Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 102. Plenarsitzung.
Ich habe vor Eintritt in die Tagesordnung zwei Mitteilungen über Umbesetzungen zu machen. Die Fraktion
der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. HansPeter Friedrich aus dem Gemeinsamen Ausschuss ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Kollegin
Gerda Hasselfeldt vorgeschlagen.
({0})
Ich könnte mir vorstellen, dass es dazu Einverständnis
gibt.
({1})
Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin
Hasselfeldt in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt.
Der Kollege Joachim Günther ist aus dem Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur ausgeschieden. Die
Fraktion der FDP schlägt an seiner Stelle die Kollegin
Petra Müller vor. Sind Sie auch damit einverstanden?
({2})
- Wir halten den spontanen Jubel im Protokoll fest. Damit ist die Kollegin Müller zum Mitglied des Stiftungsrates der Bundesstiftung Baukultur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Gründe des Bundeswirtschaftsministers gegen ein Verbot von Klonfleisch
({3})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Patientinnen und Patienten ausrichten - Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung überarbeiten
- Drucksache 17/5364 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 31
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Netzneutralität im Internet gewährleisten Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln
- Drucksache 17/5367 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Marianne Schieder ({7})
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck ({8}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der
Zivilprozessordnung
- Drucksache 17/5363 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen
- Drucksache 17/5365 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen
NVA
- Drucksache 17/5373 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deutschland im VN-Sicherheitsrat - Impulse
für Frieden und Abrüstung
- Drucksache 17/4863 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Tschernobyl mahnt - Für eine zukunftssichere
Energieversorgung ohne Atomkraft und eine
lebendige europäische Erinnerungskultur
- Drucksache 17/5366 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 19 wird abgesetzt.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss
({12}) und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/5096 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 3 sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:
3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung
- Drucksache 17/4243 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Patientinnen und Patienten ausrichten - RahPräsident Dr. Norbert Lammert
menprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung überarbeiten
- Drucksache 17/5364 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Schavan.
({17})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung
ist ein Schwergewicht bei den Rahmenprogrammen für
die kommenden Jahre. Dies ist aus gutem Grund so.
Denn die demografische Entwicklung in Deutschland
- 2050 wird bereits jeder dritte Bürger älter als 65 sein macht eine Konzentration auf damit verbundene Veränderungen notwendig; diese müssen in der Gesundheitsversorgung, im Gesundheitssystem und vorausgehend in
der Gesundheitsforschung vorgenommen werden. Deshalb ist das neue Rahmenprogramm für die kommenden
acht Jahre von neuen Schwerpunkten, struktureller Weiterentwicklung und Internationalisierung geprägt. Das
sind die drei zentralen Merkmale des neuen Rahmenprogramms. Seitens des BMBF werden bis zum Jahre 2014
rund 6 Milliarden Euro investiert werden.
Wenn ich von Schwergewicht spreche, dann hat das
natürlich auch mit der herausragenden Kompetenz und
dem herausragenden Potenzial in der Gesundheitsforschung zu tun, die in unseren großen Forschungsorganisationen stecken. Ich denke nur an die Institute der
Helmholtz-Gemeinschaft, aber auch - das ist die entscheidende strukturelle Weiterentwicklung - an das, was
an zahlreichen Universitätsinstituten in Deutschland
schon geleistet wird. Deshalb ist in meinen Augen die
größte Veränderung - übrigens auch die größte Veränderung in der Gesundheitsforschung, die es in Deutschland
bislang überhaupt gegeben hat - die Gründung von nationalen Gesundheitsforschungszentren. Dies ist eine
neue Art der Zusammenarbeit zwischen universitärer
und außeruniversitärer Forschung und führt, damit verbunden, zu einer größeren Nähe zu den Erkenntnissen,
die in der Forschung gewonnen werden, was den Patienten zugutekommt. Der Grundgedanke ist: Die Erkenntnisse müssen schneller und wirksamer zum Patienten.
({0})
In den vergangenen Jahren sind viele Analysen durchgeführt worden, in denen immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Trennung der Hochschulmedizin
von den Forschungsinstituten den Weg erschwert. Es
braucht eine Bündelung der Kräfte, es braucht Verbindungen, und es braucht, damit zusammenhängend, höhere Investitionen in die Hochschulmedizin. Das Rahmenprogramm ist übrigens auch ein großer Beitrag des
Bundes - und somit Konsequenz aus der Entscheidung
des Parlamentes - zur finanziellen Unterstützung der
Hochschulmedizin. Es ist Zeit, dass das große Potenzial,
das in unseren Universitäten vorhanden ist, finanziell
entsprechend unterstützt wird. Das Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung wird hierfür in den nächsten Jahren die Voraussetzungen schaffen.
({1})
Im April dieses Jahres wird die Auswahl der Standorte stattfinden. Ich werde schon Ende dieses Monats die
Deutschlandkarte präsentieren können, die Ihnen zeigen
wird, an wie vielen Standorten wir in Zukunft mit sehr
viel intensiverer Forschung im Bereich der Gesundheit
und mit der Verwirklichung der Schwerpunkte, die in
diesem Programm enthalten sind, rechnen können.
Ich nenne drei zentrale Schwerpunkte.
Erstens: die individualisierte Medizin. Dazu sind erhebliche weitere Forschungsanstrengungen notwendig.
Dies ist aber auch eine große Herausforderung für die
Versorgungssysteme.
Zweitens: die Präventions- und Ernährungsforschung,
auch die Versorgungsforschung, die insgesamt eine Verbindung zwischen der Forschung, unserem Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung herstellt. Es geht
dabei um mehr individuelle Zugangswege und eine bessere Versorgung vor allem der multimorbiden Patienten.
Drittens: das Aktionsfeld internationale Kooperation
mit dem Schwerpunkt bei vernachlässigten Krankheiten
oder, anders gesagt, Volkskrankheiten in den Entwicklungsländern.
Wir haben über diese Themen sowohl im Fachausschuss für Bildung und Forschung als auch im Gesundheitsausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diskutiert. Ich messe
dem Aktionsfeld internationale Kooperation eine herausragende Bedeutung bei. Die Gesundheitsforschung muss
in den nächsten Jahren angesichts der Möglichkeiten, die
wir in Deutschland haben, aber auch angesichts der
Möglichkeiten, die wir auf europäischer Ebene haben,
noch stärker genutzt werden, um internationale Verantwortung wahrzunehmen. Sie ist ein wichtiges Aktionsfeld der internationalen Verantwortung, auch in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Meine Damen und Herren, ich werde nicht auf weitere Einzelheiten eingehen; denn das Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung liegt Ihnen vor. Ich will auf den
Antrag der SPD eingehen, der heute in diesem Hause
eingebracht worden ist. Mich hat dieser Antrag insofern
verwundert, als er die Tatsachen im Hinblick auf das
Rahmenprogramm Gesundheitsforschung an vielen Stellen ins Gegenteil verkehrt.
Erstens. Wenn Sie davon reden, dass dieses Rahmenprogramm allgemein gehalten ist, dann muss ich Ihnen
sagen - wir haben ausdrücklich und ausführlich darüber
diskutiert -: Wir legen bewusst ein Rahmenprogramm
vor, das in den nächsten acht Jahren Entwicklungen
möglich macht. Wir legen bewusst ein Programm vor,
das die Richtung vorgibt, basierend auf dem, worüber
wir mit dem Gesundheitsforschungsrat diskutiert haben.
Wir legen Schwerpunkte fest. Jeder von Ihnen weiß,
dass es einer Verwechslung von Äpfeln mit Birnen
gleicht, wenn man ein Rahmenprogramm mit konkreten
Förderausschreibungen verwechselt.
({3})
Zweitens. Sie schreiben, die verstärkte Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft - es ist auch die
Rede von einer Stärkung der Gesundheitswirtschaft - sei
das Leitmotiv dieses Rahmenprogramms. Wir haben
lange darüber diskutiert. Wenn in diesem Rahmenprogramm von Translation und Wissenstransfer die Rede ist
- und zwar auf der Basis der Zentren, die wir in den letzten Jahren schon aufgebaut haben -, dann geht es eben
nicht um verkaufbare Produkte, sondern es geht um neue
Therapien, um neue Leitlinien für Diagnose und Therapie, um unmittelbare Verbesserungen für die Patienten.
Nachdem wir so viel darüber diskutiert haben, lieber
Herr Röspel, kann ich, wenn ich jetzt Ihren Antrag lese,
nur davon ausgehen, dass Sie nicht wahrnehmen wollen,
dass vieles von dem, was in dieses Rahmenprogramm
aufgenommen worden ist, gerade aus den gemeinsamen
Diskussionen, die wir geführt haben, resultiert. Ich finde
das bedauerlich; denn der Bereich der Gesundheitsforschung wäre wunderbar geeignet, um auch einmal gemeinsam die Richtung für die nächsten Jahre vorzugeben.
({4})
- Das ist wahr. - Ganz abgesehen davon hielte ich es,
wenn die Gesundheitswirtschaft und die damit verbundene Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen dieses
Parlament und diese Bundesregierung gleichgültig lassen würden, für eine komische Grundeinstellung.
Das Leitmotiv ist klar - dabei können wir auch gut
auf Entwicklungen der letzten Jahre aufbauen -: Wir
wollen die Wege zum Patienten verkürzen. Wir wollen,
dass das, was die Gesundheitsforschung an neuen Ansätzen und individualisierter Medizin ermöglicht, in dem
gesamten System der Gesundheitsversorgung wirklich
Platz greift und wirkt. Aber wir wollen auch, dass sich
die Gesundheitswirtschaft in Deutschland gut entwickeln kann,
({5})
weil sie eine Wachstumsbranche schlechthin ist, weil sie
gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und vor dem Hintergrund von hochqualifizierten Arbeitsplätzen, die in dieser Branche geschaffen
werden, von großer Bedeutung ist.
Sie schreiben, es gebe Defizite bei der Ausbildung
klinischer Forscher. Sie wissen aber, dass die genannten
Defizite mit diversen Förderschwerpunkten ganz gezielt
angegangen werden, zum Beispiel in den Klinischen
Studienzentren oder in den Integrierten Forschungs- und
Behandlungszentren.
Sie sprechen davon, dass wir uns zu wenig mit der gesundheitsökonomischen Dimension des ganzen Themas
beschäftigen. Sie wissen aber, dass längst Zentren der
gesundheitsökonomischen Forschung eingerichtet werden.
Ich nenne diese wenigen Punkte aus Ihrem Antrag,
weil ich der Meinung bin, dass wir in der Frage der Gesundheitsforschung einschließlich der damit verbundenen Schwerpunkte und strukturellen Verbindungen und
Veränderungen möglichst viel Zusammenarbeit brauchen - auch zwischen Bund und Ländern. Deshalb wünsche ich mir für die gute Umsetzung dieses Schwergewichtes unserer Forschungsstrategie eine gute
Verbindung zu den Ländern und einen möglichst weitgehenden parteiübergreifenden Konsens; denn wir reden
über ein Forschungsfeld, das zutiefst mit humaner Entwicklung in unserer Gesellschaft, exzellenter Forschung
und neuen Verbindungen zwischen der Forschung, dem
Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung zusammenhängt. Das Potenzial war noch nie so groß. Die
finanziellen Investitionen waren noch nie mit so vielen
Möglichkeiten verbunden, und die Strukturen, die wir
auf den Weg bringen, sind die Konsequenz aus dem, was
in vielen Analysen über das Gesundheitssystem und die
Gesundheitsforschung in Deutschland zutage getreten
ist. Deshalb geht mein Dank auch an diejenigen, mit denen dieses Programm aufseiten des Parlaments diskutiert
werden konnte. Ich bitte um Unterstützung für die Umsetzung in den nächsten acht Jahren.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Oktober 2007 ist die „Roadmap für das Gesundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung“
publiziert worden, herausgegeben vom Gesundheitsforschungsrat des BMBF. Das ist ein Rat, der mit hochkarätigen deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besetzt ist. Er hat sich im Beratungsprozess mit über
900 Beteiligten getroffen - leider waren darunter keine
Patientenvertreter und keine Vertreter der Komplementärmedizin; dazu werde ich gleich kurz noch etwas sagen und einige Jahre diskutiert. Er hatte die Aufgabenstellung, zu beraten, welche aussichtsreichen Forschungsthemen im Bereich der Gesundheit zu identifizieren sind
und der Bundesregierung sozusagen mit auf den Weg gegeben werden können, um ein Gesundheitsforschungsprogramm zu erarbeiten und zu beschließen.
Dieses haben wir im Oktober 2007 auf den Tisch bekommen, und ich muss sagen: Es ist ein richtiges
Schwergewicht - 120 Seiten vollgepackt mit Informationen, wissenschaftlichen Arbeiten, Handlungsoptionen
und Vorschlägen. Wir waren damals, als wir darüber diskutiert haben, sehr zufrieden damit und haben gesagt: Es
wird spannend, was für ein Gesundheitsforschungsprogramm aus den Vorschlägen der beteiligten Wissenschaftler entstehen wird.
Knapp anderthalb Jahre später haben wir nachgefragt.
Im Januar 2009 bekamen wir die Antwort: Im April/Mai
wird es eine Kabinettsbefassung mit dem Gesundheitsforschungsprogramm geben. Ein weiteres Jahr später, im
Februar 2010, haben wir noch einmal nachgefragt, wann
das Gesundheitsforschungsprogramm vorliegen wird. Es
wurde dann eine ähnliche Antwort gegeben: Kabinettsbefassung im April/Mai.
Ende 2010 flatterte eine Hochglanzbroschüre des
BMBF in unsere Büros - übrigens ohne vorherige Diskussion; ich weiß nicht, in welchen parlamentarischen
Zirkeln das vorher besprochen worden ist -, auf der
stand: „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung“.
({0})
Das Deckblatt ist übrigens im seit 2005 üblichen CDUOrange gehalten. Wir waren sehr gespannt, was in diesem Rahmenprogramm steht. Es sind 48 Seiten; es müssen ja auch nicht wieder 120 Seiten sein. Aber wenn man
hineinschaut, dann findet man erst einmal eine ganze
Reihe von Hochglanzfotos. Sehr interessant! Zieht man
sie ab, bleiben von den 48 Seiten 30 Seiten Text.
({1})
Auch das ist okay.
Wenn man sich diesen Text dann aber ansieht - das ist
alles andere als ein Schwergewicht, Frau Schavan, das
ist ein wirkliches Leichtgewicht -, dann ist die Enttäuschung sehr groß,
({2})
und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist ein inhaltlicher: Bei der Erarbeitung des Gesundheitsforschungsrahmenprogramms haben Sie die wissenschaftlichen Chancen nicht genutzt;
({3})
sie finden sich im Gesundheitsforschungsprogramm
nicht wieder. Sie haben die Arbeit der deutschen Wissenschaft schlicht und einfach nicht genutzt.
Der zweite Punkt, der mich fast ärgert, ist: Sie haben
nicht die Möglichkeit genutzt, mit dem Gesundheitsforschungsprogramm ein gesellschaftliches und politisches
Zeichen mit einer entsprechenden Dimension zu setzen.
Wenn man das Programm liest, dann erhält man in der
Tat den Eindruck, dass die Gesundheitsforschung in diesem Programm dazu dienen soll, möglichst schnell wirtschaftlich verwertbare Produkte zu generieren. Sie nennen das: Erkenntnisse „an den Patienten bringen“. Das
zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Programm.
Um das visuell deutlich zu machen, habe ich rote Zettel
eingelegt. Überall dort, wo sich ein roter Zettel befindet,
wird die Wirtschaft betont. Das darf man machen, aber
es dient nicht der Gesundheitsforschung.
Wir als SPD haben eine andere Auffassung, Frau
Schavan. Gesundheitsforschung soll nicht der Wirtschaft
dienen, sondern den Menschen.
({4})
Sie hingegen - das haben wir auch in Ihrem Redebeitrag
gerade wieder gehört - zäumen das Pferd von der anderen Seite auf. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.
Die Frage ist: Wie können wir den Menschen dienen,
und wie kann man vom Menschen her darüber nachdenken, welche Gesundheitsforschung betrieben werden
muss?
({5})
Dann ergeben sich auch noch andere Fragen: Was müssen wir machen, damit die Menschen gesund bleiben?
Was müssen wir in der Forschung tun, damit Kranke
wieder gesund werden?
Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise ergeben sich
wieder andere Fragen: Wie sehen die Lebensbedingungen von Menschen aus? Wie schaffen wir Arbeitsplätze
und Situationen, mit denen es gelingt, dass Menschen
gesund bleiben? Wie schaffen wir entsprechende Lebensbedingungen? Welche Ernährungsforschung und
Versorgungsforschung betreiben wir? Wie gehen wir mit
Kranken um?
Das sind die Fragen, die sich ergeben, wenn man vom
Menschen her denkt, und das finden wir in dem Gesundheitsforschungsprogramm leider nicht.
Ihre Antworten sind anders. Zum Teil sind sie nicht
vorhanden; die Bereiche Arbeits- und Dienstleistungsforschung gibt es nicht. Es gibt aber ein Kapitel über
Versorgungsforschung, Ernährungs- und Präventionsforschung. Wie sehen hier Ihre Antworten aus? Sie können
sich hier nicht darauf zurückziehen, dass das nur ein grober Überblick ist. Es muss mehr sein als nur Textbeiträge.
Ich habe alles mit Spannung gelesen. Auf Seite 33
schreiben Sie:
Die Bedeutung der gesundheitsökonomischen Forschung hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Der Bedarf an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen … wird immer dringlicher.
Forschung kann hierfür konsistente Entscheidungsgrundlagen schaffen.
Das ist alles richtig. Jetzt warten wir auf die Vorschläge. Was aber kommt? Nichts. Es folgt das nächste
Kapitel: „Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“. Darin verweisen Sie darauf, dass mehr Lehrstühle
für Versorgungsforschung geschaffen werden müssen.
Das ist Länderaufgabe. Wo ist die Verantwortung des
Bundes?
Welche Vorschläge bieten Sie zur Gesundheitsforschung für die Menschen?
({6})
Das Programm ist eine inhaltliche Enttäuschung für uns.
Sie machen keine Gesundheitsforschung, sondern
Krankheitenerforschung. Das greift zu kurz.
({7})
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Einige Kollegen haben gestern an einer Veranstaltung zur Komplementärmedizin teilgenommen, bei der es auch um Naturheilkunde und alternative medizinische Verfahren ging.
90 Prozent der Menschen, die auf diese Weise behandelt
werden, sind sehr zufrieden. Das spielt also gesellschaftlich eine Rolle.
In der „Roadmap Gesundheitsforschung“ von 2007
wird die Komplementärmedizin im Kapitel „Krebserkrankungen“ berücksichtigt. Es wird ernsthaft vorgeschlagen, sich damit zu befassen. In dem vermeintlichen
Schwergewicht Gesundheitsforschungsprogramm findet
sich kein Wort dazu. Man findet nicht einmal das Wort
„Behinderung“. Aber zu einem Gesundheitsforschungsprogramm gehört, wie ich finde, auch Gesundheitsforschung für Menschen mit Behinderung.
Das alles ist sehr enttäuschend. Sie hatten drei Jahre
Zeit für das Gesundheitsforschungsprogramm, die Sie
nicht genutzt haben. Wir als SPD hatten drei Wochen
Zeit, als wir erfuhren, dass die Debatte sehr schnell auf
die Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben einen Antrag
erarbeitet. Er mag nicht vollständig oder auch verbesserungswürdig sein; aber wir sagen ausdrücklich: Wir wollen Gesundheitsforschung, die von den Bedarfen der
Menschen ausgeht.
({8})
Damit stehen wir nicht alleine. Das Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sieht das
genauso. Die Frage ist: Was hat der Patient davon? Das
gilt auch für die Forschung.
Wir wollen einen Aktionsplan Präventions- und Ernährungsforschung. Sie kündigen ihn seit Jahren an. Wir
sagen: Legen Sie ihn endlich vor!
Wir wollen die Stärkung der Patientenautonomie, und
wir wollen die klinische Forschung stärken. Was Sie
eben an bereits existierenden Maßnahmen aufgeführt haben, Frau Schavan, ist doch auf eine Initiative der SPD
zur Förderung nicht kommerzieller und klinischer Forschung zurückzuführen, die wir in guter Zusammenarbeit, Herr Kretschmer, gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben. Sonst wäre nichts
passiert.
({9})
Wir wollen auch Gender- und Kinderaspekte einbeziehen. Das sind nur einige Beispiele aus unserem Antrag.
Sie wollen in den nächsten fünf Jahren 5,5 Milliarden
Euro einsetzen. Auch darauf sind wir sehr gespannt. Wo
sind eigentlich neue Mittel? Denn Sie zählen Forschungsmittel dazu, die längst bewilligt sind. Entscheidend ist aber nicht das Geld oder die Höhe der Summe,
sondern die Frage: Was nutzt letzten Endes den Menschen? Dafür ist die Forschung da.
Das Gesundheitsforschungsprogramm erfüllt diesen
Anspruch nicht. Bedienen Sie sich gerne aus unserem
Antrag. Das tut den Menschen im Lande sicherlich gut.
Danke schön.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Peter Röhlinger für die
CDU/CSU-Fraktion, Entschuldigung: für die FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
- Mögliche Fraktionswechsel sollten schon subjektive
individuelle Entscheidungen bleiben. Sie werden nicht
durch das Präsidium veranlasst. - Bitte schön, Herr Kollege.
({1})
Herr Präsident, ich freue mich, dass wir in dieser
fröhlichen Stunde auch ein fröhliches Wort übrig haben.
Ich begrüße Sie herzlich, Frau Ministerin, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Ich widme mich im Folgenden dem von Ihnen genannten tatsächlichen Schwergewicht. Ich empfinde es als Veterinärmediziner und
Bürger, der 40 Jahre lang das Gesundheitswesen der
DDR kennengelernt hat, auch persönlich als eine große
Freude, dass wir nun die Chance haben, der Spitze der
europäischen medizinischen Forschung zu zeigen: Wir
sind hier und wollen unseren Beitrag leisten.
({0})
Ich gehe davon aus, dass das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung die strategische Ausrichtung der medizinischen Forschung für die
kommenden Jahre darstellt. Es bildet die Grundlage für
die Finanzierung medizinischer Forschung an Hochschulen, Universitätskliniken, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und in Unternehmen.
Die Bundesregierung ist einer der wichtigsten Akteure auf dem Gebiet der Gesundheitsforschung, denn
sie finanziert anteilig Wissenschaftsorganisationen wie
die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft,
die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
({1})
Sie unterhält Ressortforschungseinrichtungen, und sie
fördert medizinische Forschungsprojekte. Daraus erwachsen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei wird hoffentlich ein Großteil dessen, was Sie, Herr Röspel, angesprochen haben, integriert werden.
({2})
Wir haben als Parlamentarier Zeit, das zu kontrollieren
und gegebenenfalls zu ergänzen.
Dieses Programm setzt für die institutionelle Förderung und für die Projektförderung des BMBF einen gemeinsamen Rahmen und richtet beide Förderarten neu
aus. Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft
schneller aus der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung in die medizinische Regelversorgung
und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess, der
in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedauert hat,
soll durch neue Strukturen und neue Formen der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beschleunigt werden. Dafür sind - die Zahlen haben
wir zum Teil schon gehört - für das Jahr 2011 insgesamt
mehr als 1 Milliarde Euro in den Haushalt eingestellt, für
den Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro.
({3})
Die Laufzeit ist auf acht Jahre angelegt. Auf der Veranstaltung, die wir gestern gemeinsam besucht haben, hatte
ich den Eindruck, dass wir überfraktionell, gerade was
die Komplementärmedizin angeht, durchaus übereinstimmende Ansichten haben.
Die Tatsache, dass die Laufzeit auf acht Jahre angelegt ist, gibt uns die Möglichkeit, nicht im Raster von
vier Jahren denken zu müssen, sondern in längeren Zeiträumen. Das sind wir den Bürgern schuldig, und dieser
Zeithorizont macht uns Abgeordneten Hoffnung, in den
nächsten Jahren etwas mehr Kraft zu investieren.
({4})
Die Patienten stehen - so geht es aus dem Text hervor - im Mittelpunkt. Partner der Regierung sind in erster Linie die Forschungseinrichtungen. Aber wir haben
auch - darin unterscheiden wir uns vielleicht, Herr
Röspel - ein ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen
als Partner bei der Lösung außerordentlich komplizierter
Vorhaben. Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung
sind sechs Aktionsfelder definiert. Ich möchte an dieser
Stelle nur auf einige eingehen, die mir besonders interessant erscheinen.
Zunächst geht es um die Erforschung von Volkskrankheiten. Diese Forschung wird gebündelt. Es werden sechs deutsche Zentren der Gesundheitsforschung
gegründet. Diese Zentren sind so aufgestellt, dass eine
neue Qualität der Zusammenarbeit in der Wissenschaft
entstehen kann; das muss auch so sein. Erstmals werden
hier universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen
mit ihren jeweils besten Forscherinnen und Forschern
gleichberechtigt und gemeinsam wissenschaftliche Fragestellungen definieren und bearbeiten. Bei den Vorgesprächen zum Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist mir ans
Herz gelegt worden: Wir brauchen nicht mehr Geld, sondern neue Strukturen. Wir brauchen Kooperation, auch
mit den Unternehmen.
({5})
Das ist ein neuer Aspekt, der sich in diesem Rahmenprogramm wiederfindet.
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, zum Beispiel Parkinson, Demenz und Alzheimer, und das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung sind bereits gegründet.
({6})
Vier weitere Zentren werden eingerichtet, zu HerzKreislauf-Erkrankungen, zu Krebs, zu Infektions- und zu
Lungenkrankheiten. Hier werden sicherlich - darüber
sind wir uns alle einig - die Kliniken und Einrichtungen
mit großem Interesse dabei sein. Sie werden sich fragen:
Sind wir dabei, oder gehören wir zu den Einrichtungen,
die aus diesen oder jenen Gründen nicht einbezogen
werden? - Da können wir uns auf schwierige Diskussionen gefasst machen. Frau Ministerin, Sie plädierten für
eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Ich sehe da
durchaus Spannungsfelder. Aber auch dafür sind wir da.
Sonst würden das andere schon längst gemacht haben.
Beim Aktionsfeld 2 geht es um die Forschungsherausforderung. Das Stichwort heißt individualisierte Medizin. Dieses Aktionsfeld ist der ganzheitlichen Behandlung gewidmet; denn durch die großen Fortschritte der
medizinischen Forschung in den vergangenen Jahren ist
das Verständnis der grundlegenden Krankheitsmechanismen inzwischen stark gewachsen. Dabei ist deutlich geworden, dass individuelle Unterschiede, zum Beispiel
Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und genetische
Disposition, eine große Rolle spielen. Die Erforschung
dieser Aspekte muss forciert werden, um Diagnose und
Therapie künftig stärker als heute auch auf individuelle
Bedürfnisse und Voraussetzungen einzelner Menschen
oder einzelner Gruppen von Menschen auszurichten.
Mir sagen die Chefs in Heidelberg und an anderen
Orten: Wenn die Patienten künftig mit ihrem Chip zum
Arzt oder in die Klinik kommen und eine Fülle von Informationen mitbringen, dann kann der Mediziner Kosten auf dem einen oder anderen Gebiet vermeiden, weil
er sehr speziell reagieren und auf die Anwendung von
diesem oder jenem Diagnostikum oder Therapeutikum
verzichten kann.
({7})
Die Bundesregierung unterstützt die Entwicklung von
Diagnostika und Therapeutika und spannt in der Förde11630
rung den Bogen entlang des Innovationsprozesses von
der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung über
die präklinische und klinisch-patientenorientierte Forschung bis zur Marktreife. Der Übergang von einer Stufe
des Innovationsprozesses zur nächsten wird erleichtert.
Die Erforschung seltener Krankheiten wird ebenso besonders intensiv gefördert.
Die Präventions- und die Ernährungsforschung liefern Erkenntnisse über den Einfluss von Ernährung und
Bewegung. Das betrifft speziell unsere Berufsgruppe;
({8})
denn die Bewegungsarmut betrifft uns alle, die wir hier
sitzen.
({9})
Herr Kollege.
Man sieht, das Ministerium denkt auch an uns, obwohl man sagt: Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. - In diesem Fall haben Sie, Frau Ministerin, auch
dieses Tabu gebrochen.
Herr Kollege, wenn Sie gelegentlich an die Redezeit
dächten, würde uns das auch wieder mehr Bewegung am
Rednerpult ermöglichen.
({0})
Ich nähere mich dem Ende.
({0})
Das wollen wir nicht hoffen, aber die Redezeit geht
zu Ende, Herr Kollege Röhlinger.
({0})
Ich möchte zum Schluss auf die neuen Strukturen in
der internationalen Kooperation und auf die Zusammenarbeit mit dem BMZ verweisen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Petra Sitte für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sich um
die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen, gehört wohl
zu den höchsten Ansprüchen einer Gesellschaft. Diese
Aufgabe bedarf, soll sie auch nur annähernd gerecht für
die Menschen erfüllt werden, eines zutiefst solidarischen
Ansatzes. Herr Röspel hat schon gesagt, dass von den
Menschen aus gedacht werden soll.
({0})
Für diesen Ansatz bedeutet das, dass das Gesundheitsforschungsprogramm nicht mehr nur in den Grenzen von
Nationalstaaten verfolgt werden kann, und für diesen
Ansatz bedeutet das, dass die Grenzen zwischen fachwissenschaftlichen Disziplinen überschritten werden
müssen.
Was heißt das jetzt aus der Sicht der Linken? Ein modernes Gesundheitsforschungsprogramm muss zwangsläufig seinen Horizont erweitern. Deshalb ist uns besonders wichtig, dass soziale, kulturelle, soziologische,
demografische, aber auch ökologische Faktoren einzubeziehen sind, weil auch diese die Gesundheit maßgeblich beeinflussen.
({1})
Im Zentrum des Gesundheitsforschungsprogramms
sollen nun so große Volkskrankheiten wie Krebs, HerzKreislauf-, Stoffwechsel-, Infektions-, Lungen- oder neurodegenerative Erkrankungen stehen. Der Anstieg bei
diesen Erkrankungen und die Dramatik ihres Verlaufs
werden, wie zwischenzeitlich belegt, eindeutig auch
durch unsere Lebensweise geprägt. Daher müssen in
neuer Qualität auch Präventions- und Versorgungsforschung in das Konzept integriert werden. Die Linke hat an
dieser Stelle wiederholt kritisiert, dass Gesundheitsforschung in dieser Bundesregierung viel zu sehr auf Pharmaentwicklung, Biotechnologie und Medizintechnik verengt ist.
Tatsächlich hätte die Bundesregierung längst weiter
sein können. Herr Röspel hat es schon zu Recht gesagt:
Immerhin lagen mit dem damaligen als - neudeutsch „Roadmap für die Gesundheitsforschung“ bezeichneten
Konzept der schwarz-roten Koalition von 2007 viele
deutlich konkretere Vorschläge auf dem Tisch. Aber offensichtlich ist die schwarz-gelbe Gemeinschaftspraxis
tapfer entschlossen, ihre konzeptionelle Blutarmut ohne
rote Helferzellen zu überstehen.
({2})
Also muss das Parlament die konkrete strukturelle
und finanzielle Umsetzung der angekündigten Initiativen
kontrollieren und mit eigenen Vorschlägen bereichern.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie uns bereits in den Haushaltsberatungen Auskunft darüber gibt,
in welchem Verhältnis die einzelnen Aktionsfelder zueinander stehen und wie sie jeweils finanziell unterlegt
werden.
Die Erforschung großer Volkskrankheiten ist wahrlich
eine Mammutaufgabe, an die sich hohe Erwartungen
knüpfen. Das alles ist nicht ohne verlässliche Strukturen,
ohne neue bundesweite Vernetzungen und Kooperationen zu schaffen. Also macht die Bildung von Zentren für
Gesundheitsforschung unter dem Dach der starken
Helmholtz-Gemeinschaft durchaus Sinn. Wenn jedoch
die Universitätsklinika auf Augenhöhe mitwirken sollen,
dann müssen sich Bund und Länder darüber verständigen, wie der chronischen Unterfinanzierung der Universitätsmedizin begegnet werden kann.
({3})
Ansonsten können die Klinika ihre Chance, endlich wieder stärker in öffentlich geförderte, nicht kommerzielle
Forschung einzusteigen, kaum befriedigend wahrnehmen. Insofern hatten Sie in Ihrer Rede recht. Das Ganze
muss jetzt aber auch verbindlich festgehalten werden.
Eine unabhängige klinische Forschung kann dem
Wissen über Therapien entscheidende Impulse geben;
das wissen wir. Mithin wird die Möglichkeit, eigene Forschungsvorhaben zu verfolgen, auch für wissenschaftlichen Nachwuchs attraktiv. Deshalb betrachte ich es als
Fortschritt, dass Nachwuchsfragen in jedem Themengebiet des Programms eine Rolle spielen. Allerdings müssen Sie jetzt nachlegen und verlässliche Perspektiven
konzipieren.
Gesundheitsprobleme können, wie ich schon eingangs gesagt habe, nicht mehr nationalstaatlich gelöst
werden; sie tragen globalen Charakter. Wer heute meint,
dass die wohlhabenden Staaten von den Krankheiten der
sogenannten armen Länder verschont bleiben, verkennt
den Ernst der Lage. Die Linke sagt: Wir tragen eine hohe
Verantwortung dafür, dass Krankheiten, die mit Armut
einhergehen, wie HIV, Malaria, Tbc oder tropische
Krankheiten, ausgerottet werden können.
({4})
Die Pharmaindustrie ihrerseits ignoriert nämlich erfahrungsgemäß die dramatischen Folgen, weil in den armen Ländern auf sie keine kaufkräftigen Kunden warten. Es ist eine Bankrotterklärung der reichen Staaten,
dass die Millenniumsziele der Vereinten Nationen nicht
erreicht worden sind.
Nicht genug damit, dass so viele Menschen wie nie
hungern, nämlich über 1 Milliarde: Nein, sie sind infolgedessen auch noch dramatisch geschwächt und fast
wehrlos gegen Krankheiten. So stehen wir weltweit vor
verschärften armutsbedingten medizinischen Großproblemen und damit einhergehenden gesellschaftlichen
Konflikten. Krasses Beispiel etwa sind multiresistente
Tuberkulosekeime, die sich in den Staaten der ehemaligen
Sowjetunion entwickelt haben und die sich nunmehr über
ganz Europa ausbreiten.
Deutschland bezeichnet sich immer wieder gern als
„Apotheke der Welt“. Angesichts dessen, was ich gerade
gesagt habe, kann ich nur feststellen: Dieser Satz ist
falsch. Wenn überhaupt, dann sind wir Apotheke höchstens für den reicheren Teil der Welt. Unter den Fördernationen findet sich Deutschland als eines der reichsten
Länder nämlich nur auf Platz 20. Das ist völlig inakzeptabel!
({5})
Lediglich 20 Millionen Euro für sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften zwischen Industrie und Forschern stehen beispielsweise 800 Millionen Euro gegenüber, die im Rahmen der Pharmainitiative in den letzten
Jahren ausgegeben wurden. Das müssen wir ändern.
({6})
Meine Damen und Herren, das Gesundheitsforschungsprogramm bietet uns durchaus auch auf diesem
Feld eine Chance, die hohe Kompetenz wissenschaftlicher Einrichtungen tatsächlich in den Dienst dieser Gesellschaft wie auch der Weltgemeinschaft zu stellen. Packen wir es endlich an!
Danke schön.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Krista Sager vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrem nationalen Rahmenprogramm
zur Gesundheitsforschung die Präventionsforschung, die
Versorgungsforschung und auch die globale Herausforderung mit einem Schwerpunkt auf vernachlässigte und
armutsbedingte Krankheiten aufgegriffen und zu eigenen Aktionsfeldern gemacht. Das bewerten wir erst einmal durchaus positiv. Ich sage aber auch: Wenn man sich
die finanzielle Gewichtung anschaut, kann man in der
Tat nur von allerersten Schritten sprechen. Da müssen
mit Sicherheit weitere Schritte folgen.
({0})
Die Bedeutung der Präventionsforschung wird besonders durch den demografischen Wandel unterstrichen.
Wir müssen junge Menschen vor Erkrankung schützen,
wir müssen ältere Menschen länger gesund und aktiv erhalten. Ein wichtiges Thema für die Präventionsforschung ist aber auch die soziale Spaltung im Präventionsbereich. Prävention darf nicht nur die gebildete
Mittelschicht erreichen, sondern sie muss auch Kinder
aus armen Familien und Menschen, für die gesunde Ernährung nicht alltäglich ist, erreichen.
({1})
Deswegen muss die interdisziplinäre und kooperative
Präventionsforschung ganz besonders verstärkt werden.
({2})
In einer alternden Gesellschaft gibt es aber auch immer
mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen, deren
Leid gemildert und deren Lebensqualität erhalten werden
muss. Gesundheitsforschung muss deswegen auf die Erforschung chronischer Erkrankungen einen Schwerpunkt
legen. Auch die Schmerz- und die Pflegeforschung müssen verstärkt werden. Frau Schavan, ich finde, dass in
einem nationalen Gesundheitsforschungsprogramm die
Pflegewissenschaften einen sehr viel stärkeren Stellenwert brauchen, als das in Ihrem Programm der Fall ist,
({3})
und zwar nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen
Erkenntnisse, sondern auch, was die akademische Professionalisierung des Fachkräftepotenzials angeht.
Die Stärkung der Versorgungsforschung war - gerade
vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Möglichkeiten - für uns immer ein besonders wichtiges Anliegen.
Der medizinische Fortschritt muss auch bei denen ankommen, die es am nötigsten haben und bei denen er am
meisten bewirkt - nicht nur bei denen, die es sich leisten
können. Deswegen ist gerade die Stärkung der Versorgungsforschung unter dem Gesichtspunkt von Gerechtigkeit, aber auch unter dem Gesichtspunkt von Qualität und
Effizienz für uns Grüne ein ganz besonderes Anliegen.
Männer und Frauen werden in unserem System unterschiedlich unterversorgt und überversorgt. Man muss
sich da nur die Herzkrankheiten und die psychischen
Krankheiten anschauen. Zum Teil kommen Medikamente auf den Markt, die nur an männlichen Probanden
getestet worden sind. Deswegen muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass genderspezifische Aspekte in die
Gesundheitsforschung systematischer integriert werden,
als das in der Vergangenheit der Fall war.
({4})
Wir begrüßen - auch Frau Sitte hat das angesprochen -, dass die Bundesregierung jetzt mehr gegen armutsbedingte Krankheiten tun will. Das ist in der Tat
nicht nur ein Thema, das Solidarität und globale Verantwortung betrifft, es hat auch etwas mit Selbstschutz zu
tun. Resistente Formen der Tuberkulose können auch
ganz schnell bei uns ankommen.
Bei den geförderten Produktentwicklungspartnerschaften muss jetzt dafür gesorgt werden, dass die Kriterien für
Lizenzierung und Erfolg transparent entwickelt werden.
Unsere Entwicklungspolitiker werden ganz besonders
darauf achten, dass dabei in Zukunft in Zusammenarbeit
mit den NGOs Fortschritte erzielt werden.
({5})
Der größte Teil der Mittel aus diesem Rahmenprogramm geht in die Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. Ich sage ausdrücklich: Fokussierung auf die
großen Volkskrankheiten und Bündelung von Kräften
und Ressourcen zur Erforschung der großen Volkskrankheiten finden wir im Prinzip richtig. Zur Erreichung des
Ziels der schnelleren Translation, also der schnelleren
Überführung der medizinischen Forschungsergebnisse
in die klinische Praxis bzw. in die Patientenbehandlung,
müssen aber eigentlich die Universitätskliniken ins Zentrum gerückt werden. Warum? Die medizinische Forschung braucht unbedingt die Nähe zu den Patientinnen
und Patienten. Sie braucht die Nähe zur klinischen Erfahrung. Sie braucht die Überprüfung ihrer eigenen Erwartung in der klinischen Praxis. Sie braucht aber auch
die Nähe zum ärztlichen Nachwuchs; denn wir müssen
gerade die jungen Ärzte auch für die medizinische Forschung und für die Kooperation mit der medizinischen
Forschung interessieren und gewinnen. Das heißt, wenn
man Translation als Ziel ernst nimmt, dann müssen
Herzstück und Schnittstelle der Deutschen Zentren eigentlich die Universitätskliniken sein.
({6})
Was ist aber passiert? Wir sind wieder von den Besonderheiten der föderalen Forschungsförderung eingeholt worden. 90 Prozent der Mittel sollen vom Bund
kommen. Also wurden, um die Länder im Boot zu halten, die Helmholtz-Zentren in die Mitte gerückt; sie wurden als Partner gesetzt. Sie mussten sich im Gegensatz
zu den Universitäten dazu keinem qualitativen Wettbewerb stellen. Sie sind von vornherein privilegiert, weil
sie Geförderte und Förderer zugleich sind. Es ist kein
Wunder, dass der Verband der Universitätskliniken, der
Medizinische Fakultätentag und die Hochschulrektorenkonferenz protestiert haben. Durch ihren Protest und
durch ihren Druck gibt es jetzt verschiedene Zentrenmodelle und eine Entwicklung in Richtung einer Netzwerkstruktur.
Damit sind aber nicht alle Probleme und Ängste beseitigt. Werden die Helmholtz-Zentren forschende junge
Ärzte, Publikationen und Drittmitteleinwerbung aus den
Universitätskliniken und aus den Unis zu sich herüberziehen? Werden die Länder Komplementärmittel, die sie
jetzt brauchen, bei der Grundfinanzierung der Unikliniken abziehen? Das alles sind offene Fragen. Die Frage
„Wird es Kooperation auf Augenhöhe geben?“ ist bisher
nicht beantwortet.
Ich finde es nicht unproblematisch, so viel Geld auf
Dauer in eine Struktur hineinzustecken, die bisher noch
so wenig erprobt ist. Wir brauchen ganz dringend nicht
nur eine Evaluation der Ergebnisse, sondern beizeiten
auch eine Evaluation der Strukturen sowie der Folgen
und Risiken dieser Strukturen, bevor wir auf Dauer so
viel Geld in diese stecken. Das ist eine Sache, zu der ich
von Ihnen, Frau Schavan, eine Zusage erwarte, und das
erwarten auch die Universitätskliniken von Ihnen.
({7})
Der Kollege Michael Kretschmer erhält als Nächster
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über 5,5 Milliarden Euro, nahezu 6 Milliarden
Euro, wird der Bund zwischen 2011 und 2014 für die
Gesundheitsforschung ausgeben. Über nicht weniger
Geld sprechen wir heute. Das ist ein gewaltiger Kraftakt.
Das macht klar, welche Bedeutung wir der Medizin und
der Gesundheitsforschung beimessen. Es ist nicht weniger als knapp die Hälfte des Geldes, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung jährlich als Etat
zur Verfügung hat. Es ist ein gewaltiger Kraftakt und,
wie ich finde, ein deutliches Zeichen in die richtige
Richtung.
({0})
Es reicht in diesem Zusammenhang nicht, über Geld
zu sprechen; wir müssen auch über Strukturen und über
Qualität sprechen. Ganz wichtig ist, auch im Hinblick
auf das 8. Forschungsrahmenprogramm und andere Diskussionen, die derzeit laufen: In der Forschung muss es
zuallererst um Exzellenz gehen. Es ist alles nichts ohne
Exzellenz.
({1})
Diese Erkenntnis hatte vor Jahren auch schon eine andere Bundesforschungsministerin. Sie hatte festgestellt,
dass Deutschland bei der klinischen Forschung weit zurück lag, und deswegen versucht, mit Zentren für klinische Studien und ähnlichen Dingen die Qualität zu heben. Vieles davon ist gut gelungen. Deswegen empfinde
ich nicht alle Reden, die wir heute gehört haben, als zielführend. Wir können nämlich gemeinsam auf das stolz
sein, was wir auf den Weg gebracht haben.
Wir haben heute gehört, das Programm sei zu nahe an
der Umsetzung, zu nahe an den Unternehmen, die später
die Medikamente herstellen. Das ist erstens falsch, und
zweitens widerspricht der Vorwurf dem, was die SPD,
als sie in der Regierung war, einmal selber mit vorangetrieben hat.
({2})
Translation ist ein ganz zentrales Thema in der Gesundheitsforschung. Was nutzt es uns, wenn wir im Labor, im Forschungsinstitut die größten Dinge erforschen
und Fortschritte erzielen, wenn die Ergebnisse nicht umgesetzt werden, nicht zum Patienten kommen? Es ist
richtig, so wie es hier angelegt ist: Translation, also die
Überführung des Wissens in die klinische Anwendung,
muss zentrales Thema eines jeden Gesundheitsforschungsprogramms sein.
({3})
Wenn Sie die Menschen fragen, was Allensbach und
andere Forschungseinrichtungen ab und an machen, was
sie sich von der Forschung am meisten wünschen und
was die wichtigsten Themen sind, dann wird das Thema
Gesundheit genannt. Der Grund ist ihre Sorge um die
schweren Krankheiten Demenz oder Krebs. Deswegen
glaube ich, dass wir mit diesem Programm vollkommen
richtig liegen. Die großen Volkskrankheiten und die Seuchen der Gegenwart gehen wir an. Wir versuchen, dies
in Zusammenarbeit mit den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung mit einer neuen Struktur zu bewältigen.
Dabei hat das Parlament einen deutlichen eigenen
Akzent gesetzt, indem es neben den Zentren für Krebs,
Diabetes, Neurodegeneration und Infektion zwei weitere
Einheiten errichten will. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben gesagt: Wir wollen, dass die Erkrankungen von Herz und Kreislauf sowie der Lunge
auch in diesen Zentren ein Thema sind. Jetzt ist dies auf
dem Weg. Ich finde, die Kritik ist an den Haaren herbeigezogen, und sie ist auch ein bisschen verletzend.
Die Helmholtz-Gemeinschaft ist eine der größten
deutschen Wissenschaftsorganisationen. Sie hat eine
große Exzellenz und ist international anerkannt. Wir haben sie damit beauftragt, diese Deutschen Zentren zu organisieren. Natürlich gibt es einen Wettbewerb bei den
Projekten, die in den Deutschen Zentren verfolgt werden. Dabei muss sich auch eine Gruppe, die in der Helmholtz-Gemeinschaft mitarbeitet, im Rahmen dieses Wettbewerbs bewerben. So ist es auch passiert. Wir haben im
Übrigen eine große Gemeinsamkeit zwischen Klinikern
und außeruniversitären Forschern. Man sollte nicht versuchen, diese durch eine kleinteilige Diskussion in diesem Bereich kaputtzumachen.
({4})
Ich will die Frage aufwerfen, wie es sich mit den Bundesländern, denen die Kliniken gehören, der Hochschulmedizin und der außeruniversitären Forschung verhält.
Ich glaube, wir haben auch hier in den vergangenen Jahren deutliche Maßnahmen ergriffen, um zu helfen. Ich
bin aber nach wie vor der Meinung, dass wir die Universitätskliniken nicht übernehmen sollten. Das würde völlig an der Sache vorbeigehen.
({5})
Wir haben die für Forschung und Entwicklung zur
Verfügung stehenden Mittel deutlich erhöht. Wir haben
versucht, mit den Zentren für klinische Forschung die
Qualität zu erhöhen. Dies ist uns in großen Teilen gelungen. Zuletzt haben wir in der Frage von Programmpauschalen und der Overheadfinanzierung - es werden in
Zukunft 20 Prozent sein - dafür gesorgt, dass diejenigen,
die wirklich gut sind und sich im Wettbewerb bewähren,
am Ende keine Probleme bekommen, weil dies zulasten
ihrer Gemeinkostenfinanzierung geht. Nein, meine Damen und Herren, wir haben die Strukturen geändert. Wir
haben dies so gemacht, dass Wettbewerb stattfindet und
dass am Ende wirklich die Besten erfolgreich sein können, sodass es am Ende in Gänze zu einer Erhöhung von
Exzellenz und Qualität kommt. Ich glaube, der Weg ist
richtig.
({6})
Es ist die Frage angesprochen worden, ob alle Themen richtig bearbeitet worden sind und ob man sich
nicht noch mehr vorstellen könnte. Man kann sich immer mehr vorstellen. Aber auch die Mittel der Bundesrepublik Deutschland und dieses Ministeriums, das einen
hohen Etat hat, sind begrenzt. Deswegen ist erstens die
Konzentration auf die großen Volkskrankheiten wichtig.
Zweitens kommen eine Missionsorientierung und eine
Methodenorientierung hinzu. Ich denke, es ist ein großer
Schritt, dass wir Qualität in der Breite und Vergleichbarkeit organisieren und neben der klinischen Studie die
präklinische Phase und am Ende auch die Markteinführung mit bedenken. Das heißt, vom Menschen her zu
denken. Das heißt, den Patienten in den Mittelpunkt zu
stellen. Ich finde die Kritik, die hier geäußert worden ist,
völlig falsch. Sie ist in der Sache absolut daneben.
({7})
Der Kollege Röspel hat einen Antrag angesprochen,
den wir in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam gefertigt haben. Ich finde, das ist ein großartiges
Werk.
({8})
- Es gab eine gute Zusammenarbeit und kluge Ideen. Vieles von dem realisieren wir jetzt, weil die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Ideen einfach nicht
umgesetzt hat. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({9})
Ich glaube, mit dem jetzigen Gesundheitsminister haben
wir jemanden, der die Dinge mit uns gemeinsam voranbringen will.
({10})
Ich finde, die Ministerin hat vollkommen recht, wenn
sie sagt, dieses Thema sollte zu Gemeinsamkeit führen.
Wir sollten gemeinsam für die Gesundheit in diesem
Land arbeiten. Die Menschen haben so große Hoffnungen, und wir können in diesem Bereich wirklich so viel
gemeinsam bewegen: Lassen Sie uns nicht über Kleinigkeiten reden und parteitaktisch das Ganze betrachten,
sondern stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt
und tun wir etwas für die Gesundheit in diesem Land!
({11})
Wir haben gemeinsam die Möglichkeit.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wohl kaum ein Bereich ist so komplex und solch
starken Veränderungen unterworfen wie unser Gesundheitssystem. Die aus dem demografischen Wandel, der
hier schon angesprochen worden ist, resultierende Notwendigkeit der Versorgung älterer und multimorbider
Patientinnen und Patienten erfordert fortlaufend Anpassungen und in vielen Bereichen auch mutige Strukturreformen.
Auch wenn unser Gesundheitssystem zweifelsohne
zu einem der besten der Welt gehört, stehen wir doch vor
großen Herausforderungen, denen wir uns auch stellen
müssen. Vieles in unserem System ist nach wie vor zu
unkoordiniert, zu intransparent und viel zu wenig am Patienten orientiert.
({0})
Das führt im Übrigen nicht nur zu unnötigen zusätzlichen
Kosten, sondern hat auch Einfluss auf die Qualität der
Versorgung von Millionen von Versicherten. Allein im
Bereich der Versorgung sind noch ganz viele Fragen ungeklärt: Wie überwinden wir das isolierte Nebeneinander
verschiedener Institutionen? Wie schaffen wir eine stärkere Patientenorientierung bei den Versorgungsabläufen? Wie entwickeln wir neue Versorgungsformen, und
wie beschleunigen wir deren Einführung dann in der
Praxis?
Angesichts der demografischen Entwicklung und der
vielen offenen Fragen nicht nur im Bereich der Versorgung, sondern auch in anderen Teilbereichen des Gesundheitssystems bedarf es eines breit aufgestellten, gut
vernetzten Gesundheitsforschungsbereichs in Deutschland. Grundsätzlich begrüßen wir es daher sehr, dass
sich die Bundesregierung dieses Themas annimmt.
Wirft man nun aber einen Blick in das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung, so
stellt man leider fest, dass es der herausragenden Bedeutung der Gesundheitsforschung und damit dem selbst gestellten Anspruch nicht gerecht wird.
({1})
Wer gehofft hat, dass die ständigen Verschiebungen und
Überarbeitungen letztlich genutzt wurden, um hier ein
Programm mit Substanz vorzulegen, der wurde enttäuscht.
({2})
Ihr Papier bleibt in überwiegenden Teilen abstrakt, vage,
unbestimmt. Weitgehend richtigen Problemdarstellungen folgen leider keine konkreten Lösungsansätze, keine
klaren konkreten Maßnahmen und auch keine konkreten
Forschungsprojekte.
({3})
Besonders enttäuschend finde ich, dass das Rahmenprogramm einem Hauptproblem der Gesundheitsforschung, nämlich der nach wie vor viel zu geringen Patientenorientierung, viel zu wenig Beachtung schenkt.
Auch der Kollege Röspel hat das schon ausgeführt. Das
finde ich sehr bedauerlich.
Kolleginnen und Kollegen, damit hier kein Zweifel
aufkommt: Wir brauchen eine starke Gesundheitswirtschaft im Bereich der Pharmaindustrie genauso wie in
der Medizintechnik und der Telemedizin.
({4})
Öffentlich geförderte Gesundheitsforschung muss sich
aber immer an den Hilfebedürftigen und an den Kranken
orientieren.
({5})
Die Fragen, die im Rahmenprogramm gestellt werden
müssen, dürfen nicht lauten: „Wie können wir der pharmazeutischen Industrie am besten helfen?“, oder: „Wie
können wir wissenschaftliche Erkenntnisse schneller
ökonomisch verwerten?“, sondern die Fragen müssen
lauten: „Was hat der Patient davon?“, und: „Wie können
wir mit den neuen Erkenntnissen Patienten besser, umfassender und systematischer versorgen?“. Das muss der
Leitgedanke eines Gesundheitsforschungsprogramms
sein.
({6})
Liebe Ministerin, wären Sie diesem Gedanken gefolgt
- Sie haben heute Morgen noch einmal betont, dass Sie
den Weg zum Patienten kürzer machen wollen -, dann
hätten Sie sich stärker mit der Gesundheitsforschung und
den eingangs gestellten Fragen befasst. Gesundheitsforschung und Versorgungsforschung sind enthalten, aber
deren Anteil ist eigentlich marginal. Die gegenwärtige
Gesundheitsforschung konzentriert sich schwerpunktmäßig immer noch zu sehr an medizinischen Produkten;
viel zu wenig sind die Prozesse, die Behandlungsketten
und die Abläufe bei der Therapie des Patienten im Blick.
Dazu, wie Sie diesem Problem konkret begegnen wollen, findet sich im Papier gar nichts.
({7})
Ebenso wenig befasst sich das Programm mit der
Frage der Stärkung der Patientenautonomie in einem immer komplexer werdenden Gesundheitssystem. Bei einer gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft ist das eine
der ganz großen Herausforderungen.
({8})
Wirtschaftsminister - Pardon! - Gesundheitsminister
Rösler
({9})
- da hat die Berichterstattung der vergangenen Tage Wirkung gezeigt - spricht ja gerne vom mündigen, eigenverantwortlichen Patienten. Bislang beschränkte sich das bei
Schwarz-Gelb allerdings auf finanzielle Eigenverantwortung in Form von Zusatzbeiträgen und Kostenerstattungen. Wenn Sie es mit dem mündigen Patienten wirklich
ernst meinen würden, dann würden sich in diesem Programm Möglichkeiten zur Stärkung der Patientenautonomie wiederfinden. Aber auch hier leider Fehlanzeige.
Eines der sechs Aktionsfelder im Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung befasst sich mit Präventions- und
Ernährungsforschung. Das ist ohne Frage zu begrüßen;
denn gerade im Zusammenhang mit der demografischen
Entwicklung und der Zunahme chronischer Erkrankungen wird die Bedeutung der Prävention weiter zunehmen. Doch auch hier geht das Rahmenprogramm nicht
über Altbekanntes und Bewährtes hinaus.
({10})
Seit Jahren diskutieren wir im Rahmen des von uns immer wieder geforderten Präventionsgesetzes über die
Orientierung an den Lebensverhältnissen.
({11})
Bislang werden mit gängigen Präventionsangeboten genau diejenigen nicht erreicht, die wir aber vor allem erreichen müssen. Lieber Kollege Röhlinger, damit sind
nicht sich schlecht ernährende und bewegungsarme Abgeordnete gemeint,
({12})
sondern Menschen mit niedrigem Einkommen, mit niedrigem Bildungsstand und Migrationshintergrund.
({13})
All diese Menschen haben schlechtere Gesundheitschancen in unserem Land.
Die Erforschung und Bekämpfung ungleicher Gesundheitschancen in Deutschland gehört mit zu den
größten Herausforderungen, vor denen wir in der Gesundheitsversorgung stehen.
({14})
Auch hier schweigt die Bundesregierung; denn dazu findet sich nichts im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung. Allein das zeigt schon, dass dieses Programm
von der Versorgungsrealität weit entfernt ist und sich
nicht an dem Bedarf der Betroffenen orientiert. Hier
müssen Sie dringend nachbessern, wenn Sie den Kampf
gegen ungleiche Gesundheitschancen in unserem Land
wirklich ernst nehmen.
Das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm ist ein
Papier der schönen Worte, ein Papier des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf den sich BMBF und BMG gerade noch haben einigen können. Es bleibt deutlich - auch
das wurde hier schon angesprochen - hinter der bereits
2007 vorgelegten Roadmap zurück, die wesentlich klarer,
konkreter und substanzieller war. Da wurde im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs „Gesundheitsforschung“ sehr klar ausgeführt:
Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen für
das ärztliche Handeln nutzbar gemacht werden und
- umgekehrt - Beobachtungen und Fragen aus der
Versorgungspraxis in die Grundlagenforschung eingebracht werden.
Da wurde also an prominenter Stelle die Frage angesprochen, was Gesundheitsforschung eigentlich leisten soll.
Das vermisse ich jetzt.
Dass das, was hier jetzt vorgelegt wurde, etwas mager
ist, müssen Sie inzwischen wohl selbst gemerkt haben.
Wenn man sich anstatt der Hochglanzbroschüre die entsprechende Bundestagsdrucksache ansieht, dann erkennt
man, dass nach 18 Seiten schöner Worte und Situationsbeschreibung darauf hingewiesen wird, dass das Programm in den kommenden Jahren natürlich ausgefüllt
und konkretisiert werden muss. Ja, in der Tat, hier muss
noch einiges ausgefüllt, konkretisiert und überarbeitet
werden, damit Ihr Programm der Bedeutung der Gesundheitsforschung und der Versorgungsrealität gerecht
wird.
Wenn Sie Ideen brauchen, dann empfehle ich die Lektüre unseres Antrags.
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss. - Er zeigt, welche Impulse
für eine bessere Gesundheitsforschung im Sinne der Patientinnen und Patienten gegeben werden müssen. Wir
wollen, dass das Programm die Versorgungsrealität aufgreift und Projekte für die Versorgung entwickelt. Erst
dann ist es wirklich ein Gesundheitsforschungsprogramm, von dem auch Patientinnen und Patienten profitieren, und nicht einfach nur ein Programm, das den Titel
tragen könnte: Grundlagenforschung in der Medizin unter besonderer Berücksichtigung von Volkskrankheiten.
Danke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident der Hellenischen
Republik, Herr Philippos Petsalnikos, mit seiner Delegation Platz genommen.
({0})
Ich begrüße Sie, Herr Präsident, herzlich im Namen
aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, von denen Sie einige bei Ihren Gesprächen gestern
bereits kennengelernt haben.
Es ist uns, Herr Präsident, eine große Freude, dass Sie
und Ihre Delegation gerade in diesen Tagen Deutschland
besuchen. Ihr offizieller Besuch in Berlin findet auf den
Tag genau 70 Jahre nach dem Einmarsch von Truppen
der damaligen deutschen Wehrmacht in Griechenland
statt, die am 6. April 1941, von Bulgarien kommend, die
griechische Grenze überschritten haben. Wir sind uns
sehr bewusst, dass die darauf folgenden vier Jahre der
deutschen Besatzung Griechenlands in Ihrem Volk tiefe
Wunden hinterlassen haben. Umso dankbarer sind wir
dafür, dass seit dieser Zeit so viele Griechen - unbeschadet des persönlichen Leids, das sie erfahren haben Deutschen versöhnlich entgegengekommen sind und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass
wir die traditionell gute, enge freundschaftliche Verbindung zwischen unseren Ländern haben wiederherstellen
können. Seien Sie uns ganz herzlich willkommen.
({1})
Ich will gerne hinzufügen, dass wir im Deutschen
Bundestag - übrigens auch aus eigenem Interesse - mit
besonderer Intensität, aber auch mit hohem Respekt die
beachtlichen politischen und ökonomischen Kraftanstrengungen verfolgen, die Sie zur Stabilisierung des
griechischen Staatshaushalts und zur Verbesserung der
Wettbewerbsfähigkeit Ihrer Volkswirtschaft in den vergangenen Monaten unternommen haben. Wir wünschen
Ihnen dafür viel Erfolg.
({2})
Die Debatte wird fortgesetzt mit Ulrike Flach, die für
die FDP-Fraktion das Wort erhält.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
heute vorliegende Rahmenprogramm Gesundheitsforschung baut - das wissen wir alle - auf Programmen der
Vergangenheit auf. Aber es arbeitet mit einem Volumen
von 5,5 Milliarden Euro, einer Summe, die, Frau Ministerin, in der Vergangenheit noch nie in Forschung und
Innovation hineingegeben worden ist. Ich bin froh und
glücklich, dass die Koalition die Kraft gehabt hat, dies
auch haushalterisch umzusetzen.
({0})
Aber es ist mehr als ein Forschungsprogramm. Die
Ansätze dieses Programms gehen nicht nur fiskalisch
über die Ansätze der Vergangenheit hinaus, sondern mit
ihnen werden heute neben den Gesundheitszentren vor
allem mit den Bereichen Versorgungsforschung und individualisierte Medizin auch neue, sehr patientenorientierte Wege beschritten. Wir wollen, liebe Kollegen, blühende Forschungslandschaften; denn wir wissen, dass
die Zukunft unseres Hightechlandes natürlich von Innovation abhängt. Aber wir wollen diese Innovationen
auch ganz bewusst aus Sicht der Patienten.
Zu Recht weist zum Beispiel der Leiter des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Professor Windeler, darauf hin - das möchte ich den
Kollegen von der SPD an dieser Stelle einfach einmal
ins Stammbuch schreiben -:
In Deutschland stehen Grundlagenforschung, klinische Forschung und Versorgungsforschung in einem
Missverhältnis. … Aber diejenigen, die Innovationen entwickeln, kümmern sich zu wenig darum, wie
sie in der Versorgung untergebracht werden können.
So Windeler über die Vergangenheit unter Ulla
Schmidt und eine SPD-betonte Gesundheitspolitik.
({1})
Innovationen an sich seien kein medizinischer
Wert, betonte er.
Als wir Ende des letzten Jahres das neue Arzneimittelgesetz auf den Weg brachten, sind wir genau diesem
Gedanken gefolgt. Entscheidend ist der medizinische
Nutzen von Arzneimitteln, und damit lautet die zentrale
Frage, die natürlich auch den heutigen Tag mit Blick auf
die Gesundheitsforschung bestimmt: Was hat der Patient
von dem, was wir hier machen?
Deswegen sind vergleichende Studien so wichtig.
Nicht alles, was als Innovation identifiziert wurde, hat
auch Platz in der Versorgung. Wir brauchen empirisch
gesicherte Daten darüber, welche Innovationen in der
Diagnose, der Therapie und in der Medizintechnik die
Versorgung der Menschen verbessern. Wir haben begrenzte Ressourcen - das wissen wir alle -, und wir wollen Erkenntnisse darüber gewinnen, wo eine hohe Breitenwirkung erzielt wird.
Ein typisches Beispiel - auch das für die Kollegen
von der SPD - sind zum Beispiel die sogenannten Disease-Management-Programme oder die integrierte Versorgung, bei denen wir bis heute nicht wissen, ob die
einstmals damit verbundenen Hoffnungen sich wirklich
erfüllt haben. Hier haben wir sehr viel Geld ausgegeben;
aber nach wie vor ist die Frage nicht geklärt, ob die Patienten von den in den Programmen festgelegten Qualitätszielen wirklich profitieren. Der gute Wille allein,
liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht eben nicht. Nur
eine konsequente Forschung wird zeigen, ob für den Patienten etwas dabei herauskommt.
({2})
Das betrifft auch das zweite Aktionsfeld des Programms, auf das ich an dieser Stelle ganz besonders Bezug nehmen möchte: die individualisierte Medizin. Das
ist ein Gebiet, welches vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass es zwischen großen Visionen und noch größeren Bedenken immer hin und her schwankt.
