen wir die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in den Fällen, wo dies angemessen ist. Nach meiner Überzeugung ist eine mündliche Verhandlung immer dann angemessen, wenn deren rechtsstaatliche Funktion, nämlich die Befriedung der Parteien, die Schaffung von Akzeptanz für gerichtliche Entscheidungen oder die Gewährung rechtlichen Gehörs, dies erfordert. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn es um existenzielle Fragen geht, in Arzthaftungssachen zum Beispiel. Ich hatte den Fall „Deike“ vorhin schon erwähnt. Dieser wird zukünftig mündlich zu verhandeln sein. Aber auch wenn ein erstinstanzliches Urteil zwar in der Sache, also im Ergebnis, richtig sein mag, aber die Begründung nicht hinreichend oder vielleicht sogar falsch ist, wird in diesen Fällen mündlich zu verhandeln sein. Ich habe großes Vertrauen in unsere Richterschaft - Vertrauen, dass sie um diesen rechtsstaatlichen Wert, den eine mündliche Verhandlung darstellt, weiß und entsprechend großzügig mit der Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO umgehen wird. Schließlich lassen wir für Zurückweisungsbeschlüsse mit einer Beschwer über 20 000 Euro die Nichtzulassungsbeschwerde zu. Damit stellen wir sicher, dass bei höheren Streitwerten die Spruchpraxis der Berufungsgerichte einer höchstrichterlichen Kontrolle unterliegt. Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen jetzt die prozessualen Details. Im Kern aber kann der BGH zukünftig über die Nichtzulassungsbeschwerde überprüfen, ob das Berufungsgericht § 522 Abs. 2 ZPO und auch die darin festgelegten Voraussetzungen für den Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses richtig angewendet hat. Wenn das Berufungsgericht verkannt hat, dass eine Sache grundsätzliche Bedeutung hat oder dass eine Entscheidung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, dann wird das Revisionsverfahren eingeleitet. Hier kann der BGH dann vollumfänglich die Verletzung formellen und sachlichen Rechts prüfen. Damit gewährleisten wir eine bundesweit einheitliche Handhabung der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung und stellen so die rechtsstaatlich gebotene Rechtsanwendungsgleichheit sicher. ({8}) Die Einführung eines Rechtsmittels ist aber noch aus einem zweiten Grund richtig und wichtig. Vereinzelt mussten wir in der Vergangenheit feststellen, dass Spruchkörper in einer fehlsamen, manchmal an der Grenze zum Missbrauch liegenden Weise § 522 Abs. 2 ZPO angewendet haben. Die Folge war, dass mitunter Anhörungsrügen oder gar Verfassungsbeschwerden erhoben werden mussten, damit Kläger zu ihrem Recht kamen. Diese Gerichte müssen jetzt sorgsamer sein. Sie wissen jetzt, dass zukünftig über ihnen mehr ist als nur der blaue Himmel. ({9}) Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass die Berufungsgerichte und der Bundesgerichtshof gewissen Mehrbelastungen ausgesetzt werden. Die Berufungsgerichte werden dadurch mehr belastet, dass Zurückweisungsbeschlüsse zukünftig nur dann zulässig sind, wenn eine mündliche Verhandlung nicht angemessen ist. Man muss aber sehen, dass bereits nach geltendem Recht der Aufwand für einen ordentlich begründeten Hinweisbeschluss und die Berücksichtigung der darauf eingehenden Stellungnahme des Berufungsführers nicht eben gering ist. Ich glaube aber, dass diese Mehrbelastung wegen der herausgehobenen Bedeutung des individuellen Rechtsschutzes in unserer Verfassung vertretbar ist. In welchem Umfang der Bundesgerichtshof letztlich zusätzlich belastet wird, lässt sich zahlenmäßig noch nicht definitiv absehen. Ich jedenfalls glaube, dass auch die Mehrbelastung des Bundesgerichtshofs einen vertretbaren Umfang nicht überschreiten wird; denn über eine Nichtzulassungsbeschwerde kann man ohne mündliche Verhandlung entscheiden, und diese braucht regelmäßig auch nicht begründet zu werden. Dennoch sehen wir, dass es eine Mehrbelastung geben wird. Deswegen werden wir den BGH an anderer Stelle entlasten. Wir haben vorgesehen, dass § 7 der Insolvenzordnung, der die Erhebung einer zulassungsfreien Rechtsbeschwerde zum BGH vorsieht, abgeschafft wird. Der Hintergrund ist, dass wir glauben, dass die Insolvenzordnung nach zehn Jahren durch die höchstrichterliche Rechtsprechung hinreichend konturiert ist, dass es auf dem Gebiet Klarheit gibt und es kein praktisches Bedürfnis für diese zulassungsfreie Rechtsbeschwerde mehr gibt. Ob und in welchem Umfang der BGH darüber hinaus entlastet werden muss, werden wir in Zukunft genau beobachten. Wenn es notwendig sein sollte, könnten wir über weitere Kompensationsmaßnahmen miteinander reden. Ich komme zum Schluss. Es bleibt festzuhalten: Der Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition behält die positiven Effekte der ZPO-Reform bei. Wir beseitigen aber die Schwachstellen der rot-grünen Reform. Wir verbinden die Ziele individueller Rechtsschutz, Entlastung der Gerichte und eine schnellere Rechtskraft in einem wirklich ausgewogenen Kompromiss. Dafür bitte ich Sie herzlich um Ihre Zustimmung. Danke schön. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. Als nächster Redner spricht von der Fraktion Die Linke unser Kollege Raju Sharma. - Bitte schön, Herr Kollege Sharma. ({0})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist schon mehrfach gesagt worden, dass dies ein wirklich spannendes rechtspolitisches Thema ist. Es geht um § 522 ZPO, der es erlaubt, dass eine Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen werden kann, und dieser Beschluss ist dann noch nicht einmal anfechtbar. Fertig! Wieder wurde ein Rechtsstreit einfach und ohne großen Aufwand für immer erledigt. Kurzer Prozess! Alle Fraktionen sehen hier Handlungsbedarf; denn diese Vorgehensweise widerspricht dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger an einem effektiven Rechtsschutz. ({0}) Entschiede das Gericht in dem gleichen Rechtsstreit nicht durch einen Beschluss, sondern durch ein Urteil, wäre gegen die Zurückweisung der Berufung wenigstens eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Mehr als 100 Jahre kamen wir ohne diese Regelung aus. Doch im Jahr 2001 - das wurde schon gesagt - versuchte Rot-Grün, die Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten. Das haben wir neun Jahre lang ausprobiert. Jetzt müssen wir feststellen: Das Ziel wurde verfehlt. Für alle, die bei den Gerichten Rechtsschutz suchen, ist § 522 ZPO ein Fluch und kein Segen. Auch die gewünschte Entlastung der Gerichte trat nicht ein. Darüber hinaus - auch das wurde heute schon gesagt - wird diese Vorschrift ungleich angewandt. Je nach Bundesland erledigen manche Oberlandesgerichte 4 Prozent ihrer Verfahren nach § 522 ZPO und andere über 27 Prozent. Das ist nicht in Ordnung. Das ist ungerecht. ({1}) Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das ist in der Regel nicht schlimm. Wir müssen nur daraus lernen. Mit dem Regierungsentwurf wird aber lediglich versucht, die gröbsten Patzer etwas zu glätten. Dafür werden an § 522 Abs. 2 und 3 ZPO kosmetische Korrekturen vorgenommen, indem höhere Anforderungen an den Zurückweisungsbeschluss gestellt werden. Statt bisher drei sind nun vier Bedingungen für die Zurückweisung der Berufung vorgesehen. Als kleines Bonbon sollen den Betroffenen nun Rechtsmittel gegen den ablehnenden Beschluss zugestanden werden. Das ist aus unserer Sicht nicht genug. ({2}) Auf der anderen Seite schränken Sie die Rechte der Rechtsschutzsuchenden weiter ein, indem Sie § 26 Nr. 8 des Einführungsgesetzes der ZPO ändern wollen. Obwohl die Revision grundsätzlich vom Streitwert losgelöst betrachtet werden soll, verlängern Sie die bis Ende 2011 vorgesehene Befristung der Mindesthöhe des Streitwertes für Revisionen von 20 000 Euro bis Ende 2013. Damit übernehmen Sie die früheren Fehler von Rot-Grün. Wir finden das falsch. ({3}) Gerade in Arzthaftungsfällen ist die derzeitige Anwendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschädigten eine Zumutung. Wir dürfen nicht zulassen, dass Kosteneinsparungen im Justizsektor dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger den Glauben an Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit verlieren. SPD und Grüne haben erkannt, dass die damalige Reform ihr Ziel verfehlt hat und dass das Problem nur durch eine Abschaffung gelöst werden kann. Diese Einsichtsfähigkeit verdient Anerkennung. ({4}) Deshalb sollten Union und FDP nicht die Fehler vergangener Wahlperioden wiederholen. Tun Sie das Richtige, und wickeln Sie die verkorkste Reform ab. Streichen Sie die Absätze 2 und 3 in § 522 ZPO! Danke schön. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Sharma. Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Ingrid Hönlinger. - Bitte schön, Frau Kollegin.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon viel Bedenkenswertes zu § 522 ZPO gesagt. Wir alle wissen: Im Jahr 2002 wurde die Vorschrift eingeführt, um die Gerichte zu entlasten und Rechtsmittelverfahren zu beschleunigen. In den letzten Jahren haben wir verschiedene Erfahrungen damit gemacht. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen nehmen auch wir Grünen eine Neubewertung der Vorschrift vor. Wir alle wissen: Für Betroffene endet der Rechtsweg abrupt, wenn sie durch schriftlichen Beschluss mitgeteilt bekommen, dass ihre Berufung zurückgewiesen wird, weil es keine Aussicht auf Erfolg gibt, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weil kein Erfordernis einer Fortbildung des Rechts vorliegt oder keine Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Es findet keine mündliche Verhandlung statt. Der Rechtsweg ist endgültig beendet und damit auch der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht. Diese Rechtspraxis ist bedenklich. Deswegen diskutieren wir heute zu Recht über diese Vorschrift. ({0}) Ein weiteres Problem ist - das wurde schon gesagt -, dass § 522 ZPO von den Berufungsgerichten sehr unterschiedlich angewandt wird. Die Diskrepanz liegt bei ungefähr 22 Prozent; der Herr Staatssekretär hat das Beispiel schon angeführt. Das Oberlandesgericht Bremen weist 5,2 Prozent der Berufungsverfahren durch schriftlichen Beschluss zurück, während das Oberlandesgericht Rostock sehr viel überschwänglicher damit umgeht und 27,1 Prozent der Verfahren durch schriftlichen Beschluss beendet. Diese Diskrepanz besteht, obwohl § 522 Abs. 2 zwingenden Charakter hat und es keinen Spielraum bei der Anwendung gibt. Für die Betroffenen, aber auch für juristische Expertinnen und Experten wie auch für uns ist es unbegreiflich, dass eine zwingende Vorschrift eine derart unterschiedliche Handhabung erfährt. Wir diskutieren heute auch über den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er beinhaltet unter anderem Folgendes: Erstens. Eine mündliche Verhandlung findet nicht statt, wenn sie nicht angemessen ist. Das Wort „angemessen“ ist aus unserer Sicht ein weiterer unbestimmter Rechtsbegriff, der wieder dazu einlädt, dass die Berufungsgerichte die Vorschrift unterschiedlich handhaben. Zweitens. Die Nichtzulassungsbeschwerde, mit der die Betroffenen gegen den zurückweisenden Beschluss vorgehen können, wird eingeführt; dies ist aber erst ab einem Beschwerdewert von 20 000 Euro möglich. Damit ändert sich für einen Großteil der Betroffenen nichts. Ihr Rechtsweg ist nach wie vor beendet, wenn der schriftliche Beschluss vorliegt. Wir führen den Bürgerinnen und Bürgern damit vor, dass wir uns um ihre finanziellen Angelegenheiten nur dann vollumfänglich kümmern, wenn es sich um einen relativ hohen finanziellen Betrag handelt. Dies ist aus unserer Sicht nicht ausreichend, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. ({1}) Der Änderungsvorschlag greift also aus unserer Sicht zu kurz. Wir meinen: Alleinige Abhilfe bietet eine vollständige Abschaffung von § 522 Abs. 2 ZPO. Dann würde in jedem Fall eine mündliche Verhandlung stattfinden. Der Richter bzw. die Richterin kann sich ein persönliches Bild von den Parteien machen, eventuell noch auf eine Einigung hinwirken, vielleicht auch darauf hinwirken, dass die Berufung zurückgenommen wird. Wir gewährleisteten den Bürgerinnen und Bürgern damit umfassenden Zugang zu einer zweiten Instanz und damit zum Recht. Im Klartext: Eine wirkliche Verbesserung der rechtlichen Situation bietet nur die ersatzlose Streichung einer Vorschrift, die sich weder bewährt noch zur Gleichbehandlung beigetragen hat. Vielen Dank. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gestatten Sie noch eine Frage der Frau Kollegin Dyckmans?

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gern.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Frau Kollegin.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben gesagt, es sei eine Ungerechtigkeit, eine Nichtzulassungsbeschwerde bei einem Betrag von über 20 000 Euro einzuführen. Können Sie mir erklären, wieso Sie meinen, dies sei eine Ungerechtigkeit? Können Sie mir erklären, wie es sich bei einem Urteil verhält, wann also bei einem Urteil die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben ist?

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist bei einem Urteil genau dasselbe. Aber das Urteil setzt die mündliche Verhandlung voraus. Hier gehen wir von dem Fall aus, dass der schriftliche Beschluss vorliegt. Nach unserer Auffassung ist es notwendig, im Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung zu ermöglichen, um umfassendes rechtliches Gehör zu gewährleisten. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen herzlichen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/5334 und 17/5363 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Die inzwischen vorliegende Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates auf Drucksache 17/5388 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll wie der Gesetzentwurf überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Vizepräsident Eduard Oswald weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern - Drucksache 17/5119 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege Weinberg. ({1})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema, um das es jetzt geht, ist sicherlich kein Thema für politische Fensterreden - vielleicht behandeln wir es auch deshalb um diese Uhrzeit -: die Begleitforschung zur Einführung der Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung. Mit der Einführung der Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung zwischen 2003 und 2005 wurden die Leistungen im Krankenhaus nicht mehr nach der Liegezeit, sondern pauschal nach Diagnosen vergütet, auf Englisch DRGs genannt. Das war ein vollkommener Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung und angesichts eines Volumens von immerhin 34 bis 35 Prozent der gesamten GKV-Ausgaben ein dicker Brocken, der bewegt worden ist. Die Begleitforschung, die gesetzlich vorgeschrieben war, sollte die Einführung dieses neuen Vergütungssystems begleiten. Es sollte um die Wirkungen der DRGEinführung gehen: auf die Verweildauer in den Krankenhäusern, das Aufnahme- und Entlassungsverhalten, die Aufbau- und Ablauforganisation, die Wirtschaftlichkeit der Einrichtungen, mögliche Verlagerungen von Leistungen auf andere Leistungserbringer, die Auswirkungen auf die Qualität der Leistungen, aber auch die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der im Krankenhaus Beschäftigten und die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten sowie der Beschäftigten. Als Begleitforschung hatte sie den Anspruch, ein Frühwarnsystem zu sein. Der erste Forschungsbericht wurde im März 2010, also im letzten Jahr, vorgelegt. Er ist über 800 Seiten dick und umfasst als Untersuchungszeitraum die Zeit von 2004 bis 2006, also die erste Phase der Einführung dieses Vergütungssystems. Allerdings erfolgte die Ausschreibung zu dieser Begleitforschung erst 2008. Das beauftragte Institut, das IGES, konnte erst im Januar 2009 mit der Arbeit beginnen. Daher verwundert folgende Aussage aus dem Forschungsbericht nicht - ich zitiere -: Die Funktion eines „Frühwarnsystems“ kann die Begleitforschung sechs Jahre nach Systemeinführung nicht mehr wahrnehmen. ({0}) Durch den verspäteten Beginn sind Vorher-Nachher-Vergleiche nicht mehr möglich. Auch dies wird in dem Bericht durchaus angemerkt. Dort heißt es - ich zitiere wieder -: Die Trennung zwischen einem spezifischen „GDRG-Effekt“ und anderen plausiblen Einflussfaktoren ist zumeist nicht möglich. Es können also Veränderungen in dem Zeitraum dargestellt werden, aber der Nachweis einer Kausalität, eine Zurückführung der Veränderungen auf die Einführung dieses neuen Vergütungssystems ist kaum möglich. Auf jeden Fall kommen die Autoren des Forschungsberichts zu dem Schluss: Eine engmaschige wissenschaftliche Analyse der Veränderungsprozesse des Gesundheitssystems muss auch in Zukunft gewährleistet werden, um diesen Prozess für Versicherte und Patienten, Beschäftigte, Akteure und die Legislative vor dem Hintergrund der Ziele möglichst objektiv bewertbar zu machen und somit steuerbar zu gestalten. Dem können wir uns nur anschließen. Aber das heißt mit anderen Worten auch: Die Autoren des Forschungsberichts sind sich selbst durchaus bewusst, dass erstens diese Forschungsphase eigentlich zu spät eingesetzt hat und zweitens nur ein erstes Schlaglicht auf einen komplexen Veränderungsprozess wirft. In unserem Antrag greifen wir das auf und schlagen vor, die Begleitforschung zu den Fallpauschalen nun fortzuentwickeln, sodass die methodischen und inhaltlichen Defizite des bisherigen Ansatzes überwunden werden können und bei der Begleitforschung zur Einführung eines analogen Vergütungssystems in psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen vermieden werden können. Wir sollten den Fehler, den wir damals gemacht haben, dort nicht wiederholen, sondern jetzt durch eine frühzeitig einsetzende Begleitforschung einen Vorher-Nachher-Vergleich ermöglichen. ({1}) Unsere Vorschläge dazu sind, einen Sachverständigenrat einzurichten oder, wie Herr Braun in der Anhörung gesagt hat, eine Untergruppe des bestehenden Sachverständigenrats zu bilden, um die methodischen Voraussetzungen zu schaffen, Hypothesen und Fragestellungen unter Einbeziehung der von mir genannten Aspekte zu entwickeln, und eine Geschäftsstelle im BMG einzurichten, die den Prozess überwacht und auf die Einhaltung der Fristen achtet. Ich denke, es ist ein nur wenig politisch aufgeladenes Thema. Es hat bereits bestimmte andere Forschungsberichte gegeben. Wir als Linke haben durch die Ergebnisse in Berichten anderer Forschungsinstitute durchaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass einige unserer Annahmen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Fallpauschalensystem so nicht eingetreten sind. Ich denke da beispielsweise an das Thema „blutige EntlasHarald Weinberg sungen“. Das hat sich nicht bestätigt, und das ist auch gut so. ({2}) Nun werden wir dadurch nicht gleich zu Fans eines DRG-Systems; aber wir haben dazugelernt. Wir lernen gern immer weiter dazu, aber bitte, wenn es irgend geht, auf einer validen, gründlich erhobenen und soliden Datenbasis. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir danken Ihnen, Herr Kollege Weinberg. Als Nächster auf unserer Rednerliste steht unser Kollege Lothar Riebsamen für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit einem Umsatz von 65 Milliarden Euro und 1,1 Millionen Beschäftigten in 2 000 Krankenhäusern in unserem Land ist das Krankenhauswesen nicht nur der bedeutendste Faktor im Bereich des Gesundheitswesens, sondern ein sehr bedeutender Faktor insgesamt in unserer Wirtschaft - national, aber auch lokal, wenn es um Arbeitsplätze in den Landkreisen und den Städten geht, in denen diese Krankenhäuser stehen. Es ist richtig und gut, dass wir eine gute medizinische, bauliche und personelle Ausstattung in diesen Häusern haben. Deswegen ist es aber auch wichtig, dass wir ein zeitgemäßes Abrechnungssystem und eine zeitgemäße Kalkulation haben. Das war mit der alten Bundespflegesatzverordnung aus dem Jahr 1972 nicht der Fall. Diese wurde dem Anspruch an diese komplizierten Einrichtungen bei weitem nicht mehr gerecht. Es war nicht vernünftig, einfach nur Übernachtungen zu zählen wie in einem Hotel ({0}) und die Patienten, wenn die vereinbarten Berechnungstage nicht erreicht wurden, über das Wochenende dazubehalten. Das war einfach nicht zeitgemäß. Wir haben mit den DRGs erstmals ein differenziertes Preissystem, das Transparenz schafft - Transparenz nach innen für die Kalkulation und das interne Rechnungswesen, aber auch nach außen für die Kostenträger und die Patienten. Die Einführung dieses Systems war wichtig zur Finanzierung und Sicherung des GKV-Systems; denn durch die Einführung der Fallpauschalen hat auch Wettbewerb im deutschen Krankenhaussystem Einzug gehalten. Nun haben wir - Herr Weinberg, Sie haben das angedeutet - vielleicht noch nicht ganz eine gemeinsame Sprache gefunden; aber ich denke, wir haben durchaus eine gemeinsame Grammatik, was diese Punkte anbelangt. Wir haben nie behauptet, dass das DRG-System eine Patentlösung bzw. ein Königsweg ist. Wir haben immer gesagt - so steht es auch im Gesetz -, dass es sich um ein lernendes System handelt. Wir haben ins Gesetz implementiert, dass eine wissenschaftliche Begleitforschung stattfinden muss. Sie findet auch statt. Der erste Bericht liegt nun vor, und zwar für die Zeit von 2004 bis 2006. Ich räume ein, dass dies relativ spät ist. Mir wäre es auch lieber, wenn es schneller gegangen wäre. Der Bericht für die Zeit bis 2008 liegt auch schon weitgehend vor. Er soll uns noch in diesem Jahr zur Kenntnis gebracht werden. Dann wären wir wieder einigermaßen à jour. In Ihrem Antrag unterstellen Sie, dass innerhalb des Fallpauschalensystems eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Diagnosen nicht möglich ist. Das ist so nicht richtig. Es gibt Zusatzentgelte für bestimmte Diagnosen und auch für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Das ist also durchaus einbezogen und mit bedacht. Dass im Bericht keine Belege dafür gefunden werden, dass eine Neuausrichtung dieser Fallpauschalen notwendig ist, kann man auf der einen Seite kritisieren. Auf der anderen Seite kann man aber auch sagen - und das sage ich -, dass das ein Beleg dafür ist, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass eine Neuausrichtung nicht notwendig ist. Die entscheidende Aussage in diesem Bericht ist, dass die Verweildauer deutlich verkürzt werden konnte, und zwar - Sie haben das angesprochen - ohne dass es zu „blutigen Entlassungen“ gekommen ist. Die Verweildauer konnte verkürzt werden, obwohl die Kurzlieger durch die Einführung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern in den ambulanten Bereich abgewandert sind. Aufgrund des statistischen Moments hätte es im Gegenteil zu einer Verlängerung der Verweildauer kommen müssen. Das ist aber eben nicht der Fall. Die Fallpauschalen haben also dazu geführt, dass die Verweildauern verkürzt worden sind, und zwar trotz der demografischen Entwicklung, die in diesen Jahren zusätzlich zu bewerten ist. Sie kritisieren auch, das Aufnahme- und Belegverhalten sei zweifelhaft. Dem kann ich nicht folgen. In diesem Bericht wird deutlich, dass keine Risikoselektion stattgefunden hat. ({1}) Das kann man ausdrücklich nachlesen. Auch das ist ein weiterer entscheidender Beleg dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({2}) Ich räume ein, dass ich selber in den zukünftigen Berichten noch etwas mehr Aufschluss über die Lenkungsfunktion insbesondere innerhalb des stationären Bereiches erwarte. Mir geht es hier um die Frage, wie Krankenhausstandorte im ländlichen Raum mit diesem System durch eine Steigerung des CMI und durch Spezialisierungen gesichert werden können. Es besteht die Gefahr, dass Anreize dafür geschaffen werden, in verdichteten Räumen besserbezahlte Fälle ins Haus zu holen, wodurch Doppelstrukturen aufgebaut werden. Das erschließt sich mir noch nicht. Im normalen Marktge11746 schehen müsste es als Folge daraus nämlich zu Preissenkungen kommen, die im System der DRGs aber natürlich nicht vorgesehen sind. Eine wichtige Erkenntnis ist sicher auch, dass die durchschnittliche Preissteigerung im Krankenhausbereich im Berichtszeitraum lediglich bei 1,4 Prozent jährlich gelegen hat. Das kann man dem Bericht entnehmen. In den Jahren 1991 bis 2002 lag sie dagegen bei durchschnittlich 3,7 Prozent im Jahr. Das ist ein Beleg dafür, dass die Kosten im Krankenhausbereich mit den Fallpauschalen deutlich eingedämmt werden konnten. Ihr Vorschlag, einen Sachverständigenrat einzuführen, bedeutet mehr Bürokratie. Ich sehe keinen Mehrwert darin. Es kann auch nicht weiterhelfen, jetzt von einer wissenschaftlichen Begleitforschung auf einen Sachverständigenrat umzustellen. Ich halte es für vernünftig, die Lehren aus einem lernenden System zu ziehen. Darum geht es, um nicht mehr und nicht weniger. Wir sind noch nicht ganz am Ziel. Das erwartet heute auch niemand. Wir sind aber auf dem richtigen Weg. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben zu danken, Herr Kollege Riebsamen. - Als Nächste hat unsere Kollegin Mechthild Rawert von der Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Rawert. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende im Saal! Wir beraten heute den Antrag der Linksfraktion „Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern“. Wer glaubt, dass das ein aufregendes, ein Thema mit Exotik ist, hat sich getäuscht. Aber vorhin sind zu Recht die immensen Geldsummen genannt worden, die in dem System der Fallpauschalen bewegt werden. Insofern ist das Thema sehr wichtig für das Gesundheitswesen. Es geht um die Finanzierung der Krankenhausleistungen und darum, dass wir damit eine hochwertige medizinische Versorgung für die Patientinnen und Patienten mit einem motivierten und gut bezahlten Gesundheits- und Pflegepersonal sichern wollen. Fallpauschalen existieren seit einigen Jahren. Der bisherige Weg, die Besonderheiten in den Versorgungsstrukturen und Behandlungsweisen immer besser im Fallpauschalen-Katalog zu berücksichtigen, wird konsequent beschritten. Insofern ist es richtig, dass wir von einem lernenden System reden. Die Abbildungsgenauigkeit wird immer besser, wie sich auch im Fallpauschalen-Katalog 2011 längst erwiesen hat. Zu Recht - dafür danke ich - wird darauf Bezug genommen, dass sich einige der Befürchtungen, die bei der Einführung der DRGs geäußert worden sind, nicht bewahrheitet haben. Hierzu gehörte die Angst vor den sogenannten blutigen Entlassungen, der selektiven Auswahl von Patientinnen und Patienten durch die Krankenhäuser oder vor deren sinkender Behandlungsqualität. Man kann einfach sagen, dass sich das DRG-System bei den unterschiedlichsten Trägern des Gesundheitssystems etabliert hat. Diagnosebezogene Fallpauschalen, um den Begriff, den wir kurz DRG nennen, auch einmal in Gänze auszusprechen, werden anhand medizinischer Diagnosen und Behandlungen wie auch anhand von demografischen Daten, Alter und Geschlecht, für Zwecke der Abrechnung klassifiziert. Leistung wird also auf einer Kostenebene anders abgebildet. Unser hier in Deutschland praktiziertes System kann so schlecht nicht sein. Denn die Schweizer haben sich entschieden, ab dem Jahr 2012 das deutsche DRG-System als Grundlage für ein eigenes Abrechnungs- und Finanzierungssystem im Krankenhaus zu wählen. Der Antrag der Linksfraktion fordert unter anderem die Einsetzung eines Sachverständigenrates zur Evaluierung des Fallpauschalensystems in der Krankenhausfinanzierung. Dieser Forderung können wir nicht zustimmen. Zu Recht ist vorhin schon gesagt worden, dass es Kritik an der Begleitforschung in der Vergangenheit gibt, die in den Berichten auch schon benannt worden ist. Es gibt also auch Möglichkeiten, Themen der gesundheitlichen Versorgung genauer zu untersuchen. Hierzu wurden vielfältige Prüfanfragen verfasst, anhand derer derzeitig evaluiert wird. Unter anderem befasst sich das renommierte IGES-Institut damit. Es wurde 1980 gegründet und hat in über 1 000 Projekten zu Fragen des Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der Gesundheit geforscht. Der schon erwähnte erste „Endbericht zum ersten Zyklus der G-DRG-Begleitforschung“ hat die Jahre 2004 bis 2006 begleitet und wurde 2010 vorgelegt. Die Kritik habe ich bereits angesprochen. Begleitforschung darf nicht wie mit dem ersten Bericht verspätet erfolgen, sondern muss von Anfang an stattfinden. Auch die Hoffnung, dass es mit dem zweiten Bericht nun besser klappt, wurde schon formuliert. Das Ergebnis ist Folgendes: Ein pauschaliertes Vergütungssystem führt weder zu frühzeitigen Entlassungen noch zu einer systematischen Patientenauswahl und auch nicht zu einer Verlagerung von Behandlungen in andere Versorgungsbereiche. Wir werden in den Diskussionen, die wir unter anderem über das Versorgungsgesetz führen werden, sehen, welche neuen Steuerungsfunktionen in Zukunft auf uns zukommen werden. Diese Funktionen sind auf jeden Fall noch genauer auszurichten. Ich möchte auf einen anderen Punkt, der in der Praxis nur indirekt mit dem DRG-System zu tun hat, zurückkommen, und zwar auf die Situation der Beschäftigen im Gesundheitswesen. Ich bin genau zu dem Zeitpunkt, als das DRG-System eingeführt wurde, Zentrale Frauenund Gleichstellungsbeauftragte der Charité gewesen. Gerade im Pflegebereich hat das DRG-System tatsächlich zu einem massiven Abbau von Beschäftigten geführt. Ein solcher Abbau kann und darf in Zukunft nicht mehr erfolgen. Deswegen sind die Prüffragen zur Situation der Versorgung im Gesundheitswesen im Interesse der Beschäftigten von uns als Parlamentarier und Parlamentarierinnen genau zu analysieren. ({0}) Auf Fragen der sogenannten Mengenerweiterung will ich nicht näher eingehen. Mein Vorschlag für eine gemeinsame Kontrolle ist: Nehmen wir die auch durch das InEK implementierte Steuerungsfunktion durch den Fallpauschalen-Katalog wahr! Kontrollieren wir die Wirkungen und Auswirkungen für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Beschäftigten im Gesundheitswesen! Kontrollieren wir den hoffentlich in naher Zukunft vorliegenden zweiten Evaluierungsbericht! Danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. - Jetzt hat Kollege Lars Lindemann das Wort für die FDP-Fraktion. Bitte schön, Kollege Lars Lindemann. ({0})

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor acht Jahren wurde in den somatischen Krankenhäusern in Deutschland begonnen, die DRGs einzuführen. Diese Einführung sollte - so hat es der Bundestag hier beschlossen auch forschend begleitet werden. Der Bundestag hat auch Vorgaben gemacht, was dabei besonders in den Blick zu nehmen ist. Es sollte untersucht werden, ob durch die Einführung der DRGs sich Veränderungen der Versorgungsstrukturen ergeben, sich die Qualität der Versorgung verändert und Auswirkungen auf die anderen Versorgungsbereiche zu verzeichnen sind. Schließlich sollten auch Art und Umfang von Leistungsverlagerungen untersucht werden. Nach Vorlage des Berichtes des IGES-Institutes im März 2010 erklärten alle beteiligten Vertragspartner, dass die Einführung weder zu frühzeitigen Entlassungen noch zu einer systematischen Patientenauswahl geführt habe. Dies waren, so erinnere ich mich, die wesentlichen Einwände, die damals vorgebracht wurden. Auch konnte eine Leistungsverlagerung in andere Bereiche nicht festgestellt werden. Der Antrag der Linken, über den wir heute debattieren, fordert nun, einen Sachverständigenrat einzuberufen, der anstelle des bisherigen Vorgehens selbst und im Auftrag des BMG evaluieren soll. Man kann, so meine ich, heute nicht generalisierend sagen, dass die Behandlungsqualitäten durch die Einführung der DRGs an sich gelitten haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken - da haben wir eine Schnittmenge -, wir müssen in eine Überlegung eintreten, was genau wir gemeinsam unter Qualität verstehen wollen. Sie wollen in den Mittelpunkt der Überlegungen des von Ihnen geforderten Sachverständigenrates die Interessen der Patienten und Beschäftigten der Krankenhäuser stellen und umschreiben damit, wenn ich Sie da richtig verstanden habe, dass es seit der Einführung der DRGs Veränderungen von Handlungslogiken im Krankenhausbereich gibt, die bisher aber nicht in den Blick der Begleitforschung genommen wurden. Somit konnten daraus auch keine Ableitungen folgen. Um es deutlich zu sagen: Wenn es als eine gemeinsame Herausforderung verstanden wird, dass sich menschliche Zuwendung und der dafür notwendige Faktor Zeit bei den Beschäftigten nur schwer in eine stückkostenorientierte Abrechnungswelt einbauen lassen, dann muss dies in die Untersuchung einbezogen werden. Wir alle - da, denke ich, sind wir uns einig vermuten nicht nur, dass die DRG-Einführung eine Leistungsverdichtung mit sich gebracht hat, die natürlich auch Druck auf die Personalkostenblöcke erzeugt hat. Nun möchten meine Fraktion und ich aber nicht, dass wir ein neues Gremium schaffen, das da selbst evaluiert. Wir haben die Möglichkeit, die offenen Fragestellungen im Rahmen der auch mit der Einführung der PsychDRGs durchzuführenden Begleitforschung mit aufzunehmen und dort auch gleich beide Bereiche untersuchen zu lassen. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die Begleitforschung mit dem BMG abzustimmen ist. Darunter verstehe ich hier auch das Evaluationsdesign. Meine Bitte geht darum an den zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär, nach Überweisung des Antrags an den Ausschuss dort darüber zu berichten, wie die Abstimmung in Bezug auf die im Jahr 2010 vorgelegten Untersuchungen ausgesehen hat. Wir wollen dann unsererseits im Ausschuss darüber beraten, welche Punkte wir als Parlamentarier dann über das BMG mit in die Untersuchung eingebracht sehen wollen. Vielen Dank. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Lindemann. - Jetzt folgt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Elisabeth Scharfenberg. Bitte schön, Frau Kollegin Scharfenberg.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir halten den von der Linken vorgeschlagenen Sachverständigenrat zur Evaluierung des DRG-Systems für den falschen Weg. Gleichwohl sind auch wir natürlich der Auffassung, dass bei einer solch weitreichenden Veränderung, wie es gerade die Einführung der DRGs zweifellos war, eine umfassende Evaluation zwingend dazugehört. Genau dies haben wir ja auch getan. Unter Rot-Grün haben wir parallel zur Einführung der DRGs einen umfassenden Auftrag zur Begleitforschung beschlossen. Die DRGs sind ein lernendes System. Wir erleben aber, dass einige Akteure im Gesundheitswesen gerade nicht aus Erfahrungen lernen wollen. Sie wollen möglichst wenig darüber wissen, wie sich die DRGs in der Praxis auswirken und wo gegengesteuert werden muss. Das ist nicht nur das Versagen der Selbstverwaltung, sondern vor allem auch der schwarz-roten und nun natürlich der schwarz-gelben Bundesregierung. ({0}) So wurde die Begleitforschung mit etlichen Jahren Verspätung ausgeschrieben. Deshalb wurden die ersten Ergebnisse auch nicht, wie vorgeschrieben, 2005, sondern erst 2010 vorgelegt. Aber sind wir denn nach der Lektüre der nun vorliegenden Ergebnisse der Begleitforschung eigentlich wirklich schlauer geworden? Erfahren wir, welche Auswirkungen es auf andere Versorgungsbereiche gibt? Erfahren wir, ob es tatsächlich sogenannte blutige Entlassungen gibt? Oder erfahren wir, wie sich die Situation der stationären Pflegekräfte durch die DRG-Einführung entwickelt hat? Nein, muss ich sagen, dazu erfahren wir nichts. Es wäre aber die Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass der gesetzliche Auftrag zur Begleitforschung erfüllt wird. Das hat die Bundesregierung aber weder getan, als die Ausschreibung der Begleitforschung über Jahre verschleppt wurde, noch tut sie es jetzt angesichts dieser völlig unzureichenden Ergebnisse. Kürzlich hatten wir im Gesundheitsausschuss auf Initiative der Grünen eine Anhörung zur ambulanten Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt. Dort wurde insbesondere von den Krankenkassen vertreten, dass es keine Belege für eine solche Versorgungslücke gebe. Die Mehrheit der geladenen Sachverständigen hat das aber ganz anders gesehen. Das zeigt doch, dass es hier einen Erkenntnisbedarf gibt. Haben die Kassen, hat irgendein anderer Akteur darauf gedrängt, diese Frage zu klären? Ich bin der Auffassung: Nein, denn dieses Problem wurde im Rahmen der Begleitforschung gar nicht untersucht. Deswegen fehlt mir auch der Glaube, dass eine Sachverständigenkommission, wie sie die Linke fordert, an diesen Mängeln grundsätzlich etwas ändern würde. Dabei kann niemand leugnen, dass es Probleme gibt. Das zeigen zahlreiche Studien außerhalb der gesetzlichen Begleitforschung. So wissen wir doch, dass es nicht erst seit Einführung der DRGs zu einem erheblichen Abbau von Pflegepersonal gekommen ist. Die DRGs bilden den Pflegeaufwand nicht ausreichend ab. Deswegen hoffe ich sehr, dass die nunmehr entwickelten Kriterien zur Berücksichtigung des Pflegeaufwandes, der Pflegekomplexmaßnahmen-Score, die Pflegequalität wirksam verbessern werden. Auch in der stationären psychiatrischen Versorgung wird ein stärker pauschalisiertes Entgeltsystem eingeführt. Wir müssen dabei von den Erfahrungen der DRGEinführung lernen und hier eine bessere Begleitforschung erreichen. In diesem Sinne hoffe ich, dass die Beratung dieses Antrags Konsequenzen hat und die Erkenntnisverweigerung sowohl in der Bundesregierung als auch in der Selbstverwaltung endlich ein Ende hat. Vielen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Scharfenberg. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. - Bitte schön, Kollege Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Scharfenberg, es gibt keine Erkenntnisverweigerung der Bundesregierung und auch nicht der sie tragenden Fraktionen; vielmehr nehmen wir diese Berichte natürlich ernst. Es ist richtig, dass Berichte und Untersuchungen letztendlich fundiert sein müssen. Es bedurfte eines längeren Zeitraums, bis die Ausschreibung sachgerecht vollendet war. Gute Grundlagen gehören dazu. Es darf nicht sein, dass etwas sozusagen hoppladihopp zusammengeschrieben wird. Da wir für „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ stehen - das hat sich im Leben immer wieder bewährt -, kann ich hier keine Kritik üben. ({0}) - Das gilt für alle Bereiche der Politik, Frau Kollegin Rawert. Verehrte Damen und Herren, hier wurde bereits dargelegt: Mit der Einführung des Systems der DRG waren Befürchtungen verbunden. Es hat sich gezeigt, dass es ein selbstlernendes System ist. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich bin dem Kollegen Weinberg dankbar, dass er dargelegt hat, dass die Befürchtungen, die gehegt worden sind, so nicht eingetreten sind, dass wir somit auf einem guten Weg sind und dass es überall Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Bereits ein altes Sprichwort besagt, dass das Bessere der Feind des Guten ist. Es gilt, in diesem Sinne weiterhin die Arbeit zu leisten. Ich möchte dem nicht mehr unendlich viel hinzufügen. Ich möchte darauf verweisen, dass weitere Strukturen - die Fraktion Die Linke schlägt vor, einen weiteren Sachverständigenrat zu schaffen - nicht notwendigerweise eine Verbesserung bedeuten. Letztendlich sind alle Phasen in Begleitung der Bundesregierung zu untersuchen. Der Kollege Lindemann hat auf Folgendes hingewiesen: Wenn wir diesen Antrag im Ausschuss beraten, dann werden uns auch die bisherigen und die neuen Erkenntnisse der Bundesregierung dargelegt. Es gilt dann natürlich, auch den letzten Schritt zu begleiten. Die gesamte Phase der Einführung der DRGs muss wissenschaftlich begleitet werden. Bereits heute Vormittag, in der Kernzeit, haben wir über das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung beraten. Hier kann ein wichtiger Beitrag dazu geleistet werden. ({1}) Es geht darum, dass in der Gesundheitsökonomie die Patientenorientierung und die Patientensicherheit einen großen Stellenwert haben. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich überzeugt, dass die notwendigen Erkenntnisse erarbeitet werden. Ebenso überzeugt bin ich, dass die Forschungsstrukturen und die Studien auch in diesem Bereich einen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten werden. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass das Ganze auch in finanzieller Hinsicht mit einem gewaltigen Forschungsaufwand verbunden ist: Die Bundesregierung ist bereit, hier 1 Milliarde Euro einzusetzen. ({2}) Es wird sichtbar, dass wir größten Wert auf die Patientensicherheit und vor allen Dingen auf die Patientenorientiertheit unseres Gesundheitssystems legen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Straubinger. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute ({1}) - Drucksachen 17/4977, 17/5122 Nr. 2, 17/5401, 17/5405 Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Björn Sänger Dr. Gerhard Schick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Aumer. - Bitte schön, Kollege Peter Aumer. ({2})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Verantwortung übernehmen, das ist vor allem die Lehre, die wir aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gezogen haben. Diese Verantwortung haben wir als Politik zuvörderst. Wir haben die nötigen Maßnahmen der Regulierung zu treffen, dass so etwas, wie es in der Finanz- und Wirtschaftskrise geschehen ist, nicht noch einmal möglich ist. Wir haben dies zu tun aus der Verantwortung für unser Land und aus der Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren Steuern Schlimmeres für das Allgemeinwohl in dieser Krise verhindert haben. ({0}) Vor allem die Kreditinstitute selbst haben jedoch die Verantwortung für die Stabilität des Finanzmarktes zu übernehmen. Wir haben Instrumente geschaffen, um Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, in einem geordneten Verfahren zu sanieren oder abzuwickeln. Die Erfahrungen mit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers haben gezeigt, dass gerade auch mittelgroße, aber stark vernetzte Banken Einfluss auf das Finanzsystem und die gesamte Stabilität haben können. Durch staatliche Stabilisierungsmaßnahmen, die die Fortführung des Geschäftsbetriebs ermöglichen, wurden negative Folgen für die Stabilität des Finanzmarktes wirksam vermieden. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Restrukturierung und geordnete Abwicklung systemrelevanter Banken regelmäßig finanzielle Mittel erfordern werden. Diese Mittel sollen nicht allein - wie in der Vergangenheit - durch die öffentliche Hand, sondern vorrangig durch den Finanzsektor selbst bereitgestellt werden. Wir haben im Zuge der sogenannten Bankenabgabe im letzten Jahr das Restrukturierungsfondsgesetz beschlossen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde ein Restrukturierungsfonds als Sondervermögen des Bundes errichtet, der von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung verwaltet wird. Aus dem Fonds werden die künftigen Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnahmen bei systemrelevanten Banken finanziert. Das Gesetz sieht vor, die Mittel des Fonds durch Jahresbeiträge und gegebenenfalls Sonderbeiträge der beitragspflichtigen Kreditinstitute anzusammeln. Es regelt die wesentlichen Eckdaten für die Erhebung der Beiträge. Die weitere Ausgestaltung wird in der heute zur Debatte stehenden Rechtsverordnung geregelt, die der Finanzausschuss in seiner gestrigen Sitzung ohne Änderungen übernommen hat und die jetzt zur Abstimmung steht. Bei der Ausgestaltung der Bankenabgabe gibt es nicht nur verfassungsrechtliche Gründe zu beachten, dass die Lasten unter den Kreditinstituten auch angemessen und gerecht verteilt werden. Auch die Europäische Kommission achtet genau darauf, ob einzelne Banken bei der Bankenabgabe bevorzugt werden; denn das könnte eine unzulässige Beihilfe sein. Vor diesem Hintergrund ist auch die Nacherhebungsregelung zu sehen, die einen Ausgleich zwischen Banken mit volatilen und Banken mit stabilen Erträgen schafft. Änderungen bei dieser Regelung müssen daher gut begründet werden, um einseitige Begünstigungen bestimmter Banken und Geschäftsmodelle zu vermeiden. Generell können wir festhalten, dass Deutschland in diesem Punkt Maßstab für Europa ist. Die EU-Kommission hat unser Modell aufgegriffen und plant, einen EUweiten Krisenmechanismus nach deutschem Vorbild einzuführen. Das zeigt, dass die christlich-liberale Koalition auf dem richtigen Weg ist und ihrer Verantwortung für unser Land gerecht wird. ({1}) Darüber hinaus können wir der Forderung der Opposition nicht folgen, die eine Bankenabgabe in Höhe von 20 bis 25 Prozent des Bankengewinns einführen will. Wir haben auch Verantwortung für die Kreditinstitute in unserem Land, denn auch sie sind eine tragende Stütze und ein tragender Pfeiler für unser Wirtschaftssystem. ({2}) - Die haben es ausgelöst, das stimmt; aber trotzdem sind sie wichtig, damit das ganze Wirtschaftssystem am Laufen gehalten werden kann. Man muss sie natürlich mit heranziehen, aber man darf sie auch nicht über Gebühr strapazieren. Nicht der Steuerzahler soll in Zukunft für das Missmanagement der Banken aufkommen, so wie dies vor zwei Jahren der Fall war, sondern die Kreditinstitute müssen ihrer Verantwortung nachkommen und ihren Beitrag für die Stabilität des Finanzmarkts leisten. Niemand kann genau sagen, wie die Wirkung der Bankenabgabe ausfallen wird. Deswegen ist es auch absurd, Maximalforderungen zu stellen, wie Sie das tun, meine sehr geehrten Damen und Herren in der Opposition. Wir werden die Wirkungen der heute zu beschließenden Verordnung beobachten und schauen, ob Änderungen notwendig sind. Wenn dies der Fall ist, werden wir Änderungen vornehmen. Wir sichern durch diese Verordnung die weitere Stabilität der Finanzmärkte und teilen die Kosten auf 1 990 beitragspflichtige Kreditinstitute anteilsmäßig und gerecht auf. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, werden auch Sie Ihrer Verantwortung gerecht und stimmen Sie der vorliegenden RestrukturierungsfondsVerordnung zu! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Peter Aumer von der Fraktion CDU/CSU. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred Zöllmer. - Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Regierung will nicht mehr für Banken einspringen“, so titelte Spiegel-Online am 31. März dieses Jahres. Wenn ich mir die vorliegende Verordnung genauer anschaue, dann glaube ich: Dieser Satz wird bald genauso der Vergangenheit angehören wie das Versprechen der Kanzlerin, die Banken zur Finanzierung der Krise heranzuziehen. Dieses Versprechen hat sich inzwischen in heiße Luft aufgelöst, wie so vieles, was von dieser Bundesregierung versprochen wurde. Herr Aumer hat eben noch einmal bekräftigt, dass die Koalitionsfraktionen ihre Verantwortung für die Banken wahrnehmen wollen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Basis der Verordnung, über die wir jetzt diskutieren, ist das Restrukturierungsgesetz, das bereits von der Mehrheit des Bundestages verabschiedet worden ist. Mit diesem Gesetz sollte die „Too big to fail“-Problematik angegangen werden und die Banken an den Kosten der Krise beteiligt werden. Der erste Teil des Gesetzes beruht auf den Arbeiten von Frau Zypries, der damaligen Justizministerin, und des damaligen Finanzministers Steinbrück. ({1}) - Das ist, glaube ich, wirklich noch einen Beifall wert. Das Bundeskabinett hat am 2. März 2011, basierend auf einer entsprechenden Ermächtigung im Restrukturierungsfondsgesetz, die Restrukturierungsfonds-Verordnung beschlossen. Auf dieser Grundlage soll zukünftig die Bankenabgabe erhoben werden. Ziel der Bundesregierung war - so wurde es formuliert -, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler davor zu schützen, bei zukünftigen Krisen zahlen zu müssen. Wird nun alles gut? ({2}) Können wir Entwarnung geben? ({3}) Das glauben Sie doch selber nicht. ({4}) Wir haben doch eben gehört: Die Banken sollen geschützt werden, nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. ({5}) Die vorliegende Verordnung führt auf absehbare Zeit nicht dazu, den Steuerzahler zu entlasten. Die vorgesehene Bankenabgabe ist viel zu gering, um dieses politische Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung geht bei der Bankenabgabe von circa 1 Milliarde Euro an Einnahmen pro Jahr aus. Das bedeutet, dass man 70 bis 100 Jahre warten muss, bis eine entsprechende Summe zur Verfügung steht, um eine mögliche neue Finanzkrise zu finanzieren. ({6}) - Ja, das scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. Für diesen langen Zeitraum bleiben nach wie vor der Steuerzahler und die Steuerzahlerin in der Verantwortung. Die Restrukturierungsfonds-Verordnung präzisiert die Vorgaben des Gesetzes für die Erhebung der Bankenabgabe hinsichtlich der Abgabesätze und der Zumutbarkeitsgrenze. Die Abgabesätze werden gestaffelt. Je größer das Geschäftsvolumen einer Bank ist, desto höher ist der Jahresbeitrag, in entsprechenden Stufen. Außerdem werden bestimmte Termingeschäfte berücksichtigt. Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze. Der Jahresbeitrag wird bei 15 Prozent des Jahresüberschusses gekappt. Auf jeden Fall soll aber ein Mindestbeitrag in Höhe von 5 Prozent des regulären Jahresbeitrags erhoben werden. Banken, die in einem Jahr aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze keinen vollen Jahresbeitrag oder nur den Mindestbeitrag gezahlt haben, müssen die gekappten Beiträge nachzahlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Hauptkritikpunkt bleibt: Das zu erwartende Aufkommen der Bankenabgabe ist zu gering, um den Finanzbedarf bei der Restrukturierung systemrelevanter Banken decken zu können. ({7}) Das politische Ziel wird verfehlt. Sie haben darüber hinaus das Ziel einer verursachergerechten Belastung von Banken nicht erreicht. ({8}) - Die haben diese Bankenabgabe nicht konzipiert. Schauen Sie doch einfach einmal in die Geschichte. Diese Bankenabgabe schont große Banken mit ihren risikoreichen Geschäftsmodellen, weil die Bemessungsgrundlage zu einem ganz überwiegenden Teil nur an die Passivseite der Bilanz anknüpft und damit lediglich die Verbindlichkeiten der Bank berücksichtigt. Eine risikoorientierte Bankenabgabe, die eine stabile und langfristig orientierte Geschäftspolitik begünstigen würde, müsste auch den Risikogehalt der Forderungen einer Bank angemessen berücksichtigen. Um dies zu erreichen, müssten die risikobehafteten außerbilanziellen Geschäfte einer Bank stärker als bisher vorgesehen belastet werden. ({9}) Große Banken werden außerdem durch die in der Verordnung enthaltene Zumutbarkeitsgrenze bevorteilt, da die Höhe der Bankenabgabe auf maximal 15 Prozent des Jahresüberschusses gedeckelt ist. Nach Expertenschätzungen hätte die Deutsche Bank ohne diese Zumutbarkeitsgrenze etwa im Jahre 2009 eine um einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag höhere Bankenabgabe entrichten müssen. ({10}) Die nunmehr in der Verordnung vorgesehene Nachzahlung der aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze nicht erhobenen Bankenabgabe reicht bei weitem nicht aus, um eine angemessene Belastungsverteilung zu gewährleisten. ({11}) - Wir sind nicht in der Regierung. Wir sprechen über Ihren Vorschlag. ({12}) - Ja, nun mal ganz ruhig bleiben. Wir haben unseren Vorschlag in der letzten Sitzung des Finanzausschusses gemacht, und ich werde gleich noch darauf eingehen. Sie waren bei der Sitzung nicht dabei, deswegen können Sie das auch nicht wissen. ({13}) Die Deckelung von 15 Prozent schwächt die eigentlich vorgesehene Ausrichtung der Beitragserhebung am systemischen Risiko einer Bank in deutlichem Maße und begrenzt damit sehr stark das Aufkommen der Bankenabgabe. Die Zumutbarkeitsgrenze bevorzugt Institute mit hochvolatilen Geschäftsmodellen und damit verbundenen starken Ergebnisschwankungen. Damit werden international tätige Großbanken mit hohen Renditezielen deutlich bevorzugt. Sie werden nicht in der erforderlichen Weise zur Beitragserhebung herangezogen. Wir Sozialdemokraten wollen Risiken begrenzen und die Beiträge an der Risikogeneigtheit der Banken orientieren, wie es auch der IMF gefordert hat. ({14}) Wir haben deshalb im Finanzausschuss den Antrag gestellt, die Zumutbarkeitsgrenze von 15 auf 25 Prozent des Jahresergebnisses zu erhöhen. ({15}) Diesen Antrag haben Sie ebenso abgelehnt wie die Änderungsanträge der Grünen zur Veränderung des Berechnungsverfahrens und zur Beteiligung des Parlaments sowie zu einigen anderen Punkten. Dieses Verhalten von Schwarz-Gelb ist aus unserer Sicht unklug. Wir sind nicht die Einzigen, die Kritik an dem Inhalt der Verordnung haben. Es gibt eine Reihe von Bundesländern, die mit den Regelungen, die Sie vorgeschlagen haben, nicht zufrieden sind, und das sind nicht nur rot-grün regierte Länder. Den Ländern wurde von Ihnen eigentlich ein Mitspracherecht eingeräumt. Sie haben es aber versäumt, im Vorfeld eine Abstimmung mit den Ländern vorzunehmen. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie glauben immer noch, Sie würden allein regieren und hätten die Mehrheit im Bundesrat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass dies nicht der Fall ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Ihnen mit dieser Verordnung leider nicht gelungen, ein in sich konsistentes und belastbares System einer Bankenabgabe vorzulegen. Wir bedauern das. ({16})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Manfred Zöllmer. - Jetzt für die FDP-Fraktion Kollege Björn Sänger. - Bitte schön, Kollege Sänger. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hier vorliegt, ist der zweite Schritt nach dem Bankenrestrukturierungsgesetz. Die Verordnung regelt technische Details. Die grundsätzlichen Entscheidungen wurden bereits im Gesetz getroffen. Ich sage das hier so deutlich, weil es von interessierter Seite immer wieder den Versuch gab, über den Verordnungsweg Dinge zu regeln, die eigentlich im Gesetz abschließend geregelt sind. Das betrifft insbesondere die Frage der Bemessungsgrundlage der Bankenabgabe. Das Bankenrestrukturierungsgesetz - ich denke, das kann man hier auch einmal mit einem gewissen Selbstbewusstsein sagen - ist ein Vorbild für die gesamte EU. ({0}) Wir sind hier Vorreiter. Eine Nachahmung auf europäischer Ebene ist, was man so hört, durchaus angedacht und auch wünschenswert. Darauf können wir sicherlich alle gemeinsam stolz sein. Sollte es auf EU-Ebene zu einer Regelung kommen, die sich der deutschen Regelung anpasst, wird damit auch das Problem einer eventuellen Doppelbelastung von international agierenden Finanzunternehmen gelöst. Man muss nämlich fairerweise sagen, dass wir, auch wenn die Bundesregierung dankenswerterweise schon intensiv daran arbeitet, dieses Problem noch nicht direkt im Griff haben. Was ich bei unserer Regelung ausgesprochen gut finde, ist, dass die Mittel nicht im allgemeinen Haushalt verschwinden, sondern in einen Fonds eingezahlt werden, sodass dann die Branche in der Tat für mögliche Probleme selber zahlt. Hier ist Deutschland Vorreiter, und das ist auch gut so. Aber diese Vorreiterrolle bringt auch eine gewisse Unsicherheit mit sich, weil wir noch nicht genau wissen, welche Auswirkungen diese Abgabe am Ende des Tages auf die Finanzunternehmen haben wird. Wir haben hier schnell reagiert. Das war allgemein gewünscht. Diese Regierung ist handlungsfähig ({1}) und hat in einer ausgesprochen guten Geschwindigkeit ein gutes Gesetz mit einer entsprechend guten Verordnung vorgelegt, aber natürlich zu dem Preis, dass wir keine Auswirkungsstudien - manche würden vielleicht von Impact Studies sprechen; ich wähle lieber das deutsche Wort - machen konnten. Wir alle wissen ja, wie viele Studien beispielsweise zum Thema Basel II oder auch zum Thema Basel III gemacht worden sind. Da ist jahrelang untersucht worden, welche Auswirkungen das jeweils auf die Branche hat. Wir wissen ja noch gar nicht, was da alles kommt. Wir haben Basel III. Wir haben Kapitalaufschläge für systemrelevante Institute. Wir haben eine Finanzmarktsteuer. Wir haben eventuell höhere Kosten aus der Einlagensicherung. Wir wissen auch noch gar nicht, welche Auswirkungen sich aus anderen Regulierungen auf die Branche ergeben, zum Beispiel Solvency II. Die Summe, die dabei unterm Strich herauskommt, kennen wir nicht. Wir befinden uns also in einer Situation der Unsicherheit. Was macht man, wenn man unsicher ist? Man agiert vorsichtig. Kein Autofahrer würde auf die Idee kommen, bei Nebel voll aufs Gas zu drücken. Diejenigen, die das dennoch tun, machen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr schnell Bekanntschaft mit einem Helfer. Im glimpflichsten Fall ist es der Gelbe Engel vom ADAC, im schlimmeren Fall ist es die Feuerwehr oder auch der Notarzt. Übertragen auf die Finanzbranche bedeutet das: Der Staat muss wieder eingreifen, wenn wir die Unternehmen über Gebühr belasten. Es hilft uns nichts, wenn wir sie mit der Bankenabgabe am Ende des Tages erdrosseln. ({2}) Deswegen sind auch die Forderungen nach einer höheren Zumutbarkeitsgrenze, zum heutigen Tag zumindest, nicht angebracht. Wir müssen vielmehr schauen, welche Auswirkungen diese Bankenabgabe auf die Branche haben wird. Wir von den Koalitionsfraktionen - Kollege Aumer hat es schon gesagt - sind die Garanten dafür, dass man sich das sehr genau anschaut, und stellen auch sicher, dass hier in die eine oder andere Richtung nachgesteuert wird. Daher ist das von den Grünen vorgesehene Transparenzgebot an dieser Stelle überhaupt nicht notwendig. ({3}) Herr Kollege Zöllmer, es ist natürlich richtig, dass wir eine Verantwortung für die Banken übernehmen. Es wundert mich aber, dass Sie trotz Ihrer stattlichen Körpergröße nicht in der Lage sind, über den sozialdemokratischen Tellerrand hinauszublicken. Für ein Finanzunternehmen ist es doch von entscheidender Bedeutung, Gewinne zu erwirtschaften; denn ein Gewinn bedeutet, dass man Geld zurücklegen und damit die Eigenkapitalbasis stärken kann. Ein Gewinn bedeutet ferner, dass man für Investoren attraktiv wird, wodurch die Eigenkapitalbasis ebenfalls gestärkt wird. All das bedeutet unter dem Strich Krisenprävention. ({4}) Deswegen ist es wichtig, dass die Unternehmen der Finanzbranche in Deutschland weiterhin Gewinne machen können. Wenn die Banken Gewinne machen, dann sind sie auch in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen, nämlich ihre Finanzierungsfunktion zu erfüllen und Unternehmen entsprechende Dienstleistungen anzubieten. Sie müssen die Unternehmen, insbesondere den Mittelstand, dabei unterstützen, globale Geschäfte zu tätigen. So können Arbeitsplätze in der Realwirtschaft gesichert werden. Die Erfüllung dieser Aufgaben müssen wir von den Banken letzten Endes fordern. Dieses gemeinsame Ziel hat die Koalition mit dem Bankenrestrukturierungsgesetz und mit der vorliegenden Verordnung erreicht. Die Verordnung ist sinnvoll. Sie können deswegen der Beschlussempfehlung des Ausschusses getrost zustimmen. Herzlichen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unser Kollege Axel Troost. Bitte schön, Kollege Axel Troost. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir lehnen die Verordnung ab, da sie keine ausreichenden Mittel für die Abwicklung systemrelevanter Banken bereitstellt und schon das zugrunde liegende Bankenrestrukturierungsgesetz praxisuntauglich war. ({0}) Mit ihrer Versicherungslösung will die Bundesregierung den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. Die logische Antwort auf die Krise wäre aus unserer Sicht doch gewesen, erstens die Finanzbranche für die Kosten der jüngsten Krise zahlen zu lassen, zweitens zugleich die Systemrelevanz einzelner Banken ganz aufzuheben oder zumindest deutlich zu verringern und erst dann drittens über eine Versicherungslösung für Restrisiken nachzudenken. ({1}) Die vorgelegte Verordnung kann dagegen nur die Basis für einen unzulänglich ausgestatteten Krisenfonds legen. Zu allem Ärger wird dieser noch nicht einmal risikogerecht finanziert. Die Zielgröße des Restrukturierungsfonds liegt bei 70 Milliarden Euro. Wir haben es schon gehört: Bei Einzahlungen in Höhe von 1 Milliarde Euro pro Jahr wäre der Fonds frühestens kurz vor Ende des Jahrhunderts gefüllt. Der Fonds ist also auf absehbare Zeit nicht voll. Selbst dann wäre die angesammelte Summe zu gering, um eine systemrelevante Bank aufzufangen. Letzteres räumt sogar die Bundesregierung ein. Gleichzeitig sträubt sich die Bundesregierung hartnäckig, Vorschläge für eine Schrumpfung oder Aufspaltung von Banken zu machen. Letztlich werden die Kosten der nächsten Krise wieder bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern hängen bleiben. ({2}) Das Verursacherprinzip wird auch branchenintern verletzt: Sparkassen und Genossenschaftsbanken werden mit der Verordnung in einen Haftungsverbund gezwungen, von dem sie wegen ihrer Institutssicherung nicht wirklich profitieren. Das ist wie eine verbindliche kollektive Brandschutzversicherung, in die auch Iglubewohner einzahlen müssen. ({3}) Zudem verfehlt die Bankenabgabe auch ihre Lenkungswirkung. Kurzfristige spekulative Aktivitäten, die sich nicht über den Bilanzstichtag erstrecken, werden nicht erfasst. Langfristige Absicherungsgeschäfte werden dagegen mit Sicherheit erfasst. Eine Lenkungswirkung zugunsten realwirtschaftlich geerdeter Bankgeschäfte sieht doch ganz anders aus. ({4}) Darüber hinaus ist die Progression der Beitragssätze viel zu gering, um die Vorteile aufzuwiegen, die aus der günstigeren Refinanzierung systemrelevanter Banken erwachsen. Überhaupt sind wir gespannt, zu erfahren, wie letztendlich dieses Fondsvermögen angelegt werden soll, damit es im Falle einer Finanzkrise ohne erhebliche Wertverluste abgerufen werden kann. Es müssen immerhin 70 Milliarden Euro irgendwo angelegt werden. Der Internationale Währungsfonds schreibt völlig zu Recht - ich zitiere -: Das Finanzsystem ist immer noch krisenanfällig, aber die Finanzinstitute sind noch größer und komplexer geworden. Auch in Deutschland ist die Anzahl der Kreditinstitute seit Jahren rückläufig. Die Größe der Institute nimmt dagegen zu. Mit der Finanzkrise hat sich die Konzentration im Bankenwesen durch zahlreiche Übernahmen noch einmal sprunghaft erhöht. Die Lehre aus der Vergangenheit ist, dass man umfallende Großbanken nicht durch ein Insolvenzregime retten kann, ohne dabei erhebliche Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Die logische Konsequenz daraus ist, stattdessen große Banken zu schrumpfen, entweder auf direktem oder auf indirektem Weg. Das heißt, das Restrukturierungsgesetz und die dazugehörende Verordnung sind aus unserer Sicht überhaupt kein geeignetes Mittel, und alle hierzu gemachten Vorschläge der Bundesregierung greifen viel zu kurz. ({5}) Wir lehnen deshalb die vorgelegte Verordnung als völlig unzureichend ab. Die Linke ist aber gerne bereit, an entsprechenden Schritten zur Lösung der wirklichen Probleme mitzuarbeiten. Danke schön. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Axel Troost. - Jetzt hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Gerhard Schick das Wort. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier vor einigen Monaten das Restrukturierungsgesetz diskutiert. In diesem Rahmen ist die Grundlage dafür geschaffen worden, dass der Bundestag jetzt ausnahmsweise über eine Verordnung diskutieren kann. Es geht jetzt nur noch um die Ausgestaltung der Bankenabgabe, die den Fonds füllen soll, mit dem Banken gerettet werden sollen. Die Grundproblematik, dass es irgendwie nicht stimmig ist, wer einbezogen ist und wer nicht, haben wir damals thematisiert. Was man aber heute noch ändern könnte, sind die Höhe des Aufkommens und die Lenkungswirkung, die von der Bankenabgabe ausgeht. Deswegen haben wir Änderungsvorschläge gemacht. Sie von der Koalition haben die Vorschläge abgelehnt, durch die genau diese zwei Defizite geheilt werden könnten. Das Defizit „zu gering“ ließe sich dadurch heilen, dass man die Zumutbarkeitsgrenze anhebt, sich also fragt, wie viel von dem Gewinn eine Bank insgesamt abgeben muss. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass Sie in Sorge sind, dass trotz der inzwischen teilweise schon wieder erreichten Milliardengewinne hier eine zu große Belastung entsteht. Wir teilen das nicht. Wir glauben, dass es notwendig ist, diese Grenze anzuheben, um das Aufkommen zu erhöhen. Nach den Berechnungen der Bundesregierung wären das bei unserem Vorschlag bis zu 20 Prozent. Das würde die Frist verkürzen, die wir brauchen, um diesen Fonds wirklich einsatzfähig zu machen. ({0}) Das Zweite ist: Wir wissen, dass das zentrale Problem die besonders großen Banken sind. Am Anfang hieß es noch, alle Banken könnten mit diesem Restrukturierungsgesetz gerettet werden. Inzwischen geben auch Sie zu, dass das bei den großen Banken nicht funktioniert. Deswegen wollen wir hier einen Schritt in die Richtung machen, dass wir eine Größenbremse für besonders große Banken schaffen. Wir wollen, dass große Banken überproportional belastet werden; denn sie stellen aufgrund der Systemrelevanz besonders große Risiken dar. Wir schlagen vor, die Abgabe progressiv ansteigen zu lassen, damit besonders große Banken stärker belastet sind. Das tun Sie nur bis zu einem geringen Maße, nämlich bis zu der 100-Milliarden-Schwelle. Wir wollen das weiter anheben. Dadurch steigern wir das Aufkommen und bremsen die Größenentwicklung bei Banken, weil große Banken dann teurer sind. ({1}) Der dritte Punkt bei der Steuerung ist die Frage: Wie gehen wir mit den Derivaten um? Wir haben im Ausschuss extra erfragt, wie hoch deren Anteil bei der Bemessungsgrundlage ist. Es gibt zwei Bemessungsgrundlagen. Die eine ist im Grunde genommen die Größe der Bilanz, und die andere ist die Menge der Derivate. Der Satz auf Derivate führt nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank für die letzten Jahre dazu, dass im Durchschnitt nur etwa 6 Prozent des Aufkommens auf den Derivatebereich entfallen. Wir wissen aber, dass bei der Abwicklung gerade Derivate eine besondere Schwierigkeit darstellen. Wir wissen, dass es da zu Konstruktionen kommt, die die Finanzmärkte in Schwierigkeiten bringen. Deswegen sagen wir: Wir müssen den Satz auf die Derivatepositionen deutlich anheben. Dazu nur ein Beispiel: Bei der WestLB beläuft sich das Derivatevolumen insgesamt auf 2 300 Milliarden Euro. Das führt nach Ihrer Berechnung jetzt lediglich zu einem Beitrag zur Bankenabgabe in Höhe von 3,4 Millionen Euro. Das halten wir für zu gering. ({2}) Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt eingehen, damit ganz klar wird, welche Frage nach dieser Verordnung noch offen ist. Am Anfang hieß es: Die Bankenabgabe dient dazu, dass die Banken für die Kosten der jetzigen Finanzkrise zahlen. Diese Bankenabgabe leistet das nicht. Sie füllt einen Fonds für die Zukunft. Deswegen ist die Frage, wer die Kosten dieser Krise trägt, nach wie vor offen. Auf diese Frage muss die Bundesregierung noch eine klare Antwort geben. Denn wir haben die Befürchtung, dass es sonst die kleinen Leute in diesem Land trifft, die schon in Form von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder Verlusten bei ihren Geldanlagen schwer an dieser Krise zu tragen hatten. Deshalb darf das nicht passieren. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Frage von Herrn Schick, wer die Kosten der vergangenen Krise trägt: Am besten ist es natürlich, wenn es so abläuft wie jetzt mit der Commerzbank, wenn also das Geld, das der Staat eingelegt hat, wieder zurückgezahlt wird. Das hat geklappt, und das muss man an dieser Stelle auch einmal anerkennen. ({0}) Ich bin sehr dankbar für den Hinweis, dass wir heute über die Verordnung reden und nicht über das Gesetz. Die eine oder andere Diskussion hätten wir uns dann sparen können. Die hätten wir vor einem halben Jahr führen müssen oder können, aber nicht an dieser Stelle. Jetzt geht es einzig und allein um das Feintuning, wie die Bankenabgabe tatsächlich erhoben und wie das Ganze ausgesteuert wird.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, geben Sie dem Kollegen Dr. Schick die Chance, eine Zwischenfrage zu stellen?