Individualisierung als neues Leitbild der Medizin? Das ist eine Frage, die uns in den nächsten Jahren immer
wieder umtreiben wird, in der Forschung und in der Gesundheitspolitik. Sind Effektivitätssteigerungen zu erwarten, oder wird die biologisch orientierte Medizin unbezahlbar bleiben? Wie hoch ist der tatsächliche Nutzen
für die oft schwerkranken Patienten? Schon heute können wir je nach Krankheit höchst unterschiedliche Kostenentwicklungen erkennen, wie etwa bei Arzneikosten
für zielgerichtete Therapien bei Brust-, Darm- oder Lungenkrebs: einerseits horrende Kosten für individuelle
Profile, andererseits Preise für Gentests und ganze Genomanalysen im freien Fall.
Zwischen 400 und 700 Wirkstoffe, die man zur maßgeschneiderten Therapie rechnen darf, sind inzwischen
in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung. Was aber
fehlt, sind zum Beispiel standardisierte Gewebeproben
und Biobanken. Studienergebnisse sind damit oft nicht
mehr reproduzierbar. Der G-BA hat zu Recht darauf verwiesen, dass vor einer Erstattungsfähigkeit durch die
Kassen die individualisierte Medizin zuerst von der Diagnose bis zur Behandlung eindeutig ihren Nutzen zeigen
muss.
Für uns heißt das: Das ist der treibende Grund für Gesundheitsforschungsprogramme. Das müssen wir absichern. Dafür müssen wir sorgen; denn die Menschen in
diesem Lande haben einen Anspruch darauf, dass neue
Methoden in der Medizin forschungsmäßig unterlegt
und dann in der Praxis umgesetzt werden. Die Debatte,
ob die Wirtschaft profitiert oder nicht, ist eine völlig virtuelle. Es geht darum, dass wir forschen, damit die Menschen in diesem Lande in eine gesunde Zukunft gehen;
in eine Zukunft, in der sie alles nutzen können, was
möglich ist, und das zu einem vernünftigen Preis. Ich
sage Ihnen ganz offen, Frau Ministerin: Ich bin als Haushaltspolitikerin und als Gesundheitspolitikerin froh, dass
wir heute diesen Weg mit diesem Programm gehen können.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Martina Bunge für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich unterstreiche für die Linksfraktion ebenfalls, dass
Sie, verehrte Frau Ministerin Schavan, in dem vorgelegten Rahmenprogramm viele wichtige Punkte benennen.
Wenn man aber genauer hinschaut, ist die Einschätzung
nicht mehr ganz so schmeichelhaft. Herr Kretschmer,
das sind unseres Erachtens nicht nur Kleinigkeiten.
Ihr Ausgangspunkt ist - und das wiederholen Sie gebetsmühlenartig -, dass Demografie und medizinischer
Fortschritt große Herausforderungen sind, uns aber auch
vor massive Probleme stellen. Das ist eingängig und
klingt beim ersten Hinhören logisch; ich sage aber: Man
kann damit ganz schön darüber blenden, wie differenziert die Prozesse dahinter sind. Tatsächlich werden die
Menschen älter, und der Anteil der Älteren in der Gesellschaft wird sich erhöhen. Wissenschaftliche Studien zeigen aber: Weder muss die Wirtschaftskraft aufgrund der
alternden Gesellschaft sinken, noch müssen die Gesundheitskosten deshalb in die Höhe schießen. Unseres Erachtens pflegen Sie diesen Mythos, um Ihre unsoziale
Politik begründen zu können.
({0})
Seit Jahrzehnten betragen die Gesundheitskosten ziemlich konstant 10 bis 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist der wahre Maßstab.
Wir stellen immer wieder fest, dass sich die sogenannten Prognosen nicht bewahrheiten. Ich möchte einen Artikel aus dem Spiegel von 1975 zitieren. In diesem Artikel ging es um die Frage, was, wenn es so
weiterginge wie damals, im Jahr 2000 sein würde. Dort
steht, dass die Westdeutschen dann das ganze Jahr hindurch nur für den Gesundheitsdienst arbeiten müssten.
Diese Situation ist nicht eingetreten. Das sind Horrorszenarien. Wir lehnen es ab, solche Horrorszenarien zu verbreiten, und wir werden nicht müde, dieses unwissenschaftliche Herangehen abzulehnen.
({1})
Die Bundesregierung scheint nicht wirklich zu glauben, dass die alternde Gesellschaft ein Problem darstellt.
Vergeblich habe ich ein Aktionsfeld gesucht, in dem
man sich explizit mit den Folgen des demografischen
Wandels für die Gesundheitsforschung auseinandersetzt.
Das Wort „Alter“ taucht in Ihrem Programm 7-mal auf,
das Wort „Wirtschaft“ hingegen 62-mal; das wurde vonseiten der SPD auch schon angesprochen.
Wohlgemerkt: Wir reden hier über das Rahmenprogramm für die Gesundheitsforschung für die kommenden acht Jahre. Daher ist ein langfristiges Denken wichtig. Folgerichtig schreiben Sie im Abspann auch, dass es
jetzt darauf ankommt, „diesen Rahmen auszufüllen und
weiter zu konkretisieren.“ Dort steht, dass „heute noch
nicht absehbare Herausforderungen“ einzubeziehen
sind.
Ich sage Ihnen ehrlich: Ich hätte mich gefreut, wenn
Sie heute Bekanntes und bereits Erforschtes stärker einbezogen hätten. So hingegen beruht Ihr Ansatz für die
Prävention auf altbackenen Konzepten. Verhaltensprävention ist überholt. Wenn Minister Rösler das nicht mitbekommen hat, obwohl dies schon seit vielen Jahren bekannt ist - als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, war
er noch in der Grundschule -, ist das die eine Sache.
Aber Sie, Frau Ministerin Schavan, hätten das doch mitbekommen müssen.
({2})
Längst wird der Paradigmenwechsel in Richtung Verhältnisprävention eingefordert. Frau Ministerin, Sie geben den Ton an. Ich denke, im Bereich der Forschung
können Sie die Stoßrichtung bestimmen. Das haben wir
vermisst.
In Ihrem Programm ist kein einziges Wort über den
Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit zu finden. Wir wissen, dass maßgeblich soziale
Faktoren wie Bildung, Wohn- und Arbeitsverhältnisse,
Einkommen und sozialer Status den Gesundheitszustand, ja, sogar die Lebenserwartung beeinflussen. Als
Herausforderungen im Bereich Vorsorge nennen Sie
aber nur die Präventions- und die Ernährungsforschung.
Das ist zwar ein anderer Ansatz als bisher, greift unseres
Erachtens aber viel zu kurz.
({3})
Wir müssen erforschen, was uns gesund erhält, über
welche Ressourcen wir verfügen müssen, um gesund zu
bleiben. In diesem Zusammenhang spielen die sozialen
Faktoren die Hauptrolle. Der Ansatz der Stärkung der
Ressourcen ist im Kinder- und Jugendalter und im Erwerbsalter wichtig, er ist für Menschen mit Behinderung
und für Menschen im Ruhestand wichtig, also für alle.
Es gibt viele wissenschaftliche Erkenntnisse. In manchen Bereichen ist es erforderlich, endlich einmal Studien in Auftrag zu geben, zum Beispiel bei der schon erwähnten Komplementärmedizin, die Potenziale hat.
Diese sind aber nicht für alle nachvollziehbar ausgewiesen. Vor allen Dingen brauchen wir Umsetzungsstrategien. Das sind die Aufgaben von heute, die erledigt werden müssen, damit sich das Wohlbefinden in der
alternden Gesellschaft tatsächlich und maßgeblich verbessert.
Nebenbei bemerkt, würden wir uns dadurch auch an
die Definition des Begriffs „Gesundheit“ der Weltgesundheitsorganisation halten, nach der Gesundheit nicht
nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen ist,
sondern der Zustand eines vollkommenen körperlichen,
geistigen und sozialen Wohlbefindens.
Es geht also nicht nur darum, das Rahmenprogramm
Gesundheitsforschung der Bundesregierung umzusetzen
und zu konkretisieren.
Frau Kollegin.
Es gibt Änderungs- und Ergänzungsbedarf. Ich denke,
diese Aufgabe müsste bald in Angriff genommen werden.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Eberhard Gienger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute schon sehr viel über Gesundheit und das
Gesundheitsforschungsprogramm gehört. Ich möchte
mich bezüglich des Programms besonders auf das Aktionsfeld von Präventions- und Ernährungsforschung
konzentrieren, weil mir dieses Thema als Forschungsund als Sportpolitiker natürlich am Herzen liegt. Eine
wichtige Aufgabe der medizinischen Forschung sehen
wir im Bereich der großen Volkskrankheiten; das ist
heute schon mehrfach erwähnt worden. Schon heute leiden Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes, an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Krebs, an neurodegenerativen Erkrankungen, an Arteriosklerose oder auch
an Störungen des Stoffwechsels.
In den nächsten Jahrzehnten wird die Häufigkeit dieser Erkrankungen aufgrund der steigenden Lebenserwartung noch zunehmen. Die steigende Anzahl älterer Menschen hat auch eine Zunahme von Demenzerkrankungen
und demzufolge Pflegebedürftigkeit zur Folge. Neben
der Suche nach Therapie und Heilung gewinnen somit
die Pflege und die Versorgungsforschung rasant an Bedeutung. Da viele Volkskrankheiten durch einen angepassten Lebensstil gelindert oder vielleicht sogar verhindert werden können, werden Prävention und richtige
Ernährung zu wichtigen Instrumenten unseres Gesundheitssystems.
Alle Teile des Körpers, die eine Funktion haben,
werden gesund, wohlentwickelt und altern langsamer, sofern sie mit Maß gebraucht und in Arbeiten
geübt werden, an die man gewohnt ist. Wenn sie
aber nicht benutzt werden und träge sind, neigen sie
zur Krankheit, wachsen fehlerhaft und altern
schnell.
So hat das Hippokrates vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren ausgedrückt. Was vor zweieinhalbtausend
Jahren bereits bekannt war, hat in den industrialisierten
Gesellschaften längst zu einem Wandel geführt, und
zwar zu einem Wandel unseres Krankheitspanoramas.
Die neuen Leiden in unserer modernen Gesellschaft
heißen also Zivilisations- oder Volkskrankheiten. Sie
betreffen offensichtlich trotz guter medizinischer Versorgung einen zunehmend größeren Teil unserer Bevölkerung.
Studien des Robert Koch-Institutes haben ergeben,
dass ungefähr ein Viertel der deutschen Bevölkerung an
Herz-Kreislauf-Problemen und ungefähr genauso viele
an Rückenschmerzen leiden. Der technologisch-gesellschaftliche Wandel führt also zu einem Bewegungsmangel und einem einseitigen Bewegungsverhalten. Diese
Faktoren begünstigen natürlich die Entwicklung der bereits erwähnten Krankheiten. Viele Kinder leiden ebenfalls an solchen Erkrankungen. Die Tendenz ist steigend.
Ein gesundheitsgerechtes Bewegungsverhalten wirkt
also der Entwicklung dieser Krankheitsbilder entgegen
und stellt einen Schutzfaktor für die Gesundheit dar. Daher kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu.
Zum einen soll sie die Lebensqualität der Menschen in
allen Lebensbereichen verbessern, zum anderen führt sie
zu einem erhofften Nebeneffekt, nämlich der Senkung
der Ausgaben für die Behandlung von chronischen
Krankheiten. Dies darf erwähnt werden, ohne den Vorwurf hören zu müssen, dass es in unserem Programm nur
um einen ökonomischen Nutzen gehe.
Von besonderer Bedeutung ist, dass ein sehr großer
Teil der Erkrankungen kaum schicksalhaft ist, sondern
weitestgehend verhaltensbedingt. Beispielsweise sind
extremes Übergewicht und die daraus resultierenden
Folgeerkrankungen nicht allein durch Lebensumstände
bedingt und nur in seltenen Fällen durch organische Defekte hervorgerufen, sondern sie sind auch das Ergebnis
fehlender körperlicher Aktivität. Das heißt, dass das
Auftreten und der Verlauf chronischer Krankheiten in
hohem Maße durch persönliches Verhalten sowie durch
Fehlanreize und gesundheitliche Belastungen aus dem
sozialen und physischen Umfeld verursacht werden.
Überzeugende Beweise stützen die Hypothese, dass
Inaktivität das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einer
Anzahl von chronischen Krankheiten erhöht. Die stichhaltigsten Beweise für diese Kausalzusammenhänge
existieren für Koronararterienerkrankungen, Hypertonie, Dickdarmkrebs, Fettleibigkeit und nicht zuletzt auch
Diabetes mellitus. Ein körperlich aktiver Lebensstil verringert allerdings die Wahrscheinlichkeit der Mortalität
und erhöht die Lebenserwartung.
Da durch ein Mehr an Bewegung nicht alle Krankheiten verhindert werden können, ist die Einrichtung der
Gesundheitsforschungszentren der richtige Weg. Damit
wird im Kampf gegen die Volkskrankheiten ein neuer
Weg beschritten. Ich finde, unsere Ministerin hat dies in
überzeugender Weise dargestellt.
({0})
Es werden auch neue Ansätze und Wege zur Prävention
gesucht, die dazu beitragen, dass diese Krankheiten erst
gar nicht entstehen können.
Unter dem Dach der nationalen Präventionsstrategie
entwickelt das BMBF einen Aktionsplan, der die Forschungsförderung zu allen für Präventions- und Ernährungsfragen relevanten Ansätzen - von der Epigenetik
bis hin zur Epidemiologie - zusammenführt und interdisziplinär verknüpft. Wenn wir uns im Jahr 2018 mit
der nächsten Auflage des Rahmenprogramms Gesundheitsforschung befassen werden, dann wird schon zu erkennen sein, dass wir viele unserer ambitionierten Ziele
erreicht haben.
Ich kann mir sehr wohl vorstellen, lieber René Röspel
und Kollegen, dass gerade das Thema „Präventions- und
Ernährungsforschung“ ein guter erster Schritt auf einem
gemeinsamen Weg ist. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass die SPD und die anderen Oppositionsparteien zur Ausgestaltung dieses Rahmenprogramms beitragen können.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgitt Bender für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Gienger, alles, was Sie zum Zusammenhang zwischen Bewegung, Ernährung und Volkskrankheiten sagen, ist richtig. Was ich bei der Union aber immer wieder vermisse, ist die Erkenntnis, dass es beim Thema
Prävention auch und gerade um soziale Fragen geht.
({0})
Es nützt doch nichts, wenn Sie joggen oder ich mit einem Streetstepper in den Bundestag fahre. Es geht darum, dass man sich in die Stadtteile begibt, in denen
viele Kinder morgens kein Frühstück bekommen und
nicht zu Fuß zur Kita gebracht werden.
({1})
Damit muss man sich befassen. Wenn man sich mit dem
Thema Forschung beschäftigt, sollte es auch um die
Frage gehen, wie man diese Leute erreicht. Natürlich
müssen wir dies auch in der Gesundheitspolitik umsetzen. Auch der Gesundheitsminister redet ja von Eigenverantwortung, meint damit aber nur, dass die Leute
mehr zahlen sollen. Er spricht aber nicht von Empowerment und der Befassung mit den unteren sozialen
Schichten.
({2})
Das ist bei Ihnen leider immer noch nicht eingepreist.
Vielleicht ist dies eine Gelegenheit, das zu ändern.
({3})
Frau Ministerin Schavan, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie sich beim Rahmenprogramm Gesundheitsforschung Gemeinsamkeit wünschen. Ich will
ausdrücklich begrüßen, dass - nach jahrelangem Drängen der Grünen - nun endlich ein Aktionsfeld Versorgungsforschung integriert ist. Was Sie dazu an Prosa
schreiben, findet teilweise auch unsere Zustimmung, so
etwa die Aussage, dass in Bezug auf Psychotherapie,
Ergo- und Logopädie geforscht werden muss. Das ist
richtig. Aber insgesamt sehe ich in diesem Programm
sehr viel Produktorientierung. Da geht es um Arzneimittel, Diagnostik und Medizinprodukte. Was praktisch völlig fehlt, ist der Blick auf Verfahren des Gesamten. Das
Wort „Gesundheitssystemforschung“ kommt nicht einmal vor. Ich sehe überhaupt nicht, dass es hier entsprechende Ansätze gibt. Aber wir brauchen einen Blick auf
das Gesamte, darauf, was den Menschen nützt und sie
am Ende gesünder macht. Darauf werden wir achten.
({4})
Stattdessen sehen wir im Haushalt 2011, dass das
BMBF mit gut 5 Millionen Euro ein Projekt zur Magnetresonanztomografie fördert. Brauchen wir aus gesundheitspolitischer Sicht ein solches Projekt? Deutschland ist Weltmeister bei der MRT-Diagnostik. Im
Jahre 2009 wurde sie bei fast 6 Millionen Personen angewendet. Anders gesagt: Jeder 15. Bürger wurde innerhalb eines Jahres in die Röhre geschoben. Kassen und
Wissenschaft stellen die therapeutische Notwendigkeit
in vielen Fällen infrage. Was wir im Bereich der Versorgungsforschung brauchen, ist die Beantwortung der
Frage, wann eine MRT-Untersuchung sinnvoll ist und
wann nicht. Daran, dass dies bei Ihnen geschieht, habe
ich Zweifel.
({5})
Nach dem, was Sie, Frau Flach, vorhin gesagt haben,
müssten Sie daran eigentlich interessiert sein. Denn immerhin - das begrüße ich sehr - haben Sie betont, dass
nicht alles, was neu ist, den Menschen nützt und dass wir
mehr Verfahren brauchen, mit denen der Nutzen überprüft werden kann.
Was ich in diesem Rahmenplan auch vermisse, ist die
Komplementärmedizin, also die alternativen Heilweisen,
die die klassischen Verfahren ergänzen können. Dazu
braucht es Forschung, aber wir sehen davon so gut wie
nichts.
({6})
Es hat ein Vierteljahr gedauert, bevor mir das BMBF
überhaupt mitteilen konnte, wie viele Fördermittel denn
dafür in den letzten fünf Jahren geflossen sind. Es waren
zusammengerechnet gerade einmal 1,2 Millionen Euro.
Im Gegensatz dazu fördert in den USA das National Institute of Health die komplementärmedizinische Forschung jährlich mit mindestens 120 Millionen Dollar.
Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und
Geld zur Erforschung der Komplementärmedizin in die
Hand nehmen. Frau Ministerin, es geht übrigens nicht
nur, wie Sie im Ausschuss angedeutet haben, um die chinesische Medizin. Die ist auch ein Ansatz. Aber wir sollten auch etwa die Homöopathie und die Anthroposophie
in den Blick nehmen, die Heilweisen mit deutschen
Wurzeln. Auch diese haben hier einen ganz hohen Stellenwert.
({7})
Stattdessen ist leider viel von Genetik die Rede. Immerhin habe ich da die kritischen Anmerkungen von Frau
Flach gehört. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
sehr nebulös bleibt, was Sie da eigentlich erforschen wollen. Ich erinnere daran, dass jüngst noch Geld in ein Projekt geflossen ist - inzwischen ist es eingestellt -, in dem
es um die Forschung an geistig behinderten Kindern, um
fremdnützige Forschung ging. Das ist etwas, was als medizinische Untersuchung gar nicht zulässig wäre. Als
Forschung haben Sie es aber zunächst unterstützt. Da
kann ich nur sagen: Hier ist überfällig, dass der Schutz
von Probanden, Datenschutz und Transparenz in der Forschung gewährleistet werden. Frau Ministerin, da haben
Sie noch Hausaufgaben zu machen.
Danke schön.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Menschen wünschen sich ein langes und vor allem gesundes Leben. Auch wenn wir uns zu vielen Anlässen wie zum Geburtstag oder zum neuen Jahr
gegenseitig Gesundheit wünschen, spielt gesundheitsbewusstes Leben und Verhalten im Alltag oftmals keine
ausreichende Rolle. Spätestens jedoch, wenn man im Bekannten- oder Familienkreis mit schwerer Krankheit
konfrontiert wird, erkennt man auf ganz persönliche
Weise, welchen enorm hohen Stellenwert ein unbeschwertes und gesundes Leben einnimmt.
Aus diesem Grund stellt die Gesundheitsforschung einen der wichtigsten Bereiche für uns alle dar. Das Ziel
des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregierung ist es, dass alle Menschen schnell von den Forschungsergebnissen profitieren können.
In der Gesundheitsforschung werden neue oder bessere Diagnoseverfahren und Therapien entwickelt, um
kranken Menschen effektiver zu helfen. Für uns als
christlich-liberale Koalition steht dabei der erkrankte
Mensch mit seinen Nöten im Mittelpunkt, dem wir Hand
in Hand mit der Wissenschaft helfen wollen.
Was uns die Patienten und deren Gesundheit wert
sind, das zeigen auch die enormen finanziellen Mittel,
die hierfür aufgewendet werden: Fast 6 Milliarden Euro
werden insgesamt zur Verfügung gestellt. Es handelt
sich damit um das größte Förderungsprogramm für Gesundheitsforschung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Die Schwerpunkte beim Gesundheitsförderungsprogramm setzen wir bei der Erforschung von Volkskrankheiten sowie der Gesundheitswirtschaft. Doch auch die
individualisierte Medizin und die globale Zusammenarbeit sind wichtige Themen des Programms. Wir wollen
die Fähigkeiten der Wissenschaft bündeln und Translation beschleunigen. Dazu werden sechs deutsche Gesundheitszentren geschaffen. Letztes Jahr wurde beispielsweise mit dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung
in München-Oberschleißheim bereits das zweite eröffnet.
Herr Kollege Hahn, darf Ihnen der Kollege Röspel
eine Zwischenfrage stellen?
Nein.
({0})
Das kann er danach machen. - Allein in Deutschland
sind rund 8 Millionen Menschen von der Zuckerkrankheit betroffen, fast genauso viele Personen haben einen
bislang unerkannten Diabetes oder ein hohes Erkrankungsrisiko. Es ist daher wichtig und notwendig, dass
wir mit dem Zentrum neue Perspektiven für Prävention,
Therapie und Diagnose des Diabetes schaffen. Durch die
Kooperation mit Pharmaunternehmen können so Forschungsergebnisse schneller in die Praxis übertragen
werden. Wir bringen die Forschung quasi „ans Bett der
Patienten“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einer globalisierten Welt dürfen nicht nur Wirtschaftsaktivitäten
global betrachtet werden, sondern ganz besonders auch
die Gesundheitsforschung. In diesem Zusammenhang ist
es mir wichtig, auf die vernachlässigten Krankheiten hinzuweisen, mit denen wir uns in dem Programm ebenfalls
beschäftigen. Sie erzeugen in den Entwicklungsländern
großes Leid und sind für den Tod vieler Menschen verantwortlich. Leider war die staatliche Forschungsförderung
lange Zeit auf Krankheiten beschränkt, die hauptsächlich
unsere Bürger im eigenen Land betreffen. Vor diesem
Hintergrund stellen wir uns mit dem Gesundheitsforschungsprogramm neu auf. Wir machen nicht an den nationalen Grenzen halt, sondern helfen auch den Menschen in anderen Teilen der Welt. Dazu sind wir allein
schon durch unser christliches Menschenbild verpflichtet.
Noch in diesem Jahr wird die Fördermaßnahme für
Produktionspartnerschaften anlaufen. Dabei handelt es
sich um internationale Non-Profit-Organisationen, deren
Aufgabe es ist, Medikamente gegen vernachlässigte
Krankheiten zu günstigen Preisen auf den Markt zu bringen.
Ich möchte Ihnen nun ein aktuelles Beispiel dafür
nennen, wie die Förderung direkt dort ankommt, wo sie
benötigt wird. Eines von 100 Kindern leidet an einem
angeborenen Herzfehler. Viele von ihnen müssen rasch
operiert werden. Der sogenannte RepliCardio ist ein
neues Instrument zur Herstellung eines Herzmodells und
hilft den Ärzten bei der Entscheidung, ob und wie operiert werden kann. Dieses Verfahren wurde vom Kompetenznetz Angeborene Herzfehler in Kooperation mit dem
Deutschen Krebsforschungszentrum entwickelt und vom
BMBF gefördert. Das individuelle Herzmodell kann insbesondere dazu beigetragen, die Dauer der Operationen
drastisch zu verkürzen. Oft entscheiden Minuten darüber, ob der Eingriff erfolgreich abgeschlossen werden
kann oder ob es zu irreparablen Spätfolgen kommt.
Wie wichtig und weitsichtig die Überlegungen innerhalb des Forschungsförderungsprogramms sind, kann
man darüber hinaus an der Alzheimerforschung erkennen. Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind
derzeit von der unheilbaren Krankheit betroffen. Statistiken gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 rund 3 Millionen
Menschen sein werden. Mit dem Alois Alzheimer Research
Center, in dem die Ludwig-Maximilians-Universität
München, die Technische Universität München, das Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und das Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung integriert
sind, ist ein weiterer Leuchtturm in der Forschungslandschaft geschaffen worden.
Insgesamt stellt das neue Förderungsprogramm einen
Meilenstein in der Gesundheitsforschung dar. Wir sorgen mit dem enormen Mitteleinsatz von fast 6 Milliarden Euro dafür, dass Innovationen schneller bei den Patienten im Alltag ankommen. Wir lassen der Forschung
aber auch genug Spielraum, um innovativ arbeiten zu
können; denn das größte Innovationshemmnis - das wissen wir - ist unter anderem die Bürokratie. Die Änderungswünsche und der Antrag der SPD sind gerade auch
deshalb abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Gerdes für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege René Röspel und meine Kollegin Carola Reimann
haben die Sicht der SPD-Fraktion auf das Rahmenprogramm der Bundesregierung bereits deutlich gemacht.
Wir sehen große Lücken im Gesundheitsforschungsprogramm, besonders mit Blick auf sozialpolitische Fragen.
Vor allem fehlt uns Sozialdemokraten der Blickwinkel
der Patientinnen und Patienten. Mir persönlich fehlt
auch der Blickwinkel der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Im Rahmenprogramm finde ich keinen Hinweis
darauf.
({0})
Frau Ministerin Schavan, Sie räumen der Gesundheitswirtschaft eine äußerst prominente Stellung ein und begründen dies mit dem Wachstumspotenzial der Branche.
Mit moderner Medizintechnik und innovativen Medikamenten kann man offensichtlich viel Geld verdienen. Dagegen habe ich im Grundsatz nichts einzuwenden. Ich
habe aber ein Problem damit, wenn die wirtschaftlichen
Interessen von Forschung fast wichtiger erscheinen als
der medizinische Fortschritt und die Gesundheit der Menschen in diesem Land.
({1})
Ganz deutlich wird diese Auffassung der schwarzgelben Regierung auf Seite 4 der Unterrichtung. Dort
steht schwarz auf weiß:
Des Weiteren soll die Gesundheitsforschung auf
eine wirtschaftliche Verwertbarkeit ihrer Erkenntnisse hinarbeiten … schon in der Grundlagenforschung und der präklinischen Forschung.
Aus meiner Sicht darf nicht nur erforscht werden, wie
wir neue Technologien schneller oder besser implementieren und vermarkten können; vielmehr muss es darum
gehen, welche gesundheitlichen Vorteile die Menschen
daraus ziehen können.
({2})
Der Mensch und seine Gesundheit gehören an die erste
Stelle, nicht der mögliche Profit.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich freue mich über jede
Branche, die wirtschaftlich erfolgreich ist. Aber wir sollten auch darüber diskutieren, für wen Arbeitsplätze in
der Gesundheitswirtschaft entstehen, welche Anforderungen die Beschäftigten erfüllen müssen, wie sich Berufsbilder verändern und unter welchen Bedingungen
heute und in Zukunft gearbeitet werden muss.
Gibt es Ideen, wie die Arbeitsbelastung von Ärzten
und Pflegepersonal gesenkt werden kann? Was muss
eine Pflegerin künftig können? Wie schafft sie es, in einer alternden Gesellschaft immer mehr Patienten zu versorgen? Wie kann sie Familie und Beruf vereinbaren?
Insbesondere im Bereich der Pflege- und Dienstleistungsforschung sehe ich Lücken in dem Programm von
Ministerin Schavan.
({3})
Die Pflegebranche braucht wissenschaftlich fundierte
Antworten auf den steigenden Pflegebedarf.
Ich habe kürzlich Praxistage in der Seniorenpflege
und im Krankenhaus durchgeführt.
({4})
- Wir alle, jawohl. - Dabei ist wahrscheinlich uns allen
aufgefallen, dass die Ärzte und Pfleger eine sehr gute
Arbeit leisten. Aber sie alle bewegen sich am Rande der
Leistungsgrenze. Hohe Fallzahlen und viel Dokumentierung rauben ihnen in vielen Fällen die Zeit für die Patienten. Diese Probleme müssen erforscht werden.
Kurzum: Ihrem Programm fehlt das Aktionsfeld, das
sich den Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer widmet.
Gesundheitsforschung muss sich auch ganz konkret
mit den Bedürfnissen der Patienten auseinandersetzen.
Haben wir überhaupt genügend Erkenntnisse darüber,
was sich Patienten wünschen bzw. welche Anforderungen sie an das Gesundheitssystem stellen? Finden sich
Patienten in einem System zurecht, das immer komplexer wird und ständig neue Behandlungsmethoden hervorbringt? Wer heute gesund werden will, braucht im
Zweifel einen Case-Manager, der durch das System
führt, um medizinische und soziale Dienstleistungen optimal zu koordinieren. Von Patientenautonomie ist da
nicht mehr viel zu spüren.
({5})
Auf diese Systemfragen müssen wir Antworten finden. An dieser Stelle sind mir die Ausführungen der
Bundesregierung zu abstrakt. Das Aktionsfeld der Versorgungsforschung muss dringend erweitert werden.
Denn ohne Verbesserungen im System nützt uns die erfolgreichste Forschung nichts. Neue und verbesserte Geräte machen keinen Sinn, wenn der Patient nicht weiß,
ob er die richtige Therapie bekommt oder wie er den
richtigen Weg durch das Gesundheitslabyrinth findet.
Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, steht das
diesjährige Wissenschaftsjahr unter dem Motto „Forschung für unsere Gesundheit“. Das BMBF ruft die Bürgerinnen und Bürger zum Dialog auf und fragt nach den
Erwartungen an die Gesundheitsforschung. Diese Herangehensweise wünsche ich mir auch für das vorliegende Rahmenprogramm: Erforschen Sie nicht in erster
Linie die Wirtschaftlichkeit der Medizin,
({6})
sondern orientieren Sie sich an den Bedürfnissen der
Menschen!
({7})
Lassen Sie sich nicht davon leiten, was der Gesundheitsindustrie hilft, sondern orientieren Sie sich daran,
was für die Beschäftigten gut ist und was die Patienten
gesund macht.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Opposition ist ein schwieriges Tun. Ich glaube, es ist doppelt schwierig, wenn
man an einem Teil der Vorbereitungen für das Gesundheitsforschungsprogramm teilgenommen hat, damals soRudolf Henke
gar in einer gemeinsamen Koalition mit der CDU/CSUFraktion in der ersten Regierung Merkel,
({0})
und jetzt erlebt, dass in der zweiten Regierung Merkel
ein großer Teil eigener Forderungen umgesetzt wird.
Deswegen findet sich auch in dem von Ihnen vorgelegten Antrag an sehr vielen Stellen ein Lob. Sie machen
sogar Vorschläge, was alles der Deutsche Bundestag an
dem Programm begrüßen soll. In mehreren Spiegelstrichen wird das ausgeführt. Trotzdem müssen Sie hier irgendwie Nöligkeit verbreiten,
({1})
- doch -, damit der Eindruck entsteht, als wäre alles kritisch zu bewerten.
({2})
Sie setzen darauf, dass die Menschen das Programm
nicht gelesen haben, und tragen dann in Ihrem Antrag
Dinge vor, die im Programm bereits enthalten sind, und
tun so, als wären Sie die einzigen Erfinder dieser Punkte.
Ein plastisches Beispiel dafür ist das, was gerade geschehen ist. Sie haben behauptet, im Programm befinde
sich kein Hinweis auf die Verbesserung der Situation der
Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Liebe
Kollegen, Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass auf
der Grundlage des Haushalts der Bundesregierung
({3})
- ich wollte darauf eigentlich nicht an dieser Stelle, sondern zu einem späteren Zeitpunkt eingehen - das Wissenschaftsfeld Versorgungsforschung allein im Jahr
2010 mit einer Ausschreibung in Höhe von 54 Millionen
Euro für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen für
das Gesundheitssystem bedacht worden ist. Ich bin bereit, darüber zu diskutieren, ob das reicht und ob zum
Beispiel die DFG das im Rahmen ihrer Förderung hinreichend ergänzt. Wenn sie das nicht täte, müsste man
noch einmal über die Summe diskutieren. Aber Sie tun
so, als geschähe hier nichts, und wollen die Leute für
dumm verkaufen. Das ist nicht in Ordnung.
({4})
Sie sagen außerdem, das alles sei wirtschaftskonzentriert. Das ist es nicht. Frau Bunges Zählerei mit dem
Wortzählautomaten nutzt dabei nichts.
({5})
Was ist denn das für ein Niveau? Das ist ja kleinstes Pepita: Worte zählen durch ihre Bedeutung, nicht durch
ihre Zahl.
({6})
Ich zitiere Seite 4 der Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Primäres Ziel der Gesundheitsforschung ist es,
Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung
der Patientinnen und Patienten weiter zu steigern.
Das ist das primäre Ziel, um das es geht. Die Frage, ob
die Wirtschaft dabei mitwirkt, ist eine Frage des Instrumentes. Wir wären doch töricht und dumm, wenn wir
nicht bereit wären, die Produktivkraft der Wirtschaft
zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu nutzen.
({7})
Deswegen sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie die Tassen im Schrank!
Ich zitiere aus dem gemeinsamen Vorwort von Frau
Schavan und Herrn Rösler zum Rahmenprogramm Gesundheitsforschung:
Aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern entstehen die Ansätze, die bei
entsprechender Weiterentwicklung und erfolgreicher Übertragung in die medizinische Praxis den
Menschen in unserem Land ein beschwerdefreies,
selbstbestimmtes und langes Leben ermöglichen.
Das ist die Zielsetzung. Sie versuchen jetzt, es umzumünzen und einen Teil des Publikums mit den bei der
SPD und den Linken üblichen und weitverbreiteten Ressentiments über die schwarz-gelbe Koalition zu bedienen. Das ist der Ansatz, den Sie praktizieren. Das ist
nicht in Ordnung. Dagegen wehren wir uns.
({8})
In einer Zeit, in der um die finanzielle Stabilität gerungen werden muss, ist es ein deutliches Zeichen des
Bundes, für die Gesundheitsforschung in den Jahren
2011 bis 2014 mehr als 5,5 Milliarden Euro allein aus
dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung vorzusehen.
Herr Kollege Henke, Sie lassen doch jetzt sicherlich
gerne den Kollegen Röspel, der vorhin mit seiner Wortmeldung nicht zum Zuge gekommen ist, zu Wort kommen.
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Henke, dass das möglich ist. - Die
Zahl 5,5 Milliarden Euro auf fünf Jahre wird ständig hervorgehoben. Sie schreiben im Gesundheitsforschungsprogramm, dass sich diese 5,5 Milliarden Euro auf fünf
Jahre aus den Geldern für die institutionelle Förderung,
Projektförderung und dem Bundesanteil an der DFGFörderung, jeweils bezogen auf die Gesundheitsforschung, zusammensetzen. Es handelt sich also um nichts
anderes als die Aufzählung dessen, was in den letzten
Jahren bereits gemacht bzw. etatisiert worden ist. Deshalb lautet meine konkrete Frage: Sie suggerieren
5,5 Milliarden Euro. Wie viele Mittel werden wirklich
zusätzlich bzw. neu bereitgestellt?
Lieber Herr Kollege Röspel, diese Frage werden Sie
sich doch schon beantwortet haben, als Sie den Bundestag
aufgefordert haben, zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung für
eine Stärkung der krankheitsbezogenen Projektforschung
bzw. Projektförderung ausspricht. Das haben Sie an die
erste Stelle gesetzt. Ob Sie dieses Geld jetzt zusätzlich haben oder ob Sie dieses Geld bloß ausgeben oder in den
Haushalt schreiben
({0})
oder ob Sie dieses Geld in dieses Programm stecken: Der
entscheidende Punkt ist doch, dass es zur Verfügung
steht.
({1})
Der entscheidende Punkt ist, dass es genutzt werden
kann.
({2})
Dann - das verstehe ich gar nicht - sagen Sie, Frau
Reimann und andere aus Ihrer Gruppe, das sei alles zu
abstrakt und zu unbestimmt. - Ja, klar, es kommen jetzt
Ausschreibungen. An diesen Ausschreibungen nimmt
natürlich die Wissenschaftsgemeinde teil. Da gibt es
Projektträger, die diese Ausschreibungen betreiben. Was
hätten Sie denn gern? Wenn ich mir Ihren Katalog von
Forderungen zur Konkretisierung ansehe, dann habe ich
das Gefühl, Sie wollen schon die 200 000 Adressen und
Geburtsdaten derer wissen, die dann in der Bevölkerungskohorte erfasst sein sollen. Das möchten Sie wahrscheinlich offenlegen.
({3})
Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie hier davon träumen, einen wissenschaftlichen Fünf- oder Zehnjahresplan vorgelegt zu bekommen. Das ist aber ein falsches
planwirtschaftliches Verständnis des Wissenschaftsprozesses auch in der Gesundheitsforschung.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, leider findet man zurzeit in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen, wo eine schwarz-gelbe Koalition
({5})
dadurch für eine große Stimulation der wissenschaftlichen Entwicklung gesorgt hat, dass sie ein Hochschulfreiheitsgesetz verabschiedet hat, eine aus Ihrer Partei
stammende Philosophie, die diese neu geschaffene
Hochschulautonomie wieder in eine Welt zurückführen
will, in der der Staat den Wissenschaftsprozess steuert.
Genau diesen Anspruch, nämlich die Steuerung des Wissenschaftsprozesses durch den Staat, atmet Ihr Antrag.
({6})
Da haben wir lieber mehr Vertrauen in die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus der Motivation des Gesundheitsforschungsprogramms die Beiträge
leisten werden, die dann Patientinnen und Patienten zum
Wohl gereichen. Deswegen bin ich sehr dafür, über manches zu diskutieren.
Ich finde es zum Beispiel falsch -
Nein, „zum Beispiel“ nicht mehr.
({0})
Nicht mehr? - Also: Ich finde es etwa falsch, dass zur
Wertung individualisierter Medizin in diesem Programm
steht - Zitat -:
Erste Schritte auf dem Weg zur individualisierten
Medizin sind das Verständnis grundlegender Krankheitsmechanismen und die Identifizierung molekularer Schaltstellen für die Ausprägung einer Erkrankung.
Das halte ich für falsch.
Nein, erste Annäherung an individualisierte Medizin
ist, dass der Arzt dem Patienten begegnet, ihn nach seinen Beschwerden befragt, sich ihm so weit nähert, dass
eine körperliche Befunderhebung stattfindet, und er
dann ein individuelles diagnostisches und therapeutisches Konzept daraus macht. Das findet seit Hippokrates
statt.
({0})
Deswegen ist das, was im Programm steht, nicht die
erste Annäherung an individualisierte Medizin. Individualisierte Medizin ist mehr als bloß molekulargenetisch
begründete Medizin. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen
Herr Kollege!
- ist mein Satz, mit dem ich dann gern enden möchte:
Dieses Gesundheitsforschungsprogramm als Ganzes
nimmt den Menschen in den Blick und dient einer individualisierten Medizin in allen Ausprägungen des Menschseins.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4243 und 17/5364 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Caren Marks, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen
gesetzlich durchsetzen
- Drucksache 17/5038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Caren Marks für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Schon auf dem ersten Internationalen Frauentag 1911
forderten Frauen gleiche Rechte. Sie kämpften für ihr
Wahlrecht, aber auch für bessere Bezahlung und für gute
Arbeit. Was hat sich in 100 Jahren getan? Das Wahlrecht
für Frauen wurde 1918 durchgesetzt. Die formalrechtliche Gleichstellung mit den Männern wurde 1949 im
Grundgesetz verankert. Unser Recht hier in Deutschland
sowie das EU-Recht verbieten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auch beim Lohn. So weit zum
geltenden Recht.
Doch wie sieht die Arbeitswirklichkeit von Frauen in
diesem Land aus? Trotz guter Bildungsabschlüsse haben
Frauen nach wie vor schlechtere Chancen in der Arbeitswelt, haben seltener Führungspositionen inne, und sie erhalten deutlich weniger Lohn als Männer. Zur Durchsetzung von gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige
Arbeit fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, in unserem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Herstellung von Entgeltgleichheit vorzulegen.
({0})
Denn eines ist klar: Frauen haben mehr verdient als unverbindliche Sonntagsreden der Frauenministerin und
der Arbeitsministerin sowie der Kanzlerin.
Traurig, aber wahr: Erwerbstätige Frauen erhalten in
unserem Land nach wie vor im Schnitt 23 Prozent weniger Lohn als Männer. Damit liegen wir deutlich über
dem Durchschnitt in der Europäischen Union mit
18 Prozent Lohndifferenz. Wir haben hier im Deutschen
Bundestag mehr als nur ein Mal über die wirklichen Ursachen der Entgeltungleichheit zwischen Männern und
Frauen diskutiert. So haben Frauen vor allem aufgrund
fehlender Kinderbetreuungsangebote längere Erwerbsunterbrechungen, und sie sind auch deswegen vermehrt
in Teilzeitarbeit beschäftigt. Mit knapp 70 Prozent stellen Frauen die große Mehrheit der Beschäftigten im
Niedriglohnsektor dar. Der von uns seit langem zu Recht
geforderte gesetzliche Mindestlohn würde also einen
wichtigen Beitrag zu mehr Lohngerechtigkeit für Frauen
in unserem Land leisten.
({1})
Doch selbst wenn alles gleich ist - Qualifikation, Tätigkeit, Alter, Betrieb -, liegt der Durchschnittslohn von
Frauen bei etwa 8 bis 12 Prozent unter dem der Männer.
Dies ist nichts anderes als Diskriminierung von Frauen
in unserem Land.
({2})
Wenn sowohl von der Frauenministerin als auch von
der Kanzlerin so kluge Sprüche wie „Frauen müssten
beim Gehalt einfach nur besser verhandeln“ zu hören
sind, so ist das erstens zynisch und zweitens lebensfremd. Wie gut, dass weder Frau Schröder noch Frau
Merkel ihr Gehalt bisher wirklich verhandeln mussten.
({3})
Statt die Verantwortung bei den Frauen einseitig abzuladen, sollte diese Bundesregierung ihr Nichthandeln
als Gesetzgeber infrage stellen. Es helfen keine Appelle
an die Freiwilligkeit von Unternehmen; der Gesetzgeber
ist bei der Beseitigung der Entgeltungleichheit klar gefordert. Vielleicht sollte die Bundesregierung wieder
einmal einen Blick in unser gutes Grundgesetz werfen.
So heißt es in Art. 3 Abs. 2:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Da müsste doch auch bei dieser schwarz-gelben Bundesregierung etwas klingeln. Wenn es erwartungsgemäß
bei der Frauenministerin nicht klingelt, so vielleicht
beim Finanzminister; denn laut EU-Kommissarin
Reding würde die Beseitigung der Lohnunterschiede das
Bruttoinlandsprodukt um rund 30 Prozent steigern. Das
klingt doch auch für einen Finanzminister durchaus interessant.
Die Lohndiskriminierung von Frauen werden wir nur
mit einem Gesetz beseitigen können. Die Erfahrung hat
gezeigt, dass die Verantwortlichen aus eigenem Antrieb
nicht tätig werden. Also müssen die Arbeitgeber durch
ein Gesetz verbindlich dazu aufgefordert und gegebenenfalls auch gezwungen werden, Entgeltgleichheit herzustellen. Ein solches Gesetz muss folgende Kernelemente
enthalten: Es muss zuerst einmal Transparenz über die
Entlohnung in den Betrieben hergestellt werden. Die Geheimniskrämerei hinsichtlich der Bezahlung in den Betrieben ist zu beenden; denn sie begünstigt vor allem
Lohndiskriminierung mit den entsprechenden Auswirkungen.
({4})
Also müssen die Arbeitgeber verpflichtet werden, Entgeltberichte zu erstellen. Diese sind von einer staatlichen
Behörde entsprechend zu prüfen. Datenschutz ist natürlich zu gewährleisten. Wird Entgeltungleichheit festgestellt, muss das Gesetz einen Prozess zur Beseitigung der
Lohndifferenz einleiten und natürlich auch festlegen.
Auch muss es wirksame Instrumente der Kontrolle und
Durchsetzbarkeit enthalten.
Mit dem Gesetz wollen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, die Unternehmen zum Tätigwerden verpflichten.
Dabei wollen wir auch die Rolle der Gewerkschaften
und Betriebsräte stärken. Weigert sich der Arbeitgeber,
für Transparenz und Entgeltgleichheit zu sorgen, so ist
auch der Klageweg, der im Gesetz zu regeln ist, ein notwendiger Schritt. Die Verbandsklage wird hier unumgänglich sein.
Da zu erwarten ist, dass diese Bundesregierung - auch
gerade leider diese Frauenministerin; schade, dass sie
nach wie vor dieser Debatte nicht beiwohnt - gesetzgeberisch wohl nicht handeln wird, kündige ich Ihnen an:
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden ein Entgeltgleichheitsgesetz vorlegen. Denn wo sich Schwarz-Gelb
vor der Wirtschaft wegduckt, werden wir handeln und
die Lohndiskriminierung von Frauen endlich wirksam
gesetzlich bekämpfen.
({5})
Worthülsen und leere Versprechungen à la Merkel,
Schröder und von der Leyen haben Gleichstellungspolitik in diesem Land noch nie vorangebracht. Frauen haben endlich mehr verdient.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Nadine Schön hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 25. März war der diesjährige Equal Pay
Day. Der Durchschnittsmann hätte am 25. März anfangen können, zu arbeiten, und hätte am Ende des Jahres
das gleiche Geld auf dem Konto wie die Durchschnittsfrau, die seit Beginn des Jahres gearbeitet hat.
({0})
Das kann ja wohl nicht wahr sein.
Einen kleinen Moment, Frau Kollegin, wir müssen
erst einmal sehen, dass der Ton verstärkt wird, damit Sie
nicht schreien müssen. Die Techniker werden sich darum kümmern. Auch das ist eine Frage der Gleichberechtigung.
({0})
Ich hoffe aber nicht, dass wir auch die Empfindlichkeit beim Mikro gesetzlich regeln müssen. Das klappt
wohl auch so. - In Deutschland beträgt die Entgeltungleichheit 23 Prozent. Das ist eine Zahl, die wir nicht
hinnehmen dürfen. Es lohnt sich, sich die Ursachen der
Entgeltungleichheit anzuschauen; denn das Thema ist
sehr komplex.
Die erste Ursache ist der Grad der Qualifikation von
Frauen. Glücklicherweise sind die jungen Frauen heute
in der Regel genauso gut qualifiziert wie die Männer;
aber noch gibt es Unterschiede. Und niedrigere Qualifikation führt selbstverständlich zu niedrigeren Löhnen.
Problematisch ist auch die Art der Qualifikation, die Berufswahl. Mädchen entscheiden sich häufig für schlecht
bezahlte Dienstleistungsberufe. Zu selten wählen sie
technische und mathematisch-naturwissenschaftliche
Ausbildungsgänge und Studienfächer. Aber genau die
lassen relativ hohe Löhne erwarten. Die Konsequenz:
Wir haben zwar viele sehr gut ausgebildete Frauen mit
im Schnitt besseren Abschlüssen als die Männer. Im
Geldbeutel macht sich das aber leider fast nie bemerkbar.
({0})
Ein weiterer Grund ist die Position im Unternehmen.
Wir wissen: Nur selten besetzen Frauen die hohen, gut
bezahlten Positionen; nur selten sind Frauen in Führungspositionen. Die Folgen sind: wenig Führungspositionen,
geringer Gehaltsdurchschnitt, hohe Entgeltungleichheit.
Dieser Zusammenhang ist einfach nachzuvollziehen.
Ein weiterer Grund für die Lohnlücke liegt im Lebensverlauf vieler Frauen: Schwangerschaft, Erziehungszeit und Pflegezeiten. Bei Frauen findet man mehr
Brüche im beruflichen Lebensverlauf und mehr Erwerbsunterbrechungen. Das verhindert eine Karriere und
ein kontinuierliches Aufsteigen in höhere Gehaltsklassen.
Besonders verantwortlich für den Einkommensknick
ist die hohe Teilzeitquote. Frauen arbeiten überdurchschnittlich oft - etwa zu 35 Prozent - in einem Teilzeitjob, bei den Männern sind es gerade einmal 5 Prozent.
Entsprechend geringer ist das Einkommen bei Frauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Gründe - Art
und Grad der Qualifikation, Position, Erwerbsunterbrechungen und vor allem die hohe Teilzeitquote - sind die
harten Faktoren, die erwiesenermaßen zum großen Teil
zur Entgeltungleichheit beitragen. Ich sage das deshalb
so ausführlich, weil die Zahl von 23 Prozent oft so unerklärlich hoch erscheint.
Rechnet man diese Faktoren heraus, so gelangt man
zu einer Lohnlücke von 6 bis 10 Prozent. Das ist wesentlich weniger als die genannten 23 Prozent, aber natürlich
immer noch 6 bis 10 Prozent zu viel.
({1})
Versucht man, diese 6 bis 10 Prozent zu erklären,
dann wird es noch schwieriger; denn dann kommt man
in den subjektiven Bereich. Zwei Gründe kann man ausNadine Schön ({2})
machen. Erstens müssen wir feststellen: Es ist sicher
eine Mentalitätsfrage. Studien haben ergeben - das hat
nicht die Ministerin erfunden, liebe Kollegin Marks -,
dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen bescheidener
sind als ihre männlichen Kollegen. Wir fordern weniger
und bekommen deshalb auch weniger. Das ist wohl eine
falsche Bescheidenheit. Hier sind wir Frauen selbst gefragt, etwas zu ändern.
({3})
Ich glaube allerdings nicht, dass das der entscheidende
Grund für die Lücke von 6 bis 10 Prozent ist.
Den zweiten Grund
({4})
halte ich für viel wesentlicher, und das ist schlicht und
einfach Diskriminierung, nämlich Diskriminierung, die
sich darin äußert, dass Frauen weniger zugetraut wird,
dass eine mögliche Schwangerschaft schon beim Berufseinstieg mit eingepreist wird und Frauen deshalb trotz
gleicher Qualifikation schlechter bezahlt werden. Das
gibt es, und das muss genannt werden, und das, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist der eigentliche Skandal.
({5})
Insgesamt kann man festhalten: Die Ursachen der
Entgeltungleichheit sind sehr unterschiedlich, aber hinnehmbar ist die Lohnlücke von 23 Prozent deswegen
noch nicht. Wir müssen uns fragen: Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Was tun wir? Die SPD hat
sich in ihrem Antrag dafür entschieden, die vermeintliche Allzweckwaffe auszupacken, nämlich die staatliche Regulierung.
({6})
Da soll es gesetzliche Fristen, eine neue Entgeltgleichheitskommission und ein Verbandsklagerecht für Antidiskriminierungsverbände geben. In Anbetracht der vielen verschiedenen Ursachen, die wir ausgemacht haben,
meine ich, dass Sie bei diesen Forderungen zu staatsgläubig und vor allen Dingen zu undifferenziert sind.
Wirksamer erscheinen mir von den Ursachen hergeleitete Gegenmaßnahmen. Wir müssen bei einem so komplexen Thema doch an die Wurzeln, an die Ursachen des
Übels, und genau das tun wir,
({7})
zum Beispiel mit Maßnahmen gegen das eingeschränkte
Berufswahlverhalten. Von wegen: Die Mädchen interessieren sich nicht für Technik! Schauen Sie sich all die
MINT-Initiativen, den Girls’ Day, Roberta an! Es gelingt, mehr Frauen für technisch geprägte Berufe zu interessieren, und der Frauenanteil in diesen Berufen steigt.
({8})
Was ist aber mit denen, die nach wie vor kein Interesse an solchen Berufen haben? Wollen wir hinnehmen,
dass alle anderen dann halt schlecht bezahlt werden, weil
sie leider Gottes einen frauenspezifischen und damit automatisch schlechter bezahlten Beruf gewählt haben?
Nein! Wir müssen uns fragen: Muss die Bezahlung in
diesen Berufen zwingend so schlecht sein? Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Lohn bestimmen bei uns in
Deutschland die Tarifparteien.
({9})
Deshalb appelliere ich an die Tarifparteien:
({10})
Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Bewerten Sie
frauenspezifische Berufe in den Lohnrunden besser!
Sorgen Sie dafür, dass es auch in diesen Branchen branchenspezifische Mindestlöhne gibt! Man kann nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen und nach der
Politik schreien. Hier haben auch die Tarifparteien Verantwortung, und die müssen sie auch wahrnehmen.
({11})
Aber auch die Politik kann einiges tun. Wir müssen
weiter daran arbeiten, die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu verbessern. Wir sind hier auf dem richtigen
Weg.
({12})
Der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur, der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, das Elterngeld mit den Partnermonaten, die Familienpflegezeit, die Initiativen zur
familienbewussten Arbeitszeit und die Programme zum
Wiedereinstieg - all das trägt dazu bei, dass beide Partner - ich betone: beide Partner - Beruf und Familie vereinbaren können. Alles das sind Schritte zu einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie auch von Frauen.
({13})
Es ist aber auch klar - ich denke, das muss uns allen
bewusst sein -: Ganz ohne Unterbrechungen wird es
nicht gehen. Gerade weil das so ist, weil wir immer Brüche im Lebensverlauf und immer Auszeiten haben werden, ist es wichtig, dass wir das nicht immer als Nachteil
sehen. Solche Unterbrechungen sind doch positiv zu bewerten. Sie bringen neue Erfahrungen und neue Kompetenzen mit sich. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen appellieren: Nutzen Sie diese Kompetenzen und
berücksichtigen Sie diese auch in der Gehaltsstruktur!
Ermutigen Sie auch die Männer, sich auf solche Auszeiten, beispielsweise bei der Elternzeit oder bei der Pflegezeit, einzulassen! Denn Lebenskompetenz ist doch auch
im Unternehmen oft viel wichtiger als dröges Fachwissen.
({14})
Ein weiteres Thema für Politik und Wirtschaft gleichermaßen: Sorgen wir endlich dafür, dass mehr Frauen
in Führungspositionen kommen! Die Debatte über Wege
dorthin führen wir derzeit.
Nadine Schön ({15})
Schließlich müssen wir gemeinsam auch dafür sorgen,
dass tatsächliche Diskriminierung aufgedeckt wird. Auch
das liegt letztlich im Interesse der Unternehmen selbst;
die Kollegin hat darauf hingewiesen. Mit Logib-D gibt es
ein Instrument, das die entsprechende Transparenz in einem Betrieb herstellt. Mehrere Hundert Unternehmen
haben schon daran teilgenommen. So kann man echte
Diskriminierung erkennen und wirksam bekämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es lohnt
sich, die Ursachen der Entgeltungleichheit genauer unter
die Lupe zu nehmen; denn nur dann gelangen wir zu einer differenzierten Sicht der Dinge und zu differenzierten Lösungen. Es sind viele kleine Stellschrauben, mit
denen wir die Rahmenbedingungen für ein verbessertes
Einkommen von Frauen beeinflussen können; hier können wir intelligent und mit vielen kleinen Schraubenziehern arbeiten. Den Vorschlaghammer staatlicher Regulierung brauchen wir dazu nicht.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schön, ich
muss Ihnen sagen: Seit 100 Jahren warten die Frauen auf
gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und kämpfen dafür.
({0})
Wie lange wollen Sie noch an die Wirtschaft appellieren,
damit das endlich Wahrheit wird? Das ist mir aus Ihrem
Vortrag weiß Gott nicht klargeworden.
({1})
Die Frau Bundeskanzlerin hat zum Internationalen
Frauentag eine Videobotschaft versandt. Sie plauderte
ein wenig über ihre Kindheitserinnerungen in der DDR
und darüber, welche Blumen sie am 8. März ihrer Mutti
schenkte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, kennen Sie die Lieblingsblumen Ihrer Kanzlerin?
Ich helfe Ihnen ein wenig, weil Sie mich so anschauen.
Es sind Freesien. Ich denke, es wäre besser gewesen,
wenn die Kanzlerin in der Videobotschaft ein wenig weiter zurück in die Geschichte geblickt und die Begründerinnen des Frauentages und ihre Motive benannt hätte.
Es waren nämlich die Arbeiterbewegung und ihre
Vorkämpferinnen, allen voran Clara Zetkin. Als im August 1910 in Kopenhagen die II. Internationale Sozialistische Frauenkonferenz beschloss, einen internationalen
Frauentag durchzuführen, stellte sie zugleich klar - ich
zitiere -:
Es muss auch erkannt werden, dass der Weg zur
Gleichstellung der Frau mit dem Manne nur durch
die ökonomische Gleichstellung der Frau geschehen kann.
Ich denke, nur das ist der richtige Weg, nicht Appelle an
die Wirtschaft.
({2})
Mehr als 100 Jahre danach ist diese Forderung so aktuell wie damals. Frauen erhalten 23 Prozent weniger
Lohn als Männer. Die Verdienstunterschiede in Deutschland sind so groß wie nie und wie nirgendwo sonst in
Europa. Und: Sie sind über die letzten Jahre noch gewachsen. Das ist ungerecht. Ich denke, es ist wichtig,
dass man als Antwort darauf auch gesetzliche und staatliche Regelungen schafft.
70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor
sind Frauen. Das kommt nicht allein daher, dass Frauen
oft Teilzeit arbeiten. Nein, rund 7,3 Millionen Frauen arbeiten Vollzeit. Von ihnen erhalten aber 2,5 Millionen
Frauen einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle.
Ich frage Sie: Ist das gerecht? Das heißt, jede dritte Vollzeit arbeitende Frau ist davon betroffen. Meine Damen
und Herren der Koalition, lassen Sie sich diese Zahl bitte
noch einmal auf der Zunge zergehen: Jede dritte Vollzeit
arbeitende Frau arbeitet im Niedriglohnbereich. Das ist
ein Skandal.
({3})
Deshalb ist klar: Wir brauchen in Deutschland endlich
einen gesetzlichen Mindestlohn.
({4})
Sie wehren sich dagegen. Der Skandal ist, dass der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland nicht eingeführt
wird. In Europa gibt es in 20 von 27 Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn. Das kann doch nicht schlecht
sein.
({5})
Das wäre ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Natürlich reicht der Mindestlohn nicht aus. Schaut
man sich die Ursachen für die ungleiche Bezahlung von
Frauen und Männern an, dann wird schnell deutlich: Es
geht um eine direkte Diskriminierung, wenn Frauen am
gleichen Arbeitsplatz in eine niedrigere Lohn- bzw. Gehaltsgruppe eingestuft werden als Männer. Um die riesige Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu verringern, ist aber mehr nötig. In den traditionellen
Frauenbranchen wie dem Einzelhandel oder auch dem
Friseurhandwerk wird deutlich schlechter bezahlt. Hinzu
kommt der hohe Anteil von Frauen in Teilzeit und Minijobs. Zu zwei Dritteln sind die Lohnunterschiede aus
diesen genannten Gründen zu erklären.
Aber statt dieses Problem anzugehen, hat Ihre Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre uns in Deutschland in
eine Situation gebracht, in der sich dieses Problem noch
mehr verschärft hat: Mit den Hartz-Gesetzen wurden
prekäre Beschäftigungsverhältnisse gefördert und der
Niedriglohnsektor weiter ausgebaut. Vor allem die typischen Frauenbranchen sind davon betroffen. Deshalb ist
zu befürchten: Wenn es nicht zu einem Kurswechsel
kommt, wird sich diese Ungleichbehandlung mit der
steigenden Frauenerwerbstätigkeit weiter verfestigen
oder sogar verstärken. Bei diesem Punkt, meine Damen
und Herren von der SPD, hat Ihr Antrag leider eine Leerstelle.
Die Linke fordert: Ein Entgeltgleichheitsgesetz, das
seinem Namen gerecht wird, muss das Problem der prekären, niedrig entlohnten und unfreiwilligen Teilzeitarbeit angehen. Das ist der richtige Weg.
({6})
Die Wirtschaftsjournalistin Julia Dingwort-Nusseck
- sie war von 1976 bis 1988 Präsidentin der Landeszentralbank Niedersachsen; sie ist also nicht dem linken
Spektrum zuzuordnen - befürchtete zu Recht:
Wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht, werden wir im Jahre 2230 den Zustand der Gleichberechtigung von Mann und Frau erreicht haben.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese
düstere Prognose nicht wahr wird.
Danke.
({7})
Die Kollegin Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Einkommen von Frauen liegt in Deutschland
im Schnitt um fast ein Viertel unter dem der Männer. Zudem ist die Lohnlücke in Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn deutlich höher. Sowohl aus
Art. 3 Grundgesetz als auch aus dem Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz folgt ein Verbot der Lohndiskriminierung. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz verpflichtet uns, dagegen etwas zu tun.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns zur Umsetzung
des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verpflichtet. Die Umsetzung dieses Ziels ist auf einem guten Weg.
Dabei wollen wir aber keine gesetzlichen Regelungen zur
Überwindung der Entgeltungleichheit schaffen, wie es
die SPD in ihrem Antrag fordert. Wir als FDP setzen auf
Selbstverpflichtung und sind der Meinung, dass Selbstverpflichtungen letztendlich auch eine sehr viel nachhaltigere Möglichkeit darstellen,
({0})
solche Ungleichbehandlungen zu beseitigen.
({1})
Die bürokratischen Vorschläge der SPD würden Kosten
verursachen und die Wirtschaft erneut belasten.
({2})
Zu dem Argument der Linken, dass eine gesetzliche
Regelung, die es in 20 Ländern in Europa gibt, ein Plus
darstelle, kann ich nur sagen:
({3})
Die deutsche Wirtschaft ist gerade deshalb leistungsfähig, weil sie solche Verpflichtungen nicht zu tragen hat.
({4})
Wir werden uns dafür einsetzen, dass das nicht kommt.
Frau Laurischk, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck zulassen?
Nein, ich möchte fortfahren.
({0})
- Wir sind dabei, das zu ändern; das wissen Sie. Das
brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht zu diskutieren.
Wir haben allerdings zu klären, auf welche Ursachen
die noch immer bestehende Ungleichbehandlung zurückzuführen ist. Das liegt im Wesentlichen an folgenden Punkten:
Typische Frauenberufe werden trotz individueller
Lohnverhandlungen schlechter bewertet und vergütet als
klassische Männerberufe. Hier wäre natürlich auch vonseiten der Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie noch einiges zu tun.
Frauen sind in bestimmten Berufen, Branchen und auf
höheren Stufen der Karriereleiter unterrepräsentiert.
Vor allem ist trotz höherer und besserer Schulabschlüsse und einer fachlich hervorragenden Ausbildung
das Arbeitszeitvolumen bei Frauen geringer als bei Männern. Familienbedingte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit ist ein weiterer Faktor. Die hohe Anzahl von Teilzeit
arbeitenden Frauen und von Frauen in niedrig bezahlten
und gering qualifizierten Arbeitsverhältnissen trägt nach
wie vor zum Fortbestehen der Lohndiskriminierung von
Frauen bei.
Die Überwindung der Rollensterotype bei Ausbildung und Beschäftigung sowie ein modernes Rollenverständnis gerade der Männer würden einen erheblichen
Beitrag zur Überwindung der Entgeltdiskriminierung
leisten.
Auffällig in Bezug auf das unterschiedliche Lohngefüge zwischen Männern und Frauen ist, dass ein deutliches Gefälle zwischen West- und Ostdeutschland besteht. Frauen, die in Ostdeutschland arbeiten, verdienen
zwar ebenfalls weniger als ihre männlichen Kollegen,
aber die Lohnlücke ist dort deutlich geringer als im Westen. Dies wird wohl mit der besseren Kinderbetreuungsinfrastruktur zusammenhängen. Deswegen ist für uns
der Ausbau der Kinderbetreuung mit dem Ziel, bis 2013
für bundesweit durchschnittlich 35 Prozent der unter
dreijährigen Kinder Betreuungsplätze zu haben, eine der
wesentlichen Maßnahmen, die wir zur Überwindung des
Gender Pay Gap verfolgen.