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe dem Kollegen Dr. Schick gerne eine Chance.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Dann wird er sie ergreifen. - Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Brinkhaus, Sie haben in der Vorbemerkung kurz gesagt, dass alles Geld zurückgezahlt worden sei. Wir sind beide Ökonomen und wissen, dass man bei der Commerzbank genau rechnen und genau hinschauen muss. Ich möchte Sie bitten, mir folgende Frage zu beantworten: Sind die Zinsen, die auch auf Korrektur der EU-Kommission festgelegt worden sind, für die Jahre 2009 und 2010 in voller Höhe gezahlt worden, oder sind sie nicht gezahlt worden, und hat es dadurch eine Wettbewerbsverzerrung gegeben zulasten derjenigen Banken und Institute, die sich am Markt finanzieren müssen, oder nicht? Meine Position dazu ist klar, weil man das errechnen kann: Die Zinsen sind nicht in voller Höhe gezahlt worden, und dadurch hat es eine Wettbewerbsverzerrung gegeben. Deswegen ist es nicht aufrichtig, zu sagen, aus dieser Lage sei der Steuerzahler so herausgekommen, wie es sich gehört.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schick, Sie wissen auch, dass im Falle der Commerzbank Folgendes passiert ist: Das Geld, das nominal eingelegt worden ist, wird jetzt hoffentlich zu einem großen Teil zurückgezahlt. Es wird eine Sonderzahlung geleistet, die zumindest die Refinanzierungskosten des Steuerzahlers aller Voraussicht nach abdecken wird. Insofern entsteht dem Steuerzahler in dieser Sache unmittelbar kein Schaden. Es handelt sich eher um ein erfreuliches Beispiel. Zu der Tatsache, dass die 9-prozentige Verzinsung in den Krisenjahren nicht geleistet worden ist: Das Ganze ist damals aus gutem Grund so angelegt worden, um der Commerzbank die Chance zu geben, überhaupt wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Im Übrigen partizipieren wir an diesem Erfolg der Commerzbank, weil wir noch ein nicht unbeträchtliches Aktienpaket halten. Es hätte sicherlich besser laufen können; aber so, wie es gelaufen ist, ist es gut, zumindest besser als bei der Hypo Real Estate oder bei anderen Geldinstituten. ({0}) Zurück zu meiner Rede. Im Allgemeinen ist kritisiert worden, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz an Grenzen stößt. Das wissen wir. Wir haben das genau diskutiert. Wir wissen, dass wir international tätige Banken mit diesem Restrukturierungspaket nicht stützen können. Deswegen finden wir es sehr spannend, dass ein europäischer Krisenmechanismus entsteht. Wir werden diese Diskussion begleiten. Der europäische Krisenmechanismus ist eine logische Fortsetzung des Bankenrestrukturierungspakets. ({1}) Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass eine Megakrise natürlich nicht durch dieses Restrukturierungspaket abgedeckt werden kann. Zusammen mit Ihrem damaligen Finanzminister haben wir ein Paket von 500 Milliarden Euro aufgelegt. Das werden wir nie füllen können. Deswegen wissen wir zu genau, dass die ganze Sache begrenzt ist. Das haben wir auch immer kommuniziert. Nun im Einzelnen zu der Kritik, die Sie vorgebracht haben. Die Kritik der Linken ist besonders einfach zu widerlegen. Ich greife nur einen Punkt heraus: Die Tatsache, dass Sie kritisieren, dass Sparkassen und Volksbanken einbezogen werden sollen, obwohl sie nicht gerettet werden können, offenbart das grundlegende Unverständnis der Linken bei diesem gesamten Gesetzgebungspaket. Es geht nicht darum, eine einzelne Bank zu retten, sondern darum, ein System zu retten, und die Rettung des Systems nutzt auch den Sparkassen und Volksbanken. Um bei Ihrer Argumentation zu bleiben: Wenn Sie die Sparkassen und Volksbanken in diesem Zusammenhang erwähnen, müssten Sie auch die kleinen Privatbanken nennen. Aufgrund Ihres gespaltenen Verhältnisses zum Privateigentum ist das aber natürlich nicht möglich. ({2}) Als Lösungsansätze haben Sie im Grunde doch nur die Zerschlagung und die Enteignung vorgebracht. ({3}) Die eine oder andere Fraktion in diesem Haus sollte sich einmal überlegen, ob die Linke, die in dieser Marktwirtschaft so mit dem Eigentum umgehen will, ein geeigneter Koalitionspartner ist. ({4}) Jetzt will ich auf die Kritikpunkte eingehen, die von den Rednern der Grünen und der SPD vorgebracht worden sind. Da wurde gesagt, dass die Bankenabgabe nicht hoch genug ist. Ich denke, diese Kritik sollte man ernst nehmen. Man sollte aber auch dies ernst nehmen: Wenn Sie bis zu 25 Prozent des Gewinns einkassieren wollen, zuzüglich einer 30-prozentigen Ertragsteuer - die Bankenabgabe ist nicht als Betriebsausgabe steuerlich absetzbar -, dann werden 55 Prozent des Gewinns abgeschöpft. ({5}) Das kann man gut finden - das ist überhaupt keine Frage -; aber wenn man das gut findet, dann muss man auch sagen, wie das gehen soll. Die Banken sollen im Normaljahr 1,2 Milliarden Euro Bankenabgabe zahlen. Außerdem sollen sie 2 Milliarden Euro zum Sparpaket beitragen. Darüber hinaus sollen sie gemäß Basel III die Eigenkapitalquote erhöhen, was circa 50 bis 100 Milliarden Euro kosten wird, und sie sollen die Wirtschaft, die dank der guten Politik der Bundesregierung floriert, mit Kapital und Krediten versorgen. An dieser Stelle muss ich einen alten westfälischen Spruch anbringen: Die Kuh, die man melkt, kann man nicht gleichzeitig schlachten. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, diese Zwischenfrage lassen wir jetzt einmal aus. ({0}) Vor diesem Hintergrund könnte man eigentlich sagen, dass Ihre Kritik ins Leere läuft. Das sage ich aber bewusst nicht. Wir machen uns genauso wie Sie Sorgen und fragen uns, wie hoch das Aufkommen aus dieser Bankenabgabe am Ende des Tages sein wird. Wir bewegen uns auf unsicherem Terrain. Die Referenzgröße war das Jahr 2006. Im Jahr 2006 hätten wir rund 1,3 Milliarden Euro zusammenbekommen. Das Jahr 2006 war aber vor der Krise. 2006 hatten wir eine komplett andere Bankenlandschaft. Im Jahr 2006 hatten wir im Übrigen - das wird uns auch noch treffen - noch kein Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Insofern ist unklar, in welcher Höhe die Bankenabgabe in den nächsten Jahren gezahlt werden wird. ({1}) Wir werden in den nächsten Jahren zusammen mit Ihnen genau beobachten, wie hoch die Beiträge sind. Wir haben das übrigens durch eine Verordnung geregelt, weil die leichter zu ändern ist. Wir werden genau beobachten, ob diese Bankenabgabe krisenverschärfend wirkt oder nicht. Wir werden auch genau beobachten, wie es mit der Nacherhebungsfrist aussieht. Ich denke, das ist gut und richtig. An dieser Stelle kann ich nur den Kollegen Sänger von der FDP zitieren. ({2}) Wir hatten zwei Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit war, jahrelang sogenannte Auswirkungsstudien durchzuführen, wie das bei Basel II und Basel III der Fall gewesen ist. Die andere Möglichkeit war, einfach anzufangen. Wenn das erwartete Aufkommen nicht erzielt wird, werden wir nachjustieren. Ich denke, das ist der bessere Weg. Deswegen ist die Kenntnisnahme richtig. Es ist richtig, dass der Bundesrat jetzt Gelegenheit bekommt, dazu Stellung zu nehmen. Da ich weiß, dass der Bundesrat genauso wie wir daran interessiert ist, dass noch in diesem Jahr die ersten Zahlungen geleistet werden, gehe ich davon aus, dass der Bundesrat zügig einen guten Beschluss fassen wird. Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung: Die christlich-liberale Koalition hat mit diesem Bankenrestrukturierungspaket einen Mechanismus entwickelt - wir sind die erste Nation auf der Welt, die das gemacht hat, vielleicht zusammen mit den Briten -, mit dem man strategisch wichtige Banken abwickeln kann, ohne dass das ganze System zusammenfällt. ({3}) Sie können das kritisieren und sagen, dass man das an der einen oder anderen Stelle hätte besser machen können, und Sie können auch die eine oder andere zusätzliche Idee vortragen. Aber Sie sollten bitte anerkennen, dass wir uns vorangewagt haben, dass wir den ersten Schritt gewagt haben, ({4}) und eingestehen, dass das am Ende des Tages dazu führen wird, dass sich der Mechanismus, den wir auf europäischer Ebene erarbeiten werden, an den deutschen Prinzipien orientieren wird. Das ist gut, das ist richtig, das ist beispielhaft, und das sollte man auch zu dieser späten Stunde an dieser Stelle einmal sagen. Danke schön. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu der Verordnung der Bundesregierung über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/5401 und 17/5405, die Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/4977 - dort hieß es zunächst „einvernehmlich“; das wird jetzt in Klammern gesetzt - zur Kenntnis zu nehmen und keine Änderungen vorzunehmen. Jetzt lasse ich - das ist mit den Geschäftsführern so vereinbart - über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klimaschutz in der Stadt - Drucksache 17/5368 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Erste Rednerin ist Frau Kollegin Bettina Herlitzius von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, danke schön. - Meine Damen und Herren! Nach dem großen Thema „Finanzkrise“ könnte man meinen, dass wir jetzt zu einem ganz kleinen Thema kommen, dass es bei „Klimaschutz in der Stadt“ vielleicht um ein paar Büsche, ein paar Bäume und um Fassadenbegrünung, also Lieblingsthemen der Grünen, geht. Ich muss Sie leider enttäuschen. Klimaschutz in der Stadt ist ein Problem, das jetzt noch ganz klein ist, das aber in 10, 20, 30 Jahren zu einem immensen Problem für unsere Städte und Kommunen werden wird. 50 Prozent der Bevölkerung leben aktuell in urbanen Räumen. 2050 werden es fast 80 Prozent sein. Der Drang in die Großstädte, in die urbanen Zentren wird immer größer. Das hat viele Gründe, zum Beispiel das intensivere soziale und kulturelle Leben und die Verwirklichung von eigenen Lebensträumen. Aber auch die Arbeitssituation zwingt Menschen vermehrt in die Städte. Unsere Städte sind die größten Energieschleudern. Sie verursachen fast 75 Prozent der jährlichen Emissionen von Öl, Gas und Kohle. Sie sind der Hauptverursacher des Klimawandels. Aber unsere Städte sind auch die ersten Opfer des Klimawandels. Steigende Meeresspiegel und große Hitze im Sommer werden zu großen Katastrophen führen und haben das zum Teil auch schon getan. Nehmen wir Frankfurt als Beispiel. Im Sommerhalbjahr 2050 - das ist im Moment noch weit weg, aber für unsere nachfolgende Generation sehr nah wird die Temperatur an durchschnittlich jedem dritten Tag über 25 Grad Celsius betragen. Was das bedeutet, können Sie sich gut vorstellen. ({0}) Da reicht es nicht aus, ein paar Alleebäume zu pflanzen. Wir müssen unsere Städte grundsätzlich umbauen, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. ({1}) Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Politiker, den wir alle gut kennen, zitieren: Der Klimawandel wird sich zunehmend auf das Bauwesen und die dazugehörige Infrastruktur auswirken. Die Städte müssen sich deshalb frühzeitig auf klimatische Veränderungen vorbereiten und die nun vorliegenden Erkenntnisse nutzen. Frischluftschneisen sowie innerstädtische Grünflächen als Ausgleichs- und Entlastungsflächen werden immer wichtiger. Haben Sie eine Idee, wer dies gesagt hat? Unser Bauminister Ramsauer hat das Anfang dieses Jahres bei der Vorstellung einer Studie gesagt. ({2}) Jetzt könnte man meinen, dass er das Problem erkannt hat. Aus seinen Aussagen könnte man diesen Schluss ziehen. Aber wo ist das Handeln? Das Handeln fehlt. Hier zeigen sich die großen Defizite dieser Regierung. Nach den Kürzungsorgien des letzten Jahres bei den Mitteln für die Städtebauförderung und für die KfW-Förderung sieht es im diesjährigen Haushaltsentwurf nicht besser aus. Auch jetzt will die Bundesregierung das CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW wieder auf fast null setzen, und das, obwohl die Internetseite des Ministeriums nur so strotzt vor guten Tipps, wie man energetisch saniert, und vor allen Dingen vor Hinweisen, wie wichtig die energetische Sanierung ist. Dasselbe passiert im Bereich der Städtebauförderung. Die Mittel werden halbiert. Hier muss ich mich besonders an den Parlamentarischen Staatssekretär Mücke wenden, der die Dreistigkeit hat, die Opposition an dieser Stelle aufzufordern: Jetzt kümmert euch doch einmal darum, jetzt bemüht euch doch einmal, damit wir diese Mittel wieder erhöhen können. ({3}) Wer ist hier Regierung, und wer ist hier Opposition? ({4}) Wir verdanken Herrn Mücke eine weitere Täuschung. Auch das Programm „Energetische Städtebausanierung“, das jetzt ganz neu über die KfW initiiert wird, verheißt viel Gutes; schließlich geht es um energetische Städtebausanierung. Aber wo ist die Finanzierung? Auf der einen Seite soll die Finanzierung über die KfW bzw. den neuen Klima- und Energiefonds der Regierung erfolgen. Auf der anderen Seite hören wir vom Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Mücke, dass er für die energetische Gebäudesanierung kein Geld mehr hat. Wir wissen nicht, wie es mit der Brennelementesteuer weitergeht. Sie initiieren hier also ein Programm, ohne zu wissen, wie Sie es finanzieren wollen. ({5}) Das heißt, das ganze Programm ist eine riesige Luftnummer. Mit unserem Antrag „Klimaschutz in der Stadt“ wollen wir auf die wichtigen Voraussetzungen aufmerksam machen, die wir unbedingt erfüllen müssen, um unsere Städte im Hinblick auf den Klimawandel richtig aufzustellen. Wir brauchen eine bessere Verankerung des Klimaschutzes im Baurecht. Wir müssen die Förderung kontinuierlich, vor allen Dingen verlässlich und auch für die Kommunen berechenbar aufbauen. Es darf kein ständiges Auf und Ab geben, wie es im Moment der Fall ist. ({6}) - Wenn Sie sich für unsere Vorschläge interessieren, müssen Sie nur unseren Antrag lesen, Herr Kollege. In unserem Antrag steht dazu ganz viel. ({7}) Die energetische Städtebausanierung muss weiter ausgebaut werden, aber nicht mit solchen Luftnummern, wie Sie sie im Moment produzieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon lange abgelaufen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Solms. Ich dachte, Sie hätten es nicht gemerkt. ({0}) Außerdem müssen wir uns stärker mit dem Flächenverbrauch und der Qualifizierung der am Bau Beteiligten beschäftigen. Ich fordere Sie auf: Lesen Sie unseren Antrag! Dort finden Sie viele Tipps. Sie dürfen auch abschreiben. Wir nehmen es Ihnen nicht übel. Vielleicht können Sie in unserem Antrag Argumente finden, um die Regierung zu überzeugen. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Götz von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Klimaschutz in der Stadt“ ist ein wichtiges Zukunftsthema. Darüber sind wir uns in diesem Haus, wie ich denke, alle einig. Deshalb wollen wir den Klimaschutz, liebe Frau Kollegin Herlitzius, bei der anstehenden Novellierung des Baugesetzbuches im Bau- und Planungsrecht verankern; genauso ist es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben. ({0}) In unseren Städten und Gemeinden wird bereits heute viel für einen besseren Klimaschutz getan. Dafür sage ich ein herzliches Dankeschön an alle kommunalpolitisch Verantwortlichen vor Ort. ({1}) Ohne konkretes Handeln vor Ort sind unsere hochgesteckten Klimaziele nicht erreichbar. Mit dem neuen Förderprogramm der Bundesregierung mit dem Titel „Energetische Städtebausanierung“, das Sie angesprochen haben, werden gerade im Stadtquartier umfassende Maßnahmen bezüglich der Energieeffizienz der Gebäude, aber auch der Infrastruktur angestoßen. Inzwischen liegen die Eckpunkte dieses KfW-Förderprogramms des Bundes vor. ({2}) Entgegen der sonst üblichen Programme zur Städtebauförderung - da gibt es einen Unterschied; das ist richtig -, ({3}) bei denen sich Bund, Länder und Kommunen die Fördermittel teilen müssen, finanziert der Bund das Programm „Energetische Städtebausanierung“ zu 100 Prozent, also allein. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat ferner - auch dies sei gesagt - zu Beginn dieses Monats mit Geldern des Bundes ein neues Förderangebot hinsichtlich einer günstigen Finanzierung energieeffizienter kommunaler Beleuchtungen gestartet. Energiesparende Straßenbeleuchtung verbessert auch den Klimaschutz in der Stadt ganz konkret und vor allen Dingen schnell. ({4}) Viele Kommunen beschreiten diesen Weg schon heute. Sie profitieren davon durch geringere Energiekosten ganz erheblich. Um zum Antrag der Grünen, der zur Debatte steht und den wir lesen sollten, zu kommen - ich habe ihn gelesen -: In diesem Antrag wimmelt es geradezu von Forderungen nach neuen Vorschriften, Regulierungen und neuen Statistiken. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten zurückhaltender sein, wenn es darum geht, zu sehr in die Planungshoheit der Kommunen einzugreifen. ({6}) Unnötige bürokratische Zwänge nehmen den Kommunen die Möglichkeit, lokal angepasste, bestmögliche Lösungen vor Ort zu finden. Die engagierten Akteure vor Ort benötigen flexible Instrumente und keine Zwangsbeglückung. ({7}) Wenn wir wollen, dass Deutschland, wie der Bauminister formulierte, zum Weltmeister im Energiesparen wird, ist es wichtig, unnötige Gängelei zu vermeiden. ({8}) Freiwilligkeit und finanzielle Anreize sind allemal besser als irgendwelche Zwänge. Das gilt für die Bürger, für die Kommunen, für die Wirtschaft - egal ob für Eigenheimbesitzer, für Mieter oder für Vermieter. Wir brauchen vor Ort nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Energieeffizienz. Durch das Konjunkturpaket II wurde die energetische Sanierung kommunaler Gebäude - von Schulen und Kindergärten - mit all den vielen positiven Auswirkungen auch für die Städte, Kreise und Gemeinden angestoßen. Auch das war übrigens ein wichtiger Beitrag für den Klimaschutz. Außerdem haben wir das von Ihnen kritisierte CO2Gebäudesanierungsprogramm mit inzwischen über 7 Milliarden Euro angesetzt. ({9}) - Die 7 Milliarden Euro sind ausgegeben und haben Investitionen in einer Größenordnung von 78 Milliarden Euro ausgelöst. ({10}) Neben diesen konjunkturellen Effekten für das heimische Handwerk und für die Mieter, aber auch für die Vermieter haben wir erreicht, dass dadurch der CO2-Ausstoß alljährlich um 4,7 Millionen Tonnen reduziert worden ist. ({11}) Ich frage Sie von den Grünen: Warum nehmen Sie das nicht einfach einmal zur Kenntnis? ({12}) Wir alle wissen - Sie vielleicht nicht oder vielleicht auch doch, ich weiß es nicht -, dass die öffentlichen Mittel knapp sind und dass auch der Bundeshaushalt Sparzwängen unterliegt. Trotzdem sage ich an dieser Stelle klar und deutlich, dass dieses erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter ausgebaut werden muss, wenn wir die großen Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich aktivieren wollen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Götz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Herlitzius?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich erlaube, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Herlitzius. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie will halt noch einmal sprechen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Götz, nur eine Zwischenfrage. ({0}) Herr Ramsauer hat in seinem jetzigen Haushalt eine Haushaltserleichterung. Er hat dadurch knapp 700 Millionen Euro mehr für den Haushalt 2012 zur Verfügung. Warum steckt er diese Mittel in den Straßenbau und nicht in Programme für die energetische Sanierung oder für den Städtebau?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie jetzt den Haushalt 2011 meinen. Oder reden Sie vom Haushalt 2012? ({0}) - Sie reden jetzt vom Jahr 2012. - Die Beratungen für den Haushaltsplan 2012 beginnen erfahrungsgemäß im Laufe des Sommers. Das Kabinett trifft seine Entscheidung in der Regel kurz vor der Sommerpause. Die parlamentarischen Beratungen für den Haushalt 2012 beginnen im September. Sie werden im November dieses Jahres abgeschlossen, und wenn ich richtig informiert bin, haben wir jetzt gerade April. Was vorgelegt worden ist, ist ein Eckpunktekatalog, und ein Eckpunktekatalog ist für mich kein Haushaltsplan. ({1}): Sie kürzen beim Straßenbau!) Deshalb habe ich gerade eben gesagt: Wir müssen, um die Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich zu nutzen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter ausbauen. ({2}) Das war eine klare, deutliche Ansage. Da ist null zu wenig, um die Frage konkret zu beantworten. ({3}) Ich nenne einen weiteren Punkt: Wir sollten außerdem zur Motivation der Gebäudeeigentümer auch verstärkt die steuerlichen Aspekte von energetischen Sanierungsmaßnahmen einbeziehen. Klimaschutz und Energieeffizienz waren uns in der Vergangenheit wichtig und sind heute wichtig. Sie werden auch bei der Weiterentwicklung des Energiekonzepts eine ganz bedeutende Rolle spielen. Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, diese klimapolitischen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die kommende Novellierung des Baugesetzbuches und die Novellierung des Bau- und Planungsrechts bieten dazu ausgezeichnete Möglichkeiten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der SPD-Fraktion. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich merke schon, dass die Stimmung noch gut ist. Es ist ein wirklich wichtiges Thema, das die Grünen heute auf die Tagesordnung gebracht haben. Klimaschutz ist eine der großen Herausforderungen für die Städte. Zusammen mit dem demografischen und wirtschaftlichen Wandel und den wachsenden sozialen Differenzen in und zwischen Städten ist Klimaschutz eine zentrale Aufgabe nachhaltiger Stadtentwicklungspolitik. ({0}) Gemeinsam mit den Ländern und mit den Städten und Gemeinden trägt der Bund Verantwortung für die umwelt- und klimafreundliche sowie sozialintegrierende Entwicklung von Städten und Gemeinden, eine Verantwortung, der diese Bundesregierung, allen voran das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, leider in keiner Weise gerecht wird. ({1}) Für Oktober lädt das Ministerium zum 5. Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik ein. In der Einladung heißt es so schön: 2011 ist das Jahr, in dem die Städtebauförderung, ein wichtiger Baustein der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, 40 Jahre alt wird. Die Leistungen dieser Programme … werden deswegen … besonders gewürdigt und ein Ausblick in die Zukunft der Städtebauförderung gegeben. Auf diesen Ausblick bin ich gespannt, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nachdem Sie die Mittel für die Städtebauförderung im Haushalt zusammengestrichen haben. ({2}) Wir hören: Es soll weitere drastische Kürzungen im nächsten Haushalt geben. Kollege Götz, so einfach, wie Sie das gerade gemacht haben, können Sie sich nicht herausreden, weil die Eckwerte immerhin vom Kabinett beschlossen worden sind. ({3}) - Ja, das ist natürlich richtig. Wir haben das gehört und nehmen das zur Kenntnis. ({4}) - Das ist wirklich das Neueste. Ich danke den Kollegen für die Zwischenrufe. Mit einer Städtebauförderung, für die 2012 gemäß den Eckwerten nur noch 266 Millionen Euro zur Verfügung stehen könnten, ({5}) ist der notwendige ökologische Stadtumbau und die zugleich notwendige soziale Integration in den Städten und Gemeinden nicht zu leisten. ({6}) Laut Ihrem eigenen sogenannten Energiekonzept will die Bundesregierung die Quote für energetische Gebäudesanierung verdoppeln. Gleichzeitig streichen Sie aber die Mittel für die KfW-Programme zusammen - übrigens auch schon in dem von Ihnen beschlossenen letzten Haushalt. Nun hören wir, dass in den kommenden Haushalt überhaupt kein Geld mehr eingestellt werden soll, sondern dass der Energie- und Klimafonds eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Gebäudesanierung spielen soll. ({7}) Dass das eine sichere Finanzierung ist, haben im Oktober schon die Experten bezweifelt. ({8}) Inzwischen glaubt das doch selbst Ihr eigener Minister nicht mehr. ({9}) Peter Ramsauer schreibt in dem Liebe-Freunde-Brief - ich muss jetzt einmal zitieren -: Wie sich angesichts der neuen Sachlage diese Fondszuschüsse tatsächlich entwickeln, ist angesichts der aktuellen Situation kaum absehbar. Zudem sind in dem Sondervermögen ausschließlich Mittel für Zinsverbilligungen eingestellt, sodass ab 2012 keine investiven Zuschüsse mehr vergeben werden könnten. ({10}) Dies würde insbesondere die Häuslebauer treffen. - Das ist ein Originalzitat des Briefes von Bundesminister Ramsauer. So verunsichert man doch Investoren und Eigentümer, liebe Koalition. ({11}) Wer es ernst meint mit der Energiewende, der darf die Energieeinsparpotenziale bei Gebäuden nicht so sträflich vernachlässigen, wie diese Regierung das tut. ({12}) Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss die Kraft-Wärme-Kopplung und quartiersbezogene Lösungen der Energie- und Wärmeversorgung in nennenswertem Umfang fördern. Sie und wir alle sollten die Novelle zum Baugesetzbuch nutzen, um den Kommunen klimaschützende Maßnahmen zu erleichtern. Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss die Energieeffizienz deutlich erhöhen. Wenn Sie es nur wollten, dann könnten Sie die Energieeffizienz bis 2020 verdoppeln. Unser Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch. Wir wollen einen Energieeffizienzfonds schaffen, der es zum Beispiel Haushalten mit einem geringen Einkommen ermöglicht, alte, stromschluckende Geräte durch neue, energiesparende zu ersetzen. ({13}) Wer es ernst meint mit der Energiewende, Kollege Döring, der muss die Energieversorgung in kommunaler Hand stärken; denn es sind doch die Stadtwerke, die die erneuerbaren Energien mit vorangebracht haben. ({14}) - Ja, das sagen die Richtigen. - Stattdessen hat die Regierung einen teuren und immer teurer werdenden Deal mit den Stromkonzernen gemacht, durch den diese Bemühungen ausgebremst werden. Geben Sie den Stadtwerken doch Planungssicherheit für ihre Investitionen in erneuerbare Energien und faire Wettbewerbsbedingungen. ({15}) Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss aber auch eine umwelt- und klimaverträgliche Mobilität fördern. Ein Finanzierungskreislauf Straße dient dem gewiss nicht. Wir brauchen eine konsequente Förderung von öffentlichem Nahverkehr, Fahrradfahren, Zu-FußGehen, innovative Formen der Automobilität und deren intelligente Verknüpfung. ({16}) Wir brauchen an dieser Stelle doch einen Masterplan Personenverkehr! Dass eine solche umwelt- und klimafreundliche Verkehrspolitik in Peter Ramsauer keinen Fürsprecher hat, zeigt sich doch anhand von zwei Beispielen: Erstes Beispiel. Noch vor 2014 steht nicht nur die Revision der ehemaligen Gemeindeverkehrsfinanzierung, sondern auch die Revision der Regionalisierungsmittel an. ({17}) Bisher vermisse ich jegliche Aussage der Regierung dazu, wie sie eine ausreichende Finanzierung kommunaler Verkehrsinvestitionen und des öffentlichen Nahverkehrs nach 2014 sichern wird. ({18}) Dem öffentlichen Nahverkehr fehlt nicht nur eine sichere finanzielle Basis, sondern auch ein sicherer Rechtsrahmen. Nun endlich hat das Ministerium einen Entwurf für die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz vorgelegt, der den Anforderungen hinsichtlich einer rechtssicheren Umsetzung der Verordnung jedoch in keiner Weise genügt. Was noch schwerer wiegt: Die kommunale Verantwortung für die Daseinsversorgung wird durch diesen Entwurf untergraben. Ich hoffe nur, dass dieser Entwurf am Ende des Tages so nicht in das Gesetzblatt kommt. ({19}) Das zweite Beispiel ist mein Lieblingsbeispiel, weil ich seit Jahren dafür kämpfe. Seit Jahr und Tag fordern wir, den Kommunen die Einrichtung von CarsharingParkplätzen zu ermöglichen. So gut wie alle vom Städtetag bis zum ADAC sind dafür. Das war das eindeutige Ergebnis der Anhörung im Verkehrsausschuss im Dezember. Bisher gibt es immer noch keine Initiative der Regierungsfraktionen, um diese kleine, aber sehr wichtige ordnungspolitische Maßnahme auf dem Weg in die Mobilität der Zukunft umzusetzen. ({20}) Wenn wir ehrgeizige Ziele wie die im EU-Verkehrsweißbuch geforderte völlige Abschaffung der mit konventionellem Kraftstoff betriebenen Pkws in Städten bis 2050 erreichen wollen, ({21}) brauchen wir einen breitangelegten Ideenwettbewerb für städtische Mobilitätskonzepte. Ob Shared Space, wie es im Grünenantrag steht, hier das beste Mittel der Wahl ist, weiß ich nicht. Ich denke, es muss darum gehen, mit Beteiligung der Menschen vor Ort integrierte Konzepte für Mobilität und Wohnen zu entwickeln. Aus der sozialen Stadtentwicklung haben wir schon Erfahrungen mit der Bewohnerbeteiligung und vor allen Dingen auch mit der ressortübergreifenden Kooperation. Diese Erfahrungen lassen sich übrigens auch gut für eine integrierte Verkehrs- und Stadtentwicklungsplanung nutzen. Nicht nur das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“, wie es die Grünen fordern, muss in die Köpfe und Programme Eingang finden, sondern auch eine fachübergreifend angelegte Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung, die möglichst wenig Verkehr produziert. ({22}) Die von uns begonnene Stärkung der Innenentwicklung muss fortgesetzt werden. Voraussetzung ist der politische Wille, integriert zu denken, vor allen Dingen endlich auch wieder im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist eine lange Liste überwiegend bedenkenswerter Vorschläge. Ich würde mich dann aber auch freuen, wenn Sie uns zu Ihren zahlreichen Spiegelstrichen wie der Forderung nach einer Grundsteuerreform auch Umsetzungsvorschläge machen würden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Abend. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Müller von der FDPFraktion. ({0})

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag wird eine Reihe von Themenkreisen aufgegriffen: Städtebauförderung, Energiesparfonds, Baunutzungsverordnung, Flächennutzungsplan. Es geht um Nahwärmenetze, Frischluftschneisen und Wärmerückgewinnung, Radverkehrsbenutzungspflichten, Emissionswerte, Tempo 30 innerorts, City-Maut, Weiterbildung von Bauleuten und Studiencurricula für Architekten und Bauingenieure. ({0}) Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist kein Antrag, sondern ein Forderungskatalog. Es ist ein Forderungskatalog ohne Konzept, völlig überfrachtet und ohne jedes Maß. Es ist eine Zumutung für die Kommunen. ({1}) - Das stimmt, nicht? Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge greifen Sie entweder Einzelaspekte aus dem Baugesetzbuch heraus - ich erinnere nur an die denkenswerten und selbstverständlich medienwirksamen Anträge vor der Baden-WürttembergWahl zur Intensivtierhaltung im Außenbereich und zu Spielhallen in Innenstädten -, oder Sie fordern Änderungen am Baugesetzbuch in zusammenhangloser Fülle wie heute. Damit machen Sie eine konzentrierte Sachdebatte zu wichtigen Themen leider unmöglich. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben die Novellierung des Baugesetzbuches in den Koalitionsvertrag geschrieben, ({2}) und wir setzen es um. Wir werden Planungsrecht und Planungsziele weiterentwickeln. Wir werden die Innenstadtentwicklung stärken, Genehmigungsverfahren entbürokratisieren, den demografischen Wandel berücksichtigen und den Klimaschutz verankern. ({3}) Daran arbeiten wir längst. In der zweiten Jahreshälfte werden wir in diesem Hohen Hause mit den Beratungen zur Novellierung des Baugesetzbuches beginnen. Bis Anfang 2012 soll der Prozess abgeschlossen sein. Im Ausschuss und im Plenum werden Sie alle die Möglichkeit haben, sich einzubringen. Ich denke, damit ist das Thema dann endgültig abgeschlossen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die energetische bzw. die dynamische Stadtentwicklung ist ein erklärtes Ziel liberaler Politik. Wir müssen die Förderprogramme verstetigen - ich wiederhole mich zum x-ten Male -, insbesondere das Programm zur CO2-Gebäudesanierung. Wir werden aber nicht beim einzelnen Gebäude stehen bleiben. Nein, die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich für den Schritt hin zu quartiersbezogenen Betrachtungen ein. ({5}) Dazu legt die Koalition das neue KfW-Programm „Energetische Städtebausanierung“ auf. Damit haben wir den Nagel genau auf den Kopf getroffen. ({6}) Als hätten Sie mir das Stichwort gegeben: An erster Stelle steht natürlich die Haushaltskonsolidierung. Dazu haben sich CDU/CSU und FDP verpflichtet. Ich glaube, der Schuldenbremse haben auch Sie zugestimmt. Das war doch so, oder? Angesichts der Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung ist es umso wichtiger, Förderprogramme so zu gestalten, dass Eigeninitiative und Petra Müller ({7}) Engagement der Bürgerinnen und Bürger angeregt werden, dass sich Private und Privatwirtschaftliche einbringen können. ({8}) Ein Programm ist eben nur ein Instrument. Aber so ausgestaltet ist es ein urliberales Instrument. In Ihrem Antrag wird die Polarisierung von Stadt und Land hervorgehoben. Besondere Beachtung verdient der ländliche Raum. Kleine Städte und Gemeinden dürfen nicht gegen große, urbane Ballungszentren ausgespielt werden. Aus den spezifischen Problemen der Städte darf keine baurechtliche oder förderpolitische Bevorzugung abgeleitet werden, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. ({9}) Mit dem Bundesprogramm „Kleine Städte und Gemeinden“ sorgen wir auch zukünftig für Daseinsvorsorge und urbane Weiterentwicklung in dünnbesiedelten Räumen. ({10}) In dem vorliegenden Antrag finden sich viele, vielleicht zu viele Ideen auf einmal. Wir müssen uns nicht rituell bekämpfen. Wir als liberale Fraktion ({11}) sehen einen inhaltlichen Konsens in vielen Punkten. Aber wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Heute geht es auch nicht um Zustimmung, sondern um Überweisung. Schauen Sie einmal in die Tagesordnung! Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen gibt eine gute Übersicht über die Dinge, die im städtischen Klimaschutz anzupacken wären. Wir finden es gut, wo die Schwerpunkte liegen, nämlich bei Energieeffizienz im Gebäudebestand und bei Neubauten, bei Anpassungsmaßnahmen wie Frischluftschneisen, bei der Verringerung des Flächenverbrauchs - das ist ganz wichtig - und natürlich bei nachhaltiger Mobilität. Erneuerbare Energien werden in Städten eine wichtige Rolle spielen. Aber im Unterschied zu Gemeinden im ländlichen Raum sind die Möglichkeiten hier sicherlich begrenzt, jedenfalls im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Weil 40 Prozent der Endenergie im Gebäudesektor verbraucht werden, liegen unserer Ansicht nach hier die größten Einsparmöglichkeiten, allerdings aus sozialer Sicht auch die größten Konfliktpotenziale. Die Rechnung, dass sich energetische Sanierungen im Bestand durch die Energieeinsparung von selbst rechnen, geht nach dem, was wir wissen, nur bei sehr alten, bis dato unsanierten Gebäuden auf. Kein Wunder, wer bis heute vor allem die Umwelt heizt, hat enorme Energierechnungen, die sich bei guter Dämmung und effizienten Heizungen extrem verringern. Solche Häuser machen aber nur circa 15 Prozent des Gebäudebestands aus. Bei der Mehrzahl der Gebäude haben wir ein wirtschaftliches Dilemma. Die Häuser sind zwar schlechter isoliert, als es nötig wäre, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Durch sie pfeift aber auch nicht der Wind. Die Heizkosten sind vielfach überschaubar, jedenfalls noch. Eine Sanierung ist jedoch fast ebenso aufwendig wie bei einer Bruchbude. Unter dem Strich könnten auf Familien Kostensteigerungen in Höhe von mehreren Hundert Euro pro Monat zukommen. Das wäre aber nicht akzeptabel. Bei Eigenheimbesitzern mit 800 Euro Rente ist auch nichts mehr mit Eigeninitiative. Das heißt, öffentliche Fördermittel sind dringend erforderlich, um Klimaschutz- und Sozialpolitik zueinanderzubringen. Aber genau hier hat die Bundesregierung den Rotstift gezückt. Die Mittel für das KfW-Gebäudesanierungsprogramm wurden halbiert. ({0}) Gleichzeitig wurde angekündigt, die mögliche Umlage für Investitionen auf die Kaltmiete der Mieter von 11 Prozent der Kosten zu erhöhen. Es ist also kein Wunder, dass das Klimaschutzgesetz in Berlin scheitern musste. Konsequente Vorschriften für den Klimaschutz im Gebäudebereich würden nach jetziger Rechtslage sowie bei jetziger Subventionspraxis nichts anderes bedeuten als Sozialabbau in Größenordnungen. Das aber wird die Linke nicht mitmachen; denn es ist nicht alternativlos. ({1}) Es geht darum, drei Seiten zu einem Dreieck zueinanderzubringen: erstens die sozialen Interessen der Mieterinnen und Mieter, zweitens die Vorgaben für Sanierung und Neubau, die es möglich machen, anspruchsvolle Klimaschutzziele zu erreichen, und drittens die berechtigten wirtschaftlichen Interessen der Vermieter. ({2}) Dieses Dreieck zu bilden, gelingt dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht. Dies ist aber die eigentliche Herausforderung, für die es nicht nur mehr Mittel aus dem Bundesetat geben muss, sondern auch Innovationen im Mietrecht und im BGB. Ehrlich gesagt sind die meisten Experten ziemlich ratlos, wenn es darum geht, das sogenannte Vermieter-Mieter-Dilemma aufzulösen. Da der Vermieter alle Heizkosten auf die Mieter umlegen kann, hat er kein ökonomisches Interesse an Sanierungen. Andererseits werden gesetzliche Verpflichtungen zu energetischen Sanierungen, wie bereits erwähnt, Mieterinnen und Mieter vielfach überfordern. Bei Zuschüssen oder Kreditprogrammen der öffentlichen Hand wiederum ist nur schwer zu verhindern, dass ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte für die Hauseigentümer entstehen. In den Ausschüssen sollten wir uns für dieses Thema genügend Zeit nehmen und es sehr ernsthaft diskutieren, um dann auch wirklichen Klimaschutz zu erreichen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Volkmar Vogel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Die Debatte eben war natürlich nicht so harmonisch wie die, die wir zum Feuerwehrführerschein geführt haben. Das ist aber auch ganz klar, es handelt sich hier ja nicht um eine Vorlage von uns, die wir die Zusammenhänge immer ganzheitlich darstellen und bei denen auch große Mehrheiten möglich sind. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn man all Ihren Vorschlägen nachkommen und Ihre Forderungen erfüllen will, kommt das einem Ausbremsen der Schuldenbremse schon ziemlich nahe. ({2}) Noch eines muss ich dazu sagen: Vieles von dem hätten Sie ja auch mit Minister Tiefensee verwirklichen können. ({3}) - Kommt gleich! - Ich glaube, bei vielen Dingen hätten wir wahrscheinlich nur eine geringe Gegenwehr an den Tag gelegt, und wir wären heute schon ein Stück weiter. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der Antrag, den Sie heute vorlegen, ist eigentlich nichts Neues. ({4}) Er entspricht in weiten Teilen dem, was wir bereits im Energiekonzept festgelegt haben und woran wir bereits arbeiten. ({5}) Wenn ich das vergleiche, dann muss ich sagen: Ja, auch wir sagen natürlich, der Gebäudebereich ist ein wichtiger Faktor bei der gesamten Energieeffizienzsteigerung; ja, wir müssen die Programme verstetigen, wir müssen sie ausbauen und verzahnen. ({6}) Wir sagen Ja zur Vorbildwirkung des öffentlichen Bereichs, vor allen Dingen für den Bereich des Bundes, für den wir zuständig sind. Wir sagen auch Ja zu weiterer besserer Beratung sowie zu weiterer besserer Fortbildung und fachlicher Anleitung. ({7}) Wir sagen natürlich auch Ja zu differenzierten Betrachtungen der unterschiedlichen Strukturen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, alles das ist nichts Neues. ({8}) Ich muss an der Stelle aber auch sagen - Kollegin Müller und auch Peter Götz haben es bereits angesprochen -: Wir sagen auch Nein. Wir sagen vor allen Dingen Nein, wenn es um die Vernachlässigung von kleinstädtischen und ländlichen Strukturen geht. ({9}) Und wir sagen Nein, wenn es um Benachteiligung oder nicht angemessene gleichwertige Behandlung von kleinteiligen privaten Gebäudestrukturen geht, die ja immerhin über 80 Prozent des gesamten Gebäudebestandes ausmachen. ({10}) Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen auch Nein, wenn es - auch das steht im Antrag - um die Ungleichbehandlung der Verkehrsträger geht. Die Union will - ich denke, da sind wir uns mit den Kollegen von der FDP einig - breit aufgestellte Strukturen in allen Bereichen. ({11}) Das macht uns krisensicher, das haben die letzten Monate gezeigt. In der Wohnungspolitik sind wir immer gut mit einem Mix aus Kommunal-, Genossenschafts- und Privateigentum gefahren. Volkmar Vogel ({12}) ({13}) In der Infrastrukturpolitik müssen wir Straße, Schiene und Wasserstraße sinnvoll ergänzen, je nachdem, welche Vorteile der einzelne Verkehrsträger mit sich bringt. ({14}) Wir müssen in unserem Handeln den Bedürfnissen der Menschen folgen und nicht umgekehrt. ({15}) Ich sage das deswegen, weil uns das Ordnungsrecht nicht in jedem Fall, sondern immer nur bedingt weiterhilft. ({16}) Wir brauchen einfache, nachvollziehbare, planbare klimapolitische Prinzipien, die ihre Wirkung in der Stadt und auf dem Land sowohl auf dem großen gemeinschaftlichen Wohnungsmarkt als auch auf dem privaten Wohnungsmarkt entfalten können. Der Gebäudebereich hat ein riesiges Energieeinsparpotenzial, das es zu aktivieren gilt, ohne die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen jemals aus dem Auge zu verlieren. ({17}) Die Potenziale sind im ländlichen wie im städtischen Bereich immens. Für uns gelten folgende Prämissen: Wir geben die Standards und die zu erreichenden Ziele vor; aber wir lassen die Technologien, die zur Umsetzung dieser Standards und zur Erreichung dieser Ziele notwendig sind, weitgehend offen. Technologieoffenheit ist also eines unserer Prinzipien. ({18}) Wir folgen konsequent dem Wirtschaftlichkeitsgebot und respektieren damit die Eigentumsgarantie. Beides kann man ordnungspolitisch nicht außer Kraft setzen. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass eine CDU/CSUgeführte Regierung schon in der letzten Legislaturperiode Prioritäten gesetzt hat, zum Beispiel mit den Konjunkturprogrammen. In diesen Programmen waren die in Ihrem Antrag geforderten und bei uns nach wie vor auf der Agenda stehenden energetischen Maßnahmen bei öffentlichen Gebäuden - Schulen, Turnhallen, Kindergärten - und die kommunalen Strukturen insgesamt im Fokus. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat ein großes Stück vom Konjunkturprogrammkuchen abbekommen - zu Recht! ({19}) Ich möchte daran erinnern, dass dieses Programm eigentlich im Jahr 2011 auslaufen sollte. Unser Bestreben ist, es zu verstetigen und weiterzuentwickeln. Ab diesem Monat werden über das KfW-Programm wieder hocheffiziente Einzelmaßnahmen gefördert. Das ist ein wichtiger Schritt, um Förderung in der Breite zu betreiben. Die förderfähige Gebäudekulisse in den KfW-Programmen wird im kommunalen Bereich auf Nichtwohngebäude erweitert. ({20}) Das ist ein weiteres Beispiel für den Ausbau. Außerdem werden wir die energetische Städtebausanierung auf den Weg bringen. Wir haben dafür im Baubereich federführend die Instrumente mit dem Baugesetzbuch, der Städtebauförderung, dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm und der Energieeinsparverordnung als Ordnungsrahmen. Diese Instrumente ergänzen sich. Wir können und werden sie sinnvoll verzahnen. Auch das werden wir machen. Es wird einen Fahrplan zur energetischen Sanierung von Bundesbauten geben. Damit werden wir auch der Vorbildwirkung des Bundes und des öffentlichen Bereiches insgesamt gerecht. Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was wir mit dem Energiekonzept auf den Weg gebracht haben, und dafür, was wir noch umsetzen wollen. Das heißt konkret, wir sind schon weiter als das, was in Ihrem heutigen Antrag gefordert wird. ({21}) Wir machen Angebote an alle Akteure, nicht nur an die Stadt, nicht nur an bestimmte Eigentümerstrukturen, nicht nur im Hinblick auf das Ordnungsrecht. Wir handeln vielmehr technologieoffen und wirtschaftlich, wir schaffen Anreize zur Eigeninitiative, um tatsächlich eine Breitenwirkung zu erzielen. ({22}) Nur wenn uns das gelingt, können wir unsere klimapolitischen Ziele erreichen. Wir werden den Antrag der Grünen nicht mittragen. Ich freue mich schon auf die Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein11766 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt haben wir noch eine Reihe von Tagesordnungspunkten, bei denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich bitte Sie, so lange hierzubleiben, bis das Ganze formal abgewickelt ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften - Drucksache 17/5311 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Ziel des in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften ist es, die Rentenleistungen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte Personen - zum Beispiel Wehr- und Zivildienstopfer, Gewaltopfer, SED-Opfer - nach dem Bundesversorgungsgesetz so anzupassen, dass sie ab dem 1. Juli 2011 in gleicher Höhe in ganz Deutschland gezahlt werden. Mit Ausnahme der Grundrentenbezieher der Kriegsbeschädigten und SEDOpfer erhielten die Anspruchsberechtigen in den neuen Ländern bislang nur 88,71 Prozent der in den alten Ländern gewährten Leistungen. Daher möchte ich mich der Bewertung meiner Kollegen anschließen, dass wir mit der Gesetzesänderung einen wichtigen Beitrag zur gerechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von Regierungsregimen und Gewalttaten leisten, Unterschiede zwischen Ost und West bereinigen und damit konkret zur Gerechtigkeit in unserem Land beitragen. Die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenen Änderungen setzen den Beschluss des Bundesrates vom 18. März 2011 um. Auf Bitten des Bundesrates soll sichergestellt werden, dass die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten zugutekommt. Gerade für die Bestandsfälle sind dafür Gesetzesänderungen nötig. Um den Berufsschadensausgleich bei Bestandsfällen zu gewährleisten, ist eine ergänzende Klarstellung im Bundesversorgungsgesetz vorgesehen. Gleichzeit muss im Unterstützungsabschlussgesetz, das auf das BVG verweist, noch eine Änderung erfolgen. Schließlich soll mittels des heute in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzes zusätzlich auch der Bitte des Bundesrates entsprochen werden, den Stichtag für den zeitlichen Geltungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes in den neuen Ländern korrekt zu benennen. Die Bundesregierung kommt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes nach, wonach alle Bezieher von Leistungen aus dem Bundesversorgungsgesetz im EU-Ausland identische Leistungen erhalten müssen. Im Falle der Grundrenten von Anspruchsberechtigten aus osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten wurde mit der Umsetzung bereits begonnen. Mithilfe dieses Änderungsgesetzes soll nun die europaweite Angleichung erfolgen. Das Recht der Auslandsversorgung und -fürsorge würde damit maßgeblich vereinfacht und entbürokratisiert. Dass in Zukunft Leistungen gekürzt oder in ihrem bisherigen Umfang beschnitten werden, verhindert eine in den Gesetzentwurf integrierte Besitzstandsregelung. In Übereinstimmung mit meinen Kollegen in der Fraktion halte ich den Gesetzentwurf für ein gelungenes Beispiel für eine Vereinfachung bestehender gesetzlicher Regelungen. Damit liefern wir einen weiteren Baustein für das in unserem Koalitionsvertrag festgehaltene Ziel, Bürokratieabbau, gesetzliche Vereinfachungen und Transparenz voranzubringen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der alten und neuen Bundesländer. Damit setzt er ein klares Zeichen für Gerechtigkeit in unserem Land. Handlungsbedarf entstand, da Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht bis heute - über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung - in den alten und neuen Bundesländern nicht gleich sind. Ausgenommen davon sind die Grundrenten für Kriegsbeschädigte und SED-Opfer. Zudem sind die für die Berechnung des Berufsschadensausgleichs nach dem Bundesversorgungsgesetz erforderlichen Vergleichseinkommen kaum noch nachvollziehbar festzustellen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung präsentiert hierfür eine gerechtere, transparentere und einfachere Lösung: Zunächst wird die Höhe der Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz in den neuen Ländern angepasst. Damit erhalten Berechtigte nach dem Sozialen Entschädigungsrecht in den neuen Ländern nicht wie bisher nur geminderte Rentenleistungen - sie erhielten bisher nur 88,71 Prozent der in den alten Ländern erbrachten Leistungen -, sondern Leistungen in voller Höhe. Diese werden voraussichtlich ab dem 1. Juli 2011 in ganz Deutschland einheitlich sein. Dies ist ein wichtiger Schritt, der für Kriegsopfer in den neuen Ländern für mehr Gerechtigkeit sorgt und für das widerfahrene Leid entschädigen soll. Vom neuen Gesetz profitieren in den neuen Ländern etwa 40 000 Menschen. Die neuen Regelungen sind - neben den Kriegsopfern und den Opfern des SED-Regimes - auch auf Wehrdienst- und Zivildienstopfer und auf Opfer von Gewalttaten anzuwenden und führen damit zu einer zumindest finanziellen Besserstellung dieser Menschen und zu einer gerechteren Entschädigung. Mit dem Gesetzentwurf kommt die Bundesregierung auch dem EuGH-Urteil nach. Demnach müssen alle BePaul Lehrieder zieher von Leistungen aus dem Bundesversorgungsgesetz im EU-Ausland identische Leistungen erhalten. Das BMAS hat mit einem Rundbrief vom 17. Juni 2009 bereits mit der Umsetzung begonnen, sodass die Grundrenten von Berechtigten in osteuropäischen EU-Staaten bereits angeglichen werden konnten. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt nun eine vollständige Umsetzung dar. Damit wird das Recht der Auslandsversorgung und -fürsorge maßgeblich vereinfacht und entbürokratisiert. Das neue Gesetz umfasst darüber hinaus wesentliche Verbesserungen beim Berufsschadenausgleich. So wurde die Berechnung des Ausgleichs, den Berechtigte nach dem Sozialen Entschädigungsrecht erhalten, erheblich vereinfacht. Eine Besitzstandsregelung gewährleistet, dass niemand in Zukunft geringere Leistungen bekommt als bisher. Damit die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten zugutekommt und dies bei Bestandsfällen auch für den Berufsschadenausgleich gewährleistet ist, muss im Bundesversorgungsgesetz eine Klarstellung eingefügt werden und im Unterstützungsabschlussgesetz, das auf das Bundesversorgungsgesetz verweist, noch eine Änderung erfolgen. Diese Anregungen des Bundesrates sollen zusätzlich berücksichtigt werden. Der Gesetzentwurf ist ein gelungenes Beispiel für eine erfolgreiche Vereinfachung bestehender gesetzlicher Regelungen. Die christlich-liberale Koalition hält sich damit an das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel, für Bürokratieabbau, Vereinfachungen und Transparenz zu sorgen. Erlauben Sie mir, die entsprechende Passage aus dem Koalitionsvertrag zu zitieren: Regeln sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll als erforderlich. Notwendige Regelungen müssen schlank und verlässlich, Verwaltungs- und gerichtliche Verfahren zügig sein. Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur gerechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von Regierungsregimen und Gewalttaten, bereinigt Unterschiede zwischen Ost und West und leistet einen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau und zur Gerechtigkeit.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

20 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt es sich politisch nicht mehr vermitteln, dass unterschiedliche Rentenberechnungssysteme in Ost und West existieren. Ebenso wenig kann man den Leuten vermitteln, dass die Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht noch immer unterschiedlich sind. Die Initiative der Bundesregierung ist hier also richtig, denn sie sorgt dafür, dass Opfer in Ost und West nicht länger benachteiligt werden, und stellt auch klar, dass es in diesem Land keine Wertigkeit von Opfern gibt und geben darf. Allerdings stelle ich fest, dass es Missverständnisse über die Wirkung einzelner Regelungen gibt; so haben mich Schreiben erreicht, wonach Bürgerinnen und Bürger befürchten, dass der § 87 mit Bezugnahme auf den § 56 BVG dazu führen kann, dass die Leistungen des Berufsschadenausgleichs nach Entwicklung des allgemeinen Rentenwerts und des allgemeinen Rentenwerts Ost unterschiedlich angepasst werden könnten. Das würde dem Ansinnen des Gesetzes zuwiderlaufen, und hier sollte eine Klarstellung im Wege des parlamentarischen Verfahrens erfolgen. Als Behindertenbeauftragte meiner Fraktion begrüße ich auch die zusätzlichen Klarstellungen zum persönlichen Budget. Weiterhin ist auch die Regelungsabsicht zu begrüßen, das von SPD und Union auf den Weg gebrachte Assistenzpflegebedarfsgesetz zu erweitern. Es soll klargestellt werden, dass auch Berechtigte nach dem Bundesversorgungsgesetz ihre Pflegekräfte mitnehmen können, wenn eine stationäre Behandlung im Krankenhaus nötig sein sollte. Wenn Sie diese Regelung treffen, um eine Gleichbehandlung herbeizuführen, frage ich mich allerdings, warum Sie nicht gleich auch den Rechtskreis auf Menschen ausweiten, die von einem Pflegedienst versorgt werden. Es ist keinem Menschen mehr zu erklären, warum er seinen Pflegeassistenzbedarf nur dann im Krankenhaus erhalten soll, wenn er die Pflegekräfte selbst beschäftigt. Mittlerweile ist die Praxiswirkung der Regelung bekannt, und es ist überfällig, zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten eine geeignete Lösung zu finden. Weiterhin besteht die Frage, warum nicht auch auf den Bereich stationäre Reha ausgeweitet wird. Was unterscheidet denn am Ende den Aufenthalt ohne Assistenz im Krankenhaus vom Aufenthalt in der stationären Reha? In beiden Fällen sind die Einrichtungen finanziell und personell nicht in der Lage, bedarfsgerechte Assistenz und Pflege zu erbringen. Hier bedarf es also aus behindertenpolitischer Sicht noch einmal eines größeren Wurfes, der den tatsächlichen Bedarf in den Blick nimmt.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir debattieren heute das Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften. Der vorliegende Gesetzentwurf berührt einen der Kernpunkte des deutschen Sozialversicherungsrechts. Zwar betreffen die vorliegenden Änderungen zahlenmäßig nicht außerordentlich viele Menschen, sie zeigen aber sehr deutlich das Verständnis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Geprägt von der Grundidee der Solidarität - dass derjenige, der der Hilfe der Gemeinschaft bedarf, die ihm zustehende Unterstützung erhält - zeigt sich die Stärke unserer Gesellschaft auch in dieser Frage. Da dies die erste Lesung ist, möchte ich gerne ein wenig genauer auf den vorliegenden Gesetzentwurf eingehen, der im Wesentlichen drei Punkte betrifft. Erstens. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung werden wir endlich die Höhe der Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz in den neuen Bundesländern an die der alten Bundesländer angleichen. Die bisherige Ungleichbehandlung hat in dieser Bundesrepublik keinen Platz mehr. Die Angleichung entspricht auch einer langjährigen Forderung von Betroffenen, Verbänden Zu Protokoll gegebene Reden und Ländern. Damit sollen die circa 40 000 meist hochbetagten Kriegsopfer in den neuen Bundesländern dieselben Leistungen wie die Kriegsopfer in den alten Bundesländern erhalten. Dies ist ein weiterer Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz Deutschland und so zur Verwirklichung der Deutschen Einheit. Zweitens. Die Auslandsversorgung und -fürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz wird reformiert. Dies war nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Dezember 2008 notwendig geworden, da bisherige Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes zur ({0})Versorgung von Kriegsopfern in ost- und südeuropäischen EU-Mitgliedstaaten gegen EU-Recht verstoßen. Die in diesen Staaten gezahlten Leistungen müssen die gleiche Höhe haben wie die Leistungen an Berechtigte mit Wohnsitz in anderen EU-Mitgliedstaaten. Durch unsere Änderungen wird das Recht der Auslandsversorgung und -fürsorge zugleich wesentlich vereinfacht und entbürokratisiert mit dem Ziel einer einheitlichen Auslandsversorgung und -fürsorge für alle Berechtigten im Ausland - auch außerhalb der EU. Drittens. Berechtigte nach dem sozialen Entschädigungsrecht, die durch erlittene gesundheitliche Schäden Nachteile haben, erhalten einen Berufsschadenausgleich. Ebenfalls eine Frage der Entbürokratisierung war die Entscheidung, für die circa 20 000 Berechtigten als Vergleichseinkommen bei der Berechnung neuer Berufsschadenausgleiche zukünftig nur noch die Einkommen des öffentlichen Dienstes heranzuziehen. Somit wird auch an eine bereits seit vielen Jahrzehnten bewährte Systematik in diesem Bereich angeknüpft, die den das Gesetz ausführenden Behörden bekannt ist. Durch eine Besitzstandsregelung wird sichergestellt, dass niemand in Zukunft eine geringere Leistung als bisher erhält. Im Übrigen werden in dem Gesetz Klarstellungen und redaktionelle Änderungen, die aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung und als Folge von Änderungen anderer Gesetze erforderlich geworden sind, vorgenommen. An der ein oder anderen Stelle besteht möglicherweise noch Beratungsbedarf. Mir ist bekannt, dass es aus dem Bundesrat möglicherweise noch Nachbesserungsbedarf gibt, und entsprechende Beiträge werden wir selbstverständlich in die Debatte einbeziehen. Dieser vorliegende Gesetzentwurf enthält wichtige Änderungen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte Personen. Daher würde ich mich freuen, wenn über die Parteigrenzen hinweg diese Regelungen breite Zustimmung finden würden.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung hat recht, wenn sie in ihrem Gesetzentwurf als Problem konstatiert: „Auch 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es immer noch Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern in Bezug auf die Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht.“ Deswegen - hier sind sich Bundesregierung und die Linke einig - sollte die Höhe der Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, BVG, endlich angeglichen werden. Warum dies erst jetzt geschieht, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Es wird höchste Zeit, die Leistungshöhen auch im Rentenrecht sowie bei Löhnen und Gehältern zwischen Ost und West anzugleichen und so bestehendes Unrecht zu verringern. In diesem Zusammenhang erinnere ich nochmals an die 19 Anträge der Linken zu verschiedenen Bereichen der Rentenüberleitung, welche der Bundestag am 24. Februar 2011 mit Mehrheit erneut ablehnte. Da der heute vorliegende Gesetzentwurf direkt Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen beeinflusst, muss er sich auch an der UN-Behindertenrechtskonvention messen lassen. Dies schließt ein, dass der Bundesbehindertenbeauftragte sowie die betroffenen Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertretungen in das Gesetzgebungsverfahren aktiv einbezogen werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbinden sich für mich jedoch noch weitere Fragen: Wer sind eigentlich die Bezieher von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz? Warum erhalten Menschen mit vergleichbaren Behinderungen nicht auch Leistungen nach diesem, sondern nach anderen Gesetzen? Das BVG sieht laut § 7 BVG Leistungen für Deutsche und deutsche Volkszugehörige sowie für andere Kriegsopfer vor, wenn sie ihren Wohnsitz in Deutschland haben und ihre gesundheitliche Schädigung im ursächlichen Zusammenhang mit dem Dienst in der deutschen Wehrmacht oder einem militärähnlichen Dienst in einer deutschen Organisation bzw. in Deutschland oder einem deutsch besetzten Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten ist. Insgesamt sind heute noch laut Bundessozialministerium rund 250 000 Personen bzw. deren Angehörige versorgungsberechtigt, darunter 8 000 aus dem Ausland. Die über 80 Prozent aus der ehemaligen BRD kommenden Personen erhalten durchschnittlich 400 Euro pro Monat, die aus der DDR kommenden Versorgungsberechtigten 240 Euro. Warum gilt das Bundesversorgungsgesetz eigentlich nicht für alle Menschen mit Behinderungen? In einer Kleinen Anfrage zum Contergan-Skandal - dies ist die Bundestagsdrucksache 17/2915 vom 14. September 2010 - fragte die Linke die Bundesregierung: „Wodurch unterscheiden sich die Leistungen an Contergangeschädigte qualitativ und quantitativ von Leistungen gemäß dem Bundesversorgungsgesetz, BVG, und was spräche aus Sicht der Bundesregierung dafür bzw. dagegen, die Versorgung von Contergangeschädigten auf der Grundlage des BVG zu gewährleisten?“ Die Antwort der Bundesregierung lautete: „Leistungen aus dem Bereich der Sozialen Entschädigung kann gemäß § 5 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch erhalten, ‚wer einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen‘ einzustehen hat. Erforderlich ist daher ein Sonderopfer, wie es zum Beispiel Kriegsopfer erbracht haben, oder das Vorliegen eines Aufopferungstatbestandes, wie zum Beispiel bei Menschen, die während des Wehr- oder Zivildienstes oder durch eine Gewalttat geZu Protokoll gegebene Reden sundheitlich geschädigt worden sind. Beides ist bei contergangeschädigten Menschen nicht der Fall.“ Ich halte das für problematisch. Das ist das klassische Denken nach dem Kausalitätsprinzip: Die Ursache der Beeinträchtigung ist ausschlaggebend für die Leistung. Wäre es nicht überfällig, endlich dem Finalitätsprinzip zu folgen? Das hieße: gleicher Leistungsanspruch bei vergleichbarer Beeinträchtigung. Notwendig ist meines Erachtens auch die gründliche Prüfung der Einwände des Bundesrates. Dazu gehört, sicherzustellen, dass von der im Gesetzentwurf vorgesehenen Anhebung auf die Leistungshöhen in den alten Ländern auch alle bisher in den neuen Ländern noch abgesenkten Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem BVG oder den Nebengesetzen - insbesondere nach dem Gesetz über den Abschluss von Unterstützungen der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen erfasst werden. Des Weiteren ist die für den Berufsschadenausgleich und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene Übergangs- und Besitzstandsregelung noch einmal mit Blick auf die beabsichtigte Gewährung gleicher Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht in den neuen und alten Ländern zu überprüfen, damit mit dem Gesetz nicht Regelungen eingeführt werden, die zu einer substanziell erheblichen Verschlechterung bei den Leistungen aus dem Berufsschadenausgleich für betroffene Geschädigte führen. In diesem Sinne wird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf in den Ausschüssen konstruktiv diskutieren.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Großen und Ganzen begrüßen wir den vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften, stellt doch die volle Angleichung der Höhe der Entschädigungs- und Rentenleistungen in den neuen Ländern ab 1. Juli 2011 an die Leistungshöhen in den alten Ländern einen wichtigen Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz Deutschland dar. Es ist zudem erfreulich, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates ankündigt, die dort geäußerten Änderungen zu berücksichtigen. Hierbei geht es insbesondere um die Erfassung aller bisher in den neuen Bundesländern noch abgesenkten Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem BVG oder den Nebengesetzen. Wir werden die Bundesregierung beim Wort nehmen und in den kommenden Ausschussberatungen darauf dringen, insbesondere die für den Berufsschadenausgleich und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene Übergangs- und Besitzstandsregelung darauf zu überprüfen, ob die beabsichtigte Gewährung gleicher Leistungshöhen in Ost und West auch wirklich eintritt. Darüber hinaus hat das Gesetz zum Inhalt, die Auslandsversorgung im Nachgang zum Urteil des EuGH vom 4. Dezember 2008, wonach Berechtigte nach dem BVG mit Wohnsitz in osteuropäischen Ländern der Europäischen Union keine abgesenkten Leistungen im Vergleich zu anderen EU-Staaten erhalten dürfen, europarechtskonform auszugestalten. Auch diese Regelung ist zu begrüßen. Klärungsbedarf besteht von unserer Seite allerdings noch bezüglich der Änderung der Regelungen zum Berufsschadenausgleich. So sieht der Berufsschadenausgleich vor, in Zukunft wie bei selbstständig tätigen Beschädigten berechnet zu werden. Berechtigte nach dem Sozialen Entschädigungsrecht, die durch die erlittene gesundheitliche Schädigung berufliche Nachteile haben, erhalten einen Berufsschadenausgleich, zu dessen Berechnung vom BMAS jährlich Vergleichseinkommen bekanntgegeben werden, die auf Erhebungen des Statistischen Bundesamtes beruhen. Die Bundesregierung sieht hier Änderungsbedarf, weil viele Berufe heute in dieser Form nicht mehr existierten. Auch die statistische Ermittlung der Einkommen habe sich durch EU-Vorschriften verändert. Allein durch solche statistischen Effekte seien die Vergleichseinkommen zum Teil um mehrere hundert Euro gestiegen. Zum 1. Juli 2011 soll die Berechnung - für Neuanträge - auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Höhe soll in Zukunft wie bei Selbstständigen ermittelt werden; Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A. Die Beträge sollen im einzelnen Fall zum 30. Juni 2011 festgestellt und dann in den Folgejahren wie die gesetzlichen Renten angepasst werden. Hierfür bedarf es einer Änderung der Berufsschadenausgleichsverordnung. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt unsererseits nicht absehbar, welche unmittelbaren Folgen eine solche Regeländerung mit sich bringt. Dies werden wir im Laufe des parlamentarischen Verfahrens klären müssen. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf eine weitere Änderung bzw. Ergänzung eingehen. Der vorgelegte Gesetzentwurf schreibt explizit fest, welche Leistungen des BVG Teil eines persönlichen Budgets im Sinne des § 17 SGB IX sein können. Vorbehaltlich der Prüfung, ob damit auch alle budgetfähigen Leistungen abgedeckt werden, ist es durchaus positiv, wenn Leistungsgesetze den rehabilitationsträgerübergreifenden Rechtsanspruch auf ein persönliches Budget entsprechend abbilden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5311 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Täterverantwortung - Drucksache 17/1466 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gewalt in den eigenen vier Wänden gehört für viele Frauen und Kinder in Deutschland noch immer zum Alltag - sicherlich eine unvorstellbare Tatsache für die meisten von uns. Jährlich flüchten circa 45 000 physisch, sexuell oder psychisch misshandelte Frauen mit ihren Kindern in eines der circa 400 Frauenhäuser oder in vergleichbare Zufluchtswohnungen. Da längst nicht alle häuslichen Gewalttaten gemeldet werden, haben wir es in diesem Kontext mit einer hohen Dunkelziffer zu tun. Nach über zwanzigjähriger intensiver Arbeit der Frauenhäuser, die dem enormen Andrang von Gewaltopfern kaum gewachsen sind, liegt der Fokus schon seit einiger Zeit darauf, vermehrt mithilfe interdisziplinärer Interventionsprojekte das Problem häuslicher Gewalt in den Griff zu bekommen. Ein Schwerpunkt des Gewaltinterventionsprozesses soll dabei vor allem auch auf der sogenannten Täterarbeit liegen. Da häusliche Gewalt oftmals nicht mit Freiheitsentzug bestraft wird und eine Geldbuße häufig auch das mit dem Täter zusammenlebende Opfer zusätzlich schädigt, erweisen sich Täterprogramme als geeignete Alternative im Umgang mit Gewaltstraftätern. Täterarbeit steht dabei für Maßnahmen in Form sozialer Trainingskurse, in denen sich gewalttätige oder potenziell gewaltbereite Männer mit ihren Taten auseinandersetzen, die Verantwortung für ihre Gewalthandlungen übernehmen und alternative, nicht gewalttätige Verhaltensweisen erlernen sollen. Diesbezüglich hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e. V. bundesweite Standards für qualifizierte Täterprogramme erarbeitet. Langfristig sollen Täter durch Verantwortungsübernahme und Selbstkontrolle von der Wiederholung ihrer Taten abgehalten werden. Täterarbeit kann damit ein wichtiges Element der Gewaltprävention und des Opferschutzes sein. Wie die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung der Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt in Deutschland zeigen, ist die Täterarbeit im Kontext von Interventionsprojekten eine sinnvolle und richtige Maßnahme. Zwei Drittel der in der Studie berücksichtigten Männer haben das Programm abgeschlossen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Erkenntnis: Diejenigen Täter, die aufgrund einer justiziellen Weisung oder Auflage - die in den letzten Jahren in Fällen häuslicher Gewalt durch Staats- oder Amtsanwaltschaft in der Praxis bereits angewandt wurden - an einem Programm teilgenommen haben, schließen dieses signifikant häufiger ab als die anderen Teilnehmer. Dass sich gewalttätige Männer aus eigener Initiative heraus zu einem Täterprogramm anmelden, ist äußerst selten der Fall. Der Druck von außen trägt also nicht nur zur Absolvierung, sondern auch zum Abschluss eines Programms bei. Der Gesetzentwurf zur Täterverantwortung des Bundesrates trägt dieser Erkenntnis Rechnung und schlägt vor, mit einigen Änderungen die Möglichkeiten, Straftäter durch staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen Täterprogrammen zuzuweisen, zu erweitern. So wird § 153 a StPO um die Möglichkeit der Auflage erweitert, dass Staatsanwaltschaft und Gericht das Verfahren vorläufig einstellen und den Be- bzw. Angeschuldigten anweisen können, an einem Täterprogramm teilzunehmen. Die vorgesehene Frist zur Erfüllung dieser Auflage wird auf bis zu ein Jahr erweitert. Der Katalog bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 a StGB wird in dessen Absatz 2 um die Möglichkeit der Weisung erweitert, dass der Täter an einem Täterprogramm teilnimmt. Auch die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellungnahme positiv zu dem Entwurf des Bundesrates geäußert und misst der Gewaltprävention und dem Opferschutz eine hohe Bedeutung zu. Es kann nur in unser aller Interesse sein, die häusliche Gemeinschaft und die partnerschaftlichen Konflikte zu befrieden und so weit wie möglich aus der öffentlichen Strafverfolgung auszunehmen. Durch die Teilnahme an qualifizierten sozialen Trainingsprogrammen werden den Tätern Handlungsalternativen zur Gewalt eröffnet. Erfahrungsgemäß leugnen diese Täter zunächst ihre Gewaltbereitschaft. In den Fällen jedoch, in denen sie sich dem Druck eines Strafverfahrens ausgesetzt sehen, müssen sie sich auch dieser Verantwortung stellen. Oftmals kann der Konflikt nicht gelöst werden, solange sich der Täter nicht aktiv mit seiner Gewaltbereitschaft auseinandersetzt. Weigert er sich, an einem Täterprogramm teilzunehmen, bricht er es ab oder wird er rückfällig, droht ihm die Konsequenz der strafrechtlichen Verfolgung. Demgegenüber steht die Bundesregierung der Fristverlängerung von sechs Monaten auf ein Jahr im Rahmen der Auflage des § 153 a StPO kritisch gegenüber, da diese im Spannungsfeld des Grundgedankens stehe, innerhalb einer überschaubaren Frist eine Entscheidung herbeizuführen, um das Verfahren dann endgültig einzustellen. Hier sollten wir doch nochmals genau hinschauen. Zum einen ist bereits jetzt im Rahmen des § 153 a StPO eine Fristverlängerung von drei weiteren Monaten vorgesehen; das heißt, sie ist bereits jetzt schon auf faktisch neun Monate möglich. Des Weiteren ist bei der Auflagenweisung der Unterhaltspflichtverletzung eine Frist von einem Jahr bekannt. Demnach ist die Frist des § 153 a StPO von der Art der Weisung abhängig. Auf das Täterprogramm bezogen handelt es sich nun aber um eine Auflage, bei der sich erweist, dass der Erfolg nicht binnen einer kurzen Frist von sechs Monaten erzielbar ist. Der Täter unterzieht sich einem langwierigen Prozess sozialer Verhaltensänderung. Dies kann nicht von heute auf morgen passieren, sondern es nimmt viel Zeit in Anspruch. Daher erscheint aus meiner Sicht die Frist von einem Jahr im Hinblick auf die im Gesetzentwurf des Bundesrates in Rede stehende Tätergruppe durchaus ausgewogen. Die Bundesregierung kritisiert ferner, den Begriff „Täterprogramm“. Er sei nicht sachkonform gewählt, da die Weisung, an einem Programm teilzunehmen, bereits während des Ermittlungsverfahrens erfolgen kann. Der Begriff „sozialer Trainingskurs“ sei die bessere Wahl. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob diese Begrifflichkeit der beabsichtigten VerantwortungsüberZu Protokoll gegebene Reden nahme des Täters gerecht werden kann, wenn man lediglich von einem „Training“ spricht. Abschließend darf ich einen weiteren Punkt ansprechen, der im Gesetzentwurf des Bundesrates bislang keine Berücksichtigung findet, über den wir allerdings in der weiteren Debatte ebenfalls beraten sollten. Oft bagatellisieren die Täter ihre Tat und weisen die Schuld von sich. Für die begleitenden Trainer wäre es daher von großem Vorteil, den gesamten Sachverhalt zu kennen, um ihn in ihre Arbeit einbeziehen zu können. Daraus ergibt sich unter Umständen die Notwendigkeit, personenbezogene inhaltliche Daten aus den Ermittlungs- bzw. Strafakten zugänglich zu machen. Schließlich wären daraus folgende Ergebnisse auch für die Auswertung der Erfahrungsberichte von Bedeutung. Eine entsprechende Regelung könnte, wie auf Länderebene bereits diskutiert wird, in § 155 b StPO eingefügt werden. In der Sache sehen wir den Gesetzentwurf des Bundesrates grundsätzlich positiv. Eine Erweiterung der zuvor angesprochenen notwendigen personenbezogenen inhaltlichen Datenübermittlungen für die Arbeit im sozialen Trainingsprogramm in § 155 b StPO sollte für die Zukunft überlegt werden. Insgesamt ist der Gesetzentwurf ein weiterer richtiger Schritt auf dem langen Weg der Bekämpfung häuslicher Gewalt.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die SPD begrüßt den Gesetzentwurf. Der Schutz der Opfer von Straftaften ist eine wichtige Aufgabe der Strafjustiz. Grundlage ist das Straf- und Strafverfahrensrecht, und hier hat der Gesetzgeber vor allem im letzten Jahrzehnt zur Verbesserung des Opferschutzes schon viel getan. Der Vorschlag des Bundesrates, der auf die Initiative von Rheinland-Pfalz zurückgeht, ist nun ein weiterer Baustein, der das Regelwerk verdichten wird. Er dient dem vorbeugenden Opferschutz, weil er darauf abzielt, Gewalttäter künftig verstärkt in Verantwortung nehmen und auf Verhaltensänderungen hinwirken zu können. Konkret geht es darum, den Rahmen dafür zu schaffen, dass Staatsanwälte und Gerichte, die Ermittlungsbzw. Strafverfahren einstellen, besser als bisher einem Täter qua Weisung die Pflicht auferlegen können, an speziellen sozialen Trainingskursen oder Täterprogrammen teilzunehmen. Zweck solcher Kurse und Programme ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen auf der Seite des Täters zu bewirken und ihm die Fähigkeit zu vermitteln, Verantwortung zu übernehmen und Selbstkontrolle auszuüben. Grundgedanke ist, dass die Bestrafung der Täter durch Geldbußen, Geldstrafen bzw. Haftstrafen nicht automatisch zu einer kritischen Auseinandersetzung der Täter mit ihrem Gewaltverhalten und zur Beendigung des gewalttätigen Verhaltens führt. Mit solchen Programmen können Täter lernen, ihre Wahrnehmungen und Verhaltensweisen zu ändern. Im Rahmen von strukturierten Täterprogrammen finden Gruppensitzungen, aber auch Einzelgespräche mit den Tätern statt. Sie sollen befähigt werden, Verantwortung für ihr Tun zu erkennen, zu übernehmen und sich besser zu kontrollieren. Die Täterarbeit verbreitert somit zugunsten des Opferschutzes die Möglichkeiten, insbesondere Ersttäter vor dem Begehen weiterer Straftaten zu bewahren, und erhöht die Chance, dass sich anbahnende kriminelle Karrieren erst gar nicht verfestigen. Richtig ist, dass es dieses Instrument grundsätzlich auch schon heute gibt. Bei geringer Schuld kann ein Strafverfahren gegen Auflagen oder Weisungen eingestellt werden, und eine solche Weisung kann auch schon heute lauten, an einem speziellen Programm teilzunehmen, zum Beispiel an einem Antigewalttraining. Nicht nur, aber gerade auch zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Beziehungsdelikten wird die Täterarbeit schon seit etlichen Jahren als Teil einer Interventionskette eingesetzt, weil die Gewalthandlungen von Tätern gegenüber ihrem Partner bzw. Expartner gezielt und strukturiert bearbeitet werden. Erfüllt der Täter die Weisung nicht, drohen ihm Anklage oder Verurteilung. Dies motiviert namentlich solche Täter zur Teilnahme, die bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten sind. Allerdings schreibt die Strafprozessordnung bislang vor, dass eine Weisung innerhalb von sechs Monaten erfüllt sein muss. Demgegenüber sind sich die Fachleute und Praktiker einig, dass ein strukturiertes Programm mindestens sechs Monate dauert. Dazu kommen das Aufnahmeverfahren und etwaige Folgetermine. In der gesetzlichen 6-Monate-Frist liegt somit das Problem in der Praxis. Sie ist schlicht zu kurz. Der vorliegende Entwurf bietet hier eine einfache wie gute Lösung an: Die Frist von sechs Monaten wird auf eine Frist von bis zu einem Jahr verlängert. Dadurch können Staatsanwälte oder Gerichte künftig Ermittlungs- bzw. Strafverfahren einstellen und zugleich die Weisung erteilen, dass der Beschuldigte innerhalb eines Jahres an einem qualifizierten Täterprogramm teilnimmt. Ebenfalls eine gute Lösung hält der Entwurf dafür parat, dass künftig auch bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Teilnahme an einem Täterprogramm angeordnet werden kann. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach dem Strafgesetzbuch ist praktisch der richterliche „Schuss vor den Bug“ des Angeklagten: Das Gericht stellt die Schuld des Täters fest und bestimmt die Strafe, wobei die Verhängung der Strafe vorbehalten bleibt; besteht der Täter die Bewährungszeit, bleibt er unbestraft. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt hat gegenüber der Einstellung des Verfahrens den Vorteil, dass sie eine gerichtliche Schuldfeststellung enthält. Das kann Opfern eine gewisse Genugtuung verschaffen. Wünschenswert wäre es, wenn in den anstehenden Ausschussberatungen für den Begriff „Täterprogramm“ eine Alternative gefunden würde. Wie schon das Bundesjustizministerium der 16. Legislaturperiode weist auch das jetzige zutreffend darauf hin, dass der Begriff „Täterprogramm“ auf einen Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ zurückgeht und mittlerweile feststehender Fachbegriff konkret für diesen Täterkreis ist, und schlägt daher vor, statt des Zu Protokoll gegebene Reden Begriffs „Täterprogramm“ den Begriff „sozialen Trainingskurs“ zu verwenden.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir beraten heute eine Initiative aus den Ländern zur stärkeren Betonung der Täterverantwortung nach Fällen häuslicher Gewalt. Wir greifen damit im Sinne des Opferschutzes einen Bundesratsbeschluss aus dem Jahr 2008 auf, der in der letzten Wahlperiode nicht mehr beraten wurde. Mit dem Entwurf sollen die Möglichkeiten verbessert werden, Straftäter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täterprogrammen zuweisen zu können. Es sollen bei den Tätern Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen erreicht und dadurch neuerliche Gewalttaten vermieden werden. Ziel sind damit zugleich Kriminalitätsverhinderung und vorbeugender Opferschutz. Aus liberaler Sicht ist die aus dem Gesetzesvorschlag sprechende Forderung an Straftäter zu begrüßen, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst besser zu kontrollieren. Mit dieser Ausrichtung ergeben sich gerade für nicht vorbelastete Personen Anreize zur Teilnahme an entsprechenden Programmen. Dass wir mit dem Aufgreifen des Länderentwurfes auf einem guten Weg sind, zeigt auch die Unterstützung durch den Deutschen Richterbund. Der Ausbau der Täterprogramme als Auflage stärkt den Opferschutz deutlich. Es ist nachgewiesen, dass Geldstrafen zwar die Opfer mittelbar selbst treffen, jedoch das Verhalten des Täters nicht entscheidend verändern. Hier würde dann eine pädagogisch-therapeutische Maßnahme eher greifen, um neue Gewalttaten zu verhindern. Lassen Sie mich dennoch in der ersten Lesung einige kritische Bemerkungen machen. Jeder, der aus der polizeilichen und staatsanwaltlichen Praxis kommt, weiß, dass häusliche Gewalt in nahezu gleichem Umfang Frauen wie Männer trifft. Dies ist ein Tabu in der Debatte, weil das Gewaltthema gerne ausschließlich bei Männern abgeladen wird. Gewalt wird aber nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ausgeübt. Wir sollten uns deshalb in den Beratungen mit der Frage befassen, wie auch dieser Form von Gewaltanwendung besser begegnet werden kann. Die Gesetzesänderungen müssen den Opfern jedweder Gewalt zugutekommen. Die Bundesregierung hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass sich im Strafgesetzbuch die Bezeichnung „Täter“ für noch nicht verurteilte Personen verbietet. Wir sollten hier nach einer besseren Formulierung suchen. Insgesamt ist es aber eine begrüßenswerte Initiative, die wir in den nun beginnenden Beratungen unterstützen werden.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung von Täterverantwortung zu eigen gemacht, und deshalb debattieren wir ihn heute. Wir sind uns alle einig darin, dass häusliche Gewalt ein sehr ernst zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch einig darin, dass die Täterverantwortung gestärkt und vor allem die Präventionsarbeit verbessert werden muss. Wir sind uns einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu Verhaltensänderungen beizutragen. Wir sind uns auch alle einig, dass häusliche Gewalt gesellschaftlich geächtet gehört. Ich will aber an dieser Stelle darauf hinweisen, dass beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist und dass die Dunkelziffer im Bereich der häuslichen Gewalt immer noch ausgesprochen hoch ist. Häusliche Gewalt gilt bedauerlicherweise immer noch zu häufig als Kavaliersdelikt. Wir sind uns einig darin, dass Betroffenen häuslicher Gewalt schnell und unbürokratisch geholfen werden muss. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf Frauenhäuser? Die Linke fordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung der Frauenhäuser und einen ungehinderten Zugang für alle betroffenen Frauen und deren Kinder, unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft. Täterprogramme sind notwendig und wichtig, aber die Opfer sollten nicht unberücksichtigt gelassen werden. Wenn der Rechtsanspruch auf eine Zufluchtsmöglichkeit in allen Fällen von Gewalt als freiwillige Leistung gewährt wird, führt das, auch wegen der Steuerpolitik der Regierung zulasten der Kommunen, häufig zu weitreichenden Kürzungen und damit zur Einschränkung von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten. Unser Problem mit dem Gesetzentwurf ist zunächst ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschreibung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die Verlängerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StPO vorgeschlagen wird. Mein Kollege Nešković hat bereits am 16. Februar 2009 in der „taz“ alles Wesentliche dazu gesagt: „Nötig ist nicht die Legalisierung des Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht geringfügigen Straftaten.“ Worum geht es genau: Wir sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns einig sind, dass in Fällen häuslicher Gewalt zum Opferschutz und zur Prävention Täterprogramme mit dem Ziel durchzuführen sind, Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen zu erreichen, dann ist nicht nachvollziehbar, dass bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfahren eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als: Du darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterprogramm besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein. Das ist ein Skandal. Insofern geht der Gesetzesentwurf an dieser Stelle in die falsche Richtung. Solange der Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Dem Gesetzentwurf hätte es aber auch gut zu Gesicht gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Täterprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass es keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Festschreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend Täterprogramme vorhanden sind. Das erscheint uns zumindest als ein mindestens ebenso großes Problem. Vor diesem Hintergrund fordern wir ein umfassendes Konzept im Umgang mit häuslicher Gewalt, zu dem neben der Ächtung derselben die Ausfinanzierung von Frauenhäusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen gehörten. Zu Protokoll gegebene Reden

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Sanktionenrecht im deutschen Strafrecht ist immer noch zentral ausgerichtet auf Geld- und Freiheitsstrafen. Weitere und effektivere Einwirkungs- und Ahndungsmöglichkeiten wurden bisher immer nur als Einzelmaßnahmen und wenig systematisch ins Sanktionensystem eingefügt. Zu erwähnen ist hier an erster Stelle die Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Seit Jahrzehnten wird über eine Generalrevision diskutiert, es gibt viele Vorschläge - nur leider liegen sie nicht auf dem Tisch, sondern in den Schubladen des Justizministeriums und der Rechtspolitik. Die rot-grüne Koalition hat zweimal - 2002 und 2004 Gesetzentwürfe vorgelegt, die letztlich am Widerstand der Union, der Länder und einer zaudernden SPD gescheitert sind. Die damalige Kritik aus den Reihen der CDU/CSU, alle Ansätze zur Diversion würden auf eine Straflosigkeit von Straftätern und auf ein täterfreundliches Strafrecht hinauslaufen, wird - so hoffe ich - heute nicht mehr so vorgetragen werden. Zu klar und deutlich ist inzwischen, dass entpönalisierende Maßnahmen sehr wohl eine messbare spezial- und generalpräventive Wirkung haben können und einen Beitrag zum zukünftigen Opferschutz leisten. Auch die Bundesländer sehen - hoffentlich - inzwischen ein, dass die Kosten der Diversion sich doppelt auszahlen, denn nichts ist teurer als die Geldeintreibung und der Strafvollzug als einzige Antworten des Strafrechts auf strafwürdiges Verhalten. Der heute zu diskutierende Vorschlag des Bundesrates geht in die richtige Richtung. Allerdings ist das nur eine minimale Korrektur oder, besser gesagt, Ergänzung des Sanktionensystems, was ein weiteres Nachdenken und Arbeiten an einer Reform des Sanktionensystems nicht ersetzen kann. Aber immerhin: Damit signalisieren auch die Länder, dass sie den Elementen der Diversion nicht mehr apodiktisch negativ entgegenstehen. In der Sache geht es darum, ein aus dem Bereich der Verfolgung von häuslicher Gewalt entwickeltes Instrument der Einwirkung auf gewalttätige Männer zu einer allgemeinen Maßnahme im Sanktionensystem zu etablieren. Konkret geht es um sogenannte Täterprogramme, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ entwickelt und mit Erfolg eingesetzt werden. Diese Täterprogramme sind ein gewaltzentriertes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Männer, bei dem vielfältige pädagogisch-therapeutische Ansätze, Konzeptionen und Methoden verfolgt werden. Solche Programme als Ersatz oder Vorstufe zur Geldoder Freiheitsstrafe sind richtige und längst notwendige Sanktionsmaßnahmen eines modernen Strafrechts. In der Sache ähneln sie sicher den bereits im Jugendstrafrecht eingeführten „sozialen Trainingskursen“ als Weisungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG. Der Bundesrat schlägt vor, solche Täterprogramme ausdrücklich als Weisungen in Fällen der Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 a StPO und als Anweisungen bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt nach §§ 59, 59 a StGB aufzuführen und dabei die Frist zur Erfüllung der Weisung nach § 153 a StPO auf ein Jahr zu verlängern. Nach § 153 a StPO ist schon jetzt die Verhängung einer solchen Weisung möglich, was sich aus dem Wort „insbesondere“ ergibt. Die Aufzählung der Weisungsmöglichkeiten im Gesetz ist nicht abschließend. Allerdings bleibt richtig, dass die regelmäßige Frist von sechs Monaten zur Weisungserfüllung kontraproduktiv kurz ist. Deshalb wird im Verlauf der parlamentarischen Beratungen zu prüfen sein, ob es sich nicht anbietet, die Frist von sechs Monaten generell auf ein Jahr anzuheben. Für die Weisung, Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen, ist dies bereits jetzt geltendes Recht. Auch in Fällen der Weisung der Wiedergutmachung des verursachten Schadens oder der Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung in Raten sind viele Beschuldigte überfordert, die jeweiligen Weisungen innerhalb von sechs Monaten zu erfüllen. Unter Umständen würde eine solche generelle Verlängerung der Frist auf ein Jahr ausreichend sein, um der Forderung des Bundesrates nach einer Ausweitung der Weisung nachzukommen. Wenn allerdings eine ausdrückliche Erwähnung der Weisung im § 153 a StPO in Betracht gezogen wird, um ihre gewollte erweiterte Verhängung deutlich zu machen, dann ist jedenfalls der Auffassung der Bundesregierung zu folgen, wonach es sich verbietet, Beschuldigte ohne eine rechtskräftige Verurteilung als „Täter“ zu bezeichnen. Auch die Formulierung des Bundesrates, den Begriff „Täterprogramm“ zu verwenden, engt die Möglichkeiten der Nutzung dieser Weisung eher ein. Denn dieser Begriff ist für Männer, die im häuslichen Umfeld gewalttätig werden, eingeführt. Deshalb wird auch im Rahmen von § 59 a StGB eine ähnliche Formulierung, wie sie schon im Jugendstrafrecht vorliegt, vorzuziehen sein. Wir Grüne werden uns an der parlamentarischen Debatte mit eigenen Vorschlägen beteiligen und erwarten von der Koalition, insbesondere von der Fraktion der CDU/CSU, dass der Vorschlag des Bundesrates konstruktiv aufgenommen wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen - Drucksache 17/5377 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Die Reden nehmen wir zu Protokoll.