({1})
Ein weiteres wichtiges Instrument zur Beseitigung
der Lohnlücke ist die Einführung des Logib-D-Verfahrens. Dies eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, in einem freiwilligen Selbsttest zu untersuchen, inwieweit
Entgeltgleichheit im Unternehmen sichergestellt ist. Dieses Verfahren wurde gut angenommen. Es ist ein Instrument, das im Rahmen der Selbstverpflichtung, auf die
wir setzen, Wirkung zeigt.
Darüber hinaus haben wir zur Bekämpfung des Gender Pay Gap das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor
Familie“ zur Durchsetzung einer familienbewussten Personalpolitik und das Aktionsprogramm „Perspektive
Wiedereinstieg“ auf den Weg gebracht, welches Frauen
nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung die
Reintegration ins Berufsleben erleichtert.
Die Überwindung der Lücke zwischen den Löhnen
von Frauen und Männern ist ein wichtiges gleichstellungspolitisches Signal. Dafür ist ein Umdenken in der
Gesellschaft genauso erforderlich wie das Aufbrechen
von Rollenbildern und das Selbstverständnis eines modernen Familienbildes.
Wir haben in diesem Jahr den 100. Internationalen
Frauentag gefeiert. Ich verweise nochmals darauf, dass
unser Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 ausführt:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Meine Damen und Herren, daran arbeiten wir.
({2})
Monika Lazar hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ begleitet uns schon lange. Wir finden sie
in den Römischen Verträgen von 1957, und Art. 3 Abs. 2
des Grundgesetzes haben Sie gerade angesprochen, zu
Recht. Sie haben ja das Zitat gebracht, in dem steht, dass
sich der Staat dafür einsetzen soll. Er hat also eine entsprechende Verpflichtung. Von daher gebe ich den Hinweis, dass wir nicht allein auf Freiwilligkeit setzen sollten. Wir als Gesetzgeber, im Parlament, haben durchaus
die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen.
({0})
Es gibt ferner das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Wir könnten also der Meinung sein, wir hätten genug
Gesetze. Aber wir kennen die Zahlen: Seit Jahren beträgt
der durchschnittliche Lohnunterschied 23 Prozent. Damit sind wir im EU-Vergleich auf einem hinteren Platz.
Es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir uns von dort wegbewegen.
Wir wissen - das wurde schon ausgeführt -: Es handelt
sich hierbei um eine komplexe Materie. Beim Gender Pay
Gap kommt einiges zusammen: die hohe Teilzeitquote
bei Frauen, die häufigeren und längeren Erwerbsunterbrechungen wegen der Erziehung der Kinder oder der
Pflege von Angehörigen, die geringere räumliche Mobilität von Frauen. Dazu gehört aber auch die sogenannte
vertikale Polarisation auf dem Arbeitsmarkt. Das bedeutet nichts anderes, als dass Frauen in Führungspositionen
unterrepräsentiert sind und selbst dort dramatisch weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.
Natürlich ist es immer noch so, dass junge Frauen und
Mädchen schlecht bezahlte Berufe wählen und sich auf
deutlich weniger Berufe und Branchen als Männer konzentrieren. Nun könnten wir, wie es Ministerin Schröder
gerne macht, sagen: Selber schuld! Die jungen Frauen
können ja Maschinenbau studieren und den Beruf in den
Vordergrund stellen. - Aber so einfach ist das nicht. Wir
brauchen durchaus vieles: bessere Kinderbetreuung,
mehr Männer, die ihre Vaterrolle auch zeitlich stärker
ausfüllen,
({1})
flexible Arbeitszeiten gerade für Eltern und selbstverständlich eine andere Arbeitskultur. Ich denke, darin sind
wir uns im ganzen Hause einig.
({2})
Aber das ist nicht alles. Der verschieden hohe Lohnunterschied in Ost- und Westdeutschland wurde schon
angesprochen. In Westdeutschland beträgt er 25 Prozent,
in Ostdeutschland 6 Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass die ostdeutschen Männer weniger verdienen.
Es gibt sicherlich auch einige westdeutsche Männer, die
weniger verdienen würden. Der geringere Unterschied
im Osten ist aber nicht nur der besseren Kinderbetreuung
geschuldet. Es ist nämlich auch so, dass die große Mehrheit der ostdeutschen Frauen wirtschaftlich für sich
selbst verantwortlich ist; das ist für sie eine SelbstverMonika Lazar
ständlichkeit. Die Hausfrauenehe spielt keine Rolle
mehr; es gibt sie nur zu einem geringen Prozentsatz. Bei
knapp drei Vierteln aller Paare in Ostdeutschland sind
beide Partner erwerbstätig. Auch der Anteil der Teilzeitarbeit ist wesentlich geringer als in Westdeutschland.
Die Frauen im Osten sind also aufgrund ihrer Ausbildung hochqualifiziert, und sie wollen mehr und auch
eher Vollzeit arbeiten.
Interessant ist auch, dass es einen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. In ländlichen Regionen ist
die Lohnlücke um fast 10 Prozent größer als in der Stadt.
Auch wenn die Ursachen noch nicht ausreichend erforscht sind - entsprechende Forschungen laufen -, gibt
es einige Auffälligkeiten: Die Frauen auf dem Land nehmen noch häufiger Minijobs an, sind häufiger Hinzuverdienerinnen, und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wegen der größeren räumlichen Entfernungen
meistens noch schwieriger zu bewerkstelligen.
Zu den Führungspositionen - das habe ich vorhin
schon angesprochen - gibt es eine aktuelle Studie vom
WSI, nach der der Lohnunterschied 18 bis 24 Prozent
beträgt. Er ist also kein bisschen geringer, obwohl die
Frauen sicherlich genauso qualifiziert sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir
sind uns in vielem einig, was Ihren Antrag und auch die
Eckpunkte betrifft, die Sie jetzt für ein Entgeltgleichheitsgesetz vorlegen. Viele dieser Forderungen finden
Sie auch in unserem Antrag „Frauen verdienen mehr“,
den wir im März hier im Plenum diskutiert haben. Auch
wir wollen den Ausbau der Verbandsklage. Ich denke,
das ist wirklich ganz wichtig. Wir wollen die Tarifparteien zu einer diskriminierungsfreien Arbeitsbewertung
verpflichten. Wir brauchen endlich Transparenz bei den
Entgelten. Wir möchten auch erreichen, dass sich die
Beschäftigten über ihr Arbeitsentgelt und dessen Zusammensetzung austauschen dürfen. Ich denke, das ist sehr
wichtig. Klauseln in Arbeitsverträgen, die das verbieten,
sind nicht rechtmäßig.
Notwendig ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch ein flächendeckender Mindestlohn. Dass
Frauen einen Anteil von knapp 70 Prozent an den Niedriglohnbeschäftigten haben, hat die Kollegin bereits ausgeführt.
Neben den gesetzlichen Regelungen für die Entgeltgleichheit brauchen wir dringend ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Ich denke, da sind wir auch
sehr nahe beieinander.
({3})
Der Equal Pay Day war in diesem Jahr der 25. März.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es an diesem Tag
mehr als nur warme Worte geben würde, warme Worte,
wie sie unter anderem in der lauen Pressemitteilung der
Ministerin Schröder standen. Ich würde mich freuen,
wenn wir da gemeinsam vorankommen, damit es mehr
gibt als nur warme Worte oder Selbstverpflichtungen.
Ich denke, wir sollten auch unserem Anspruch als Gesetzgeber gerecht werden und die Rahmenbedingungen
vorgeben. Deshalb lade ich die Koalitionsfraktionen
herzlich dazu ein, mit uns gemeinsam den Weg zu gehen, nicht nur auf Freiwilligkeit zu setzen, sondern den
Rahmen selber vorzugeben.
Vielen Dank.
({4})
Ewa Klamt hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleichberechtigung ist keine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie muss - immer noch - in unserer
Gesellschaft ausgebaut und gelebt werden. Frauen meiner Generation können bei diesem Thema aufgrund
langjähriger Erfahrungen mitreden. Wir wissen, was wir
hier einfordern wollen.
Die existierende Lohnungleichheit in Deutschland ist
eine der ungelösten Herausforderungen. Die entscheidende Frage ist: Was sind die Ursachen der Lohnlücke,
und wie können wir sie bekämpfen? Wir wissen, dass die
unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen
drei Kernursachen hat: Erstens. Frauen sind in bestimmten Berufszweigen und Branchen unterrepräsentiert.
Zweitens. Qualifikationen, die Frauen in das Erwerbsleben einbringen, werden häufig schlechter bewertet. Drittens. Frauen steigen öfter und länger aus dem Erwerbsleben aus.
Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen aus circa
350 Ausbildungsberufen im Wesentlichen nur zehn aus
dem Dienstleistungs- und Sozialbereich auswählen.
Die Wahl der Studiengänge zeigt ein ähnliches Bild:
Männer fokussieren sich auf die technisch-naturwissenschaftlichen Zweige, Frauen wählen vermehrt sprachoder sozialwissenschaftliche Studiengänge. Frauen und
Männer gehen also bereits zu Beginn ihrer beruflichen
Laufbahn unterschiedliche Wege; sie richten ihre Berufswahl nach unterschiedlichen Kriterien aus. Das Problem ist jedoch, dass jeder Einzelne individuell entscheidet. Wir als Gesetzgeber können vom Kindergarten bis
hin zur allgemeinen schulischen Bildung versuchen,
Frauen frühzeitig für technische oder naturwissenschaftliche Berufe zu begeistern.
({0})
Deshalb sind die Programme des Familienministeriums
wie „Komm, mach MINT“, der Girls’ Day, aber auch
„Neue Wege für Jungs“ der richtige Ansatz, das Berufswahlspektrum von jungen Frauen und Männern zu erweitern.
Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass nach wie vor
Frauen und ihre Qualifikationen im Berufsleben schlechter bewertet werden.
({1})
So sehen Unternehmen Frauen häufig als Unsicherheitsfaktor, da sie dem Arbeitgeber durch Elternzeit und Erziehungspausen nur bedingt zur Verfügung stehen. Ihre
Tätigkeit wird, bewusst oder unbewusst, nach dem Ausfallrisiko bewertet. Entscheidend ist daher in den Betrieben ein Bewusstseinswandel dahin gehend,
({2})
das Potenzial und die Fähigkeiten von Frauen besser zu
nutzen. Der Fachkräftemangel und der demografische
Wandel zeigen vielen Unternehmen bereits heute die
richtige Weichenstellung auf. Wer dringend benötigte
Fachkräfte haben und halten möchte, muss das Potenzial
von Frauen nutzen. Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit wird darüber entscheiden, wer zukünftig in diesem
Land über genügend Fachkräfte verfügt.
({3})
Der dritte Aspekt ist die familienbedingte Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Es sind nach wie vor mehrheitlich junge Frauen, die sich der Kindererziehung widmen und dafür ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Nach
ihrer Rückkehr ins Berufsleben reduzieren sie verstärkt
ihre Stundenzahl; sie nehmen besonders häufig Teilzeitmodelle in Anspruch. Statistiken und Studien belegen,
dass insbesondere in Deutschland die Erwerbsunterbrechung ein maßgeblicher Faktor der ungleichen Entlohnung ist. Insofern trifft der Satz des SPD-Antrages zu,
dass es Aufgabe der Politik ist, Prozesse in Gang zu
setzen und bei der Überwindung typischer Blockaden zu
helfen. Das von der CDU vorgeschlagene „audit berufundfamilie“ ist ein richtiger Ansatz. Die Politik zeigt
hier den Unternehmen Lösungswege auf. So kann sich
ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel entfalten.
Unternehmen mit einem großen Frauenanteil nehmen
dies heute in hohem Maße an. Sie verzichten schon aus
ökonomischen Gründen nicht mehr auf gut ausgebildete
Frauen. Fakt ist: Wir sind keine Erziehungsdiktatur.
Auch wenn wir uns wünschen, dass sich mehr Männer in
Familienarbeit und Kinderbetreuung einbringen, bleibt
die Entscheidung, welcher Partner sich der Kindererziehung widmet, eine individuelle Entscheidung.
({4})
Die Hoheit über die Kinderbetten zu erlangen, wie es der
ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz verlangte, ist
nicht Ziel unserer CDU/CSU-Politik.
({5})
Für mich sind alle drei geschilderten Problembereiche
komplex miteinander verknüpft. Klar ist, dass wir die
Ungleichheit in der Entlohnung ursachengerecht angehen müssen. Fest steht auch, dass gesellschaftlicher
Wandel nicht per Gesetz verordnet werden kann. Aber
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, dem Projekt „Perspektive
Wiedereinstieg“ und dem Elterngeld für beide Elternteile hat die CDU die Weichen richtig gestellt.
({6})
Der Unterschied in der Lohnlücke zwischen Deutschland Ost und Deutschland West zeigt eines: Die Rahmenbedingungen von Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind entscheidend; eine
Kollegin hat das bereits genannt. Weil in Ostdeutschland
61 Prozent der Frauen nach einer Kinderpause in eine
Vollzeitbeschäftigung zurückkehren, beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern hier nur
6 Prozent, während er im Westen bei 24 Prozent liegt.
Das zeigt, dass ein gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem die Rückkehr in die Vollbeschäftigung ermöglicht und für mehr Entgeltgleichheit sorgt.
Der Antrag, den die SPD heute vorlegt, wird keiner
der genannten Herausforderungen gerecht. Ihre Forderungen, von denen ich nur einige wenige zitieren
möchte, sehen folgendermaßen aus:
… die Unternehmen werden aufgefordert, einer behördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
Form eines betrieblichen Entgeltberichts in regelmäßigen Abständen vorzulegen;
- ich zitiere weiter die behördliche Stelle prüft den Entgeltbericht auf
Verdachtsmomente, die auf eine geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung hinweisen. Das Ergebnis
ist betriebsöffentlich zugänglich zu machen;
({7})
die Unternehmen stellen sicher, dass bei der Erstellung des Berichts Betriebs- und Personalräte,
Gleichstellungsbeauftragte und Beschäftigte sowie
Tarifvertragsparteien einbezogen werden.
({8})
- Liebe Frau Humme, wenn ich mir vorstelle, was das an
bürokratischem Aufwand für die rund 3,4 Millionen
kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die Selbstständigen bedeutet, stellt sich mir die Frage, ob sie demnächst überhaupt noch Frauen einstellen.
({9})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen weder neue Behördenmitarbeiter, die unzählige Daten sammeln und verarbeiten,
noch brauchen wir neue Berichtspflichten, die zuallererst unseren Mittelstand treffen.
Die Quintessenz einer lösungsorientierten und realistischen Gleichstellungspolitik muss sein
({10})
- Schreien macht nichts besser; Sie können für Ihre
Fraktion reden -, die sozialen Risiken in den Lebensläufen und Erwerbsbiografien der Menschen zu erkennen
und familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche
Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann erreichen wir,
dass Frauen der Wiedereinstieg in sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs gelingt und die wesentlichen Ursachen für eine fehlende Entgeltgleichheit beseitigt werden.
Statt immer neue Gesetze zu erfinden, sollten auch
Sie, liebe Kollegen von der SPD, erkennen, dass wir uns
auf unsere Kernaufgabe konzentrieren müssen, nämlich
auf die Schaffung von Grundlagen und Rahmenbedingungen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Sigmar Gabriel gebe ich jetzt als erstem Mann in der
Debatte das Wort. Sollte sich die Entgeltgleichheit bei
uns in Redezeit ausdrücken, haben die beiden Männer
sehr gut verhandelt. Er spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wir sind uns aber sicher einig, dass die Herstellung von Gleichberechtigung
keine alleinige Aufgabe der Frauen ist.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich will den Argumenten
begegnen, dass das nur für mehr Bürokratie sorgen
würde, dass dies eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien
sei und die Politik sich herauszuhalten habe. Ich lese Ihnen einen Satz vor, um den es hier eigentlich geht:
Niemand darf wegen seines Geschlechts … benachteiligt oder bevorzugt werden.
Das ist einer der fundamentalen Sätze der Verfassung der
Bundesrepublik Deutschland. Recht und Gesetz in
Deutschland durchzusetzen, ist nicht die Aufgabe von
Privatpersonen, auch nicht von Tarifvertragsparteien,
sondern die Aufgabe des Gesetzgebers, der Exekutive,
des Staates. Deswegen geht es hier um staatliches Handeln und nicht um Fragen der Bürokratie oder um Aufgaben von Privatpersonen.
({1})
Es geht auch nicht um Bewusstseinsbildung. Es geht um
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und um die
Durchsetzung unserer Verfassung. Es geht nicht darum,
dass den Unternehmen ein Lernauftrag erteilt werden
soll. Frau Schön, es geht auch nicht um ein Privatvergnügen. Es ist nicht egal, ob man das macht oder nicht.
Es geht darum, dass wir der Verfassung unseres Landes
Geltung verleihen. Es ist einer der gröbsten Verstöße gegen die Verfassung, dass Frauen und Männer in diesem
Land für gleiche Arbeit ungleich bezahlt werden. Das ist
einer der größten sozialpolitischen Skandale in dieser
Republik.
({2})
Damit wir uns hier verstehen: Wir haben diesen Antrag schon zur Zeit der Großen Koalition eingebracht.
Frau Merkel und die nicht anwesende Familienministerin bzw. ihre Vorgängerin haben ihn im Duett abgelehnt.
Für uns ist das keine neue Erkenntnis. Es ist übrigens
spannend, wie wichtig die zuständigen Kabinettsmitglieder diese Debatte offensichtlich finden.
Leistung lohnt sich nicht für Frauen in Deutschland.
Es geht darum, Frau Kollegin Schön, dass wir der sozialen Marktwirtschaft Geltung verleihen und dass sich
Leistung lohnt. Es ist übrigens ein interessanter Meinungswandel, dass Sie das für die Aufgabe der Tarifvertragsparteien halten; denn ich habe noch gut in Erinnerung, dass CDU/CSU und FDP die Tarifvertragsfreiheit
infrage stellen und den Flächentarifvertrag abschaffen
wollten. Aktuell verhindern Sie im Kabinett ein Gesetz
über die Tarifeinheit. Sie zerstören die Tarifverträge und
sagen gleichzeitig, dass sich die Tarifvertragsparteien
um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen
kümmern sollen. Das kennzeichnet Ihre Politik in diesem Bereich.
({3})
- Wenn das reine Polemik ist, dann beschließen Sie endlich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Sie
wissen, dass 70 Prozent der Niedriglöhner in Deutschland Frauen sind. Machen Sie das doch endlich!
({4})
- Herr Kollege Kauder, ich weiß, dass Sie wenig Zugang
zu diesem Lohnsektor haben. Nein, es geht darum, dass
für Männer und Frauen eine Untergrenze eingeführt
wird. Wenn wir wissen, dass in weiten Teilen Deutschlands keine Tarifverträge gelten, weil sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht mehr trauen, sich
zu organisieren, dann muss der Staat eine untere Grenze
einführen. Das wussten Ihre Vorgänger Ludwig Erhard
und andere besser als Sie heute.
({5})
Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, es geht nicht an, dass die Bundeskanzlerin das zum Privatproblem der Frauen macht.
Ich zitiere einmal aus einem Interview mit der Emma.
Dort rät die Bundeskanzlerin Frauen, die weniger als
ihre männlichen Kollegen verdienen, „selbstbewusst
zum Chef zu gehen und zu sagen: Da muss sich was ändern!“
({6})
Wo sind wir eigentlich hingekommen? Es geht doch
nicht darum, dass die betroffenen Frauen aufgefordert
werden, etwas zu tun. Es ist die Aufgabe der Politik, einen Missstand, der Millionen von Frauen betrifft, zu beseitigen. Das ist unsere Aufgabe. Das geht auch Sie an.
Sie können sich nicht ständig vor der Verantwortung
drücken.
Ich sage hier ganz offen: Lernen Sie doch auch von
den Fehlern der Sozialdemokratie. Wir haben auch einmal gedacht, dass Selbstverpflichtungen helfen. Heute
wissen wir: Sie helfen nicht.
({7})
Sie möchten jetzt eine freiwillige Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen einführen. Ich stelle mir einmal vor, wie wir zu den DAX-Vorständen und Aufsichtsräten sagen: Jungs, ihr müsst jetzt zu 40 Prozent
freiwillig auf den Millionenjob verzichten, damit Platz
für die Frauen ist. - Wenn Sie glauben, dass das funktioniert, dann glauben Sie auch, dass man mit Gänsen über
Weihnachten diskutieren kann.
({8})
Das kann man nicht ohne den Gesetzgeber durchsetzen.
Es ist schlimm, dass die Kanzlerin diese Entwicklung,
die bei Ihnen durch Frau von der Leyen in Gang gekommen war, wieder gestoppt hat. Es gibt immer nur Window Dressing in der CDU/CSU und FDP. Wenn es darauf ankommt, schlagen Sie sich in die Büsche.
Vielleicht hilft es Ihnen ja, sich die Realität in den unterschiedlichen Lohnsegmenten in Deutschland anzuschauen; es geht dabei nicht nur um den Niedriglohnsektor. Sie scheinen auch in diesen Bereichen ein
Wahrnehmungsproblem zu haben. Ihre Familienministerin sagte in einem Interview:
Wir können den Unternehmen nicht verbieten,
Elektrotechniker besser zu bezahlen als Germanisten.
Darum geht es aber nicht. Erklären Sie Ihrer Familienministerin bitte, dass es nicht darum geht, unterschiedliche Gehälter zu nivellieren, sondern dass man etwas
dagegen tun muss, dass Ingenieure besser bezahlt werden als Ingenieurinnen. Das muss doch die Politik interessieren.
({9})
Der Lohnunterschied im Beruf der Ingenieure beträgt
zwischen den Männern und Frauen 17 Prozent. Wie erklären Sie das einer fleißigen und gut qualifizierten
Frau?
Nun komme ich zum Größten, das Sie sich bisher geleistet haben. Ihre Frauenministerin sagte über die
Frauen:
Zumindest müssen sie sich darüber bewusst sein,
dass mit bestimmten Berufswünschen gewisse Einkommensperspektiven verbunden sind.
Das würde bedeuten, dass es an der Berufswahl liegt,
dass Frauen in Teilzeit arbeiten und schlechter bezahlt
werden. Es liegt aber daran, dass sie häufig keine ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder haben. Deswegen müssen sie in Teilzeit gehen.
({10})
Es liegt auch daran, dass Sie nicht bereit sind, dafür zu
sorgen, dass in Deutschland vernünftige Löhne gezahlt
werden. Deshalb werden Frauen in diese Bereiche gedrängt.
({11})
Wenn Sie sagen, dass es an der Wahl des falschen Berufs liegt, dann schauen Sie doch einmal typische Frauenberufe, in denen nur oder im Wesentlichen Frauen beschäftigt sind, an. Drei Viertel der Bürokaufleute sind
Frauen; das ist also deutlich die Mehrheit. Bürokauffrauen verdienen trotzdem 15 Prozent weniger als ihre
männlichen Kollegen. Oder schauen wir ins Bankgewerbe. Bankkauffrauen bekommen im Monat im Durchschnitt 700 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen.
Bemerkenswert ist auch ein Blick in die soziale Wirklichkeit der oberen Gehaltsgruppen. Die Zahlen zeigen,
dass auch Frauen in Führungspositionen für die gleiche
Tätigkeit deutlich weniger Geld bekommen. Auf der
Ebene der Hauptabteilungsleiter verdienen Frauen ein
Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Da sagen
Sie: Fangen wir mit der Bewusstseinsbildung an! Warten
wir auf die Bewusstseinsbildung in den Unternehmen! Nein, wir sagen ganz klar: Das ist eine Aufgabe, der sich
die Politik stellen muss. Wir sind dafür verantwortlich,
dass Recht und Gesetz in Deutschland eingehalten werden. Das ist keine Frage der Freiwilligkeit.
({12})
Immer wenn es konkret wird, ist von Ihren Schaufensterreden nichts mehr zu hören. Sie fallen den Frauen
regelmäßig in den Rücken, wenn es konkret wird.
({13})
Das war übrigens auch bei den Hartz-IV-Verhandlungen
der Fall. Als wir gefordert haben, die Beschäftigten in
der Leih- und Zeitarbeit genauso zu behandeln wie die
Stammbelegschaften, wussten wir doch, dass davon
viele Frauen betroffen wären, die dann vernünftig bezahlt worden wären. Sie haben sich dagegen gewehrt.
Vielleicht haben auch noch nicht alle mitbekommen,
wie Ihre Definition von Equal Pay ist. Sie haben zunächst einen Equal-Pay-Day ausgerufen. Nächtens hat
dann die FDP mit Zustimmung der Union folgendes Modell erarbeitet: Equal Pay - gleicher Lohn für gleiche Arbeit - soll schon ab dem ersten Tag gelten, wenn der Betrieb, in den ein Leiharbeitnehmer verliehen wird,
schlechter bezahlt, als es der Tarifvertrag in der Zeitarbeit vorsieht. Wenn der Betrieb besser bezahlt als in der
Zeitarbeit vorgesehen, dann - so war Ihr Vorschlag - soll
das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach
neun Monaten gelten. Wissen Sie, wie ich das nenne?
Solche Vorschläge nenne ich asozial, meine Damen und
Herren.
({14})
- Nein. Beschämend ist, sich immer vor der Verantwortung zu drücken und immer nur von anderen zu fordern,
sich zu kümmern.
({15})
- Ja, passen Sie auf. Dann gebe ich mir Mühe und zitiere
die von Ihnen offensichtlich immer noch, jedenfalls zeitweise, geschätzte Kanzlerin.
({16})
Sie sagt: Über Frauenpolitik darf man nicht nur reden.
Man muss handeln. ({17})
Na, dann handeln Sie einmal, meine Damen und Herren!
({18})
Der Kollege Beck erhält das Wort, und zwar, wie ich
annehme, zu einer Kurzintervention.
Nein, ich möchte einen Geschäftsordnungsantrag stellen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, in dieser Debatte zum Thema „Entgeltgleichheit
zwischen Frauen und Männern“ geht es um eine zentrale
Frage der Frauenpolitik.
({0})
Ich vermisse nicht nur viele Kolleginnen und Kollegen
aufseiten der Koalition,
({1})
sondern vor allen Dingen auch die Bundesfrauenministerin.
({2})
Wir möchten sie zu dieser Debatte herbeizitieren, weil
wir finden: Eigentlich müsste sie dem Haus in dieser
Diskussion Rede und Antwort stehen.
({3})
Wir kommen zur Abstimmung über diesen Geschäftsordnungsantrag.
({0})
Wer dem Antrag auf Herbeizitierung zustimmen möchte,
den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? ({1})
Wir sind uns nicht einig.
({2})
Deswegen können wir die Mehrheit nur auf andere
Weise feststellen. Wir werden jetzt einen Hammelsprung
durchführen.
({3})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenarsaal zu verlassen.
Wir würden auch noch ein paar Stühle herausstellen
lassen für den Fall, dass Sie gern weiter sitzen wollen.
Aber vielleicht begeben Sie sich nach und nach hinaus.
Es sind im Verhältnis zu allen anderen noch übermäßig viele FDP-Kolleginnen und -Kollegen im Saal.
Sind alle Türen mit Schriftführern besetzt? - Noch
nicht. Es fehlen noch zwei Schriftführer von der Regierungskoalition. - Jetzt sind alle Türen besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es immer noch Kolleginnen und Kollegen, die
vor der Tür stehen und nicht hereinkommen können,
weil das Gedränge so groß ist? Ich frage das in Richtung
der Schriftführerinnen und Schriftführer. - Jetzt scheint
außer den Besucherinnen und Besuchern niemand mehr
vor der Tür zu sein.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die
Kolleginnen und Kollegen Schriftführer, uns das Ergebnis mitzuteilen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben zweierlei
festgestellt: Erstens. Der Deutsche Bundestag ist - wie
eigentlich immer - beschlussfähig, weil wir bei der Zählung das entsprechende Quorum erreicht haben.
Zweitens. Mit Ja zum Antrag auf Herbeizitierung haben 173 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Mit Nein
haben 230 gestimmt. Enthalten hat sich niemand. Damit
ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
({4})
Wenn jetzt die Gespräche der CSU-Landesgruppe,
der Geschäftsführung von Bündnis 90/Die Grünen und
von Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion an
anderer Stelle fortgesetzt werden - besonders die CSULandesgruppe ist hartnäckig; Frau Hasselfeldt identifiziert sich offenbar noch nicht ausreichend mit ihrer
neuen Funktion; wenn ich CSU-Landesgruppe sage, hört
sie noch nicht automatisch -, setzen wir die Debatte fort.
Erhöhter Aufmerksamkeit erfreut sich jetzt die Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Um der Legendenbildung keinen
Vorschub zu leisten: Ich wollte nicht vor mehr Publikum
sprechen und habe deswegen nicht diese sportliche Aktivität von Ihnen verlangt.
Ich möchte an das anknüpfen, was Sigmar Gabriel
hier eben gesagt hat. Ich habe den Eindruck, dass die
SPD den Gewerkschaften überhaupt nichts mehr zutraut.
Nicht anders ist es zu verstehen, dass Gewerkschaften
offensichtlich Tarifverträge abschließen, die nicht diskriminierungsfrei sind. Sie stellen damit der Tarifautonomie ein Armutszeugnis aus. Ich finde es erstaunlich, dass
Sie das tun. Wer handelt denn die Tarifverträge aus? Das
sind doch die Gewerkschaften. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Gewerkschaften von Ihnen nicht dauernd
vorgehalten bekommen wollen, ihren Aufgaben nicht zu
genügen. Auch beim Mindestlohn misstrauen Sie der Tarifautonomie und rufen immer nach dem Gesetzgeber.
({0})
Was Ihnen zum Erreichen des Ziels „gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ bei Männern und Frauen einfällt, ist
eigentlich sehr enttäuschend. Was Sie verlangen, führt
zu zusätzlicher Bürokratie. Unternehmen sollen verpflichtet werden, Entgeltdaten zu melden. Sie wollen
eine neue Superbehörde in Deutschland schaffen. Dabei
müssen Sie doch sehen, dass das Bürokratiemonster
ELENA überhaupt nicht funktioniert hat. Blinde Datensammelwut löst keine Probleme, sondern sorgt nur für
mehr Verwaltungsaufwand.
({1})
Ich finde außerdem die Wortwahl in Ihrem Antrag unerhört. Sie sprechen von „Verdachtsmomenten“ bei der
Lohnfindung. Ich finde es schon allerhand, dass Sie hier
Unternehmen kriminalisieren und von „Verdachtsmomenten“ sprechen. Ich denke, das ist nicht der richtige
Weg.
({2})
- In einer Welt, die auch darauf setzt, dass eben nicht
pauschal verkürzt wird, wie Sie das auch mit Ihren Statistiken tun,
({3})
auf die Sie Bezug nehmen. Denn Sie sagen, angeblich
besteht bei Frauen und Männern ein durchschnittlicher
Gehaltsunterschied von 23 Prozent. Dabei hält diese
Prozentzahl einer differenzierten Überprüfung nicht
stand.
Viel interessanter ist in meinen Augen eine aktuelle
Studie der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft. Hier
werden erstaunliche Ergebnisse aufgezeigt: Bei jungen
Frauen ohne Kinder oder mit kurzen Babypausen ist eine
Lohnungleichheit statistisch nicht mehr nachweisbar.
({4})
So beträgt etwa die Entgeltlücke zwischen 25- bis 35-jährigen erwerbstätigen Männern ohne Kinder und der vergleichbaren Gruppe von Frauen nur knapp 2 Prozent und
fällt damit in den Bereich der statistischen Unschärfe.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll zulassen?
Bitte.
Bitte schön.
Frau Kollegin, da Sie ja jetzt vertieft in Zahlen einsteigen, aber als Ausgangszahl auch die Zahl 23 Prozent
Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern genannt
haben - das ist bekanntlich die Zahl des Statistischen
Bundesamts -, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mir
darin zu, dass bereits diese Zahl eindeutig von einem
männerzentrierten Denken geprägt ist? Denn wenn man
einfach einmal rechnet, eine Frau verdient in der Stunde
15 Euro, ein Mann verdient in einer Stunde 20 Euro,
kann man sagen, die Frau verdient ein Viertel weniger,
aber man kann natürlich auch sagen, der Mann verdient
ein Drittel mehr als die Frau. Das heißt, da ist der reale
Lohnunterschied 33 Prozent. Die Frau muss, um das
Gleiche wie der Mann zu verdienen, nicht ein Vierteljahr
arbeiten, sondern vier Monate. Das heißt also, diese allgemein verbreitete Zahl von 23 Prozent Lohnunterschied, im Durchschnitt gerechnet, verschleiert bereits
die Unterschiede, die es in der Bundesrepublik DeutschDr. Barbara Höll
land gibt, und verschleiert, dass Frauen in der Realität
noch viel stärker benachteiligt werden.
Ich gebe Ihnen vollkommen recht, Frau Kollegin,
dass Zahlen verschleiern und dass Zahlen nicht immer
unbedingt die Tatsachen widerspiegeln. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass wichtige Faktoren ausgeblendet sind, nämlich Teilzeitarbeit, unterschiedliche
Qualifikation bei den Tätigkeiten, Ausbildungs- und Berufserfahrung. Für eine solche objektive Analyse - da
müssen wir ansetzen - reicht der Blick auf die Zahlen
nicht aus.
Ich denke, es geht der Antragstellerin, der SPD, im
Wesentlichen darum, unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung Mindestlöhne einzufordern
({0})
- ja -, und das hilft uns an dieser Stelle nicht weiter.
Dass dadurch vor allem die durch Frauen ausgeübten
Teilzeitbeschäftigungen
({1})
sowie die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte eingeschränkt werden, scheint Sie nicht zu stören. Das finde
ich sehr ignorant.
({2})
Hauptsache, man hat ein Gesetz auf den Weg gebracht.
Sinn oder Unsinn interessiert an dieser Stelle nicht.
Die Koalitionsfraktionen hingegen wissen, dass wir
nur auf der Basis einer vernünftigen Analyse eine sachgerechte Strategie entwickeln können. Diese Analyse
muss dann eben auch den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich
der Beschäftigungsanteil von Frauen ständig erhöht.
Auch die Gehälter von Frauen haben sich erhöht. Viele
Frauen machen heute Karrieren, von denen ihre Mütter
nur träumen konnten. Ich denke, der richtige Weg ist es,
auf die qualifizierte Berufsausbildung zu schauen und
dafür zu sorgen, dass Mädchen verstärkte Aufmerksamkeit in ihre Ausbildung lenken.
({3})
Gerade mir als Mutter ist es besonders wichtig, dass
diese Dinge in den Vordergrund gerückt werden.
Auf diesem Weg werden wir weiterkommen. Denn
mit gesetzlichen Keulen und Mindestlöhnen ist an dieser
Stelle niemandem geholfen, zuallerletzt den Frauen.
Vielen Dank.
({4})
Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bundesministerin Frau Schröder, die heute hier
nicht anwesend ist,
({0})
hat aus Anlass des ersten Internationalen Frauentags vor
100 Jahren erklärt, dass die großen Mauern auf dem Weg
zur Geschlechtergerechtigkeit nun eingerissen seien,
auch wenn im Alltag noch viel Dickicht sei, das Frauen
bremse. Wahrscheinlich hält sie das Dickicht für nicht so
wichtig; deshalb ist sie heute nicht da.
({1})
Sie sagt, man brauche zur Beseitigung dieses Dickichts
nicht den großen Hammer, sondern nur noch feinere Instrumente. Kollegin Schön hat sich vorhin ganz ähnlich
geäußert. Ich möchte ein bisschen in dieses Dickicht eintauchen.
Im Durchschnitt ist jeweils ein Drittel der Frauen in
Vollzeit, Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig. Aber schon
bei den Frauen mit einem Kind steigt die Teilzeitquote
auf fast 44 Prozent an. Bei Familien mit zwei Kindern
arbeitet fast die Hälfte der Frauen nur noch Teilzeit. Je
höher die Kinderzahl, desto mehr Frauen sind überhaupt
nicht erwerbstätig. Nun sagt die Bundesministerin, der
Ausbau der Kinderbetreuung helfe Frauen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Das stimmt. Seit
1996 hat die Zahl der nicht erwerbstätigen Frauen aus
Familien mit Kindern tatsächlich deutlich abgenommen.
Gleichzeitig ist die Zahl derer, die mit mehr als zwei
Kindern Vollzeit arbeiten, deutlich gesunken. Das muss
Ursachen haben. Dafür gibt es ein gängiges Erklärungsmuster: Frauen wollen sich in den ersten Jahren eben der
Kindererziehung widmen, und das sei schließlich gut so.
Aber so einfach ist es nicht. Ich frage Sie: Wieso eigentlich Frauen, wieso nicht Männer?
({2})
Die Männer dürfen das inzwischen. Ich frage Sie außerdem: Wie sollen Eltern Vollzeit arbeiten, wenn Ganztagsbetreuungsplätze überhaupt nicht zur Verfügung stehen?
In den östlichen Bundesländern, zumindest in drei der
fünf, wollen weit mehr als 38 Prozent der Frauen mit
Kindern unter drei Jahren erwerbstätig sein, die meisten
Vollzeit. In Sachsen-Anhalt sind es über 50 Prozent. In
Sachsen und Thüringen ist das nicht so. Gute Kinderbetreuung, denkt man, spricht für sich. Aber warum ist das
in Sachsen und Thüringen anders? Die Antwort ist ganz
einfach: Dort gibt es eine Prämie für das Zuhausebleiben. Das nutzen in ihrer Not vor allem Frauen. Familien
denken da nämlich ganz praktisch: Derjenige oder dieje11658
nige bleibt zu Hause, der oder die am wenigsten zum Familieneinkommen beitragen kann. Nun soll diese „Zuhausebleibeprämie“ auch noch bundesweit kommen.
Frau Ministerin sollte dieses Dickicht wegräumen, wenn
sie wirklich für eine Entgeltgleichheit sorgen will.
({3})
- Ich benutze hier Zahlen der Bundesregierung, keine
anderen.
Ein weiterer Fakt: Bezüglich meines Bundeslandes,
Sachsen-Anhalt, weist der Gleichstellungsatlas des Bundesministeriums einen sehr kleinen Einkommensunterschied aus; das ist hier schon erwähnt worden. Da
scheint alles in Butter zu sein; die Richtung scheint zu
stimmen. Da ich mich zu Hause ein bisschen auskenne,
habe ich nachgeschaut. In Sachsen-Anhalt liegen die
Lohnunterschiede im produzierenden Gewerbe sogar bei
25 Prozent. Wenn ich so rechne wie meine Kollegin
Höll, heißt das: Männer verdienen ein Drittel mehr als
Frauen. Wir haben allerdings nicht so viel produzierendes Gewerbe und darum auch nicht so viele hohe Einkommen. Was wir viel haben, ist Niedriglohn, und zwar
für Frauen und Männer. Das heißt, weiter nach unten mit
dem Lohn geht es kaum noch. Dagegen gäbe es allerdings ein Mittel: gesetzlicher Mindestlohn.
({4})
Diesen einzuführen, löst zwar noch nicht alle Probleme,
würde aber unmöglich machen, dass man, etwa im Friseurhandwerk, für Stundenlöhne von 3,83 Euro arbeiten
muss. Das wäre dann ausgeschlossen. Das wäre ein Beitrag zur Entgeltgleichheit und im Übrigen zur Verbesserung der Einkommen von Männern.
({5})
Gestrüpp zu beseitigen, gilt es auch an anderer Stelle.
Mädchen und junge Frauen haben in der Bildung im
letzten Jahrhundert deutlich aufgeholt. Sie haben mehr
höhere Schulabschlüsse und studieren häufiger. In Sachsen-Anhalt erwerben fast 70 Prozent der 18- bis 21-jährigen jungen Frauen eine Studienberechtigung - da ist
Sachsen-Anhalt Spitzenreiterin -; aber nur 17 Prozent
der Professuren in diesem Land wurden an Frauen vergeben. Frauen finden wir dafür überproportional in Erziehungsberufen, besonders in der frühkindlichen Bildung und in der Grundschule, aber auch in der Pflege.
Dort sind Männer eher die Ausnahme. Ich war neulich in
einer Grundschule. Sie arbeitet inklusiv - ich hoffe, hier
nicht mehr erklären zu müssen, was das bedeutet -; es
wird also niemand an eine andere Schule geschickt.
40 Prozent der Kinder, die diese Grundschule besucht
haben, setzen ihren Bildungsweg auf dem Gymnasium
fort. Ihr Bildungsweg ist also erfolgreich. Die Stunde,
die ich miterleben durfte, war beeindruckend. Ich gebe
Ihnen Brief und Siegel: Die Mehrzahl der Kolleginnen
und Kollegen aus diesem Hause - ich schließe mich da
ein -, die irgendwann schon einmal vor einer Klasse gestanden und unterrichtet haben, wären mit dieser Arbeit
vollständig überfordert. Es ist eine Arbeit, die viel Wissen und Können, hohe Flexibilität und hohe Kreativität
erfordert. Aber können Sie mir erklären, warum Grundschullehrerinnen so viel schlechter bezahlt werden als
Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien, wo im Übrigen
auch mehr Männer arbeiten?
({6})
Hier hat die Politik Handlungsmöglichkeit; denn hier
geht es um die öffentliche Hand, die Arbeitgeberin ist.
Sie könnte dieses Problem lösen.
({7})
In solchen aus Standesdünkel gewachsenen Einkommenshierarchien entstehen genau jene Ungerechtigkeiten der Bezahlung in dieser Gesellschaft. Das gilt auch
für andere soziale Erziehungs- und Pflegeberufe. Das alles sind Frauendomänen. Darum geht unsere Forderung
über das „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ hinaus. Wir
fordern gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit; denn es
kann doch niemand erklären, wieso Arbeit in einer
Grundschule weniger wert sein soll als an einem Gymnasium. Das ist doch wohl nicht mehr zeitgemäß.
({8})
Ich glaube, die Frau Ministerin, die heute Wichtigeres
zu tun hat, hat hier noch viel Dickicht hinwegzuräumen.
Aber ich fürchte, Frau Schön, mit dem Schraubenzieherchen wird es nichts werden. Dann sind wir damit nämlich noch die nächsten hundert Jahre beschäftigt.
Ich danke schön.
({9})
Die Kollegin Rita Pawelski hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kennen Sie den Film Und täglich grüßt das
Murmeltier? Der TV-Wetteransager Phil Connors durchlebt alptraumhaft immer und immer wieder denselben
Tag. Ähnlich geht es mir bei dem Thema „Gleiche
Löhne für Männer und Frauen“. Fast alptraumhaft steigt
immer und immer wieder das gleiche Thema hoch.
({0})
- Hören Sie doch einfach zu! - Frauen demonstrieren für
gleiche Löhne, der Lohnabstand bleibt. Die Fraktionen
stellen Anträge, wollen etwas verändern, der Lohnabstand bleibt. Die Regierungen wechseln, der Lohnabstand bleibt. Geändert hat sich inzwischen die Bezeichnung. Es heißt oftmals nicht mehr „Entgeltgleichheit“,
sondern „Equal Pay“; aber auch das hat das Problem
nicht erledigt.
In Deutschland gibt es eine ungleiche Entlohnung bei
Männern und Frauen, und das ist nicht akzeptabel. Die
offiziellen Zahlen zeigen, dass bei uns die Lohnlücke
zwischen Männern und Frauen 23,2 Prozent beträgt. Im
Laufe des Arbeitslebens steigt der Einkommensunterschied auf 30 Prozent. Wie ist das zu erklären? Wo liegt
das Problem?
Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat dazu ein
paar interessante Untersuchungen vorgelegt. Dabei kam
heraus, dass ein entscheidender Faktor für die Verdienstlücke zwischen Männern und Frauen die Zeiten der Erwerbsunterbrechung, zum Beispiel die Babypause, sind.
Denn die Lohnschere öffnet sich ab einem Alter von
30 Jahren, und das ist exakt die Zeit, in der viele Frauen
ihr erstes Kind bekommen und für eine bestimmte Zeit
aus ihrem Job heraus müssen.
Teilzeitarbeit - das haben wir heute schon oft gehört nehmen Frauen oft nur deshalb in Anspruch, weil sie Familie und Beruf nicht anders vereinbaren können; aber
Teilzeitarbeit führt karrieremäßig und finanziell in eine
Sackgasse. Das gilt übrigens auch für Minijobs.
Deutschland ist ein Land mit einer dramatischen demografischen Entwicklung. Der Nachwuchs fehlt. Aber
werden bei uns Frauen mit schlechteren Löhnen und
schlechteren Aufstiegschancen bestraft, wenn sie wegen
ihrer Kinder nicht berufstätig sind oder für eine bestimmte Zeit zu Hause bleiben wollen, um die Kinder zu
erziehen? Denn klar ist: Bei einer schnellen Rückkehr in
den Beruf nach der Babypause beträgt der Lohnabstand
nur 4 Prozent. Wir müssen also unter anderem dafür sorgen, dass Frauen wieder frühzeitig in den Beruf zurückkehren können. Da sind wir bereits auf einem guten
Weg.
Wie keine Regierung zuvor hat die Merkel-Regierung
in den letzten fünf Jahren eine sehr gute Familienpolitik
entwickelt und durchgesetzt.
({1})
Das hat kein anderer vorher geschafft.
Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen,
um eine Vorbildfunktion und ein Umdenken - für mehr
Betriebskindergärten, vor allem für familienfreundliche
Arbeitszeiten - zu erreichen. Wir müssen den Unternehmen sagen, dass sie etwas an ihrer Arbeitszeitphilosophie ändern müssen. Mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung für Frauen und Männer! Das gilt
besonders für junge Eltern; denn Mütter wollen länger
arbeiten, und Väter wollen weniger arbeiten. Es muss
doch möglich sein, dass man sich da entgegenkommt.
({2})
Zum großen Lohnunterschied trägt natürlich auch die
Berufswahl entscheidend bei. Für die akademischen Berufe wurde das schon angesprochen. Für mich ist erschreckend, dass eine unglaublich große Zahl von Mädchen - das sage ich besonders in Richtung der Mädchen
und jungen Frauen, die hier oben sitzen - sich immer
noch für frauentypische Berufe entscheiden. Auch hier
grüßt täglich das Murmeltier; denn schon vor 20 Jahren
waren Einzelhandelskauffrau, Bürokauffrau, Verkäuferin, Friseurin, medizinische Fachangestellte und Hotelfachfrau die Lieblingsausbildungsberufe für Mädchen.
({3})
Bis heute hat sich so gut wie nichts geändert, leider.
Hallo, Mädchen, wenn ihr weiterkommen wollt, ergreift
andere Berufe!
({4})
Ihr könnt auch Mechatronikerin oder Ingenieurin werden.
({5})
Geht in diese Fächer! Ihr müsst es nur wollen.
({6})
Wir haben unglaublich viele Programme aufgestellt,
um junge Frauen und Mädchen auch für geschlechtsatypische Berufszweige zu motivieren. Es gibt den Girls’
Day, „Komm, mach MINT“ und viele andere gute Programme.
Aber selbst wenn frau sich für einen typischen Frauenberuf entscheidet, bleibt eine Frage: Warum werden
diese Berufszweige so schlecht bezahlt?
({7})
Ich frage die Gewerkschaften, ob der tarifliche Stundenlohn von 4,71 Euro brutto für eine ausgebildete Friseurin
in Sachsen oder 6,63 Euro im Hotel- und Gaststättengewerbe in Hessen angemessen ist.
({8})
- Die Tarifautonomie steht im Grundgesetz, und das ist
wohl auch für Sie immer noch die Grundlage aller Politik.
Liebe Tarifpartner, kommen Sie endlich Ihrer Pflicht
nach! Anständige Löhne auszuhandeln, ist Ihre Sache
und nicht unsere. Dafür sind Sie verantwortlich.
({9})
Den Unternehmen sei gesagt: Sie wollen keinen
Zwang, keine weiteren gesetzlichen Regelungen. Dann
verpflichten Sie sich doch bitte tatsächlich einmal selbst!
Wir helfen Ihnen dabei, zum Beispiel mit dem Computerprogramm Logib-D.
({10})
Mit dieser kostenlosen Software können die Unternehmen aktiv die Ursachen erkennen, die zu unterschiedlicher Entlohnung führen, und sie können sie dann abschaffen.
Meine lieben Unternehmer, gleicher Lohn für gleiche
Arbeit fördert die Motivation. Das macht sich letztend11660
lich auch in der Bilanz bemerkbar, und es ist eine Imageförderung auch für das Unternehmen.
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
SPD sagen. Erst einmal möchte ich daran erinnern, dass
in der hier schon oft zitierten Vereinbarung, die 2001
zwischen Kanzler Schröder und der Wirtschaft geschlossen wurde, das Thema Entgeltgleichheit - man höre: das
Thema Entgeltgleichheit - als eine von vier Zielgrößen
verankert wurde. Aber auch hier, wie bei der Quote:
Nichts als weiße Salbe!
Frau Pawelski, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach zulassen? - Anscheinend ja. Bitte
schön.
Ja, selbstverständlich.
Frau Kollegin, herzlichen Dank. - Sie sprachen gerade die Vereinbarung an, die seinerzeit unter Kanzler
Schröder geschlossen wurde. Können Sie mir und den
Kolleginnen und Kollegen vielleicht noch einmal sagen,
wo da der Kollege Gabriel stand?
({0})
Er hat gerade sehr emotional reagiert und deutlich gemacht, wie er sich des Themas angenommen hat, vor allem in der Zeit danach, als er im Bundestag war. Wie
ernsthaft und ehrlich waren seine Worte in der Rede gerade, wenn er es als Chef der SPD nicht schafft, seiner
Generalsekretärin beim Eintritt in den Mutterschutz die
Angst davor zu nehmen, nicht zurück in ihren Job zu
kommen?
({1})
Wäre das nicht auch eine Form von Unterstützung der
Frauen? Er war gerade der große Frauenversteher. Wie
bewerten Sie das?
In der Tat, mich hat schon sehr gewundert, dass die
Generalsekretärin einer großen Volkspartei in den letzten
Schwangerschaftsmonaten Angst davor haben musste,
dass andere ihr den Job wegnehmen.
({0})
Das war ein verdammt schlechtes Beispiel oder gibt einen tiefen Einblick in die Frage, wie es in der SPD wirklich zugeht.
Wenn das die Personalpolitik der SPD ist, dann muss
ich sagen: Sigmar, schämt euch, das war nicht in Ordnung!
({1})
Wo war Sigmar Gabriel 2001? Ich weiß es nicht mehr.
War er Fraktionsvorsitzender? Oder war er schon Ministerpräsident? Das wechselte damals in Niedersachsen bei
der SPD sehr häufig. Da gab es einen größeren Verschleiß. Zumindest hätte er das Thema über den Bundesrat einbringen können. Das ist nicht passiert.
Wie ging es mit dem Thema weiter? Hier wurde viel
davon geredet, dass das Ganze asozial sei und dass man
sich vor der Verantwortung drücke. Herr Gabriel hat
noch einmal auf das Grundgesetz hingewiesen.
„Herr Gabriel“ ist ein gutes Stichwort. Der möchte Ihnen nämlich gern eine Zwischenfrage stellen.
Wir wollen nicht an frühere Diskussionen im Landtag
anknüpfen; lassen wir das lieber.
({0})
- Nein, Angst habe ich nicht.
Es gab während der Regierungszeit Schröder keinen
Antrag von der Fraktion oder von den Frauen. Man hat
sich auch da - wie bei der Quote - in den Senkel stellen
lassen und schön die Klappe gehalten. Ich habe hier
eine Pressemitteilung vom 16. Februar 2005. Da wird
Christel Humme, SPD-Abgeordnete und schon damals,
vermute ich einmal, frauenpolitische Sprecherin, mit
dem Satz zitiert - 2005! -:
Wir setzen darauf, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer stärker mit dem Thema auseinander setzen …
({1})
Schon bisher hätten Frauen gegen Diskriminierung
beim Gehalt klagen können, …
Das war 2005, aber die Zahlen waren schon im Jahr
2005 genauso wie heute. Hier gibt es kaum einen Unterschied.
({2})
Mit anderen Worten: Die SPD wird immer dann mutig,
wenn sie in der Opposition ist. Ihr seid eine tolle Oppositionspartei, bleibt da, wo ihr seid.
({3})
- Entschuldigung, Sie haben den Mund ganz schön voll
genommen. Die Wahlergebnisse sehen bei Ihnen wesentlich schlechter aus als bei uns. Man sollte sich ein bisschen in Bescheidenheit üben.
({4})
Jetzt komme ich noch einmal zu dem Antrag. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sorgfältig zu
recherchieren. Ich helfe kurz nach: Der Grundsatz des
gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit bzw. bei gleichwertiger Arbeit ist nicht mehr in Art. 141 des EG-Vertrags
verankert, wie es in dem Antrag steht; denn den gibt es
seit dem 1. Dezember 2009 nicht mehr. Seitdem gibt es
nämlich den Vertrag von Lissabon. Sie meinen wohl
Art. 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Da ist dies jetzt enthalten. Der Antrag
muss also sowieso noch einmal umgeschrieben werden.
Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag darüber, „dass es
der Respekt vor der Tarifautonomie gebietet, die gesetzlichen Eingriffe des Staates so gering wie möglich zu
halten“. Trotzdem fordern Sie - das ist mir überhaupt
nicht klar und ist für mich auch nicht nachvollziehbar -,
dass zivilgesellschaftliche Akteure von außerhalb der
Betriebe, also außerhalb der Betriebsräte, auf die wir
großen Wert legen, mit Einflussmöglichkeiten ausgestattet werden, um staatliches Eingreifen auf ein Minimum
zu reduzieren. Was das außerhalb der Betriebsräte soll,
ist mir ein Rätsel.
Sie wollen eine behördliche Stelle, die Entgeltberichte von Unternehmen entgegennimmt und auswertet.
Wollen Sie eine neue Behörde? Wollen Sie mehr Bürokratie und mehr Aufgaben? Ist es das, was Sie wollen?
Nein, wir wollen das nicht. Sie fordern wieder einmal
das Verbandsklagerecht und den gesetzlichen Mindestlohn.
({5})
Auch hier grüßt täglich das Murmeltier.
Frau Pawelski, das Murmeltier hält jetzt auch Ihre
Zeit an.
({0})
Danke, Frau Präsidentin.
Ich denke, es ist wichtig, dass sich hier etwas entwickelt. Dass sich etwas entwickelt hat, zeigt übrigens der
Staat - es gibt hier ausnahmsweise einmal ein Lob an
den Staat -: Im öffentlichen Dienst ist der Lohnunterschied auf unter 8 Prozent zurückgegangen.
Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiges
Thema. Ich glaube, das weiß jeder von uns.
({0})
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Murmeltierschleife entzerrt und dass wir auch für Frauen anständige Löhne haben.
Frau Kollegin!
Wir machen das, aber Sie müssen erst einmal Ihren
Antrag überarbeiten. Da stehen Forderungen drin, die
mit uns so nicht zu machen sind.
({0})
Die Nächste ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist
eine Selbstverständlichkeit, und Frauen arbeiten natürlich in allen Branchen. Dass beispielsweise Pilotinnen
sich nicht mehr lange so kluge Männersprüche anhören
müssen wie: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen fliegen, dann wäre der Himmel rosa geworden“, dafür werden wir auch noch sorgen.
({0})
Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ ist gesetzlich festgeschrieben. Grundsätzlich ist das ja auch gesellschaftlicher Konsens; aber
leider sieht die Realität anders aus. Die Erklärungen für
die ungleiche Entlohnung von Frauen sind natürlich vielfältig - wir haben ja auch heute schon viele gehört -, wie
zum Beispiel unterschiedliche berufliche Präferenzen
oder berufliche Unterbrechungen wegen Kindererziehung. Das sind aber nur Erklärungen. Eine zentrale Ursache ist die unterschiedliche und somit diskriminierende Behandlung von Frauen im Berufsleben. Wir
sehen es also genauso wie die SPD: Das Verbot der Entgeltdiskriminierung ist vorhanden, was fehlt, ist ein Verfahren, wie die Entgeltgleichheit durchgesetzt werden
kann, und vor allem der politische Wille, etwas zu verändern.
({1})
Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung bringen keinen
Erfolg, liebe FDP. Wir wollen zwar die Betriebsräte und
Personalräte stärken, aber auch in die Pflicht nehmen;
denn sie haben eine wichtige Schlüsselrolle inne. Vor allem aber brauchen wir gesetzliche Regelungen, damit
endlich Schluss ist mit der Lohndiskriminierung von
Frauen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, warum verdienen Teilzeitbeschäftigte
weniger als ihre Kollegen in Vollzeit? Natürlich deswegen, weil dort häufig Frauen arbeiten. Bei wem fransen
die Löhne im Niedriglohnbereich besonders nach unten
aus? Natürlich bei den Frauen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, Sie wollen die Lohnlücke zwischen Männern
und Frauen abschaffen. Dann tun Sie doch etwas.
({2})
Machen Sie endlich den Weg frei für einen gesetzlichen
Mindestlohn, für mehr branchenspezifische Mindestlöhne, für mehr allgemeinverbindlich erklärte Tariflöhne, und reformieren Sie insbesondere die Minijobs!
({3})
Das fordert auch der Gleichstellungsbericht „Neue
Wege - Gleiche Chancen“. Auch wenn die Ministerin
das Gutachten nicht persönlich entgegengenommen hat:
Lesen sollte sie die Handlungsempfehlungen schon, und
vor allem sollte sie endlich tätig werden.
({4})
Die mittelbare Diskriminierung von Frauen ist kein
einfaches Thema. Aber genau das geht die SPD zu Recht
an. Auch wir Grünen arbeiten an einem Konzept. Es geht
um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und um die
Kriterien, wie Arbeit bewertet wird. Fakt ist, dass hinter
vermeintlich geschlechtsneutralen Formulierungen viel
zu häufig Kriterien stehen, die eindeutig zu Einkommensunterschieden und somit zu Benachteiligungen von
Frauen führen.
So wird beispielsweise bei frauendominierten Tätigkeiten die Anforderung „soziale Kompetenz“ nicht bewertet, in klassischen Männerberufen, zum Beispiel auf
dem Bau, wird aber die notwendige Muskelkraft besonders hoch bewertet, hingegen werden die körperlichen
und psychischen Belastungen der Pflege wiederum ignoriert.
({5})
Hier finden wir unsere Geschlechterrollen wieder, die direkt und indirekt in die Bewertung von Arbeit auf betrieblicher Ebene und ebenso in Tarifverträgen einfließen. Die schlecht bezahlten Berufe sind eindeutig noch
immer Frauensache. Das muss endlich durch eine geschlechtsneutrale Arbeitsbewertung verändert werden.
({6})
Warum bekommen Männer, die Baumaterial tragen,
mehr Lohn als Erzieherinnen, die quirlige Kinder tragen? Warum verdienen in Bayern Kraftfahrer, die Bier
fahren, um die 2 600 Euro, Kellnerinnen aber, die Bier
schleppen, nur 1 900 Euro? Warum werden Hochschulsekretärinnen, obwohl von ihnen häufig die Kenntnis
von zwei Fremdsprachen verlangt wird, wie Schreibkräfte eingestuft? Ich frage also die Ministerin, die ja leider heute nicht da ist, wie sie den jungen Frauen erklären
möchte, dass sie sich zwar um die Jungs in der Gesellschaft kümmern möchte, dass sie allerdings nichts, aber
auch gar nichts macht, um diese Einkommenslücke zu
verkleinern.
Stattdessen schiebt sie sogar den Frauen selbst die
Schuld in die Schuhe, dass sie so wenig verdienen. Ich
zitiere aus dem Spiegel-Interview vom 8. November
2010:
Viele Frauen studieren gern Germanistik und
Geisteswissenschaften, Männer dagegen Elektrotechnik - und das hat dann eben auch Konsequenzen beim Gehalt.
So einfach ist das für die Ministerin.
({7})
Das ist aber blanker Hohn in den Ohren vieler gut ausgebildeter und motivierter Frauen. Nicht die Frauen entscheiden sich für die falschen Berufe, vielmehr muss der
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“
durchgesetzt werden,
({8})
damit die sogenannten Frauenberufe endlich aufgewertet
werden. So wird ein Schuh daraus, Frau Ministerin; denn
Frauen verdienen mehr.
Vielen Dank.
({9})
Claudia Bögel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Antragsteller der SPD!
({0})
Ja, es stimmt: Der Grundsatz des gleichen Entgelts bei
gleicher Arbeit für Frauen und Männer ist seit 1957 in
der Europäischen Union verankert. Meine Fraktion
würde dieser Tatsache nie widersprechen. Unser Gesellschaftssystem steht hinter dieser Forderung, und sie ist
Gesetz.
Ihr Antrag lässt zwischen den Zeilen vermuten, dass
in Deutschland geltendes Recht verletzt wird. Das
stimmt aber nicht.
({1})
So erkennt der werte Leser Ihres Manuskripts sehr
schnell, worum es geht. Sie möchten nämlich durch die
Hintertür einen flächendeckenden Mindestlohn ins Spiel
bringen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Tarifautonomie bekannt. Sie ist ein hohes Gut und ein unverzichtbarer Ordnungsrahmen.
({2})
Wir werden davon nicht abrücken. Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist mit uns nicht zu machen.
({3})
Zurück zum vermeintlich eigentlichen Thema Ihres
Antrags: die Entgeltgleichheit. Frauen arbeiten häufiger
in Bereichen, in denen das Entgeltniveau niedriger ist.
({4})
Wir haben es heute schon häufiger gehört. Selbst bei
gleicher Qualifikation - so ist es halt im Moment noch ({5})
verdienen Frauen durchschnittlich 8 Prozent weniger als
ihre männlichen Kollegen; das ist richtig. Aber man
muss sagen: Frauen arbeiten häufiger in Bereichen, in
denen das Entgeltniveau niedriger ist.
({6})
Man muss immer wieder feststellen, dass typische Frauenberufe schlechter bewertet und bezahlt werden.
({7})
Ich möchte hier alle Frauen aufrufen: Zeigen Sie
mehr Selbstbewusstsein!
({8})
Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel! Verhandeln Sie geschickt, damit Sie für gleiche Arbeit auch
gleichen Lohn erhalten!
({9})
Seien Sie nicht mit niedrigen Löhnen einverstanden, und
orientieren Sie sich nicht an niedrigen Löhnen!
({10})
Gute Verdienstmöglichkeiten zeigen sich in den naturwissenschaftlich-technischen Bereichen. Genau das
ist der Punkt. Schule, Wirtschaft und Verbände müssen
für jungen Frauen Anreize schaffen, Berufe wie beispielsweise den des Ingenieurs zu erlernen. Gefordert
sind hier vor allem die Unternehmen dieser Bereiche. Es
ist an ihnen, ihre Vorzüge und Chancen richtig zu vermitteln und im wahrsten Sinne des Wortes an die Frau zu
bringen.
Im Hinblick auf den demografischen Wandel geht es
dabei nicht um Sympathiepunkte. Hier zählen knallharte
ökonomische Gründe. Die Wirtschaft muss durch flexible Arbeitszeitmodelle und Möglichkeiten der betrieblichen Kinderbetreuung ihren Beitrag dazu leisten, damit
Beruf und Familie zu vereinbaren sind. Dies wird zu einem echten Faktor im Wettbewerb, dem sich die Unternehmen in Deutschland stellen müssen - aber freiwillig.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was
Sie fordern, ist nichts weiter als die Schaffung einer
neuen bürokratischen Hürde.
({12})
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren:
… die Unternehmen werden aufgefordert, einer behördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
Form eines betrieblichen Entgeltberichts … vorzulegen …
Na bravo!
({13})
Sie fordern eine detaillierte expertengestützte Prüfung
mittels eines Lohnmessverfahrens. Sie wollen außerdem
eine Prüfung auf Verdachtsmomente.
({14})
Allein das Wort „Verdacht“ sagt alles. Dies wäre ein
weiteres bürokratisches Monster. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen würden darunter leiden.
({15})
Zu unrühmlicher Popularität in 2011 könnte Ihre
Wortkreation „Entgeltgleichheitskommission“ kommen.
Sie hätte große Chancen, zum Unwort des Jahres 2011
gekürt zu werden.
({16})
Frau Kollegin.
Ich bin sofort fertig. - Was sich aber dahinter verbirgt,
ist nur wieder eine weitere Kontrollstelle, die die Unternehmen Unmengen an Geld kostet, frei nach dem Motto
„Kontrollieren und Abkassieren“. Das machen wir nicht
mit.
Vielen Dank.