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erst vor drei Wochen haben wir über das Thema Dioxin debattiert. Nun liegt heute ein Antrag der Linken vor, der sich des Themas erneut annimmt. Doch neu geschrieben ist nicht neu gedacht, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Aber gern lege ich Ihnen noch einmal die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Dioxinvorfällen dar: Im vergangenen Jahr, genauer: am 21. Dezember, drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastungen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Januar - nur 24 Tage später - stellte Bundesagrarministerin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am 2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetzliche Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans. Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ersten Dioxinmeldungen! Ich wiederhole: anderthalb Monate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung kennt, der weiß, was dieser Zeitraum bedeutet. Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wieder einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untätigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert. CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert. Das ist verantwortungsvoller Verbraucherschutz! Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein dickeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregierung kann ich mir kaum vorstellen. Bevor ich zu der heute in erster Lesung zu beratenden Novelle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches komme, lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Dioxinvorfällen sagen. Ich denke, das ist, auch wenn wir darüber schon debattiert haben, bitter nötig. Die Rolle, die die Opposition und ein Teil der Medien hier gespielt haben, war höchst verantwortungslos. Anstatt zur sachlich-fachlichen Aufklärung beizutragen, überschlug man sich in immer hysterischeren Überschriften. Und während der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages die Vorfälle um das dioxinverschmutzte Futtermittel diskutierte, hatte die Opposition nichts Besseres zu tun, als den Sitzungssaal zu verlassen und der Presse angebliche neue Skandale in die Feder zu diktieren. Wir hätten uns eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition gewünscht. Doch von dieser kam, wie so häufig in der Vergangenheit, nur ein destruktives Skandalisieren. Ihr Antrag spiegelt diese oppositionelle Unsachlichkeit beispielhaft wider - und das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben. Dann kann man eigene politische Ziele am besten umsetzen. Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergangen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundesinstitut für Risikobewertung die wenigen geringen Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebensmitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich eingestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland - gut zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Muttermilch - seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen ist und heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten liegt. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie betreiben politischen Missbrauch auf dem Rücken der Verbraucher mit dem Ziel, Ihre sogenannte ökologische Agrarwende zu erreichen. Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus: Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Landwirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in dieser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD und Linke eigentlich sind. De facto ist es doch so: Die moderne, arbeitsteilige und intensive Landwirtschaft ist dafür verantwortlich, dass die Menschen heute nur 11 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen. Die moderne Landwirtschaft ist unter anderem dafür verantwortlich, dass die Lebensmittel heute qualitativ so hochwertig sind wie nie zuvor. Die moderne Landwirtschaft produziert für die Verbraucher Lebensmittel gut und preiswert. Das nenne ich wirklich nachhaltig! Verschonen Sie uns also bitte mit Ihrem Gerede von der Agrarwende! Niemand will die Situation schönreden. Es hat die Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben. Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminellen Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um individuelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswirkungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende bäuerliche Familien. Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkommen als Folge der Dioxinpanscherei lassen sich schon an den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den vergangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Geflügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt sich, was von der von der Opposition propagierten ökologischen Systemwende und den darin verborgenen Anschuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter! Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft. Wir müssen vorwärtsschauen und vorwärtshandeln. Was wir, was die Bundesregierung und - das darf nicht vergessen werden - was auch die EU plant, sind Maßnahmen, um Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher für Betrüger noch kleiner werden. Zu Protokoll gegebene Reden Am 24. März wurde die 41. Verordnung zur Änderung der Futtermittelverordnung dem Bundestags zugeleitet. Hierin wird eine Zulassungspflicht für bestimmte Futtermittelhersteller sowie eine Trennung der Produktionsströme von Fetten und Ölen, die als Futtermittel verwendet werden, geregelt. Zudem wird vorgeschrieben, dass diese Betriebe Eingangsuntersuchungen auf Dioxine und dioxinähnliche Stoffe durchzuführen haben. Damit werden die Punkte 1 bis 3 des Aktionsplanes der Bundesregierung und der Länder umgesetzt. Des Weiteren sind Änderungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch in der Umsetzung. Diese betreffen insbesondere die Punkte 4 und 8 des Aktionsplanes, also die Meldepflicht von privaten Laboren, wenn sie erhöhte Werte bei ihren Untersuchungen von Futtermittelproben feststellen, sowie die Meldepflicht bei internen Untersuchung von Unternehmen, bei denen erhöhte Werte festgestellt worden sind. Sie sehen, die Bundesregierung ist auf einem guten Weg.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor mehr als drei Monaten, am 23. Dezember 2010, wurde bekannt, dass ein skrupelloses Futtermittelunternehmen dioxinbelastetes Futter in Umlauf gebracht hatte. In der Folge wurden erhöhte Grenzwerte in Eiern, in Geflügel- und Schweinefleisch nachgewiesen. Mehrere Tausend landwirtschaftliche Betriebe wurden gesperrt, und Verbraucherinnen und Verbraucher waren zutiefst verunsichert. Die SPD-Bundestagsfraktion legte daraufhin umgehend einen Forderungskatalog vor, um Konsequenzen aus diesem Skandal zu ziehen. Diese wurden dann weitgehend in den Aktionsplan des Bundes und der Länder „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transparenz für den Verbraucher“ aufgenommen. Auch im vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen“ finden sich unsere Forderungen wieder; das freut uns. Insofern liegt uns aber hier nichts Neues vor, und einige der geforderten Maßnahmen befinden sich bereits in der Umsetzung bzw. werden beraten, wie zum Beispiel im Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuches, LFGB, die Meldepflichten für private Labore und Planungen für ein Dioxinmonitoring. Natürlich ist es aber generell richtig, dass aus dem Dioxinskandal die nötigen Lehren gezogen werden müssen und das Thema weiter auf die Tagesordnung gehört. Alle Beteiligten müssen die geplanten Maßnahmen zügig abarbeiten, und wir als Opposition müssen immer wieder darauf hinweisen und nachfragen. So liegen zum Beispiel auch heute noch keine Planungen für den von uns geforderten weiteren Ausbau der Rückverfolgbarkeitssysteme vor. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Herkunft von Lebensmitteln und auch Futtermitteln über alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen lückenlos nachverfolgen können. Und dies muss auch europaweit gelten. Wir brauchen im Lebensmittelbereich die gläserne Produktion vom Acker bis auf die Teller der Verbraucherinnen und Verbraucher, denn nur so kann Vertrauen in die Sicherheit von Lebensmitteln wiederhergestellt werden. Darin sind wir uns mit der Linken einig. Wir freuen uns auch darüber, dass die Linke in ihrem Antrag unsere Forderung nach einem Informantenschutz aufgreift. Auch wir wollen, dass Zivilcourage gefördert wird, und kritisieren die Bundesregierung, die den Informantenschutz nicht regeln will. Wir fordern, dass Insider, die die zuständigen Behörden über Missstände bei ihren Arbeitgebern informieren, gesetzlich vor Kündigung geschützt werden. Auch in der Vergangenheit wurden Lebensmittelskandale nur durch Insider aufgedeckt. Eine Regelung für die sogenannten Whistleblower sollte bereits als Konsequenz aus dem Gammelfleischskandal im Jahre 2008 gezogen werden. Der damalige Verbraucherschutzminister Seehofer konnte sich aber nicht gegenüber der CDU durchsetzen. Und Frau Aigner hat eine Regelung beim jetzigen Dioxinskandal gar nicht erst in Erwägung gezogen. Also werden wir als SPD zeitnah einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. In dem vorliegenden Antrag der Linken steht auch zu Recht, dass das Verbraucherinformationsgesetz, VIG, endlich zu verbessern ist. Das VIG muss unverzüglich novelliert und an die neuen Anforderungen angepasst werden. Sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungsergebnisse sollen in einer Datenbank veröffentlicht werden. Dies hat unabhängig davon zu geschehen, ob Grenzwerte eingehalten oder unterschritten wurden. Auch auf EU-Ebene muss die Bundesregierung umgehend die Initiative ergreifen, damit eine Positivliste für Futtermittel europaweit verbindlich eingeführt wird. Aber auch die Bundesländer sind gefragt. Sie müssen die notwendigen Maßnahmen ergreifen und ihre Kontrollsysteme auf den Prüfstand stellen. Ein bundesweit einheitliches Niveau der Lebensmittelüberwachung muss erarbeitet werden, und verstärkte Kontrollen in den Betrieben sind nötig. Die bundesweite Internetplattform mit Lebensmittelwarnungen muss endlich freigeschaltet werden. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wohin belastete Lebensmittel geliefert wurden, und müssen sich rechtzeitig informieren können. Um jetzt nicht noch einmal alle SPD-Forderungen zu wiederholen, möchte ich abschließend nur noch einmal grundsätzlich feststellen: Es darf bei allen Beteiligten, die für die Konsequenzen aus dem Dioxinskandal verantwortlich sind, nicht bei bloßen Absichtserklärungen bleiben, sondern Taten müssen folgen. Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten zu Recht Ergebnisse, um wieder auf die Qualität der Lebens- und Futtermittel vertrauen zu können. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir sind sehr dafür, Lehren aus dem Dioxinvorfall zu ziehen, und wir haben dies längst getan. Der Antrag kommt also zu spät. Als Erstes sollten wir uns bewusst sein, dass die Ursache des Dioxinvorfalls nach bisheriger Kenntnis auf kriminelles Handeln zurückzuführen ist. Das bewusste Fehlverhalten des Betriebes hat zu dem überhöhten Gehalt an Dioxin in Fettsäuren geführt, die Futtermischungen beigemengt und verfüttert wurden. Für Schweine und Geflügel ist das Beimengen von Futterfetten zum Getreidefutter für eine gesunde Ernährung wichtig. Gegen bewusstes Fehlverhalten helfen keine Gesetze. Die Erwartung, dass es nie wieder einen Dioxinfall geben wird, geht ins Leere. Die intensive Beschäftigung mit Dioxin hat auch deutlich gemacht, dass in den letzten 20 Jahren viel erreicht wurde: Die Hintergrundbelastung mit dem Umweltgift Dioxin ist auf ein Drittel gesunken. Das ist ein großer Erfolg. Er wurde erzielt durch eine bessere Filtertechnik, durch eine verbesserte Steuerung von Verbrennungsprozessen. Dennoch müssen wir den Menschen sagen, dass Dioxine vorhanden sind, die sich nur langsam abbauen, und dass immer wieder auch neue entstehen. Durch die im Januar aufgefundenen erhöhten Gehalte von Dioxinen in Tierfutter sowie auch in tierischen Produkten wurde zu keinem Zeitpunkt die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Opfer des Dioxinvorfalls sind insbesondere kleinere landwirtschaftliche Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst mischen. Wer den Dioxinvorfall jetzt noch thematisiert, nachdem die Bundesregierung ihr 14-PunkteProgramm beschlossen und auf den Weg gebracht hat - die Gesetzesberatung beginnt nächste Woche -, hat daher kaum den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Auge, sondern will denen schaden, die bisher schon unter dem Vorfall am meisten gelitten haben: die landwirtschaftlichen Betriebe. Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Fehlverhalten erschwert, Verstöße schneller entdeckt werden. Deshalb soll eine Zulassungspflicht für alle Betriebe eingeführt werden sowie eine Trennung der Produktionsströme von Fettsäuren, die für Futtermittel verwendet werden sollen, und denen, die technisch verwendet werden. Wir wollen eine Positivliste für Futtermittel. Die Betriebe werden verpflichtet, ihr Haftungsrisiko abzusichern. Wir brauchen verbindliche Vorgaben für Eigenkontrollen, eine Meldepflicht bei Gefahr, die Absicherung der Rückverfolgbarkeit. Bund und Länder müssen zusammenarbeiten, um Qualitätsmanagementsysteme flächendeckend zu evaluieren, eine verbesserte risikoorientierte Futtermittelkontrolle auf den Weg zu bringen und ein Dioxinmonitoring zu installieren. Bereits am kommenden Montag findet die Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zum Gesetz zur Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches statt. Warum also dieser Antrag? Ganz klar, Sie möchten gar nicht in der Sache weiterkommen. Ihr Antrag soll suggerieren, dass unsere Lebensmittel nicht sicher seien. Das trifft nicht zu. Mit Ihren unrealistischen Forderungen verunsichern Sie Konsumenten und Produzenten, vertreiben Unternehmen ins Ausland, verteuern die Produktion in Deutschland und schaden letztendlich dem Verbraucher mehr, statt ihn zu stärken. Sie bedienen die Sorgen und Ängste der Verbraucherinnen und Verbraucher, statt ihnen Orientierung zu geben. Gefährdungen durch Lebensmittel passieren zumeist dann, wenn Hygienevorschriften nicht beachtet werden. Letztes Jahr sind Menschen an mit Listerien kontaminiertem Käse gestorben, in diesem Jahr wurde wiederum in Nordrhein-Westfalen vor Käse gewarnt, der mit Listerien belastet war. Die Thematisierung von Schadstoffen verursacht eine verzerrte Risikowahrnehmung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Gemeinsam sind jetzt der Bund und die Länder in der Pflicht, entsprechend dem 14-Punkte-Programm „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transparenz für den Verbraucher“, dem alle zugestimmt haben, zu handeln. Dabei gilt es, mit Augenmaß zu handeln, keine bürokratischen Monster zu errichten und nicht Datenmengen anzuhäufen, die niemand überblicken kann. Wir wollen Transparenz, und wir wollen gleichfalls, dass die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen. Eines zum Schluss: Bei aller Pflicht zur Vorsorge, wir dürfen unsere Verantwortung für die eigentlich Geschädigten, die Landwirte der gesperrten Betriebe, welche ohne eigenes Verschulden in existenzielle Notlage geraten sind, nicht vergessen.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Agrarpolitik könnte so schön sein: Wiesen, Wälder und Traktoren. Das sind Themen, mit welchen ich mich gerne beschäftigen würde. Stattdessen müssen die Mitglieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, ELV, in regelmäßigen Abständen Skandale aufarbeiten. Erinnern wir uns an BSE oder die Berge von brennenden Tierkadavern in der MKS-Krise oder ans Gammelfleisch oder eben an den Futtermittelskandal Anfang des Jahres 2011: Kaum war die letzte Silvesterrakete explodiert, platzte die DioxinBombe! Illegale Panscherei in der Futtermittelindustrie erschütterte das politische Berlin. Belastetes Industriefett war mindestens über Monate hinweg ins Tierfutter gemischt worden, und keiner hatte es gemerkt. Das hochgelobte QS-Prüfsystem - unter Renate Künast als Allheilmittel eingeführt - hat dieses kriminelle Handeln nicht eindämmen können. - Das ist die eine Schwachstelle im System. Die andere ergibt sich aus der hochriskanten Art und Weise, wie heutzutage Futtermittel hergestellt werden. Das Risiko ergibt sich zunächst aus der offensichtlich kriminellen Motivation einiger Manager zur Profitmaximierung durch Kostenminimierung bei Rohstoffen, oft Zu Protokoll gegebene Reden genug auch auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und es gibt drei weitere wesentliche Risiken: erstens Kenntnislücken über Eintragsrisiken des Umweltgiftes Dioxin in die Lebensmittelkette, zweitens die hohe Anzahl von Futtermittelzusätzen, drittens die sehr komplexen Lieferbeziehungen in der Futtermittelbranche, die zur Folge haben, dass Tausende Höfe in mehreren Bundesländern vorsorglich gesperrt werden mussten, weil ein Futtermittelhersteller kriminell gehandelt hat. Diese Betriebe hatten keinerlei Chance, diesem Risiko zu entgehen. Der Schweinemarkt brach zusammen, gegenseitige Schuldzuweisungen füllten wochenlang die Medien. Eine ganze Branche stand unter Verdacht. Die Linke meint, der Dioxinskandal wäre vermeidbar gewesen, wäre bereits nach den Erfahrungen aus früheren Skandalen ein wirklich wirksames, bundesweites Kontrollsystem installiert worden. Hier haben alle Bundesregierungen der jüngeren Vergangenheit versagt. Die Bundesregierung will nun konsequent handeln leider aber wieder unzureichend, weil nicht strategisch und strukturverändernd. Bundesagrarministerin Aigner legte einen 10-Punkte-Plan vor und verständigte sich mit den zuständigen Ministerinnen und Ministern der Länder auf einen 14-Punkte-Plan. Das war ein erster Schritt, dem nun aber Taten folgen müssen. Der BundLänder-Plan enthält Maßnahmen und Gesetzesvorhaben, die eine Wiederholung des Dioxinskandals verhindern sollen. Einiges davon hat auch Die Linke gefordert, und das unterstützen wir natürlich; aber insgesamt wird das nicht ausreichen. Zum Beispiel fehlen dringend notwendige Forschungsvorhaben zu Einschleppungsrisiken von Umweltgiften in die Lebensmittelkette. Auch eine systematische Überprüfung der Kontrollsysteme ist eine Fehlstelle, mal abgesehen davon, dass an den strukturellen Ursachen in der Branche kaum gerüttelt wird. Aber genau hier muss aus Sicht der Linken ein strategisches Handlungskonzept ansetzen. Leider werden von den 14 Bund-Länder-Vorhaben nur ganze zwei im Deutschen Bundestag als Gesetzentwürfe behandelt: das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, zu dem in der kommenden Woche eine Anhörung des ELV-Ausschusses stattfindet, und eine Novelle des Verbraucherinformationsgesetzes. Die Linke sieht es als wenig nachvollziehbar an, dass wesentliche Entscheidungen - zum Beispiel Trennung der Produktionsströme, verbindliche Anforderungen an das Eigenkontrollsystem der Unternehmen und die Zulassungspflicht für die Futtermittelbetriebe - in Rechtsverordnungen geregelt und damit nicht im Parlament behandelt werden sollen. Das sind wesentliche Fragen, die wegen ihrer Bedeutung für die Verbraucherinnen und Verbraucher vom Parlament entschieden werden sollten. Der Entwurf einer Änderung der Futtermittelverordnung liegt mittlerweile auch auf dem Tisch. Die Futtermittellobby hat bereits Protest angemeldet und kritisiert angeblichen politischen Aktionismus. Ministerin Aigner wird also Schwierigkeiten haben, selbst die meiner Meinung nach wenig ambitionierten Vorhaben gegen die geballte Lobby durchzusetzen. Wettbewerbsverzerrungen werden befürchtet und ein nationaler Alleingang abgelehnt - am besten solle alles fast so bleiben, wie es war, findet die Industrie. Aber ein „Weiter so“ darf es aus meiner Sicht auf gar keinen Fall geben. Aus Sicht der Linken sind Aigners Vorschläge nicht ausreichend. Es müssen weitergehende Konsequenzen gezogen werden. Wir meinen, der Dioxinskandal darf nicht nur Änderungen kosmetischer Natur zur Folge haben, sondern muss an die Basis der Futtermittelproduktion und -kontrolle heran. Darum bringen wir heute unseren Antrag „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen“ in den Bundestag ein. Wir fordern, die strukturellen Defizite in der Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle zu beseitigen. Wir wollen, dass Landwirtinnen und Landwirte genauso wie Verbraucherinnen und Verbraucher vor schädlichen Umwelteinflüssen und Giften geschützt werden. Der unter Rot-Grün begonnene zunehmende Ersatz staatlicher Kontrollen durch Eigenkontrollen der Betriebe - nach deren eigenen Regeln - hatte verheerende Folgen. Aus unserer Sicht wird ein strategischer Ansatz zur Lösung des Problems gebraucht. Das heißt, die gesamte Produktionskette mit den Stoffkreisläufen vom Acker bis zum Teller muss wirksam unter Kontrolle genommen werden. Wir schlagen ein betriebliches Zertifizierungssystem nach strengen gesetzlichen Vorgaben - das ist sehr wichtig - für die gesamte Erzeugungskette vom Stall bis in die Ladentheke vor. Das wurde uns übrigens schon mal in der Anhörung zum Gammelfleischskandal vor einigen Jahren empfohlen, und wir greifen das jetzt auf. Die daraus entstehenden Mehrkosten sollten branchensolidarisch umgelegt werden. Das Zertifikat muss auf strengen gesetzlichen Regeln basieren und die einzelnen Marktteilnehmer und ihr Handeln überwachen. Für jede Futtermittelcharge sollte vor der Verarbeitung zu einem Mischfutter die Unbedenklichkeit nachgewiesen werden. Labore sollten verpflichtet werden, über auffällige Befunde den Behörden zu berichten, das heißt in Verdachtsfällen oder bei Grenzwertüberschreitungen in Futtermitteln. Die Berliner Verbrauchersenatorin der Linken, Katrin Lompscher, hält die von der Bundesregierung vorgesehene Meldepflicht nicht für weitgehend genug, wie sie in ihrer Stellungnahme zur LFGB-Anhörung am 11. April 2011 schreibt. Sie fordert eine Ausweitung der Meldepflicht auf jede Person, die beruflich mit Lebens- oder Futtermitteln zu tun hat und Unstimmigkeiten dabei feststellt. Aigner will sie auf Laboratorien beschränken. Die Linke will die staatlichen Kontrollen stärken, indem zum Beispiel die Zusammenarbeit der Länder weiter verbessert und der Zugang zu allen Betriebsdaten der Erzeugerkette ermöglicht wird. Der Dioxinskandal hat nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher verunsichert - der Run auf Bio-Eier war ein deutliches Signal, denke ich -, sondern auch viele Landwirtinnen und Landwirte hart getroffen. Ihre wirtschaftliche Existenz wurde bedroht. Der Lieferstopp sorgte für fehlende Einnahmen auf vielen Bauernhöfen. Hinzu kommt noch der Vertrauens- und Kundenverlust durch jeden weiteren Lebensmittelskandal. Einzig der Zu Protokoll gegebene Reden kriminellen Gier und Skrupellosigkeit einiger Weniger ist es zu verdanken, dass eine ganze Branche so schwer erschüttert werden konnte. Dabei sind die meisten Landwirtinnen und Landwirte völlig unschuldig in diese Situation geraten. Die Linke fordert, die betroffenen Betriebe mit ihren finanziellen Schwierigkeiten nicht alleinzulassen und Entschädigungsleistungen zu ermöglichen, beispielsweise über die Landwirtschaftliche Rentenbank. Per Gesetz sollte für zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichsfonds geschaffen werden. Dieser muss von der Futtermittelindustrie finanziert werden. Haftpflichtregelungen reichen nicht, weil sie bei vorsätzlichem Handeln nicht greifen. Abschließend noch ein Wort zum Thema Forschung. Die wird ja immer gern vergessen, ist jedoch die Grundlage für die Politikberatung, also für unser Handeln im Deutschen Bundestag. Wir brauchen ein veterinärepidemiologisches Zentrum, das sich zum Beispiel auch mit den Eintragsrisiken von Umweltgiften in die Nahrungsmittelkette befasst, und wir brauchen die Entwicklung von zuverlässigen und schnelleren Diagnostikmethoden. Aber statt die politikberatende Forschung zu stärken, wird die Bundesressortforschung seit Jahren und seit mehreren Bundesregierungen immer weiter zusammengestrichen. Das kritisiert die Linke schon seit Jahren. Gemeinsam mit den Bundesländern muss eine Strategie zur Sicherung der Futtermittelsicherheit erarbeitet und ständig weiterentwickelt werden. Gesetzgeberische Lücken müssen identifiziert und konsequent geschlossen werden.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Dioxin-Skandal, der im Januar Deutschland bewegte, ist inzwischen aus der Presse verschwunden. Ausgestanden ist er damit noch lange nicht. Noch immer kämpfen Betriebe mit den Folgen des Skandals und noch immer sind die Quellen des Dioxins nicht restlos aufgeklärt. Die Verwaltungen von Bund und Ländern bringen nach und nach den 14-Punkte-Dioxinaktionsplan in Rechtsform, und der Bundestag wird die Beratungen über die Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches am Montag mit einer öffentlichen Anhörung beginnen. Das alles geschieht nicht wirklich im Eiltempo, und vieles, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat, bedarf noch der Konkretisierung und muss sich erst noch als praxistauglich erweisen. Dennoch haben Bund und Länder da, wo sie tätig werden, unsere Unterstützung. Was fehlt, sind die politischen Konsequenzen aus der Dioxinkrise. „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen“ lautet die Überschrift des hier debattierten Antrags der Linken. Genau daran mangelt es nach wie vor, und auch der Antrag der Linken hat dazu nicht viel anzubieten. Im Antrag der Linken fehlt, was die Bundesregierung von Anfang an versäumt hat: die politischen Konsequenzen aus dem Dioxinskandal zu ziehen. Der politische Skandal im Dioxinskandal ist doch nicht der Mangel an technischen und juristischen Nachbesserungen. Da machen die Verwaltungen gute Arbeit. Der politische Skandal ist, dass die Koalition politisch überhaupt keine Konsequenzen gezogen hat, sondern mehr denn je auf ein „Weiter so!“ setzt, was früher oder später in den nächsten Lebensmittelskandal führen wird. Das große Versagen der Bundesregierung im Dioxinskandal besteht darin, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, dass sie einmal mehr den Ruf aus der Bevölkerung nach einem radikalen Systemwandel ignoriert und die überfällige Agrarwende verpasst. Dabei lautet die entscheidende Frage doch, ob wir in der Landwirtschaft eigentlich noch auf dem richtigen Weg sind mit der Industrialisierung, Exportorientierung und industrialisierten Massentierhaltung oder ob uns nicht dieses System der Agrarfabriken in die Sackgasse geführt hat. Die Bürgerinnen und Bürger haben diese Frage bereits beantwortet. Sie sind informiert; sie sind auf den Stand der Dinge, und sie sagen eindeutig: Dieses System vergiftet unsere Nahrung und macht uns als Konsumenten zur Müllkippe, zerstört unsere Umwelt, hält das Mitgeschöpf Tier in unerträglichen Verhältnissen und degradiert es zum Produktionsfaktor, das man mit demselben Müll füttern kann wie ein Kraftwerk. „Hauptsache billig!“ - das ist die Logik der Agrarindustrie, und da braucht man sich nicht wundern, wenn wir alle Jahre wieder Lebensmittel als Sondermüll entsorgen müssen. Dieser Logik der Agrarindustrie ist die schwarz-gelbe Koalition vor dem Dioxinskandal gefolgt, und dieser Logik folgt sie jetzt immer noch. Dabei hat Frau Aigner durchaus einige positive Versuche gestartet. Aber wo immer die Ministerin versucht, etwas anzupacken, und sei es auch nur symbolisch, stehen die Bremser und Saboteure aus den eigenen Reihen schon bereit: Verbot des Kleingruppenkäfigs - von der FDP blockiert. Verbot des Schenkelbrands bei Pferden - vom Tierschutzbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion Stier mit zweifelhaften Mitteln und einer Lobbykampagne bekämpft. Aigners Kampagne „Wahrheit und Klarheit“ von der Koalition im Agrarausschuss unter Demütigung der anwesenden Ministerin zerrissen. Die Charta für Landwirtschaft - vom Bauernverband mit seinen zahlreichen CDU/CSU-Mehrfachfunktionären auf das Heftigste bekämpft. Eine ökologische EU-Agrarreform einstweilen aus Rücksicht auf den CSU-Kollegen Deß abgesagt. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Am Ende steht die Ministerin nicht zu ihren Ankündigungen, sondern erklärt pflichtgemäß: Keine Agrarwende! Wir sagen: Die Agrarwende in die Zukunft muss kommen, und die Zeichen in Brüssel stehen nicht schlecht. Die EU-Agrarreform wird zeigen, ob Ilse Aigner am Ende als Reformerin oder als Requisite des Bauernverbands dastehen wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Monika Lazar, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauenquote bei Gremienbesetzungen durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung konsequent einhalten - Drucksache 17/5257 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst möchte ich feststellen: Die Bundesregierung ist bei der Berufung und Entsendung von Frauen in Gremien ein gutes Stück vorangekommen. Dies belegt der Fünfte Gremienbericht für den Zeitraum 30. Juni 2005 bis 30. Juni 2009. Wir wollen aber hier nicht stehen bleiben. Denn trotz erheblicher Fortschritte ist eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien noch nicht gegeben. Um weitere Verbesserungen zu erreichen, will die Bundesregierung das Bundesgremienbesetzungsgesetz novellieren. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern ist Ziel dieses Gesetzes. Eine starre Frauenquote - wie in Norwegen - sieht das Gesetz für die Gremien des Bundes nicht vor. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat bei seinen Gremienbesetzungen aber bereits jetzt versucht, darauf hinzuwirken, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien geschaffen und erhalten wird. Das BMVBS hat im Gleichstellungsplan für die Jahre 2010 bis 2013 eine ganze Reihe von Maßnahmen festgehalten. Nach dem Bundesgremienbesetzungsgesetz ist jede vorschlagsberechtigte Stelle bei der Besetzung von Gremien im Bundesbereich grundsätzlich verpflichtet, für jeden ihr zustehenden Gremiensitz jeweils eine Frau und einen Mann gleicher Eignung zu benennen. Die Verpflichtung zur Doppelbenennung entfällt nur in einigen Ausnahmefällen; die Gründe hierfür müssen schriftlich angegeben werden. Das jeweils zuständige Fachreferat bemüht sich darum, Frauen für Gremienfunktionen zu gewinnen. Der alleinige Hinweis auf die Beachtung der Vorschriften des Gremienbesetzungsgesetzes reicht nicht aus. Die Gleichstellungsbeauftragte ist bei den Gremienbesetzungen zu beteiligen. Die im Antrag angesprochenen Gremien muss man differenziert betrachten. Das Kuratorium Nationale Stadtentwicklungspolitik zielt auf eine breite Verankerung der nationalen Stadtentwicklungspolitik in der Fachöffentlichkeit. Mitglieder sind: die Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Bauministerkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände, die für die Belange der Stadtentwicklung relevanten Verbände, Kammern und Vereinigungen sowie in Fragen der Stadtentwicklungspolitik fachlich profilierte Einzelpersönlichkeiten. Die Bundesregierung hat bei den Verbänden und Kammern keinen Einfluss auf die Benennung der Vertreter. Gegenwärtig sind 10 von 42 Mitgliedern Frauen. Der Anteil der Frauen an dem unabhängigen Fachgutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im Rahmen des ESF-Bundesprogramm „Soziale Stadt Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier ({0})“ beträgt 53 Prozent. Die Forderung ist daher hier bereits erfüllt. Zudem mussten alle Gutachterinnen und Gutachter ihre spezifischen Kompetenzen im Bereich der Gleichstellung darlegen. Darüber hinaus berücksichtigt die im Rahmen der zweiten Förderrunde überarbeitete Förderrichtlinie zum Programm BIWAQ den Gleichstellungsaspekt umfassend. So wird die Chancengleichheit von Frauen und Männern im Zuge aller verfahrensbezogenen, fachpolitischen und zielgruppenspezifischen Aktivitäten besonders berücksichtigt. Zudem wird analog zum Operationellen Programm des Bundes für den ESF - die Gesamtkoordination aller ESF-Bundesprogramme liegt übrigens beim BMAS - angestrebt, Frauen und Männer zu jeweils 50 Prozent an den Projektteilnahmen und am Budget zu fördern. Die Forderung, dass bei der Benennung von Mitgliedern für projektgebundene Fachjurys, Arbeits- und Auswahlgremien durch das BMVBS mindestens zur Hälfte Frauen zu berücksichtigen sind, ist bereits erfüllt. Gemäß den §§ 1 und 2 Bundesgremienbesetzungsgesetz unterliegen grundsätzlich alle Gremien im Einflussbereich des Bundes dem Bundesgremienbesetzungsgesetz. Für diese Gremien gilt das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern. Zudem will die Bundesregierung prüfen, welche Mechanismen geeignet sind, um die Umsetzung des Gesetzesziels in den vom Geltungsbereich betroffenen wesentlichen Gremien transparenter zu machen und zu kontrollieren. Eine Verpflichtung zur Erstellung und Führung einer Liste aller Gremien sieht das Bundesgremienbesetzungsgesetz nicht vor. Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung empfiehlt in seinen Schlussfolgerungen jedoch, dass künftig „in allen Ressorts an zentraler Stelle Listen aller Gremien geführt werden, die unter den Anwendungsbereich des Bundesgremienbesetzungsgesetzes fallen“. Dies beträfe damit auch das BMVBS. Im Rahmen einer Ressortarbeitsgruppe soll unter Federführung des Bundesfamilienministeriums darüber hinaus eine Liste mit allen wesentlichen Gremien erstellt werden. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Antrag der Grünen ist in der Sache nicht falsch, er ist gut gemeint, aber er ist überflüssig, denn die Bundesregierung hat alle genannten Forderungen längst schon erfüllt bzw. auf den Weg gebracht.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema Frauenquote in der Wirtschaft wird zurzeit intensiv diskutiert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern mindestens 40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände. Das muss aber auch für die Gremien des Bundes gelten. Werfen wir doch einmal einen Blick in die Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn AG: Der Bund hat in den meisten Fällen keine einzige Frau in den Aufsichtsrat entsandt. Das ist nicht hinnehmbar. Wir können nicht auf der einen Seite die Wirtschaft auffordern, mehr für Frauen in Führungspositionen zu tun, und auf der anderen Seite bei Gremienbesetzungen, die im Einflussbereich des Bundes liegen, untätig bleiben. Das nimmt uns doch keiner ab! Das Bundesgremienbesetzungsgesetz hat zwar zu kleinen Erfolgen geführt - der Frauenanteil in den Gremien des Bundes ist im Jahr 2009 auf 24,5 Prozent gestiegen -, jedoch verläuft die Entwicklung zu langsam. Das geht auch aus dem Fünften Gremienbericht der Bundesregierung zum Bundesgremienbesetzungsgesetz hervor: „15 Jahre nach Verabschiedung des BGremBG liegt das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern noch immer in weiter Ferne. Gerade einmal jede vierte Gremienposition ist mit einer Frau besetzt. Gut jedes zehnte Gremium ist weiterhin rein männlich.“ ({0}) Dieses Gesetz ist zwar gut gemeint, aber die geringen Fortschritte machen deutlich, dass das Gesetz viel zu schwach ist. Es fehlen verbindliche Zielgrößen, Kontroll- und Sanktionsmechanismen. Hier muss dringend nachgebessert werden. Ansonsten können wir uns in den nächsten fünf Jahren wieder nur über einen Zuwachs von knapp 5 Prozent freuen. Angesichts der vielen gut ausgebildeten Frauen in unserem Land ist das ein Hohn. Wir vergeuden wichtige Potenziale. Besonders deutlich werden diese Defizite am Beispiel des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Das Verkehrsministerium hat den drittgrößten Anteil an Gremien aller Ressorts, belegt jedoch mit einer Frauenbeteiligung von 17 Prozent einen der hintersten Ränge. Ebenso traurig sieht es beim Frauenanteil in Leitungsfunktionen aus: Mit einem Frauenanteil von nur 20 Prozent belegt das Verkehrsministerium innerhalb der obersten Bundesbehörden einen der hintersten Ränge. Alle fünf Staatssekretärsposten sind fest in Männerhand, und unter den neun Abteilungsleitern ist nur eine Frau. Hier liegt einiges im Argen. Die Unterrepräsentanz von Frauen in leitenden Funktionen setzt sich in den Gremien fort. Wo keine Frauen in den unteren Ebenen sind, können nur schwer welche in den Gremien sein. Andersherum gilt auch: Fehlen Frauen in den Gremien, so fehlen auch die Vorbilder und der Druck, in den unteren Ebenen - an den Strukturen - etwas zu verändern. Daher sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch hier für eine verbindliche Quote von 40 Prozent. Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend novelliert werden. Dabei sind folgende Punkte von besonderer Bedeutung: Die Novellierung muss dazu beitragen, dass die Gremienbesetzung transparent gestaltet wird, dass es verbindliche Zielvorgaben gibt - auch hier fordern wir 40 Prozent -, wie in der Wirtschaft, und dass Kontroll- und Sanktionsmechanismen eingeführt werden, weil sonst alle Vorgaben nichts weiter als ein zahnloser Tiger bleiben. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Forderungen zur Novellierung des Gremienbesetzungsgesetzes nicht nur für das Verkehrsministerium, sondern für alle Bundesministerien gelten. Auch aus Europa kommt immer mehr Druck, den Blick auf die Frauenförderung zu erweitern: Mithilfe einer Frauenquote soll endlich mehr Geschlechtergerechtigkeit in Aufsichtsräten erreicht werden. Auch die EU hat es begriffen. An der Quote führt kein Weg vorbei nicht in der Wirtschaft und auch nicht im Bund.

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Forderung, den Frauenanteil zu heben - ob in Gremien des Bundes oder in der Wirtschaft, ob in Verwaltungen oder öffentlichen Ämtern -, diese Forderung ist gesamtgesellschaftlich richtig und erhält die volle Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Dass hier in den zurückliegenden 14 Jahren seit Bestehen des Bundesgremienbesetzungsgesetzes, BGremBG, auch in diesem speziellen Bereich zu wenig passiert ist und die Anhebung des Frauenanteils von anfänglich 12,4 Prozent im Jahre 1997 auf heute 24,5 Prozent bei Weitem nicht befriedigen kann, ist richtig. Trotzdem bietet das Gesetz in seiner Zielstellung, den Bund und andere an der Besetzung von Gremien Beteiligte anzuhalten, auf eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern hinzuwirken, eine solide und konsistente Grundlage zur Umsetzung dieser Forderung, die es weiterzuentwickeln gilt. Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum BGremBG aus dem Jahre 2010, den Sie als Beleg für Ihren Antrag heranziehen, kommt selbst zu den Ergebnis, dass weder die gesetzlichen Rahmenvorgaben noch die bisher erzielten Resultate bei der Förderung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen ausreichend sind. Die Bundesregierung kommt daher auf Seite 36 ihres Berichts zu der Schlussfolgerung, dass eine gesetzliche Novellierung notwendig sei. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, präzisiert die Bundesregierung jedoch diese Forderung und füllt sie mit einer Reihe konkreter Vorschläge. Hier bleibt es nicht nur bei einer rituellen Handlung, die christlich-liberale Koalition macht Nägel mit Köpfen: Präzisierung der Zielbestimmung in § 1 des BGremBG, Forcieren einer möglichst flächendeckenden Umsetzung der gleichberechtigten Teilhabe sowie klare Identifizierbarkeit der Gremien, auf die die gesetzlichen Regelungen Anwendung finden. Das meint das Führen von Gremienlisten. Weiterhin wird auch das von Ihnen kritisierte Doppelbenennungsverfahren als ineffizient moniert, ebenso wie das Reißverschlussverfahren. Stattdessen empfiehlt die Bundesregierung, auf komplizierte Verfahrensregelungen zu verzichten und Neuregelungen durch Kontrollmechanismen zu flankieren. Schließlich solle im Zuge einer solchen Novellierung die Zusammenlegung Zu Protokoll gegebene Reden Petra Müller ({0}) des BGremBG mit dem Bundesgleichstellungsgesetz geprüft werden. Das entspräche auch der Koalitionsforderung nach Entbürokratisierung. All diese Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, finden sich auf den Seiten 36 bis 39 des Gremienberichts der Bunderegierung, und noch einige mehr. Weshalb der Bundestag hier und heute also die Novellierung eines Gesetzes fordern soll, ist mehr als fraglich. Offenbar ist doch die Bundesregierung längst weiter, als von der Opposition gefordert. Ein nächster Punkt: Warum begrenzen Sie Ihre Forderungen auf ein Ministerium? Sie fordern das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BMVBS, zur Einhaltung der durch das BGremBG geforderten Frauenquote auf. Müsste diese Forderung nicht für alle Ministerien gelten? Und tut sie es nicht längst, qua Gesetz? Ministerien zur Einhaltung von Gesetzen aufzufordern, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Im Übrigen bleiben Sie auch hier wieder im Unkonkreten. Den mahnenden Zeigefinger zu heben, ist ja schön und gut, reicht aber nicht aus. Nehmen wir also die in Ihrem Antrag angesprochenen Gremien des BMVBS: Im Kuratorium Nationale Stadtentwicklung sind folgende Mitglieder tätig: die Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Bauministerkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände, für die Stadtentwicklung relevante Verbände, Kammern und Vereinigungen sowie fachlich profilierte Einzelpersönlichkeiten. Sie können sich vorstellen, dass bei der Auswahl der Vertreter der Verbände und Kammern die Bundesregierung nicht mitbestimmen kann. Demzufolge sind die Einflussmöglichkeiten zwangsläufig begrenzt. Oder nehmen Sie das Fachgutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im Rahmen des ESF-Förderprogramms. Hier beträgt der Frauenanteil 53 Prozent. Grund zur Beanstandung kann das nicht sein. Die Vorgaben des Gesetzes werden hier voll erfüllt. Sie fordern weiterhin die mindestens hälftige Besetzung mit Frauen in Fachjurys, Arbeits- und Wahlgremien. Diese Forderung ist völlig unverständlich, weil all die Gremien schon jetzt dem Geltungsbereich des BGremBG unterliegen. Ich sage nur noch einmal: Eule und Athen. Die christlich-liberale Koalition hat sich die Hebung des Frauenanteils und die praktische Umsetzung der gleichberechtigten Partizipation von Frauen längst zum Thema gemacht. Das zeigt nicht nur der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum BGremBG, das zeigen auch die Bemühungen der Bundesministerinnen von der Leyen und Schröder zur Frauenquote in Führungspositionen in der Privatwirtschaft. Ihr Antrag zur Einhaltung der Frauenquote bei Gremienbesetzungen durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist in sich inkonsistent und verknüpft Forderungen ganz verschiedener Handlungsebenen. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt diesen Antrag daher ab.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit dem 1. September 1994 gilt das Gesetz über die Berufung und Entsendung von Frauen und Männern in Gremien im Einflussbereich des Bundes, Bundesgremienbesetzungsgesetz. Ziel des Gesetzes ist die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in diesen Gremien. Tatsächlich aber liegt der durchschnittliche Frauenanteil in allen Gremien im Einflussbereich des Bundes bei 24,5 Prozent und im Bereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nur bei 17 Prozent. Diese wichtigen Zukunftsfelder werden zu 83 Prozent von Männern gestaltet. Damit wird nicht nur der grundgesetzliche Anspruch auf Gleichberechtigung missachtet, es fehlen auch die weiblichen Perspektiven. Und die sind, was die Lebenswelt in Städten, die Bauwerke oder den öffentlichen ({0})Verkehr betrifft, eben anders als die männlichen. Wir unterstützen deshalb den Antrag der Grünen. Darüber hinaus schlagen wir vor, dass gleich ein konkreter Schritt unternommen wird, der längst überfällig ist. Ich möchte daran erinnern, dass wir vor einem Jahr einen Antrag eingebracht haben mit dem Titel „Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn kompetent und demokratisch besetzen!“ Darin haben wir den Verkehrsminister aufgefordert, die Eigentümerseite im Aufsichtsrat der Deutsche Bahn AG, die sich zu 100 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik befindet, so zu besetzen, dass dort zu 100 Prozent das allgemeine öffentliche Interesse vertreten wird. Die Regierung soll Aufsichtsratsmitglieder benennen, die das Ziel verkörpern, den Schienenverkehr in Deutschland sozial, sicher und nachhaltig zu entwickeln. „Dabei muss die Besetzung geschlechtergerecht werden - auch im Aufsichtsrat sollen 50 Prozent Frauen sitzen, so wie es in den Zügen zumindest im Nahverkehr der Fall ist.“ Ich bin der Meinung, dass es heute sehr konkreten Anlass gäbe, zumindest zwei dieser zehn Aufsichtsratsposten - die alle mit Männern besetzt worden sind - sofort umzubesetzen: Dr. Jürgen Großmann, der ein großer Propagandist der Atomkraft war und ist, außerdem unter anderem Vorstandsvorsitzender von RWE, und Christoph DänzerVanotti, Mitglied des Vorstands der E.on AG, Mehrheitseigentümer unter anderem des umstrittenen Bahnkohlekraftwerks Datteln. Als das Unternehmen mit dem höchsten Stromverbrauch in Deutschland und als größter Staatskonzern müsste die Deutsche Bahn eine ökologische Vorbildfunktion wahrnehmen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Während Wind bundesweit einen Anteil von rund 8 Prozent im Strommix hat, liefern die 25 Windräder der Bahn gerade einmal 0,6 Prozent des Stroms für die Züge. 45 Prozent des Bahnstroms stammen aus Kohlekraftwerken. Atomkraft hatte zuletzt im Bahnstrommix einen Anteil von rund 25 Prozent. Und Bahnchef Rüdiger Grube gehörte im August 2010 zu den 40 Erstunterzeichnern des Energiepolitischen Appells an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Damit hat er sich persönlich für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken eingesetzt. Ein Kenner der Verhältnisse hat mir kürzlich berichtet, dass das AufZu Protokoll gegebene Reden sichtsratsmitglied Großmann ihn massiv gedrängt hat, diese Position zu beziehen. Angesichts des atomaren Super-GAU in Fukushima und der aktuellen Energiedebatte wäre es ein doppelt gutes Signal, jetzt beim Bahnaufsichtsrat mit den konkreten Taten zu beginnen, die den Reden und der Besorgnis der Bundesregierung folgen müssen. Anstelle der Atom- und Kohlerepräsentanten könnten Vertreterinnen von Umweltverbänden in den Bahnaufsichtsrat. Wir brauchen dort qualifizierte und profilierte Frauen, die dazu beitragen, die Bahn auf besseren Kurs zu bringen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seit nunmehr 15 Jahren ist in der Bundesrepublik das Bundesgremienbesetzungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz soll die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien sicherstellen. Das damals verfolgte Ziel, nämlich die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern bei Gremienbesetzungen im Einflussbereich des Bundes, ist jedoch noch immer in weiter Ferne. Während der durchschnittliche Frauenanteil in Gremien im Einflussbereich des Bundes bei 24,5 Prozent liegt, verzeichnet der Bericht im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen Frauenanteil von nur 17 Prozent - und das, obwohl der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sich gerne als Frauenförderer sehen möchte. Herr Minister, Frauen sind im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in wichtigen Zukunftsfeldern - und das geht weit über die Gremienbesetzungen hinaus - noch immer erheblich unterrepräsentiert. Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte um die Frauenquote in Aufsichtsräten ist die geschlechterparitätische Besetzung von Gremien im Einflussbereich des Bundes von besonderer Relevanz. Der Bund sollte in puncto Frauenförderung mit gutem Beispiel vorangehen. Wir fordern Sie deshalb auf, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien, Kommissionen, Fachjurys und Aufsichtsräten konsequent sicherzustellen. Dieses Anliegen ist kein Selbstläufer, das erfordert schon einige Bemühungen. Noch immer ist etwa jedes zehnte Gremium rein männlich besetzt. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung führt zum Beispiel die im Zuständigkeitsbereich des BMVBS gegebene erhebliche Unterrepräsentanz von Frauen in Gremien und in Führungspositionen auf die überwiegend technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung des BMVBS zurück. Dabei belegt der aktuelle Bundesgremienbesetzungsbericht, dass Ministerien auch bei technisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung die paritätische Besetzung von Gremien sicherstellen könnten, wenn der entsprechende politische Wille vorhanden ist. Wir fordern in unserem Antrag daher insbesondere das BMVBS auf, zukunftsorientierte Politik - weg von den männlich dominierten Strukturen in Gremien - zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass Frauen konsequent in allen Gremien, Aufsichtsräten und Jurys gleichberechtigt vertreten sind. Denn eine Mitwirkung in Gremien beinhaltet die Möglichkeit, wichtige politische sowie fachliche Entscheidungen zu beeinflussen. Der Frauenanteil in Gremien ist insgesamt ein guter Indikator für die Teilhabe von Frauen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und für praktizierte Gleichstellung. Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung bestätigt: Es bleibt viel zu tun. Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend novelliert und effektiver gestaltet werden. Transparente und einheitliche Gremienbesetzungsverfahren sowie die Führung von vollständigen Gremienlisten in den Ministerien - ich schaue hier insbesondere auf das BMVBS - wären ein erster und wichtiger Schritt, um der Unterrepräsentanz von Frauen in Gremien, Fachjurys und Aufsichtsräten entgegenzuwirken - und ein längst überfälliges Signal für praktizierte Gleichstellung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5257 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten Kormoranmanagement einführen - Drucksache 17/5378 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.

Carola Stauche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004162, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beschäftigen uns heute auf Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Kormoran, besser gesagt: mit der Forderung, ein Kormoranmanagement einzuführen. Für dieses Vorgehen spricht sehr viel; die Gründe wurden von den Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag genannt. Auch wir, das heißt die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP, fordern ein solches Kormoranmanagement. Wir lehnen jedoch den vorliegenden Antrag ab. Das geschieht nicht, wie im Antrag behauptet, aufgrund eines Abschiebens von Verantwortung in Richtung Europa. Es ist vor allem kein Votum gegen ein Kormoranmanagement, wie es ebenfalls im Antrag zu lesen ist. Vielmehr ist es Ausdruck von verantwortungsbewusster Politik. Auch in unseren Fraktionen steht ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement weit oben auf der Agenda. Beim Lesen Ihres Antrages konnte ich erkennen, dass Sie das auch wissen. Die Kolleginnen und KolCarola Stauche legen der FDP-Fraktion haben ja einen ähnlich lautenden Antrag bereits im Jahr 2006 gestellt. Bevor entsprechende Einwände kommen - ja, ich weiß, auch meine Fraktion hat diesen Antrag damals abgelehnt. Das wurde mit den Verweisen auf die verschiedenen Zuständigkeiten bei den gestellten Forderungen begründet. Auch Ihr Antrag ist alleine aus Zuständigkeitsgründen abzulehnen. Anträge auf finanzielle Förderung müssen die Bundesländer bei der Europäischen Union einreichen, und die einheitlichen Maßgaben zur Ermittlung der Schäden müssen diese ebenfalls - zum Beispiel im Rahmen der Agrarministerkonferenz - festlegen. Das BMELV kann und sollte - unserer Meinung nach - solche Abspracheprozesse natürlich moderierend begleiten. Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vogelschutz oder der Tierschutz allgemein. Die Koalitionsfraktionen haben deshalb bereits einen eigenen Antrag zu diesem Thema vorbereitet, da uns die Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Kormoranmanagements bewusst ist. Gerade Frau Dr. Happach-Kasan bringt dieses Anliegen seit Jahren positiv voran, und auch unser Koalitionsvertrag beinhaltet auf Seite 49 eine Passage zum Thema Kormoranmanagement. Sie sehen also, dass gerade wir als Koalition dieses Thema vorangetrieben haben, und zwar nicht mit abgekupferten Anträgen wie Sie, sondern mit Gesprächen hinter den Kulissen. Wir freuen uns deshalb natürlich, wenn Sie zu ähnlichen Schlüssen kommen wie wir. Dass es Ähnlichkeiten zwischen dem, was Sie wollen, und dem, was wir wollen, gibt, soll jedoch nicht über grundlegende Unterschiede hinwegtäuschen. So legen wir uns bei der Bestandsregulierung nicht auf eine Form der Regulierung fest, wie Sie das mit der Regulierung der Reproduktion erreichen wollen. Hier muss genau beobachtet werden, welche Maßnahmen in welcher Region helfen und welche eben nicht. In Dänemark wurden Kormorane beispielsweise beim Brüten durch grelles Licht gestört. Diese haben ihre Brutplätze verlassen, die Eier sind ausgekühlt, und der Kormoranbestand wurde reguliert. Dieses Vorgehen hatte in Baden-Württemberg hingegen keinen messbaren Erfolg zu verzeichnen. Welche Form der Bestandsregulierung sich am besten eignet, sollte unserer Meinung nach vor Ort entschieden und nicht vonseiten des Bundes festgelegt werden. Dass bei allen Anstrengungen, die der Bund in diese Richtung unternimmt, ein gemeinsames europäisches Kormoranmanagement weiter zwingend notwendig ist, bedarf nicht der Aufklärung durch die Opposition. Die Frage, warum - wenn wir das eben Geschilderte doch alles wissen - unser Antrag noch nicht eingegangen ist, hat ganz einfache Gründe: Politik lässt sich, wie das Leben, nur bedingt voraussagen und dementsprechend schlecht planen. Auch die Koalition aus CDU/ CSU und FDP wäre beim Punkt Kormoranmanagement gerne weiter. Jedoch haben sich seit Juni vergangenen Jahres auch einige Dinge ereignet, die in dieser Form nicht vorhersehbar waren und die verantwortungsvolles und schnelles politisches Handeln einer Koalition in Regierungsverantwortung erforderten. Themen wie die europäische Finanzkrise, der Dioxinskandal oder nicht zuletzt die dramatischen Ereignisse in Japan haben viel Raum im politischen Geschäft der letzten zehn Monate eingenommen. Das hat dazu geführt, dass wichtige Themen, wie beispielsweise das Kormoranmanagement, zurückgestellt werden mussten. Ich möchte es abschließend noch einmal wiederholen: Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vogelschutz oder der Tierschutz allgemein. Wir lehnen den gestellten Antrag der Linken ab, sprechen uns aber für ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement aus. Die Ausgestaltung eines solchen muss aber an die Realität angepasst werden.

Holger Ortel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche aufhören“ - unter dieses Motto möchte ich meine Rede stellen. Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgsgeschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten handelt vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unterhalb der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten, und es gibt für diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese Artenschutzprogramme drohen zu scheitern. Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige Gründe. Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer und der teilweise noch schlechte ökologische Zustand der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer wesentlicher Grund ist nach meiner Auffassung der Kormoran. Auch in meiner Fraktion gibt es unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema. Ich möchte meine Sicht der Dinge hier kurz darstellen: Um den Kormoran stand es Anfang der 1980er-Jahre schlecht. Deshalb wurde er auch unter Schutz gestellt. Aber mittlerweile geht es dem Kormoran nicht mehr schlecht. Es geht ihm so gut, dass es mittlerweile allein in Deutschland rund 140 000 Kormorane gibt. In Europa sind es gar rund 2 000 000 Kormorane. Wegen dieser positiven Bestandsentwicklung wurde der Kormoran bereits 1997 aus dem Anhang I der Vogelschutzrichtlinie gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt war der Bestand bereits 20-mal so groß wie 1980. Seitdem hat sich der Bestand bis heute weiter vergrößert. Es handelt sich hier eindeutig um einen Erfolg für den europäischen Vogelschutz. Aber dieser Erfolg für den Artenschutz gefährdet nun den Artenschutz an anderer Stelle - und dies nicht, weil sich etwa die Population des Kormorans wieder verkleinert, sondern ganz im Gegenteil: Der Erfolg gerät in Gefahr, weil die Kormorane einige Fischarten bedrohen. Wissenschaftlich heißt das: Die aquatische Artenvielfalt ist bedroht. Ganz praktisch bedeutet das: Artenschutzprogramme für bedrohte Arten wie Lachs, Meerforelle, Äsche und Aal geraten ernsthaft in Gefahr, und das stellt eine ernsthafte Gefahr für die Biodiversität dar. Der Bundesumweltminister ist im vergangenen Jahr mit Verweis auf das Jahr der Biodiversität in Sachen Kormoran untätig geblieben. Er muss sich also den Vorwurf gefallen lassen, dass bei ihm der ArZu Protokoll gegebene Reden tenschutz an der Wasseroberfläche aufhört. Welche Ausrede er dieses Jahr finden wird, wissen wir noch nicht. Wir müssen beim Kormoran sehen, dass es Menschen gibt, deren berufliche Existenz durch den Kormoran zunichte gemacht wird. Es mussten schon einige Teichwirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals über mehrere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt am Rande der Existenz stehen. Passive Abwehrmaßnahmen gibt es, sie sind aber sehr teuer. Außerdem ist der Kormoran sehr intelligent. Er findet meist einen Weg durch die Abspannungen hindurch. Passive Abwehrmaßnahmen sind also wenig erfolgversprechend. Man muss sich einmal anschauen, was passiert wenn die Teichwirte den Betrieb einstellen. Denn die Teichwirte übernehmen wichtige Aufgaben bei der Pflege der Kulturlandschaft. Teichwirtschaften haben eine herausragende ökologische Bedeutung. Es kann doch niemand ernsthaft wollen, dass diese Lebensgemeinschaften der Teichgebiete verschwinden. Ohne Teichwirte wird es keine Fischteiche geben, und mit den Fischteichen verschwindet einer der hochwertigsten Lebensraumkomplexe der mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Der Schutz der Teichwirte und der Schutz der biologischen Vielfalt der Teichgebiete sind daher zwei Seiten einer Medaille. Das musste übrigens auch der Naturschutzbund Deutschland NABU feststellen. Der NABU ist der Verband, der den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des Jahres gemacht hat. Dieser NABU hat eine Teichwirtschaft gekauft und versucht nun, diese extensiv zu bewirtschaften. Er musste aber feststellen, dass wegen des Kormorans eine Bewirtschaftung nicht lohnenswert ist. Dort akzeptiert der NABU sogar den Abschuss des Kormorans - den Abschuss des von ihm selbst ernannten Vogels des Jahres. Das ist doch ein bemerkenswerter Vorgang - und das Eingeständnis, dass der Kormoran wohl doch eine Gefahr ist. Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europaweit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt nicht auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben seinerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die Probleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa lokal lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran Anfang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert war, so ist er nun überrepräsentiert. Das Europäische Parlament hat sich im sogenannten Kindermann-Bericht für ein europaweites Kormoranmanagement ausgesprochen, aber seitdem ist nichts passiert. Die Europäische Kommission sieht keinen Handlungsbedarf. Die Diskussion um den Kormoran wird äußerst emotional geführt. Das kann nicht gut sein. Das geht schon in der Bundesregierung los. Da erklärt sich der Bundesumweltminister nicht zuständig, weil der Kormoran nicht in seiner Art gefährdet ist. Deutsche Angler und Fischer haben kürzlich über 100 000 Unterschriften für ein europäisches Kormoranmanagement gesammelt. Die wollte der Herr Bundesumweltminister gar nicht annehmen, die Frau Bundeslandwirtschaftsministerin ebenso wenig - sie sei ja nicht zuständig. Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie auf europäischer Ebene auf die Erstellung eines Managementplans für Kormorane drängen will. Bislang war von diesen Bemühungen nichts zu spüren. Wir werden nun sehen, wie ernst es der Regierungskoalition mit ihren Bemühungen für ein europaweites Kormoranmanagement ist. Ein Wort noch zu dem Antrag der Linken: In Ihrem Antrag vernachlässigen Sie die Rolle der Länder mit ihren Kormoranverordnungen. Insoweit sollten Sie Ihre Überlegungen hinsichtlich der Handlungsempfehlungen, die sie beschreiben, noch einmal überprüfen. Ich jedenfalls freue mich auf intensive Diskussionen in den einzelnen Fachausschüssen, um dann hoffentlich eine für die beteiligten Gruppen zufriedenstellende Regelung zu finden.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Beschreibung der Bestandssituation des Kormorans in Deutschland und der Folgen für Biodiversität und Fischerei im vorliegenden Antrag der Linken sowie die Ziele, die verfolgt werden sollen, um die Biodiversität in Seen und Flüssen zu stärken und die Situation der Binnenfischerei zu verbessern, decken sich weitgehend mit denen unseres Antrages, den wir in der vergangenen Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag eingebracht haben. Die Linke hatte sich damals enthalten, inzwischen teilt sie unsere Erkenntnisse. Inzwischen hat auch die CDU im Landtag in Nordrhein-Westfalen einen Antrag eingebracht, in dem sie auf ein europaweites Kormoranmanagement setzt. Die überaus erfolgreichen Schutzmaßnahmen der letzten beiden Jahrzehnte für den Kormoran haben dazu geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren, dass eine Bestandsregulierung erforderlich wurde. Es gibt keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war wie der Kormoranschutz. Anfang der 90er-Jahre wurde der Kormoran wieder bei uns heimisch. Inzwischen ist er Bestandsvogel nicht nur an der Küste, sondern auch in den südlichen Bundesländern, wo er in den letzten Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen gewesen ist. Obwohl es zahlreiche Vogelarten in Deutschland gibt, die eines intensiven Schutzes bedürfen - über 30 Vogelarten sind in der Kategorie I, der vom Aussterben bedrohten Vögel, darunter Arten wie das Auerhuhn, die Haubenlerche, die Sumpfohreule oder die Zwergseeschwalbe -, hat der Naturschutzbund Deutschland e. V., NABU, den gefiederten Fischjäger zum Vogel des Jahres 2010 gemacht. Dies ist umso bemerkenswerter, als der NABU selbst eigene Erfahrungen mit dem Kormoran hat. Er ist Besitzer der Blumenberger Mühle in Brandenburg, einer Karpfenteichwirtschaft. Die Teiche besetzt der NABU mit Fischen aus einer tschechischen Satzfischaufzucht, die so groß sind, dass Kormorane sie nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche der Blumenberger Mühle gesetzt. Ein mit Spenden finanzierter Verband kann sich das leisten, für einen Binnenfischer ist ein solches Verfahren viel zu teuer. Außerdem Zu Protokoll gegebene Reden ließen sich diese Transporte leicht durch ein sinnvolles Kormoranmanagement vermeiden. Wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken - Drucksache 17/980 - eingeräumt hat, ist die Anzahl der heimischen Brutpaare auf etwa 25 000 gestiegen. Die europäische Population des Kormorans wird auf rund 700 000 erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von insgesamt etwa zwei Millionen Vögel geschätzt. Damit ist es zwangsläufig an der Zeit, über eine Regulierung nachzudenken, damit die Artenvielfalt in den Gewässern nicht unter dem enormen Fraßdruck des Kormorans zu leiden hat. Als reiner Fischfresser ist der Kormoran nicht nur für die Artenvielfalt in den Gewässern, sondern auch für die Fischerei ein Problem. Ein ausgewachsener Kormoran frisst täglich bis zu 500 Gramm Fisch. Anders als der Graureiher kann er nicht auf Mäuse oder andere Beute ausweichen. Die Verluste in der Teichwirtschaft durch Kormoranfraß - zum Beispiel Aal und Karpfen - betragen bis zu 90 Prozent. Für die bedrohten Fischarten Aal und Äsche können vergleichbare Schäden nachgewiesen werden. In Teichwirtschaft und Binnenfischerei machen die wirtschaftlichen Schäden nach Angaben der Branchenverbände bis zu einem Viertel des Gesamtumsatzes aus. Einigen Fischern und Teichwirten hat der Kormoranfraß ein Wirtschaften unmöglich gemacht. Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auch aufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, Raubtieren, die früher einmal bei uns heimisch waren, der Mensch Reh-, Rotwild- und Damwildbestände beschränken muss, um im Wald Schäden durch winterlichen Verbiss zu mindern. Genauso müssen wir jetzt durch ein nachhaltiges Bestandsmanagement für Kormorane verhindern, dass die durch verschiedene Faktoren bedrohte Fischfauna durch Kormoranfraß irreparabel in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Äsche, der Fisch des Jahres 2011, ist dafür ein Beispiel. Ihre Bestände haben sich drastisch in dem Umfang gemindert, in dem die Kormoranbestände gewachsen sind. Die sehr informative Broschüre, die der Verband der Deutschen Sportfischer herausgegeben hat, dokumentiert die Gefährdungssituation dieser Fischart. Das Heft ist sehr ansprechend gestaltet. Allerdings vermisse ich ein Grußwort der Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, Frau Professor Beate Jessel, die in den Vorjahren in solchen Heften, die sehr eindeutig dem Naturschutz verpflichtet sind, ein Grußwort geschrieben hat. Offensichtlich ist sie nicht frei, in einem Heft, in dem selbstverständlich auch der vom Kormoran verursachte Fraßdruck angesprochen wird, ein Grußwort zu schreiben. Es gibt im Rahmen der Kormoranverordnungen der Bundesländer bereits viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die eine Regulierung des Kormorans bezwecken. Der Kormoran ist allerdings ein Wandervogel, und im Laufe des Jahres kommt es zu einem massenhaften Durchzug von Vögeln aus den nordeuropäischen Staaten, die zusätzlichen Druck auf bedrohte Fischbestände ausüben. Zwar sind regionale und nationale Maßnahmen gegen den Kormoran richtig und wichtig, aber ohne eine Koordinierung dieser Maßnahmen vor allem mit unseren Nachbarländern, also ohne ein europäisches Kormoranmanagement, können wir keinen sicheren und dauerhaften Artenschutz gewährleisten und Schaden von unseren heimischen Gewässern abwenden. Ich freue mich, dass unsere Initiative der letzten Legislaturperiode Nachahmung gefunden hat. Die überaus erfolgreichen Schutzmaßnahmen für den Kormoran haben dazu geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren, dass eine Bestandsregulierung erforderlich wird. Die Regierungskoalition ist sich der Wichtigkeit eines Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiversität und des Artenschutzes unter der Wasseroberfläche bewusst. Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und FDP vereinbart, auf europäischer Ebene auf die Erstellung eines Managementplanes zu drängen. Dieses Ziel verfolgen wir weiterhin. Der entsprechende Antrag hierzu befindet sich bereits in der Abstimmung. Wir würden es begrüßen, wenn die Linke unserem Antrag diesmal zustimmt.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seitdem der Kormoran vor über 40 Jahren durch die Europäische Vogelschutzrichtlinie unter Schutz gestellt wurde, ist dessen Population in Europa und in der Bundesrepublik extrem stark gewachsen. Dass es gelungen ist, eine fast ausgestorbene Art wieder heimisch zu machen, ist ein Erfolg für den Artenschutz. Das verdient Anerkennung, und das macht Mut für andere Schutzund Wiederansiedlungsmaßnahmen. Wenn wir allerdings eine Tierart besonders schützen, müssen wir auch die Folgen im Blick haben, die ein gewachsener Bestand dieser Art auf andere Tierarten hat, und wir müssen Konsequenzen ziehen, um negative Folgen kontrollieren zu können. Deshalb stellen wir heute hier im Bundestag den Ihnen vorliegenden Antrag. Die Kormoranpopulation ist in manchen Regionen so stark gewachsen, dass sie mittlerweile ein Risiko für den Bestand von Fischarten in natürlichen und künstlichen Gewässern darstellt. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich sind Kormorane nicht der Grund, weshalb es in den bundesdeutschen Gewässern nicht mehr so viele Fische gibt wie vor hundert Jahren; das hat der Mensch mit der Verunreinigung, Verbauung und Kanalisierung von Gewässern schon selber geschafft. Dass hier etwas passieren muss, hat heute selbst die Union verstanden. Trotzdem werden immer noch Projekte realisiert, die sich auf die Fischpopulation und die Durchgängigkeit von Gewässern negativ auswirken, wie das von den Grünen mitgetragene Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg. Neben den begrüßenswerten Maßnahmen zu Renaturierung von Gewässern oder zur Verbesserung von Wasserkraftanlagen darf eine nachhaltige Strategie zum Erhalt und zur Wiederansiedlung von Fischarten die Regulierung des Kormoranbestandes nicht ausschließen. Seit Jahren häufen sich die Beschwerden von Fischern und Anglern, denen die Bejagung ihrer GewäsZu Protokoll gegebene Reden ser durch Kormorane erhebliche Verluste bereitet. Dass die Fischentnahme durch Kormorane zu erheblichen ökonomischen Einbußen für Teichwirte führt, bestreitet übrigens selbst der Naturschutzbund NABU nicht. Ich möchte einmal zwei Beispiele anführen. Vor 20 Jahren rechneten Teichwirte im letzten Aufzuchtjahr für Karpfen mit Verlusten von circa 5 bis 10 Prozent. Nach einer Erhebung des Landesfischereiverbandes Brandenburg liegen die Verluste im letzten Aufzuchtjahr mittlerweile bei fast 30 Prozent. Die Teichwirtinnen und -wirte in Brandenburg mussten dieser Erhebung nach zusätzlich zu den natürlichen Verlusten bei der Aufzucht - im Jahr 2009 außerordentliche Verluste von über einer Million Euro verbuchen - und das bei einem Gesamtjahresumsatz von 3,6 Millionen Euro. Sie können sich ausrechnen, dass Teichwirte bei dem resultierenden Einkommen darüber nachdenken müssen, ihr Unternehmen aufzugeben. Wenn in der Folge die Teiche verlanden, verlieren etliche Tierarten ihren Lebensraum. Ein zweites Beispiel aus einer anderen Region. In einem Abschnitt der Nagold, einem Fluss in BadenWürttemberg, wurden Anfang der 90er-Jahre regelmäßig zwischen 160 und 240 Äschen gefangen. Das hat der Landesfischereiverband Baden-Württemberg dokumentiert. Nachdem im Winter 1996/1997 circa 400 Kormorane dort überwinterten, sank der jährliche Ertrag auf unter 25 Äschen, und er ist bis 2008 auf diesem Niveau geblieben. Für Fließgewässer - die für überwinternde Kormorane oftmals das letzte Jagdrevier darstellen, weil sie nicht zufrieren - gibt es etliche dieser Fälle, fast alle Fischarten betreffend. Der Artenerhalt an diesen Gewässern ist zum Teil nur noch den Besatzmaßnahmen der Fischereiberechtigten zu verdanken, den kommerziellen Fischern oder den Anglervereinen. Die verspüren nach dem vierten Kormoranbesuch aber verständlicherweise keine Lust mehr, nur noch Kormoranfutter in die Flüsse zu kippen; dafür ist auch kein Geld da. Für die kommerzielle Binnen- und Küstenfischerei und auch für die Anglerverbände, deren Mitglieder in ehrenamtlicher Arbeit ihre Gewässer pflegen und damit einen aktiven Beitrag zum Naturschutz leisten, ist der unkontrollierte Kormoranbestand ein Problem, das die Politik nicht vernachlässigen darf. Wir dürfen die wirtschaftliche Bedeutung der kommerziellen und Freizeitfischerei nicht ignorieren, die in strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze sowohl in der Fischereiwirtschaft selbst als auch im Tourismus sichert, der gerade im Osten der Republik ein großes Entwicklungspotenzial darstellt. Und wir dürfen dem Fischartenschutz keinen geringeren Stellenwert einräumen als dem Vogelschutz. Am 4. Dezember 2008 hat das Europäische Parlament die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU mit großer Mehrheit aufgefordert, einen europäischen Kormoranmanagementplan zu erarbeiten und umzusetzen. Ziel dieses Kormoranmanagements sollte es sein, die Kormoranbestände in Europa langfristig in die Kulturlandschaft zu integrieren und damit Schäden an den Beständen von Wildfischarten an der Küste und in den Binnengewässern zu reduzieren sowie Schäden von der Fischereiwirtschaft abzuwenden. Das Europaparlament hat mit der Annahme des Berichts des Europaparlamentariers Heinz Kindermann das Problem der gewachsenen Kormoranpopulation in Europa anerkannt. Leider haben das nicht alle Mitgliedsländer der EU getan, sodass es bis heute kein europäisches Kormoranmanagement gibt und die Bundesregierung - das hat sie in der Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion geschrieben - in absehbarer Zeit nicht mit einem gemeinsamen Kormoranmanagementplan rechnet. Die Bundesländer können seit einiger Zeit in Kormoranverordnungen regeln, welche Schutzmaßnahmen für Gewässer ergriffen werden können. Auch wenn es wie in Schleswig-Holstein durchaus Erfolge zu verzeichnen gibt, sind die Auswirkungen der Länderverordnungen oft nur auf lokaler Ebene spürbar. Hinzu kommt, dass Abschüsse als in den meisten Verordnungen erlaubte Vergrämungsmethode oft nur zu einer Verlagerung des Problems führen und kein Instrument einer nachhaltigen Bestandskontrolle sein können. Weder der passive Schutz von Teichen mithilfe von Überspannungen noch die Renaturierung von Gewässern oder das Einbringen von Totholz als Unterstand haben bisher zum Schutz von Fischen beitragen können. In unserem Antrag schlagen wir deshalb vor, ein bundesweites Kormoranmanagement einzuführen, das auf Basis von belastbaren Zahlen und konsensfähigen Bestandszielen eine bundesweit koordinierte Bestandskontrolle ermöglicht und vorrangig durch die Regulierung der Reproduktion erfolgen soll, wie es bereits in Mecklenburg-Vorpommern erprobt wurde. Ein bestandsregulierendes Management dieser Art wird nicht von heute auf morgen umsetzbar sein und kann zunächst nur auf dem Gebiet der Bundesrepublik erfolgen, was ein Management der Zugvögel nicht ermöglicht. Daher schlagen wir vor, Entschädigungszahlungen an Teichwirte und Fischereirechtsinhaber und die Methoden zur Ermittlung von Schäden zu vereinheitlichen und dafür Mittel aus der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU einzufordern. Zudem schlagen wir, als ersten Schritt zu einem Kormoranmanagement in Europa, vor, ein gemeinsames Kormoranmanagement mit unseren Nachbarstaaten vor allem im Nord- und Ostseeraum anzustreben. Gemessen an den Aussagen verschiedenster Politiker in diesem Hause sollte einem gemeinsamen Vorgehen des Bundestags nichts im Wege stehen. Gerade die FDP hat in der Opposition - zumindest was das Kormoranmanagement angeht - auch mal gute Vorschläge gemacht, die wir glatt übernehmen können. Bei dieser Sachfrage, in der es nicht um Kalten Krieg oder ideologische Grundsatzdebatten geht, hätte der Bundestag einmal die Möglichkeit, über die Parteigrenzen hinweg konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei und für über drei Millionen Anglerinnen und Angler in der Bundesrepublik zu finden. Wir sind zu einem konstruktiven Dialog bereit. Im Bundestag reden wir oft über nachhaltiges Wirtschaften, über regionale Wirtschaftskreisläufe und ökologisch vertretbare Produktion. Weit über drei Viertel Zu Protokoll gegebene Reden des Fischs, der in der Bundesrepublik konsumiert wird, wird importiert. In manchen Teilen der Welt fischen internationale Fangflotten ihn der Bevölkerung praktisch vor der Nase weg, damit wir sie billig im Discounter kaufen können. Die Fischerei ist ein Beispiel dafür, das wir regionale Potenziale besser nutzen können. Um ein Kormoranmanagement kommen wir nicht herum, vor allem auch weil sämtliche passive Schutzmethoden an natürlichen Gewässern und Teichen nicht funktionieren. Das hat übrigens auch der NABU, der den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des Jahres erhoben hat, bei seinen eigenen Teichen an der Blumberger Mühle in Brandenburg feststellen müssen. Der RBB hat berichtet, dass der NABU seit Jahren für seine dortige Karpfenzucht tonnenweise Satzfische aus Tschechien importiert, in einer Größe, die der Kormoran nicht mehr bewältigen kann. Damit Gäste des NABU-Besucherzentrums nicht mit Vergrämungsabschüssen konfrontiert werden, wird das Problem einfach ausgelagert. Ob es über den tschechischen Zuchtteichen aussieht wie nach einer Kissenschlacht, ist dem NABU dabei offensichtlich egal. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass wir mehr Ehrlichkeit in der Diskussion um den Artenschutz in der Bundesrepublik und in Europa brauchen. Zu einem konstruktiven Dialog fordere ich an dieser Stelle ausdrücklich auch den NABU auf. Artenschutz darf weder an der Wasseroberfläche enden, noch sollte er sich auf Tiere mit hübschen Knopfaugen beschränken. Wenn wir die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie einhalten wollen, wenn wir wollen, dass Wiederansiedlungsprojekte für den Lachs oder den Stör erfolgreich sind, und wenn wir Arten wie den Aal und die Äsche - genauso wie den Kormoran - weiterhin erhalten wollen, können wir nicht auf Europa warten, sondern müssen jetzt etwas tun. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zweifelsfrei nimmt der Kormoran überall dort, wo er lebt, Einfluss auf die Fischbestände. Das ergibt sich logisch aus seinen Ernährungsgewohnheiten. Und wenn man denn diese Ernährungsgewohnheiten, also das natürliche Verhalten des Kormorans, als „Beeinträchtigung der Natur“ ansieht, dann liegt eine solche Beeinträchtigung tatsächlich auch vor. Sicher kann es dort, wo durch intensive Teichwirtschaft den Kormoranen in einer ansonsten „ausgeräumten“ Wasserlandschaft ein besonders verlockendes Nahrungsangebot gemacht wird, zu Nutzungs- und damit zu Interessenkonflikten kommen. Wir müssen uns aber abgewöhnen, diese Nutzungskonflikte immer und quasi automatisch mit Ausrottung oder Vertreibung der tierischen Konkurrenten zu beantworten. Das genau ist das erklärte Ziel des Artenschutzes. Maßnahmen zur Reduktion des Drucks auf fischereiwirtschaftliche Fischbestände unterliegen daher hohen Restriktionen, denn der Kormoran ist nach europäischem Naturschutzrecht geschützt und unterliegt damit einem strengen Schutz, der erhebliche Zugriffsverbote nach sich zieht. Das gilt insbesondere in Natura-2000Gebieten. Jede Maßnahme mit dem Ziel der Begrenzung der Bestände oder der Reduktion des Nachwuchses gilt rechtlich als „Projekt“ gemäß § 38 Bundesnaturschutzgesetz und erfordert damit eine Verträglichkeitsprüfung. In dieser wird geprüft, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensräume des Kormorans zu gewärtigen ist oder der günstige Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird. So viel zu den rechtlichen Voraussetzungen eines möglichen Kormoranmanagements. Bevor ich auf den Antrag der Fraktion Die Linke näher eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass der europäische Artenschutz für uns Grüne ein hohes Gut ist, das es zu verteidigen gilt. Nur durch diesen Artenschutz wird garantiert, dass es für jegliche Eingriffe hohe Hürden gibt und somit der Schutz von nach europäischem Recht geschützten Pflanzen und Tieren eine reelle Chance hat, sich in Abwägungsentscheidungen zu behaupten. Das am 16. März 2011 verkündete Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg zur Durchführung von sogenannten Vergrämungsaktionen an Kormorangelegen hat hierzu wichtige Argumentationslinien entwickelt. Maßnahmen, wie sie im Naturschutzgebiet „Radolfzeller Aachried“ im April 2008 durchgeführt wurden, sind rechtswidrig. Ähnlichen Aktionen ist in Zukunft ein starker Riegel vorgeschoben. Nun zum Antrag der Linken. Der vorliegende Antrag verkennt in wesentlichen Punkten die Rechtslage. Erstens. Die Aufforderung, „die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie einzuhalten“, ist sicherlich nicht falsch. Allerdings ist die Wasserrahmenrichtlinie geltendes europäisches Recht und insofern ist die Aufforderung an die Bundesregierung, geltendes Recht einzuhalten, gelinde gesagt befremdlich. Zweitens. Die Forderung nach einem bundesweiten Kormoranmanagement unter Beteiligung von Fischerei-, Naturschutz- und Anglerverbänden müsste zumindest um die Länder ergänzt werden, denn diese sind es, die die Vogelschutzrichtlinie konkret umsetzen. An ihnen vorbei ist keine Lösung denkbar. Der Antrag verkennt vor allem das Wesen der Artenschutzgesetzgebung. Ein konkretes Reglement zum Beispiel kann es gar nicht geben, denn die Vogelschutzrichtlinie gilt uneingeschränkt; es steht nicht im Belieben der EU-Mitgliedstaaten zu definieren, ab wie vielen Exemplaren der Schutz des Kormorans „überflüssig“ ist und aufhören kann. Schon gar nicht kann das mit Nutzergruppen diskutiert werden, denn der Artenschutz orientiert sich einzig und allein an artenschutzrechtlichen Kriterien, und dabei wird es hoffentlich auch bleiben. Wir Grünen jedenfalls werden uns allen Bemühungen entgegenstellen, das europäische Recht an dieser Stelle abzuschwächen. Ich bin einigermaßen entsetzt, dass sich die Linke mit diesem Antrag dazu hergibt, die Bundesregierung aufzufordern, das europäische Artenschutzrecht aufzuweichen und es unter die Maßgabe der „ausgewogenen Balance“ mit den Interessen von Fischereiwirtschaft und Freizeitfischern zu stellen. Das ist abenteuerlich und zeigt, dass sie in Fragen des Artenschutzes bis heute nichts verstanden hat. Zu Protokoll gegebene Reden Undine Kurth ({0}) Es ist sicher auch vernünftig und richtig, zu prüfen, ob und wie nachteilige Auswirkungen des Fressverhaltens der Kormorane - so sie sich eindeutig verifizieren lassen - durch Entschädigungszahlungen ausgeglichen werden können. Wir Grünen werden uns in den Ländern einer solchen Regelung sicherlich nicht verschließen. Allerdings werden auch diese Regelungen ausschließlich dort beschlossen - und nicht von der Bundesregierung. Das Verwaltungsgericht in Baden-Württemberg zum Beispiel hat die Zahlen geprüft und keine Korrelation feststellen können; die höchsten Fangerträge wurden in Radolfzell dann erzielt, als dort die Kormoranbestände am größten waren. Vielleicht wäre es erst einmal angebracht, Untersuchungen dazu auf den Weg zu bringen, wie sich Verluste beziffern lassen, um anerkannte Grundlagen für mögliche Entschädigungszahlen oder regulierende Maßnahmen zu haben. Ertragsschwankungen - darauf habe ich vor diesem Hohen Hause schon 2008 hingewiesen - haben vielfältige Ursachen. Diese monokausal auf die Kormorane zurückzuführen, ist nicht haltbar. Klimaabläufe, sinkender Phosphorgehalt der Gewässer, Undurchlässigkeit der Gewässerkörper usw. spielen insofern eine Rolle. Ich wiederhole es hier gerne: Wer die Fischbestände nachhaltig stärken will, der muss die naturnahe Bewirtschaftung von Teichen und Seen fördern, die Gewässer renaturieren, Laich- und Lebensräume erhalten, anstatt die Schuld für Ertragseinbußen dem Kormoran in den Schnabel zu schieben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: 23 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer ({0}), Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen NVA und ziviler Einrichtungen - Drucksache 17/5233 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen - Drucksache 17/5365 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA - Drucksache 17/5373 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.