({0})
Christel Humme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau Pawelski, in den letzten Jahren haben
wir leider feststellen müssen, dass die Lohnlücke in
Deutschland größer geworden ist, dass sie in Westdeutschland sogar auf 25 Prozent angewachsen ist. Ich
gebe zu: Auch ich habe einmal geglaubt - so auch im
Jahre 2001 -, wir könnten mit den Unternehmen eine
freiwillige Vereinbarung für mehr Lohngleichheit schließen. Sie können auch gerne meine Äußerungen aus dem
Jahr 2005 zitieren. Ich war immer davon überzeugt: Ja,
wenn wir mit denen eine Vereinbarung treffen, dann bewegen die sich. - Aber genau das Gegenteil ist eingetreten. Von daher bin ich froh, dass wir jetzt den Beweis dafür haben, dass Freiwilligkeit eigentlich nichts bringt.
Wir brauchen ein Gesetz.
({0})
Frau Pawelski, Sie haben gesagt, Entgeltgleichheit ja;
das Murmeltier, das Sie jeden Tag grüßt, seien Sie schon
leid. Erschlagen wir es doch endlich. Sie haben gesagt,
Sie machen das.
({1})
Aber ich bezweifle, dass Sie wirklich einen Gestaltungswillen haben. Ich bezweifle das allen Ernstes; denn
wer zulässt, dass Frauen mit Niedriglöhnen abgespeist
werden, und noch nicht einmal einen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn hinbekommt, dem fehlt doch
jeder Mut für weitere Regelungen und Veränderungen in
dieser Gesellschaft.
({2})
Wir wollen uns mit den Ungerechtigkeiten, die es
gibt, nicht mehr abfinden. Sie haben in epischer Breite in
verschiedenen Reden immer wieder erklärt, warum es
diese Ungerechtigkeiten geben müsse. Sie haben dabei
auch die Teilzeitarbeit angeführt. Sagen Sie einmal: Finden Sie es wirklich gerecht, wenn der Unterschied beim
Stundenlohn von Frauen und Männern in Teilzeitarbeit
knapp 4,40 Euro beträgt?
({3})
Das hat mit Teilzeit und Vollzeit gar nichts zu tun, sondern das ist echte Diskriminierung von Frauen.
Finden Sie es gerecht, dass eine Buchhalterin durchschnittlich 816 Euro weniger verdient als ein Buchhalter?
({4})
Und - was viel schlimmer ist -: Finden Sie es gerecht,
dass Frauen im Laufe ihres Lebens 58 Prozent weniger
Einkommen haben als Männer und dass die Frauen es
sind, die das Armutsrisiko im Alter tragen? Finden Sie
das wirklich gerecht?
({5})
- Sie sagen Nein, aber Sie sagen nicht, was Sie dagegen
tun wollen.
({6})
Wenn ich mir anschaue, was die Frauenministerin anbietet, dann stelle ich fest: Sie hat tatsächlich 4,5 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. 4,5 Millionen
Euro - wofür? Für eine Homepage, von der man sich
freiwillig ein Lohnmessverfahren herunterladen kann,
das man freiwillig anwenden kann, und für ein Programm für den ländlichen Raum, das vielleicht gar nicht
so schlecht ist; denn da sind die Lohnunterschiede in der
Tat größer.
Aber warum hat sie ein solches Programm nicht auch
für andere Branchen aufgelegt, in denen die Lohnunterschiede größer als 23 Prozent sind? Schauen Sie sich die
gesamte Kreativwirtschaft an. Da gibt es Lohnunterschiede von bis zu 38 Prozent. Ich denke, das können
wir letztlich nicht zulassen.
Wir können auch nicht zulassen, dass die Frauenministerin sagt, sie möchte in den nächsten zehn Jahren
- man höre genau zu: in den nächsten zehn Jahren - die
Lohnlücke von 23 Prozent auf 10 Prozent senken. Die
freiwillige Vereinbarung ist zehn Jahre alt. Wir haben
gerade gehört, wozu sie geführt hat.
({7})
Ich glaube, wenn wir solch ein zögerliches Ziel formulieren, Absenkung der Lohnlücke, dann kann daraus
nichts werden. Wir wollen die Abschaffung der Lohnlücke und gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit.
({8})
Mit der Unverbindlichkeit, die Sie da an den Tag legen,
schaffen Sie es noch nicht einmal, die Lohnlücke in den
nächsten 100 Jahren um 1 Prozent zu senken.
Frau Schön, Sie haben von der Staatsgläubigkeit der
SPD gesprochen. Das ist ja immer schnell ein Argument
gegen uns Sozialdemokraten: Sie wollen mehr Staat, und
damit ist das alles schlecht. - Gleichzeitig sprechen Sie
von Bürokratieaufbau. Ich wundere mich immer, gerade
was die FDP angeht. Ich möchte Sie an Ihre Gesundheitsreform erinnern, an das Bürokratiemonster, was den
Sozialausgleich und die Berechnung der Zusatzbeiträge
betrifft.
({9})
Da haben Sie alle zugestimmt. Wenn es um die Gleichstellung von Frauen und Männern geht, dann bemühen
Sie das Argument der Bürokratie. Ich verstehe das nicht
mehr.
({10})
Frau Schön, noch einmal ein Hinweis zur Staatsgläubigkeit: Lesen Sie unseren Antrag sehr genau. Dann
werden Sie feststellen, dass wir eine Vorstellung haben
von einem Gesetz, das nicht den Staat in den VorderChristel Humme
grund stellt, sondern die Akteure selbst, sprich: die Unternehmen und Tarifvertragsparteien.
Wir wollen, dass mehr Transparenz herrscht. Wie
kann denn eine Frau etwas ändern wollen, wenn sie noch
nicht einmal weiß, wie die Bezahlung und die Entgeltstruktur ist? Und wie kann man das beseitigen? Man
kann das doch nur über Mitbestimmung, über die Beteiligung von Betriebsrat, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen machen. Anders wird es nicht gehen. Das hat doch
mit Bürokratie und Staatsgläubigkeit nichts zu tun.
Wenn auf diesem Gebiet nichts passiert, wenn dieser
Prozess nicht stattfindet, dann müssen die Frauen ein
Recht haben, zu klagen, und zwar als Verbandsklage,
nicht als Individualklage.
Frau Kollegin.
Denn das würde sie vielleicht den Arbeitsplatz kosten. Ich denke, wir legen Ihnen ein Gesetz vor, mit dem
wir, Frau Pawelski, vielleicht das Murmeltier erschlagen
bekommen.
({0})
Danke schön.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Geis für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass ich der letzte Redner bin, hat nichts mit der
Diskriminierung der Männer zu tun, sondern bedeutet
die besondere Ehre, diese Debatte abschließen zu dürfen.
Ich bedauere allerdings, dass Herr Beck nicht mehr da
ist, der es für notwendig hielt, die Frau Ministerin herbeizuzitieren. Unmittelbar nach dem Hammelsprung ist
er offenbar gegangen. So wichtig kann es ihm also nicht
gewesen sein.
({0})
Auch Herr Gabriel fehlt. Hieran kann man eine Gewichtung erkennen.
Da meine Redezeit um zwei Minuten gekürzt worden
ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, den
ich jetzt anführe: Ich glaube, dass ein wesentlicher Anteil daran, dass wir einen Unterschied von 23 Prozent
zwischen dem durchschnittlichen Erwerbseinkommen
der Frau und dem des Mannes haben, in der Tatsache begründet ist, dass die Frauen, wenn sie Kinder bekommen, in die Familienphase gehen und dass sie in dieser
Familienphase einen Erwerbsnachteil erleiden.
({1})
Gleichzeitig nehmen sie in Kauf, dass ihr berufliches
Fortkommen nicht mehr wettgemacht werden kann. Das
halte ich im Grunde für einen Skandal; denn das darf
doch wohl nicht sein. Eine Frau, die daheim bleibt, um
ihre Kinder zu erziehen, erbringt eine große Leistung,
nicht nur für die eigene Familie, sondern für die gesamte
Gesellschaft. Trotzdem wird sie benachteiligt. Die Leistung der Mutter wird von unserer Gesellschaft nicht gebührend anerkannt.
({2})
- Wissen Sie, das ist mir einfach zu billig. Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist ein dummer Spruch. Dümmer kann man es nicht mehr machen, tut mir leid.
({3})
Das ist nämlich ein Allerweltsurteil, ein Totschlagargument. Damit wollen Sie Vorteile erzielen. Das können
Sie aber nicht, weil die Menschen die Dummheit dieses
Arguments erkennen. Sie haben noch nicht begriffen,
dass eine Frau, die daheim bleibt und Kinder erzieht,
eine große Leistung nicht nur für die Familie, sondern
für die Gesellschaft erzielt,
({4})
weil die Gesellschaft einen großen Nutzen daraus zieht.
Die Gesellschaft hat einen großen Nutzen davon, dass
die Frau die Kinder daheim erzieht. Sie muss sich zum
einen nicht um die Kinderbetreuung kümmern, es kostet
weniger Geld, und zum anderen dürfen wir davon ausgehen - ({5})
- Lassen Sie mich doch einmal in Ruhe ausreden. Sie
lassen mir ja gar keinen Platz für meine Darlegungen.
Ich wollte eigentlich am Ende dieser Debatte gar nicht
mehr zu einem solch lauten Disput aufrufen. Es muss
doch möglich sein, sich dieses Argument einmal anzuhören.
Ich glaube wirklich, dass die Leistung der Mutter von
unserer gesamten Gesellschaft - nicht nur von einer Partei - nicht richtig gewürdigt wird. In Wirklichkeit ist es
nämlich eine große Leistung. Deshalb müssen wir uns
Gedanken darüber machen, wie wir die Nachteile ausgleichen können, die die Frau hat, die in die Familienphase geht und dadurch Nachteile im Erwerbseinkommen und auch im Beruf hat.
({6})
In diesem Zusammenhang ist das Elterngeld sicherlich eine große Hilfe. Wenn eine Frau aber länger in der
Familienphase bleibt und während dieser Familienphase
ein zweites Kind bekommt, dann bezieht sie Elterngeld
auf dem Niveau der untersten Stufe, dann bekommt sie,
um in Ihrem „Wortgehege“ zu bleiben, einen Mindestlohn von 300 Euro. Das ist zu wenig. Trotzdem haben
Sie sich dagegen gesperrt, dass die Frau das bekommt.
Das finde ich schon sehr bemerkenswert. Dieser Ausgleich für die Familienphase erscheint mir zu gering.
Außerdem möchte ich betonen, dass beim Wiedereinstieg nach der Familienphase viel zu hohe Hürden zu
überwinden sind. Die Kita ist in diesem Zusammenhang
sicher eine gute Einrichtung. Die Frau kann das Kind,
wenn es ein Jahr alt ist, in die Kita geben und kann ihrem
Beruf nachgehen.
({7})
- Darauf komme ich noch zu sprechen.
Wir haben es aber noch nicht geschafft, dass Beruf
und Familie in Deutschland besser vereinbart werden
können, was in anderen Ländern der Fall ist.
({8})
Ein Grund dafür ist, dass wir eine im internationalen
Vergleich niedrige Geburtenrate haben. Da nehme ich
durchaus Ihren Vorwurf auf: Ich bin der Meinung, dass
die Frau, die einen Beruf erlernt hat, das gute Recht haben muss, ihrem Beruf mit Familie nachzugehen.
({9})
Ich bin auch der Meinung, dass sich die Männer dann
partnerschaftlich verhalten müssen, was in einer guten
Ehe sicherlich der Fall ist.
({10})
Sie müssen ihren Anteil dazu beitragen, dass Beruf und
Familie auch für die Frau möglich sind. Das kann nicht
nur für den Mann gelten, sondern muss auch für die Frau
gelten.
({11})
Viele Frauen, die Kinder haben, arbeiten nicht Vollzeit, weil sie Angst haben, dann keine Zeit mehr für die
Kinder zu haben. Das behindert den Wiedereinstieg. Das
kann es nicht sein. Meiner Meinung nach müssen wir
uns hierzu einiges einfallen lassen. Es muss möglich
sein, dass die Frau trotz Beruf genug Zeit hat, sich ihren
Kindern zu widmen.
({12})
In diesem Zusammenhang müssen wir uns überlegen
- darauf kommt es an, auch wenn Ihnen das nicht gefallen mag -, ob die haushaltsnahen Dienstleistungen nicht
in größerem Maße absetzbar sein sollten. Warum soll
eine Familie nicht einem kleinen Betrieb gleichgestellt
werden? Der Betrieb kann die Kosten absetzen, die Familie aber nicht. Ich meine, dass dazu eine steuerrechtliche Regelung gefunden werden muss.
({13})
Wenn Frauen in den Beruf zurückkehren - auch das
ist zu sagen -, werden sie oft schlecht behandelt, weil
man ihnen vorwirft, dass sie nicht mehr das gleiche Wissen wie ihre Kolleginnen und Kollegen haben, die nicht
in der Familienphase waren. Das kann es aber nicht sein.
({14})
Ich meine, an dieser Stelle muss man ein Benachteiligungsverbot vorsehen.
({15})
Wir haben ein solches Benachteiligungsverbot zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetz. Die Betriebsräte dürfen, wenn sie in ihren normalen Beruf zurückkehren,
nicht benachteiligt werden. Das steht in § 78 des Betriebsverfassungsgesetzes. Eine ähnliche Regelung könnte ich
mir für die Mütter vorstellen.
({16})
Darüber sollte man nachdenken.
Danke schön.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5038 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis f so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Austauschs von strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Europäischen Union und zur Änderung registerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/5224 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den
Handel mit illegal eingeschlagenem Holz
({1})
- Drucksache 17/5261 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai
2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für
die innergemeinschaftliche Verbringung von
Verteidigungsgütern
- Drucksache 17/5262 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Verteidigungsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 11. Oktober
1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur
- Drucksache 17/5263 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2009 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 17/5264 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung gewerberechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/5312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Netzneutralität im Internet gewährleisten Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten
gesetzlich regeln
- Drucksache 17/5367 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis h auf. Es
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 32 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7})
zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10
- Drucksache 17/5398 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({8})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5398, in den Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten,
Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Fraktion
Die Linke hat sich enthalten, die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.
Tagesordnungspunkte 32 b bis 32 h. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 32 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 242 zu Petitionen
- Drucksache 17/5211 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 243 zu Petitionen
- Drucksache 17/5212 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch SPD und Koalition. Dagegen hat die
Fraktion Die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen
hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 32 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 244 zu Petitionen
- Drucksache 17/5213 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 245 zu Petitionen
- Drucksache 17/5214 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen
und SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Die Sammelübersicht ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 246 zu Petitionen
- Drucksache 17/5215 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Fraktion Die Linke und die Koalitionsfraktionen haben dafür gestimmt, dagegen Bündnis 90/
Die Grünen und SPD. Die Sammelübersicht ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 247 zu Petitionen
- Drucksache 17/5216 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen
und Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke dagegen.
Es gab keine Enthaltung. Die Sammelübersicht ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 248 zu Petitionen
- Drucksache 17/5217 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Koalitionsfraktionen haben dafür gestimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen. Die Sammelübersicht ist angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({6}) zu der Unterrichtung durch die
Deutsche Welle
Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2010
bis 2013
- Drucksachen 17/1289, 17/1485 Nr. 3, 17/5260 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Ulla Schmidt ({7})
Kathrin Senger-Schäfer
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, dass hierzu
eine Dreiviertelstunde debattiert wird. - Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Herrn Staatsminister Bernd Neumann für die Bundesregierung.
({8})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Deutsche Welle, unser Auslandsrundfunk, ist die mediale Visitenkarte Deutschlands in der Welt. Sie vermittelt
das Bild unseres Landes weltweit. Dazu gehört die Darstellung deutscher Sichtweisen und Interessen sowie besonderer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und
Umweltschutz. Die Pflege und Förderung der deutschen
Sprache bleibt ein wichtiges Ziel.
Wenn man weiß, dass ARD und ZDF für ihre Programme jährlich etwa 8,3 Milliarden Euro zur Verfügung haben,
({0})
die Deutsche Welle dagegen mit 283 Millionen Euro im
Jahr auskommen muss und damit Hörfunkprogramme in
30 verschiedenen Sprachen, ein 24-stündiges Fernsehprogramm, ein attraktives Internetangebot und eine Ausbildungsakademie verantwortet, dann ist die Leistung
der Deutschen Welle gar nicht hoch genug zu bewerten.
({1})
Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle und auch dem
Intendanten Bettermann, der heute anwesend ist, einen
herzlichen Dank sagen.
({2})
Aufgrund der rasanten technischen Entwicklung gibt
es einschneidende Veränderungen in der Mediennutzung. Damit der deutsche Auslandssender auch in Zukunft seinem Auftrag gerecht werden kann, ist eine
strukturelle Neupositionierung der Deutschen Welle unabdingbar. Dabei muss die Deutsche Welle in Zukunft
auf eine Stärkung des Internetangebots sowie auf regionale fremdsprachige TV- und Audioangebote setzen.
Eine Reform der Angebots- und Verbreitungsstrategie
der Deutschen Welle ist geboten. Der Sender wird dabei
immer wieder prüfen müssen, auf welchem Übertragungsweg und mit welcher Sprache ein relevantes Publikum gefunden werden kann; denn auf das kommt es ja
an. Die lineare Radioausstrahlung über Kurzwelle wird
mit Ausnahme weniger Regionen wahrscheinlich zu beenden sein.
Die von der Deutschen Welle vorgelegte Aufgabenplanung, über die wir jetzt diskutieren, trägt diesen notwendigen Veränderungen in vollem Umfang Rechnung.
Deswegen hat die Bundesregierung ihr auch zugestimmt. Durch die Neupositionierung der Deutschen
Welle entstehen Synergieeffekte, die sich auch finanziell
auswirken. Wir werden etwaige frei werdende Mittel
aber nicht einsparen, sondern im Haushalt der Deutschen
Welle belassen, um dem Sender auch auf diese Weise zusätzliche Maßnahmen im Hinblick auf Programminnovationen und die Verstärkung der medialen Präsenz
Deutschlands in der Welt zu ermöglichen.
({3})
Zur Verbesserung des Angebots der Deutschen Welle
können - so steht es im Übrigen auch in der Koalitionsvereinbarung - öffentlich-rechtliche und private Medienunternehmen einen Beitrag leisten. Die Bundesregierung
sieht es deshalb als ein sehr wichtiges Ziel an, die Kooperation der Deutschen Welle mit ARD, ZDF und
Deutschlandradio entscheidend zu verstärken.
({4})
Hierin liegt auch ein Schlüssel für eine mögliche Qualitätsverbesserung bei vertretbaren Kosten.
({5})
Dabei könnte zum Beispiel an das Modell
German TV, das, soweit es die Programmbeschaffung
und die Planung anbelangte, durchaus erfolgreich war,
angeknüpft werden.
({6})
Denkbar ist, wie bei German TV ein von ARD, ZDF und
Deutscher Welle besetztes Gremium zu schaffen, das
über die Zulieferung von Programmmaterial und den gemeinsamen Rechteerwerb sowie die Übernahme von
ständigen Formaten berät und dies in Abstimmung mit
den beteiligten Intendanten auch beschließt. Dabei ist
die politische Unterstützung durch die Länder wichtig
und unverzichtbar; sie sind in diesem Bereich auch zuständig. Ich habe deshalb Kontakt mit dem Vorsitzenden
der Rundfunkkommission der Länder - konkret: mit
Staatssekretär Stadelmaier - aufgenommen, um diese
Thematik alsbald gemeinsam erörtern zu können. Erfreulich ist: Es wurde die Bereitschaft zugesagt, dazu
beizutragen, zu besseren Ergebnissen zu kommen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich komme zum letzten
Punkt. In meiner bisherigen, mehr als fünfjährigen
Amtszeit konnte sich die Deutsche Welle auf konstante
finanzielle Rahmenbedingungen verlassen. Ich habe die
drastischen jährlichen Kürzungen der damaligen rot-grünen Bundesregierung sofort beendet.
({8})
Das haben wir zusammen in der Großen Koalition gemacht.
({9})
Wir haben Sie, Frau Kollegin Schmidt, auf den Weg der
Besserung geführt.
({10})
Dies soll auch in Zukunft nicht anders sein. Trotz der
drastischen Sparmaßnahmen im gesamten Bundeshaushalt im Umfang von 80 Milliarden Euro in der mittelfristigen Finanzplanung bis 2014 habe ich für meinen Bereich entschieden, die Größenordnung des Haushaltes
der Deutschen Welle im Wesentlichen beizubehalten,
obwohl er mehr als ein Viertel meines Etats ausmacht.
({11})
Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt zum
Beispiel ein Blick nach Großbritannien, wo wegen der
Wirtschafts- und Finanzkrise Kürzungen beim Auslandssender in der Größenordnung von 20 Prozent geplant sind. Wir stehen zu unserem Ziel, die mediale Präsenz Deutschlands in der Welt durch die Deutsche Welle
zu erhalten und möglichst zu verbessern.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Als Nächste hat
unsere Kollegin Ulla Schmidt von der Fraktion der Sozialdemokraten das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Noch einmal herzlichen Glückwunsch von dieser Stelle aus, dass Sie jetzt
unser neuer Präsident sind!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir erleben heute täglich: Nichts ist globaler als der Austausch
von Informationen und Nachrichten. Weil das so ist, haben auch die Auslandsmedien eine ganz wichtige Aufgabe: als Botschafter, als Wertevermittler und als Informationsträger. Unsere Deutsche Welle spielt im großen
globalen Wettbewerb mit. Die internationale Medienpolitik erfährt große Wertschätzung. Das sehen wir an der
Zunahme der Zahl der Auslandssender. Ob der Iran,
Russland, China, die USA oder eines von vielen weiteren Ländern: Heute versucht jeder, in dieser globalen
Welt, in der Weltöffentlichkeit seinen Platz zu finden
und für sein Land und seine Werte zu kämpfen, damit
wir uns als Freunde in dieser Welt darstellen können.
Hillary Clinton hat in ihrem Parlament engagiert für
mehr Geld geworben und gesagt: Wenn wir nicht handeln und wieder versuchen, eine Rolle zu spielen, sind
wir einem War of Information ausgesetzt. - Das hat
nichts mit Krieg zu tun, sondern es geht einfach darum,
im Kampf um die öffentliche Weltmeinung, im Kampf
um Werte und um Demokratie seinen Einfluss geltend zu
machen. Wenn man das so betrachtet, ist die Deutsche
Welle für uns eine ganz wichtige Stimme in dieser Weltöffentlichkeit. Sie ist das Instrument in diesem Spektrum, das dazu beiträgt, dass wir ein wirklich positives
Deutschlandbild fördern können. Dafür herzlichen Dank
an die Deutsche Welle!
({1})
Die Stärkung dieses Instruments ist der Konsens unserer gemeinsamen Stellungnahme, und ich möchte
mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben.
Wir haben eben vom Staatsminister gehört, dass bei der
Deutschen Welle ein enormer Reformprozess notwendig
ist, um in diesem globalen Wettbewerb mithalten zu
können. Es ist gut, wenn der Bundestag dahintersteht
und klarmacht, dass wir auf diese für uns wichtige
Stimme in der Außenpolitik auch zukünftig nicht verzichten wollen.
Wenn wir unsere Beschlussempfehlung heute verabschiedet haben, sollten wir den Worten Taten folgen lassen. Herr Staatsminister, ich kann Ihnen sagen, dass Sie
von unserer Seite die volle Unterstützung haben, wenn
es darum geht, die Deutsche Welle zu stärken. Sie haben
es gesagt: Sie ist unsere Visitenkarte in der Welt. Es ist
eine Visitenkarte in doppelter Hinsicht. In den Ländern,
in denen es Nutzer der Deutschen Welle gibt, ist das Bild
von Deutschland positiver und differenzierter. Aber die
Deutsche Welle hat auch eine andere Funktion. Sie ist
Botschafterin gesellschaftlicher und kultureller Werte
wie Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit.
({2})
Derzeit wird uns durch die Freiheitsbewegungen in
der arabischen Welt ganz deutlich vor Augen geführt,
wie enorm wichtig die Rolle einer vom Staat unabhängigen Öffentlichkeit für die Entwicklung dieser Gesellschaften ist. Smartphones, Twitter und Facebook, aber
vor allem die mutigen Menschen in den arabischen Ländern tragen dazu bei, dass sich Freiheitsideen und Gedanken über Demokratie verbreiten können. Medien wie
der Deutschen Welle kommt dabei eine ganz bedeutende
und wichtige Funktion zu. Wir vergessen zu leicht, dass
zwei Drittel der Menschen auf dieser Welt in Ländern leben, in denen es keine Informations-, Meinungs- und
Pressefreiheit gibt, wie sie für uns alltäglich sind. Diese
Menschen brauchen Unterstützung, und wir haben im
Ausschuss deutlich gemacht, dass wir sehr froh darüber
sind, dass wir durch die Präsenz der Deutschen Welle in
vielen Ländern, in denen es eine Pressezensur gibt,
durch die Möglichkeit einer umfassenden und pluralistischen Berichterstattung und durch Initiativen wie den
Weblog Award „The BOBs“ und besonders auch durch
die Deutsche-Welle-Akademie mit dazu beitragen können, dass Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus
gefördert werden.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem Intendanten Dank sagen, dass er gegen Zensur und gegen Einschränkungen der Pressefreiheit immer wieder das Wort
ergriffen hat. Das halten wir für richtig, und deshalb vielen Dank dafür!
({3})
Ich begrüße es, dass wir uns in der Stellungnahme darauf einigen konnten, die Deutsche-Welle-Akademie
weiter zu fördern und uns gemeinsam dafür einzusetzen,
dass notwendige ODA-Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden; denn ihr Wirken ist auch ein wichtiger
Beitrag zur auswärtigen Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Welle
hat einen schwierigen Reformprozess hinter sich, und sie
hat noch viele Herausforderungen vor sich. Es ist nicht
einfach, Kostensteigerungen zu bewältigen, wenn der
Haushalt nicht wächst. Wir alle wissen, dass durch Reformen, wie sie in der Deutschen Welle notwendig sind,
auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen großen Veränderungsprozessen unterworfen werden. Das geschieht
allein schon durch die Zusammenlegung von Online-,
Fernseh- oder Radioredaktionen.
Deshalb hat die Sozialdemokratie, auch unsere Fraktion, immer - auch in dieser gemeinsamen Stellungnahme - großen Wert darauf gelegt, dass diese Reform
sozialverträglich und transparent gestaltet wird, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle in
diesem Prozess als Partner auf Augenhöhe gesehen werden und agieren können, dass sie ausreichend informiert
werden und dass es ausreichend Angebote zur Fort- und
Weiterbildung gibt, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu befähigen, auch in anderen Feldern weiterarbeiten zu können; denn unser Ziel ist, dass betriebsbedingte Kündigungen vermieden werden.
Ulla Schmidt ({4})
Ich fordere auch von dieser Stelle aus den Intendanten
und die Gremienmitglieder, von denen einige im Deutschen Bundestag sitzen, auf - ich sehe den Kollegen Fritz
Rudolf Körper aus meiner Fraktion dort sitzen, der ein
sehr engagierter Verfechter der Rechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist; herzlichen Dank dafür -, dass sie
in diesem Prozess darauf achten, dass die notwendigen
Veränderungsprozesse sozialverträglich gestaltet werden.
Ich glaube, das sind wir, auch nach der gemeinsamen
Stellungnahme, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der Deutschen Welle schuldig.
An dieser Stelle danke ich der Deutschen Welle für
ihr Engagement in der Hinsicht, dass die Reform bzw.
Umgestaltung der Deutschen Welle zukunftsgerecht auf
den Weg gebracht wird, um dem technologischen Wandel und dem veränderten Nutzerverhalten gerecht werden und auch im internationalen Wettbewerb um die
Weltöffentlichkeit bestehen zu können. Ich nenne hier
nur einige Stichworte: Zielgruppenausrichtung auf Informationssuchende und Multiplikatoren, mehrsprachige
Programme, Ausbau der Multiplattformstrategie, trimediale Redaktionen. Ich glaube, das ist eine riesige Aufgabe, für die wir unseren Auslandssender stärken müssen.
An dieser Stelle deshalb ein klares Wort: Für diese
Aufgaben - Herr Staatsminister, Sie haben es angesprochen und Ihre Bereitschaft erklärt - braucht die Deutsche
Welle eine sichere finanzielle Basis. Sonst kann sie in
diesem Reformprozess nicht bestehen.
({5})
Herr Staatsminister, deshalb haben Sie unsere Unterstützung, wenn Sie nicht nur in Ihrem Haushalt, sondern
auch gemeinsam mit den Ministern Westerwelle und
Niebel dafür Sorge tragen, dass das notwendige Geld da
ist ({6})
auch dann, wenn manche Reformen zunächst einmal
mehr Geld kosten, als sie einsparen -, damit langfristig
Synergieeffekte erzielt werden können. Das Geld dafür
muss da sein, wenn sich die Deutsche Welle langfristig
behaupten können soll.
In der kommenden Zeit müssen die Koalitionsfraktionen ihren Worten deshalb auch Taten folgen lassen. Wir
werden darauf bestehen, dass die Deutsche Welle nach
dem Deutsche-Welle-Gesetz finanziert wird und dass die
Forderung, mehr ODA-Mittel zur Verfügung zu stellen,
umgesetzt wird.
Dabei kann man die Verantwortung nicht auf einzelne
Haushaltspolitiker schieben, sondern Sie müssen mit der
Mehrheit, für die Sie sorgen müssen, entscheiden. Dabei
haben Sie auf jeden Fall unsere Unterstützung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform und die
entsprechende finanzielle Ausstattung sind ein Muss für
die Deutsche Welle, damit sie den gesamtgesellschaftlichen Auftrag für Deutschland wahrnehmen und unsere
gesellschaftlichen Werte vermitteln kann und damit sie
möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt erreicht.
Dabei ist es egal, ob sie Meinungsmacher, Multiplikatoren aus der Bildungselite erreichen will, ob sie Unternehmer erreichen will, die in Deutschland investieren,
ob sie junge Menschen erreichen will, die sich für
Deutschland interessieren und vielleicht zu uns kommen
wollen, ob sie Touristen informieren oder mutige Freiheitskämpfer unterstützen will.
Wir wollen, dass die Deutsche Welle auch weiterhin
uneingeschränkt den von ihr eingeschlagenen Weg verfolgen und ihre Aufgabe der Unterstützung von Menschen, die für Freiheit kämpfen, gerade in den Transformationsstaaten, wahrnehmen kann. Deswegen sage ich
der Deutschen Welle hier die uneingeschränkte Unterstützung durch die SPD-Fraktion zu.
Ich bedanke mich.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. - Als
Nächster steht unser Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
von der Fraktion der FDP auf der Rednerliste.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister
Neumann! Sehr geehrter Herr Intendant Bettermann!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine russische Teilnehmerin des Internationalen Parlaments-Stipendiums
erzählte mir, Herr Kollege Börnsen, neulich begeistert,
wie sie die Programme der Deutschen Welle im
Deutschunterricht ihrer Schule kennen- und schätzen gelernt hat. Inzwischen spricht sie die deutsche Sprache
längst fließend und schätzt umso mehr die journalistischen Angebote der Deutschen Welle wie DW-TV und
das Internetportal DW-World.
Ihr Beispiel zeigt: Die Deutsche Welle wirkt, und sie
lebt, und das seit über 50 Jahren. Die Deutsche Welle erreicht mit ihren verschiedenen Angeboten wöchentlich
86 Millionen Menschen - das ist mehr als die Einwohnerzahl Deutschlands - und gilt in Umfragen als vielfältig und glaubwürdig. Darauf können wir stolz sein. Mit
ihrem Auftrag zur Wertevermittlung orientiert sie sich an
unseren außenpolitischen Interessen und bewahrt gleichzeitig durch eine staatsferne Organisation ihre journalistische Glaubwürdigkeit.
({0})
Die Deutsche Welle ihrerseits hat mit ihrer Aufgabenplanung und den darüber hinausreichenden Konzepten
auf die veränderte Medienlandschaft reagiert und wird
sich zukünftig noch mehr auf ihre Kernkompetenz und
ausgewählte Zielgruppen konzentrieren. Nach wie vor
besteht ein großes Finanzierungsdefizit - das wollen wir
nicht verheimlichen -, dem die Deutsche Welle mit Konsolidierungsmaßnahmen wirksam begegnet und begegnen wird. Da kaum weiterer Spielraum besteht, ist nunmehr eine umfassende Strukturreform erforderlich.
Die von der Deutschen Welle vorgeschlagene Neuausrichtung ist zukunftsweisend und verdient unser aller
Unterstützung und Respekt.
({1})
Sie wird nicht von uns aufgezwungen, sondern stammt
aus dem eigenen Hause.
Meine Bitte um Unterstützung richte ich an dieser
Stelle aber auch an die Abgeordnetenkollegen in den
Bundesländern, damit schnellstmöglich ein Modell für
die lizenzkostenfreie Nutzung von Produktionen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entwickelt wird.
({2})
Hier werden der Deutschen Welle nach meiner Meinung
völlig unnötig hohe Kosten aufgebürdet.
({3})
Der Weg, den die Deutsche Welle mit ihren Reformvorschlägen beschritten hat, ist noch lang und vor allem
steinig. Damit der Umbau hin zu schlankeren und effektiveren Strukturen gelingt, müssen alle Bereiche einbezogen werden. Die erfolgreiche Programmarbeit beweist
das Vertrauen zwischen der Senderführung - ich meine
damit nicht nur die Intendanz, sondern alle Leitungsfunktionen - und den Mitarbeitern. Wir haben deswegen
keine Sorge, Frau Kollegin Schmidt, bezüglich der Sozialverträglichkeit der notwendigen Maßnahmen. Aber
darauf sollte man in jedem Fall achten. Zur Qualität gehört auch, dass alle Mitarbeiter zufrieden sind.
Auch bei dem Reformkurs bei der Programmgestaltung braucht die Deutsche Welle starken Rückenwind.
Wir Liberalen begrüßen dabei vor allem die Konzentration auf Kernaufgaben. Wir wollen der Deutschen Welle
sowohl in der Programm- als auch in der Verbreitungsstrategie einen Gestaltungsspielraum einräumen, damit
sie die jeweilige Zielgruppe, auf die es uns ankommt,
bestmöglich erreichen kann.
Für uns ist das Angebot von 30 Sprachen kein
Dogma. Ausgangspunkt soll immer die Erreichbarkeit
der avisierten Zielgruppe sein. Wichtig ist für uns die
Zielgruppe in den Kernregionen. Hier ist meiner Meinung nach eine neue Schwerpunktsetzung notwendig.
Die Deutsche Welle bietet Hörfunk auf Griechisch an,
musste aber die Fernsehnachrichten für Afghanistan
trotz sehr erfreulicher Quoten einstellen. Ich glaube, dieses Sprachregime gehört außenpolitisch auf den Prüfstand.
Entsprechendes gilt für die Einstellung von Übertragungswegen. Frau Kollegin Schmidt, Sie hatten gerade
von Nutzern statt von Zuhörern oder Zuschauern gesprochen. Durch diesen Versprecher - oder vielleicht war es
ja auch Absicht - haben Sie die neue Strategie der Deutschen Welle vorweggenommen.
Die Deutsche Welle ist unsere Visitenkarte, unser
Schaufenster über Deutschland in die Welt. Erlauben wir
ihr ein zeitgemäßes Programm und zeitgemäße Übertragungswege!
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste spricht unsere Kollegin Kathrin Senger-Schäfer von der Fraktion
Die Linke. - Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Deutsche Welle ist eine gemeinnützige
Anstalt des öffentlichen Rechts für den Auslandsrundfunk. Gesetzlich ist sie dazu verpflichtet, alle vier Jahre
eine Aufgabenplanung zu erstellen. Genau deshalb sind
auch wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier,
dazu verpflichtet, zu dieser Planung selbst Stellung zu
nehmen.
Was bedeutet das nun für das Parlament bis 2013? Für
das Parlament waren - das ist schon öfter angesprochen
worden - die Unabhängigkeit des Journalismus und die
Staatsferne des Rundfunks bislang zu Recht das Fundament für die Meinungsbildung mündiger Bürgerinnen
und Bürger. Beides soll nun allerdings auf einmal nicht
mehr gelten. Sie, meine Damen und Herren der Koalition, fordern, dass die Deutsche Welle mit den Ministerien zusammenarbeitet, die für die deutsche Außenpolitik zuständig sind, mit dem Auswärtigen Amt sowieso,
aber auch mit dem Verteidigungs- und mit dem Wirtschaftsministerium. Die Bedürfnisse der deutschen Außenpolitik sollen sich mit den Möglichkeiten des Senders verbinden. Bei den Schwerpunkten der medialen
Präsenz sollen außenpolitische Interessen beachtet werden. Im Klartext heißt das doch, dass die Journalistinnen
und Journalisten augenscheinlich ihre Sendemanuskripte
den genannten Ministerien vorlegen sollen.
({0})
Was aber hat das mit unabhängigem Journalismus zu
tun? Das fasse ich nicht. Erklären Sie es mir bitte! Zusammenarbeit mit Ministerien, Verbindung von Bedürfnissen, Beachtung von Interessen, das ist doch nichts anderes als ein Eingriff in die journalistische Freiheit.
({1})
Ich sage: Wenn Ministerialbeamte den Journalistinnen
und Journalisten den Griffel führen, ist von journalistischer Freiheit keine Rede mehr. Frau Schmidt, journalistische Freiheit sieht für uns anders aus. Pressefreiheit und
unabhängiger Journalismus lassen sich nicht mit außenpolitischen Aufgaben, die von Ministerien diktiert werden, verbinden.
({2})
Wenn ich außerdem lesen muss, dass die Bundesregierung die Deutsche Welle als „mediales Instrument zur
Positionierung Deutschlands angesichts veränderter Rahmenbedingungen auf den internationalen Medienmärkten“ betrachtet, dann kann ich kaum davon ausgehen,
dass es sich hier um einen sprachlichen Lapsus handelt.
Sie reden wirklich davon, dass der Auslandsrundfunk ein
mediales Instrument ist. Sie reden darüber so, als hätten
Sie inzwischen Eingriffsrechte, als wäre es selbstverständlich, den Journalistinnen und Journalisten staatlicherseits vorzuschreiben, was sie über das deutsche Auslandsbild zu berichten haben. Das finde ich unglaublich.
({3})
Ich frage Sie: Welche Auffassung von Staatsferne
schwebt Ihnen denn hier vor? Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Fall Nikolaus Brender, der aufgrund politischen Drucks vonseiten der CDU seinen Hut
als ZDF-Chefredakteur nehmen musste.
({4})
- Dazu komme ich gleich. - Ich erinnere auch daran,
dass Ulrich Wilhelm, der Pressesprecher von Angela
Merkel war, heute Intendant des Bayerischen Rundfunks
ist. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass das politische
Geschrei 2008 um die angeblich tendenziöse China-Berichterstattung der Deutschen Welle nicht dazu beigetragen hat, die Unabhängigkeit des Senders zu stärken.
Das, was die Bundesregierung hier auf den Tisch gelegt hat, wird von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. Das verstehe ich überhaupt nicht.
({5})
Meine Fraktion fordert dagegen in ihrem Änderungsantrag, dass der Deutschen Welle die journalistische Unabhängigkeit ohne Wenn und Aber garantiert wird. Das
heißt konkret: keinerlei Vorschriften zur Zusammenarbeit mit Ministerien, keine Vorschriften zur Beachtung
von außenpolitischen Interessen, von niemandem.
Der Vorschlag von Schwarz-Gelb verstößt eindeutig
gegen das Deutsche-Welle-Gesetz. Ich zitiere aus § 4 a
Abs. 1:
Die Deutsche Welle erstellt in eigener Verantwortung unter Nutzung aller für ihren Auftrag wichtigen Informationen und Einschätzungen, insbesondere vorhandenem außenpolitischen Sachverstand,
eine Aufgabenplanung für einen Zeitraum von vier
Jahren.
Auch Sie, meine Damen und Herren, müssen sich an
dieses Gesetz halten. Wenn Sie jedoch inzwischen der
Meinung sind, dass sich journalistische Unabhängigkeit
und Staatsferne mit dem Begriff des „medialen Instruments“ decken, dann müssen Sie mir einmal Ihre neue
Definition von Rundfunkhoheit erklären.
Die Linke jedenfalls wird dem vorliegenden Entschließungsvorschlag nicht zustimmen. Es ist nicht so,
dass nicht auch wir die Deutsche Welle wertschätzen,
aber wir stehen für unabhängigen Rundfunk ohne Wenn
und Aber.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächste hat unsere
Kollegin Tabea Rößner von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Rößner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Bettermann! Der Staatsminister
hat schon das Bild von der „modernen medialen Visitenkarte Deutschlands in der Welt“ gezeichnet. Eine Visitenkarte, die alles leistet, was die Deutsche Welle als
Auslandssender laut Gesetz leisten soll, müsste ungefähr
so aussehen: gedruckt auf schwerem Diplomatenkarton
mit schicker Prägung und Goldrand, Hologramm womöglich, und auf Knopfdruck spricht sie den Text in
30 Sprachen.
So ungefähr sehen die Aufgabenplanung der Deutschen Welle und ihr Auftrag aus: Sie soll die Medienpräsenz Deutschlands im Ausland sicherstellen, sie soll die
Positionen und Werte Deutschlands vermitteln, demokratische Entwicklungen, einen rechtsstaatlichen Staatsaufbau in der Welt sowie die deutsche Sprache und Kultur fördern. Zusätzlich soll sie auch noch einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit leisten sowie den Tourismus fördern. Das ist ein ganz schön
breites Portfolio. Natürlich ist das ein legitimer Wunsch
der Politik; aber die Deutsche Welle ist nicht der
Wunschbrunnen der Nation, sondern sie ist unser Auslandssender und trotz ihrer schwierigen Lage ein sehr
guter.
({0})
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten hervorragende Arbeit, um alle Anforderungen zu erfüllen. Regelmäßig werden Programmbeiträge der Deutschen
Welle mit Preisen ausgezeichnet. Die Journalistenausbildung dort hat einen ganz ausgezeichneten Ruf. Aber die
Politik macht es dem Sender mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht gerade leicht, wenn nicht gar unmöglich, allen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu
werden; denn eines ist klar: Das Budget des Senders
steht in keinem Verhältnis zu der breiten Palette von Anforderungen. Deshalb müssen wir uns sehr deutlich die
Frage stellen: Was soll und kann die Deutsche Welle für
das Geld, das sie bekommt, tatsächlich leisten?
Mehr Geld? Das ist angesichts der Haushaltssituation
unrealistisch und schwierig. Wenn man viel will, aber
nur wenig investiert, besteht immer die Gefahr, dass vor
allem eines darunter leidet: die Qualität. Im Fall der
Deutschen Welle wäre das vor allem die Qualität des
Journalismus oder der Ausbildung. Damit genau das
nicht passiert, hat der Intendant einige sehr vernünftige
Vorschläge vorgelegt, wie die Deutsche Welle zukunftsfähig gemacht werden kann.
Es ist eine richtige Entscheidung, Schwerpunkte zu
setzen, sowohl regional als auch im Hinblick auf das
Programm, die Übertragungswege und die Zielgruppen,
die der Sender erreichen will. Dabei setzt die Deutsche
Welle stark auf das Internet. Das wurde eben schon erwähnt. Sie passt sich also einer veränderten Mediennutzung in den allermeisten Teilen der Welt - das muss man
dazu sagen - an. Das ist richtig. Sie muss aber auch aufpassen, dass sie in den unendlichen Weiten des Internets
gut sichtbar und auffindbar ist. Gerade in Transformationsstaaten wie jetzt im arabischen Raum - das haben
wir gesehen - oder in Schwellenländern sind die Menschen politisiert, sie wollen diskutieren. Dort muss die
Deutsche Welle zum Beispiel auch in sozialen Netzwerken präsent sein, interaktive Angebote machen und politische Debatten multimedial begleiten. Positive Beispiele dafür gibt es bereits, zum Beispiel die Portale der
Deutschen Welle in Farsi oder die Dialogplattform Qantara.
Tagesaktuelle Berichterstattung, zumal in Krisensituationen, kann die Deutsche Welle mit ihrem Budget nur in
Ansätzen leisten. In diesem Zusammenhang bin ich sehr
froh über das eindeutige Signal, das von unserer Beschlussempfehlung ausgeht, dass nämlich die öffentlichrechtlichen Sender aufgefordert werden, enger mit der
Deutschen Welle zusammenzuarbeiten.
({1})
Herr Staatsminister, wenn Sie diesen Weg zusammen mit
den Ländern gehen, dann haben Sie unsere Unterstützung. Das betrifft die Übernahme von Sendungen aus
dem öffentlich-rechtlichen Programm, vor allem den Zugriff auf das Korrespondentennetz und die Infrastruktur.
Ich hoffe, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen entgegenkommend zeigen. Dies wäre nicht nur für die Deutsche
Welle ein großer Gewinn.
({2})
Die vorliegende Beschlussempfehlung soll meinem
Verständnis nach vor allem eine Wirkung haben: dem Intendanten bei seinen Reformbemühungen den Rücken zu
stärken. Die Unruhe, die in der Deutschen Welle vorhanden ist, wurde schon angesprochen. Diese Unruhe ist
verständlich. Wenn eine große Umorganisation eines
Unternehmens geplant ist, dann sorgt das für Verunsicherung der Beschäftigten, gerade wenn damit möglicherweise der Abbau von Arbeitsplätzen verbunden ist.
Ich habe nach Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Welle die begründete Hoffnung,
dass die Führungsebene und das Personal gemeinsam einen guten Weg gehen werden. Ein solcher Wandel kann
nämlich nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen,
und zwar in eine Richtung.
Unstrittig ist bei allen Beteiligten, dass sich die Deutsche Welle an die finanziellen und medienpolitischen
Gegebenheiten anpassen muss, damit sie ihre Aufgaben
weiterhin erfüllen kann. Dabei können wir als Gesetzgeber sie unterstützend begleiten, indem wir ihr Aufgabenprofil besser spezifizieren und auch priorisieren. Wir
sollten unsere mediale Visitenkarte etwas schlichter, dafür aber klar und übersichtlich gestalten. Dann könnte
sich die Deutsche Welle ganz auf das konzentrieren, was
sie am allerbesten kann: journalistisch gut arbeiten.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster spricht er ist schon auf dem Wege hierher, also bevor er aufgerufen wurde - Kollege Reinhard Grindel. Bitte schön, Kollege Reinhard Grindel, für die Fraktion CDU/CSU.
Lieber Herr neugewählter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass die Entschließung, die
wir vorlegen, durch und durch ehrlich ist. Wir sagen
nämlich: Die Mittel für die Deutsche Welle werden stabil bleiben; aber es wird in den kommenden Jahren auch
nicht viel mehr geben, und das ist eigentlich zu wenig,
um all das zu leisten, was die Deutsche Welle leisten
könnte, leisten müsste. - Wenn man ehrlich ist, dann
muss man sagen: Als wir das letzte Mal hier im Bundestag über die Aufgabenplanung der Deutschen Welle gesprochen haben, sind alle möglichen Prioritäten formuliert und Wünsche angemeldet worden. Mit all dem ist
die Finanzausstattung im Grunde nicht in Deckung zu
bringen. Jetzt machen wir das, was die Mitarbeiter der
Deutschen Welle und auch ihr Intendant erwarten können: Wir sagen, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollen.
Der erste Schwerpunkt liegt bei den Übertragungswegen. In der Tat, die Zukunft der Deutschen Welle liegt im
Fernsehen, und bei DW-World, also im Onlineangebot.
Gerade in diesen Tagen erleben wir, dass die Kraft der
Bilder einfach durch nichts zu ersetzen ist. Wenn wir unsere Sicht auf die Probleme der Welt vermitteln wollen,
dann kommen wir nicht darum herum, bei der Auseinandersetzung auch auf die Wirkkraft der Bilder zu setzen
und dieses Medium besonders zu bedienen. Die große
Bedeutung der Onlineangebote ist hier schon genannt
worden.
Angesichts des Lobs, das vielfach gespendet worden
ist, will ich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass vor allen Dingen DW-World in den letzten Jahren ein hervorragendes Angebot präsentiert hat. Ich will darüber
hinaus deutlich sagen: Dass das dortige Programm zunächst in englischer Sprache präsentiert wird, ist ebenfalls richtig. Der zweite Schwerpunkt, den wir setzen, ist
nämlich, dass wir uns auf diejenigen Informationssuchenden konzentrieren, die wir in erster Linie erreichen wollen: auf ausländische Multiplikatoren,
({0})
auf Menschen, die in Deutschland studiert haben, die
sich für Deutschland interessieren und die für demokratische Anregungen, für demokratisches Gedankengut, für
Stellungnahmen aus demokratischen Ländern offen sind,
die wissen wollen, wie wir die großen Herausforderungen der Welt bestehen wollen.
Es ist eben nicht mehr der Deutsche im Ausland, auf
den sich die Deutsche Welle konzentrieren muss;
schließlich kann er in fast allen Ecken der Welt die Sender, die ihn interessieren, über die Onlineangebote verfolgen. Die Satellitentechnik ermöglicht es, viele deutsche Fernsehsender im Ausland zu empfangen. Der
Deutsche im Ausland wird von dem Informationsmedium bedient, auf das er sich auch in Deutschland stützt.
Insofern ist es eben der ausländische Multiplikator - derjenige, der sich im Ausland für Deutschland interessiert -,
den wir in erster Linie erreichen wollen. Deswegen ist es
richtig, das Angebot von DW-World auf Englisch zu präsentieren.
Drittens sollten wir Schwerpunkte in bestimmten Regionen setzen. Wir können nicht alle Regionen in gleicher Weise bedienen, sondern wir müssen Schwerpunkte
setzen. Dabei handelt es sich - das muss man gerade in
diesen Tagen nicht besonders begründen - um den arabischen Raum, um Afrika, um Lateinamerika und, wie wir
ausdrücklich sagen, um Russland. Es handelt sich nicht
um Südosteuropa und die anderen osteuropäischen Länder. Das heißt wohlgemerkt nicht - das ist in manchen
öffentlichen Debatten ein bisschen durcheinander gegangen -, dass wir auf Sprachen verzichten würden. Wir
bleiben bei dem Sprachenangebot - den 30 Sprachen im Internet.
({1})
Aber gerade was unsere Fernsehangebote angeht, setzen
wir Schwerpunkte. Das ist auch richtig.
Ich meine übrigens - das ist vielleicht ein neuer Gedanke -, dass wir auch bei unseren Fernsehangeboten regionsspezifische Sendungen brauchen. In Bezug auf die
zentrale Informationssendung Journal der Deutschen
Welle können heute journal oder die Tagesthemen nicht
die Benchmark sein. Ein Koalitionsstreit ist schon beim
heute journal nicht schön; aber im DW-Journal hat der
überhaupt nichts verloren; denn die Menschen im arabischen Raum, in Afrika oder Lateinamerika interessiert
das nicht. Die interessiert - gerade in Asien -, wie wir
die erneuerbaren Energien nutzen und welche wirtschaftlichen Antworten wir auf die Finanz- und Weltmarktkrise geben.
Ganz aktuell wäre zum Beispiel von Bedeutung, dass
wir breit über die Fußballweltmeisterschaft der Frauen
berichten, dass wir auch berichten, dass Frauen und
Mädchen gerade mit Migrationshintergrund in unseren
Vereinen ein ganz normaler Teil der Gesellschaft sind
und sich hier - ob mit oder ohne Kopftuch - verwirklichen.
({2})
Insofern erwarte ich, dass nicht nur zur Primetime das
Journal in der entsprechenden Sprache gesendet wird;
die auf die meiste Akzeptanz stößt, wir sollten auch
überlegen, dass unser Angebot im Fernsehbereich für
Asien ein anderes sein muss als für Afrika oder Lateinamerika.
Lassen Sie mich ein Letztes zur „Deutsche-WelleAkademie“ sagen. Ich finde das, was dort geleistet wird,
unendlich wertvoll. Die anwesende Staatssekretärin aus
dem Entwicklungshilfeministerium darf ich ermuntern,
sich dort finanziell noch mehr zu engagieren.
({3})
Es gibt manchmal die Diskussion über die Frage: Dürfen
wir Journalisten aus Diktaturen, die bei Staatssendern arbeiten, ausbilden? Ich bekenne mich ausdrücklich dazu:
Ja, auch die wollen wir ausbilden;
({4})
denn es macht Sinn, dass ihnen gezeigt wird, wie demokratischer Journalismus funktioniert. In den Wochen, in
denen sie in der Akademie sind, soll ihnen ein bisschen
Freiheit um die Nase wehen. Vor allen Dingen sollen sie
einen Austausch mit anderen Journalisten aus Ländern
mit einer freien Presse bzw. Meinungsfreiheit haben, um
sich ein bisschen abzuschauen, wie es sein kann, wenn
man ohne Zwang und Zensur seiner Profession nachgeht. Insofern sage ich ausdrücklich: Es ist auch in Ordnung, wenn die Deutsche-Welle-Akademie Journalisten
aus Diktaturen ausbildet; denn das kann dazu führen,
dass demokratischer Geist in diese Sender - auch wenn
sie dem Staat gehören - einzieht.
({5})
Der Deutschen Welle und ihren Mitarbeitern herzlichen Dank. Ich sage natürlich auch dem Staatsminister
herzlichen Dank dafür, dass er die Deutsche Welle nicht
zum Steinbruch seines Kulturhaushalts gemacht, sondern
sie gestärkt hat. Das ist wichtig, und das ist gut für unser
Schaufenster in die Welt.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Reinhard Grindel. - Als Nächster spricht unser Kollege Patrick Kurth für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister! Hallo, Frau Grütters! Herr
Staatsminister, wir alle haben eigenständig - nicht voneinander abgeschrieben - ein Zitat in unsere Reden eingestreut, nämlich dass die Deutsche Welle die mediale
Visitenkarte Deutschlands ist. Wenn das so viele unabhängige Institutionen sagen, muss tatsächlich etwas daran sein.
Ich will einige ergänzende Gedanken vortragen. Die
Deutsche Welle ist auch ein ganz wichtiger Akteur in der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie ist eine
Botschafterin und eine Diplomatin Deutschlands im
Ausland. Somit gehört auch sie in starkem Maße - das
Patrick Kurth ({0})
dürfen wir nicht vergessen - zur Außenpolitik Deutschlands. Sie ist vorrangig im Ausland aktiv.
Deswegen ist es nur richtig, dass das vorgelegte Konzept zur Neuausrichtung des Senders auch auf die Netzwerkbildung abstellt. Uns fällt öfter auf, dass die deutschen Netzwerke im Ausland nicht funktionieren.
Unterschiedliche Institutionen sind im Ausland vor Ort,
kommunizieren aber wenig miteinander. Das wollen wir
ändern. Das ist notwendig. Deswegen ist es auch richtig,
dass es zum Beispiel zu einer stärkeren Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit dem Bundeswirtschaftsministerium, mit
dem Verteidigungsministerium und eben auch mit dem
Auswärtigen Amt kommt.
Es ist schon seltsam, wenn hier so stark der Vorwurf
der Staatsnähe erhoben wird. Es sagt auch viel über Ihr
Gesellschaftsbild, über Ihr Bild von einer Gesellschaftsordnung aus,
({1})
wenn Sie glauben, dass unabhängige Journalisten, die
bei der Deutschen Welle arbeiten, plötzlich in Kadavergehorsam verfallen, nur weil nach der Konzeption auch
mit den Ministerien zusammengearbeitet werden soll,
die im Ausland aktiv sind. Ich kann Ihnen sagen: Wir
sind hier in einem freien Land. Die Journaille ist frei und
bleibt es auch bei der Deutschen Welle.
({2})
Bei der Neuausrichtung müssen wir natürlich beachten, dass die Deutsche Welle in den letzten 10, 15 Jahren
eine Entwicklung mitgehen musste, die die gesamte Medienlandschaft durchlebt hat, und dass es gerade im Ausland - Kollege Grindel hat darauf hingewiesen - ein verändertes Konsumentenverhalten gibt. Die Deutschen im
Ausland versammeln sich nicht mehr allabendlich vor
den Rundfunkempfangsgeräten und hören die Deutsche
Welle, um Nachrichten aus der Heimat zu erhalten. Man
kann jetzt fast überall auf der Welt heute.de, tagesschau.de oder sogar regionale Programme wie das Thüringen Journal empfangen
({3})
und ist dann bestens informiert.
Ich glaube vor allen Dingen, dass wir nicht nur diejenigen für das Angebot interessieren müssen, die zum
Beispiel einmal als Ausländer hier in Deutschland waren. Mir scheint sehr wichtig zu sein, auch an diejenigen
zu denken, die ein Interesse an der deutschen Sprache
haben, die ihre Kenntnisse der deutschen Sprache vielleicht wieder auffrischen wollen, die über die deutsche
Sprache mehr wissen möchten oder die dabei sind, die
deutsche Sprache zu lernen. Viele von uns schauen sich
englische Nachrichten an, um so ihren englischen Wortschatz zu erweitern. Entsprechend kann man sagen, dass
man im Ausland über die Deutsche Welle aktiv an der
deutschen Sprache Anteil haben kann.
Ich glaube, man muss darüber nachdenken, ob die
Programminhalte bei der Deutschen Welle nicht viel
stärker auf das ausgerichtet werden können, was bei den
öffentlich-rechtlichen Sendern ohnehin vorhanden ist.
Ich denke an Die Sendung mit der Maus - im Ausland,
auf Deutsch -, Löwenzahn, Trickfilmserien, Sketchsendungen oder Ähnliches. Das meine ich nicht im Scherz.
Ich glaube, dass wir darüber die Attraktivität der Deutschen Welle im Ausland für Ausländer stärken und insofern auch für die deutsche Sprache etwas leisten können.
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der Letzte auf unserer
Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Wolfgang Börnsen für die Fraktion CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Wolfgang Börnsen.
({0})
Herr Präsident Oswald! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Im Mai 1953 ging die Deutsche Welle erstmals auf Sendung. Es war einer Ihrer Kollegen, Theodor
Heuss, der ein rein deutsches 3-Stunden-Programm eröffnete. Er plädierte damals für eine Entkrampfung der
Außenbeziehungen der jungen Bundesrepublik, für eine
mediale Brücke zu den Deutschen im Ausland. Von Beginn an verstand sich die Deutsche Welle als Stimme der
Freiheit. Heute, fast 60 Jahre später, hat sich die Aufgabenstellung ebenso gewandelt wie der Stellenwert der
Deutschen Welle. Aber der Freiheitssender ist sie geblieben. Gut so!
({0})
Heute steht der Rundfunk im weltweiten Wettbewerb
mit 24 anderen Staaten. 1992 gab es nur zwei weitere
Fernsehstationen, nämlich BBC World und CNN. Jetzt
kommt die mediale Konkurrenz nicht mehr aus Europa
oder Nordamerika allein; mit Macht melden sich Russland, die arabischen Staaten und besonders die Volksrepublik China auf der Weltbühne der Meinung.
Das sind Länder mit anderen Weltanschauungen,
Länder mit anderen Wertvorstellungen, Länder, die auf
die Freiheit nicht achten, die den Parlamentarismus
missachten, Länder, die Menschen- und Bürgerrechte in
die Ecke stellen; die Deutsche Welle setzt dagegen. Gut
so!
({1})
Sie ist unser mediales Fenster. 86 Millionen Menschen weltweit erfahren wöchentlich durch sie unsere
demokratischen Werte. 86 Millionen Menschen werden
über Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit in unseWolfgang Börnsen ({2})
rem Land informiert. 86 Millionen Menschen werden
über die Wirkung der sozialen Marktwirtschaft unterrichtet. 86 Millionen Menschen erhalten einen Eindruck
davon, was made in Germany praktisch bedeutet. Die
Deutsche Welle bringt ein breites Bild über den Lebens-,
Kultur- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Das nützt
uns als Exportnation, das dient der Reputation unseres
Landes. Gut so!
({3})
Doch die Konkurrenz schläft nicht. Sie rüstet massiv
auf. BBC World erhält jährlich 293 Millionen Euro.
Washington investiert 570 Millionen Dollar. Russland hat
seine Ausgaben verdreifacht. Dem chinesischen Auslandsrundfunk stehen nach Auskunft von Experten 6 Milliarden Dollar zur Verfügung. Und wie ist es bei uns hier
in Deutschland? Über Jahre wurde unser Auslandssender
- das muss ich Ihnen leider sagen - unter Außenminister
Fischer der Steinbruch für den Bundeshaushalt. Es handelte sich um fast 70 Millionen Euro. Von den radikalen
Kürzungen der rot-grünen Jahre hat sich der Sender bis
heute nicht erholt. Die Wende kam mit Staatsminister
Bernd Neumann.
({4})
Derzeit beträgt der Bundesbeitrag 375 Millionen Euro.
Von den globalen Minderausgaben wurde der Sender
ausgenommen. Das hat dem Sender 30 Millionen Euro
gebracht. Aus dem Konjunkturprogramm II erhielt der
Sender 7 Millionen Euro, zusätzlich erhielt er von 2008
bis 2011 eine Erhöhung seines Budgets von 4 Millionen
Euro jährlich.
Herr Kollege Börnsen, wenn Sie einmal kurz durchschnaufen würden: Der Kollege Koppelin hat eine Zwischenfrage an Sie.
Für den Schleswig-Holsteiner bin ich gern bereit,
Herr Präsident. Auch für andere.
Gut. - Bitte schön, Herr Kollege Koppelin.
Lieber Kollege Börnsen, ich schließe mich dem Lob
an den Staatsminister gern an. Darf ich fragen, ob das
Lob auch für die Haushälter der Koalition gilt, die sich
dafür eingesetzt haben?
Jürgen Koppelin, das gilt ganz besonders für das Parlament.
({0})
Die Haushälter repräsentieren das Parlament.
({1})
- Ich bin doch noch gar nicht fertig. Das gilt für die
Haushälter aller Fraktionen,
({2})
die hinter den Überlegungen von Jürgen Koppelin standen. Nur durch deren Rückenstärkung konnte er jetzt
hier diesen bedeutenden Auftritt haben.
({3})
Ganz ernsthaft, Herr Koppelin: Damit wird dokumentiert, dass das Parlament zu seinem Auslandsrundfunk
steht.
({4})
Damit wird auch dokumentiert, dass das Parlament um
die Wirkung des Senders und um die Qualität der Mitarbeiter weiß. Wir wissen: Der Auslandsrundfunk ist eine
Werbung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und
die deutsche Gesellschaft. Dieser Auslandsrundfunk ist
nicht ersetzbar. Er braucht nach unserer Auffassung eine
Zukunft. Deshalb sage ich Dank für die Mittel aus dem
Haushaltsausschuss.
({5})
Ich gebe meinen beiden Vorrednern recht, dass es zu
Reformen kommen muss. Doch wenn es zu Reformen
kommt, dann dürfen weder der Standort Bonn noch der
Standort Berlin Verlierer der Reform werden. Was die
Kompetenz, die Reputation und die Qualität angeht, ist
die Deutsche Welle für die Zukunft durchaus kraftvoll
aufgestellt. Darüber hinaus sprechen sieben Pluspunkte
für Deutschlands Außensender:
Motivierte Mitarbeiter und eine hohe Qualität der Berichterstattung mit Erik Bettermann, der heute mehrfach
genannt wurde. Er hat heute einen besonders guten Tag.
Durch ihn und sein Team gibt es eine Intendanz mit
Kompetenz und diplomatischem Durchsetzungsvermögen. Es gibt eine Sendeleistung in 30 Sprachen, wobei
die Kernbotschaft in deutscher Sprache ist, und das ist
gut für 20 Millionen Menschen, die weltweit Deutsch
lernen,
({6})
eine Akademie mit exzellenter Ausbildung. - Das alles
spricht für die Deutsche Welle.
Ein achter Pluspunkt könnte dazukommen, nämlich
dann, wenn aus der losen Kooperation mit ARD und ZDF
eine echte Zusammenarbeit wird, aber wirklich auf Augenhöhe. Das brauchen wir in Zukunft. Am kurzen Zügel
darf die Deutsche Welle nicht gehalten werden. Mehr
Programmüberlassung, mehr Nutzungsrechte für Ausstrahlungen im Ausland und eine Einbindung des Korrespondentennetzes würden die weltweite Wirkung deutlich
verbessern.