Karin Strenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mancher, der die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beobachtet, mag den Eindruck haben, wir kümmerten uns vor allem um Gegenwart und Zukunft. Da geht es um die Ausrüstung für unsere Soldaten, um den Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee und um Nachwuchswerbung, um Mandate, um Standorte und um sicherheitspolitische Konzepte. Dieser Eindruck ist richtig - und zugleich nicht wahr. Denn seit mehr als elf Jahren beschäftigen sich Sicherheits- und Verteidigungspolitiker auch mit einem Problem, das uns aus der Vergangenheit bis heute begleitet. Dass in den 60er- und 70er-Jahren Soldaten in Ost und West durch Radarstrahlen gesundheitliche Schäden erlitten haben, ist heute unumstritten. Ich erinnere auch daran, dass es der Verteidigungsausschuss war, der für die Einsetzung einer unabhängigen Radarkommission gekämpft hatte. In ihrem Abschlussbericht kam die Kommission 2003 zwar zu dem Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusammenhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späteren Erkrankungen gebe. Gleichwohl war dies keine Vorlage, um finanzielle Hilfe zu verweigern. Im Gegenteil: Die Kommission empfahl vielmehr vereinfachte Kriterien, um Versorgungsanträge anzuerkennen. Bis heute sind mehr als 3 800 Anträge eingegangen von Berufs- und Zeitsoldaten, Wehrpflichtigen, Beamten und Arbeitnehmern. Darunter waren auch fast 1 500 ehemalige NVA-Soldaten. Jeder fünfte Antrag - bislang etwa 770 - wurde anerkannt. Dies mag auf den ersten Blick wenig erscheinen, denn 68 Prozent der Anträge wurden nicht anerkannt. Man hat die Anträge gleichwohl sehr großzügig geprüft - wissend, wie schwierig für den Betroffenen der Nachweis sein kann, dass seine heutige Erkrankung mit der Arbeit an Radargeräten vor Jahrzehnten zusammenhänge. Die Anerkennungskriterien der Radarkommission sind vielfach weit ausgedehnt worden - im Zweifel für das Opfer, gewissermaßen. So wurden etwa trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos - Beispiel: starkes Rauchen - Ansprüche anerkannt. Man hat bei der Entscheidung über die Anträge auf den eigentlich vom Gesetz geforderten Kausalitätsnachweis im Sinne eines Vollbeweises verzichtet, wenn eine sogenannte qualifizierte Tätigkeit und eine qualifizierte Erkrankung vorlagen. Man ging vielmehr von diesem Zusammenhang aus - und zwar gleichermaßen bei früheren Angehörigen der NVA und der Bundeswehr. Es wäre deshalb falsch, Verschwörungstheorien zu stricken. Niemand - weder im Verteidigungsministerium noch anderswo - hat das Ziel, die Fälle auszusitzen. Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt wurden, bisweilen ungerecht behandeln fühlen, ist menschlich nachvollziehbar. Ich nehme aber ausdrücklich die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet haben und weiter begleiten. Sie handeln nach Recht und Gesetz. Nun können wir sicher nicht davon ausgehen, dass mit den bewilligten Anträgen auf ewig alle Probleme aus der Welt geschafft wären. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Alltag bleiben häufig. Und mehr noch: Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter - leider wohl eher selten zum Besseren. Eine Stiftung, wie sie immer wieder vorgeschlagen wird, hätte auf den ersten Blick Charme. Allerdings sind diese Überlegungen keineswegs neu. Das Verteidigungsministerium hat eine solche Idee seinerzeit unter Beteiligung anderer Ressorts verworfen, weil es erstens für die betroffenen Gruppen bereits gesetzliche Bestimmungen als Grundlage für Versorgungsanträge gibt und weil zweitens - so das Ergebnis der Prüfung - eine Stiftung einseitig Menschen begünstigen würde, bei denen auch bei wohlwollender Betrachtung ein Zusammenhang zwischen Gesundheitsschaden und früherer Arbeit an Radargeräten unwahrscheinlich ist. Auch eine Stiftung braucht natürlich Kriterien, um Ansprüche zu prüfen; schließlich geht es um Steuergeld. Wegen einer Behauptung allein kann keine Unterstützung gezahlt werden. Überdies müsste auch diese Stiftung zunächst mit Geld gefüttert werden, um überhaupt helfen zu können. Natürlich spricht prinzipiell wenig dagegen, die Radargerätehersteller an der Entschädigung zu beteiligen. Dies wäre sogar wünschenswert, aber ob es auch machbar ist, werden wir sehen. Manches, was die Fraktion Die Linke fordert, wird bereits gemacht. Auch deshalb werden wir dem Antrag nicht zustimmen. So erhält der Verteidigungsausschuss einmal im Jahr einen schriftlichen Sachstandsbericht; und die Vorschläge der Radarkommission werden schon lange eins zu eins umgesetzt. Andere Forderungen klingen prima - bis man sich mit den Konsequenzen beschäftigt. Natürlich wollen wir nicht, dass sich ehemalige NVA-Soldaten als Opfer zweiter Klasse fühlen. Aber wer eine Gleichbehandlung fordert, sollte auch wissen, was uns dann laut Juristen erwartet: Es könnte bedeuten, dass wir den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 noch einmal aufbohren müssten - nach fast 21 Jahren. Dennoch sind wir dafür, dass der Bundestag die Entschädigungsfrage noch einmal aufgreift. Ich halte das auch aus ethischen Gründen für geboten. So wie wir eine Fürsorge für aktive Soldaten haben, so haben wir sie für ehemalige Angehörige von Bundeswehr und NVA. Es bedrückt mich, wenn ich in Gesprächen höre, wie enttäuscht Radaropfer von NVA und Bundeswehr heute sind. Ich bedauere es, dass diese Männer keine guten Erinnerungen an ihre Armeezeit haben, weil das Heute alles überlagert, was sie damals erlebt und geleistet haben. Es ist so, dass sich das Bild des Kameraden seit der Gründung der Bundeswehr gewandelt hat - zum Glück. Eine seelische Wunde ist heute kein Stigma mehr, und wer sich zu seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwächling. Ich kann mir vorstellen, dass das einst anders war und dass Schmerzen nicht vorgesehen waren. Man hat sich weniger Gedanken gemacht um das Wohlergehen der Soldaten, auch um ihren Gesundheitszustand. Hinzu kommt, dass man bis in die 60er-Jahre hinein bisweilen eher unbedarft mit der Strahlengefahr umgegangen ist. Wie schwer der Kampf für ihre Rechte ist, auch davon können die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit ihren Forderungen - um das einmal vorsichtig zu sagen bei der Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer offene Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück geändert. Vergessen wir nicht, dass sich die Folgen von Strahlen nicht sofort zeigen, sondern oft erst Jahre und Jahrzehnte später. Es fehlte damals letztlich auch das Wissen, ja das Bewusstsein. Radar ist bis heute ein Thema, für das es nur wenige Fachleute in Deutschland gibt. Allen werden wir es trotzdem nie Recht machen können. Wer von der Politik absolute Gerechtigkeit und die Zufriedenheit aller Betroffenen verlangt, ist blauäugig. Das ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit ganz unterschiedlichen Schicksalen zu tun haben - und eben nicht mit einer Art Standarderkrankung, die alle betrifft. Es kann aber darum gehen, sich noch einmal intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Das werden wir tun. Bereits morgen gibt es auf Arbeitsebene eine neues Gespräch. Die Entschädigung von Radaropfern ist ohne Zweifel ein sperriges Thema, das uns an Grenzen führt. Einfache Lösungen bieten sich nicht an, auch weil das, was in den 60er- und 70er-Jahren geschehen ist, kaum dokumentiert ist. Juristische Hürden kommen hinzu. Ich sehe allerdings im Bundestag den politischen Willen, bei der Entschädigung noch einmal aktiv zu werden - und zwar dort, wo es nötig ist. Meine Fraktion wird sich dem nicht verschließen. Wir werden versuchen, interfraktionell eine unbürokratische Lösung zu finden.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Uns liegen heute sowohl der Antrag der SPD als auch der Antrag der Linken vor. Es wird ein möglichst zügiger und unbürokratischer Ausgleich für Radargeschädigte Zu Protokoll gegebene Reden der Bundeswehr und der ehemaligen NVA gefordert. Dabei wird unter anderem eine Stiftungslösung in Erwägung gezogen. Weiterhin wird gefordert, dass die Entschädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr und der früheren NVA angeglichen werden. Der Antrag der Linken fordert zur Aufklärung und Dokumentation der Verstrahlung sowie zur Verbesserung der Strahlensicherheit darüber hinaus eine erneute Einsetzung einer Expertenkommission, wie wir sie im Jahre 2002 eingerichtet hatten. Anfang Juli 2003 hat die Expertenkommission ihren Abschlussbericht vorgelegt. Bis heute werden die enthaltenen Empfehlungen konsequent umgesetzt. Bei Vorliegen einer qualifizierten Erkrankung und einer qualifizierenden Tätigkeit wird auf den individuellen Kausalitätsnachweis verzichtet. Das bedeutet, dass im Einzelfall nicht nachgewiesen werden muss, dass die Erkrankung tatsächlich auf die Beschäftigung an und mit Radargeräten hervorgerufen worden ist. Diese Regelung halte ich so nach wie vor für sinnvoll und richtig. Im Übrigen wurde den Betroffenen in vielen Fällen bei der Auslegung der Anerkennungskriterien entgegengekommen. Einzelfälle und Vorgehensweisen wurden in der Vergangenheit an sogenannten runden Tischen zusammen mit Vertretern des Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter beraten. Bislang wurden etwa 20 Prozent der Anträge positiv beschieden, circa 68 Prozent wurden abgelehnt. Eine erneute Einrichtung einer Expertenkommission halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für nicht erforderlich. Der Bericht der Radarkommission entspricht nach wie vor dem Stand von Wissenschaft und Technik. Sollten zukünftig neue wissenschaftliche Erkenntnisse eine Ergänzung dieser Regelung nötig machen, so wird die Bundesregierung das selbstverständlich berücksichtigen. Die SPD fordert die Angleichung der Entschädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr und der früheren NVA. Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, dass wir uns seit der Jahrtausendwende mit dem Thema der Radarstrahlenproblematik beschäftigen. 2001 wurde umfassend geprüft, ob es eines neuen Gesetzes für die Opfer von Radarstrahlen bedarf. Letztlich wurde jedoch davon Abstand genommen, da für die betroffenen Personen bereits Rechtsvorschriften bestehen, die Leistungen bei einer durch dienstliche Tätigkeiten bedingten gesundheitlichen Schädigung vorsehen. Dabei handelt es sich um Versorgungsansprüche wegen einer strahlenbedingten Beschädigung - für Soldaten der Bundeswehr nach den Bestimmungen des Soldatenversorgungsgesetzes, für Beamte nach den Regelungen des Beamtenversorgungsgesetzes und für Arbeitnehmer nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung. Ehemalige Soldaten der NVA können einen Anspruch nach dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz geltend machen. Dass ehemalige Angehörige der NVA nicht in der Versorgung durch das Soldatenversorgungsgesetz mit einbezogen wurden, steht im Einigungsvertrag und wurde um Zuge der Gesetzgebung zur Überleitung von Ansprüchen nach dem Recht der DDR beschlossen. Die unterschiedlichen Regelungen bei geschädigten Grundwehrdienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Regelungen für Wehrdienstleistende der Bundeswehr resultieren aus den vom Gesetzgeber als angemessen erachteten Regelungen. Ansprüche, die frühere Wehrpflichtige wegen Unfällen bei der NVA nach den Gesetzen der DDR aus der allgemeinen Sozialversicherung hatten, wurden in die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet. Diese Unfälle waren in der DDR Arbeitsunfällen gleichgestellt; die Überleitung ist also sachgerecht. Die Hinterbliebenen bleiben nicht unversorgt, sondern haben gleiche Ansprüche wie Hinterbliebene der Opfer von Arbeitsunfällen. Bei der Frage, inwieweit Soldaten durch Radargeräte Gesundheitsschäden erlitten haben und wie mit diesen Gesundheitsschäden umzugehen ist, handelt es sich jedoch um eine schwierige und komplexe Thematik, die weit über die gesetzlichen Versorgungsvorschriften hinausgeht. Die Frage, ob die Gründung einer Stiftung in diesem Fall sinnvoll ist, lässt sich richtigerweise nur mit Nein beantworten. Genau wie zur Schaffung eines Sondergesetzes ist insofern zu sagen, dass alle eingehenden Versorgungsanträge auf gesetzlicher Grundlage entschieden werden. Eine Stiftung zur Unterstützung derjenigen, deren Anträge auf dieser Grundlage und trotz der erheblichen Erleichterungen abgelehnt wurden, wäre mit den Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts nicht vereinbar. Es kann nun mal nicht sein, dass ein Antragsteller lediglich aufgrund einer Behauptung eine Leistung erhält. Ich weiß, dass dieses Thema immer wieder zu Recht viele Emotionen hervorruft. Die damalige Regierung hat eine Regelung getroffen, die den Opfern so gerecht wie möglich wird. Leider kann es niemals eine Lösung geben, die von allen Betroffenen als gerecht empfunden wird. Ich bin jedoch nach wie vor der Ansicht, dass die vorhandenen gesetzlichen Regelungen und die im Abschlussbericht der Radarkommission enthaltenen Empfehlungen eine geeignete Grundlage für die Entscheidung über die Entschädigung von Radaropfern darstellen und dass somit die Einrichtung einer Stiftung nicht erforderlich ist. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist daher umfassend abzulehnen. Dem Antrag der Fraktion der SPD vermag ich nur in einzelnen Aspekten zuzustimmen, wobei ich davon ausgehe, dass die meisten dieser Punkte, die ich ja eben auch angesprochen habe, bereits umgesetzt wurden bzw. bald berücksichtigt werden.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bis in die 80er-Jahre sind Angehörige der Bundeswehr und der ehemaligen NVA mit ionisierender Strahlung und Radarstrahlung in Berührung gekommen und haben Partikel inkorporiert. Einige sind daraufhin zum Teil schwer erkrankt. Da aufgrund des fehlenden Gefahrenbewusstseins genaue Aufzeichnungen über Dauer und Art der Exposition fehlen, können Betroffene häufig nur auf unzureichendes „Beweismaterial“ für ihre Schädigung zurückgreifen. Der Deutsche Bundestag hat sich daher seit dem Jahr 2000 mit der Frage der Entschädigung dieser Soldaten Zu Protokoll gegebene Reden beschäftigt. Im Jahr 2002 wurde eine Kommission mit der Untersuchung dieser Fälle beauftragt. 2003 hat die „Radarkommission“ in ihrem Abschlussbericht Kriterien erstellt, die festlegen, in welchen Fällen eine Krankheit auf Strahleneinwirkung zurückzuführen ist. Die Beschreibung qualifizierender Tätigkeiten und qualifizierender Erkrankungen sollte die Anerkennungsverfahren beschleunigen und erleichtern. In diesem Zusammenhang wurde von der Radarkommission auch die Umkehr der Beweislast in Teilbereichen zugunsten der Betroffenen empfohlen. Von 3 803 gestellten Anträgen wurden 19,7 Prozent zugunsten der Antragsteller entschieden, 68 Prozent der Anträge wurden abgelehnt, der Rest befindet sich im laufenden Verfahren. Die Interessenvertreter der jeweiligen Betroffenengruppen - Bundeswehr und ehemalige NVA - gehen davon aus, dass die Anerkennungskriterien des Radarberichts nicht umfassend im Sinne der Antragsteller auslegt werden, was die Bundesregierung entschieden zurückweist. In der 16. Wahlperiode waren sich alle im Parlament vertretenen Fraktionen einig, dass es zeitnah eine Lösung des Problems im Sinne der Betroffenen geben muss. In Umsetzung der Ergebnisse der Radarkommission und vor dem Hintergrund des hohen Alters der Betroffenen fordern wir als SPD die Bundesregierung daher auf, zeitnah eine praktikable Lösung im Sinne der Betroffenen vorzulegen. Wir streben vorzugsweise eine Stiftungslösung an, die den unterschiedlichen Betroffenengruppen gerecht wird. Diese Stiftungslösung ermöglicht darüber hinaus die Einbeziehung der Gerätehersteller sowie die Erschließung weiterer Stiftungsgelder. Eine weitere Angleichung der unterschiedlichen Anerkennungs- und Entschädigungsverfahren von ehemaligen Bundeswehrangehörigen und NVA-Soldaten muss ebenfalls weiter vorangebracht werden. Die Entscheidungsspielräume sollen dabei zugunsten der Betroffenen ausgelegt werden. Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen, dass die Ergebnisse der Radarkommission - wie vom Verteidigungsausschuss einstimmig beschlossen und vom Verteidigungsministerium zugesagt - eins zu eins umgesetzt werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch nach Vorliegen eines Gesetzes weiterhin neue Erkenntnisse der medizinischen und biologischen Forschung in die Entscheidungen mit einfließen. Hier ist ein dynamisches Vorgehen notwendig. Für die Vermittlung in Zweifelsfällen fordern wir ein - auch von der Radarkommission befürwortetes - unabhängiges Gremium zur Entscheidungsfindung einzubeziehen. Dem Verteidigungsausschuss muss zu den Bemühungen und den weiteren Schritten der Bundesregierung jährlich ein Evaluierungsbericht vorgelegt werden. Lassen Sie uns im Sinne der Betroffenen zügig handeln und entscheiden!

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Suche nach einer geeigneten Lösung bei der Entschädigung der Radaropfer beschäftigt den Bundestag schon seit mehr als zehn Jahren. Ich möchte meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss, sowohl aus den Oppositionsfraktionen, als auch den Regierungsfraktionen, für die gute Zusammenarbeit und das gemeinschaftliche Engagement für die Radargeschädigten danken. Die sachorientierte gemeinsame Arbeit mit Ihnen, meine lieben Kolleginnen Malczak, Höger und Strenz und lieber Kollege Meßmer, zeigt, dass die Suche nach einer geeigneten Lösung für die Opfer von Radarstrahlen ein gemeinsames Anliegen aller Fraktionen des Bundestages ist. Der grundsätzliche Konsens, der schon in der letzten Legislaturperiode bei diesem Thema leitend war, sollte für uns auch in dieser Legislaturperiode weiterhin die Richtschnur unseres Handelns sein. Auch wenn wir alle ein gemeinsames Ziel verfolgen, sind unsere Wege, wie wir es erreichen wollen, momentan noch unterschiedlich. Die aktuellen Zahlen, vorgelegt in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke in Drucksache 17/3137, zeigen, dass sich die Zahl der Entschädigungen zugunsten der Antragsteller erhöht hat. Auch wenn die Entschädigungspraxis in Teilen stärker zum Vorteil der Antragsteller ausgelegt wird, zeigt die Zahl von 68 Prozent abgelehnter Anträge, dass das von uns allen gewünschte Ziel der „Eins-zu-einsUmsetzung“ der Empfehlung der Radarkommission bisher nicht erreicht wurde. Aus meiner Sicht brauchen wir daher eine umfassendere Lösung. Und - dies ist mir dabei besonders wichtig -: Es darf hier nicht nur bei warmen Worten bleiben, sondern wir müssen nun konkrete Maßnahmen ergreifen und Taten folgen lassen. Wir sind bereit, die notwendigen Mittel aus dem Verteidigungshaushalt zur Verfügung zu stellen. Der Ausgleich für Radargeschädigte ist aber nicht nur eine finanzielle Frage, sondern es geht hierbei auch um die Würdigung der Lebensleistung dieser Menschen zugunsten unseres Vaterlandes. Ich habe mich daher sehr gefreut, dass sich Ende letzten Jahres der Verteidigungsminister mit den Vertretern der Opferverbände zu einem Gespräch getroffen hat. Dieses persönliche Gespräch war für die Betroffenen besonders wichtig, da ihnen erstmalig in den vielen Jahrzehnten ihrer Arbeit die Möglichkeit gegeben wurde, ihr Anliegen dem Verteidigungsminister direkt darzustellen, und Ihnen so Achtung erwiesen wurde. Die Gleichbehandlung der Radargeschädigten in Ost und West, der NVA und der Bundeswehr, ist aus meiner Sicht geboten. Seit dem Mauerfall ist die Bundeswehr zur Armee der Einheit zusammengewachsen. Es darf daher keine Opfer zweiter Klasse geben, auch wenn die Bundesrepublik gemäß BGH-Urteil nicht für die Verbindlichkeiten der NVA haftet und der Einigungsvertrag differenziert. Dieser besagt nämlich, dass wir NVA und Bundeswehr nicht gleich behandeln müssen. Er lässt uns Zu Protokoll gegebene Reden aber im Jahre 2011 die Möglichkeit, dass wir nun aus übergeordneten politischen Gründen gleich behandeln. Das ist unser politischer Wille. Wir als FDP-Fraktion setzen uns schon seit Anfang 2001 für eine großzügigere Entschädigung der Radarstrahlenopfer ein und haben dieses immer wieder, sowohl im Verteidigungsausschuss als auch im Plenum, zum Ausdruck gebracht. Wir laden daher alle Fraktionen ein, mit uns eine geeignete Lösung zu finden und unseren breiten Konsens in einer gemeinsamen Initiative zum Ausdruck zu bringen.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit vielen Jahren kämpfen radargeschädigte ehemalige Soldaten aus Ost und West für eine angemessene Anerkennung und für eine Entschädigung für Erkrankungen, die auf ihre Tätigkeit an Radaranlagen zurückgeführt werden können. Es ist dringend notwendig, dass die Bundesregierung hier schnell Abhilfe schafft, da die Betroffenen immer älter und kränker werden. In ein paar Jahren ist es für viele zu spät. In der Vergangenheit entstand der Eindruck, die jeweiligen Bundesregierungen spielen auf Zeit und drücken sich um eine umfassende Lösung des Problems. Damit muss nun endlich Schluss sein. In der vergangenen Legislaturperiode waren sich Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien einig, dass es zeitnah eine umfassende Lösung des Problems geben muss. Allerdings hapert es bei der Umsetzung durch die verschiedenen Bundesregierungen. Der Prozess der Aufarbeitung stagniert seit Jahren. Das ist angesichts des Alters der Betroffenen und der ernsthaften Erkrankungen unerträglich. Die Linke fordert eine schnelle, unbürokratische und umfassende Anerkennung und Entschädigung der Strahlengeschädigten. Dabei dürfen die Ermessensspielräume für das Vorliegen der Anerkennungskriterien nicht zu eng gefasst sein. Ehemalige Angehörige der NVA und der Bundeswehr müssen gleich behandelt werden. Bislang sind radargeschädigte Bundeswehrsoldaten wegen der seltenen Anerkennung ihrer Krankheit Bürger zweiter Klasse. Ehemalige Soldaten der NVA sind sogar Bürger dritter Klasse. Sie unterliegen laut Einigungsvertrag dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz. Dies ist aus Sicht der Betroffenen noch „strenger“ als das Soldatenversorgungsgesetz, das für ehemalige Bundeswehrsoldaten gilt. Die Bundesregierung erklärt, dass diese Ungleichbehandlung politisch gewollt ist. Das ist aus unserer Sicht unerträglich. Die Linke fordert auch, dass neben dem Staat als Arbeitgeber auch die Radargerätehersteller als Mitverantwortliche an den Entschädigungskosten zu beteiligen sind. Außerdem brauchen wir mehr Transparenz und mehr Mitbestimmung durch den Bundestag. Deshalb soll es erneut eine Radarkommission geben, die dem Bundestag regelmäßig einen Bericht vorlegt. Die Linke ruft die Bundesregierung außerdem dazu auf, strahlengeschädigten Angestellten ziviler Einrichtungen, wie zum Beispiel der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut oder von Atomkraftwerken, eine angemessene Anerkennung und Entschädigung zuteilwerden zu lassen. Gerade die Nuklearkatastrophe in Fukushima zeigt, dass in diesem Bereich die Gefahren immens sind. Wer weiß, was da in den nächsten Jahren auf uns zukommt! Wenn strahlengeschädigte Menschen - aus Ost oder West, militärisch oder zivil beschäftigt zu ihrem Recht kommen sollen, müssen für alle Strahlengeschädigten dieselben gesetzlichen Regelungen gelten. Alles andere schafft nur wieder neue Spaltungen und Ungerechtigkeiten. Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Stiftung, die die Anerkennung und Entschädigung in die Hand nehmen soll. Diese Forderung ist nicht falsch und kann nicht schaden. Allerdings hatte eine interfraktionelle Anfrage an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages ergeben, dass es im Sinne der Betroffenen zielführender ist, von der Bundesregierung ein Radarstrahlenopfergesetz zu fordern. Dies Gesetz soll den genannten Kriterien entsprechen. Es bleibt dann der Bundesregierung überlassen, ob dafür die Gründung einer Stiftung notwendig ist oder nicht. Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr komplex und vielschichtig. Ich befürchte, dass diese Forderung erneut auf Bürokratisierung und Verzögerung hinausläuft. Die Strahlengeschädigten haben diese Zeit aber nicht mehr. Ich möchte Sie bitten, in den Ausschussberatungen über den parteipolitischen Tellerrand hinauszuschauen und sich dafür einzusetzen, zügig die Rechte der Betroffenen zu stärken. Es ist fünf vor zwölf. Die Strahlengeschädigten können nicht länger warten.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ehemalige Soldaten der Bundeswehr und der NVA sind bis in die 80er-Jahre hinein während ihrer Dienstausübung nachhaltig geschädigt worden. Viele von ihnen waren Wehrpflichtige. Verursacht wurde diese Schädigung durch Strahlungsquellen in Geräten, die in der täglichen Dienstausübung zum Einsatz kamen. Warnungen vor diesen Strahlenquellen kamen zu spät oder wurden zu lange banalisiert. Die betroffenen Menschen sind auch Jahre später als Folge dieser Verstrahlung schwer erkrankt. Seit 2001 ist dieser Umstand bekannt, seit 2003 liegt mit dem Abschlussbericht einer unabhängigen Expertenkommission eine umfassendere Erfassung der Zusammenhänge und eine Empfehlung für eine wohlwollende Entschädigungs- und Versorgungspraxis vor. Doch die damals vom ehemaligen Verteidigungsminister Scharping zugesagte „streitfreie und großherzige Lösung“ ist auch heute nicht wirklich in Sicht. Der Staat nutzt stattdessen juristische Spielräume aus, die sich aus dem Umstand ergeben, dass der direkte Zusammenhang zwischen Erkrankung und Einsatz an den Geräten oft nicht nachzuweisen ist. Die zuständigen Behörden führen mit den Betroffenen endlose bürokratische Auseinandersetzungen über Beweismittel und Gutachten. Am Ende steht in der überwiegenden Zahl eine Entscheidung gegen die Interessen der Betroffenen. Das ist wirkZu Protokoll gegebene Reden lich ein Armutszeugnis für die Fürsorgepflicht gegenüber aktiven und ehemaligen Soldaten. Seit Jahren setzen sich der Bund zur Unterstützung Radargeschädigter, als Interessenvertretung ehemaliger Bundeswehrsoldaten, und der Bund zur Unterstützung Strahlengeschädigter, die Interessenvertretung ehemaliger NVA-Angehöriger, für eine verbesserte Entschädigungspraxis ein. Für ihr Engagement, ihren Mut und ihre Ausdauer gebührt ihnen Dank und Anerkennung dieses Hauses. Nur reicht die Erklärung dieses Dankes nicht mehr aus. Die größte Anerkennung zeigen wir, indem wir endlich diese traurigen Zustände beenden. Wir alle sind uns darüber einig, dass den betroffenen Menschen geholfen werden muss. Dabei geht es nicht einmal um die abschließende Klärung von Schuld; es geht vielmehr um die Übernahme von Verantwortung. Und eine besondere Verantwortung haben wir für die ehemaligen Angehörigen beider Armeen - der Bundeswehr und der NVA. Die Probleme bei den Anerkennungsverfahren sind schon oft thematisiert worden; sie müssen aber auch angegangen werden. Dabei spielt Zeit eine ganz entscheidende Rolle. Zehn Jahre, nachdem die Problematik erstmals bekannt wurde, ist es allerhöchste Zeit für Lösungen. Wer sich hier weiter hinter der Komplexität der Frage versteckt, wird unglaubwürdig und fügt den Betroffenen unnötigerweise weiteres Leid zu. Denn während Formen der Entschädigung hin und her diskutiert werden und Parlament und Bundeswehrverwaltung, Regierung und Opposition ihre Konkurrenzen austragen, leiden Menschen und ihre Angehörigen. Zu viele der Betroffenen erleben das Ende der lang gezogenen Verwaltungsverfahren nicht mehr. Seit geraumer Zeit mahnen alle Fraktionen hier Verbesserungen an. Aber wenn wir uns dabei in parteipolitisches Gezänk verstricken, werden zu viele der betroffenen Menschen die Lösung für die offenen Verfahrensfragen nicht mehr erleben. Dieser Gedanke sollte uns alle innehalten lassen. Dieses Thema eignet sich nicht dazu, die Grenzen zwischen den Parteien, zwischen Koalitionsfraktionen und Opposition zu betonen. Stattdessen sollten wir bei dieser Frage über unseren Schatten springen - zugunsten der Betroffenen - und gemeinsam für eine vor allem schnelle Lösung arbeiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5233, 17/5365 und 17/5373 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan - Drucksache 17/4879 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Die Reden nehmen wir zu Protokoll.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Namen der in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bin ich dankbar dafür, dass wir uns im Deutschen Bundestag mit dem Einsatz der deutschen Polizei im bilateralen Polizeiprojekt wie auch bei der EUPOL-Mission beschäftigen. Ziel dieses Einsatzes ist es, der afghanischen Polizei die Fähigkeit zu vermitteln, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in ihrem Land in den kommenden Jahren selbstständig zu gewährleisten. Dabei orientieren wir uns an afghanischen, nicht an deutschen Maßstäben. Die heutige Debatte gibt uns Gelegenheit, die Ergebnisse in einem Zwischenfazit zu würdigen. Das kann man in unterschiedlicher Form tun: Von uns, der CDU/CSUFraktion, werden die unter schwierigen Bedingungen erarbeiteten guten Ergebnisse unserer Beamtinnen und Beamten gewürdigt, von den Linken in ihrem Antrag eher entwürdigt. Wichtige Akteure beim Polizeiaufbau in Afghanistan sind die europäische Polizeimission EUPOL Afghanistan, die NATO Training Mission in Afghanistan und in einem besonderen Maße unser bilaterales deutsches Polizeiprojektteam GPPT. Was haben wir bisher erreicht? Nach Beendigung der terroristischen Talibanherrschaft sind wir dabei, ein für afghanische Verhältnisse beachtliches demokratisch orientiertes Polizeisystem mit aufzubauen. Deutschland sorgt dabei in erheblichem Maß für eine allgemeine Polizeiinfrastruktur und den Bau und Ausbau von Trainingszentren, in denen jährlich etwa 5 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet werden können. In Kabul sowie den Außenstellen in Masar-i-Scharif, Kunduz und Faizabad wurden Polizeitrainingszentren errichtet, deren Kapazität derzeit erweitert wird. Das Polizeitrainingszentrum Kabul wird dabei ausschließlich für das sogenannte „Train the Trainer“-Programm genutzt. Die ursprüngliche Zielstärke von 500 ausgebildeten afghanischen Trainern bis Ende 2012 wird voraussichtlich deutlich übertroffen. Im Rahmen des bilateralen deutschen Engagements ist das „Train the Trainer“-Modul neben der Aus- und Fortbildung und der Beteiligung am Focused-District-Development-Programm, kurz FDDProgramm, ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Unterstützungsleistung. Von afghanischen Trainern sowie von deutschen Polizisten und Feldjägern wurden allein in diesem Jahr über 1 100 Polizisten erfolgreich ausgebildet, circa 2 000 weitere werden folgen. Gerade die Aus- und Fortbildung von Führungskräften, vor allem auch durch Weitergabe von politischer Bildung und Defizitabbau beim Lesen und Schreiben, war und ist ein wesentlicher Beitrag zur Professionalisierung der afghanischen Polizei. Daher möchte ich an dieser Stelle ganz besonderes unseren deutschen Polizistinnen und Armin Schuster ({0}) Polizisten danken, die diese harte Arbeit Tag für Tag mit Stolz verrichten. Zugegebenermaßen gab es auch Probleme, so zum Beispiel bei der Rekrutierung mangels Teilnehmer und einer hohen Verlustrate bei den ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften. Das Ziel der Londoner Konferenz von 134 000 Polizisten bis Oktober 2011 war gefährdet. Aber gerade in solch schwierigen Situationen muss man seiner Führungsverantwortung gerecht werden und Probleme bewältigen, statt vor ihnen davonzulaufen, wie es uns die Linken in ihrem Antrag empfehlen. Und wie weit Sie mit Ihren Empfehlungen danebenliegen, könnten Sie am besten vor Ort erfahren. Ich bin sehr beeindruckt, dass unsere deutschen Polizistinnen und Polizisten mir vor Ort regelmäßig das Vertrauen mit auf den Weg geben, diese Schwierigkeiten lösen und die Projekte erfolgreich zu Ende bringen zu wollen, Mit dieser Motivation kommen wir auch politisch Schritt für Schritt voran: Durch Anreizprogramme, wie einer besseren Bezahlung und einer Weiterverpflichtungsprämie, haben sich zum Beispiel wieder deutlich mehr Polizeischüler beworben. Vor allem werden wir aber für unser nachhaltiges und ganzheitliches Schulungskonzept bei den Afghanen wie auch bei den Bündnispartnern hoch geschätzt: Nicht nur eine angepasste Staatsbürgerkunde zeigt Wirkung, unser Alphabetisierungsangebot gilt als Auszeichnung und sorgt für ein hervorragendes Bild über uns, nicht nur in der arabischen Welt. Wem es hier an Zuversicht fehlt, was diesen Einsatz anbelangt, dem empfehle ich eine Reise nach Afghanistan. Die Motivation, die Sie vor Ort bei unseren Leitern, Ausbildern und den afghanischen Auszubildenden erleben, würde ganz sicher dazu führen, dass ein Antrag der Linken, wie wir ihn heute diskutieren müssen, so nicht geschrieben würde. Auch im Bereich der polizeilichen Infrastruktur gibt es mutmachende Erfolge: Im Jahr 2010 wurde der Bau der Grenzpolizeifakultät an der Polizeiakademie in Kabul abgeschlossen. Eine Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif befindet sich noch im Bau. Die Hauptquartiere der Verkehrs-, Bereitschafts- und Grenzpolizei in Kabul sowie eine Reihe von Hauptquartieren in den Provinzen, etwa in Faizabad, und Distrikten konnten bereits übergeben werden. Zahlreiche für die örtliche Sicherheit besonders wichtige feste Checkpoints wurden fertiggestellt, andere sind noch im Bau. Das spricht für Taten und Perspektiven! Nicht ohne Grund verhält sich Deutschland über alle Fraktionen hinweg sehr sensibel, wenn es darum geht, mit den Bündnispartnern in militärische Einsätze zu gehen. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber die Chance, seinen Bündnisverpflichtungen im Schwerpunkt insbesondere auf dem Sektor der Demokratisierung und des zivilen Wideraufbaus, also zum Beispiel der polizeilichen Aufbauhilfe nachzukommen. Wir haben das Know-how, die Infrastruktur und eben ein weltweit hervorragendes Image, das wir uns in vielen internationalen Polizeieinsätzen erarbeiten konnten. Daher stellt sich für mich nicht die Frage des Ausstiegs, sondern eher die Frage: Sind wir bei der Polizei für bevorstehende internationale Aufgaben in diesen Bereichen zukunftsfähig aufgestellt? Bei diesen Missionen, wie zum Beispiel im Kosovo, in Moldawien oder dem Sudan, handelt es sich um Einsätze unter ganz besonderen Bedingungen. Das ist uns sehr wohl bewusst. Betonen möchte ich daher, dass die deutschen Polizistinnen und Polizisten freiwillig diesen außergewöhnlichen Dienst leisten. Durch eine handverlesene Auswahl, durch besonderes Training und spezielle Ausstattung tun wir alles dafür, dass diese robusten Einsätze zwar nicht ungefährlich, aber verantwortbar bleiben. Aus diesen Gründen lehnen wir alle Forderungen im Antrag der Linken ab. Im Gegenteil, wir werden erstens dem zivilen Aufbau durch EUPOL und die GPPT in besonderem Maße nachkommen, zweitens konzeptionelle Standards setzen, die mittlerweile von vielen Nachbarprojekten übernommen wurden, drittens die Ergebnisse weiterhin evaluieren, um die Erfolge klar belegen zu können, und viertens mit absoluter Sicherheit nicht jetzt polizeilich in Afghanistan aussteigen, wenn die Früchte unserer Arbeit sichtbar werden und wir den Eindruck gewinnen, dass wir eine Übergabe mit Verantwortung, also unser Kernziel, schrittweise umsetzen können.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mehrmals habe ich Afghanistan bereist, um mir dort in erster Linie den Polizeiaufbau vor Ort anzusehen. Schon seit Langem wird in den Diskussionen um die richtige Afghanistan-Strategie der Aufbau der Sicherheitskräfte als Schlüssel für eine dauerhafte Stabilisierung des Landes beschworen. Die Durchdringung des Gewaltmonopols der Zentralregierung bis in die Provinzen soll Voraussetzung für den Aufbau einer modernen Zivilgesellschaft in Afghanistan sein. So weit, so gut. Offiziell stehen der afghanischen Regierung zurzeit 113 000 Polizisten zur Verfügung. Tatsächlich werden es aber wohl nur etwa 90 000 einsatzfähige Kräfte sein, wobei freilich die Aussagen über die Stärke der afghanischen Polizei zwischen 70 000 bis hin zu 113 000 Kräften variieren. Allein solch vage Schätzungen und Aussagen geben genug Eindruck vom Zustand der afghanischen Polizei. Es fällt mir überhaupt sehr schwer, diese bewaffneten Kräfte „Polizei“ zu nennen. Was ist das für eine Polizei, von der niemand genau weiß, wer ihr jetzt gerade angehört und wer nicht oder nicht mehr? Wie wird eine solche Polizei bezahlt, wenn nicht einmal klar ist, wer im Augenblick bei ihr auf der Gehaltsliste steht? Der Antrag, über den wir hier sprechen, hat folglich in seiner Bestandsaufnahme und in seiner Analyse recht. Denn es stimmt, die sogenannte afghanische Polizei ist zum größten Teil eine Bürgerkriegstruppe im Kampf gegen die Aufständischen. Es stimmt, Korruption und militärischer Ansatz prägen das Bild dieser Einheiten. Es stimmt, die sogenannten Polizisten werden vielerorts als „Kanonenfutter“ im Bürgerkrieg eingesetzt; bislang wurden in Afghanistan doppelt so viele „Polizeikräfte“ getötet wie afghanische und ISAF-Soldaten zusammen. Und es stimmt auch, dass die sogenannte afghanische Zu Protokoll gegebene Reden Polizei in der Bevölkerung einen extrem schlechten Ruf genießt. Um zu verstehen, worüber wir sprechen, wenn wir den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte meinen, müssen wir zuallererst unser gewohntes Bild von „Polizei“ aus dem Kopf streichen. Wenn wir Polizei meinen, denken wir an bestens ausgebildete Sicherheitskräfte, die allein dem staatlichen Gewaltmonopol unterstellt und in den Rechtsstaat eingebunden sind und die ihre klar definierte exekutive Rolle im staatlichen Gleichgewicht aus Legislative, Exekutive und Judikative einnehmen. Davon kann beim weitaus größten Teil der sogenannten Polizei in Afghanistan nicht einmal im Ansatz die Rede sein. Die von den US-Streitkräften in Afghanistan ausgebildeten sogenannten Polizisten werden innerhalb einer Woche einsatzbereit gemacht, bei den meisten anderen sind es auch gerade einmal sechs Wochen. Man muss nicht erklären, dass in dieser kurzen Zeit allenfalls der halbwegs ordentliche Umgang mit der Waffe und anderer Ausrüstung erlernt werden kann. Weil die meisten der rekrutierten Männer Analphabeten und dabei oft in schlechter körperlicher Verfassung sind, kommt jegliche weitere Ausbildung - geschweige denn rechtsstaatliche Unterrichtung - ohnehin von vornherein nicht infrage. Um es kurz zu machen: In Afghanistan werden diejenigen Männer, die bereit sind, mit den Streitkräften gegen die Taliban zu kämpfen, unter Waffen gestellt und unter dem Gesamtbegriff „Polizei“ zusammengefasst. Dass es dabei in erster Linie um die Quantität statt Qualität der Sicherheitskräfte geht und dass der Überblick über die Gesamtstärke dieser Kräfte dann schon einmal verloren gehen kann, versteht sich von selbst. Ein derart vollzogener Polizeiaufbau macht aus verschiedener Hinsicht nicht nur keinen Sinn, sondern ist sogar gefährlich für die ohnehin schon kaum vorhandene innere Sicherheit Afghanistans. Eine solche „Polizei“ wird von der Bevölkerung natürlich nicht anerkannt, geschweige denn respektiert. Diese sogenannten Polizisten sind auch nicht in der Lage, mit dem erst im Aufbau befindlichen Verwaltungs- und Justizwesen zu kooperieren. Sie agieren also quasi in einem staatlich leeren Raum. Wem sie ihre Loyalität schulden - westlichen Streitkräften, lokalen Stammesfürsten, der Zentralregierung in Kabul oder erst einmal nur ihren ureigenen persönlichen Interessen - hängt von der jeweiligen Situation und den örtlichen Umständen ab. Ob sie im Ernstfall tatsächlich ihre Gesundheit oder ihr Leben in der Auseinandersetzung mit Taliban, Drogenbossen oder einfachen Verbrechern riskieren, ist sehr oft zweifelhaft. Das zeigt die hohe Fluktuation und die Unmöglichkeit, die Stärke dieser Sicherheitskräfte genau zu beziffern. Ein Staat ist mit diesen Kämpfern definitiv nicht zu machen. Und was wird in Zukunft aus diesen Kräften, wenn die westlichen Verbündeten abgezogen sind? Die Gefahr ist sehr groß, dass sich dann aus diesen Kämpfern paramilitärische Einheiten bilden und dass sie den Bürgerkrieg verschärfen. Anstatt - wie es ursprünglich ja ihr Auftrag sein sollte - das Gewaltmonopol des afghanischen Staates aufzubauen, werden sie diesen ohnehin schwachen Staat noch weiter schwächen. Ein solcher „Polizeiaufbau“ macht keinen Sinn. Dafür sollten und dürfen wir keine deutschen Polizisten einsetzen. Richtig ist auch, dass unsere Polizisten auf gar keinen Fall unmittelbar im Krieg eingesetzt werden dürfen. Die Bundesregierung hat zugesichert, dass deutsche Polizisten im Zuge der neuen Strategie des „Focused District Development“-Programms nicht in umkämpfte Regionen entsandt werden. Wir werden sehr genau darauf achten müssen, dass dies tatsächlich so bleibt. Aber nicht alles am Polizeiaufbau in Afghanistan ist schlecht. Es sind auch einige richtige Ansätze für den Aufbau einer Polizei in Afghanistan zu finden. Das deutsche Polizeitrainingszentrum Kundus und das Schulungszentrum in Masar-i-Scharif stehen für vorbildliche Ausbildung, insbesondere in Hinblick auf die Fortbildung der Bereitschafts- bzw. Grenzpolizei. Gleiches gilt für die Mission EUPOL Afghanistan. Die Stärkung der afghanischen Nationalpolizei könnte mithilfe der genannten Projekte und EUPOL durchaus Erfolg versprechen, sofern sie mit entsprechenden Mitteln ausgestattet würden. Doch diese Vorhaben sind hoffnungslos unterfinanziert, weshalb es noch Jahre für einen Polizeiaufbau bräuchte, der diesen Namen auch verdient. Denn während 2010 etwa 700 Millionen Euro allein in den Militäreinsatz der Bundeswehr geflossen sind, liegt das EUPOL-Budget für ganz Afghanistan weit unter dieser Summe. Wenn wir parallel zur Forderung, die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen, die Bedeutung ziviler Aufbauprojekte hervorheben und hier größere Anstrengungen der westlichen Welt verlangen, dann gehört zum Aufbau einer Zivilgesellschaft neben einer funktionierenden Verwaltung und einem Justizwesen, das frei von Korruption ist, auch eine gut ausgebildete und funktionierende Polizei. Dass Afghanistan hier noch ganz am Anfang steht und dass die Erfolgsaussichten, so wie sich die Lage jetzt darstellt, sehr gering sind, habe ich betont. Nur wäre es sehr wohl ein Fehler, die kleinen Ansätze, wie sie zum Beispiel in EUPOL zu finden sind, auch noch durch den kompletten Abzug aller Polizeiexperten und Ausbilder zu zerstören. EUPOL birgt durchaus Chancen und verdient größere Unterstützung. Deshalb können wir einen Antrag nicht unterstützen, der die Bundesregierung unter anderem auffordert, „EUPOL Afghanistan einzustellen“ und alle Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten unverzüglich abzuziehen. Denn eine zukünftige afghanische Zivilgesellschaft - so ihr Aufbau denn gelingt - braucht eine Polizei, die den Namen „Polizei“ auch verdient.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken verdient im Grunde genau ein Wort: Unerträglich! Da schreiben Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag: „Es wird deutlich, dass das Engagement deutscher Polizeiausbilder der Führung eines Bürgerkrieges dient.“ Was denken Sie sich eigentlich? In welcher Realität leben Sie denn? Ich kann dazu nur sagen: So etwas macht mich fassungslos. Wie eine Bundestagsfraktion derartige Behauptungen aufstellen kann, ist wirklich nicht zu fassen. Zu Protokoll gegebene Reden Diese unerträgliche Tatsachenverdrehung kann man nicht so stehen lassen. Der Einsatz deutscher Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan ist ein wesentlicher Beitrag zum zivilen Wiederaufbau des Landes, zum Aufbau eines Rechtsstaates, zur Schaffung geordneter Strukturen und zur langfristigen Stabilisierung der Region. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass vor allem der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützt wird, damit die internationale Gemeinschaft in ein paar Jahren ein Land verlassen kann, das nicht wieder in die Hände von Extremisten und Terroristen fällt. Die Polizei Afghanistans muss hier einen zentralen Beitrag leisten, damit ein wirklicher Rechtsstaat entstehen kann. In unserem Antrag in der letzten Legislaturperiode haben wir festgestellt: Der Aufbau eines funktionierenden Polizei-, Justizund Strafvollzugswesens ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung der Sicherheit und Ordnung und damit die Herstellung stabiler Verhältnisse in Afghanistan. Ziel ist es, dass die afghanische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und perspektivisch selbst für die Sicherheit im Lande sorgen kann ({0}). Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in Afghanistan, zum Beispiel im Rahmen der International Security Assistance Force ({1}), an der Deutschland als drittstärkster Truppensteller mit der Bundeswehr maßgeblich beteiligt ist, darf nicht über Gebühr ausgedehnt werden. Von zentraler Bedeutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse in Afghanistan ist der Aufbau einer funktionstüchtigen sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Polizei. Diese Haltung vertritt die FDP-Fraktion auch heute. Gerade vor dem Hintergrund der Abzugsperspektive für die Bundeswehr aus Afghanistan ist die Polizeiausbildung von besonderer Bedeutung. Die Haltung der Linken hingegen ist verantwortungslos. Die Linke will die Bundeswehr umgehend aus Afghanistan abziehen, lehnt aber zugleich jede Verantwortung für den Wiederaufbau ab, insbesondere für den Aufbau eines Rechtsstaats mit einer funktionierenden Polizei. Es ist unbestritten, dass es auch Probleme beim Polizeiaufbau in Afghanistan gibt. Diese aber damit zu beantworten, das Land sehenden Auges nicht mehr beim Aufbau eines Rechtsstaates zu unterstützen, ist unverantwortlich. Die Antwort kann doch nicht sein, die Flinte ins Korn zu werfen, sondern die Antwort muss vielmehr sein, die bestehenden Probleme anzupacken. Dazu gehört natürlich vor allem, die Ausbildung zügig, aber zugleich möglichst solide zu gestalten. Dass das in Afghanistan be- und entstehende Rechtssystem nicht eins zu eins das Rechtssystem Deutschlands abbildet, auch nicht im Bereich des Polizeirechts, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig und gut. Afghanistan kann nur dann als Rechtsstaat funktionieren, ein an Demokratie und Menschenrechten orientiertes Rechtssystem und eine Polizei können nur dann Akzeptanz erhalten, wenn sich darin auch eigene Vorstellungen und Rechtstraditionen des Landes wiederfinden. Uns muss es aber darum gehen, die Grundsätze, die jedem Rechtsstaat immanent sein müssen, felsenfest zu verankern, auch und gerade bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Der FDP-Fraktion war und ist die Sicherheit der in Afghanistan eingesetzten deutschen Polizistinnen und Polizisten ein zentrales Anliegen. Den Vorwurf der Linken, die Bundesregierung entsende Polizistinnen und Polizisten aus Deutschland in einen Krieg, weist die FDP-Fraktion zurück. Afghanistan ist derzeit noch nicht so stabil, dass dort ein gefahrloses Leben möglich ist. Aber wir sehen deutliche Fortschritte. Zudem haben die in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten Konsequenzen aus der Gefährdungslage gezogen und ihre eigenen Schutzvorkehrungen entsprechend angepasst, unter anderem auch durch Änderungen bei der Ausbildung der afghanischen Kollegen vornehmlich in den gesicherten Lagern. Die FDP-Fraktion unterstützt die Bundesregierung nachdrücklich in ihrem Engagement beim Polizeiaufbau in Afghanistan und wird sich weiterhin für eine kontinuierliche Verbesserung und für konstruktive Lösungen von Problemen sowie selbstverständlich für die Sicherheit der deutschen Polizistinnen und Polizisten einsetzen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit neun Jahren werden deutsche Polizisten nach Afghanistan geschickt, angeblich, um beim Aufbau eines Rechtsstaates zu helfen. Wir sprechen den über 1 000 Beamten, die seit 2002 am Hindukusch waren, nicht die ehrliche Motivation ab. Aber es ist Zeit für eine Bilanz, und die sieht erschreckend aus: Der Polizeiaufbau am Hindukusch hat nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung der Lage beigetragen. Es wird höchste Zeit, nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die deutschen Polizisten abzuziehen. Das fordert die Fraktion Die Linke in dem Antrag, den wir heute beraten. Die „Fortschritte“, welche die Bundesregierung vermeldet, reduzieren sich bei genauem Hinsehen auf einen rein zahlenmäßigen Anstieg der afghanischen Polizei. Ihre Ausbildung dauert gerade mal sechs Wochen. Fast 90 Prozent der unteren Dienstgrade sind nach Angaben der NATO-Ausbildungsmission Analphabeten. Und wer einen Alphabetisierungskurs mitmacht, der kommt gerade mal auf das Niveau der dritten Klasse, womit er weder Gesetzestexte lesen und verstehen noch Protokolle aufsetzen kann. Warum, muss man fragen, bildet die NATO diese angeblich so wichtigen Polizisten so hastig aus? Die Antwort ist: Weil sie nichts weiter als ein schnell verfügbares Kanonenfutter haben will, um es in den Kampf gegen die Aufständischen zu werfen. Afghanische Polizisten führen Seite an Seite mit Militärverbänden Gefechte gegen Aufständische. Ihre Ausbildung wird fast ausschließlich von Mitarbeitern des Zu Protokoll gegebene Reden US-Pentagon oder der NATO verantwortet, die auch den Lehrplan festlegen. Das Oberkommando liegt bei einer Dienststelle der US-Armee. Die Bundesregierung kennt den militärischen Charakter dieser Polizei, und sie rechtfertigt ihn sogar: Afghanische Polizisten sollten eine „modulare Ausbildung im militärischen Sinne“ erhalten, beschied sie in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke ({0}). Die Linke hingegen sagt: Deutsche Polizisten haben in einem Kriegsgebiet nichts zu suchen - zum einen, weil das lebensgefährlich ist, zum anderen, weil wir feststellen: So verfehlt der Militäreinsatz in Afghanistan ist, so verfehlt ist auch der Polizeieinsatz, der nur die andere Seite der gleichen Medaille darstellt. Ein Nutzen für den Rechtsstaat ist weit und breit nicht zu erkennen, im Gegenteil. Die Bundesregierung kann keine Zahlen dazu angeben, wie viele afghanische Polizisten es überhaupt gibt. Klar ist nur, dass die offiziellen Angaben weit übertrieben sind. Die britische Botschaft schätzt den Anteil sogenannter Geisterrekruten, die nur auf dem Papier existieren und deren Sold in die Taschen korrupter Vorgesetzter fließt, auf ein Viertel ({1}). Keine verlässlichen Zahlen gibt es auch darüber, wie viele der ausgebildeten Polizisten nach ihrer Ausbildung im Dienst verbleiben. Etliche von ihnen, nach Schätzungen 20 Prozent, quittieren ihren Dienst und nehmen dabei häufig ihre Waffen mit. Das größte Problem ist aber nicht etwa, dass der Polizeiaufbau ineffektiv ist. Die Frage, was dabei herauskommt, wenn man jungen Männern eine Uniform überstreift, ein Gewehr in die Hand drückt und einen Schnellkurs verpasst, hat der frühere stellvertretende UNO-Sonderbeauftragte in Kabul Peter Galbraith in einem Interview mit „CNN“ wie folgt beantwortet: „Was dabei herauskommt, ist kein Polizist, sondern jemand, der von seinen Mitmenschen noch ein bisschen effektiver Geld erpresst“ ({2}). Genau dieser Eindruck wird auch von deutschen Polizisten und Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren, bestätigt. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter berichtet von systematischer Wegelagerei und Straßenräuberabzocke. Selbst der Chef der NATO-Ausbildungsmission, General Caldwell, räumt ein, dass die große Mehrheit der Afghanischen Nationalpolizei die Gesetze, die sie angeblich durchsetzen soll, überhaupt nicht kennt, und er kommt zum Schluss, die meisten Afghanen sähen in der Polizei „gesetzlose bewaffnete Männer“. Das ist die offizielle Bilanz von neun Jahren sogenannter Aufbauarbeit. Der afghanischen Bevölkerung wurde nicht zu mehr Demokratie verholfen, sondern es wurde ihr ein weiterer Unterdrückungsapparat beschert, der sie in die Zange nimmt. Es ist unverantwortlich, diese Politik fortzusetzen. Im Falle Afghanistan muss man klar sagen: Lieber keine Polizei als solch eine. Denn diese Polizei dient nicht dem Recht, nicht der Bevölkerung, sondern sie lässt den Krieg und die Gewalt nur noch weiter eskalieren. Dabei dürfen deutsche Polizisten nicht länger mitwirken. Deswegen fordert Die Linke: Die Konsequenzen aus dem Desaster in Afghanistan ziehen und Soldaten wie Polizisten abziehen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Thema Ihres Antrages ist ein wichtiges, und auch die einzelnen Fragen, die Sie ansprechen, sind die richtigen. Aber Ihre Begründung und Ihre undifferenzierten Analysen entwerten diese richtigen Ansätze. Sie weisen darauf hin, dass die deutsche Polizei nicht in einem völlig instabilen und höchst unsicheren Gebiet eingesetzt werden sollte. Das sehe ich ganz ähnlich: Wir haben deutsche Polizeibeamte mit einem Ausbildungsauftrag nach Afghanistan geschickt. Dieser ist nicht umsetzbar, wenn sie sich täglich ihrer Haut erwehren müssen. Deswegen ist es richtig, aus Sorge um die Sicherheit der Beamten diesen Einsatz ständig kritisch zu begleiten und die Situation vor Ort zu bewerten. Dabei muss auch gesagt werden: Ein Teil des Polizeieinsatzes - ich denke an die deutschen Ausbilder in der Polizeiakademie in Kabul - findet übrigens keineswegs mitten im Gefahrengebiet statt. Ebenso richtig bemängelt der Antrag, dass in Afghanistan Korruption weit verbreitet ist und die Polizei, zu deren Ausbildung die deutschen Polizistinnen und Polizisten beitragen, allzu oft nicht die rechtsstaatliche Kraft ist, die wir uns wünschen und die wir anstreben. Sie weisen auf die teilweise problematische Verbindung zwischen Polizei und Militär hin. Nun hat jedes Land seine eigene Sicherheitsstrategie, und die afghanische Regierung hat sich für eine deutlich stärker militärisch inspirierte Polizei entschieden, als wir das - mit guten Gründen - in der Bundesrepublik getan haben. Natürlich würde es unseren Wünschen entsprechen, wenn wir landesweit weniger unterschiedliches Vorgehen und weniger unterschiedliche Leitbilder und stattdessen eine vorrangige Orientierung an einem zivilpolizeilichen Berufsbild hätten. Aber all das kann doch nicht heißen: Abzug! Die deutschen Ausbilderinnen und Ausbilder sollen ja eben nicht zur Militarisierung der afghanischen Polizei beitragen. Im Gegenteil: Sie sollen gerade helfen, ein Verständnis für eine zivile rechtsstaatliche Polizeiarbeit zu entwickeln und Korruption und Klientelismus zu überwinden. Um das durchzusetzen, hilft eben kein Abzug. Vielmehr würde es helfen - und das fordern wir von der Bundesregierung -, bessere Konzepte zu entwickeln und entsprechend auf die Verbündeten einzuwirken. Der einzige Grund, aus dem man einen Abzug oder einen zeitweisen Rückzug fordern könnte, ist die Sicherheitslage. Wenn der angestrebte Auftrag wegen der Sicherheitslage nicht erfüllbar ist und wenn ständig Gefahr für Leib und Leben der eingesetzten Beamten besteht, dann muss man eine Lösung finden. Dann könnte man zum Beispiel über eine entsprechend stärkere Rolle der Feldjäger nachdenken. Doch mir scheint nach Lektüre Ihrer Antragsbegründung, dass Sie als Antragsteller nicht durch Sorge um die deutschen Polizisten und Polizistinnen motiviert sind oder ernsthaft darüber nachdenken, wie man die Ziele dieses Einsatzes besser Zu Protokoll gegebene Reden erreichen könnte. Sie haben einfach ein grundsätzliches Problem damit, dass sich Deutschland in Afghanistan engagiert, und deshalb wollen Sie den Abzug. Wir sind weiterhin der Auffassung, dass wir eine Pflicht haben, zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens in Afghanistan beizutragen. Weil das eine höchst gefährlich Aufgabe ist, interessieren wir uns für die Sicherheit und den Schutz der deutschen Polizistinnen und Polizisten, die vor Ort eine notwendige Aufgabe mit großem Einsatz zu erfüllen versuchen. Ihnen schulden wir gute Ausstattung und bessere Konzepte für den Aufbau, nicht politische Instrumentalisierung. Zu einem Antrag nach dem Motto „Die Lage ist schwierig, deshalb führen wir die Katastrophe gleich herbei“ können wir nur Nein sagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4879 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei - Drucksache 17/4682 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bevor ich auf den haltlosen Antrag der Fraktion Die Linke eingehe, möchte ich all den engagierten Bundespolizistinnen und Bundespolizisten danken, die tagtäglich für den Schutz der Bevölkerung höchste Einsatzbereitschaft aufbringen. Sie, meine Damen und Herren von der Linken, behaupten in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die Bundesregierung mit dem Verzicht auf die Kennzeichnungspflicht der Bundespolizisten Spielraum für polizeiliche Straftaten einräumt und die Möglichkeit gibt, sich außerhalb der Gesetze, in der Anonymität zu bewegen. Diese Aussage ist schlicht und ergreifend haltlos und wird von mir strengstens abgelehnt. Seit vielen Jahren hat die Regelung Bestand, dass sich Beamte der Bundespolizei mittels Dienstausweis gegenüber einer von polizeilichen Maßnahmen betroffenen Person legitimieren müssen, sofern der Sinn der Amtshandlung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Im Falle eines von Ihnen so oft genannten Einsatzes in geschlossenen Einheiten besteht außerdem die Möglichkeit, über taktische Kennzeichnungen oder Einsatzberichte etwaige Ausweisungen vorzunehmen. Dieses Vorgehen ist heute gängige und bewährte Praxis bei Einsätzen der Bundespolizei und stellt ein ausgewogenes Mittel zur Wahrung der Interessen der Öffentlichkeit, der Polizeibeamten und deren Anverwandten sowie ihres jeweiligen Dienstherrn dar. Dass dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundespolizei geschwächt wird, war bislang nicht zu bemerken. In Bundesländern wie Berlin, in denen bereits eine Kennzeichnungspflicht für die Polizistinnen und Polizisten besteht, wird diese entgegen den Pressedarstellungen von den Betroffenen nicht als positiv empfunden. Den Beamten zufolge häufen sich dort bereits jetzt ungerechtfertigte Vorwürfe und Beschwerden, denen durch die Kennzeichnung Tür und Tor geöffnet wurde. Wenn Sie nun Ihr bekanntes Beispiel von Demonstrationen oder Fußballspielen ins Feld führen, dann müsste Ihnen doch auch bekannt sein, dass die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei besonders in derartigen Situationen unter äußerst komplizierten Umständen, die zudem sehr gefährlich sein können, agieren müssen. Wie beispielsweise der 19. Februar 2011 in Dresden zeigte, wo bei einer Demonstration 82 Polizisten verletzt wurden, sehen sich die Beamtinnen und Beamten einer stetig wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber. Insbesondere diese Menschen, die sich in ihrem Beruf so engagieren und sich auf eigene Gefahr zum Schutze anderer in eine bedrohliche Lage begeben, haben einen unumstößlichen Anspruch darauf, dass ihre persönlichen Rechte gewahrt werden. Durch die namentliche Kennzeichnung der Polizeibeamten würde die Gefahr von Angriffen auf Beamtinnen und Beamte jedoch erheblich ansteigen, und es wäre nicht länger möglich, ihnen und ihren Angehörigen Schutz zu gewähren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Kennzeichnung zu ungerechtfertigten Anschuldigungen und Druckausübung bis hin zu Gewaltanwendung gegenüber den Polizistinnen und Polizisten sowie ihren Angehörigen führen kann. Das bestätigen auch die entsprechenden Experten- und Fachkreise der Polizei auf Bundes- und Länderebene. Darüber hinaus ist es auch rein menschlich betrachtet diesen Bundesbeamten gegenüber nicht gerecht, sie von vornherein unter Generalverdacht zu stellen und ihnen zum Dank für ihren aufopfernden Dienst eine grundsätzliche Bereitschaft zu Gewaltverbrechen zuzusprechen, zumal die Zahlen für sich sprechen: Weniger als 3 000 Strafanzeigen hat es im vergangenen Jahr gegen Polizistinnen oder Polizisten gegeben, wovon lediglich 3 bis 5 Prozent eine Anklage nach sich zogen. In diesen Fällen wiederum wird nur etwa ein Drittel der Beschuldigten verurteilt. Demgegenüber stehen täglich Hunderttausende pflichtgetreu ausgeführte und rechtlich nicht zu beanstandende Einsätze, die nicht selten unter schwierigen und gefährlichen Umständen durchgeführt werden müssen. Generell ist also eine Pflicht zur individuellen Bezeichnung des einzelnen Polizeibeamten in jedem Falle als nachrangig anzusehen, wenn die Sicherheit eines oder mehrerer Menschen und der Schutz von Persönlichkeitsrechten auf dem Spiel stehen. Bezüglich Ihrer Behauptungen, eine Nichtkennzeichnung sowie das vermeintlich anonyme Auftreten in Einsatzkleidung beeinträchtige Ermittlungen bei GesetzesGünter Baumann verstößen seitens der Polizisten, liegen uns keinerlei belastbare Aussagen oder Beweise vor. Nur um Ihnen das noch einmal mit Nachdruck zu verdeutlichen: Die Kleidung der Bundespolizisten wird ausschließlich unter der Maßgabe der Zweckmäßigkeit und Sicherheit der Beamtinnen und Beamten ausgewählt und nicht, um eine Anonymisierung herzustellen. Ebenso unterliegen strafrechtliche Untersuchungen gegen Mitglieder der Bundespolizei den geltenden Rechtsvorschriften. Ein Abschluss eines Verfahrens, erfolgt nur, wenn die umfassenden Ermittlungen und Prüfungen der Staatsanwälte und Richter dies rechtfertigen. Die Behauptung, dass dadurch das Vertrauen der Bürger in die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsstaat zerstört wird, ist meiner Ansicht nach völlig widersinnig und nicht nachvollziehbar, meine Damen und Herren von der Linken. Zusammengefasst besteht nachweislich kein Erfordernis, eine Kennzeichnungspflicht für die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei einzuführen. Misstrauen gegenüber den Polizistinnen und Polizisten sowie eine hohe persönliche Gefährdung wären eine unabdingbare Folge dessen. Dies kann von unserer Seite nicht hingenommen werden. Darum ist der Antrag der Linken eindeutig abzulehnen.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wird auch in der SPD-Bundestagsfraktion schon länger diskutiert. In einem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und Beamte sind umgehend strafrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell aufkommenden Eindruck, jede Demonstration werde seitens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsabbau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht um ein gesamtpolizeiliches Phänomen! Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wochenenden in der gesamten Republik unterwegs, in unterschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungsvollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus. Diese wichtige Arbeit möchte ich an dieser Stelle auch einmal ganz ausdrücklich würdigen. Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Andererseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt sind. Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, eine Kennzeichnungspflicht für die Bundespolizei einzuführen, aber nicht per se für jede Beamtin und jeden Beamten in jeder Dienstsituation. Hier muss schon differenziert werden. Meiner Meinung nach sollte eine nach Tätigkeiten abgestufte Kennzeichnungspflicht eingeführt werden: Im Innendienst sollte es für jede Beamtin und jeden Beamten verpflichtend sein, ein Namensschild zu tragen. Ebenso wäre im Sinne einer bürgerfreundlichen Polizei auf dem Schreibtisch ein Namensschild anzubringen. Im Einzeldienst sollten die Beamtinnen und Beamten wahlweise ein Namensschild oder ein Schild mit einer Identifikationsnummer tragen. Bei Einsätzen in geschlossenen Einheiten bin ich nicht der Meinung, dass Namensschilder das Mittel der Wahl sind. Zum einen kann es bei gleichen oder auch ähnlichen Einheiten zu Verwechslungen kommen. Ich bin nach der Lektüre des Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages „Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ durchaus nicht der Ansicht, es würde keine unberechtigten Anschuldigungen oder Übergriffe auf Polizeibeamte aufgrund der Kennzeichnungspflicht geben. In Spanien sind Einzelfälle dokumentiert. Wir dürfen die Augen vor dem Gewaltpotenzial einiger Demonstranten aus dem bekannten Milieu nicht verschließen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass mit den Recherchemöglichkeiten, die das Internet bietet, das persönliche Umfeld meiner Kolleginnen und Kollegen ausgeforscht wird und sich daraus eine Gefährdung der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ergibt. Vielmehr schlage ich bei solchen Einsätzen eine Kennzeichnung vor, die eine individuelle Zuordnung ermöglicht. Eine solche Zuordnung gibt es bei „geschlossenen“ Einheiten bereits, weshalb der Antrag der Fraktion Die Linke an dieser Stelle ins Leere läuft. Vielleicht kommt Ihnen mein Vorschlag bekannt vor. Ich habe mich an der Kennzeichnungspflicht orientiert, die der Berliner SPD-Innensenator in diesem Jahr für die Landespolizei eingeführt hat. Diesen Vorschlag halte ich für überzeugend, und ich freue mich, dass Berlin eine ausgewogene Entscheidung getroffen hat und damit hoffentlich auch Vorbild für andere Bundesländer und für die Bundespolizei ist.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

An gleicher Stelle debattierten wir in der vergangenen Woche über einen anderen Antrag der Fraktion Die Linke, in dem sie auch schon so tat, als litte der Rechtsstaat vor allem an exzessiver Gewaltausübung durch Polizistinnen und Polizisten. In dem heute zu beratenden Antrag behauptet die Linke nun gar, dass Polizistinnen und Polizisten „das Gefühl“ hätten, „in voller Einsatzmontur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch außerhalb des Gesetzes“ zu stehen. Ich habe mal eine Ahnung, welches „Gefühl“ Polizistinnen und Polizisten haben, wenn sie in eine Situation geschickt werden, bei der sie nur dann eine Chance haben, mit halbwegs heiler Haut wieder rauszukommen, sofern sie sich mit Helmen und Schutzkleidung gegen Steinewerfer und Randalierer vom Schwarzen Block wappnen. Es ist ja mitnichten so, wie es die Linke hier darzustellen versucht, als würden Polizistinnen und Polizisten sich hinter Helmen und Schutzschilden verstecken, um unerkannt tun und lassen zu können, was ihnen einfällt. Vielmehr ist die Kausalitätskette doch genau umgekehrt: Erst und nur, wenn eine so gefährliche Situation von Leuten, die Recht brechen und Gewalt ausüben oder dies befürchten lassen, hervorgerufen wird, müssen sich die Polizistinnen und Polizisten schütZu Protokoll gegebene Reden zen, um ihre Arbeit zu tun. Ihre Arbeit im Übrigen, die darin besteht, Recht und Gesetz durchzusetzen. Mit Allmachtsfantasien, wie die Linke sie hier behauptet, hat das nämlich ganz gewiss gar nichts zu tun. Es ist selbstverständlich, dass Polizistinnen und Polizisten, die im Dienst Grenzen überschreiten und sich strafbar machen, wie jeder andere zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es ist auch selbstverständlich, dass in solchen Fällen genauso sorgfältig ermittelt werden muss wie in allen anderen Fällen. Damit die Identität eines Täters aufgeklärt werden kann, ist ein Namensschild aber nun wirklich nicht erforderlich. Es bestehen die ganz normalen Möglichkeiten der Ermittlung von Tätern. Und sie werden ja auch genutzt; es ist ja nicht so, als ginge die Polizei Straftaten, die in den eigenen Reihen begangen werden, nicht mit den Mitteln des Strafrechts wie auch des Disziplinarrechts nach. Fordern Sie von den Linken eigentlich konsequenterweise auch, dass der Schwarze Block nur noch mit Namensschildern, wahlweise „Nummernschildern“, versehen an Demonstrationen teilnehmen darf, damit die Ermittlungen nachher leichter fallen, wer die Flasche auf den Polizisten geworfen hat? Nein, natürlich nicht. Denn Ihnen von der Linken geht es nur darum, die Polizistinnen und Polizisten in Misskredit zu bringen, und nicht darum, dass das wirklich eine zielführende Maßnahme zur Aufklärung von tatsächlichen Vergehen und Verbrechen ist. Natürlich ist eine bürgernahe Polizei ein wichtiges Anliegen, auch, weil unser Rechtsstaat von dem Vertrauen der Menschen in ihre Polizei lebt. Polizistinnen und Polizisten sind die Gesichter unseres Rechtsstaates. Anträge wie der von der Linken vorgelegte leisten hier aber einen Bärendienst, wenn sie die Polizei so verzerrt darstellen. Die Forderung der Linken ist nicht davon getragen, dass die Menschen auf der Straße den Streifenpolizisten nach Blick auf dessen Namensschild ein freundliches „Guten Tag, Herr Müller!“ entgegnen können, sondern davon, dass sie unterstellt, es könne im Grunde jederzeit von jedem Polizisten zum unberechtigten Angriff kommen. Es ist - wie ich schon in der vergangenen Woche anmerken musste - wirklich ausgesprochen bedauerlich, dass die Linken eigentlich diskussionswürdige Themen auf ein Niveau herunterzieht, auf dem man nicht mehr ernsthaft über die Sache sprechen kann. Diskussionswürdig wäre beispielsweise ja durchaus, ob die, selbst nach Abzug der zahlreichen Anzeigen auch bei legitimer Gewaltanwendung durch die Polizei, relativ geringe Zahl von Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung im Amt manchmal auch Zeichen eines falsch verstanden Korpsgeistes sein könnte, und wie man hier etwas verbessern kann. Diskussionswürdig wäre aber ebenso, in wie vielen Fällen die vermeintlichen Opfer von Polizeigewalt schon von vornherein aggressiv und mit Gewaltdrohung auf die Polizistinnen und Polizisten zugegangen sind. Wenn die Linke hier auf Berlin verweist, so muss sie doch auch darauf verweisen, dass gerade in dieser von der Linken mitregierten Stadt Polizistinnen und Polizisten über eine ganz besonders geringe Akzeptanz und zugleich besonders hohe Aggressivität gegenüber der Polizei in der Bevölkerung klagen. Ich kann nur sagen: Angesichts der hier wieder demonstrierten Geringschätzung der Linken gegenüber der Polizei ist es ein Wunder, dass in Berlin überhaupt noch engagierte Polizistinnen und Polizisten ihren Dienst verrichten. Diesen Männern und Frauen gilt mein Respekt und mein Dank! Die FDP-Fraktion ist gerne bereit, sich ernsthaft mit den Phänomenen der Akzeptanz der Polizei in unserer Gesellschaft ebenso wie mit der kriminologischen Forschung zu Körperverletzung im Amt und deren Vermeidung sowie Verfolgung zu befassen. Aber bitte nicht auf diesem Niveau!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke, eine Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei einzuführen. Warum halten wir solch eine Kennzeichnung für notwendig? Im Mai 2005 stürmte ein Sondereinsatzkommando der Berliner Polizei die Diskothek Jeton. Es kam zu massiven Übergriffen seitens der Beamten. Die Opfer trugen zahlreiche Knochenbrüche und Kopfverletzungen davon. Die Staatsanwaltschaft Berlin nannte die Polizeigewalt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, das Land leistete Entschädigungszahlungen an die Opfer. Aber die Täter wurden nicht verurteilt: Die Polizisten trugen allesamt Gesichtsmasken und verhinderten damit ihre individuelle Identifizierung. Vor vier Monaten stellte die Generalstaatsanwaltschaft München ein Verfahren gegen Polizisten ein, die 2007 rechtswidrig auf Fußballfans eingeprügelt hatten. Grund für die Einstellung: Die Schläger konnten nicht einwandfrei identifiziert werden. Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte dies mit den Worten, wieder einmal habe der Rechtsstaat vor der Polizei kapituliert. Bei zahlreichen Demonstrationen erleben wir immer wieder, dass uniformierte und behelmte Polizisten mit Schlagstöcken, Pfefferspray oder Faustschlägen unverhältnismäßig gegen Demonstranten vorgehen. Sie werden dabei zwar häufig gefilmt, manchmal lösen diese Bilder sogar eine gesellschaftliche Debatte aus, aber zu Verurteilungen der Beamten kommt es nur selten: Mit ihren Uniformen und Helmen sehen sie alle gleich aus, sie sind praktisch vermummt und können im Schutz dieser Anonymität Straftaten begehen. Nach einer Untersuchung an der FU Berlin, die sich weit über 100 Fälle von Polizeigewalt vorgenommen hat, ist in jedem zehnten Fall die mangelnde Identifizierbarkeit eines Beamten zumindest mitverantwortlich dafür, dass ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird. Dabei ist natürlich der Aspekt noch gar nicht berücksichtigt, dass viele Betroffene gar nicht erst Anzeige erstatten, weil sie von vornherein wissen, dass sie damit nicht durchkommen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Linke meint: Wenn der Rechtsstaat sich selbst ernst nehmen will, muss er dieses Problem anpacken. Eine Kennzeichnungspflicht kann zwar nicht Polizeigewalt verhindern, aber sie kann das Problem der fehlenden Identifizierung lösen. Gegner der Kennzeichnung behaupten immer wieder, sie ermuntere Gewalttäter zu falschen Beschuldigungen oder gar zu persönlichen Nachstellungen. Wir wollten das mal genauer wissen und haben zunächst die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage dazu befragt. Die Regierung antwortete, es lägen ihr keine eigenen Informationen vor. Daraufhin haben wir den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages um eine Untersuchung gebeten. Und siehe da: In fast der gesamten Europäischen Union ist die Kennzeichnungspflicht bereits umgesetzt. Deutschland ist, neben Österreich, der einzige Verweigerer. Und nirgends gibt es Belege für eine damit verbundene Gefährdung von Polizisten. Lediglich aus Spanien werden „in einigen wenigen Einzelfällen“ unberechtigte Anschuldigungen oder Übergriffe vermeldet, ansonsten lägen jedoch „keine relevanten Informationen vor, ob die Einführung der Kennzeichnungspflicht zu einem Anstieg unberechtigter Anschuldigungen gegen Polizeibeamte oder gar zu persönlichen Übergriffen auf diese geführt hat“. Amnesty International zog daraus die Bilanz: Es lägen keine wirklichen Gründe gegen eine Kennzeichnungspflicht vor. Dennoch stemmen sich gerade die Polizeigewerkschaften noch immer vehement dagegen. Der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch hat hierzu in einer Anhörung im Brandenburger Landtag Anfang Januar das Notwendige gesagt: Die Polizisten hätten vielfach „emotionale Vorbehalte“, die sich aber nicht auf Tatsachen stützten. Berlin hat mittlerweile eine Kennzeichnung beschlossen, Brandenburg steht kurz bevor. Dort hat interessanterweise die CDU die Initiative ergriffen - und die steht wohl genauso wenig im Verdacht, angeblichen linken Gewalttätern nahezustehen wie der Berliner Polizeichef. Die Brandenburger CDU führt in ihrem Gesetzentwurf völlig zu Recht aus, eine namentliche Kennzeichnung könne das Vertrauen in die Polizei durch Transparenz und Bürgernähe stärken. Das sagen wir auch den Polizeigewerkschaften: Sie haben nichts zu verlieren, im Gegenteil. Wenn die Bürger wissen, mit wem sie es zu tun haben, werden sie eher mehr als weniger Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit polizeilichen Handelns haben. Die Kennzeichnung dient, so schreibt es auch die Brandenburger CDU, der Sicherstellung der Rechtsschutzgarantie für die Bürger und gewährleistet eine schnelle Aufklärung von Fällen von Polizeigewalt. Die Linke zieht hieraus das Fazit: Eine Kennzeichnung kostet nichts, sie richtet keinen Schaden an, sie ist aber geeignet, Schaden abzuwenden, indem sie Opfern polizeilicher Übergriffe die Möglichkeit gibt, die Täter zu identifizieren und belangen zu lassen. Eine Kennzeichnung wäre daher ein Gewinn für ehrliche Polizisten wie für die Bürger.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Polizistinnen und Polizisten sind vom Staat beauftragt, das Recht durchzusetzen. Sie sind befugt, dazu auch unmittelbaren Zwang auszuüben. Sie üben dabei das staatliche Gewaltmonopol aus, und das heißt im Konfliktfall eben auch: Sie üben Gewalt aus. Diese Anwendung von Gewalt durch die Polizei muss immer verhältnismäßig sein, und sie muss immer auf klarer rechtlicher Grundlage geschehen. Sonst ist sie rechtswidrig. Um die Fälle rechtswidriger Gewalt geht es hier. Dass es sie gibt, kann niemand ernsthaft bestreiten. Dass sie nicht der Regelfall sind, sei auch klar gesagt. Die Zeiten der Leberwursttaktik eines Polizeipräsidenten Duensing sind zum Glück Vergangenheit. Aber Gewaltexzesse kommen eben gelegentlich vor, gerade bei Großlagen wie Demonstrationen. Da gibt es die Fälle, in denen Bürgerinnen und Bürger, die lediglich ihr Demonstrationsrecht ausüben, zur Zielscheibe von Gewalt durch Polizeibeamte werden. Es bringt nichts, hier jetzt zu streiten, wie es dazu in der Situation jeweils gekommen ist. Was zählt, ist: Ein Bürger sieht sich als Opfer exzessiver Gewalt und damit als das Opfer einer Straftat. Er muss die Möglichkeit haben, diesen Vorfall einer justiziellen Überprüfung zuzuführen. Doch ein solcher Bürger steht heute vor einem Problem: Er muss seine Anzeige gegen Unbekannt stellen, denn er kann nicht identifizieren, wer ihn da unverhältnismäßig attackiert hat. Denn Beamte tragen Uniform und sehen deshalb, das sagt das Wort Uniform schon, alle mehr oder weniger gleich aus - erst recht, wenn sie Helm tragen. Die Anonymität der Uniform aufzuheben, um den Bürgerinnen und Bürgern nach einem ganz konkreten Gewaltakt eine rechtsstaatliche Ermittlung zu ermöglichen - darum geht es. Dazu brauchen wir eine individuelle Kennzeichnung der Polizistinnen und Polizisten, gerade wenn sie in geschlossenen Einheiten im Einsatz sind. Das ist kein Generalverdacht gegen die Polizei; das ist Vorsorge für den Problemfall. Dadurch wird kein Beamter gefährdet. Denn es muss ja nicht der echte Name sein, der da auf der Uniform klar lesbar steht; es reicht eine einprägsame Zahl oder Buchstabenkombination, und die kann auch von Einsatz zu Einsatz neu vergeben werden. Zum Abschluss: Der Antrag der Linkspartei will das Richtige. Dies allerdings von der Bundesregierung zu erwarten, verwundert etwas. Ein Innenminister von der CSU bekommt vielleicht die Kennzeichnungspflicht für Demonstranten hin, schwerlich aber Erkennungszeichen für die Polizei. Wenn das im Gesetz stehen soll, müssen wir das als Bundestag schon selbst in die Wege leiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan11802 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. April 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.