Wolfgang Börnsen ({7})
Um Nägel mit Köpfen zu machen, plädieren wir für
die Einrichtung einer Bund-Länder-Rundfunkkonferenz. Dem Staatsminister danken wir dafür, dass er hierfür das richtige Gespür hatte und, wie er sagte, bereits
die ersten Gespräche mit den Ländervertretern aufgenommen hat. Auch die Länder müssen wissen: Es nützt
dem gesamten Land, wenn wir den Auslandsrundfunk
stärken. Das stärkt den Wirtschaftsstandort, das stärkt
die Arbeitsplätze, das stärkt die Exportnation, das stärkt
letzten Endes insgesamt unsere Stellung in der Welt.
({8})
Aber: Wir erwarten eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Dazu muss es kommen. Deshalb braucht dieser
Sender - das ist heute auch praktiziert worden - die Unterstützung des gesamten Parlamentes. Ich bedanke mich
bei allen, die mit dazu beigetragen haben, und bei den
Autoren aus meiner Fraktion und auch aus der FDPFraktion, die eine kluge, gewissenhafte und ehrliche
Vorlage erarbeitet haben.
Herzlichen Dank und Glück auf für die Deutsche
Welle!
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und
Medien zu der Unterrichtung durch die Deutsche Welle
über ihre Aufgabenplanung 2010 bis 2013. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5260, in Kenntnis der Unterrichtung auf
Drucksache 17/1289 eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters
- Drucksache 17/2096 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Hartmann ({1}), Sören Bartol, Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Mehr Transparenz beim Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung - Bericht des
Bundesrechnungshofes vollständig umsetzen
- Drucksache 17/5230 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({3}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz schaffen - Verbindliches Register
für Lobbyistinnen und Lobbyisten einführen
- Drucksache 17/2486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
unser Kollege Raju Sharma von der Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege.
({5})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! „Ich danke den Wählerinnen und Wählern für ihr Vertrauen“ ist ein oft zitierter Satz nach Wahlen. Tatsächlich ist Vertrauen die Grundlage von Politik;
denn Wähler vertrauen darauf, dass wir ihre Interessen
wahrnehmen. Transparenz ist dafür die Grundlage.
Durch Politik nach dem Motto „Was schert mich mein
Geschwätz von gestern“, ein Satz, der Konrad Adenauer
zugeschrieben wird, leidet das Vertrauen der Bürger in
die Politik. Es ist bereits jetzt schwer beschädigt. Die
Folgen sind Wahlenthaltung, Flucht in außerparlamentarische Aktivitäten und vieles mehr.
Auch mangelnde Transparenz ist ein Grund dafür. Bekannt ist der Fall Hennenhöfer. Er leitete unter der Umweltministerin Angela Merkel die Abteilung Reaktorsicherheit, wechselte dann als Lobbyist zu Eon, beriet
die Betreiber von Asse II und arbeitet heute wieder als
oberster Aufseher in der Atomabteilung des Umweltministeriums.
Ich möchte noch einige Beispiele nennen: Auch wenn
die Kolleginnen und Kollegen von der FDP das nicht
gerne hören, muss ich an die Sache mit Mövenpick erinnern; das ist natürlich nicht vergessen. Ein ähnliches
Beispiel, das alle Parteien hier im Hause außer unserer
trifft, ist die Gauselmann-Spende. Dann ist daran zu erinnern, dass 100 Lobbyisten zwischen 2004 und 2006 in
Ministerien Gesetze schrieben und damit nicht etwa die
Interessen der Bürger, sondern die ihrer Unternehmen
verfolgten. Im hessischen Innenministerium war ein
Mitarbeiter des Flughafenbetreibers Fraport mit Genehmigungsverfahren für den Flughafen befasst. Die
Barmer-Chefin Birgit Fischer, SPD, wechselt demnächst
nahtlos an die Spitze des Pharmaverbandes vfa.
Christian Weber, ehemals Spitzenlobbyist der privaten
Krankenversicherungen, ist nun Abteilungsleiter im
Bundesgesundheitsministerium. Daher ist es doch kein
Wunder, dass viele Menschen glauben, dass Politik käuflich sei.
({0})
Zu unserem Antrag. Das Einhalten von Wahlversprechen kann nicht gesetzlich erzwungen werden, aber
Transparenz kann gesetzlich geregelt werden. Die Linke
hat deshalb einen Antrag zur Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters eingebracht, in dem Auftraggeber und Honorare veröffentlicht werden und in dem es
Informationen zu Leihbeamten gibt. Außerdem sollen
klare Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen werden. Das
ist zwar keine revolutionäre Großtat, aber es wäre eine
notwendige Mindestregelung, die der Haushaltausschuss
2008 einstimmig beschlossen hat, die die OECD von
Deutschland fordert und die vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wird. Für dieses Mindestmaß an Transparenz bohrt die Linke seit Jahren dicke Bretter. Inzwischen sind die Grünen und sogar die SPD mit vernünftigen Initiativen gefolgt.
({1})
- Es hat schon seinen Grund, liebe Kollegen von den
Grünen und von der SPD, warum ich heute als Erster
sprechen darf. Das hängt einfach damit zusammen, dass
wir dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht haben.
({2})
Ich muss den Kollegen von Union und FDP noch eine
Frage stellen: Warum wehren Sie sich eigentlich dagegen, Verflechtungen von Lobbyisten und Politik offenzulegen, damit Bürgerinnen und Bürger beurteilen können, wer mit welchen Interessen an einem Gesetz
mitgeschrieben hat?
Bei Lebensmitteln muss klar sein, welche Farb-,
Aroma- und Konservierungsstoffe enthalten sind. Dann
kann der mündige Verbraucher selbst entscheiden, ob er
beispielsweise einen Erdbeerjoghurt mit Farbstoff oder
einen Quark mit Aromastoffen essen will. Er muss nur
vorher wissen, was drin ist. So, wie jetzt auf der Packung
von manchen Müslis „Achtung! Dieses Nussmüsli kann
Spuren von Nüssen enthalten!“ aufgedruckt ist, sollten
die Bürgerinnen und Bürger künftig den Hinweis bekommen: Dieses Gesetz zur Laufzeitverlängerung kann
Beratungselemente von Eon, RWE und Vattenfall enthalten.
({3})
Aber es gibt auch Lobbyisten, mit denen wir sehr
gerne zusammenarbeiten. Dazu gehört LobbyControl.
LobbyControl hat auf vieles zu Recht hingewiesen, zum
Beispiel darauf, dass für die EU-Richtlinie zu Managern
alternativer Investmentfonds gut 1 500 Änderungsanträge eingebracht worden sind. Rund die Hälfte davon
kam direkt aus den Schreibstuben der Finanzindustrie.
Solche Meldungen beschädigen das Vertrauen in die
Politik, und sie beschädigen die Demokratie. Das Lobbyistenregister kann daher nur der erste Schritt zu mehr
Transparenz sein.
Wie wir heute über Schranken für Lobbyisten reden,
brauchen wir auch einfache demokratische und transparente Regeln zu Parteispenden, zum Parteisponsoring.
All das haben wir in Arbeit. Da müssen wir weitermachen. Den ersten Schritt können wir heute gehen. Dafür
bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächster spricht
Kollege Bernhard Kaster für die Fraktion der CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Viele von uns haben häufig Schülergruppen zu Besuch oder besuchen Schulklassen, um Politik
und Abgeordnetentätigkeit zu erläutern. Ich habe mir
vorgenommen, beim nächsten Mal, wenn es darum geht,
den Begriff des Schaufensterantrags zu erläutern, genau
diesen Antrag zum Lobbyistenregister vorzustellen;
denn er ist ein sehr gutes Beispiel für einen Schaufensterantrag; das ist Populismus pur.
({0})
Es wurde nach einem ganz einfachen Rezept verfahren: Man nehme einen möglichst negativ besetzten Begriff - in diesem Fall Lobbyist oder Lobbyismus -, man
zeichne ein düsteres Bild und präsentiere eine scheinbar
ganz einfache Lösung in dem Wissen, dass die Öffentlichkeit die Parlamentswirklichkeit im Detail nicht
kennt. Genau darauf setzt man. Der Antrag zum Lobbyistenregister beinhaltet erstens ein bürokratisches Monster.
({1})
Zweitens entspricht er überhaupt nicht der parlamentarischen Wirklichkeit - er ist nämlich gar nicht umsetzbar -,
und drittens wird damit das eigentliche Ziel, wenn es
denn eine Berechtigung hätte, überhaupt nicht erreicht.
Alle vorliegenden Anträge zu diesem Punkt basieren
auf einem Zerrbild über die Arbeitsweise des Deutschen
Bundestages. Ein solches Zerrbild muss von allen
621 Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses zurückgewiesen werden.
({2})
Ich will dies auch begründen. Der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wird im Kern mit dem Vorhandensein von schwarzen Schafen, Korruption und Beste11680
chung begründet. Er enthält also einen Generalverdacht
gegen den Deutschen Bundestag. Bestechung und Korruption werden jedoch - ich denke, da sind wir uns hier
im Hause einig - mit Strafrecht bekämpft und nicht mit
irgendwelchen Registern oder Listen.
Aber jetzt zu der Frage: Welcher Lobbyismus soll hier
bekämpft oder besser kontrolliert werden? In Ihren Anträgen machen Sie richtigerweise deutlich, dass die
Übergänge zwischen richtig wahrgenommener Interessenvertretung in einer pluralistischen Gesellschaft und
mit unzulässigen Mitteln massiv manipulierter Interessendurchsetzung fließend sein können. Die Wirklichkeit
ist doch die, dass jede Kollegin, jeder Kollege im gutgemeinten Sinne des Wortes Lobbyist, Bürgerlobbyist,
Vertreter von Interessen seines Wahlkreises oder auch
seines gesellschaftspolitischen Hintergrundes ist. Genau
diese Vielfalt von Interessen muss dann zu richtigen Abwägungen führen. Das führt dann letztlich auch zu guter
Politik.
({3})
Ich will jetzt zur Praxis kommen. Ich erinnere mich
daran, dass wir hier im Plenum einmal die Änderung des
Schornsteinfegergesetzes beraten haben. Da sind viele
Kollegen von Verbandsvertretern angesprochen worden,
und zwar von Verbandsvertretern aus dem Bereich des
Schornsteinfegerwesens und von Verbandsvertretern des
Heizungsinstallationshandwerks. Deren Interessen waren durchaus unterschiedlich. Es war für die Kollegen
durchaus wissenswert, verschiedene Positionen zu einer
Gesetzesänderung zu erfahren. So funktioniert das, und
so ist das auch richtig.
({4})
Sie werden wahrscheinlich sagen, hier geht es nicht
um Schornsteinfegerverbände oder Handwerksverbände.
({5})
Hier müssen die üblichen Verdächtigen ran. Das ist dann
die Pharmaindustrie. Das sind Energiekonzerne. Das ist
die Rüstungsindustrie usw.
({6})
Ein solches Bild wird hier gemalt.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, egal über
welchen Lobbyismus wir sprechen; wir müssen zur
zweiten Frage kommen: Können Interessen, die vorgebracht werden, tatsächlich von Abgeordneten unbemerkt
und wissentlich mit nicht korrekten Mitteln durchgesetzt
werden? Damit sind wir wieder bei der Parlamentspraxis
hier im Haus.
Wir haben die erste, zweite, dritte Lesung. Wir haben
Beratungen in fraktionsinternen Arbeitsgruppen. Wir haben Beratungen in den Ausschüssen. Wir haben Anhörungen auf der Basis von Minderheitenrechten. Wir haben hier immer den Streit zwischen verschiedenen Interessen, die abzuwägen sind und über die wir als Abgeordnete entscheiden.
Was die Arbeitspraxis unseres Parlaments angeht, so
bin ich persönlich der Auffassung, dass wir alle miteinander - ob Regierungsfraktionen oder Oppositionsfraktionen - durchaus sehr stolz auf den Deutschen Bundestag sein können; denn dies ist ein Arbeitsparlament, in
dem viele Kolleginnen und Kollegen sich im Rahmen eines Berichterstattersystems spezialisiert haben und daher
die Debatten auch auf hohem Niveau stattfinden. Das ist
nicht unbedingt die Tradition in allen Parlamenten.
Deswegen muss auch ein Wort zum Selbstverständnis
unseres Parlaments und zum Selbstverständnis, was das
Abgeordnetenmandat angeht, gesagt werden.
({7})
Mit wem ich als Abgeordneter Gespräche führe oder
nicht, mit wem ich in Kontakt treten will oder nicht, entscheide ich als freier Abgeordneter und ohne irgendwelche Regulierungen über Listen.
({8})
Der Deutsche Bundestag hat bereits seit 1972 ein
Lobbyistenregister. Der Bundestagspräsident führt eine
öffentliche Liste, in die sich Verbände eintragen lassen
können, um ihre Interessen gegenüber dem Bundestag
oder der Bundesregierung zu vertreten. Zu den Angaben
- das sind sehr viele - gehören Name und Sitz des Verbandes, die Zusammensetzung von Vorstand und Geschäftsführung, sein Interessenbereich, Mitgliederzahl,
die Anzahl der angeschlossenen Organisationen, die Namen der Verbandsvertreter. Das Ganze wird ständig aktualisiert. Der Eintrag in diese Liste ist vor allem eine
Voraussetzung für die Teilnahme an Anhörungen.
Zum Thema Transparenz: Diese Liste ist zudem im
Internet und im Bundesanzeiger veröffentlicht. In der
bereits bestehenden Liste sind über 2 000 Verbände registriert. Hierzu bedarf es wirklich keiner weiteren Ergänzung, bedarf es nicht eines solchen Schaufensterantrages, der auch nicht praktizierbar ist. Er sieht ein
bürokratisches Monster vor. Außerdem sollen die Angaben alle drei Monate aktualisiert werden. Wir wissen
doch alle, mit wem wir sprechen, wer uns gegenübersitzt, und wir wissen auch, richtig abzuwägen.
({9})
Es kommt ja nicht darauf an, mit wem man spricht, sondern es kommt darauf an, wie man mit den Dingen umgeht.
({10})
Die Übergänge zwischen gutem oder schlechtem Lobbyismus sind fließend.
Deswegen fasse ich zusammen: Die Fraktionen im
Deutschen Bundestag - und da schließe ich ausdrücklich
die Oppositionsfraktionen mit ein - wissen sehr wohl
mit Lobbyinteressen umzugehen, sowohl im Guten wie
auch im Schlechten. Das kann das deutsche Parlament.
Das muss das Selbstverständnis des deutschen Parlamentes sein. Deswegen bedarf es keiner weiteren Ergänzung der bereits bestehenden Liste.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. - Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Michael Hartmann. - Bitte schön, Kollege Michael
Hartmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! An Ihr Gesicht hat man
sich schnell gewöhnt.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege
Kaster, ich fand das sehr gut, was Sie eingangs erwähnten,
({0})
nämlich die Idee, einmal Schulklassen mit diesem Thema
zu konfrontieren. Denn gerade Schulklassen - das erlebe
ich bei Schulklassen aus unterschiedlichen Regionen
und unterschiedlichen Jahrgängen - empfinden das
Thema durchaus als ein brennendes. Man bekommt gelegentlich schon die Frage gestellt, ob unsere Republik
eine gekaufte Republik ist.
({1})
Das ist eine Ansicht, die wir beide nicht teilen werden. Weil aber dieses Bild in der Welt ist, müssen wir
auch fragen, warum es in der Welt ist. Deshalb, sehr geehrter Herr Kaster, sage ich Ihnen gleich zu Beginn: Es
geht nicht darum, dass das Vorbringen von Interessen als
illegitim gebrandmarkt wird. Interessen sollen auf uns
einströmen. Es geht vielmehr darum, dass die versteckte
und damit nicht transparente Einflussnahme schärfstens
zurückgewiesen oder aber offengelegt werden muss.
({2})
Wir reden bei diesem Thema schließlich nicht über
eine Nebensache und auch nicht über eine Randfrage,
sondern am Schluss reden wir über das Selbstverständnis
von Staat, Politik und öffentlicher Verwaltung. Deshalb
sage ich zum einen ausdrücklich: Auch wir als SPD sind
der Meinung, dass wir endlich ein verbindliches Lobbyistenregister brauchen.
({3})
Zum anderen sage ich, dass wir unbedingt mehr Transparenz beim Einsatz Externer in den Ministerien benötigen.
({4})
Das ist wichtig, um unmissverständlich klarzumachen, dass unser Land nicht von Lobbyisten regiert wird,
sondern dass immer noch der Deutsche Bundestag und
die von ihm gewählte Bundesregierung die Geschicke
dieses Landes in der Hand haben.
({5})
An die Kolleginnen und Kollegen der Union gerichtet: Wir waren übrigens bei diesem Thema einmal sehr
weit, und zwar in der letzten Wahlperiode. Im Innenausschuss hatten wir uns - sehr geehrter Herr Dr. Uhl, Sie
erinnern sich - schon fast auf einen Antrag verständigt,
der für den Einsatz Externer strengere Regeln definieren
wollte. Das Vorhaben wurde leider auf den letzten Metern ausgebremst. Ich will damit sagen: Auch Sie waren
so weit, und ich glaube, auch die Kollegen der FDP
- Herr Stadler hat jetzt auf der Regierungsbank Platz genommen - haben eingesehen, dass Handlungsbedarf besteht. So ist es auch.
Um nicht missverstanden zu werden: Beim Einsatz
Externer ist zwischenzeitlich eine Menge geschehen,
und zwar deshalb, weil infolge eines Berichts des Rechnungshofes und unserer parlamentarischen Aktivitäten
mittlerweile halbjährlich im Haushaltsausschuss und im
Innenausschuss über Art und Umfang des Einsatzes von
Externen berichtet wird. Und siehe da: Seither ist die
Zahl der externen Beschäftigten in erheblichem Maße
zurückgegangen. Demnach war der parlamentarische
Druck gut, notwendig und keineswegs überflüssig. Lassen Sie uns auf diesem Weg weitergehen; denn Handlungsbedarf besteht nach wie vor.
({6})
Das will ich Ihnen gerne begründen. Damit kein
Missverständnis entsteht: Ich denke da - sehr geehrter
Herr Ruppert, Sie werden noch die Chance haben, zu
antworten, und auch Sie, Herr Schuster - auch an frühere
Regierungen, auch an Regierungen, an denen Sozialdemokraten beteiligt waren. Das sage ich ausdrücklich.
Jetzt sind wir aber in einer Phase, in der sich vieles verbessert und verändert hat. Eine Ausnahme bilden jedoch
zwei Ressorts, und zwar ausgerechnet FDP-geführte
Ressorts und ausgerechnet im Zusammenhang mit dem
BDI.
Warum, frage ich Sie, sind über zwei Jahre hinweg
externe Beschäftigte, die weiterhin vom BDI bezahlt
werden, ausgerechnet im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ausgerechnet im Auswärtigen Amt tätig? Stellen Sie das ab! Machen Sie Ihren Einfluss auf die Regierung geltend, meine Damen
und Herren!
({7})
Michael Hartmann ({8})
- Sie meinen, deshalb besteht diese Verpflichtung für Sie
nicht mehr? Das zeigt, dass Sie ein ganz falsches Parlamentsverständnis haben, sehr geehrter Herr Kollege von
der FDP. Das ist aber kein Wunder. Von Herrn Brüderle
haben wir ja gelernt, dass BDI und FDP sehr eng beieinander sind.
({9})
Durch diese Berichte haben wir in der Tat ein Loch gestopft; allerdings sind andere dadurch aufgetaucht. Durch
einen neuen Bericht des Bundesrechnungshofs sind wir in
der letzten Woche belehrt worden, dass sich die Externen
nun nicht mehr in den Ministerien ausbreiten, sondern externer Rat nun freihändig, ohne Beschluss, ohne Information des Parlaments und immer wegen einer angeblichen
Dringlichkeit eingeholt wird. Ich nenne Ihnen nur drei
Beispiele:
Erstes Beispiel. Kanzleien haben ein Protokoll einer
Sitzung des Verkehrsausschusses getätigt. Warum?
Zweites Beispiel. Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung wurde von einer Kanzlei beantwortet und nur
pro forma von dem zuständigen Ressort.
({10})
Ich nenne ein drittes Beispiel: Von dem staatlichen
Bankenrettungsfonds, SoFFin, wurden freihändig, ganz
nebenbei und ohne Beschluss Aufträge an Kanzleien
vergeben. Einer dieser Kanzleien gehört übrigens ein
früherer Fraktionsvorsitzender von Ihnen an, der sich
nun in der Privatwirtschaft breitgemacht hat.
Entspricht das einem konservativen oder liberalen
Staatsverständnis? Hoffentlich nicht! Wir können also
gemeinsam feststellen, dass noch Handlungsbedarf besteht. Ein probates Mittel ist die sogenannte legislative
Fußspur, die wir ebenfalls fordern. Dazu werden wir hier
noch weitere Anträge einbringen.
({11})
Uns sollte die Einsicht einen - das sage ich zum
Schluss -, dass wir jeden Anschein, dass Deutschland
eine gekaufte Republik ist, vermeiden müssen. Deshalb
müssen wir an den Stellen, an denen ein solcher, unberechtigter Vorwurf angedockt werden könnte, entsprechend
agieren. Das Parlament sollte in diesem Zusammenhang
selbstbewusst agieren. Es geht um die Selbstheilungskräfte der parlamentarischen Demokratie. Es ist Gefahr
im Verzug. Nehmen Sie unsere Anträge ernst. Das sind
keine Schaufensteranträge. Lassen Sie uns im Interesse
des Parlaments gemeinsam arbeiten.
Nun will ich gerne noch eine Frage des Kollegen
Hinsken beantworten. - Entschuldigung, Herr Präsident.
Eigentlich ist die Redezeit beendet. Ich meine aber,
angesichts der Bedeutung dieser Debatte sollte der Kollege Ernst Hinsken seine Frage stellen, nachdem der
Kollege Hartmann dies erlaubt hat. - Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.
Weil ich Sie so eingeschätzt habe, habe ich eingangs
eine lobende Bemerkung gemacht, Herr Präsident.
Ich habe es so verstanden. Vielen Dank, Herr Kollege
Hartmann.
Ich bedanke mich dafür, dass ich die Frage stellen
darf, Herr Präsident. Ich stelle sie gerne, weil ich den
Kollegen Hartmann sehr schätze.
Herr Kollege Hartmann, einer der größten Lobbyisten
in der Bundesrepublik Deutschland ist der ehemalige
Vorsitzende und jetzige Ehrenvorsitzende der SPD, der
ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Er ist nach meiner Information bei Gazprom als Lobbyist beschäftigt. In welche Kategorie würden Sie ihn einordnen?
Erstens. Herr Schröder war nicht mehr im Amt, als er
diese Funktion übernommen hat.
({0})
Zweitens. Wenn wir über Herrn Schröder reden, fällt
mir der frühere hessische Ministerpräsident ein. In
Frankfurt wird gerade ein Flughafen ausgebaut. Nun ist
Herr Koch in ein entsprechendes Unternehmen gewechselt. Dort wird er gut bezahlt; er wird bestimmt auch einen guten Job machen. Bei aller Wertschätzung warne
ich davor, die Debatte so zu führen. Ich habe vorhin ganz
bewusst auch frühere Regierungen erwähnt, an denen
wir beteiligt waren. Wenn wir ein Pingpongspiel nach
dem Motto „Wer ist der Größere?“ spielen, verschandeln
wir das Selbstverständnis des Parlaments.
({1})
Ich will, dass wir als Parlament allen, die Lobbyismus
betreiben, die Rote Karte zeigen. Machen Sie einfach
mit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Michael Hartmann. - Als
Nächster spricht unser Kollege Dr. Stefan Ruppert für
die Fraktion der FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie so oft komme ich als junger Abgeordneter in
eine Debatte und erhoffe mir, ein ernstzunehmendes und
schwieriges Problem auch entsprechend behandelt zu sehen.
({0})
Wir alle haben den Eindruck, dass sich die erste Gewalt in diesem Staat, das Parlament, in einer gewissen
Legitimationskrise befindet. Wir haben immer wieder
den Eindruck, dass der Deutsche Bundestag bei den Bürgern nicht das Ansehen genießt, das ihm eigentlich laut
Verfassung zusteht.
({1})
Wir haben den Eindruck, dass die Menschen in andere
Gewalten, beispielsweise die Judikative, vertreten durch
das Bundesverfassungsgericht, sehr viel mehr Vertrauen
setzen als in den Deutschen Bundestag. Wir haben den
Eindruck, dass die Menschen auch sehr viel mehr Vertrauen in einzelne Ministerien setzen als in den Deutschen Bundestag.
Ein Grund dafür ist, dass wir es nicht schaffen, uns
gegenseitig unsere eigene kritische Haltung gegenüber
unsachgemäßen Interessen, unseren eigenen inneren
Kompass gegenüber Menschen, die auf uns zukommen
und dies oder jenes erreichen wollen, zuzugestehen. Wir
tun immer so, als ob wir alle im konkreten und mit Beweisen belegten Verdacht stehen, dass wir käuflich sind
und nur den Einflüsterungen irgendwelcher Interessenvertreter zugewandt sind. Ich glaube, wenn Sie diese
Diskussion so anfangen, werden Sie sie nicht gewinnen.
({2})
Ihr Lobbyismusbegriff ist unscharf.
({3})
Als ich hierher gekommen bin, hatte ich - genau so, wie
Sie es gerade gesagt haben, Herr Sharma - den Eindruck, dass die mächtigsten Vertreter sicherlich die Pharmaverbände sind. Heute habe ich den Eindruck: Nein,
die mächtigsten Verbände sind - ich finde das nicht negativ - die Gewerkschaften, die Kirchen und Umweltorganisationen.
({4})
Sie haben durch Massenbriefe oder das Vortragen der
Anliegen einzelner Personen die Möglichkeit, sehr konkret auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung
Einfluss zu nehmen.
({5})
Leider werden sie von Ihrem Lobbyismusbegriff überhaupt nicht erfasst.
({6})
Ich zitiere dazu aus dem Antrag der Grünen:
Dabei sollte die Absicht, Entscheidungen und Abläufe der Exekutive und Legislative im Sinne der
Auftraggeber zu beeinflussen, das entscheidende
Kriterium sein.
Vorausgesetzt - das sagt der Jurist in mir - wird also
ein Auftragsverhältnis zwischen einer Person, die Interessen wahrnimmt, und einer anderen, der auftraggebenden Person, die sagt, was er zu tun hat. Das ist doch ein
völlig unterkomplexes Bild davon, wie hier Entscheidungen getroffen werden. Es ist doch nicht so, dass einzelne Personen Aufträge von anderen entgegennehmen,
sondern es sind Interessen aus der Mitte der Gesellschaft, die hier institutionell verfestigt uns gegenüber artikuliert werden. Das ist auch gut so. Wir sollten nicht
zwischen Menschen in Auftragsverhältnissen und Gewerkschaften, Kirchen, Umweltverbänden und anderen
unterscheiden.
({7})
Das führt meiner Meinung nach dazu, dass es den negativen Geruch klassenkämpferischer Ideen bekommt.
Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
unseres Kollegen Michael Hartmann?
Ja.
Das ist der Fall. - Bitte schön, Kollege Hartmann.
Vielen Dank, Herr Ruppert, dass Sie die Frage zulassen. Seien Sie versichert, mir geht es tatsächlich um das
ernsthafte Voranbringen eines für das Selbstverständnis
des Parlaments wichtigen Themas. Deshalb frage ich
Sie: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass Lobbyismus, so legitim er auch sein mag, dann nicht mehr legitim ist, wenn er versteckt und intransparent stattfindet?
Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, dass wir als
gewählte Volksvertreter einen Anspruch darauf haben,
zu erfahren, wer an einem Gesetz mitgestrickt hat? Es
kann Sie doch nicht erfreuen, wenn beispielsweise im
Verkehrsministerium ein Vertreter von Fraport ausgerechnet am Fluglärmgesetz mitstrickt. Wenn das der Fall
ist, wollen Sie das nicht wissen? Sind Sie da nicht auch
für mehr Transparenz?
Lieber Kollege Hartmann, ja, wir sind völlig einer
Meinung, dass es Transparenz bedarf, um genau zu sehen, wie Entscheidungen getroffen werden. Aber glauben Sie wirklich, dass ein Lobbyist, der sich in dieses
Register eintragen lässt, auf eine Entscheidung Einfluss
nimmt? Glauben Sie, dass es dadurch, dass er in diesem
Lobbyistenregister registriert ist, mehr Transparenz gibt?
Wir alle wissen doch, wie Kontakt aufgenommen wird.
({0})
Es ist doch eben nicht so, dass die konkrete Einflussnahme durch die Eintragung in ein Lobbyistenregister
ausgeschlossen ist.
Wir teilen das gleiche Anliegen. Ich bin allerdings der
Auffassung, dass der von Ihnen beschrittene Weg ein un11684
tauglicher Versuch ist; denn er führt eben nicht dazu,
dass das eintritt, was Sie aus guten Motiven und, wie ich
finde, völlig zu Recht bezwecken.
Unsachgerechte Einflussnahme, die wir alle bekämpfen wollen, ist so, wie Sie es uns vorschlagen, leider
nicht zu unterbinden. Insofern: Das Anliegen teilen wir.
Was den Weg angeht, sind wir unterschiedlicher Meinung.
({1})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Jerzy Montag.
Gerne, ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident, Danke schön. - Lieber Herr Kollege,
nachdem Sie gerade wortwörtlich aus dem Grünen-Antrag zitiert haben, habe jedenfalls ich den Eindruck, dass
Sie nicht verstanden haben, was wir in unserem Antrag
geschrieben haben.
({0})
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir von einem Auftragsverhältnis sprechen, meinen wir nicht ein
Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und einem Abgeordneten, sondern wir meinen, dass in dieses Register
verpflichtend diejenigen einzutragen sind, die zum Beispiel im Auftrag von Greenpeace, im Auftrag der Pharmaindustrie oder im Auftrag des Schornsteinfegergewerbes tätig werden.
Zu einem solchen Auftragsverhältnis gehört, dass
Herr Müller oder Herr Meier, der einen Hausausweis bekommt - es ist Sinn und Zweck dieses Registers, dass
man einen Hausausweis und einen ungehinderten Zugang zum Bundestag und zu den Ausschüssen bekommt -,
offenlegen muss, wer sein Auftraggeber ist. Dies unterscheidet unseren Antrag vom Antrag der Linken. Die
Linken möchten jeden Bürger, der sich in seinem eigenen Interesse an uns wendet, als Lobbyisten in eigener
Sache in das Register aufnehmen.
({1})
Dies wiederum geht für uns absolut an der Sache vorbei.
Ich bitte Sie also, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit
dem Auftragsverhältnis, das Sie zitiert haben, nicht das
Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und Ihnen oder
mir meinen.
Herr Kollege Montag, genau hier liegt das Problem.
Sie haben das nämlich nicht juristisch präzise, sondern
eher in Alltagssprache formuliert. Aber ich frage Sie:
Wäre ein Vertreter von Greenpeace, der Mitglied bei
Greenpeace ist und für Greenpeace arbeitet, in Ihrem
Register erfasst? Wäre ein Gewerkschaftsvertreter, der
hier auftaucht, darin erfasst?
({0})
Die stehen nämlich nicht in einem Auftragsverhältnis,
sondern in einem Arbeitsverhältnis; das ist der erste
Punkt.
Zweitens haben Sie meiner Meinung nach nur eine
Berufsgruppe gekennzeichnet - Ihrem Antrag liegt ein
striktes, sehr enges Verständnis von Lobbyismus zugrunde -, eine Berufsgruppe, die im Auftrag anderer direkt lobbyistische Initiativen ergreift. Das ist, würde man
Ihrem Anliegen Rechnung tragen, viel zu wenig, weil
man eine viel zu kleine Gruppe erfassen würde,
({1})
die tatsächlichen Formen der Interessenbeeinflussung
aber überhaupt nicht erfassen würde.
({2})
Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück. Es ist so,
dass der Lobbyismusbegriff bei Ihnen oft negativ konnotiert ist. Im Antrag der Grünen ist er dankenswerterweise
positiv konnotiert. Sie sagen, Lobbyismus ist eine sinnvolle und in einem gewissen Rahmen auch wichtige
Form der Informationsgewinnung, auch für Abgeordnete.
({3})
Ich teile Ihre Ansicht ausdrücklich.
Aber was heißt das in der Konsequenz? Wenn sich
mein Sportverein, mein Kreisverband des Roten Kreuzes, der Landessportbund Hessen, die Caritas oder die
Diakonie Niedersachsen nicht in Ihr Register eintragen
lassen, dürfen sie dann in meinem Wahlkreis nicht mit
mir in Kontakt treten?
({4})
Was Sie an dieser Stelle vorschlagen, ist nicht praktikabel.
({5})
Meiner Meinung nach haben Sie ein sinnvolles Anliegen
in völlig untauglicher Form in einen Antrag gegossen.
Dabei können wir Ihnen aber leider nicht helfen. Diese
Arbeit müssen Sie schon selbst machen.
({6})
Ich will nun auf die externen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Ministerien zu sprechen kommen;
denn auch um sie geht es in dieser Debatte. Wir haben
dieser Tage den sechsten Bericht des Bundesrechnungshofs über externe Mitarbeiter in den Ministerien zur
Kenntnis genommen.
({7})
Es ist also keineswegs so, dass diese Form der Kooperation nicht erfasst wird. Ich sage Ihnen: Sie ist dann negativ - durchaus auch in den Fällen, die Sie genannt haben -,
wenn es dabei um Interessenverbände geht, die ihr Handeln auf nicht transparente Art und Weise in eine Form
gießen, die den Eindruck erweckt, es handele sich eigentlich um hoheitliches Handeln.
({8})
Das ist das Problem.
Kein Problem ist es aus meiner Sicht, wenn sich temporär ein Ministerium externen Sachverstand - auch
über ein befristetes Arbeitsverhältnis - einkauft. Es ist
doch eine alte Vorstellung von Verwaltung, zu denken,
dass wir alle Bereiche, auch wenn sie nur punktuell und
temporär von Interesse sind, jederzeit kompetent vorhalten müssen. Wir müssen also zwischen den Fällen unterscheiden, in denen es richtig und wichtig ist, dass wir
uns externen Sachverstand einkaufen, und den Fällen,
die Sie genannt haben, bei denen es jemanden gibt, der
eigentlich eigene Interessen verfolgt, sie aber in die
Form hoheitlichen Handelns kleidet.
Aus unserer Sicht leistet der sechste Bericht diese
Transparenz in vollem Umfang. Wir führen dort auf - es
sind übrigens wesentlich weniger in den Ministerien geworden, seit wir regieren -,
({9})
dass in Ihrer Regierungszeit sehr viele Menschen unter
anderen Vorzeichen in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet haben.
({10})
Seit Schwarz-Gelb, seit die christlich-liberale Koalition
regiert, arbeiten wesentlich weniger Menschen unter falscher Flagge in den Ministerien.
({11})
Deswegen sollten wir uns das nicht gegenseitig vorwerfen, aber wir sollten auch nicht so tun, als ob auf der
einen Seite die Heiligen und auf der anderen Seite die
Unheiligen sitzen.
({12})
Ihr Anliegen ist richtig, aber Ihr Weg ist leider nicht
praktikabel, und er bringt nicht mehr Transparenz in die
Beeinflussung von politischen Entscheidungen. Wir
müssen ihn deshalb ablehnen.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ruppert.
Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Volker Beck. - Bitte schön, Kollege Volker
Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
mal ein bisschen Ordnung in die wirre Debatte bringen,
die von den Koalitionsrednern gründlich durcheinandergewirbelt worden ist.
({0})
Zum einen: Wenn Sie selber keinen Vorschlag haben,
sollten Sie anderen nicht vorwerfen, dass der Weg nicht
so optimal ist.
({1})
Wo ist denn eigentlich Ihr Weg? - Der führt wie immer
bei der FDP ins Nichts. Da sind Sie auch überwiegend.
Aber wenn Sie den Antrag gelesen hätten, den Sie gerade versucht haben zu zerrupfen, hätten Sie darin den
Satz gefunden, mit dem wir Lobbyisten tatsächlich definieren, nämlich:
Lobbyistinnen und Lobbyisten, die die im Gesetz
vorgesehenen Rechte in Anspruch nehmen wollen,
müssen sich im Register registrieren lassen.
Dann wird abgeschichtet. Ihr DRK-Vorsitzender kann
eben einmal ein Briefchen schreiben.
Es kann vorgesehen werden, dass Lobbyistinnen
und Lobbyisten, deren Lobbytätigkeit einen bestimmten zeitlichen und finanziellen Aufwand nicht
übersteigt,
({2})
nicht registrierungspflichtig sind.
Wir haben also alles mit Maß und Realitätssinn erfasst, weil wir in der Tat einen anderen Ansatz haben, als
Sie, Herr Kaster, uns unterstellt haben. Ich zitiere aus unserer Begründung, damit die Bürgerinnen und Bürger
nicht meinen, das, was Sie hier behauptet haben, sei
richtig. Die Begründung fängt zu Recht damit an:
Die Organisation von Interessen gehört zur Demokratie. Der Austausch von Meinungen ist Kernbestandteil einer pluralistischen Gesellschaft. Daher
sind auch der Lobbyismus und sein Ansinnen, Interessen in der Gesellschaft in organisierter Form zu
kanalisieren und bei den politischen Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit für deren Umset11686
Volker Beck ({3})
zung zu werben, legitimer Bestandteil einer demokratischen Zivilgesellschaft und nicht per se anrüchig.
Dann weisen wir auf die problematischen Fälle der
schwarzen Schafe hin. Das ist doch der richtige Ansatz.
Wir dürfen auch die ehrlichen Lobbyisten, die uns mit
Expertisen ausstatten und auf Fehler bei Gesetzentwürfen hinweisen oder auch nur ihre Interessen vortragen,
die mit anderen Interessen im Widerstreit sind, nicht diffamieren. Aber davon zu unterscheiden sind diejenigen,
die hier mit Geld unterwegs sind, die nicht sagen, wer
sie eigentlich sind - wie die Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft, wo man nicht so genau weiß, wer dahintersteckt. Die beste Prophylaxe von Korruption, von
anrüchigen Hinterzimmerpolitiken ist die Transparenz.
Das ist der Ansatz für ein Lobbyistenregister.
({4})
Deshalb ist das sehr richtig. Ich würde mir wünschen,
dass Sie mit uns gemeinsam über die Details reden. Über
die muss man reden, und man muss das sachlich machen. Aber wenn Sie nur diffamieren und behaupten, wir
würden hier gegen die Interessenvertretung der Gesellschaft in diesem Land agitieren, dann zeigt das, dass Sie
offensichtlich etwas befürchten, wenn das transparenter
wird.
({5})
Das kommt bei der Mövenpick-Koalition allerdings
nicht ganz von ungefähr. Sie haben in der Tat ein Problem; denn bei Ihnen gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Geldüberweisungen an die Parteien
und gesetzgeberischen Bonbons hinterher, die den Steuerzahler teuer zu stehen kommen.
({6})
So etwas sollten wir abstellen. Ein Beitrag dazu kann das
Lobbyistenregister sein.
({7})
Zu Ihnen, Herr Kollege Hinsken. Sie haben vorhin
den Kollegen von der SPD nach Herrn Schröder gefragt.
Mir hat es auch nicht gefallen, dass er zu Gazprom gewechselt ist. Mir gefällt auch das, was Herr Koch macht,
nicht.
({8})
- Auch das, was Birgit Fischer gemacht hat, finde ich ein
bisschen schwierig.
({9})
Aber: Warum haben Sie denn dann unseren Antrag in
der letzten Wahlperiode abgelehnt, der forderte, dass
sich Mitglieder der Bundesregierung, die aus ihrem Amt
ausscheiden, in einer Übergangszeit - analog zu den Regelungen für die Europäische Kommission - von einem
Gremium der Bundesregierung ihre neue berufliche Tätigkeit genehmigen lassen müssen und dass diese Genehmigung versagt werden muss, wenn der Verdacht aufkommt, früheres Handeln im Amt habe etwas mit der
Anschlusstätigkeit zu tun und sei sozusagen indirekt ein
Dankeschön oder führe zu einem „Absaugen“ von Wissen und Insiderkenntnissen der Verwaltung, die man für
das Wirtschaftsleben gewonnen hat?
({10})
Wir haben den Vorschlag gemacht. Seit dem Fall
Bangemann von der FDP und seinem Gang vom Kommissarsposten zu einem spanischen Telekomunternehmen hat die Europäische Union eine solche Regelung.
Warum können wir das nicht machen? Sie haben hier einen Popanz aufgebaut. Es ging dabei um Bürokratie. Zugegeben: Der Antrag der Linken würde zu Bürokratie
führen, unser Antrag aber nicht.
Warum macht Österreich das gerade? Warum hat die
EU ein freiwilliges Register, das genau unseren Kriterien
hier entspricht? Warum gibt es im US-Kongress seit
1995 den Lobbying Disclosure Act, wonach dort genau
diese Angaben, die wir hier aufgeschrieben haben, veröffentlicht werden müssen? Warum ist das in den anderen Staaten eine Selbstverständlichkeit und hier bei uns
bürokratischer Wahn oder die Diffamierung von Interessenvertretungen? Diesem Umstand müssen Sie Rechnung tragen.
({11})
Seit Urzeiten liegt dieses lustige Papier hier vor:
„Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über
die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“.
Die Liste wächst jedes Jahr an.
({12})
Inzwischen sind es 2 163 Verbände. Warum machen wir
das nicht zu einem wirklichen informativen und transparenten Instrument, damit jeder Bürger, jede Bürgerin, jeder Abgeordnete und jeder Journalist entsprechende Informationen finden kann? Das hier ist völlig intransparent und uninformativ, kostet aber auch Arbeit.
({13})
- Ich sehe, der Kollege von der FDP will mir zu mehr
Redezeit verhelfen. Ich bedanke mich dafür.
Ja, genau. Ich habe Ihre Redezeit jetzt auch schon gestoppt, Kollege Beck, damit die Zwischenfrage gestellt
werden kann, die Sie erkannt und ich zugelassen habe.
Herr Kollege Beck, ich habe eine Frage: Warum haben Sie das Register nicht in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt? Es gibt auch noch einige Bundesländer, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen. Haben Sie dort irgendwelche Überlegungen
angestellt und schon etwas eingeführt? Das würde mich
jetzt einmal interessieren.
Wir haben schon in der letzten Wahlperiode ein Lobbyistenregister gefordert und sind hier konsequent.
Ich glaube, wenn Sie in der nächsten Wahlperiode
noch einmal ins Parlament kommen sollten, dann werden Sie von der anderen Seite aus daran denken, dass
man hinterher nicht alles mit dem Hinweis abtun kann,
man hätte das alles in vier Jahren machen können. Man
kann nicht die ganze Welt auf einmal verändern. Lassen
Sie uns doch ernsthaft darüber reden, und nicht nach
dem Motto: Warum haben Sie das nicht schon vor
20 oder 30 Jahren gemacht, als die FDP an der Regierung war? Das sind doch alberne Spielchen.
({0})
- Ich weiß nicht, ob die Kollegen in Nordrhein-Westfalen gerade dabei sind, aber ich finde, dass der Bund hier
eine besondere Vorbildfunktion hat. Die entscheidende
Gesetzgebung - auch in den Bereichen, in denen das
Bundesrecht durch die Länderverwaltungen „exekutiert“
wird - findet doch hier im Deutschen Bundestag statt.
({1})
Die entscheidenden Korruptionsvorwürfe und Verbandelungen zwischen Lobbyismus, Gesetzgebung und Politik
hat es doch hier in Berlin oder früher in Bonn gegeben.
({2})
Das Gesetz muss so gut werden, dass wir es allen Landesparlamenten zur Übernahme empfehlen können. Lassen Sie uns gemeinsam eine Gesetzesinitiative auf den
Weg bringen, statt mit billigen Ausflüchten davor davonzulaufen.
Lobbyismus ist keine schlechte Sache. Ob die Deutsche Bischofskonferenz oder der Lesben- und Schwulenverband, ob die Solarindustrie oder das Deutsche Atomforum hier ihre Interessen vortragen: Das ist nichts
Schlechtes. Wir haben als Parlamentarier die Aufgabe,
die Argumente zu wägen und im Interesse des Allgemeinwohls auszugleichen. Dabei sind wir aber darauf
angewiesen, zu wissen, mit wem wir es jeweils zu tun
haben. Das Lobbyistenregister kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten.
({3})
Vielen Dank, Kollege Beck. - Als Nächster hat unser
Kollege Manfred Behrens für die Fraktion der CDU/
CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute
mit den Anträgen zum Thema Lobbyistenregister. Das
Thema ist uns allen nicht ganz neu. Es wurde in diesem
Hause bereits in der 16. Wahlperiode debattiert. Die
Bundesregierung wird aufgefordert, verbindliche Register vorzuschreiben. Verbände sollen verpflichtet werden,
sich darin einzutragen.
Zunächst einmal ist festzuhalten: Die versuchte Einflussnahme durch Lobbyisten ist ein legitimes Mittel zur
Interessenwahrnehmung. Sie gehört in unserem Staat
zum politischen Entscheidungsprozess. Die Meinungsfreiheit, aus der sich letztlich der Lobbyismus herausbildet, ist eines der feinsten Rechte der Demokratie. Lobbyisten können wichtige Erfahrungen aus der Praxis in den
politischen Entscheidungsprozess einbringen. Dieser
ständige Informationsaustausch wirkt sich zumeist positiv in der Sache aus. Doch die versuchte Einflussnahme
ist durch zahlreiche innerparteiliche Prozesse und Entscheidungen begrenzt.
Seit fast 40 Jahren existiert die „Öffentliche Liste
über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter“. Verbände können sich eintragen, wenn sie
Interessen gegenüber dem Bundestag vertreten möchten.
Aufgrund der Tatsache, dass diese Liste öffentlich ist, ist
eine gewisse Transparenz gegeben.
Inzwischen haben sich, wie schon gesagt wurde, mehr
als 2 000 Verbände eingetragen. Diese öffentliche Liste
ist 800 Seiten stark. Wo fehlt es da an Transparenz? Sie
können Anschriften in Erfahrung bringen. Sie bekommen Namen von Geschäftsführern geliefert. Sie erhalten
sogar Telefonnummern und E-Mail-Adressen.
Zudem fordern Sie die Offenlegung der finanziellen
Mittel der Interessenvertretungen und deren Nutznießer.
So steht es in Ihren Anträgen. Geht daraus mehr Transparenz hervor?
Sie meinen, dass es besser wäre, wenn Interessenvertreter ihre finanziellen Mittel offenlegen würden. Das ist
aber nur ein bedingt geeignetes Mittel.
({0})
Die Finanzierungsquelle lässt aus meiner Sicht nicht darauf schließen, ob ich gute oder schlechte Gespräche
führe. Ich werde meine Gespräche weiterhin offen, frei,
unvoreingenommen und mit der nötigen sachlichen Distanz führen. Ich selbst werde auch weiterhin abwägen,
was für meine parlamentarische Arbeit von Bedeutung
ist und was nicht.
In Ihren Anträgen steht, dass Sie illegale Einflussnahme, sprich: Korruption, nicht ausschließen. Würde
Manfred Behrens ({1})
ein verpflichtendes Lobbyistenregister das Problem lösen oder ausschließen? Ich denke, eher nicht. Korrumpierbarkeit kann man nicht mit einem Lobbyistenregister
oder sonstigen Listen bekämpfen. Die moralische Verantwortung eines jeden Abgeordneten und die Stärke der
Demokratie sind ein starkes Netz dagegen.
Sie schreiben, dass Politik einerseits aufgrund der
Komplexität auf externe Informationen angewiesen ist.
Aber andererseits verstehen Sie Lobbyismus als Privatisierung von Politik und definieren dies als „kontrollfreien Raum“. Aber seriöse Lobbyisten treten öffentlich
in Erscheinung. Mir ist nicht bekannt, wo Sie Ihre Gespräche führen. Ich jedenfalls führe meine Gespräche öffentlich, zum Beispiel bei Empfängen oder parlamentarischen Abenden. Dies sind transparente Räume. Dies sind
keine - so wie Sie es formulieren - kontrollfreien
Räume.
Im Fazit komme ich zu dem Schluss, dass Lobbyismus in der Bundesrepublik Deutschland zur Demokratie
gehört. Er darf allerdings niemals die einzige Informationsquelle für Abgeordnete sein. Die CDU/CSU steht
für offene und freie Gespräche, zu jeder beliebigen Zeit
und an jedem beliebigen Ort; denn der Austausch von
Meinungen ist ganz einfach Kernbestandteil unserer
vielfältigen Demokratie.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat als Nächste auf
unserer Rednerliste das Wort unsere Frau Kollegin
Dr. Eva Högl für die sozialdemokratische Fraktion. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Mir ist wichtig, gleich zu Anfang zu betonen, dass Lobbyismus alles andere als verwerflich ist. Darüber habe
ich hier in der Debatte Konsens festgestellt. Ich gehe sogar so weit und sage, dass Lobbyismus und gezielte Interessenvertretung für unsere gemeinsame Arbeit hier im
Parlament unerlässlich sind und dass die Vertretung von
Interessen zu den Wesensmerkmalen unserer Demokratie gehört. Mir ist auch wichtig, gleich zu Anfang zu sagen: Es geht nicht um eine Hetzjagd auf PR-Agenturen,
Gewerkschaften, Verbände oder sonstige Interessenvertretungen. Vielmehr geht es darum, die Interessenvertretung sinnvoll und richtig zu regeln.
({0})
Deutschland ist kein Land, in dem Korruption regiert.
Das hat der Bundesrechnungshof gerade erst wieder festgestellt. Wenn aber laut einer Umfrage von Transparency International sieben von zehn Bürgerinnen und
Bürgern der Auffassung sind, dass die Bestechlichkeit in
Deutschland zugenommen hat und dass gerade die Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Interessenvertretung
und professionellen Lobbyistinnen und Lobbyisten kritisch gesehen wird - Stichwort „Schulklasse“ -, dann
muss uns das Sorgen bereiten. Wir müssen als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ein Interesse daran haben, diesen Bereich zu regeln und hier zu Verbesserungen zu kommen.
Es gibt zwei Punkte, die mir wichtig sind. Das Erste
ist: Wir müssen immer sehr genau überprüfen, wer auf
was tatsächlich Einfluss nimmt. Das müssen wir immer
im Blick haben. Das Zweite ist - das ist der Hauptpunkt -:
Es geht um Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit. Denn
das Problem ist, dass Interessenvertretung meistens unerkannt, im Hintergrund stattfindet und nicht kontrolliert
werden kann. Deswegen sollte der Schwerpunkt bei der
Errichtung eines Lobbyistenregisters auf öffentlicher
Kontrolle und Transparenz liegen. Wir brauchen klare
Regeln. Deswegen begrüße ich für die SPD-Fraktion die
von den Grünen und der Linken vorgelegten Anträge.
Es ist schon gesagt worden: Innerhalb der Europäischen Union war der Deutsche Bundestag das erste Parlament, das 1972 eine Verbändeliste eingeführt hat. Das
ist ein großer Vorteil. Da sind wir nach vorne gegangen.
Doch diese Regelung, Herr Kollege Kaster, ist unzureichend, und zwar aus zwei Gründen. Es werden lediglich
Verbände erfasst, nicht aber alle anderen Interessenvertreterinnen und -vertreter. Außerdem sind die Angaben,
die gemacht werden, nicht ausreichend. Wir brauchen
viel mehr Angaben, um Lobbyismus kritisch hinterfragen und kontrollieren zu können.
({1})
Ich möchte, dass wir in diesem Punkt - wie Sie wissen,
nehme ich gern zum Thema Europa Stellung - wieder
Vorreiter in Europa werden. In Europa wird gerade darüber diskutiert, ob das Lobbyistenregister verbindlich
gemacht werden und wie es verbessert werden soll, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Vorfälle,
die alles andere als schön sind. Lassen Sie uns doch gemeinsam gute Regeln erarbeiten! Ich lade ausdrücklich
die Koalitionsfraktionen dazu ein, nicht nur zu kritisieren, was vorliegt, sondern auch konkrete Vorschläge zu
machen, wie wir das verbessern können.
({2})
Noch ein paar Gedanken. Wie gesagt, es müssen alle
Interessenvertreterinnen und -vertreter erfasst werden.
Ein solches Register muss verpflichtend sein. Es darf
nicht nur freiwillig sein; das ist ganz entscheidend. Es
müssen Angaben über die Herkunft und Höhe der finanziellen Mittel gemacht werden. Das ist wichtig, um beurteilen zu können, wer welche Interessen wie wahrnimmt.
Ich möchte außerdem sehr gerne einen Überblick über
den Tätigkeitsbereich sowie die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben.
Dann ist eines wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen dieses Register veröffentlichen. Wir
müssen es im Internet veröffentlichen, wir müssen es allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen.
Wenn Sie mal ehrlich auf unsere Parlamentspraxis
schauen: Wer kennt denn überhaupt die Verbändeliste,
wer arbeitet denn damit?
({3})
Das ist doch eher ein Geheimdokument. Ich möchte sehr
gern, dass das Register, das wir haben, allen Bürgerinnen
und Bürgern zugänglich ist. Es geht - ich sage es noch
einmal - um Transparenz.
({4})
Außerdem brauchen wir Sanktionen. Die Nichteintragung, die Nichtbefolgung unserer Regeln müssen auch
sanktionsbewehrt sein. Wir brauchen auch hier klare Regeln.
Ich will dann noch einen weiteren Punkt anfügen, der
in den Anträgen nicht auftaucht. Wir werden als SPDFraktion auch noch Vorschläge vorlegen und uns an der
Diskussion beteiligen. Wir brauchen auch einen Verhaltenskodex für Interessenvertreterinnen und -vertreter,
geprägt von Offenheit - ich wiederhole es -, von Transparenz, Ehrlichkeit und Integrität. Deswegen brauchen
wir einen solchen Kodex, an den sich alle halten.
({5})
Zum Schluss appelliere ich noch einmal an uns alle
hier in diesem Hohen Haus: Wir haben das gemeinsame
Interesse - das ist schon gesagt worden -, hier so transparent wie möglich zu arbeiten und so nachvollziehbar
wie möglich zu machen, welche Interessen hier vertreten
werden; denn wir sind alle davon abhängig. Wir kennen
das: Wir wissen, dass gute Gesetzgebung häufig nur
dann gemacht werden kann und Vorschläge nur dann
wirklich ausgewogen und gut sind, wenn wir die verschiedenen Interessen abwägen. Aber es gibt keinen
Grund dafür, vor der Öffentlichkeit Angst und vor Transparenz Scheu zu haben. Deswegen fordere ich uns alle
auf, gemeinsam an guten Regeln zu arbeiten. Es würde
uns auszeichnen, und es würde dem Deutschen Bundestag gut zu Gesicht stehen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Högl. - Als Letzter
auf unserer Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt
folgt jetzt unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön,
Kollege Armin Schuster.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich glaube,
diese Debatte wird auch auf der Zuschauertribüne als
sehr interessant bewertet. Es ist kein Zufall, dass die architektonische Gestaltung der neuen Bundestagsgebäude
nicht einfach den Architekten überlassen wurde, sondern
dass durch große Fensterfronten, durch komplett einsehbare Büros, durch die Möglichkeit, auf Zuschauertribünen zu sitzen, durch die Möglichkeit, mit Besuchergruppen zu arbeiten, genau die Offenheit, die Transparenz
gezeigt werden soll, über die wir jetzt seit einer Dreiviertelstunde hier diskutieren. Jeder kann uns sozusagen live
auf die Finger schauen, und das soll auch so sein.
({0})
Die vorliegenden Anträge befassen sich ehrenhafterweise alle mit dieser Idee. Gleichwohl - das ist hier herausgearbeitet worden - spüren wir im Gespräch mit
dem Bürger, dass da ein anderes Empfinden, eine andere
gefühlte Temperatur ist. Ich habe den Eindruck, dass das
gar nicht daran liegt, dass wir ein Problem mit zu viel
Korruption etc. haben, sondern daran - ich habe Frau
Dr. Högl gehört, ich habe Herrn Hartmann gehört, ich
habe Herrn Beck
({1})
mit einem tollen Plädoyer gehört -, dass wir eigentlich
gar kein Problem haben. Wir nehmen in diesem Haus
den Lobbyismus sehr wichtig.
Dann frage ich mich aber: Woher kommt der Eindruck, den der Bürger hat? - Dazu möchte ich Ihnen
ganz ehrlich sagen - ich nehme da meine Fraktion nicht
aus -: Ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir hier
im Deutschen Bundestag dieses Thema diskutieren, sehr
zur Meinungsbildung beiträgt. Ich bin nicht damit einverstanden, dass wir uns gegenseitig vorhalten, welcher
ehemalige Politiker jetzt wo arbeitet. Solange er nicht 67
ist, halte ich es für legitim, dass er einen anständigen Job
macht.
({2})
Ich halte es nicht für richtig, dass den einen die Mövenpick-Geschichte vorgeworfen wird und im Gegenzug
Sie vielleicht erklären müssen, wo Ihnen die Windenergiebranche entgegengekommen ist. Das alles, diese Kultur in diesem Haus, meine Damen und Herren, sorgt sehr
viel für die gefühlte Temperatur draußen. Es sind nicht
die tatsächlichen Korruptionsfälle. Deshalb glaube ich,
dass wir in dieser Debatte ein wenig zu stark mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn wir mal tatsächlich an
die Fakten denken.
Ich komme jetzt zu den Fakten und nenne zunächst
das Thema externe Personen. Herr Hartmann beschäftigt
sich damit im Innenausschuss sehr intensiv, und ich befürworte das auch. Hintergrund ist die Befürchtung, dass
wir zu viele ausgeliehene Referenten haben, die auf anderen Payrolls arbeiten und unter Umständen sachfremde Dinge tun.
Mit Ihrer Hilfe haben wir 2008 eine tolle Verwaltungsvorschrift gemacht. Dort sind sehr viele Forderungen, die jetzt in den Anträgen stecken, bereits verarbeitet
worden. Wir erhalten die Berichte des Bundesrechnungshofs, die uns attestieren: Ihr habt kein Problem.
Wir bekommen halbjährlich aus dem Bundesinnenministerium Berichte über den Einsatz externer Personen
in der Bundesverwaltung - der aktuelle Bericht umfasst
Armin Schuster ({3})
63 Seiten; Fleißarbeit! -, in denen im Detail dokumentiert wird, was hier los ist. Es gibt, alle Ressorts zusammengenommen, ganze 56 Fälle. Zwei davon entfallen
nicht auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das
Goethe-Institut, die Max-Planck-Gesellschaft, den Deutschen Naturschutzbund Deutschland oder eine ähnliche
Einrichtung, sondern auf den BDI - und angesichts dessen wird hier ein Fass aufgemacht! In Gottes Namen, ist
es denn so unrealistisch, dass der Bundeswirtschaftsminister mit dem BDI zusammenarbeitet? Wo sind wir
denn? Diese Kritik kann ich wirklich nicht verstehen.
Ich glaube, man muss die Kirche im Dorf lassen. Der
letzte Bericht des Bundesinnenministeriums beweist eindeutig, dass wir eine absolut saubere Politik machen.
Jetzt komme ich Ihnen aber entgegen, Frau Dr. Högl:
Erstens. Den Bericht über den Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung öffentlich zugänglich zu
machen - eine Forderung von Herrn Hartmann -, halte
ich ebenfalls für angemessen. Darüber sollten wir reden.
({4})
Zweitens. Nicht erfasste, befristete Arbeitsverträge
unter bestimmten Kriterien in diese Verwaltungsvorschrift aufzunehmen, halte auch ich unter bestimmten
Umständen für sinnvoll. Über beide Dinge sollten wir
reden.
({5})
Eventuell muss man die Verwaltungsvorschrift ändern.
Ich biete an, darüber zu beraten. Ich weiß, dass die Regierung mit uns diesbezüglich eigentlich im Konsens ist.
({6})
Jetzt komme ich auf das Lobbyregister zu sprechen.
Ich darf als ehemaliger Beamter sagen: Wenn man der
deutschen Verwaltung unter Anwendung der von Ihnen
geplanten Regeln den Auftrag gibt, Lobbykontakte in einem Register zu dokumentieren, dann wird man ganze
Kohorten von Planstellen schaffen müssen; schließlich
muss jeder Besuch, auch wenn er nur ein einziges Mal
stattgefunden hat, dokumentiert werden. Wissen Sie,
was Sie damit erreichen?
({7})
Überhaupt nichts! Unlautere Einflussnahme läuft nämlich subtil ab und ist nicht zu verorten. Die Techniken
kennen Sie.
({8})
Was das buchhalterische Erfassen in Registern gewährleisten soll, das erschließt sich mir nicht. Ich glaube, wir
müssen noch ein paar Jahre miteinander reden, bis es Ihnen gelingt, mich von der Richtigkeit dieses Erfassens
zu überzeugen. Wie gesagt, wenn Sie einen ehemaligen
Beamten nicht überzeugen können, dann zeigt das, wie
schwach Ihre Argumente sind.
({9})
- Beurlaubt.
Fazit: Wir haben eine gute Verwaltungsvorschrift.
Wir haben sehr gute und aktuelle Rechenschaftsberichte.
Wir haben ausweislich des letzten Berichts kein Transparenzproblem. Wir haben noch nicht einmal einen Verdachtsfall. Der BRH sagt: Wir sind clean. In RheinlandPfalz gibt es einen Komiker, der Menschen anruft und
sagt: „Ich hätt’ da gern mal ein Problem.“
({10})
- Stimmt, das ist ein Hesse. - Ungefähr das ist es, was
diese Debatte kennzeichnet.
Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und
Bürger auf der Zuschauertribüne, Sie dürfen stolz darauf
sein, nachweislich - ich betone: nachweislich - eine für
das Thema sensible, sich selbst kontrollierende, transparente Regierung, eine durchschaubare Verwaltung und
ein offenes Parlament zu haben. Das ist die Kernbotschaft, die ich gern vermitteln wollte.
Danke schön.
({11})
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. - Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2096, 17/5230 und 17/2486 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 17/2096
und 17/2486 sollen federführend beim Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Emissionshandels
- Drucksache 17/5296 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat das Wort die
Parlamentarische Staatssekretärin Kollegin Ursula
Vizepräsident Eduard Oswald
Heinen-Esser. - Bitte schön, Frau Kollegin HeinenEsser.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
Entwurf der Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz bringen wir heute den europäischen Emissionshandel für die Zeit ab 2013 hier in Deutschland auf
den Weg. Dieser Emissionshandel wird sich künftig ganz
deutlich von dem Emissionshandel unterscheiden, wie
wir ihn in den ersten beiden Handelsperioden von 2005
bis 2012 kennengelernt haben. Diese beiden Perioden
waren durch einen - um es vornehm auszudrücken sehr großen Handlungsspielraum gekennzeichnet, den
die ursprüngliche Emissionshandelsrichtlinie den Mitgliedstaaten eröffnete. Denn im Grunde - um das einmal
deutlich zu sagen - konnte jeder Staat es halten, wie er
wollte. Er konnte die Mengen und die Zuteilungsregeln
selber festlegen.
Wir haben erfahren, was das im europäischen Kontext
bedeutete, nämlich einen Wettlauf der Mitgliedstaaten
um die jeweils besten Wettbewerbsbedingungen. Deshalb war es überhaupt nicht verwunderlich, dass sich ein
breiter Konsens für eine deutlich stärkere Harmonisierung der Regeln innerhalb des EU-Emissionshandelssystems abgezeichnet hat. Das betraf insbesondere die
Festlegung einer EU-weit einheitlichen Gesamtemissionsmenge und einheitlicher Zuteilungsregeln, mit
denen man hofft, diesen Wettlauf einzudämmen. Wir
wollen eben nicht 27 verschiedene nationale Emissionshandelssysteme, sondern ein europäisches Emissionshandelssystem.
Die Novelle hat drei Hauptanliegen. Erstens. Es soll
keine nationalen Alleingänge geben, sondern eine konsequente Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie. Zweitens geht es um die Nutzung von Gestaltungsspielräumen, die die Richtlinie insbesondere für Kleinanlagen
eröffnet. Und schließlich geht es drittens um eine sinnvolle Fortentwicklung der nationalen Vollzugsregelungen, insbesondere um die Neuaufteilung der Vollzugsaufgaben von Bund und Ländern.
Lassen Sie mich das anhand von drei Themen kurz
darstellen. Der erste Punkt betrifft den Anwendungsbereich der Novelle und damit die Frage, welche Anlagen
ab 2013 mit einbezogen werden. Zum einen wollen wir
das Problem des Flugverkehrs in dieser Novelle mit lösen, das heißt, erstmals werden die Fluggesellschaften
mit in den Emissionshandel einbezogen, und zum anderen wird die Anzahl der betroffenen Anlagen in Deutschland ab 2013 auf etwa 2 000 anwachsen. Das sind etwa
20 Prozent mehr als bisher. Durch die Eins-zu-eins-Umsetzung können sich die betroffenen Unternehmen aber
rechtzeitig auf die veränderte Situation einstellen, ohne
dass ihnen bei der kostenlosen Zuteilung langjährige
Streitereien etwa mit der Kommission drohen.
Der zweite Punkt betrifft die in der Novelle eröffnete
Möglichkeit zur Privilegierung von Kleinanlagen. Es
gibt eine Option für Kleinanlagen, die von der Pflicht
zur Abgabe von Zertifikaten dann befreit werden, wenn
sie anstelle der Teilnahme am Emissionshandel gleichwertige Maßnahmen zur Emissionsreduzierung erbringen. Diese Regelung ist vor allem für kleine und mittlere
Unternehmen wichtig, die im Verhältnis zu ihrer Emissionsmenge überproportional von den Transaktionskosten des Emissionshandels betroffen sind.
Die dritte Regelung - da werden wir sicherlich noch
in Diskussionen mit dem Bundesrat eintreten - betrifft
die Neuaufteilung der Vollzugszuständigkeiten zwischen
Bund und Ländern. Die Zuständigkeit des Umweltbundesamtes für die gesamte Emissionsüberwachung sichert
einen bundeseinheitlichen Vollzug und trägt damit auch
zur Wettbewerbsgerechtigkeit zwischen den in Deutschland am Handel beteiligten Unternehmen bei. Die Genehmigung der emissionshandelspflichtigen Anlagen
soll wie bisher unverändert bei den Ländern bleiben.
Gestatten Sie mir dazu eine Anmerkung. Wir können
nicht in Europa einheitliche Bedingungen haben und es
in Deutschland in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich regeln. Es ist wichtig, dass wir auch innerhalb
Deutschlands zu einheitlichen Regelungen kommen.
Es gibt natürlich Wünsche - auch darüber werden wir
noch sprechen -, die in der Novelle nicht enthalten sind.
Dies betrifft die viel diskutierten Regeln für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten. Diese Regeln werden ab
2013 EU-weit vereinheitlicht. Die Mitgliedstaaten - das
muss man klar sagen - haben bei der Umsetzung dieser
Regeln keinen nennenswerten Gestaltungsspielraum
mehr. Deshalb sieht der Entwurf der Novelle die Umsetzung der Zuteilungsregeln im Wege einer Rechtsverordnung vor. Weil es aber ein besonderes politisches Thema
ist und auch immer wieder besondere politische Aufmerksamkeit bekommt, wird vorgeschrieben, dass die
Zustimmung des Deutschen Bundestages zu der Zuteilungsverordnung erforderlich ist. Damit ist gewährleistet, dass es immer wieder hier im Parlament diskutiert
wird.
Der Emissionshandel ist für die von ihm erfassten Bereiche das zentrale Instrument zur Erreichung unserer
Klimaschutzziele. Er ist das wirklich umfassendste klimapolitische Instrument. Wir sehen unsere Industrie und
unsere Unternehmen auch für den Emissionshandel nach
2012 sehr gut aufgestellt. Deshalb können wir jetzt frohen Mutes in die neue Handelsperiode eintreten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leider sind die Unternehmen nicht so gut aufgestellt,
Frau Staatssekretärin, weil Sie mit Ihrer nationalen Umsetzung etwas spät dran sind; es hätte schneller gehen
können. Das bringt Probleme für manche Unternehmen.
Sie wissen nicht genau, wie das demnächst eigentlich
aussieht und wie sie dann an die Zertifikate kommen,
weil das Gesetz noch nicht beschlossen ist und Sie den
Zeitplan, den Sie sich vorgenommen haben, nicht einhalten werden.
„Gesetz zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Fortentwicklung des Emissionshandels“, das ist der
sperrige Titel. Es ist eine recht sperrige Materie. In der
Tat - Sie haben es erwähnt, Frau Staatssekretärin -: Die
nationalen Spielräume sind sehr gering. Ich sage: Zum
Glück sind sie national sehr gering. Wir werden uns im
Rahmen der Anhörung am Montag intensiver mit diesen
geringen Spielräumen beschäftigen.
Es ist gut, dass die nationalen Spielräume eng sind.
Warum? Weil der Emissionshandel eines der zentralen
Instrumente des Klimaschutzes ist und wir uns einig
sind, dass die Herausforderungen des Klimawandels nur
in größeren Zusammenhängen zu bewältigen sind. Das
gilt weltweit und eben auch EU-weit.
Es wird viel Kritik an der EU geübt. An der Stelle
muss man aber einmal eine Eloge auf die EU halten. Wir
haben mit der dritten Handelsperiode endlich ein einheitliches europäisches System, abseits von nationalen Egoismen des Status quo, die die Verhandlungen zur ersten
und zweiten Periode leider bestimmt haben. In der ersten
Periode ist etwas herausgekommen, das am Ende gar
keine Steuerungswirkung mehr hatte. In der zweiten
Handelsperiode ist es deutlich besser geworden, aber
auch da hätte man sich mehr vorstellen können.
Ich will aus Sicht des Parlaments in Deutschland sagen: Wir - ich meine diejenigen, die damals schon dabei
waren - haben das Bestmögliche herausgeholt. Mit einem Versteigerungsanteil von am Ende 8,8 Prozent sind
wir fast an die Grenze dessen gegangen, was wir eigentlich durften. Nichtsdestotrotz gab es Mitnahmeeffekte in
einer Größenordnung von 30 bis 35 Milliarden Euro bei
den großen Energieversorgungsunternehmen. Wir von
der Politik müssen uns schon zurechnen lassen, dass wir
das nicht verhindert haben.
Was heute Grundlage ist, was wir heute diskutieren
und demnächst hier beschließen werden, ist letztendlich
Produkt des EU-Gipfels von Ende 2008. Ich will daran
erinnern, dass es Umweltminister Gabriel war, der damals mit dafür gesorgt hat, dass diese Regeln durchgesetzt worden sind. Die Hauptregel ist, dass es im Bereich
der Energieversorgung, des Stroms, eine hundertprozentige Versteigerung gibt. Das wird ab dem 1. Januar 2013
seine Wirkung haben.
Ich will auch hervorheben, dass wir als Bundestag
sehr selbstbewusst auf den Zeitpunkt Ende 2008 schauen
können, weil wir als Deutscher Bundestag ein Stück Geschichte geschrieben haben. Wir haben nämlich die Beteiligung des Parlaments an der EU-Gesetzgebung mit
Leben gefüllt. Ich glaube, dass man daraus lernen kann.
Es ist gut, ein selbstbewusstes Parlament zu haben. In
der aktuellen Situation kann man lernen: Es sind nicht
Regierungen, nicht Sonderkommissionen und auch nicht
Talkshows, die am Ende entscheiden, sondern es ist der
Deutsche Bundestag; er ist vom Souverän mit der Macht
ausgestattet, zu entscheiden. Heute sollten wir uns daran
erinnern, dass das Ende 2008 geklappt hat. Auch bei
dem, was in den nächsten Wochen und Monaten ansteht,
sollten wir uns darauf besinnen.
({0})
Das alles sind Erfolge der Vergangenheit, die sich
jetzt auszahlen. Die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb
- vielleicht kann man das Herrn Umweltminister
Röttgen ausrichten -, muss sich an dem Hier und Jetzt
messen lassen und daran, was im Moment Klima- und
Energiepolitik in diesem Lande ist. Da weiß die Regierungskoalition nicht mehr, wo hinten und vorn ist.
Sie haben eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt,
von der Sie nicht wissen, wie Sie davon wieder loskommen. Sie haben auf 29 schwach beschriebenen Seiten ein
sogenanntes Energiekonzept erstellt, das mittlerweile
pulverisiert ist. Sie haben es versäumt, das Klimaprogramm von Meseberg weiterzuentwickeln, das 2007 aufgestellt wurde und deutlich detaillierter war als das sogenannte Energiekonzept. Sie haben gegen Ihren eigenen
Koalitionsvertrag verstoßen. Sie haben von „Brückentechnologien“ geredet und gleichzeitig die Pfeiler der
Brücke eingerissen. Sie haben die Mittel für den Klimaschutz gestrichen. Sie haben einen ominösen Energieund Klimafonds aufgelegt, von dem Sie nicht genau wissen, ob überhaupt etwas in diesen Fonds hineinkommt
und wie viel das sein wird. Sie haben den Exportschlager
EEG ins Abseits gestellt und auf die verrottete Atomtechnologie gesetzt.
All das hat einen Torso, eine Karikatur von Energieund Klimaschutzpolitik hinterlassen. Es bringt auch
nichts, wenn Herr Röttgen ständig schöne Sätze spricht,
die man bald alle auswendig kann. Denn er ist nicht dafür gewählt worden, Zukunftsforscher, Philosoph oder
Leitartikler zu sein. Er ist dafür gewählt worden, Dinge
umzusetzen. Ich meine beispielsweise die Frage, welchen Klimaschutz die Europäische Union zukünftig leisten wird. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Frage
des Emissionshandels: Wollen wir eine Verschärfung der
Klimaschutzziele innerhalb der Europäischen Union von
20 auf 30 Prozent, ja oder nein? Es ist die Zeit gekommen, darüber nicht weiter zu reden, sondern sich endlich
durchzusetzen und die Dinge zu vollziehen.
({1})
Ich empfehle sehr, das Gutachten zu lesen, das der
Wissenschaftliche Beirat „Globale Umweltveränderungen“ heute auf den Tisch gelegt hat; ich habe es zumindest anlesen können. Er ermahnt uns, die Dynamik zu
nutzen, die in einem beschleunigten Atomausstieg in
Deutschland, aber auch darüber hinaus liegt. Er ermahnt
uns, die Chancen zu nutzen, die Dinge anzugehen und
den Energieumbau voranzutreiben. Dafür braucht man
einen effizienten Emissionshandel. Ich denke - so viel
Gemeinsamkeit kann sein -, dass das, was wir am Ende,
vielleicht mit leichten Veränderungen, als Gesetz verabschieden werden, durchaus einen Beitrag dazu leistet.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Dezember 2009 haben die Grünen einen Antrag gestellt, die
alten ineffizienten, CO2 und Quecksilber emittierenden
fossilen Kraftwerke am besten vom Netz zu nehmen.
({0})
Heute werden diese alten ineffizienten Dreckschleudern
in vielen Studien und beispielsweise auch in Studien des
Öko-Instituts „kalte Reserven“ genannt. Es wird darauf
verwiesen, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn diese
kalten Reserven jetzt hochgefahren werden. Warum?
Weil wir auf europäischer Ebene den Zertifikatehandel
haben.
Spätestens jetzt hat sogar der Letzte gemerkt, dass
Verschmutzungen in einen Naturraum einzupreisen, besser ist, als Techniken nach wechselnden Befindlichkeiten zu bestrafen oder zu bevorzugen. Es ist viel sinnvoller, auf europäischer Ebene ein marktwirtschaftliches
Instrument einzuführen, als auf lokaler Ebene einzelne
Kraftwerke hoch- oder herunterzufahren. Der Zertifikatehandel ist hierfür das richtige Instrument. Insofern finden wir es gut, dass wir diesen in der nächsten Handelsperiode weiter verstärken.
({1})
Es ist auch richtig, dass energieintensive Unternehmen kostenfreie Zuteilungen bekommen. Warum? Wir
wollen das Klima schützen, wir wollen nicht die europäische Industrie schwächen. Unternehmen, die auf dem
globalen Markt bestehen wollen, brauchen Rahmenbedingungen, damit sie sich am globalen Markt durchsetzen können. Zu diesen Rahmenbedingungen insbesondere für energieintensive Unternehmen gehört einfach
auch, dass wir in dieser Frage helfen müssen.
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass im
Bereich der Chemie 95 Prozent der Zertifikate frei zugeteilt werden. Warum ist dieser Bereich so wichtig? Wir
sind in Deutschland bei der Chemie Weltmarktführer.
Wir haben hier wichtige Arbeitsplätze. Ich danke Herrn
Röttgen und Herrn Wirtschaftsminister Brüderle dafür,
dass sie sich auf europäischer Ebene so stark für
Deutschland eingesetzt haben.
({2})
Bei allem Lob: Es gibt auch drei Kritikpunkte, die ich
am Anfang des parlamentarischen Verfahrens anbringen
möchte. Frau Heinen-Esser hat die Kleinemittenten erwähnt. 50 Prozent der Anlagen, die neu in den Zertifikatehandel einbezogen werden, sind Kleinemittenten, die
insgesamt 2 Prozent der CO2-Emissionen verursachen.
Für sie gibt es folgende Ausnahmeregelung: Wenn die
CO2-Reduzierung entsprechend der im Zertifikatehandel
vorgesehenen Reduzierung vorgenommen wird, also parallel zu dieser läuft, können sie vom Zertifikatehandel
ausgenommen werden, einfach aus dem Grund, dass die
Bürokratiekosten wahrscheinlich höher wären als die
Kosten für die Zertifikate.
Hier gibt es nun Spielräume. Man kann sich vorstellen, dass es zum Beispiel für eine kleine Ziegelei wie die
in meiner Gemeinde, die Kunsthandwerk macht, ziemlich schwierig ist, jedes Jahr den CO2-Ausstoß genau um
1,74 Prozent zu reduzieren. Es gibt vielleicht Nachrüstmaßnahmen, die nur 1,7 oder 1,69 Prozent oder auch nur
1,59 Prozent Reduzierung bringen. Für solche Fälle
wurde ein kleiner Spielraum vorgesehen; das heißt,
wenn sie weniger schaffen, also beispielsweise nur
1,6 Prozent, müssen sie für diese Differenz in Höhe des
Gegenwertes der Zertifikate zahlen, also quasi eine Ersatzzahlung leisten. Einen solchen Spielraum gibt es
aber nur bei einer Reduzierung von 1,6 bis 1,74 Prozent.
Wenn die Einsparung demgegenüber beispielsweise bei
1,59 Prozent liegt, muss der volle Betrag bezahlt werden.
Wir wollen mit dem Zertifikatehandel nicht Geld verdienen, sondern für Klimaschutz sorgen. Vor diesem
Hintergrund ist jedes eingesparte Tönnchen CO2 eine
gute Maßnahme. Deswegen fordere ich hier für die FDP
eine Nachbesserung in der Form, dass jemand, der gar
nichts macht, den vollen Gegenwert zahlt, dass jemand,
der nur halb so viel wie vorgesehen einspart, die Hälfte
zahlen, und jemand, der drei Viertel der vorgesehenen
Einsparungen schafft, nur ein Viertel zahlen soll. Hier
einfach einen Grenzwert festzulegen, halten wir nicht für
gerechtfertigt. Das würde nur Kleinunternehmen und
den Mittelstand und damit diejenigen treffen, die jetzt
nach der Wirtschaftskrise wieder Kapazitäten aufbauen.
Deswegen denken wir, dass man hierüber durchaus noch
reden sollte.
({3})
Es gibt einen zweiten Kritikpunkt; dieser betrifft den
Bereich der Müllverbrennung. Es gibt Hausmüll, es gibt
aber auch Plastikmüll. Dieser Plastikmüll, der aus Erdöl
besteht, kann wiederaufgearbeitet werden und wird dann
als Ersatzbrennstoff bezeichnet. Jetzt kann man auf der
einen Seite sagen: Die Verbrennung von Öl und die Verbrennung dieses Brennstoffs, der auch einmal Öl war,
({4})
ist im Prinzip gleichzusetzen. Beides emittiert ja in gewisser Weise CO2 und fällt damit unter den Zertifikatehandel. Auf der anderen Seite wird aber in fast allen
Gutachten nachgewiesen, dass die Verwendung von Ersatzbrennstoffen dem Klima nützt: Zum einen wird das
gleiche Produkt mehrfach verwertet, zum anderen ist unter dem Strich tatsächlich ein positiver Klimaeffekt, ein
positiver CO2-Effekt vorhanden. Ob man diese positive
Maßnahme, diese Klimaschutzmaßnahme, jetzt unbedingt in den Zertifikatehandel einbeziehen soll, kann
man durchaus noch einmal diskutieren. Schon im Vorfeld wurde ja darüber diskutiert. Man hat dann gesagt:
Bei einem Brennwert über 13 000 Kilojoule handelt es
sich um einen Ersatzbrennstoff; alles, was darunter liegt,
ist vom Zertifikatehandel freigestellt. Aber diese Grenze
ist nicht sachlich gerechtfertigt, sondern das Ergebnis
von Verhandlungen. Über diesen Punkt könnte man also
durchaus auch noch nachverhandeln.
Der dritte Kritikpunkt betrifft den Flugverkehr. Der
Flugverkehr wird 2013 in den Zertifikatehandel miteinbezogen. Davon sind allerdings auf globaler Ebene nicht
alle begeistert. Eine amerikanische Airline hat dagegen
bereits Klage bei der EU-Kommission eingereicht. Man
kann darüber diskutieren, ob ein Gericht diese Frage entscheiden soll. In vielen Fällen kann man das bejahen.
Wir denken allerdings, dass Europa eine Handelszone
darstellt, in der wir es mit Handelspartnern zu tun haben.
Wenn von Handel, von Vertrauensverhältnissen und
Partnern gesprochen wird, dann sollte man sich vielleicht darum bemühen, solche Gerichtsverfahren zu vermeiden und stattdessen im Vorfeld mit den Partnern
sprechen.
({5})
Die Liberalen auf europäischer Ebene führen diese Gespräche schon. Wir möchten, dass auch die EU-Kommission verstärkt in die Gespräche eintritt, damit die
Differenzen, die im Moment noch bestehen, in harten,
aber fairen Gesprächen einvernehmlich aufgelöst werden und wir am Ende nicht die Gerichte darüber entscheiden lassen, wie unser Handel mit europäischen und
außereuropäischen Partnern abgewickelt wird.
({6})
In unseren Haushaltsplänen ist die Flugticketabgabe
noch enthalten. Diese soll ja 2013 von der Flugverkehrsteuer abgelöst werden. Deshalb freue ich mich auf den
Haushalt 2013, in dem die Flugticketabgabe nicht mehr
enthalten sein wird.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vieles von dem, über das wir heute beraten, ist bereits
2008 auf europäischer Ebene entschieden worden. Auf
die Emissionshandelsrichtlinie der EU hatte Deutschland
großen Einfluss. Doch hier ist offensichtlich einiges
schiefgelaufen - jedenfalls aus Sicht des Klimaschutzes.
Nachdem die Politik seit 2005 die Stromkonzerne fett
gemacht hat, indem die Konzerne die wertvollen Emissionsrechte vom Staat geschenkt bekommen haben und
diese aber unbegründet eingepreist haben, sollen die
Zertifikate ab 2013 wenigstens im Stromsektor versteigert werden. Dies könnte auch im Kraftwerksbereich tatsächlich Lenkungswirkung entfalten, allerdings nur
dann, wenn nicht zu viele Emissionsrechte auf den
Markt geworfen werden.
Doch genau hier liegt das Problem; denn überschüssige Rechte können von dieser Handelsperiode 2012 in
die nächste Handelsperiode ab 2013 übertragen werden.
Zurzeit liegen Rechte für 100 bis 160 Millionen Tonnen
CO2 sozusagen auf Halde. Bedingt durch die Wirtschaftskrise wurden sie nicht gebraucht. Es besteht daher
die Gefahr, dass der Markt mit Emissionsrechten überschwemmt wird und es daher keine Anreize für Klimaschutzmaßnahmen gibt.
({0})
Umweltminister Röttgen will das Minderungsziel der
EU von minus 20 auf minus 30 Prozent gegenüber 1990
verschärfen. Ich sage noch einmal: Wir unterstützen dieses Ziel. Es ist aber nur unter der Voraussetzung zu erreichen, dass im Emissionshandelssektor entsprechend gekürzt wird. Die EU-Kommission hatte dazu auch einen
klugen Vorschlag gemacht, nämlich im Jahr 2013 rund
1,4 Milliarden Zertifikate stillzulegen. Sie würden also
von jenen Emissionsrechten abgezogen, die bislang zur
Versteigerung vorgesehen sind.
Wir haben die Bundesregierung schriftlich gefragt,
was sie davon hält. Sie hat ganz frech geantwortet, einen
solchen Vorschlag der Kommission gebe es überhaupt
nicht. Dabei steht er in der Kommissionsmitteilung zur
Analyse eines verschärften Minderungsziels schwarz auf
weiß. Ich vermute Folgendes: Entweder nimmt die Bundesregierung die Kommission und ihre Mitteilungen
nicht ernst oder aber das Fragerecht des deutschen Parlaments - vielleicht auch beides.
({1})
Inzwischen hat Klimakommissarin Conni Hedegaard
diesen Vorschlag mehrfach wiederholt. Ich kann ankündigen, dass wir, die Linke, die Kleine Anfrage noch einEva Bulling-Schröter
mal stellen und die Antwort der Bundesregierung an
Frau Hedegaard schicken. Wir sind gespannt.
({2})
Die eigentliche Katastrophe in der EU-Emissionshandelsrichtlinie ist aber die weitgehend kostenlose Zuteilung der Emissionsrechte an die Industrie. Die in jeder
Hinsicht einfachste und wirksamste Methode einer Versteigerung wurde unter deutschem Druck verworfen. Ich
sage nicht, dass eine Versteigerung keine Probleme mit
sich bringen würde; denn ich kenne ja Herrn Obermeier.
Er wird dazu sicher etwas sagen. Aber man hätte es differenzierter ausgestalten können. Wir haben in diesem
Zusammenhang im Ausschuss über Kriterien diskutiert.
Diesen Weg wollten Sie nicht beschreiten.
Die Folge ist erneut ein bürokratisches Monstrum mit
einem Wirrwarr von Zuteilungsregeln. Das zeigt sich
auch bei der TEHG-Novelle, also der Novelle zum
Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, um die es heute
geht. Durch das Hickhack zwischen Umwelt- und Wirtschaftsministerium ist das Ding zudem fast unlesbar geworden. Die Lobbyarbeit der einzelnen Wirtschaftszweige und die Empfänglichkeit von Herrn Brüderle
dafür liegen wie Mehltau über der Rechtspflege.
({3})
Dabei stehen die kompliziertesten Geschichten noch
gar nicht im Gesetz: Über den Verordnungsweg sollen
noch 52 EU-weit gültige Benchmarks eingeführt werden. Was sind Benchmarks? Das sind Vergleichszahlen
für branchentypische Emissionen. Sie sind nötig, um die
Zuteilung an die Industrie im Detail zu regeln. Einzelne
Anlagen lassen sich dabei noch in fiktive Teilanlagen
zerlegen. Sie sehen, wie kompliziert das Ganze ist. Die
Folge ist: Es gibt Schlupflöcher ohne Ende; eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ist quasi ausgeschlossen. Dass hier unter dem Strich viele Firmen vom zusätzlichen Klimaschutz befreit werden, pfeifen die
Spatzen vom Dach.
Ab nächstem Jahr wird der Flugverkehr in den Emissionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen
wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Das ist allerdings wenig ermutigend; denn die zugeteilte Gesamtmenge wird im Jahr 2020 95 Prozent des Durchschnitts
der Jahre 2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klimaschutz sieht anders aus.
({4})
Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte
versteigert werden. Ferner - das halte ich für schlimm ignoriert das System die indirekten Effekte des Flugverkehrs wie NOx und Wasserdampf, die die Treibhauswirkung je Tonne ausgestoßenes CO2 um den Faktor zwei
bis vier erhöhen. Das heißt, in Flughöhe ist CO2 wesentlich klimawirksamer als am Boden, beispielsweise bei
einem Auto. Dann müsste man das entsprechend der
Wirksamkeit auch so einpreisen. Das wird jedoch nicht
gemacht.
Insgesamt setzen wir mit dem TEHG nur ein halbherziges Klimapaket der EU um. Das sollte heute, bevor es
in den Ausschüssen um Details geht, noch einmal gesagt
worden sein.
Zum Schluss vielleicht noch Folgendes: Für besonders schäbig halte ich es, dass Sie von der Koalition die
Kompensation für Flugreisen schon im Vorfeld gestrichen haben. Das finde ich grob unanständig.
({5})
Das Wort hat nun Hermann Ott für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz bringt unbestritten einige Verbesserungen, etwa
die Vollversteigerung im Stromsektor, die Einbeziehung
weiterer Klimagase und Anlagen oder auch die längst
überfällige Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel.
Wahr ist aber auch, dass der Emissionshandel in der
dritten Handelsperiode weit hinter seinen Möglichkeiten
zurückbleibt und damit den Herausforderungen des Klimawandels nicht gerecht wird. Ich will an dieser Stelle
nur einige Kritikpunkte nennen.
Da gibt es nach wie vor die weitgehend kostenlose
Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Industrie
oder die viel zu großzügige Nutzung des Clean Development Mechanism, der teilweise höchst problematisch ist.
Dies sind Regelungen, die den Emissionshandel schwächen.
Doch es gibt sogar explizit klimaschädliche Regelungen in der Richtlinie. So erlaubt es die europäische Regelung sogar, neue Kohlekraftwerke mit den Erlösen aus
dem Emissionshandel zu subventionieren. Die Bedingung: Sie müssen „CCS-ready“ sein. Das heißt im
Grunde nicht mehr, als dass sie über einen zusätzlichen
benachbarten Bauplatz verfügen müssen, wo man so
eine Abscheidungsanlage hinsetzen könnte - könnte,
aber nicht muss. Es ist, meine Damen und Herren, eine
Schande, dass ein Instrument des Klimaschutzes für die
Finanzierung von Kohlekraftwerken, also von Klimakillern, missbraucht werden kann.
({0})
Dass Sie diese Regelung umsetzen wollen, steht zwar im
Koalitionsvertrag, aber die Regelung steht Gott sei Dank
nicht im Gesetz.
Ich komme jetzt zu der Situation in Deutschland.
Es muss festgestellt werden, dass der gesamte Emissionshandel in seiner jetzigen Ausgestaltung den Klimaschutz in Deutschland eher behindert, indem er nämlich
die Erreichung des 40-Prozent-Ziels fast unmöglich
macht; denn die Verpflichtungen für Deutschland setzen
nur das europäische 20-Prozent-Ziel um. Die Minderung
für den Strom- und Industriesektor in Deutschland beträgt entsprechend eben auch nur 20 Prozent. Das ist
nicht nur viel zu schwach. Es ist auch nicht ersichtlich,
wie diese schwache Regelung von den übrigen Sektoren
kompensiert werden könnte, wo doch der Emissionshandel nur knapp die Hälfte der Emissionen in Deutschland
erfasst. Wie viel mehr soll denn der Verkehrssektor erbringen? Wie viel mehr sollen die privaten Haushalte erbringen? Nein, das deutsche 40-Prozent-Ziel entspräche
einem europäischen Ziel von 30 Prozent. Das wäre - das
wissen Sie auch - sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll.
Aber die Bundesregierung blockiert die europäische
Einigung auf ein 30-Prozent-Ziel. Sie blockiert damit
auch die Erreichung des eigenen Ziels. Ist es Schizophrenie oder kühle Kalkulation? Wir wissen es nicht.
Aber so nebenbei wird dadurch auch der seit Regierungsantritt bestehende Geburtsfehler dieser Koalition
deutlich, dass es nämlich keine Solidarität unter Ihnen
gibt.
({1})
Wirtschaftsminister Brüderle bremst gnadenlos Umweltminister Röttgen aus, der sich für die Erhöhung des
Ziels auf 30 Prozent einsetzt. Röttgen bekommt zum
Dank nicht einmal die Unterstützung seiner Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker. Ein im Umweltausschuss eingebrachter interfraktioneller Antrag zur Erhöhung des EU-Ziels bekam die Stimmen der Grünen, der
SPD und der Linken, aber nicht die Stimmen von Union
und FDP. Damit, meine Damen und Herren von der
schwarz-gelben Koalition, haben Sie schnöde Ihren eigenen Minister im Regen stehen gelassen.
({2})
Zurück zum vorliegenden Entwurf. Leider müssen
- wie so oft bei dieser Regierung - auch handwerkliche
Mängel konstatiert werden. Die Novelle kommt viel zu
spät. Sie hätte bereits am 2. Februar 2010 vorgelegt werden müssen. Da ist die offizielle Frist abgelaufen. Ein
Vertragsverletzungsverfahren der EU ist anhängig. Das
dritte und letzte Mahnschreiben der Kommission geht
derzeit an Deutschland heraus. Deutschland sieht neben
Polen, Estland und Zypern ziemlich schlecht aus. Dabei
stehen für die Industrie im Juni und September wichtige
Fristen an. Schon bis zum 30. Juni müssen zum Beispiel
die Anträge der Fluggesellschaften auf kostenlose Zuteilung bei der EU-Kommission vorliegen. Das ist für die
Unternehmen nur schwer zu schaffen.
Diese Verspätung ist aber nicht zufällig. Die vorliegende Novelle kommt auch deshalb auf den letzten Drücker, weil innerhalb der Bundesregierung um Ausnahmen und Sonderregelungen gefeilscht worden ist, zum
Beispiel für die sogenannten Kleinemittenten. Statt angesichts des fortschreitenden Klimawandels mit einer
zügigen und klaren Novelle den Anspruch eines Vorreiters beim Klimaschutz zu unterstreichen, hat sich die Regierung in Ausnahmeregelungen und Detaildebatten verzettelt. Das ist ein völlig falsches Signal, insbesondere
für die Klimakonferenz Ende dieses Jahres.
({3})
Die internationale Klimapolitik braucht Vorreiter; es
bräuchte Deutschland, es bräuchte die EU. Doch diese
Vorreiterrolle wollen Sie offenbar nicht annehmen.
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat
eine Energiewende in Deutschland angekündigt. Dabei
geht es nicht nur um den Ausstieg aus der nicht beherrschbaren und tödlichen Atomenergie, sondern auch
um den Einstieg in eine Energieversorgung durch erneuerbare Energien und den Umbau zu einer effizienteren
und grüneren Wirtschaft. Die vorliegende Novelle zum
Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz hätte ihren Beitrag dazu leisten können, die Weichen in diese Zukunft
zu stellen. Doch wie bei fast allem, was diese schwarzgelbe Koalition anpackt, packt sie es nicht. Es ist ein
Jammer.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst unterstreichen - zumal Herr Kollege
Dr. Ott dies angezweifelt hat -: Die Umweltpolitiker der
Union stehen mit Überzeugung und großer Geschlossenheit hinter dem Eintreten des Bundesumweltministers
für ein Aufstocken des EU-Ziels auf 30 Prozent.
({0})
Das zeigt dieser Applaus, das zeigt unser Eintreten dafür
in der Öffentlichkeit, und das zeigt auch unser Werben
dafür in den Koalitionsfraktionen. Wir wollen, dass die
Entscheidung der Koalition am Ende in genau diese
Richtung geht. Wir stehen selbstverständlich zu unserem
Klimaziel, bis 2020 die Treibhausgase gegenüber 1990
um 40 Prozent zu reduzieren.
Ein wesentliches Instrument des Klimaschutzes ist
der Emissionshandel, über den wir heute diskutieren. Ich
glaube sagen zu können, dass mit der Emissionshandelsperiode ab 2013 Verbesserungen erzielt und in drei Bereichen dieses Emissionshandelssystems Quantensprünge gemacht werden können.
Erstens. Wie bereits von mehreren Rednern angesprochen worden ist, werden wir weitgehende einheitliche
Andreas Jung ({1})
europäische Regelungen haben. Wir überwinden so das
bisher geltende Emissionshandelssystem, in dem es zwar
europäische Vorgaben, aber weiten Spielraum für nationale Regelungen gibt. Damit erreichen wir zweierlei:
Zum einen erreichen wir auf europäischer Ebene ein gemeinsames Vorgehen beim Klimaschutz im Bereich des
Emissionshandels, zum anderen erreichen wir Wettbewerb auf Augenhöhe für unsere Industrie. Aus beiden
Gründen haben wir uns dafür eingesetzt, und aus beiden
Gründen ist das ein wichtiger Schritt.
Zweitens. Erstmals wird der Flugverkehr in den
Emissionshandel einbezogen. Ich glaube, das ist ein
wichtiger Einstieg. Ich glaube auch, dass es notwendig
sein wird, Schritt für Schritt zu einer weiteren Reduzierung des Caps, zu einer weiteren Auktionierung zu kommen. Es ist aber aus klimapolitischer Sicht zunächst einmal ein Anlass zur Freude, dass dieser Einstieg gelungen
ist und dass die jahrzehntelange Diskussion, in der es
immer wieder geheißen hat, man würde die umweltfreundlichen Verkehrsmittel wie Bus und Bahn mit der
Ökosteuer belasten, aber das Flugbenzin sei steuerfrei,
damit überwunden ist. In Zukunft muss der, der mit dem
Flugzeug unterwegs ist, auch für den CO2-Ausstoß bezahlen. Das finde ich richtig.
Drittens. Wir werden - auch das ist angesprochen
worden - zu einer 100-prozentigen Auktionierung im
Strombereich kommen. Das bedeutet in der Tat einen
Quantensprung, ausgehend von einer vollständig kostenlosen Zuteilung über eine Teilauktionierung in der letzten Legislaturperiode hin zu einer 100-prozentigen Auktionierung mit einer Differenzierung zwischen dem
Energiebereich und dem Industriebereich. Das halten wir
für richtig, weil es zeigt, dass wir den Weg in eine kohlenstofffreie, eine kohlenstoffarme Wirtschaft gehen
wollen, dass wir aber gleichzeitig Industrie und Arbeitsplätze in Europa im Blick haben. Wir kämpfen für ein
globales Abkommen, in dem sich alle Staaten der Welt
verpflichten, vergleichbare Ziele anzustreben, weil dann
eine Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht mehr möglich
ist. Wir wollen eine 100-prozentige Auktionierung im
Energiebereich. Wir haben auch im Bereich der Industrie
anspruchsvolle Ziele, aber noch nicht die Auktionierung.
Lassen Sie mich drei Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf machen, über den wir heute diskutieren, mit
dem das TEHG novelliert werden soll:
Erstens. Wenn wir einheitliche Regelungen und Wettbewerb auf Augenhöhe haben wollen, dann müssen wir
darauf achten, dass die europäischen Regelungen tatsächlich eins zu eins umgesetzt werden; dadurch wird sichergestellt, dass wir dieses Ziel erreichen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die EmissionshandelsRichtlinie durch diesen Gesetzentwurf genau so umgesetzt wird. Es wurde schon angesprochen, dass das vonseiten der Wirtschaftsverbände an der einen oder anderen Stelle infrage gestellt wird. Wir wollen uns in der
Anhörung und bei den Beratungen Zeit nehmen, um
diese Fragen zu klären, damit wir am Ende sicher sein
können, dass diese Richtlinie tatsächlich eins zu eins
umgesetzt wird. Es gibt, wie gesagt, nur noch einige Detailfragen zu klären.
Zum Zweiten wollen wir uns anschauen, inwieweit
der Spielraum genutzt wurde, den die Richtlinie bei
Kleinanlagen bietet. Diese Anlagen müssen nicht in den
Emissionshandel einbezogen werden, sondern können
davon befreit werden. Dieser Spielraum wird genutzt.
Auch das halten wir für richtig. Wir wollen uns die Regelung noch einmal genau anschauen, damit bei diesen
vom Emissionshandel befreiten Unternehmen so wenig
Bürokratieaufwand wie möglich entsteht. Gleichzeitig
müssen wir aber darauf achten, dass die Erfordernisse
des Klimaschutzes berücksichtigt werden.
Drittens und letztens. Es gibt Regelungen, die in diesem Gesetzentwurf nicht enthalten sind. Sie sind in der
europäischen Richtlinie verbindlich geregelt und werden
in Deutschland durch eine Verordnung umgesetzt. Union
und FDP haben darauf gedrungen, dass diese Verordnung der Zustimmungspflicht des Deutschen Bundestages unterliegt. Es geht dabei um maßgebliche Fragen,
zum Beispiel um die Regelung zur kostenlosen Zuteilung im Bereich der Industrie. Wir finden, es ist richtig
und notwendig, dass der Deutsche Bundestag an dieser
Stelle ein Mitspracherecht hat. Wir wollen uns deswegen
Zeit für die Beratung dieser Fragen nehmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Emissionshandel - ich glaube, darüber sind wir uns einig - ist ein wichtiges Klimaschutzinstrument und damit ein wichtiges umweltpolitisches
Instrument. Deswegen ist es schade, dass unser Kollege
Frank Schwabe eben die Staatssekretärin bitten musste,
dem Bundesumweltminister über den Verlauf dieser Debatte Bericht zu erstatten. Es wäre schön, wenn er hier
wäre.
({0})
Der Emissionshandel ist aber auch ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument. Zumindest hat dieses Instrument eine hohe wirtschaftspolitische Relevanz. Deswegen ist es umso bedauerlicher, dass nicht einmal ein
Bote hier ist, ein Staatssekretär, der dem Bundeswirtschaftsminister Bericht erstatten könnte. Ich denke, das
zeigt deutlich, welchen Stellenwert der amtierende Bundeswirtschaftsminister diesem Thema beimisst.
({1})
Als Wirtschaftspolitiker werde ich mich wirtschaftspolitischen Fragen natürlich in besonderer Weise widmen.
Der Erfolg eines solchen Klimaschutzinstrumentes,
des Emissionshandels, hängt auch davon ab, dass man
neben den gewünschten Wirkungen, die man erreichen
möchte, unerwünschte vermeidet. Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist - darüber haben wir uns hier
schon häufiger unterhalten - Carbon Leakage. Wir wollen vermeiden, dass Unternehmen den Standort Deutschland verlassen, weil das Instrument Emissionshandel
hier bestimmte Folgen hat. Wir wollen vermeiden, dass
Unternehmen in Länder abwandern, in denen es dieses
Instrument nicht gibt, in denen sie ihre Produkte gegebenenfalls auf klima- und umweltschädliche Weise herstellen können. Ich glaube, das ist ein honoriges Ziel, das
gerade auch den Bundeswirtschaftsminister beschäftigen
muss.
Ich denke da insbesondere an die energieintensive
Grundstoffindustrie in Deutschland. Sie wissen: Wir
sind das Industrieland Nummer eins in Europa. Wir sind
dadurch natürlich in besonderer Weise von diesen Aspekten des Emissionshandels betroffen und besonders
gefordert, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden
oder zumindest einzuschränken. Wie kann man das tun?
Man kann es tun - so ist es Ende 2008 vom Europäischen Rat festgelegt worden -, indem man dort, wo es
notwendig ist - und nur dort, wo es notwendig ist -, entsprechende Kompensationsregelungen vorsieht, zum einen für die direkten Kosten des Emissionshandels, also
die, die durch die Zertifikate entstehen, und zum anderen
für die indirekten Folgen des Emissionshandels, die sich
beim Strompreis bemerkbar machen. Der Bundeswirtschaftsminister war seit Ende 2008, zumindest seit Beginn dieser Legislaturperiode aufgefordert, in einen Dialog mit der Wirtschaft einzutreten und Vorschläge zu
erarbeiten, wie solche Kompensationsmöglichkeiten aussehen können. Der Wettbewerbskommissar Almunia hat
längst ein Konsultationsverfahren eingeleitet und wartet
auf die Vorschläge der nationalen Regierungen. Nach
unserer Kenntnis und nach dem, was wir aus Brüssel hören, gibt es aus Deutschland dazu bisher keine Vorschläge.
Wir hören das auch von den Unternehmen, die händeringend darum bitten, dass es endlich zu konkreten Regelungen kommt. Warum ist das für sie so wichtig?
Diese Unternehmen haben in der Regel sehr langfristige
Investitionszyklen, verkaufen ihre Produkte meist Jahre
im Voraus an den Weltmärkten, zum Beispiel Aluminium, und sind darauf angewiesen, auch Jahre im Voraus
ihre Kosten zu kennen. Die kennen sie aber nicht, wenn
zum Beispiel über die wichtige Frage der Kompensation
nicht zeitig Entscheidungen getroffen werden. Deswegen richten wir die dringende Aufforderung an den Bundeswirtschaftsminister - möglicherweise liest er die Protokolle des Deutschen Bundestages -, sich endlich in
dieses Konsultationsverfahren einzuschalten,
({2})
den notwendigen Dialog mit der Wirtschaft zu führen
und konkrete Kompensationsvorschläge vorzulegen.
Das ist für uns wichtig, nicht nur für die Grundstoffindustrie, sondern für die Industrie insgesamt, weil - das
wissen wir mittlerweile; spätestens seit der Wirtschaftskrise ist es allen bekannt - wir eine hochvernetzte Industrie haben. Die Wertschöpfungsketten funktionieren; sie
funktionieren auch deshalb, weil wir über die Grundstoffindustrie verfügen. Es gibt also neben all den wichtigen, hier schon genannten Klimaschutzaspekten auch
diese Seite des Emissionshandels. Wir fordern den Wirtschaftsminister auf, zu erkennen, dass dies auch sein
Thema ist und dass er sich darum kümmern muss.
Vielen Dank.
({3})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank, Herr Hempelmann, für Ihre Ausführungen,
zumindest für den größten Teil, in denen Sie die Debatte
über den Emissionshandel einigermaßen realistisch dargestellt haben. Der Verweis auf den Bundesumweltminister ist nicht so recht zu verstehen, wenn ich die Präsenz Ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen in dieser
Debatte betrachte. Vorhin waren nur fünf Kollegen anwesend, jetzt zähle ich sechs. In der SPD-Fraktion wird
das Thema offenbar auch nicht als so wichtig angesehen.
Der Emissionshandel wurde von uns in der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren als das Instrument angesehen, das am geeignetsten ist, unsere
CO2-Minderungsziele zu erreichen. Die Begründung dafür ist, dass er ein wettbewerbliches Instrument ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Obermeier, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass die SPD-Bundestagsfraktion parallel zu
dieser Aussprache und zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes ein seit langem anberaumtes Gespräch mit
Zeitzeugen aus Tschernobyl führt und ein großer Teil unserer Umweltpolitiker an diesem Gespräch teilnimmt?
({0})
Das nehme ich zur Kenntnis.
Es geht um die Frage, wie wir unsere Klimaziele erreichen und die Minderung des Umfangs der CO2-Emissionen so gestalten, dass wir die anderen Ziele, die wir
verfolgen, die Ziele volkswirtschaftlicher Natur, ebenfalls erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen zum
wiederholten Male, dass Deutschland hier eine ganz besondere Rolle spielt. Dem Klima ist mit Sicherheit nicht
gedient, wenn wir Produktion und Fertigung aus
Deutschland in andere Länder vertreiben, indem wir die
Produktionskosten erhöhen und unsere Wettbewerbsfähigkeit im Allgemeinen so sehr schwächen, dass die Produzenten an andere Standorte gehen. Rolf Hempelmann
hat die Themen, die relevant sind, schon angesprochen.
Es geht um Schlüsselindustrien in Deutschland, die wir
im Blick haben müssen. Ich bin der Bundesregierung
ausgesprochen dankbar, dass auf diese Belange in den
Verhandlungen innerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb der Europäischen Union Rücksicht genommen
wurde.
Ganz konkret geht es beispielsweise um die Abfallverwertung. Bei der Abfallverwertung entstehen Kosten.
Diese Kosten sind von den Verarbeitern, den Nutzern,
beispielsweise von der Verpackungsindustrie, zu tragen.
Es kommt sehr wohl darauf an, wie man damit umgeht.
Eine Lösung ist, die klassischen Müllverbrennungsanlagen davon auszunehmen. Ich könnte mit der Lösung leben, dass die Zertifikatspflicht auch dort zur Geltung
kommt, wo Ersatzbrennstoffe industriell eingesetzt werden. Denn hier geht es ganz konkret um die Produktion
und die wirtschaftliche Verwertung von Abfällen.
Was den Zertifikatehandel betrifft, ist dieser Aspekt
von eminenter Bedeutung, weil die bundesdeutsche Volkswirtschaft ohnehin mit einer Wettbewerbsverzerrung besonderen Ausmaßes zu kämpfen haben wird, wenn die
Dinge erst einmal ins Laufen gekommen sind. Denn auch
innerhalb der Europäischen Union gibt es Wettbewerbsländer, die eine völlig andere Energieproduktionsstruktur
aufweisen, deren Stromwirtschaft beispielsweise deutlich
weniger CO2 emittiert, als es in Deutschland der Fall ist.
In Anbetracht der Strategie des Energiekonzeptes und der
Neuerungen, die sich aus den Lehren, die wir aus den Ereignissen in Japan ziehen, möglicherweise ergeben, müssen wir uns auch mit anderen Emissionsstrukturen befassen, als wir es uns noch vor wenigen Monaten vorgestellt
haben.
Ich bitte die Bundesregierung, bei den Verhandlungen
weiterhin sehr behutsam vorzugehen, was die Emissionen im Allgemeinen betrifft. Des Weiteren verweise ich
auf die am kommenden Montag stattfindende Anhörung,
in der wir mit den Experten noch einmal darüber diskutieren wollen, wie wir den Zertifikatehandel im Interesse
unseres Landes so gestalten können, dass die nachteiligen Wirkungen möglichst gering bleiben.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Integration Älterer in den Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksache 17/5235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Es ist ungefähr ein Jahr her, dass Frau von der
Leyen gesagt hat, es gehe jetzt darum, den Silberschatz
des Alters zu heben, und nicht etwa darum, die Älteren
zu entsorgen. Ich finde, das klingt gut. Das hat etwas
Prosaisches. Das Problem ist aber, dass - anders als im
Märchen - in der Realität leider niemandem ein solcher
Silberschatz einfach in den Schoß fällt. Dafür muss man
etwas tun.
({0})
Wenn man sich die Zahlen dazu anguckt, dann sieht
man, dass seit diesen bahnbrechenden Worten leider nicht
viel passiert ist. Die Zahlen sprechen da eine deutliche
Sprache. In 35 Prozent aller Betriebe gibt es keinen einzigen Beschäftigten über 50 Jahre. Ich gebe zu: Die Beschäftigungsquote Älterer hat sich etwas verbessert. Aber
es lohnt sich schon, sehr genau hinzugucken. In der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen sind nur noch 38 Prozent überhaupt beschäftigt. Arbeitslose über 50 haben es
besonders schwer, wieder einen Arbeitsplatz zu finden.
Wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, schlittern sie
im Regelfall in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das können
wir uns angesichts des Fachkräftemangels nicht mehr
leisten, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass
diese Generation, deren Potenziale wir jetzt nicht nutzen,
besser ausgebildet ist als die nachfolgenden Generationen.
({1})
Die Regierung geht offensichtlich davon aus, dass die
durch den demografischen Wandel bedingte Nachfrage
dieses Problem lösen wird. Ich kann Ihnen nur sagen:
Wenn wir hier nicht mit einer konzertierten Aktion vorgehen, wird sich gar nichts daran ändern. Wir sind gerade im Begriff, in eine Situation zu schlittern, die auf
der einen Seite durch einen hohen Fachkräftemangel beschrieben werden kann und auf der anderen Seite durch
eine hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Älteren.
Ja, wir sind der Auffassung, dass die Lebensarbeitszeit an die steigende Lebenserwartung angeglichen werden muss. Aber dazu muss man dann auch die Voraussetzungen schaffen. Wir weigern uns, anzuerkennen,
dass das Prinzip „Rente mit 67“ zu einem Prinzip der
Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir
ausdrücklich nicht.
({2})
Wir wollen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen,
dass die Menschen qualifiziert, motiviert und gesund das
Rentenalter erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass
Menschen, auch wenn sie mit über 50 Jahren arbeitslos
werden, eine echte und realistische Chance haben, wieder einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden.
Der Antrag, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt,
enthält eine Menge von Vorschlägen zu diesem Problem.
Wir wollen, dass kontinuierliche Qualifizierung in den
Betrieben ansetzt. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit
den Maßnahmen zu beginnen, wenn die Menschen alt
sind. Sie müssen beginnen, wenn man in den Beruf einsteigt. Es geht darum, alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen zu schaffen, und es geht darum, die
Vermittlung insbesondere der Älteren zu verbessern.
Ich habe nur vier Minuten Redezeit und kann deswegen nicht ins Detail gehen; aber drei grundlegende Voraussetzungen für die Kultur der Altersarbeit will ich Ihnen nennen.
Das Erste ist: Wir müssen ehrlich sein. 90 000 Ältere
sind arbeitslos und werden nur deswegen nicht als solche
gezählt, weil sie über ein Jahr lang kein Angebot bekommen haben. Das ist nicht ehrlich, das verschleiert das
reale Problem.
({3})
Zweitens. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem in Qualifizierung investiert werden muss, weil es einen anspringenden Arbeitsmarkt gibt, für den wir die Menschen
qualifizieren müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-FDP-Koalition, ich bitte Sie: Stoppen Sie Ihren Finanzminister und Ihre Arbeitsministerin,
die Mittel zur Arbeitsförderung um Milliardenbeträge zu
verringern.
({4})
Drittens. Wir wollen die Betriebe nicht aus der Verantwortung entlassen. Sie sollen die Älteren nicht nur
schätzen, sondern auch einstellen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wir müssen endlich aufhören, Menschen ab 45 als arbeitsmarktpolitische Methusalems zu behandeln. Damit werden wir
ihnen nicht gerecht.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist unstrittig richtig, dass die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in der Vergangenheit katastrophal schlecht war und
dass sie auch heute noch nicht besonders gut ist, sich
aber immerhin verbessert.
Frau Kollegin Pothmer, es ist gut, wenn man Analysen vorträgt, wie Sie das gemacht haben, aber man muss
natürlich auch etwas zu den Ursachen sagen. Eine Ursache dafür, dass die Zahlen heute so schlecht sind, ist natürlich die über Jahre hinweg praktizierte Frühverrentungspolitik in Deutschland.
({0})
Gott sei Dank haben wir, schon in der Großen Koalition
beginnend, die Anreize für eine Frühverrentung konsequent abgebaut. Das war ein klares und deutliches Zeichen dafür, dass wir hinsichtlich der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
umsteuern und auch zum Umdenken auffordern.
Ich glaube, dafür gibt es zwei wichtige Anlässe. Der
erste Anlass ist: Auch in den Chefetagen und Personalbüros deutscher Unternehmen lernt man hinzu. Wer auf das
Erfahrungswissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leichtfertig verzichtet, der erleidet einen Wettbewerbsnachteil. Deswegen findet Gott sei Dank ein Umdenken statt. Der zweite Anlass ist: Die kommenden
Jahre und Jahrzehnte werden deutlich anders aussehen als
die vergangenen, weil die Zahl der Menschen in Deutschland, die erwerbsfähig sind, dramatisch zurückgehen
wird.
Peter Weiß ({1})
Im Rahmen einer von der Unionsfraktion kürzlich
durchgeführten Fachveranstaltung hat uns Herr Professor Brücker vom IAB vorgetragen, dass die Zahl der
Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2050
von heute 45 Millionen auf nur noch 27 Millionen zurückgehen wird. Das ist eine dramatische Veränderung,
die zeigt, dass die Frage der Zukunft, der nächsten Jahrzehnte, nicht sein wird: „Wie werde ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einer Frühverrentungspolitik möglichst bald los?“, sondern dass die Frage für
die Unternehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben
und Fachkräfte halten wollen, sein wird: „Wie begeistere
ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, möglichst lange zu bleiben, weil ich auf sie angewiesen
bin?“. Deswegen wird sich die Politik in Bezug auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber
der in der Vergangenheit deutlich verändern müssen.
({2})
Unsere Aufgabe in der Politik ist es, dafür zu sorgen,
dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch
tatsächlich länger in Arbeit bleiben können. Es gibt hier
eine ganze Menge an Aufgabenstellungen: Weiterbildung
während des ganzen Berufslebens, Gestaltung moderner,
gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, weitere Fortschritte
bei der Humanisierung und der Gestaltung der Arbeitswelt, Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, Ausbau von
Prävention, betrieblicher Gesundheitsförderung und Rehabilitation.
Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass mittlerweile der größte Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente
stellen, sprich: vorzeitig in Rente gehen müssen, diesen
Antrag wegen psychischer Erkrankungen stellen.
({3})
Das Gesundheitsmanagement in Deutschland, was
das Vermeiden psychischer Erkrankungen anbelangt, ist
in den Betrieben völlig unterentwickelt. Hier muss ein
Schwerpunkt gesetzt werden. Die Arbeitswelt muss
nicht zwangsläufig so gestaltet sein, dass psychische Erkrankungen in Deutschland von Jahr zu Jahr zunehmen.
({4})
Wir brauchen neue Arbeitsformen, die besser auf die
Erfordernisse älterer Arbeitnehmer eingehen. Wir brauchen auch Projekte und Programme, die auf einen Berufswechsel im Laufe des Erwerbslebens abzielen.
Im Antrag der Grünen wird ein bisschen so getan, als
gäbe es bisher gar nichts in diesem Bereich. Deswegen
möchte ich sagen, was wir mittlerweile politisch an Programmen initiiert haben, die auch laufen. Es gibt zum
Beispiel INQA, die Initiative Neue Qualität der Arbeit,
die auf die Schaffung gesundheits- und leistungsfördernder Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist, mit einem ganzen Bündel von Projekten; es gibt die Gemeinsame
Deutsche Arbeitsstrategie von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern zur Förderung präventiven Arbeitsschutzes und das Programm Perspektive 50plus mit
einem ganzen Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung
der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Von meinen Besuchen in etlichen Betrieben, die an diesem Programm teilnehmen, weiß ich,
dass es erstaunlich ist, was entgegen dem, was landläufig
an Auffassungen vertreten wird, möglich ist, um Beschäftigung für über 50- oder auch über 60-Jährige zu
schaffen.
Aktuell arbeitet das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales am Aufbau einer strategischen Partnerschaft mit wirtschaftsnahen regionalen Akteuren, Initiativen und Projekten, um ein Konzept zu entwickeln, das
insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt die Arbeitskräftebasis sichert.
Neben dem Handeln des Staates gibt es aber auch das
Handeln der Sozialpartner, zum Beispiel im Rahmen von
Tarifverträgen wie in der Eisen- und Stahlindustrie oder
in der Chemieindustrie mit ihrem Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“.
Des Weiteren gibt es die neuen Programme der Sozialversicherungsträger. So wendet sich die Deutsche
Rentenversicherung Bund zum Beispiel mit ihrem Rahmenkonzept zur Erprobung von Präventionsleistungen
„Beschäftigungsfähigkeit teilhabeorientiert sichern“ an
Versicherte mit ungünstigen Bedingungen am Arbeitsplatz und versucht, Änderungen möglich zu machen.
Ich will zusammenfassend festhalten: Ich glaube, das,
was an Initiativen staatlicherseits, durch die Sozialpartner und durch die Sozialversicherungen auf den Weg gebracht worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten
das nicht kleinreden, sondern stärker publik machen.
Ich freue mich über den Antrag der Grünen zu diesem
Thema.
({5})
Ich muss Ihnen aber sagen: Angesichts dessen, was wir
bereits auf den Weg gebracht haben,
({6})
bleibt mir nur, aus Schillers Wallenstein zu zitieren:
„Spät kommt ihr - doch ihr kommt!“
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Anton Schaaf für die Fraktion der
SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Peter Weiß, der Antrag zum Thema „ältere Arbeitneh11702
mer“ ist vor allen Dingen deshalb richtig und notwendig
- das sage ich gleich am Anfang -, weil diese Koalitionsregierung in diesem Bereich nichts tut. Deswegen
ist er richtig, und er kommt zum richtigen Zeitpunkt.
({0})
Übrigens verstoßt ihr damit gegen euren eigenen Koalitionsvertrag, Peter Weiß. Auf Seite 111 habt ihr insbesondere ältere Arbeitnehmer in den Blick genommen
und festgestellt: Da muss man was machen. Das hat viel
mit Wertschätzung der Älteren und deren Kompetenz zu
tun.
Wie sieht die Wertschätzung konkret aus, Peter Weiß?
({1})
Das macht die geplante Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente deutlich. Darin geht es beispielsweise um die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer
nach SGB III. Sie soll als dauerhaftes Instrument beibehalten werden, was völlig richtig ist, weil es ein sinnvolles Instrument ist. Weiter heißt es: Die Nettoentgeltdifferenz soll mindestens 100 Euro statt wie bisher 50 Euro
betragen; es soll Aufstockungsbeträge geben, und zwar
60 Prozent bzw. im zweiten Jahr 40 Prozent.
Dann kommt es: Das, was bisher das Instrument sehr
attraktiv gemacht hat und auch Wertschätzung ausdrückte, nämlich die Aufstockung für die Rentenversicherung, soll ersatzlos gestrichen werden.
So sieht Ihre Wertschätzung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Bereitschaft, geringer
entlohnte Jobs anzunehmen, aus. Das ist Pharisäertum.
Dann lassen Sie die Sonntagsreden sein und sagen Sie
ehrlich, meine Damen und Herren von der Koalition:
Wir schätzen die Aufnahme von Arbeit durch ältere Arbeitnehmer nicht.
({2})
Das korrespondiert übrigens mit Ihrer Ignoranz beim
Thema Rente mit 67, um das sehr deutlich zu sagen.
Wenn wir uns die Beschäftigungsquote älterer Menschen
genau anschauen, dann stellen wir fest, dass die Beschäftigung älterer Menschen zwar leicht gestiegen ist, dass
aber die Beschäftigungsquote bei den über 60-Jährigen
dramatisch einbricht.
({3})
Wenn man sich die Beschäftigungsarten genau anschaut,
dann stellt man fest, dass viele nur noch teilweise beschäftigt sind und dass die Steigerung der Quote auch damit zusammenhängt, dass vor allen Dingen ältere Frauen
wieder Arbeit aufgenommen haben, um beispielsweise
hinzuzuverdienen. Wenn man das mit dem Gesetz vergleicht und sich die Situation der älteren Menschen genau
anschaut, dann kommt man überhaupt nicht darum herum, sich einzugestehen, dass man jetzt, wenn man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht durch
ein höheres Renteneintrittsalter bestrafen will, die Rente
mit 67 nicht einführen darf, ich betone: jetzt nicht.
({4})
An dieser Stelle sind Sie völlig ignorant. Das hat nichts
mit Wertschätzung zu tun. Wenn ein älterer Mensch arbeitslos geworden ist, muss er vor dem Hintergrund nachrangiger Leistungen nach SGB II mit 63 vorzeitig die
Rente beantragen. Er muss das tun! Ab dem nächsten Jahr
hat er dann nicht nur für zwei Jahre, sondern für zwei
Jahre und einen Monat Abschläge hinzunehmen, und
zwar dauerhaft. Das ist Ihre Art der Wertschätzung älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Frau von der
Leyen hat sich um die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - wie ich finde: sehr bezeichnend - gekümmert. Sie hat gesagt: Wenn die ihren Beruf nicht mehr
ausüben können, sollen sie etwas anderes machen. - Hunderttausende Hausmeisterstellen werden wir wohl nicht
zur Verfügung stellen können. Frau von der Leyen muss
sich auch einmal hierhin stellen und sagen, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Beruf nicht
mehr ausüben können, anderes machen sollen.
Sie nehmen auch nicht an der Debatte über die Frage
teil: Was ist eigentlich mit einem sozialen Arbeitsmarkt?
Sollten wir darüber nicht einmal ernsthaft diskutieren?
({5})
Aber da ist bei Ihnen überhaupt nichts. Sie überlassen
das alles schlichtweg der Wirtschaft und setzen auf das
Verständnis der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wenn wir
nicht ernsthaft über die Verursacherfrage diskutieren und
die Verursacher benennen, wird sich bei der Wirtschaft
nichts ändern. Dann werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange ausgepowert, bis sie nicht mehr
können, und dann aus den Betrieben hinausgejagt.
Ich mache das an einem Beispiel klar. Der eine oder
andere von Ihnen weiß bereits, dass ich früher bei der
Müllabfuhr gearbeitet habe. Wenn die Kolleginnen und
Kollegen, die schwere Arbeit leisten mussten, mehr Arbeit hinzubekommen haben, habe ich als Betriebsrat zugegebenermaßen immer als Erstes nach mehr Geld geschrien. Mehr schwere Arbeit, mehr Geld! Wenn die
Kollegen durch den Job dann vorzeitig kaputt waren,
habe ich nach dem Sozialstaat geschrien und gesagt:
Kümmert euch um die Kaputten! - So ist es gelaufen;
denn ein kaputter Müllmann bekommt nirgendwo anders
einen Job. Die entscheidende Frage lautet: Was machen
wir dagegen, dass Menschen durch Arbeit - körperlich
oder psychisch - vorzeitig kaputt sind? Die Verursacher
nehmen wir nicht in Haftung. Wir machen nichts. Die
Verursacher sind die Arbeitgeber, die solche Arbeit zur
Verfügung stellen. Diese nehmen wir nicht in Haftung,
weder bei Weiterbildung und Qualifizierung noch bei
der Übernahme sozialer Verantwortung, wenn Menschen
durch Arbeit kaputt sind. Auch Sie übernehmen übrigens
keine Verantwortung. Sie haben sich komplett verweigert und noch nicht einmal über das Thema Erwerbsminderungsrente diskutiert. Hier nehmen Sie sich komplett
aus der Verantwortung.
Wenn wir das Renteneintrittsalter erhöhen, dann müssen wir die Frage beantworten: Was machen wir mit den
Menschen, die durch Arbeit vorzeitig kaputt sind? Mittlerweile gibt es einschlägige Urteile betreffend Abschlagsregelungen bzw. Zurechnungszeiten. Aber auf Ihrer Seite gibt es überhaupt keine Bewegung. Stellen Sie
sich also in Zukunft nicht mehr hierhin und schätzen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbal! Denn
immer wenn es darauf ankommt, etwas für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun, streichen Sie beispielsweise die Mittel im Eingliederungstitel. Gerade
jetzt, wo die Arbeitsmarktlage so gut ist, wären mehr Mittel zur massiven Förderung älterer Menschen, die schon
länger arbeitslos sind, richtig eingesetzt; denn nur so haben die Betroffenen eine Chance auf Integration in den
ersten Arbeitsmarkt. Aber nein, Sie machen es genau anders herum. Sie streichen die Mittel im Eingliederungstitel massiv zusammen. So werden Sie keinen Beitrag dazu
leisten, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder in
Arbeit zu halten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Ja,
auch ich kann mich dem Kollegen Peter Weiß anschließen. Das Ziel teilen wir.
({0})
- Nein, Frau Kollegin Pothmer, Ihrer Rede kann ich
mich natürlich nicht anschließen. Das ginge zu weit.
Aber wir teilen das Ziel. - Denn natürlich ist das nötig,
nicht nur, um den Menschen, die älter sind und auf dem
Arbeitsmarkt noch Probleme haben, eine Perspektive zu
geben, sondern auch - Sie haben es selber angesprochen -,
um auf den Fachkräftemangel zu reagieren.
Bei 6 Millionen Arbeitskräften, die uns bis 2030 fehlen, muss man an vielen Schrauben drehen. Da werden
wir über die Erwerbsquote, die Beteiligungsquote von
Frauen reden müssen, da werden wir auch über Zuwanderung reden müssen, und da werden wir ganz zentral
auch über die Frage reden müssen, welche Rolle Ältere
eigentlich auf dem Arbeitsmarkt spielen.
Ich freue mich, dass Sie das so wie wir sehen. Ich
glaube, dass Sie aber doch ein bisschen - deswegen kann
ich mich Ihrer Rede auch nicht anschließen, Frau Kollegin - zu schwarz gezeichnet haben. Das wissen Sie auch.
({1})
- Nein, nicht schwarz-gelb, sondern schwarz. Schwarzgelb wäre ja gut, Toni Schaaf.
({2})
Aber Sie haben es ein bisschen schwarz gezeichnet.
Wenn man eine Situation etwas verbessern will, muss
man erst einmal schauen, was denn schon gut läuft. Ich
glaube, die Steigerungsraten bei den Zahlen von Älteren
auf dem Arbeitsmarkt, die wir in den letzten Jahren hatten, lieber Toni Schaaf - die Rente mit 67 ist ja genau in
der Erwartung dieses Effekts von Ihnen auch eingeführt
worden -, sind in absoluten Zahlen natürlich noch verbesserungsfähig. Das ist ganz klar. Das liegt aber auch daran,
dass die Altersteilzeit eben erst ausläuft. Trotzdem sind
die Steigerungsraten beeindruckend. Ich will es noch einmal zitieren. Wir hatten vor zehn Jahren 2,6 Millionen Ältere sozialversicherungspflichtig beschäftigt, heute sind es
immerhin 3,8 Millionen.
({3})
In den letzten fünf Jahren hatten wir bei den 55- bis
60-Jährigen 35 Prozent plus, und, Toni Schaaf, bei denjenigen über 60 sind es sogar noch mehr, nämlich
40 Prozent plus.
({4})
Nachher wird der Kollege Birkwald wahrscheinlich sagen, ja, es geht nicht nur um Prozente, es geht auch um
absolute Zahlen.
({5})
Da bin ich bei Ihnen. Aber eine 40-prozentige Steigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erheblich. Das
müssen wir natürlich ausbauen. Aber mehr hat man übrigens auch bei der Einführung der Rente mit 67 nicht zu
hoffen wagen können. Insofern müssen wir erst einmal
festhalten, dass der Trend in die richtige Richtung geht.
({6})
Übrigens ist die Steigerungsrate bei den Beschäftigten
bei den über 55-Jährigen höher als bei den unter 25-Jährigen. - Das nur einmal mit Blick auf die unterschiedlichen Gruppen am Arbeitsmarkt.
Als besonderes Schmankerl, liebe Frau Kollegin
Pothmer - wir beide zitieren ja immer gern das IAB -:
Der IAB-Kurzbericht 16/2009 hat genau das festgehalten; er hat nämlich festgehalten, dass es einen positiven
Trend bei den Älteren auf dem Arbeitsmarkt gibt,
({7})
und er hat das als langfristiges Phänomen festgestellt.
Das ist nicht nur kurzfristig, das ist nicht nur Konjunktur. Es ist ein langfristiges Phänomen. Und was war der
entscheidende Vorschlag, den politisch umzusetzen uns
das IAB noch geraten hat? Die geförderte Altersteilzeit
als Frühverrentungsprogramm auslaufen zu lassen.
Johannes Vogel ({8})
({9})
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben als Koalition entgegen Ihrem Antrag zu Beginn der
Legislatur genau das gemacht, weil wir Ältere auf dem
Arbeitsmarkt sehen wollen und nicht in die Frühverrentung drängen.
({10})
Jetzt gucken wir auch einmal auf die Unternehmen.
Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben eben gesagt: Wir
wollen das nicht den Unternehmen überlassen. - Das ist
richtig. Auch der Staat hat da etwas zu tun, auch die Solidargemeinschaft. Aber, Frau Kollegin, wir haben eben
und in erster Linie auch die Unternehmen in der Pflicht.
({11})
Deshalb ist es doch wichtig, auf zwei Dinge hinzuweisen. Erstens. Wenn die Unternehmen auch in der Pflicht
sind, dann ist das Beste, was man politischerseits für die
Chancen von Älteren auf dem Arbeitsmarkt tun kann,
durch gute Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Dazu verweise ich nur auf die heutigen
Konjunkturdaten. Die Institute haben ihre Prognosen
von 2,3 Prozent auf 2,8 Prozent hochkorrigiert. Das ist
die Politik der schwarz-gelben Koalition. Wir schaffen
die Rahmenbedingungen für Wachstum auf dem Arbeitsmarkt, und das ist auch die beste Grundlage für Ältere auf dem Arbeitsmarkt.
({12})
Wenn ich mir dann anschaue, dass sich das Bild von
Älteren in den Unternehmen dramatisch wandelt - das
sagen uns alle Erhebungen, die es dazu gibt -, dass Ältere in den Unternehmen endlich stärker anerkannt werden, dann, glaube ich, haben wir einen positiven Trend,
den wir verstärken müssen.
Damit komme ich zur Intention Ihres Antrags, die wir
in der Tat verstärken müssen. Aber das tun wir bereits. In
der Arbeitsmarktpolitik zum Beispiel wird diese Koalition den Gedanken beibehalten, dass wir eben auch diejenigen fördern, die in Beschäftigung sind, den Gedanken - Sie sprechen es in Ihrem Antrag selber an -, der
hinter dem Wegebauprogramm steht. Es geht aber übrigens politischerseits auch darum, dass wir Programme,
die es gibt, bekannter machen. Ich verweise nur einmal
auf das Angebot an Bildungsprämien aus dem Bildungsund Forschungsministerium. Das ist ein Programm, mit
dem auch Unterstützungen aus Steuermitteln für berufliche Weiterqualifikation, gerade für geringer qualifizierte
Arbeitnehmer, zur Verfügung gestellt werden. Das Programm ist kaum bekannt.
({13})
Bevor Sie hier Anträge stellen, in denen behauptet wird,
die Regierung würde zu wenig tun, es gäbe zu wenig
Programme, sollten wir, liebe Opposition, vielleicht gemeinsam daran arbeiten, dass die Programme, die es
gibt, bekannter werden.
({14})
Das wäre eine Aufgabe, der Sie sich mit uns widmen
könnten. Damit würden Sie für Ältere auf dem Arbeitsmarkt mehr tun als mit den Anträgen, die Sie vorlegen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({15})
Der Kollege Toni Schaaf hat auf die Rentenpolitik
- Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Rente mit 67 hingewiesen. Ich will zum Abschluss auf einen Aspekt
zu sprechen kommen, der deutlich macht, dass in der Tat
noch etwas zu tun ist - im Gegensatz zu dem, was aus
Ihrem Antrag, liebe Kollegin Pothmer, hervorgeht, nehmen wir uns vor, auf diesem Gebiet etwas zu tun -, nämlich auf den flexiblen Renteneintritt. Ich will einen der
profiliertesten Rentenpolitiker im Deutschen Bundestag
zitieren, einen gewissen Dr. Heinrich Leonhard Kolb.
({16})
Er sagt: Es ist Sache des Einzelnen, zu entscheiden,
wann er aufhören will, zu arbeiten, nicht die Sache des
Staates. Das ist richtig.
({17})
Deshalb brauchen wir nach Meinung meiner Fraktion
und auch nach meiner Meinung ein flexibles Renteneintrittsalter. Zumindest brauchen wir einen Wegfall der Zuverdienstgrenzen für diejenigen Menschen, die vorzeitig
in Rente gegangen sind. Diese Koalition spricht also zu
Recht gerade genau darüber. Wir müssen diesen Bereich
angehen.
Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben gesagt: Wir
müssen uns der Frage „Was ist, wenn jemand in seinem
Beruf nicht mehr tätig sein kann und etwas anderes machen will?“ stellen. Es ist richtig, dass wir uns dieser
Frage stellen müssen; denn die Menschen und die Berufe
sind unterschiedlich. Mein Vater etwa ist vorzeitig in
Rente gegangen. Er wollte etwas anderes machen; er
kann etwas anderes machen. Das Problem ist: Unser
Staat lässt ihn nicht, weil er nur 400 Euro dazuverdienen
kann. Das ist eines der konkreten Probleme, denen sich
diese Koalition widmen wird. Frau Kollegin Pothmer, es
geht darum, den Silberschatz des Alters zu heben. Ich
freue mich, dass Sie daran mitarbeiten wollen. Aber
grundsätzlich ist das Ganze bei uns in guten Händen.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Kollege Matthias W. Birkwald für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Pothmer, „motiviert, qualifiziert und gesund“
bis zum Renteneintritt arbeiten zu können, ist eine Vorstellung, die von vielen Menschen und ganz gewiss auch
von allen hier im Parlament vertretenen Parteien geteilt
wird. Auch die Linke, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, will die Politik in die Pflicht nehmen,
um die Voraussetzungen für ein erfülltes Erwerbsleben
zu schaffen. Sie stellen sehr richtig fest, dass auch die
Politik für die missliche Lage Älterer am Arbeitsmarkt
verantwortlich ist.
Gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente, das ist der Dreiklang, dem wir Linken uns verpflichtet fühlen.
({0})
Das ist auch der Maßstab, mit dem wir den von den Grünen vorgelegten Antrag bewerten. Daran gemessen ist
Ihr Antrag leider mangelhaft. Warum?
Einerseits muten Sie mit der Rente erst ab 67 all jenen, die nicht bis 67 arbeiten können, drastische Rentenkürzungen zu. Das ist sehr konkret. Das ist die Peitsche,
die Ältere auf dem Arbeitsmarkt halten oder dorthin treiben soll. Andererseits reden Sie von verbesserten Chancen, von einem Sollen hier, von einem Können dort.
Doch das alles bleibt sehr unkonkret. Sie bringen es fertig, knallharte Rentenkürzungspolitik mit windelweicher
Chancenpolitik zu kombinieren. Sie garantieren die Peitsche und stellen das Zuckerbrot vage in Aussicht. Das ist
unseriös.
({1})
Von Ihren warmen Worten kann niemand im Alter leben.
Treten Sie mit uns für die Abschaffung der Rente erst ab
67 ein! Dann reden wir gerne weiter.
({2})
Wer kann, darf; wer nicht kann, muss auch nicht bis
65 und schon gar nicht bis 67 arbeiten. Eine solche Regelung bräuchten wir.
({3})
Wir Linken sind der Überzeugung, dass viele Menschen
durchaus bereit sind, bis 65 zu arbeiten. Wer es darüber
hinaus auch noch kann und will, soll weiterhin, wie bisher, dafür belohnt werden. Wer es bis dahin aber nicht
schafft, darf nicht bestraft werden. Das ist der entscheidende Punkt.
({4})
Sanktionspolitik, wie sie mit der Rente erst ab 67 und
auch mit Hartz IV betrieben wird, ist und bleibt der falsche Weg.
Geänderte Hinzuverdienstmöglichkeiten und Teilrenten, wie sie die Grünen vorschlagen - dafür hat eben
auch der Kollege Vogel plädiert -, sind nichts anderes
als die Fortsetzung der Kombilohnpolitik mit rentenpolitischen Mitteln. Im Klartext: Niedriglohn und Tüten einpacken im Supermarkt, weil die Rente nicht reicht, das
wollen wir nicht.
({5})
Immer dann, wenn die Nachfrage nach Arbeitskraft
nicht da ist, kommen Sie uns mit demselben alten Rezept: Arbeit müsse billiger werden,
({6})
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten williger
werden, Geringverdienende sollten im Alter aufstocken
dürfen, weil sie bis 67 arbeiten müssten. Das ist ja wie
bei der FDP. So sieht also grüne Sozialpolitik aus? Sie
wollen die FDP zu Tode kuscheln!
({7})
Nur zu, aber bitte nicht auf dem Rücken der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({8})
Die Linke will die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern und die Arbeitgeber fordern. Und das heißt
unter anderem, die Rente erst ab 67 muss weg. Wir wollen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern
und nicht bestrafen.
({9})
Wir brauchen einen guten, öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, der gute Arbeit fördert. Zwangsverrentung aller Art lehnt die Linke ab. Da sind wir uns einig. Wir wollen eine gute Arbeitsmarktpolitik, die allen
Menschen, die arbeiten wollen, ermöglicht, zu guten
Löhnen zu arbeiten. Deshalb wollen wir prekäre Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Minijobs und befristete Beschäftigung deutlich zurückdrängen oder auch abschaffen.
({10})
Geringqualifizierte und ältere Beschäftigte müssen in
den Unternehmen mehr als bisher und dauerhaft weitergebildet werden. Nicht zuletzt müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber endlich in die Pflicht genommen
werden. Wer ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne zwingenden Grund entlässt, muss zur Kasse
gebeten werden und die Kosten des Arbeitslosengeldes
erstatten. Das wäre eine wichtige Maßnahme.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Pothmer! Auch wir sehen in Ihrem Nachdenken ein lobenswertes Unterfangen, aber nur so weit,
wie es gerade eben möglich ist. Also zum Kuscheln
reicht es wirklich nicht.
({0})
Am Ende muss ich doch dem Kollegen Weiß mit seinem
Wallenstein-Zitat recht geben. Wenn man nämlich vergleicht, was die Bundesregierung in den letzten Jahren da beziehe ich die Große Koalition, lieber Kollege
Schaaf, ausdrücklich mit ein
({1})
- zu Recht mit ein - schon geleistet hat, so sprechen,
glaube ich, auch die Zahlen durchaus für das, was in den
letzten Jahren in diesem Bereich passiert ist.
Im Jahr 2000 waren noch rund 20 Prozent der 60- bis
65-Jährigen erwerbstätig. Kollegin Pothmer, Sie haben
selber von jetzt knapp 40 Prozent gesprochen. Das ist
immerhin eine Verdoppelung in diesem Bereich.
({2})
Wir liegen im europäischen Vergleich sicherlich über
dem Durchschnitt, sind aber bei weitem nicht gut genug.
Denn wir wissen alle, dass wir dieses Potenzial oder diesen Schatz heben müssen. Aber - darauf hat der Kollege
Weiß vorhin schon ganz richtig hingewiesen - mit der
Initiative „50 plus“ haben wir in der Großen Koalition
die ersten Schritte unternommen: Erhöhung der Weiterbildungsquote und Abbau der Frühverrentung.
Lieber Kollege Schaaf, Sie haben vorhin ein Beispiel
in Bezug auf die Müllabfuhr bei Ihnen genannt. Wir wissen aber beide, wie wir in den letzten Jahren mit diesem
Problem und mit dem Altersteilzeitgesetz umgegangen
sind. In erster Linie haben wir nämlich das Blockmodell
gewählt. Damit haben wir ganz bewusst viel Erfahrung
und Wissen aus dem aktiven Arbeitsleben genommen,
um vor allem jüngeren Menschen eine Chance zu geben.
({3})
- Ich darf bitte den Satz zu Ende führen. - Das haben wir
getan, weil wir - deswegen kritisiere ich das jetzt auch
nicht - damals auf eine Arbeitslosigkeit von fast
5 Millionen reagieren mussten. Diesen Ansatz haben wir
gewählt. Er hat aber natürlich dazu geführt, dass die
Quote damals geringer war.
So, Herr Kollege, jetzt dürfen Sie die Zwischenfrage
stellen.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Würden Sie mir bestätigen, dass nicht die Altersteilzeit abgeschafft wurde, sondern nur die Förderung der Altersteilzeit nicht fortgeführt worden ist? Die jetzt existierende Altersteilzeit ist
die nicht geförderte Altersteilzeit. Nach Ihrer Logik
müsste die Altersteilzeit ganz verschwinden. Die jetzige
Altersteilzeit bedeutet sozialverträgliche Arbeitsplatzvernichtung und sonst gar nichts. Die geförderte Altersteilzeit beinhaltete, dass der Arbeitsplatz auf Dauer erhalten bleiben muss. Das ist genau der entscheidende
Punkt.
Lieber Kollege Schaaf, wir beide wissen, dass der
Ansatz diesbezüglich sehr theoretisch ist.
({0})
- Nein, er ist sehr theoretisch.
Deswegen ist es richtig, dass diejenigen, die weiterhin
dieses Modell wählen wollen, es wählen können. Aber
es gibt derzeit keine Notwendigkeit, das Modell von unserer Seite mit großzügiger Förderung zu bedenken.
({1})
Wir haben darüber hinaus - auch darauf hat der Kollege Weiß schon hingewiesen - mit INQA einen neuen
Abschnitt aufgemacht. Wir glauben, dass wir hier auf
dem richtigen Weg sind.
Ich bin auch davon überzeugt - das unterscheidet uns
jetzt wieder wesentlich -, dass nicht der Staat allein
diese Sache regeln kann, sondern dass wir diesen Weg
nur gemeinsam mit den Unternehmen - ich habe das
Vertrauen in die Unternehmen - beschreiten können.
({2})
Ich brauche Ihnen nur ein positives Beispiel aus dem
Bayerischen zu nennen, nämlich BMW in Dingolfing.
Dort ist ein Werk im Rahmen des Demografieprojekts
„Heute für morgen“ aufgebaut worden. Dort sind altersgerechte Arbeitsplätze eingerichtet worden. Die Teilebereitstellung wird individuell angepasst. Es ist ein
Belastungswechsel möglich. Die Industrie und die Unternehmen haben also erkannt, dass sie selber mit in der
Pflicht sind und reagieren müssen.
Wir alle wissen um die Erfahrungen und die Leistungsfähigkeit der älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kollege Schaaf, ich sage es trotzdem noch einmal: Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben,
auch wenn Sie es bestreiten, unsere ausdrückliche Wertschätzung. Wir wissen, was diese Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Betrieben zu leisten imstande sind.
({3})
Die Rente mit 67 haben wir gemeinsam beschlossen.
Frau Pothmer, wenn ich Sie richtig verstanden habe,
dann ist der Grundsatz zunächst richtig.
({4})
- Bei Ihnen sowieso nicht. Da warten wir immer noch
auf den Reichtum für alle. Ceterum censeo: Reichtum
für alle. Sie haben wieder Ihren ganzen Kasten vorgestellt. Es hat kaum etwas gefehlt.
Vor dem Hintergrund der notwendigen Fachkräftesicherung glauben wir an die strategische Partnerschaft.
Die Handlungsfelder, die Arbeitskräfteallianz, gemeinsam mit den Unternehmen, das, was wir mit unserer
Bundesministerin voranbringen, das ist der richtige Weg.
Wir werden den Schatz heben. Wir vertrauen gemeinsam
auf die Unternehmen und auf unsere Maßnahmen. Dann
- da bin ich sicher - werden wir älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine größere Chance im Produktionsprozess geben. Heben Sie mit! Heben wir gemeinsam! Dann sind wir sicherlich auf einem guten Weg.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5235 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/4981 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/2766 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/5355 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Andreas Scheuer das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt „Feuerwehrführerschein“ hat uns alle
in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr eingehend
beschäftigt. Die Problematik ist hinreichend bekannt und
seit Jahren intensiv diskutiert worden. Es stehen immer
weniger junge ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung, die über eine zum Führen der Einsatzfahrzeuge notwendige Fahrerlaubnis verfügen.
Nur Fahrerlaubnisinhaber, die vor dem 1. Januar 1999
ihre Fahrerlaubnis erworben haben, können aufgrund ihres Bestandschutzes auch weiterhin schwerere Fahrzeuge mit dem bisherigen Führerschein der alten
Klasse 3 fahren. Diese Fahrer stehen aber den freiwilligen Feuerwehren zunehmend aus Altersgründen nicht
mehr zur Verfügung. Es müssen jüngere Fahrer nachrücken, die aber nicht mehr über die benötigte Fahrerlaubnis für die Einsatzfahrzeuge verfügen. Es geht also
um unser aller Sicherheit; vor allem im ländlichen
Raum.
Nicht nur in Süddeutschland mit der dortigen Ehrenamtsstruktur, sondern auch in allen anderen Bundesländern führt dies zu dramatischen Engpässen bei den Einsatzfahrten. Ursache für diese Entwicklung ist die
sogenannte Zweite EG-Führerscheinrichtlinie von 1991,
nach der das Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die
deutschen Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an
die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen waren.
Seither dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B
für Pkw nur noch Kraftfahrzeuge bis zu einer zulässigen
Gesamtmasse von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden.
Für Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse
zwischen 3,5 Tonnen und 7 Tonnen ist hingegen seit
1999 eine Fahrerlaubnis der Klasse C1, und für Fahrzeuge über 7,5 Tonnen eine Fahrerlaubnis der Klasse C
erforderlich.
Diese Rechtsänderung wurde von der Europäischen
Gemeinschaft eingeführt, um eine auf die unterschiedlichen Fahrzeugklassen ausgerichtete spezifische Ausbildung und Prüfung zu vereinheitlichen. Der Forderung,
eine Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehörige der freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht
anerkannten Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatzfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu
4,25 Tonnen fahren dürfen, konnte aus europarechtlichen Gründen nicht entsprochen werden.
Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlossene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung
reicht demnach aus meiner Sicht nicht aus, um die Einsatzfähigkeit der betroffenen Organisationen tatsächlich
zu verbessern. Die dort getroffenen Regelungen waren
zu bürokratisch und zu teuer.
Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat
ein intensiver Dialogprozess mit der Europäischen Kommission stattgefunden. An dieser Stelle möchte ich dem
EU-Kommissar Siim Kallas sehr herzlich danken, der
gestern bei uns im Ausschuss war. Wir alle haben über
die Jahre intensiv an diesem Vorhaben gearbeitet, aber
die christlich-liberale Koalition hat jetzt umgesetzt, was
lange Zeit nur dahingewabert hat und was zwar immer
mit Briefen an die EU-Kommission unterlegt war, aber
nie mit persönlichem Kontakt und mit Sensibilisierung
für das deutsche Interesse an der Weiterentwicklung und
Zukunftsfähigkeit unserer Ehrenamtsstrukturen. Ich sage
Dank an den EU-Kommissar. Der Minister hat sofort
Kontakt aufgenommen und in vielen persönlichen Gesprächen rübergebracht, dass wir eine andere Struktur
haben. Ich möchte Dank an den EU-Kommissar sagen.
({0})
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir
die Vereinbarung der Koalitionsfraktionen im Koalitionsvertrag um. Wir schaffen weitere Erleichterungen für die
Ehrenamtlichen, die kostengünstig und unbürokratisch zu
handhaben sind. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die
betroffenen Organisationen eine organisationsinterne
Einweisung und - das ist das Entscheidende - auch eine
organisationsinterne Prüfung auf Einsatzfahrzeugen mit
einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen
durchführen können. So wird ein einfaches und kostengünstiges Verfahren geschaffen, mit dem, den jeweiligen
Bedürfnissen vor Ort entsprechend, mit den vorhandenen Einsatzfahrzeugen ausgebildet und geprüft werden
kann. Ich wünsche dazu viel Erfolg. Ich denke, das ist
ein tolles System.
({1})
Dabei wird zwischen einer Sonderfahrberechtigung
bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen
einerseits und bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von
bis zu 7,5 Tonnen andererseits differenziert, da die Anforderungen an die Fahrerinnen und Fahrer mit der Höhe
des Fahrzeuggewichts zunehmen. Aufgrund des tatsächlich bestehenden Bedarfes werden jetzt erstmalig auch
Anhänger in die Fahrberechtigung aufgenommen. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, die Ausbildung in
Anlehnung an das in Deutschland bewährte System der
professionellen Ausbildung auch durch Fahrlehrer vornehmen zu lassen. Jetzt müssen die Landesregierungen
dieses System in ihre regionalen Gegebenheiten übertragen. Ich denke auch, dass hervorzuheben ist, dass wir
hier ein einfaches und unbürokratisches System wählen.
Ich bedanke mich noch einmal für die intensiven Gespräche auch im Ausschuss. Es ist ein gutes Signal an
die Ehrenamtlichen, dass der Ausschuss einstimmig dem
Entwurf zugestimmt hat. Somit wünschen wir unseren
Ehrenamtlichen gutes Gelingen und vor allem unseren
Verbänden, die im Rettungsdienst tätig sind, dass sie auf
viele junge Leute zurückgreifen können, die von dieser
Regelung profitieren.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Unter diesem Tagesordnungspunkt reden
wir über Katastrophenschutz und Feuerwehr. Das heißt,
wir reden über 2,5 Millionen Menschen, 2,5 Millionen
freiwillig Helfende, die ihre Freizeit und oft auch ihr Leben aufs Spiel setzen, um andere zu retten. Wenn sie im
Ausland eingesetzt werden - das ist ja häufiger der Fall,
weil sie sehr gut ausgebildet sind -, sind sie auch noch
Botschafter unserer Bundesrepublik Deutschland. Die
Hilfsorganisationen nehmen außerdem viele soziale
Aufgaben wahr, insbesondere in den Bereichen Integration und Ausbildung junger Menschen.
Die gute Infrastruktur, die wir in der Not- und Katastrophenhilfe haben, sichert auch den Wohlstand in
Deutschland. Dies - da sind wir uns sicher einig - gilt
es zu unterstützen. Das Ehrenamt muss gestärkt werden. Das ist umso wichtiger, als die Hilfsorganisationen
allenthalben unter Nachwuchssorgen zu leiden haben.
Das hat mehrere Gründe.
Der eine Grund - darüber haben wir hier schon sehr
viel geredet - ist der demografische Wandel.
Ein anderer Grund ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Durch diese Entscheidung ist bei vielen Hilfsorganisationen wie zum Beispiel beim THW eine Rekrutierungsquelle weggefallen.
Der dritte Grund ist die geplante Verkleinerung der
Bundeswehr aus Kostengründen. Die genaue Größe
steht noch nicht fest; aber es sind schon viele Zahlen im
Umlauf. Wenn man den Fachleuten glauben darf, ergibt
sich aus all diesen Zahlen zumindest Folgendes: Die
neue Bundeswehr wird nicht mehr in dem Maße, wie sie
es bisher konnte, in der Katastrophenhilfe tätig sein. Das
heißt, zukünftig werden wir in der Bundesrepublik noch
mehr auf Freiwillige angewiesen sein.
Wir müssen also helfen, dass sich mehr junge Menschen für die Arbeit in den Hilfsorganisationen entscheiden, damit wir im Katastrophenfall ausreichend gut ausgebildete Kräfte zur Verfügung haben.
({0})
Auch unter diesem Aspekt ist der Antrag auf Erteilung
einer Sonderfahrerlaubnis zu sehen. Das Ziel ist, ausreichend gut ausgebildeten und ausgestatteten Nachwuchs
zu erhalten.
({1})
Die vorliegende Lösung ist pragmatisch, unbürokratisch, kostengünstig, und - das war uns sehr wichtig sie geht nicht zulasten der Sicherheit. Heute findet die
abschließende Beratung statt. Der Gesetzentwurf beinhaltet die Schaffung einer Ausnahmeregelung im Führerscheinrecht, da durch den Generationenwechsel - das
wurde eben vom Staatssekretär angesprochen - immer
weniger Ehrenamtliche mit der neuen Führerscheinklasse C1 zur Verfügung stehen. Da es relativ unattraktiv
ist, für den privaten Gebrauch eine Fahrerlaubnis für
diese Klasse zu erwerben, gibt es auch immer weniger,
die privat eine entsprechende Prüfung machen. Sie nur
dafür zu machen, um die Fahrerlaubnis als Hilfskraft
einsetzen zu können, ist verständlicherweise viel zu
teuer. Mit dieser Regelung schaffen wir also Mobilitätsverbesserungen für Feuerwehr und Rettungsdienste sowie technische Hilfsdienste. Von daher ist es sehr wichKirsten Lühmann
tig, dass auch das Fahren mit Anhängern in diese
Regelung einbezogen wurde.
Aber bereits in der ersten Lesung hatte ich einige Anmerkungen gemacht, die uns sehr wichtig sind. Die Verkehrssicherheitsverbände haben nämlich bezüglich dieser Regelung erhebliche Bedenken. Die erste Frage ist,
ob die Neuregelung konform mit EU-Recht geht. Ich
habe nicht ganz verstanden, was der Staatssekretär dazu
gesagt hat. Er hat von Gesprächen berichtet, die mit
Herrn Kallas geführt wurden. Ich gehe davon aus, dass
die Gespräche dergestalt endeten, dass Herr Kallas der
Meinung ist, dass unsere Regelung EU-konform ist.
({2})
- Er hat genickt, für das Protokoll.
({3})
- Beide. Hervorragend! - Das heißt, wir werden eine Regelung haben, die für die vielen ehrenamtlich Helfenden
eine klare Situation schafft.
Zu den anderen beiden Punkten hatten wir im Verkehrsausschuss einen Antrag eingebracht. Dieser Antrag
wurde von der Mehrheit leider abgelehnt. Er beinhaltet
zum einen, dass die Vorgaben für die Einweisung und
Prüfung bundeseinheitlich geregelt werden sollten, und
zum anderen, dass die Prüfungsfahrten für die Klasse
zwischen 4,75 und 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse
durch die Kfz-Sachverständigen und nicht organisationsintern abzunehmen seien.
Obwohl auch der Verkehrsausschuss des Bundesrates
der Meinung war, man brauche eine bundeseinheitliche
Lösung, konnte sich der Fachausschuss unserem Vorschlag nicht anschließen. Das wäre sinnvoll gewesen, da
die Sonderfahrerlaubnis bundesweit gültig ist. Ich hoffe
jetzt inständig, dass sich die Länder in eigener Regie eng
abstimmen, damit wir auf freiwilliger Basis doch noch
eine bundeseinheitliche Lösung hinbekommen. Wenn
diese nicht zustande kommt, hätte das eine völlige Zersplitterung der Verordnungslage zur Folge. Ich glaube,
das würde keinem nutzen.
({4})
Auch unser zweiter Vorschlag hat den Charakter eines
Appells, diesmal an die Hilfsorganisationen. Die Feuerwehrmänner und Ehrenamtlichen in den Hilfsorganisationen leisten hervorragende Arbeit. Ich habe volles Vertrauen, dass sie in der Lage sind, die Einweisung auf den
Fahrzeugen zu organisieren. Dennoch bitte ich sie, zu
überprüfen, ob es nicht sinnvoll ist, das Geld für einen
externen Kfz-Sachverständigen auszugeben, wenn es um
die Prüfungen geht. Das sollte es uns aus Gründen der
Rechtssicherheit und insbesondere mit Blick auf die Helfenden, die später mit dieser Sonderfahrerlaubnis unterwegs sind, wert sein.
Um zu überprüfen, ob das funktioniert, regen wir an,
dass wir uns in zwei oder drei Jahren gemeinsam die Regelung anschauen, um zu beurteilen, ob sie wirklich so
greift, wie wir uns das vorstellen, oder ob es bei den
Hilfsorganisationen noch Probleme gibt, sodass wir
nachsteuern müssen.
Die Hilfsorganisationen ringen sehr kreativ um Lösungen, wie ich feststellen konnte. Es gibt schon eine
Regelung - der Herr Staatssekretär hat es bereits angesprochen - für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen. Eine Feuerwehr in meiner Region hat ein solches Feuerwehrfahrzeug selbstständig umgebaut, und es mit einer zweiten
Bremse und zusätzlichen Spiegeln ausgestattet, sodass
bei den Einweisungsfahrten der Einweisende eingreifen
kann, falls der einzuweisende Fahrer einen Fehler macht.
Es gibt eine weitere clevere Idee, und zwar von einem
Feuerwehrmann aus Oberfranken, der es allerdings mit
der Bürokratie zu tun bekam. Es handelt sich um einen
Fahrschullehrer aus der kleinen Gemeinde Litzendorf.
Er ist seit 15 Jahren ehrenamtlich und unentgeltlich für
seine Feuerwehr tätig und wollte die Feuerwehrleute auf
richtigen Einsatzfahrzeugen schulen. Deswegen kaufte
er ein solches Fahrzeug und schenkte es seiner Feuerwehr. Im Gegenzug wollte er das Feuerwehrfahrzeug für
seine Schulungsfahrten nutzen und es kostenlos in der
Garage der Feuerwehr unterstellen. So weit, so gut.
Jetzt fing der Amtsschimmel an, zu wiehern. Das Innenministerium lässt nun prüfen, ob ein auch privat genutztes Fahrzeug in einer öffentlichen Garage stehen
darf. Das Finanzamt lässt prüfen, ob ein Feuerwehrfahrzeug, das auch privat genutzt wird - und sei es nur eine
Stunde im Monat -, weiterhin steuerbefreit sein kann.
Das Innenministerium forderte eine Klärung des Sachverhalts durch die Regierung von Oberfranken. Diese
wendete sich an das Landratsamt Bamberg, das wiederum den Bürgermeister von Litzendorf anschrieb. Um
mit den Worten der Feuerwehr Reichenbach zu sprechen: Jetzt kann uns wohl nur noch Sankt Florian helfen.
({5})
Diese kurze Geschichte zeigt uns, mit wie viel Einfallsreichtum die Ehrenamtlichen unserer Gesellschaft
helfen wollen. Wir müssen dieses Engagement unterstützen und tun dies mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz. Es freut mich besonders, dass es einstimmig geschieht.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute in letzter Lesung über die Entwürfe der
Bundesregierung und des Bundesrates zur Schaffung des
sogenannten Feuerwehrführerscheins. Wir haben uns in
den letzten Wochen intensiv und, wie ich finde, auch
konstruktiv über diese Entwürfe ausgetauscht. Lassen
Sie mich noch einmal auf die Kernpunkte eingehen.
Wir verfolgen mit der Einführung des Feuerwehrführerscheins drei Kernziele. Wir tun dies, um die Einsatzfähigkeit der freiwilligen Feuerwehren und der anderen
Dienste dauerhaft aufrechterhalten zu können und damit
den Freiwilligendienst in den Katastrophenschutzorganisationen zukunftsfest zu machen. Sowohl die Entwürfe
der Bundesregierung als auch des Bundesrats sehen eine
Lösung vor, nach der organisationsintern sowohl eingewiesen als auch geprüft wird. Ich glaube, das ist unbürokratisch und spart Kosten. Deswegen unterstützen wir
diesen Ansatz.
({0})
Ein weiteres wichtiges Ziel ist Folgendes. Wir reden
ja immer über hochverschuldete Kommunen, die Geld
sparen müssen. Dieses Vorgehen hilft genau hierbei;
denn sonst zahlen Kommunen häufig für Nachschulungen zum Erwerb von Führerscheinen, gerade bei der
Feuerwehr. Ich kenne das auch aus meiner Ratstätigkeit.
Gleichzeitig wollen und müssen Kommunen natürlich
die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Ich
glaube, der Feuerwehrführerschein ist eine gute Lösung,
um beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen.
Unser drittes Kernziel ist - fraktionsübergreifend -,
dass wir das Ehrenamt stärken wollen. Dafür müssen wir
Anreize schaffen. Ein solcher Anreiz ist der Feuerwehrführerschein.
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der von
Beginn an zu Recht eine wichtige Rolle spielte. Das ist
die Verkehrssicherheit. Es gab Bedenken, dass der Feuerwehrführerschein eine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellt. Natürlich ist klar, Blaulichtfahrten bergen
ein höheres Risiko als normale Fahrten. Aber wir haben
uns einem intensiven Abwägungsprozess gestellt. An
dessen Ende kann man guten Gewissens sagen, dass wir
die Möglichkeit der organisationsinternen Einweisung
und Prüfung unterstützen. Es sind ja nicht irgendwelche
Chaoten, denen wir das übertragen, sondern pflichtbewusste Bürgerinnen und Bürger, die sich in den Diensten
engagieren. Vor allem sind im Gesetzentwurf klare Anforderungen für diejenigen vorgesehen, die einweisen
und prüfen dürfen. Gerade deswegen haben wir auch die
Klarstellungswünsche des Bundesrates durch Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen aufgegriffen. Es
ist nun explizit geregelt, dass Ausbildung und Prüfung
auch durch Fahrlehrer vorgenommen werden können.
Ich glaube, das ist ein guter Fortschritt, den wir in den
Beratungen erzielt haben.
({1})
Abgesehen davon, dass es den Fahrschulen ausdrücklich ermöglicht werden soll, durch attraktive Angebote
weiter Kunden zu gewinnen, haben wir also auch in Zukunft in jedem Fall gut ausgebildete Fahrer auf den Einsatzfahrzeugen.
Lassen Sie mich noch kurz auf das Thema der Vereinbarkeit des Feuerwehrführerscheins mit dem Europarecht eingehen. Ich bin der Überzeugung, das Ganze
wurde durch das BMJ sorgfältig geprüft. Es gibt keine
Bedenken gegen die Rechtsförmlichkeit. Sonst läge uns
der Gesetzentwurf heute so auch nicht vor.
({2})
Ich bin der Meinung, es ist inhaltlich gut zu vertreten,
dass die nun genannten Organisationen zum Katastrophenschutz im Sinne der 3. EG-Führerscheinrichtlinie zu
zählen sind.
Das Thema der bundeseinheitlichen Lösung, das auch
die SPD angesprochen hat, ist natürlich eines, über das
wir sprechen müssen; das haben wir im Ausschuss bereits getan. Ich möchte noch einmal festhalten: Im Bundesrat ist weiterhin eine Länderlösung vorgesehen, auch
wenn der federführende Ausschuss es anders gesehen
hat. Somit entspricht das, was wir hier verabschieden,
auch dem Willen der Länder, übrigens auch der SPD-geführten Länder.
Ich halte es immer noch für sinnvoll, dass wir maßgeschneiderte Lösungen für jedes Bundesland haben; denn
die Anforderungen an Katastrophenschutzdienste sind
beispielsweise in Schleswig-Holstein vielleicht anders
als in Bayern, Niedersachsen oder im Saarland. Deswegen ist es sinnvoll, dies vor Ort zu entscheiden.
({3})
Die Länder sind natürlich nicht davon abgehalten,
sich eng abzustimmen. Insbesondere was die gegenseitige Anerkennung angeht, ist dies ja auch wünschenswert. Deswegen halte ich es für richtig, dass das
BMVBS hier eine Art Koordinierungsrolle einnimmt.
Staatssekretär Scheuer hat im Ausschuss ja angesprochen, dass es eine Art Basistext für den Feuerwehrführerschein gibt. Das ist, glaube ich, gut und richtig.
Ich freue mich und die FDP freut sich über den breiten Konsens, der im Grundsatz zwischen den Fraktionen
besteht. Jetzt kommt es auch darauf an, dass die Länder
die Regelungen zügig umsetzen und die Chancen nutzen, die sich mit dem Feuerwehrführerschein bieten. Die
zahlreichen Ehrenamtlichen im Land warten darauf. Sie
werden es Ihnen und uns auch danken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gut, dass wir heute endlich eine Lösung für die vielen
freiwilligen Helferinnen und Helfer finden, die für unsere Gesellschaft eine so wichtige Arbeit machen. Die
unzähligen Freiwilligen bei Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk und den Rettungsdiensten leisten einen
unschätzbaren Beitrag für das Funktionieren unseres Gemeinwesens.
({0})
Diesen Dank einmal vom Rednerpult des Parlaments
auszusprechen, ist mir umso wichtiger, weil die Freiwilligen oft auch hoheitliche Aufgaben, wie zum Beispiel
die Brandbekämpfung, übernehmen. Man kann sagen,
dass unser Gemeinwesen in dieser Form ohne das Engagement dieser Frauen und Männer nicht funktionieren
würde. Diese Menschen erwarten von uns zu Recht, dass
wir nicht nur nette Worte für sie übrig haben, sondern sie
erwarten auch Unterstützung vom Gesetzgeber. Dazu
gehört es auch, dass wir ihre Arbeit nicht unnötig erschweren. Die Arbeit von Feuerwehr, dem THW und
den Rettungsdiensten wurde in der Vergangenheit aber
leider erheblich erschwert.
Der Staatssekretär hat es bereits ausgeführt: Seit im
Jahre 1999 das europäische Recht im Führerscheinwesen
vereinheitlicht wurde, finden diese Organisationen kaum
noch Nachwuchskräfte, die über einen geeigneten Führerschein bis 7,5 Tonnen verfügen. Das wollen wir hier
und heute korrigieren, und wir sind uns dabei auch über
Fraktionsgrenzen hinweg einig.
Ein immer wieder diskutierter Punkt bei den Beratungen war die Verkehrssicherheit. Dabei wird häufig übersehen, dass bis 1999 jeder Fahranfänger mit einem PkwFührerschein ins Führerhaus eines 7,5-Tonners steigen
durfte - ohne jede Einweisung und ohne eine einzige
Fahrstunde auf diesem Lkw. Eine wie auch immer vorgeschriebene Einweisung innerhalb der Organisation
stellt daher in jedem Fall eine Verbesserung der Ausbildung im Vergleich zur früheren Situation dar.
Mir ist überdies keine Statistik bekannt - vielleicht ist
eine solche in einer anderen Fraktion oder bei der Regierung vorrätig -, dass die Inhaber der alten Führerscheinklasse 3 eine höhere Unfallquote beim Führen von
7,5-Tonnern aufweisen. In Ihrer Gesetzesvorlage wollen
Sie, vor allem der Bundesrat, dass die Bundesländer bei
der Prüfung und Ausbildung Sonderregelungen treffen
können. Für die Linksfraktion ist das weiterhin ein Makel, der allerdings nicht dazu führt, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen werden.
Wir bleiben dennoch dabei, dass eine bundeseinheitliche Regelung mehr Sinn macht, da sich die Situationen
in den einzelnen Bundesländern kaum voneinander unterscheiden. Herr Kollege Luksic, Sie müssen mir irgendwann in aller Ruhe erklären, wo sich für eine freiwillige Feuerwehr die Situation in Schleswig-Holstein
von der im Saarland unterscheidet.
({1})
- Ja gut, das Hochwasser haben wir an der Saar auch oft
genug gehabt. Ich sehe vielleicht einen Unterschied zwischen den drei Stadtstaaten; aber bei den Flächenländern
sehe ich beim besten Willen keinen Unterschied.
({2})
- Das nehmen wir jetzt einmal nicht zu Protokoll.
Mir ist klar, dass bei den Einsätzen über Ländergrenzen hinweg ein einheitlicher Ausbildungsstand wünschenswert wäre. Oder soll zum Beispiel eine Feuerwehr
bei einer Grenzüberschreitung erst einmal einen Fahrerwechsel vornehmen?
Die Linke stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf
zu. Ich würde mir sehr wünschen, dass die anderen Fraktionen - ich schaue gerade in die entsprechende Richtung - bei nächster Gelegenheit bei vergleichbaren Anträgen auch einmal zustimmen würden, wenn die
Opposition ihre Anträge vorlegt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Problematik der Feuerwehrführerscheine haben wir lang
und breit diskutiert, hier im Plenum und auch in den
Ausschüssen. Ich will deswegen nicht noch einmal das
gesamte Thema ausbreiten. Die Kolleginnen und Kollegen haben das schon vorab gemacht.
Auch die Grünen finden die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes richtig und wollen keine Differenzen
konstruieren, wo es keine gibt. Als konstruktive Opposition wollen wir greifbare Verbesserungen für die Menschen in unserem Land erreichen. Wir fällen unsere Entscheidungen sachorientiert und in aller Ruhe.
Von der Panik, die jetzt die eine Seite des Hauses ergriffen hat, lassen wir uns nicht anstecken. Die Lage dieser Regierung ist desolat. Verbesserungen sind vielfach
nicht mehr zu erwarten. Aber die Zeit dreht sich weiter,
und die Menschen wollen von uns Lösungen sehen. Bei
sehr vielen Regierungsvorhaben müssen und werden wir
auch weiterhin sehr skeptisch sein. Hier sind wir es nicht
und stimmen deswegen zu.
({0})
Wir stellen uns einer pragmatischen Lösung nicht in
den Weg. Wir gehen davon aus, dass die Gesetzesänderung im Einklang mit dem europäischen Recht erfolgt
- der Staatssekretär und der Bundesminister haben das
eben ja auch bestätigt -; denn alles andere wäre Ausdruck einer unverantwortlichen Politik gegenüber den
Katastrophenschützern, den Helfern und den Feuerwehrleuten, die ihre Arbeit ehrenamtlich machen.
Meine Damen und Herren, im Verkehrsausschuss haben wir darüber beraten, ob die Zuständigkeit beim
Bund liegen sollte. Da Feuerwehren regional organisiert
sind, denken wir, dass die Verantwortung auch bei den
Ländern liegen sollte. Dort kennt man die örtlichen Bedürfnisse am besten und weiß, wie die Veränderungen
schnellstmöglich umgesetzt werden können. Natürlich
regen wir an, dass sich die Länder abstimmen - nach
dem, was wir gehört haben, ist das vorgesehen - und die
Regeln untereinander harmonisieren, aber wir sollten die
Kirche im Dorf lassen. Am Ende ist nicht entscheidend,
ob die Bedingungen für den Führerscheinerwerb in
Schleswig die gleichen sind wie in Passau, sondern dass
unsere ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer die Einsätze sicher fahren können und die Führerscheine überall
in Deutschland gültig sind. Ich habe Vertrauen in die
Menschen vor Ort, dass die Lösung richtig umgesetzt
wird.
Wir müssen beobachten, ob sich die Neuregelung in
der Praxis bewährt. Deswegen müssen wir die Auswirkungen der Gesetzesänderung nach Inkrafttreten des Gesetzes im Verkehrsausschuss prüfen. Ich hatte ja schon
angeregt, dass wir uns das Thema in zwei Jahren noch
einmal vornehmen und uns Bericht erstatten lassen. Dabei sollten wir insbesondere auf folgende Punkte achten:
Erstens. Haben sich die Unfallzahlen infolge der Einführung der neuen Führerscheine erhöht?
Zweitens. Wie funktioniert der Austausch zwischen
den Ländern?
Drittens müssen wir selbstverständlich fragen, ob wir
das Problem, das der Einführung dieses Führerscheins
zugrunde lag, gelöst haben; denn niemandem wäre geholfen, wenn die Feuerwehren und die Katastrophenschutzorganisationen weiterhin zu wenige Fahrerinnen
und Fahrer für ihre Einsätze hätten.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, so viel Einigkeit wie bei dieser Änderung des
Straßenverkehrsgesetzes habe ich in diesem Haus selten
erlebt. Das ist bei diesem Thema, bei dem es um die
Stärkung des Ehrenamtes geht, sehr wichtig. Ich habe jedoch keine Angst, dass wir jetzt nur noch traute Harmonie erleben werden. Diese Regierung bietet uns wahrlich
genug Anlass, ihr ganz genau auf die Finger zu schauen
und da einzugreifen, wo Murks gebaut wird.
Herzlichen Dank.
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Wilms, ich glaube, diese Regierung wird Ihnen auch viel Anlass geben, mit uns zu stimmen und unseren Anträgen zu folgen.
({0})
Ich bin überzeugt davon, dass die vielen freiwilligen
Helfer, aber auch die Verantwortlichen am Ende dieser
Debatte endlich wissen - das ist wichtig -, wie es mit
dem Transport ihrer schweren Rettungs- und Löschtechnik auf Fahrzeugen bis 7,5 Tonnen weitergeht. Meine
Vorredner haben bereits gesagt, dass diejenigen, die nach
1999 einen Pkw-Führerschein erworben haben, damit
keine Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen fahren dürfen. Entsprechend der EU-Regelung dürfen sie nur Fahrzeuge bis
3,5 Tonnen fahren. Aus Gesprächen mit Feuerwehrleuten, mit Vertretern des THW und anderer Organisationen
des Rettungswesens weiß ich, dass man die Sache so auf
den Punkt bringen kann: Den Organisationen gehen die
Fahrer aus. Es ist ein Riesenproblem, die notwendigen
Einsätze abzusichern. Deswegen haben der Bundesfeuerwehrverband und das THW schon sehr frühzeitig darauf hingewiesen, dass Handlungsbedarf besteht. Mit
dem neuen, sogenannten großen Feuerwehrführerschein
für Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen können wir diese Lücke
entscheidend schließen.
Wer in der letzten Legislaturperiode mit dabei war,
weiß, dass wir uns schon damals dieses Themas angenommen haben. In der Großen Koalition hatten wir gemeinsam eine Regelung für das Führen von Kraftfahrzeugen bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von
4,75 Tonnen gefunden. Aber die Praktiker unter uns
wussten schon damals, dass das nur eine kleine Lösung
war; denn schon damals war klar, dass die Löschtechnik
immer schwerer wird - ich sage ausdrücklich: zum
Glück - und immer mehr Ausrüstungsgegenstände zur
Unfallrettung mitgeführt werden, was Fahrzeuge mit einer Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen erforderlich
macht.
Die Regelung, die wir jetzt unter Einbeziehung der
Länder gefunden haben, ist, denke ich, vor allen Dingen
praxistauglich. Man muss eines sehen - darüber haben
wir diskutiert -: Die Festlegung der Durchführungsbestimmungen und die Anwendung liegen bei den Ländern. Das ist auch richtig so; denn man muss die regionalen Besonderheiten beachten. Eine Rettungsfahrt auf
einer Deichkrone in Schleswig-Holstein ist anders als
eine auf einem Waldweg im Thüringer Wald.
({1})
Daher müssen einige Regelungen regional getroffen
werden.
Die Verbände werden es uns danken und sehen die
Regelung, die wir jetzt beschließen, als positiv an. Sie
wird insgesamt 16 000 Fahrzeuge im Bestand betreffen.
Um den Einsatz dieser 16 000 Fahrzeuge abzusichern,
werden rund 80 000 Fahrer
({2})
- und Fahrerinnen; danke für den Hinweis, ich nehme
ihn gerne auf, wobei „Fahrer“ die Mehrzahl ist und die
Fahrerinnen mit einschließt - benötigt, die natürlich
nicht alle den Lkw-Führerschein C1 haben können. Sie
können ihn auch deshalb nicht haben, weil er finanziell
nicht schulterbar ist, weil nicht jede Kommune in der
Lage ist, den Fahrern diesen Lkw-Führerschein zu finanzieren.
Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir diese Regelung getroffen haben. Meine Kreisfeuerwehrverbände im
Altenburger Land und im Landkreis Greiz haben mir in
Volkmar Vogel ({3})
den letzten 14 Tagen auf ihren Verbandstagungen gesagt: Wir brauchen unbedingt Nachwuchs. Wir brauchen
junge Leute im Ehrenamt, die uns auch in Zukunft zur
Verfügung stehen.
({4})
Ich glaube, mit dieser Regelung haben wir einen vielleicht kleinen, aber doch wichtigen Beitrag für das Ehrenamt geleistet, für diejenigen, die jeden Tag bereitstehen, um Menschen, die in Not geraten, zu helfen und um
Sachwerte, die in Gefahr geraten, zu retten.
({5})
Bei allen hehren Zielen - das möchte ich hier noch
einmal zum Ausdruck bringen - hat die Sicherheit
oberste Priorität. Frau Lühmann, ich habe unsere Gespräche im Ausschuss sehr genau verfolgt; wir nehmen
das sehr ernst. Aber man muss auch eines beachten: Ein
junger Kraftfahrer, der den C1-Führerschein, den LkwFührerschein, hat, ist nicht davor gefeit, leichtsinnig zu
sein oder fahrlässig zu handeln. Ich glaube, an der Stelle
ist wichtiger als alles andere, dass man dies immer im
Hinterkopf behält. Kameradschaft, gegenseitige Hilfe,
Besonnenheit im Einsatz, Respekt vor der Gefahr, aber
auch, wenn es darauf ankommt, die Ermahnung untereinander sind allemal wichtiger als das, was wir hier gesetzlich regeln können.
Mein Appell an alle freiwilligen Helfer vom THW
und von der Feuerwehr ist, dass sie dies bei ihren Einsätzen immer beachten. Wir wollen den gesetzlichen Rahmen schaffen, damit es einfach zu regeln ist. Meine Bitte
an die Bundesländer lautet, in ihren eigenen Bestimmungen, die jetzt zu erlassen sind, nach Möglichkeit einfache, unbürokratische und kostengünstige Regelungen zu
finden, die, wenn es unter Beachtung der regionalen Besonderheiten irgendwie geht, unter Umständen in mehreren Bundesländern Gültigkeit haben können.
Mir bleibt zum Schluss nur noch, zu sagen, dass es
mir ein Herzenswunsch ist, all denjenigen, die im Rettungswesen tätig sind, die freiwillig diesen Ehrendienst
leisten, von dieser Stelle aus herzlich zu danken. Ich
wünsche ihnen, dass sie immer wohlbehalten und gesund von ihren Einsätzen zurückkehren. Weil ich selber
Feuerwehrmann bin, rufe ich den Gruß - er ist von Feuerwehr zu Feuerwehr verschieden -: Gut Wehr! Gut
Schlauch!
Danke schön.
({6})
Jetzt müssen wir nur noch gut abstimmen. Das tun wir
zu dem eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes, nachdem wir die Aus-
sprache geschlossen haben. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/5355,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 17/4981 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Dazu liegen mir eine Reihe von persönlichen Erklärun-
gen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll wie üb-
lich beifügen.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer möchte sich der Stimme enthalten? Wer möchte dagegen stimmen? - Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig angenommen.
({0})
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes ab. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/5355, den Gesetzentwurf des
Bundesrates auf der Drucksache 17/2766 für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser
Gesetzentwurf ist damit einvernehmlich angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Waltraud Wolff ({1}), Garrelt
Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Verbraucherschutz in der Telekommunikation
umfassend stärken
- Drucksache 17/4875 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren
- Drucksache 17/5376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Marianne Schieder ({5})
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort.
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Alle, die den Saal verlassen, kann ich nur bitten, hierzubleiben, weil dieses Thema uns alle angeht. Es
geht um den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Bereich der Telekommunikation.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie auf
der Zuschauertribüne sitzen und diese Debatte verfolgen, das ist ein Thema, das auch Ihnen zu Hause unter
den Nägeln brennt. 19 Cent pro Minute für ein Ferngespräch innerhalb Deutschlands - heute klingt das absurd
teuer. Aber 1998 war das ein Kampfpreis. Damit begann
damals der Wettbewerb im deutschen Festnetz. Die relativen Kosten sind seitdem zwar drastisch gesunken; aber
in absoluten Zahlen ist das eigentlich nicht der Fall. Eher
zahlen wir heute mehr. Aber wir alle müssen auch konstatieren: Heutzutage telefonieren wir nicht mehr nur mit
dem Telefon und nutzen nicht mehr nur diese Leitungen,
sondern sind auch an ein neues Kommunikations- und
Konsumsystem angeschlossen.
Der Telekommunikationsmarkt ist einer der dynamischsten Märkte in Deutschland. Neue technische
Möglichkeiten sorgen natürlich immer wieder für neue
Geschäftsmodelle. Die Telekommunikationsbranche ist
zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland geworden. Sie ist ein wichtiger Motor für Innovation, Wachstum und Beschäftigung. Sowohl die Zahl der
Unternehmen als auch die Umsätze wachsen. Dies ist eigentlich eine sehr positive Entwicklung. Anbieter von
Informationstechnik, Telekommunikation und Internetdiensten sind mit mehr als 840 000 Beschäftigten der
zweitgrößte Arbeitgeber in der deutschen Industrie. Das
hätte 1998 niemand geglaubt.
Auch die Anzahl der Anbieter ist gestiegen, die Anwendungen sind viel komplexer geworden, und ebenso
sind die Tarife vielfältiger und komplexer geworden.
Wir, die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitieren
davon aufgrund niedriger Preise und leistungsfähiger
Produkte. Eigentlich ist das toll; das kann man nicht anders sagen. Aber die zunehmende Unübersichtlichkeit in
dieser Branche ist zu einer großen Herausforderung für
den Verbraucherschutz geworden; darüber unterhalten
wir uns heute.
Dies ist zum Teil deshalb der Fall, weil Verbraucherinnen und Verbraucher damit überfordert sind, sich im
Dschungel der Angebote und Tarife zurechtzufinden,
zum Teil aber auch deshalb, weil die Unübersichtlichkeit
ausgenutzt wird und Verbraucherinnen und Verbraucher
schlichtweg betrogen werden; so muss man das sagen.
Wir als Gesetzgeber sind an dieser Stelle aufgefordert,
ganz genau zu beobachten: Wo gibt es Fehlentwicklungen? Wir müssen uns fragen: Wie kann man ihnen entgegenwirken? Wir müssen aufgreifen, was falsch läuft, wir
müssen nachjustieren, und wir müssen die Rechte der
Telefonkundinnen und -kunden wahren und stärken.
({0})
Dabei geht es um höchst unterschiedliche Probleme.
Da gibt es zum einen die Call-by-Call-Anbieter, die unvorhersehbar ihre Preise erhöhen, ohne dass man Einfluss darauf nehmen kann. Dann gibt es Unternehmen,
die Sie und uns alle mit unerwünschten Werbeanrufen
belästigen. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher
bezahlen in Warteschleifen bei Hotlines - die Frage lautet: Warum? Außerdem werden uns Verträge untergeschoben. Mit Gewinnversprechen werden Kundinnen
und Kunden auf teure 0900er-Nummern gelockt. All
diese Probleme gilt es in den Griff zu bekommen. Wir
als SPD-Fraktion haben einen hervorragenden Antrag
geschrieben, in dem ein ganzes Maßnahmenbündel diesen Problemen entgegenwirkt.
({1})
Gleichzeitig liegt - endlich, muss man sagen - der
Entwurf der Regierungsfraktionen für eine Novelle zum
Telekommunikationsgesetz vor. Kostenfreie Hotlines
- das werden uns auch die Kollegen von der Regierungsseite zugestehen - fordern alle Fraktionen. Der Gesetzentwurf enthält bessere Vorgaben zur Preisangabe und
zur Beschreibung der Qualität der Angebote, und die
Verbraucherrechte beim Umzug und beim Anbieterwechsel werden gestärkt. Es ist eine gute Sache, dass das
in dem Gesetzentwurf steht. Sie als Bundesregierung haben einen Aufschlag gemacht, und Bundesrat und die
Verbraucherzentralen haben schon ihre Stellungnahmen
dazu abgegeben.
Waltraud Wolff ({2})
Auf dieser Grundlage sollten wir alle gemeinsam zu
guten Lösungen kommen. Wir als SPD werden uns jedenfalls ganz konstruktiv daran beteiligen.
({3})
Ich habe auch schon einen ganz konkreten Vorschlag,
nämlich die Verpflichtung, dass die Call-by-Call-Anbieter die Preise anzugeben haben. Das darf man nicht erst
irgendwann mit einer Verordnung regeln, sondern das
gehört jetzt sofort ins Gesetz.
({4})
Wozu sollten wir denn warten? Wir kennen doch alle die
Abzocke durch unerwartete Preissprünge. Wenn Sie sich
dazu nicht durchringen können, sondern das auf dem
Verordnungsweg regeln wollen, muss es aber bitte schön
gleichzeitig mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs
geschehen.
Meine Damen und Herren, wir haben hier zwar einen
guten Aufschlag der Bundesregierung; aber wenn man
sich den ganzen Bereich anschaut, muss man konstatieren: Beim Verbraucherschutz in der Telekommunikation
haben die Bundesregierung und die Regierungskoalition
total versagt;
({5})
denn Ihr Gesetzentwurf sieht keine Hilfe bei Kostenfallen, untergeschobenen Verträgen und der Abzocke bei
Gewinnspielen vor.
({6})
Zu diesen Themen brauchen Sie bloß einmal bei den
Bürgerinnen und Bürgern nachzufragen. Da gilt es, von
uns aus etwas zu tun. Wir als SPD haben bereits in der
letzten Legislaturperiode ein Gesetz zur Bekämpfung
unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des
Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen
auf den Weg gebracht.
({7})
- Jawohl. - Mit diesem Gesetz haben wir die Rechte der
Verbraucherinnen und Verbraucher erheblich gestärkt,
insbesondere im Hinblick auf unerlaubte Telefonwerbung und auf die untergeschobenen Verträge.
Gleichzeitig hat die SPD-Fraktion eine Evaluation
dieses Gesetzes auf den Weg gebracht. Ich denke, die
Evaluation vorzuziehen, war genau der richtige Weg;
denn die Zahl der Beschwerden ist in dieser Zeit nicht
zurückgegangen.
Was sagen die nun vorliegenden Ergebnisse aus? Sie
zeigen erstens, dass das Gesetz zum Teil greift. Zweitens
zeigen sie, dass die Unternehmen zwar weiterhin mit ungewollten Initiativanrufen gegen das Gesetz verstoßen,
die Zahl dieser Anrufe aber deutlich zurückgeht.
Zugenommen hat dagegen die Zahl der Anrufe von
Telefonbetrügern, die vermeintliche Gewinnversprechen mit der Aufforderung machen, teure 0900er-Nummern anzurufen. Auch das Abgreifen von Kontaktdaten
ist durch die vorhandenen gesetzlichen Maßnahmen
nicht ausreichend eingedämmt worden. Mit anderen
Worten kann man sagen: Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden jetzt zwar seltener belästigt, aber sie
werden schneller und mehr abgezockt. Darum müssen
wir hier gesetzlich eingreifen.
({8})
Noch eines steht fest: Verbraucherrechte müssen
künftig besser durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit
dazu ist die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Dazu haben wir aus dem Bundesrat bereits positive
Signale vernommen. Ich glaube, dass wir es hier schaffen, konzertiert vorzugehen.
Meine Damen und Herren, wir haben eine sogenannte
Button-Lösung eingebracht und hätten die Verbraucherinnen und Verbraucher stärken können. Das hat die Regierungskoalition abgelehnt. Sie haben sich darauf zurückgezogen, dass das EU-weit geregelt werden muss.
Heute trommelt der Buschfunk aber, dass Sie vielleicht
doch eine nationale Lösung haben wollen.
Sie haben noch nichts vorgelegt.
({9})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden weiter
abgezockt, und das ist nicht spaßig.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Verbraucherschutz in der Telekommunikation ist mehr als das,
was im Telekommunikationsgesetz geregelt wird. Wir
haben die Lösungsansätze aufgezeigt. Stimmen Sie unserem Antrag zu und lassen Sie uns konstruktiv im Sinne
aller Verbraucherinnen und Verbraucher daran arbeiten.
Danke schön.
({0})
Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion ist der
nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wolff, ich habe Ihrer Rede und der Kommentierung Ihres „hervorragenden
Antrages“ gelauscht. Ich denke, uns eint die Forderung
nach dem Ausbau des Verbraucherschutzes und nach der
Stärkung der Rechte der Verbraucher.
Ich weiß aber nicht so recht, ob die Diskussion, die
wir jetzt führen, nicht völlig deplatziert ist; denn - Sie
haben es selbst erwähnt - die Bundesregierung hat den
Gesetzentwurf schon am 2. März dieses Jahres verabschiedet. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme dazu
geschrieben, und es wäre sinnvoll gewesen, in der ersten
Lesung des Gesetzentwurfes hier im Deutschen Bundestag, also im Mai, genau die Fragen, die Sie vorgetragen
haben, zu erörtern.
({0})
- Ja, genau.
Ich muss Ihnen auch sagen, dass Ihr Antrag ein bisschen spät vorgelegt worden ist; denn die CDU/CSUFraktion hat schon lange ein Papier zu den verbraucherschutzrechtlichen Regelungen im Gesetzentwurf vorgelegt. 80 Prozent Ihrer gesamten Regelungsvorschläge
können Sie jetzt im Gesetzentwurf der Bundesregierung
nachlesen.
({1})
Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich also
sagen: Haken, Haken, Haken - alles eigentlich erledigt,
weil es im Gesetzentwurf steht.
({2})
Insofern ist die Diskussion heute eine kleine Spiegelfechterei. Wir sollten das in den Ausschüssen debattieren. Es lohnt sich sicherlich, darüber zu diskutieren,
wenn der Gesetzentwurf eingebracht ist.
Deswegen möchte ich jetzt auch nur drei Punkte ansprechen, die uns hier wirklich sehr beschäftigen.
Jeder hier im Raum hat sich in der vergangenen Zeit
wahrscheinlich schon einmal sehr über Anrufe mit unterdrückter Nummer, über falsche Angaben von Bandbreiten bei Internetanschlüssen und über teure Warteschleifen geärgert. Deswegen bestätige ich Ihnen ja auch, dass
Handlungsbedarf besteht.
Die Warteschleifen sind, glaube ich, im Moment eines
der größten Probleme. Ich denke, wir haben hier im
Hause und auch mit der Regierung eine große Einigkeit,
dass in Bezug auf kostenlose Warteschleifen Regelungen
geschaffen werden müssen, und auch über die Wege sind
wir uns jetzt wohl einig, nachdem die Anbieter lange
Zeit erklärt haben, was alles technisch nicht geht. Letztendlich geht vieles dann aber doch; das haben wir in der
politischen Praxis ja schon oft erlebt. Ich denke also, das
Thema wird sich regeln lassen.
In Bezug auf den Anbieterwechsel innerhalb eines
Kalendertages gehen wir andere Wege als Sie. Sie fordern Sanktionen, wenn ein Anbieterwechsel nicht innerhalb eines Tages abgeschlossen wird. Was nützt es mir,
wenn der Anbieter, nachdem ich fünf Tage lang kein Telefon hatte, vielleicht 100 Euro zahlen muss? Ich will
den Anbieterwechsel an einem Tag realisiert haben. Wir
sind der Meinung, dass es wesentlich besser ist, wenn
der alte Anbieter den Endkunden so lange weiter versorgen muss, bis der Anbieterwechsel innerhalb eines Tages
gewährleistet ist. Ich denke, dass unsere Regelung besser
ist und auch wesentlich weiter geht als Ihre Forderung
nach Sanktionen.
Ein anderes Thema ist die zwölfmonatige Höchstvertragslaufzeit für Telekommunikationsverträge. Das ist
ein leidiges Thema; das muss ich zugeben. Mir ist das
auch schon oft passiert: Man wechselt den Anbieter und
muss einen Zweijahresvertrag unterschreiben. Wenn
man vergisst, diesen Vertrag innerhalb einer bestimmten
Frist zu kündigen, läuft er weiter, dann allerdings nur
noch ein Jahr. Wir sind der Auffassung, dass eine zwölfmonatige Höchstvertragslaufzeit notwendig ist. Zumindest muss die Möglichkeit dazu bestehen. Ob der Verbraucher einen Vertrag über zwei, drei, fünf oder zehn
Jahre unterschreibt, bleibt ihm überlassen; aber er muss
auch die Möglichkeit haben, einen Vertrag abzuschließen, der nur ein Jahr läuft und entsprechend gekündigt
werden kann.
Ein weiteres Thema sind die Verbraucherrechte beim
Umzug. Umzüge kommen im praktischen Leben oft vor;
die Menschen sollen schließlich mobil sein. Gefordert
wird, dass für den Fall eines Umzugs ein Sonderkündigungsrecht im Gesetz verankert wird.
Sie befürworten sogar, dass die Telekommunikationsunternehmen eine Kompensation für die überlassene
Hardware erhalten. Damit sind Sie sehr wirtschaftsfreundlich. Über diesen Vorschlag werden wir diskutieren müssen. Wir sind der Auffassung, dass es eine vertraglich vereinbarte Abstandszahlung geben soll. Der
Verbraucher muss wissen, worauf er sich bei einem Umzug einlässt.
Ich denke, in den weiteren Themen, die Sie angesprochen haben, wie die Mitnahme von Mobilfunkrufnummern und Preistransparenz bei Call-by-Call-Dienstleistungen, liegen wir nicht weit auseinander. Insofern
denke ich, dass die Beratung, was den ersten Teil Ihres
Antrages angeht, in großer Gemeinsamkeit gelingen
kann. Beim zweiten Teil Ihres Antrags wird es schon
schwieriger. Das wissen Sie auch genau. Herr Dörmann
lächelt schon insgeheim in sich hinein, weil er genau
weiß, dass verschiedene Regelungen, die darin gefordert
werden, einen sehr hohen bürokratischen Aufwand nach
sich ziehen. Da wir alle eigentlich für Bürokratieabbau
sind, werden wir uns dabei sicherlich kaum einig werden.
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Sie
wird sicherlich sehr produktiv werden. Der Verbraucher
wird der Gewinner sein. Das ist unser Ziel.
({3})
Es ist die Aufgabe der Politik, die Verbraucherrechte zu
stärken. Das werden wir mit dem Gesetzentwurf und den
weiteren Diskussionen im Ausschuss auch tun.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Die Kollegin Caren Lay ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Lämmel, ich muss
mich schon wundern. Ich denke, dass die Beratung der
Anträge der Linken, aber auch der anderen Oppositionsfraktionen zu dem wichtigen Thema Verbraucherschutz
im Telekommunikationsbereich nun wirklich nicht deplatziert ist, wie Sie gesagt haben. Vielmehr ist es längst
überfällig, dass die Bundesregierung handelt. Wieder
einmal muss die Opposition Sie vor sich hertreiben.
({0})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren
schließlich durch ungebetene Telefonanrufe, Kostenfallen im Internet und viele andere Dinge mehr jedes Jahr
sehr viel Geld. Ich denke, jeder von uns kennt dieses
Problem auch aus der eigenen Erfahrung. Man bekommt
zum Beispiel eine SMS auf das Handy mit der Mitteilung: „Sie haben gewonnen! Rufen Sie uns bitte unter
folgender Nummer an.“ Dann landet man in einer Warteschleife, die am Ende sehr viel Geld kostet. Der Hauptgewinn bleibt aber aus.
Ein anderes Beispiel sind die scheinbaren Billigtarife,
bei denen die Telekommunikationsunternehmen besonders preiswerte Anrufe ins Ausland oder in Mobilfunknetze versprechen. Dann aber erhöhen die Anbieter
kurzfristig und auch unbemerkt die Minutenpreise oft
um das Vielfache, und die Verbraucherinnen und Verbraucher bleiben auf den Kosten sitzen.
Insofern erleben viele Verbraucherinnen und Verbraucher die Telekommunikationsbranche als einen Markt
der Abzocke. Wir als Linke sagen, dass diese Abzocke
im Internet und bei der Telekommunikation endlich ein
Ende haben muss.
({1})
- Dann bin ich auf Ihre Vorschläge gespannt. Denn das
ist kein neues Problem. Seit Jahren sorgt der Telekommunikationsmarkt für den höchsten Beratungsbedarf bei
den Verbraucherzentralen. Fast die Hälfte der Verbraucherinnen und Verbraucher hat Probleme mit Telefonund Internetdiensten. Das Schlimmste ist, dass die beliebtesten Opfer dieser unseriösen Geschäftspraktiken
sehr häufig Jugendliche und ältere Menschen sind. Deswegen ist es unsere soziale Verpflichtung, uns hier einzusetzen.
Was macht aber die Bundesregierung? Ich habe in der
Tat aus den Reihen der Union immer wieder einmal eine
Presseerklärung zum Thema „sauberes Telefon“ gelesen.
Aber geändert hat sich die Gesetzeslage bislang nicht.
Das gilt auch für den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Beispielsweise beim Thema Warteschleifen gibt es
nach wie vor Schlupflöcher, die die Koalition den Unternehmen zubilligen möchte. Anstatt zu sagen, dass die
Warteschleifen kostenlos sein sollen, wollen Sie, dass
das nur bei Sondertelefonnummern gilt.
({2})
Insofern ist die Behauptung von Verbraucherministerin
Aigner, das Problem kostenpflichtiger Warteschleifen
sei gelöst, sicher nicht die richtige Formulierung.
Auch wir als Linke haben hier einen Antrag vorgelegt. Wir sagen zum Beispiel: Warteschleifen müssen
komplett kostenlos sein. Auch die Wartezeit muss begrenzt werden. Denn wer möchte schon viele Stunden
mit Dudelmusik am Telefon verbringen? Ebenso fordern
wir klare Preisobergrenzen und Preisinformationen. Was
für das Festnetz schon längst gilt, muss auch für das
Handy gelten.
({3})
Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
besser vor Kostenfallen im Internet geschützt werden. Es
muss klar erkennbar sein, wie viel ein Kauf im Internet
kostet und wann der Kauf tatsächlich abgeschlossen ist.
Deswegen fordern auch wir, ebenso wie in der letzten
Legislaturperiode, einen Internetbutton. Besonders bedrückend finde ich, dass sich die Telekommunikationsbranche in der Zwischenzeit eine goldene Nase verdient.
Im letzten Jahr hat die Branche in Deutschland einen
Umsatz von 61 Milliarden Euro erzielt, einen Teil davon
mit unseriösen Praktiken.
Wir sagen als Linke: Verbraucherabzocke darf sich
nicht länger lohnen. Die Zögerlichkeit von SchwarzGelb ist Teil einer Politik zugunsten der Unternehmen.
Verbraucherinteressen bleiben dabei auf der Strecke. Das
muss endlich ein Ende haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun die Kollegin Claudia Bögel für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Novelle zum Telekommunikationsgesetz
setzt zwei große Schwerpunkte. Sie bringt den Verbrauchern besseren Schutz, und sie schafft einen sicheren
Rahmen für den Ausbau modernster Internetinfrastruktur. Ihre Vorschläge zu Änderungen im TKG, die ich in
Ihrem Antrag wiederfinde, hat das Kabinett bereits vor
gut einem Monat zu großen Teilen abgesegnet; Kollege
Lämmel sagte das vorhin. Somit, liebe Opposition, gehören Sie der Vergangenheit an. Aber wir kennen das ja:
Dort, wo Sie nur fordern - und das auch noch mit großer
Verspätung -, haben wir uns bereits gekümmert und umfassende Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger erwirkt.
({0})
So wird die Bundesnetzagentur in Zukunft darüber
wachen, ob die Angaben zu den Geschwindigkeiten von
Breitbandanschlüssen mit den Fakten übereinstimmen.
Sie wird darüber wachen, ob die Preistransparenz bei sogenannten Call-by-Call-Gesprächen und mobilen Datendiensten gewährleistet wird. Der Schutz vor Abrechnung
von Internetkostenfallen über die Handyrechnung wird
auch auf den Mobilfunk ausgeweitet. Ein ganz wesentlicher Faktor für Unternehmen ist die Verkürzung der
Wartezeit bei Anbieterwechsel auf einen Tag.
({1})
Wir haben das Problem erkannt: Telefonanbieterwechsel
und schon ist man unter Umständen mehrere Tage nicht
erreichbar. Für den Bürger ist das ärgerlich, für ein Unternehmen ist es von existenzieller Bedeutung. Mit der
entsprechenden Regelung und vielen weiteren Regelungen bietet das TKG zeitgemäßen Verbraucherschutz für
alle Formen der elektronischen Kommunikation, und das
auf höchstem Niveau.
({2})
Das ist unsere Politik. Ihr folgen Taten statt warmer
Worte, verpackt in populistische Forderungen.
({3})
Noch in diesem Jahr können wir die letzten weißen
Flecken in der flächendeckenden Grundversorgung mit
DSL-Internetanschlüssen und LTE beseitigen. Die Zusage hierzu wurde von den TK-Unternehmen aktuell bekräftigt.
Wir wollen, dass auch in den ländlichen Räumen bis
spätestens 2018 besonders schnelle Breitbandanschlüsse
flächendeckend verfügbar sind.
({4})
Der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbandes
fordert deshalb eine kosteneffiziente und für die Verbraucher auch bezahlbare Ausbaustrategie. Absolut richtig. Augenmaß und nicht blinder Aktionismus ist hier
von größter Wichtigkeit;
({5})
denn es geht um Investitionen in Höhe von immerhin
40 Milliarden Euro. Der Ausbau soll mit dem Ziel erfolgen, für die Verbraucher die geringsten Kosten zu erreichen. Ohne den Wettbewerb als den wichtigsten Antreiber wird dies nicht gelingen.
Allein der Wettbewerb, der allen Verbrauchern freie
Wahl unter den Anbietern gibt, hat den Telekommunikationsmarkt zum erfolgreichsten Modell für die Liberalisierung staatlicher Monopole gemacht. Daran sollten
wir uns auch künftig halten; denn gute Wettbewerbspolitik - davon bin ich überzeugt - ist die beste Verbraucherpolitik.
Vielen Dank.
({6})
Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein ganz
wichtiges Feld, über das wir heute diskutieren; denn
ganz viele Menschen sind von großen Problemen betroffen, die wir weiterhin bei der Telekommunikation haben.
Deshalb sage ich: Auch ein mündiger Bürger braucht einen bestimmten Schutz. Es reicht einfach nicht, nur auf
Wettbewerb zu setzen, um das einmal sehr deutlich zur
FDP zu sagen.
({0})
Wir haben Telefon, wir haben Handy, wir haben Internet und wir haben neue Medien, die eine immer größere
Rolle spielen. In vielen Bereichen herrschen in der Tat
immer noch Wildwestmethoden. Deshalb müssen wir
dem Verbraucherschutz mehr Gewicht geben. Ich habe
den Eindruck, dass die Bundesregierung diesen Herausforderungen nicht gewachsen ist; denn sie braucht extrem lange, um zu reagieren, und wenn sie reagiert,
springt sie zu kurz. Es ist wichtig, heute diese Debatte zu
führen, damit wir endlich im Verbraucherschutz bei der
Telekommunikation vorankommen.
({1})
Angesichts der kurzen Zeit nenne ich drei Beispiele.
Das ganze Thema ist extrem breit. Ein Beispiel sind die
Telefonwarteschleifen. Wir von den Grünen haben das
Thema 2009, als wir eine Studie vorgelegt haben, in die
Diskussion gebracht und auf den Missbrauch und die
Abzocke hingewiesen - jetzt haben wir 2011. Wir haben
dieses Thema im März des letzten Jahres in den Bundestag eingebracht. Ein Jahr später wird endlich ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Da kann man nun sagen:
Lieber spät als nie. - Aber man muss auch sagen: Er ist
noch nicht einmal gut geworden.
({2})
Daher finde ich schon, dass man fragen muss, was Frau
Aigner dazu sagt. Frau Aigner hat sich gerühmt, sie habe
das Problem der kostenpflichtigen Warteschleifen gelöst.
Sie hat gesagt: Wird vom Unternehmen keine Leistung
erbracht, dürfen auch keine Kosten berechnet werden. Das ist ein Zitat.
Frau Kollegin Höhn, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Sofort. Ich möchte den kleinen Satz noch zu Ende
bringen, und dann werde ich eine Zwischenfrage zulassen.
Aber sicher.
Dann erhalte ich wieder ein bisschen mehr Zeit.
Das wollen wir dann sehen.
Wenn wir dieses Zitat von ihr - wird vom Unternehmen keine Leistung erbracht, dürfen auch keine Kosten
berechnet werden - jetzt auf seine Richtigkeit überprüfen, dann stellen wir fest: In der Tat werden immer noch
Kosten fällig, es gibt immer noch Schlupflöcher. Dieser
Satz ist einfach falsch.
Wenn die Ministerin am Weltverbrauchertag sagt, irreführende Aussagen in der Lebensmittelwerbung dürfe es
nicht mehr geben, dann sagen wir: Sie sollte keine irreführende Werbung in eigener Sache machen. Auch das
ist verboten und sollte nicht geschehen.
({0})
Bitte schön.
Frau Kollegin Höhn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das Problem der Abzocke bei telefonischen Warteschleifen nicht erst seit der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb, also 2009, als Sie die Umfrage durchgeführt haben, existiert, sondern schon viele
Jahre früher existierte? Deswegen möchte ich Sie fragen:
Warum widmen Sie sich diesem Thema erst seit 2009?
Warum haben Sie sich diesem Thema nicht schon zu der
Zeit gewidmet, als Sie die Regierungsverantwortung
hatten? Da gab es das Problem nämlich schon.
({0})
Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Das ist nun wirklich nicht logisch; denn wir waren hier im Bundestag immerhin die Ersten, die den Antrag dazu eingebracht haben, und wir waren immerhin diejenigen, die dann
wenigstens 2009 mit dieser Anfrage das Ganze an die
Öffentlichkeit gebracht haben. Wenn ich sehe, dass die
Franzosen heute schon in der Lage sind, kostenfreie
Warteschleifen zu garantieren, dann verstehe ich nicht,
warum die Ministerin das, was die Franzosen können,
hier in Deutschland nicht kann. Das ist das Problem.
Schnelles Handeln wäre möglich gewesen. Von 2009 bis
2011 ist eine lange Zeit. Sie von der FDP wollen immer
so schnell sein. Das war nicht schnell in Ihrer Regierungsverantwortung.
({0})
Ich komme zum nächsten Punkt: unerlaubte Telefonwerbung. Da dieses Problem schon lange bekannt ist, haben wir schon vor einiger Zeit einen entsprechenden Antrag eingebracht. Die Bundesnetzagentur hat festgestellt:
2010 gab es 30 Prozent mehr Beschwerden als 2009.
Mittlerweile haben sich 130 000 Menschen bei der Bundesnetzagentur beschwert. Das lässt uns ahnen, wie viele
Personen tatsächlich betroffen sind. Zwar wird nun eine
Lösung des Problems vorgelegt, aber auch da muss man
sagen: späte Einsicht. Auch hier hätte viel früher eine
Lösung gefunden werden können. Wir als damalige Oppositionsfraktion haben Vorlagen mit Lösungen eingebracht. Damals haben Sie gegen uns gestimmt. Jetzt stellen Sie fest: Um den Verbraucher zu schützen, muss er
eine schriftliche Bestätigung abgeben. Um das zu verstehen, haben Sie Jahre gebraucht. Auch hier ist der Verbraucherschutz bei Ihnen eine Schnecke.
({1})
Letzter Punkt: Kostenfallen im Internet. Verstehen
Sie endlich, dass Menschen, die über das Internet eine
Leistung in Anspruch nehmen, sehen müssen, wie viel
diese Leistung kostet. Mit einem entsprechenden Button
ist das ganz einfach zu erreichen. Wir sind uns eigentlich einig, dass dafür gesorgt werden muss. Deshalb
sage ich - Frau Ministerin ist nicht da -: Herr Bleser Sie sind mir der beste Verbraucherschützer, den ich mir
vorstellen kann
({2})
- genau -; denn Sie sind nun für mehr als nur für Landwirtschaft zuständig -, setzen Sie Ihr Vorhaben endlich
um und reden Sie nicht immer nur darüber! Ich finde
diese von der SPD angestoßene Debatte gut. Die Regierung muss endlich etwas tun.
({3})
Mechthild Heil ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die CDU/CSU hat den Verbraucherschutz fest
im Blick. Wir freuen uns, dass die Opposition uns mit ihren Anträgen heute bei diesem Vorhaben unterstützen
will. Vielen Dank!
In den letzten Jahren haben wir mit der Verschärfung
des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwer11720
bung erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht:
Uns ist es gelungen, dass unlautere Anrufe strenger geahndet werden. Außerdem haben wir ein deutlich höheres Bußgeld durchgesetzt. Wir haben Rufnummernunterdrückungen verboten, und wir haben das Widerrufsrecht
ausgeweitet, auch bei Gewinnspielen.
({0})
Darüber hinaus haben wir festgesetzt, dass Anbieterwechsel und Vertragsänderungen nur noch mit schriftlicher Bestätigung des Kunden erlaubt sind. Das alles
war und ist ein großer Erfolg für Verbraucherinnen und
Verbraucher. Aber unsere Ideen und unsere Durchsetzungskraft gehen noch weiter.
({1})
Das Bundeskabinett hat am 2. März den Entwurf der
Novelle zum Telekommunikationsgesetz beschlossen.
Damit setzen wir unsere verbraucherpolitischen Ziele
konsequent weiter um. Mit überteuerten und endlosen
Warteschleifen, Frau Höhn, den Kunden das Geld aus
der Tasche zu ziehen, ist mit uns nicht zu machen. Wir
sorgen dafür, dass ein Anrufer erst dann bezahlen muss,
wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der sich
seines Problems annimmt. Ja, Servicenummern dürfen
etwas kosten, aber erst ab der Sekunde, ab der dem Kunden auch wirklich geholfen wird.
Ein weiteres Ärgernis für die Verbraucher sind einige
Call-by-Call-Anbieter. Mit unübersichtlichen Tarifsprüngen werden Kunden bewusst in die Irre geführt.
Die Folge kann eine massiv überhöhte Rechnung sein.
Dieses Problem wurde auf der europäischen Ebene erkannt, und Europa hat gehandelt. Deshalb können heute
nationale Regulierungsbehörden - bei uns ist das die
Bundesnetzagentur - Transparenzvorgaben für die Telekommunikationsunternehmen machen. Dazu gehört eine
Tarifansage zu Beginn jedes Gesprächs. Wechselte bisher ein Kunde den Wohnort, musste er meist den alten
Vertrag fortführen, auch wenn am neuen Wohnort die
Leistungen gar nicht angeboten wurden. Damit soll jetzt
Schluss sein. Wir wollen ein gesetzlich verankertes Sonderkündigungsrecht bei Umzug. Wird die gleiche Leistung am neuen Wohnort angeboten, darf auch die vereinbarte Vertragslaufzeit nicht mehr geändert werden.
({2})
Es soll Schluss sein mit endlosen automatischen Vertragsverlängerungen.
({3})
Auch der Wechsel zwischen den Telefongesellschaften
muss vereinfacht werden. Wechselt man zur Konkurrenz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lang
stillgelegt werden. So lange bleibt der alte Anbieter Vertragspartner. Dann muss alles wieder funktionieren. Wir
wollen auch, dass der Mobilfunkkunde in Zukunft seine
Rufnummer zum neuen Anbieter mitnehmen kann. Das
ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Kundenservice.
({4})
Unser Ziel als CDU/CSU ist es nämlich, mehr Wettbewerb zu ermöglichen und damit für die Kunden die
Kosten zu senken. Deshalb wird jeder Telefon- und Internetanbieter verpflichtet, auch Verträge mit zwölf anstatt mit 24 Monaten Laufzeit anzubieten. Und: Handyabrechnungen müssen so transparent und verständlich
erstellt werden, dass der Kunde erkennen kann, was wie
viel gekostet hat. Er muss auch Widerspruch gegen einzelne Rechnungsposten einlegen können. Diese Vielzahl
von Verbesserungen im TKG bringt uns dem Ziel eines
„sauberen“ Telefons wesentlich näher. Damit ist der
Unionsfraktion eine weitere Stärkung der Verbraucher
gelungen.
({5})
Auch mit dem Geschwindigkeitsschwindel bei DSLAnschlüssen ist jetzt Schluss. Derzeit geben die Anbieter
die Geschwindigkeit von DSL-Anschlüssen mit „bis zu“
an. In der Realität heißt das oft: Die Höchstgeschwindigkeit wird auch unter günstigsten Bedingungen nicht erreicht. Oft entpuppt sich der Datenhighway als verkehrsberuhigte Zone. Deshalb werden wir die DSL-Anbieter
verpflichten, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten
anzugeben.
({6})
Der zweite Schwerpunkt unseres Gesetzes, das wir
vorlegen werden, ist der Breitbandausbau. Wir wollen
möglichst bis 2015 eine flächendeckende Verfügbarkeit
von Breitbandanschlüssen mit einer Bandbreite von
50 Megabit pro Sekunde erreichen.
({7})
Wir wissen, dass in ländlichen Regionen Breitbandnetze
ebenso wichtig sind wie in Ballungsräumen. Sie sind
wichtig für die Ansiedlung von Unternehmen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und auch für die Teilhabe aller
an unserer Gesellschaft. Die CDU/CSU macht keine
Qualitätsunterschiede zwischen Verbrauchern aus städtischen und Verbrauchern aus ländlichen Räumen. Große
Städte mit Internethochgeschwindigkeitsstrecken und
Dörfer auf dem Internetabstellgleis - das ist mit mir und
mit der CDU/CSU nicht zu machen.
({8})
Menschen im ländlichen Raum sind für mich keine Verbraucher zweiter Klasse.
Schnelle Internetanschlüsse sind heute mit der Versorgung von Wasser und Strom gleichzusetzen. Sie sind
Teil der Daseinsvorsorge. Es gibt einen Wunsch nach
und ein Recht auf ungehinderten Informationszugang.
Dafür kämpfe ich.
({9})
Gerade als Verbraucherschützerin liegt mir dies sehr am
Herzen. Ohne den freien Zugang zu Informationen gibt
es keine mündigen Bürger. Aus diesem Grund streben
wir eine flächendeckende Versorgung für Land und Stadt
an.
({10})
Mehr Rechte, weniger Abzocke, schnelleren Anbieterwechsel, fairen Wettbewerb und besseren Durchblick
im Telekommunikationsdschungel - dies alles wollen
Verbraucher. Wir, die CDU/CSU, schaffen die gesetzlichen Grundlagen dafür. Wenn Sie von der Opposition
uns hierbei unterstützen wollen, sind Sie herzlich eingeladen.
({11})
Ich freue mich auf eine intensive Diskussion mit Ihnen.
Vielen Dank.
({12})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon interessant, wie die Debatte hier läuft. Es
wird so getan, als ob wir Ewigkeiten brauchten, um zu
handeln.
({0})
Dabei hätten manche zwölf Jahre lang die Möglichkeit
dazu gehabt, haben aber nichts getan. Dann wird uns
vorgeworfen, dass wir bestimmte Punkte nicht ins TKG
aufgenommen hätten. Dabei weiß jeder von uns, der sich
im Verbraucherausschuss mit diesem Thema viele Stunden lang befasst hat, dass diese Punkte überhaupt nicht
ins TKG gehören, sondern ins UWG, weil die unerlaubte
Telefonwerbung im TKG gar nicht abgehandelt wird.
({1})
Daher wünsche ich mir, dass wir über diese Themen an
der richtigen Stelle diskutieren. Das können wir tun,
({2})
aber bitte werfen Sie uns nicht vor, dass wir fachfremde
Punkte einbringen.
({3})
Trotzdem enthält der Antrag von der SPD einiges
Gute. Allerdings frage ich mich, warum das so ist. Ich
frage mich, ob das Guttenberg-Syndrom so langsam bei
Ihnen angekommen ist; denn die guten Sachen entstammen dem Plagiieren.
({4})
Wir haben gesagt - das steht im Entwurf der TKGNovelle -: Ein Anbieterwechsel soll funktionieren. Wir
haben sogar die Rückfallmöglichkeit für den Fall vorgesehen, dass es nicht funktioniert.
({5})
Damit gehen wir über die Forderung hinaus, die Sie aufstellen.
Ich kann die Liste weiter durchgehen. Wir sehen die
garantierten Tarifvarianten, maximal zwölf Monate, vor;
Seite 29, § 43 b.
({6})
Aber das kennen Sie ja. Sie haben es schließlich abgeschrieben. Von daher sind Sie im Thema drin. Das gilt
auch für die Regelung im Umzugsfall.
Frau Wolff, zur Pflicht zur Tarifansage im Call-byCall-Bereich: § 66 b TKG; ich habe es gerade noch einmal nachgesehen. Das ist drin. Sie können nicht sagen,
es sei nicht drin. Es ist drin, weil wir uns um die Verbraucher kümmern und genau wissen, wo der Schuh
drückt.
({7})
Außerdem haben wir als schwarz-gelbe Regierungskoalition die Evaluation vorgezogen, um in vielen Bereichen überhaupt tätig werden zu können. Sie wissen, dass
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger handelt,
vorzieht und die notwendigen Entwürfe vorlegt. Das ist
richtige Politik. Das ist nicht nur Ankündigung. Ihre Kritik soll darüber hinwegtäuschen, dass Sie zwölf Jahre
lang nichts gemacht haben.
Denen, die lauthals rufen: „Was kann denn noch reguliert werden, wo können wir uns noch einmischen?“,
muss ich sagen: Alle, die bei mir im Büro waren, haben
mir gesagt: Das funktioniert nicht. Das könnt ihr nicht
machen. - Wir waren diejenigen, die nicht eingeknickt
sind und die ganz klar gesagt haben: Es geht um die Verbraucher. Wir werden die Verbraucherabzocke beenden. Da finde ich schon interessant, wie manche Diskussionen in diesem Hause laufen.
Wir dürfen auch eines nicht vergessen, Kolleginnen
und Kollegen. Wir haben mit Rainer Brüderle jemanden,
der das Thema der Telefonwarteschleifen aufgegriffen
und die Lösung des Problems beschleunigt hat. Also,
nehmen Sie sich daran ein Beispiel! So kann es funktionieren. So kann man das Notwendige gesetzlich umsetzen - zum Wohle der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen, dann
werden Sie feststellen: Nicht nur abschreiben macht
glücklich, sondern vielleicht auch einmal zustimmen,
wenn die Punkte, die da hingehören, tatsächlich umgesetzt werden.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4875 und 17/5376 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 4 zur
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf der
Drucksache 17/3587. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/3041 mit dem Titel „Unlautere Telefonwerbung
effektiv verhindern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Das Erste war die Mehrheit. Damit ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3060 mit dem Titel „Un-
erlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschluss-
empfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Europäischen Betriebsräte-Gesetzes - Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG über Europäische Betriebsräte
({0})
- Drucksache 17/4808 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 17/5399 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von
Europäischen Betriebsräten umsetzen
- Drucksachen 17/5184, 17/5399 Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic
Auch für diese Aussprache ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erörtern hier in zweiter und dritter Lesung
die Novellierung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes,
wobei das Gesetz nicht grundsätzlich neu gefasst werden
soll; es geht um einige Anpassungen an aktuelle Entwicklungen.
Ich möchte grundsätzlich dazu sagen, in welchem
Geist meine Fraktion diese Novelle beraten und beschließen möchte. Wir glauben daran, dass sich die Betriebspartnerschaft in Deutschland bewährt hat, dass sie
ein Modell für gelebte Demokratie in einem Betrieb ist,
dass sie ein Erfolgsmodell ist, dass sie kein Wettbewerbsnachteil ist, sondern dass sie für die Beteiligung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sorgt, dass
sie dafür sorgt, deren Engagement für den Betrieb zu
vergrößern, dass sie ein intelligentes Führungsinstrument für den Inhaber des Unternehmens ist und dass wir
insofern auch hier von einem Exportschlager Deutschlands sprechen können. Wir finden die Betriebspartnerschaft gut. Wir finden sie richtig. Wir wollen sie stärken,
und wir wollen sie an die europäischen Gegebenheiten
anpassen.
({0})
An zweiter Stelle geht es darum, europäisches Recht
- also eine Richtlinie - umzusetzen. Das machen wir so,
wie wir es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP
vereinbart haben. Wir setzen europäisches Recht eins zu
eins um. Wir denken uns nichts Zusätzliches aus und
wollen nicht europäischer sein als Europa. Herr
Juratovic, ich werde ergänzend zu Ihren Änderungsvorschlägen und dem Zusatzantrag noch etwas sagen. Wir
sind der Auffassung, dass wir nicht immer wieder in
Sonntagsreden beklagen dürfen, dass es in Deutschland
einen Regelungswust gibt, dass uns Europa sozusagen
den Krümmungsgrad der Gurke vorschlägt
({1})
und dass unsere Regelungen immer detaillierter werden.
Das kann man nur dann einhalten, wenn man das europäische Recht so umsetzt, wie es vorformuliert ist, nämlich eins zu eins, und das tun wir.
({2})
Deswegen werden die Begriffe Unterrichtung und
Anhörung erweitert und verbessert. Sie stellen eine Verpflichtung zur rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung des Europäischen Betriebsrats vor einer endgültigen Entscheidung des Unternehmens über eine geplante
Maßnahme sicher. Es entspricht dem Geist des Betriebsverfassungsrechtes, dass der Unternehmer - bevor er
eine Entscheidung trifft - den Betriebsrat hört und die
Anregungen, die Bedenken, die Sorgen, die Nöte und die
Kritik, aber auch die Verbesserungsvorschläge der Arbeitnehmerschaft, die durch den Betriebsrat artikuliert
werden, in seine Entscheidung aufnimmt und insofern
eine noch bessere Entscheidung trifft.
Wir definieren die länderübergreifenden Angelegenheiten neu. Dies ist in den allgemeinen Teil der Richtlinie übernommen worden und wird selbstverständlich
auch in unseren deutschen Gesetzestext aufgenommen.
Die Anhörung hat gezeigt, dass der Umsetzungsakt
- wir als Koalitionsfraktionen wollen den vorliegenden
Gesetzentwurf redaktionell leicht verändern - übergreifende Anerkennung gefunden hat. Es kommt nicht jeden
Tag vor, dass sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften einen Entwurf begrüßen. Ich darf den
Deutschen Gewerkschaftsbund zitieren:
Aus gewerkschaftlicher Sicht wird begrüßt, dass
der GE überwiegend Änderungen und Ergänzungen
zu Vorschriften des bislang geltenden EBRG enthält, mit denen die neue Richtlinie konform und
umfassend umgesetzt wurde.
So ein Lob hören wir gern. Da es auch von Arbeitgeberseite kommt, glaube ich, dass der Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist.
Ich will noch etwas zu zwei Kritikpunkten sagen:
Zum einen sind dies die Katalogtatbestände der sogenannten nicht wesentlichen Strukturänderung. Weshalb
bleiben wir bei diesen Katalogtatbeständen? Erstens.
Wir bleiben dabei, weil die Sozialpartner dies ausdrücklich gewünscht haben. Wir sind als Gesetzgeber gut beraten, darauf zu hören und den Sozialpartnern dann,
wenn sie sich einig sind und Rechtssicherheit haben wollen, auch Rechtssicherheit zu gewähren und diesen Katalog von wesentlichen Betriebsänderungen aufzunehmen.
Zweitens. Wenn wir das herausnähmen, dann würden
wir nicht nur mehr Rechtsunsicherheit schaffen, sondern
wir würden gerade durch den Akt des Herausnehmens
dafür sorgen, dass aus meiner Sicht wesentliche Betriebsänderungen mit einem Mal nicht mehr mitbestimmungspflichtig wären, und das würde ich nicht wollen.
Das Beispiel, das ein Sachverständiger genannt hat, ist
die Fusion zweier Tochtergesellschaften eines größeren
europäischen Konzerns. Diesen Zusammenschluss würde
er für eine nicht wesentliche Strukturänderung halten.
Ich sehe das anders. Ich bin der Meinung: Wenn zwei juristische Personen, die durch ein Unternehmen verselbstständigt wurden, fusioniert werden, dann sind das wesentliche Strukturänderungen. Das sollte dann auch
aufgenommen werden.
Ein weiterer Punkt: Die Sozialdemokraten schlagen
vor, ein Zugangsrecht aufzunehmen. Hierzu möchte ich
nur sagen, was wir auch schon im Rahmen der Ausschussberatungen gesagt haben: In der Sache sind wir
uns doch einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD-Fraktion. Wir sind nur der Auffassung, dass dies
nicht besonders gesetzlich geregelt werden soll. Es ist
für uns selbstverständlich, dass der Europäische Betriebsrat ein Zugangsrecht zum Betrieb haben soll. Was
man nicht normieren muss, sollte man auch nicht normieren. Ich möchte hier ausdrücklich für die Koalitionsfraktionen im Protokoll festhalten: Selbstverständlich
hat der Europäische Betriebsrat ein Zugangsrecht zum
Betrieb. Das darf ihm nicht streitig gemacht werden.
({3})
Herr Kollege Wadephul, darf unmittelbar vor Schluss
Ihrer Rede der Kollege Dörflinger Ihnen zu zusätzlicher
Redezeit verhelfen?
({0})
Gerne, selbstverständlich.
Herr Kollege Dr. Wadephul, können Sie das Hohe
Haus darüber aufklären, wie viele Finger Sie benötigen,
um die Präsenz der SPD-Bundestagsfraktion bei diesem
Thema darzustellen?
({0})
Das hohe Interesse der sozialdemokratischen Fraktion
findet seinen Ausdruck darin, dass besonders engagierte
und qualifizierte Mitglieder dieser Fraktion heute bei
den Beratungen anwesend sind.
({0})
In diesem Sinne will ich auch die SPD-Fraktion bitten, noch einmal darüber nachzudenken, ob es angesichts der doch in der Sache großen Einigkeit, Herr Kollege Juratovic, nicht möglich ist, zuzustimmen, statt es
bei einer Enthaltung zu belassen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nun erhält die eine Hälfte der anwesenden, besonders
qualifizierten Mitglieder der SPD-Fraktion in Gestalt des
Kollegen Juratovic das Wort. Bitte schön.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Basis unserer Wirtschaft ist, dass
Arbeitnehmer und Arbeitgeber die meisten Entscheidun11724
gen im Betrieb gemeinsam treffen. Es gibt zahlreiche
Studien, die belegen: Unternehmen mit Mitbestimmung
sind erfolgreicher als Unternehmen, in denen der Arbeitgeber allein die Richtung vorgibt; denn die Mitarbeiter
sind motivierter, wenn sie wissen, dass ihre Arbeit und
ihre Meinung Wertschätzung erfahren.
({0})
Unser deutsches Wirtschaftswunder, zuletzt in der
Wirtschaftskrise, beruht auch auf Mitbestimmung. Das
vielgelobte Kurzarbeitergeld wäre ohne diese Zusammenarbeit der Tarifpartner nicht möglich gewesen.
Neben diesen wirtschaftlichen Gründen, die für mehr
Mitbestimmung sprechen, sprechen auch gesellschaftliche Gründe dafür: In unseren Betrieben wird das hohe
Gut der Demokratie lebhaft umgesetzt. Dieses Gut müssen wir erhalten, schützen und ausbauen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass
die Mitbestimmung von den allermeisten oft lobend und
anerkennend in Reden erwähnt wird. Das ist wichtig;
denn Mitbestimmung braucht politische Unterstützung.
Auch die Kanzlerin spricht immer davon, wie wichtig
die Mitbestimmung für unsere wirtschaftliche Leistung
ist. Aber das deutsche Mitbestimmungsmodell, das so
erfolgreich ist, darf nicht an den Grenzen haltmachen.
Vielmehr brauchen wir europaweite Regeln für Mitbestimmung. Die Bundesregierung hat jetzt die Möglichkeit, sich auch auf europäischer Ebene für mehr Mitbestimmung einzusetzen, wie sie es immer in Sonntagsreden verkündet. Besonders wichtig ist das bei der Umsetzung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte und
bei den Verhandlungen zur Europäischen Privatgesellschaft.
In den Vorschlägen zur Europäischen Privatgesellschaft, die derzeit diskutiert werden, ist die Mitbestimmung nämlich völlig unzureichend geregelt. Die vorgesehene Möglichkeit, Satzungs- und Verwaltungssitz
aufzuteilen, wird dazu führen, dass Unternehmen ihren
Satzungssitz problemlos in Länder mit wenig Mitbestimmungsrechten verlegen können. Die Regeln des Satzungssitzes sollen dann auch für den Rest des Unternehmens gelten. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht
zulassen, dass das Erfolgsmodell Mitbestimmung auf
diese Weise ausgehebelt wird!
({2})
Ich fordere die Bundesregierung daher auf, in Brüssel
im Sinne der Mitbestimmung und unserer Arbeitnehmer
tätig zu werden. Kolleginnen und Kollegen von Union
und FDP, ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihren Einfluss auf die
Bundesregierung, damit über Mitbestimmung nicht nur
geredet wird, sondern den Worten auch Taten folgen, die
allen Arbeitnehmern helfen!
Die Europäische Privatgesellschaft ist nur ein Beispiel, um zu zeigen: Bei allen wirtschaftspolitischen
Überlegungen in Europa muss Mitbestimmung mitgedacht werden. Es geht nicht, dass wir in Europa nur über
Wirtschaft, Finanzkrise und Euro reden. Mitbestimmung
hängt unmittelbar mit diesen Fragen zusammen und
muss daher eine viel größere Aufmerksamkeit auf der
europäischen Ebene bekommen.
({3})
Auch bei der Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten müssen wir zeigen, dass uns europaweite
Mitbestimmung ein wichtiges Anliegen ist. Die neugefasste Richtlinie von 2009 war ein hartes Stück Arbeit.
({4})
Die deutsche Wirtschaft und besonders der Arbeitgeberverband haben bei der Neufassung der Richtlinie keine
rühmliche Rolle gespielt. Es war harte Arbeit der europäischen Gewerkschaften, unterstützt von den Betriebsräten vor Ort, und des Europäischen Arbeitgeberverbandes, bis es zu einer Einigung kam und der destruktive
Widerstand der deutschen Arbeitgeber gebrochen war.
Die Richtlinie ist letztendlich ein Kompromiss geworden. Der Europäische Gewerkschaftsbund konnte einige Verbesserungen durchsetzen, aber bei mehreren
Punkten sind wir als nationaler Gesetzgeber gefordert.
Unsere Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag zur Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht hat mir gezeigt: Wir brauchen nicht nur
juristische Theorie, wenn es um die Umsetzung der
Richtlinie geht, sondern wir brauchen zuallererst wichtige Erfahrungen aus der Praxis; denn die Politik darf
sich nicht nur an der Theorie abarbeiten, sondern muss
sich am praktischen Bedarf orientieren.
({5})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Ihr Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie mag
rein juristisch gesehen korrekt sein, aber er geht am
praktischen Bedarf der Europäischen Betriebsräte vorbei. Ein Beispiel dafür ist das Zutrittsrecht. Es muss gewährleistet sein, dass besonders ausländische Europäische Betriebsräte, die nach Deutschland kommen, um
die Mitarbeiter hier in einem Betrieb über Verhandlungen im Europäischen Betriebsrat zu unterrichten, nicht
daran gehindert werden, das Unternehmen zu betreten.
Aus rein juristischer Sicht mag man sagen, dass das
wohl kein Problem geben dürfte. Aber die praktische Erfahrung von Arbeitnehmern sagt uns, dass wir das gesetzlich regeln sollten.
({6})
Ein zweites Beispiel dafür, dass wir die Richtlinie
nicht nur streng juristisch umsetzen dürfen, sondern
auch den praktischen Blick brauchen, sind die Sanktionen. Die Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten
wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen
festlegen müssen. Der Gesetzentwurf sieht dafür, rechtJosip Juratovic
lich korrekt, 15 000 Euro vor. Aber Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, das zahlen die allermeisten Unternehmen doch aus der Portokasse. Diese Sanktionen sind wirklich nicht abschreckend.
({7})
Wir brauchen aber Sanktionen, die Wirkung zeigen.
Deswegen appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem
Antrag zu, um Ihren Gesetzentwurf besser zu machen
und den Europäischen Betriebsräten mehr Chancen zu
echter Mitbestimmung zu geben! Wie ich schon am Anfang gesagt habe: Mehr Mitbestimmung hilft allen Beteiligten: wirtschaftlich und gesellschaftlich, aber auch rein
rechtlich. Denn für alle Beteiligten ist es besser, klare
Regeln zu haben, als nur unklare Bestimmungen.
Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung der Richtlinie ist wichtig für die Arbeit der Europäischen Betriebsräte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt
die Richtlinie teils korrekt um. Jedoch fehlen einige
Dinge, die wir Sozialdemokraten in unserem Antrag fordern. Wir müssen die Richtlinie nicht nur rechtlich korrekt umsetzen, sondern wir müssen das Recht auch gestalten. Ein gutes Gesetz schaffen wir also, wenn unser
Antrag in den Gesetzentwurf eingearbeitet wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! International tätige Unternehmen treffen ihre
Entscheidungen nicht nur aus einer nationalen, sondern
auch aus einer europäischen und weltweiten Perspektive
heraus. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Mitbestimmung auf europäischer Ebene weiter gestärkt wird.
Länder mit einer starken Mitbestimmungskultur wie
Deutschland und die Niederlande zum Beispiel praktizieren die Einrichtung des Europäischen Betriebsrates
ganz selbstverständlich. Ein Unternehmen, das global
handelt und denkt und sich international weiterentwickeln möchte, wird das Potenzial dieses Gremiums zu
schätzen wissen und es zum beiderseitigen Wohle auch
nutzen wollen.
Die Internationalisierung von Firmen hat auch zu einer Weiterentwicklung der klassischen Aufgaben von
Betriebsräten geführt. Dabei sollten wir nicht nur auf
den Krisenfall schauen, wenn es zum Beispiel um Personalabbau geht. Das würde im Augenblick auch gar nicht
zur Lage passen; denn wir haben heute gerade vernommen, dass die Wirtschaftsforscher die Wachstumsprognose auf 2,8 Prozent angehoben haben. Das sind sehr
gute Nachrichten. Diese guten Nachrichten beziehen
sich hoffentlich auch auf ganz Europa. Dass sich das
Wachstum in ganz Europa ausbreitet, dazu kann auch der
Europäische Betriebsrat beitragen;
({0})
denn ihm fällt eine aktive und verantwortungsvolle Rolle
zu. Er muss sich auch mit langfristig wirkenden Modernisierungs- und Innovationsstrategien in den Unternehmen auseinandersetzen, sie einbringen und mit voranbringen.
Die neu gefasste EU-Richtlinie von 2009 stärkt das
Recht des Europäischen Betriebsrates auf Unterrichtung,
Anhörung und gestaltet Beteiligungsverfahren praxistauglicher. Es wird sichergestellt, dass der Europäische
Betriebsrat vor einer endgültigen Entscheidung der Unternehmensleitung rechtzeitig beteiligt wird. Auch
wurde klar definiert, wofür der Betriebsrat zuständig ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt die EU-Richtlinie adäquat in nationales Recht um. Das haben in der
Anhörung am Montag auch die Experten bestätigt. Sie
haben bestätigt, dass der Umsetzungsvorgang sich wirklich an die Vorgaben aus Brüssel hält. Die Zustimmung
kam auch von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie.
Nur die SPD-Fraktion will mehr Regelungen, als erforderlich sind. Sie will draufsatteln.
({1})
Wir werden in Diskussionen mit Bürgern immer wieder
mal gefragt, warum denn Deutschland bei der Umsetzung von EU-Recht immer so übereifrig sein muss.
({2})
Man sollte auf die Empfehlungen der Experten hören,
die sagen, dass die Umsetzung den Anforderungen der
Richtlinie gerecht wird, auch wenn Sie, meine sehr geehrten Kollegen von den Oppositionsfraktionen, dies offensichtlich anders sehen und wiederholt thematisieren,
dass eine Zusammenarbeit ohne das Festschreiben von
Sanktionen und Strafen im Gesetz nicht funktionieren
wird. Sie arbeiten hier leider immer nur mit Drohungen.
({3})
Erkennen Sie doch einfach einmal an, dass ein Vorschlag
zur Umsetzung gelungen ist, anstatt Forderungen zu erheben, die über das Ziel hinausschießen.
Stattdessen legen Sie einen eigenen Antrag mit dem
rabiaten Titel vor: „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“.
({4})
Sie fordern ein Mehr an finanziellen Sanktionen zur Abschreckung. Sie fordern auch, bestimmte Rechte festzuschreiben, damit Betriebsräte vor Gericht klagen können. Das geht meilenweit an der Wirklichkeit vorbei;
denn die Praxis zeigt, dass die Zusammenarbeit funktio11726
niert. Das zeigt sich auch an der Zahl von mittlerweile
960 Europäischen Betriebsräten, die arbeiten. Es zeigt
sich auch an der sehr geringen Zahl von gerichtlichen
Streitigkeiten.
({5})
Es gab gerade einmal vier einschlägige Fälle vor Gericht, und die liegen wiederum Jahre zurück. Erstmals
klagte der Europäische Betriebsrat von Renault im Jahre
1997, als das Unternehmen eine Standortschließung verkündete, ohne dass der Betriebsrat durch vorherige Unterrichtung oder Anhörung Kenntnis davon hatte. Die
weiteren drei einschlägigen Fälle gab es ebenfalls vor
französischen Gerichten.
Die Regelungen im Gesetz lassen den Unternehmen
viele Freiräume. Das ist auch wichtig und richtig. So
können beispielsweise die Partner selbst festlegen, wie
groß der Betriebsrat sein soll und wie viele Mandate jedes Land erhält. Erst wenn keine Einigung stattfindet,
greifen in einem zweiten Schritt die Regelungen des Gesetzes. Allgemein verbindliche Vorgaben gibt es also
nicht, dafür den großen Vorteil, unternehmensspezifisch
handeln zu können.
Wir müssen schließlich anerkennen, dass die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrates einen zusätzlichen Aufwand für Unternehmen bedeutet. Eingeschränkte Planungsfreiheit, ein großer zusätzlicher
Zeitaufwand und der Kostenfaktor sind hier zu nennen.
Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
({6})
Im Vorfeld gab es auch kritische Themen, wie beispielsweise das Zutrittsrecht für ausländische europäische Betriebsratsmitglieder. Die Richtlinie sieht ein solches Zutrittsrecht nicht vor. Es bedarf an dieser Stelle
auch keiner gesetzlichen Festlegung; denn dieses Recht
ergibt sich aus der Aufgabe des Betriebsrates heraus.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen kurzen
Ausflug in die Praxis machen. Ich war in der vergangenen Woche bei einem international tätigen Unternehmen
in meinem Wahlkreis. Dort ist ein Europäischer Betriebsrat selbstverständlicher Bestandteil des Unternehmens und als solcher gelebter Teil der Corporate Identity.
({7})
Insofern kann ich die Befürchtungen der Opposition,
ohne Sanktionen gehe nichts, nicht teilen. Stattdessen
rufe ich Ihnen zu: Vertrauen ist die Basis für gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Krellmann hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Alle großen deutschen Unternehmen sind
mittlerweile europaweit tätig. Von daher ist es absolut
richtig und notwendig, dass die Rechte der Arbeitnehmer in diesen Unternehmen gestärkt werden. Auf der einen Seite stehen die Profite der Unternehmen, die mittlerweile auch europaweit erwirtschaftet werden, und auf
der anderen Seite die Beschäftigten, bei denen es darum
geht, ihre Einkommens- und Arbeitssituation zu schützen. Das passiert über Europäische Betriebsräte.
Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Rechte von
Arbeitnehmern in diesen europaweit tätigen Betrieben
massiv eingeschränkt und diese dadurch geschädigt wurden. Ich will ein Beispiel nennen: Nokia. Es ist noch gar
nicht so lange her, im Jahr 2008, da wurde ein Betrieb
mit 2 300 Beschäftigten und 800 Leiharbeitnehmern
- ich sage noch einmal: 800 Leiharbeitnehmern - in Bochum geschlossen. Das geschah bei dem renommierten
Handyhersteller Nokia - jeder Zweite hat ein NokiaHandy in der Hand -, und alle haben mitbekommen, was
da passiert ist.
({0})
Der Grund: In Rumänien waren die Löhne niedriger. Der
Betriebsrat und auch der Europäische Betriebsrat hatten
zu dieser Zeit keine Informationen erhalten und waren
nicht ausreichend an dem Verfahren beteiligt worden, in
dem es um viele Arbeitsplätze ging. Ebenfalls betroffen
waren viele Personen aus dem Umfeld.
Immer wieder werden europaweit Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt, und immer geht es um Arbeitsplätze. Aktuell gibt es ein Beispiel aus Niedersachsen,
das heißt ALSTOM LHB. LHB steht für LinkeHofmann-Busch. Das ist ein altes, renommiertes Unternehmen hier in der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz
in Salzgitter.
({1})
In diesem Betrieb sollen 1 400 Stellen im Rohbau abgebaut werden. Das ist die Hälfte aller Beschäftigten. Der
Standort in Salzgitter ist massiv gefährdet. Hier stellt
sich die Frage: Wenn so viele Arbeitsplätze abgebaut
werden, kann dann der Rest des Betriebes noch bestehen
bleiben und weitergeführt werden?
Deutschlandweit sollen bei dem französischen Unternehmen ALSTOM 4 000 Beschäftigte in verschiedenen
Betrieben entlassen werden. Der Europäische Betriebsrat hat in dem Zusammenhang keine Möglichkeiten, zu
erzwingen, dass von ihm aufgezeigte Alternativen aufgegriffen und umgesetzt werden. Die Konzernleitung
verweigert bisher mit Hilfe von Ausflüchten, sich mit einer Strategie zu befassen, die den Stellenabbau in den
Betrieben verhindert. Den Arbeitnehmern fehlt es an
rechtlichen Mitteln, Informationen zu erzwingen und die
Unternehmensleitung dazu zu bringen, auf ihre guten
Angebote einzugehen. Eine Strafe in Höhe von
15 000 Euro, wie von der Regierung vorgeschlagen, ist
Pillepalle. Das zahlen die aus der Portokasse.
Wir wollen ein Gesetz, das bei drohender Standortverlagerung die Initiativrechte der Europäischen Betriebsräte zur Sicherung der Arbeitsplätze für die Beschäftigten stärkt. Wir wollen, dass nicht mehr gegen die
Menschen entschieden wird.
({2})
Wir wollen eine Mitbestimmung darüber, was, wie und
wo produziert wird, weil das im Interesse der Menschen
an den verschiedenen Standorten ist. Die Europäische
Linke will eine Mitbestimmung bei der Frage, was wo
produziert wird. Im Grunde fordern wir die Stärkung des
Europäischen Betriebsrates, und zwar nicht nur durch
die Revision einer Richtlinie. Wir wollen, dass grundsätzlich überlegt wird, was man tun kann, um die Arbeitnehmerrechte zu stärken.
Die Unternehmen sind global tätig und werden das
auch weiterhin sein. Wir müssen den Arbeitnehmern
eine gleich starke Position verschaffen, damit sie in der
Lage sind, mit den entsprechenden Unternehmensleitungen auf Augenhöhe zu verhandeln.
({3})
Wir als Linke werden dem Gesetzentwurf der Regierung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir werden dem Antrag der SPD zustimmen,
({4})
weil wir ihn richtig finden und der Meinung sind, dass
das ein Schritt in die richtige Richtung ist.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Müller-Gemmeke hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte der Europäischen Betriebsräte ist eine Erfolgsgeschichte. Heute existieren europaweit etwa 900 Europäische Betriebsräte, davon circa
160 in Deutschland. Ihr Engagement ist enorm wichtig.
2009 trat die notwendige Neufassung der EU-Richtlinie in Kraft. Auch das ist ein Erfolg. Es stimmt: Das war
harte Arbeit. Die Rechte auf Anhörung und Unterrichtung sind endlich klar definiert. Die Arbeitnehmerseite
kann zur Gründung eines Europäischen Betriebsrats
Sachverstand aus den Gewerkschaften hinzuziehen, und
die Mitglieder haben endlich Anspruch auf Schulung
und Qualifizierung. Das alles ist notwendig und eine
Korrektur, die wir begrüßen.
({0})
Jetzt muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt
werden. Die meisten Regelungen müssen eins zu eins
umgesetzt werden. Diese Forderung erfüllt der vorliegende Gesetzentwurf weitgehend. Das ist allerdings eine
Selbstverständlichkeit. Es gibt auch nationale Spielräume
und Kannbestimmungen. Durch die Nutzung dieser Möglichkeiten könnten die Arbeitnehmerrechte weiter gestärkt werden, aber das war für die Bundesregierung dann
wohl doch zu viel. In der Expertenanhörung wurde deutlich, dass manche Regelungen nicht präzise genug und einige Punkte zu ergänzen sind. Mein Fazit ist: Der Gestaltungsspielraum wurde von der Bundesregierung nicht
genutzt. Ich möchte drei Beispiele nennen:
Erstens. In der Richtlinie werden die Mitgliedstaaten
aufgefordert, wirksame, abschreckende und im Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessene
Sanktionen festzulegen. Die Bundesregierung hat hier
nichts verändert. Sie bleibt bei einer Obergrenze von
15 000 Euro Geldbuße.
({1})
Seien Sie doch ehrlich: Für multinationale Konzerne
sind das Peanuts.
({2})
- Eine Null dranhängen, genau.
Zweitens. Wenn Europäische Betriebsräte nicht unterrichtet und angehört wurden, brauchen sie, gerade weil
diese Sanktionen so schwach sind, zudem ein Unterlassungsrecht, damit die Umsetzung von Beschlüssen verhindert werden kann.
Drittens. Wie soll in der Praxis die Unterrichtung der
örtlichen Arbeitnehmervertretungen durch die Europäischen Betriebsräte aussehen? Dafür müssen sie Zutritt zu
den jeweiligen Betriebsstätten erhalten. Die Bundesregierung meint, dies sei implizit geregelt. Ich meine, das
ist zu wenig. Die Regelung des Zutrittsrechts im Gesetz
ist notwendig. Ansonsten sind Rechtsstreitigkeiten vorprogrammiert.
({3})
In dem SPD-Antrag werden diese Punkte aufgegriffen.
Deswegen werden wir diesem Antrag zustimmen.
In dem Gesetzentwurf hingegen erkenne ich weitere
Mängel. So macht die Bundesregierung beispielsweise
von einer Kannbestimmung zuungunsten der Arbeitnehmerseite Gebrauch. In Tendenzbetrieben sollen die Anhörungsrechte der Europäischen Betriebsräte einge11728
schränkt werden. Das ist nicht gerechtfertigt und auch
nicht notwendig. Auch die Inhalte von Schulungen sollten präzisiert werden, damit die Europäischen Betriebsräte ohne Probleme alle notwendigen Qualifizierungen
erhalten.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, viele Unternehmen in der Europäischen Union sind grenzüberschreitend aktiv. Sie operieren global, sind vernetzt und treffen über Staatsgrenzen
hinweg Entscheidungen. Die Arbeitnehmerseite sitzt
einfach am kürzeren Hebel. Es ist unsere Aufgabe, ihre
Mitwirkungsrechte zu stärken, und es ist unsere Aufgabe, auf nationaler Ebene das europäische Sozialmodell
weiterzuentwickeln.
Hier wäre mehr möglich gewesen, um die Sozialpartner besser auf Augenhöhe zu bringen. Deshalb werden
wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf
enthalten. Ich meine, die Europäischen Betriebsräte hätten mehr Unterstützung von der Bundesregierung verdient.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Straubinger für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europäische
Betriebsräte-Gesetzes, durch das die Richtlinie über Europäische Betriebsräte umgesetzt werden soll. Ich
glaube, dass es ein Erfolg ist - Kollege Wadephul hat bereits die Hauptschwerpunkte dargelegt - und eine Stärkung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in international tätigen Unternehmen bedeutet. Darauf sollten wir hier gemeinsam stolz sein.
Es ist entscheidend, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer gestärkt werden. Sie können bezüglich ihrer eigenen Anliegen tätig sein, werden über Betriebsentscheidungen rechtzeitig informiert, und vor allen
Dingen können sie Mitwirkungsmöglichkeiten und Anhörungsmöglichkeiten ausschöpfen. Damit verbunden
sind umfassende Beratungs- und Bildungstätigkeiten der
Betriebsräte; dies wird mit diesem Gesetz gestärkt. Es ist
notwendig, dass wir eine Übergangszeit schaffen. Zum
Teil wird ja beklagt, dass die bestehende Regelung besser sei als die neue Regelung. In der Übergangszeit kann
in eigener Zuständigkeit über alte Vereinbarungen neu
verhandelt werden.
Unter Betriebspartnerschaft in den Betrieben verstehen wir gute Betriebsratsarbeit und darüber hinaus auch
eine gute Vertretung der Rechte der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Kollege Wadephul hat bereits darauf
hingewiesen, dass dies in der Anhörung zum Ausdruck
gebracht worden ist und dass auch der DGB letztendlich
lobende Worte gefunden hat.
Heute, in dieser abschließenden Debatte, wurden von
der Opposition Erweiterungen gefordert. Es wurde gefordert, die Sanktionen zu verschärfen. Hier wird immer
in den Vordergrund gestellt, die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten würden nicht ausreichen. Dabei wird immer auf den Betrag von 15 000 Euro abgestellt. Leider
hat es die Opposition, in diesem Fall die SPD, versäumt,
einen in ihren Augen angemesseneren Betrag zu formulieren. Welcher Geldbetrag wäre angemessen?
({0})
Dies ist nämlich unterschiedlich zu bewerten. Hier haben Sie gekniffen. Auch die anderen Parteien, die diesen
Antrag unterstützen, haben nicht gesagt, wie hoch eine
angemessene Geldstrafe sein sollte. Sie alle verschweigen in der Debatte jedoch, dass es möglich ist, einen
Verstoß gegen das Gesetz als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße oder auch mit einer Haftstrafe zu sanktionieren. Das ist das schärfste Schwert bei der Sanktionsregelung. Dies ist Bestandteil des bestehenden Gesetzes.
Deshalb bedarf es in diesem Gesetzentwurf keiner Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten; das ist entscheidend.
({1})
Von der SPD-Fraktion wurde noch eine zweite Forderung aufgestellt; diese wurde in den Redebeiträgen der
Kolleginnen Krellmann und Müller-Gemmeke unterstützt. Die SPD-Fraktion fordert, dass im Gesetz ein
Anspruch auf Unterlassung beteiligungswidriger Maßnahmen festgeschrieben wird. Das würde aber die Zuständigkeiten in einem Unternehmen verwischen.
({2})
Ich frage mich, warum dies bei der Novelle 2002 von
SPD und Grünen nicht umgesetzt wurde.
({3})
Sie haben dies nicht eingebracht; seinerzeit wurde darauf
verzichtet. Also kann es nicht so falsch gewesen sein. Es
geht eben auch um die Durchsetzung von unternehmerischen Entscheidungen. Das kann nicht nach dem Motto
gehen, Frau Krellmann, das Sie vorhin in Ihrem Redebeitrag dargestellt haben. Natürlich ist eine Umstrukturierung, die mit Arbeitsplatzverlusten verbunden ist, für
die Betroffenen immer schmerzlich.
Wahrscheinlich wird es dazu nie die Zustimmung des
örtlichen Betriebsrates geben, ja nicht geben können.
Aber es wäre fahrlässig, wenn, weil nicht umstrukturiert
wird, der gesamte Betrieb von der Bildfläche verschwinden würde. Wollen Sie wirklich, dass alle ArbeitnehmeMax Straubinger
rinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb die Leidtragenden sind? Wäre es dann nicht besser, eine
Umstrukturierung, wenn sie notwendig ist, zur Rettung
der noch verbleibenden Arbeitsplätze durchzuführen?
Dies muss möglich sein, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich möchte darauf hinweisen: Die Umstrukturierungen, die in den vergangenen drei, vier Jahren in der deutschen Wirtschaft stattgefunden haben, haben in der Gesamtbilanz letztendlich zu mehr und nicht zu weniger
Arbeitsplätzen in Deutschland geführt. Darauf sind wir
stolz.
({5})
Eines ist mir noch wichtig - darüber wurde immer
wieder diskutiert -: Das Zutrittsrecht ergibt sich aus der
normalen Betriebsratstätigkeit. Dieses Thema wurde
auch auf europäischer Ebene andiskutiert, dann aber von
beiden Sozialpartnern im Einvernehmen nicht mehr aufgegriffen. Auch dies gehört mit zur Wahrheit.
({6})
Deshalb glaube ich, dass die Umsetzung gelungen ist.
Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause nur die Zustimmung empfehlen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes. Von der
Kollegin Müller-Gemmeke liegt mir eine Erklärung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen
sie entsprechend unseren Regeln zu Protokoll.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5399, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/4808 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der übrigen
1) Anlage 3
Fraktionen des Hauses in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5399, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5184
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Wilhelm
Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für faire Lebensmittelpreise und transparente
Produktionsbedingungen - Gegen den Missbrauch von Marktmacht
- Drucksache 17/4874 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der
Tribüne! „Ombudsmann wird Lieblingskind“, so lautete
vor drei Wochen eine Überschrift in der Lebensmittel
Zeitung. Dies habe ich sehr erfreut gelesen und zur
Kenntnis genommen. Denn darin waren wir uns alle
nach der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Juli des letzten Jahres einig.
({0})
Doch mittlerweile ist das neun Monate her - ich betone:
neun Monate -, und bisher ist nichts passiert. Aber von
sich aus - das wissen wir allmählich - wird der Handel
nicht bereit sein, etwas zu ändern.
Gestern erreichte mich beispielsweise eine Stellungnahme des Einzelhandels. Zu unserer Forderung, die
Praktikabilität des Verbots des Verkaufs unter Einstandspreis zu prüfen, heißt es dort: Das Verbot des Verkaufs
unter Einstandspreis ist wettbewerbsökonomisch verfehlt und muss ersatzlos abgeschafft werden. - Wenig
Bereitschaft also dort, wo es darum geht, die eigenen
Pfründe zu verteidigen.
Doch es muss endlich etwas getan werden. Deshalb
haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir haben Ihnen,
werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, die Arbeit abgenommen. Sie brauchen unseren Vorschlägen nur zuzustimmen.
({1})
In einer Pressemitteilung vom 14. Februar dieses Jahres meldet das Bundeskartellamt eine Konzentration von
85 Prozent des Absatzmarktes auf die vier größten Handelsunternehmen - 85 Prozent bei vier Handelsunternehmen! Das Bundeskartellamt hat inzwischen eine Sektoruntersuchung im Bereich des Lebensmittelhandels
eingeleitet. Das begrüßen wir sehr; denn das ist notwendig, und das war auch eine unserer Forderungen.
Die Situation am Lebensmittelmarkt ist extrem angespannt. Die Konzentration bringt auch den Lebensmitteleinzelhandel in eine gefährliche Machtposition gegenüber den Lieferbetrieben. Der Handel kann nämlich
Bedingungen diktieren, zu denen die Produkte abgenommen werden. Unfaire Einkaufspraktiken wie Preisdrückerei bis unter Einstand, die Zahlung von Treueboni oder
willkürliche Auslistungen scheinen dabei keine Einzelfälle zu sein.
({2})
Das geht zulasten des fairen Wettbewerbs, aber auch
zulasten der Beschäftigten. Denn mit Verweis auf den
Preisdruck vergeht in der Ernährungswirtschaft kaum
eine Verhandlung ohne Forderung der Unternehmensvertreter nach niedrigeren Löhnen und geringeren Sozialleistungen. Darauf wird Frau Hiller-Ohm nachher
noch eingehen.
Am Ende der Kette stehen die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Auch sie leiden unter dem Konzentrationsprozess und dem Marktmachtmissbrauch. Für sie wird er
in Angebotseinschränkungen und Qualitätseinbußen
spürbar. Denn immer häufiger werden billigere Ersatzstoffe in der Lebensmittelproduktion eingesetzt. Ich
nenne da nur Klebeschinken, Analogkäse ohne Milch
und Joghurt mit Aroma aus Holzspänen. Frischmilch ist
beispielsweise zur Rarität geworden - sicher nicht, weil
die Verbraucherinnen und Verbraucher keine Frischmilch wollen. Sie ist nicht mehr im Angebot, weil die
sogenannte ESL-Milch logistische und finanzielle Vorteile gegenüber der schnell verderblichen Frischmilch
bietet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass unser Antrag an den Verbraucherausschuss als federführenden Ausschuss überwiesen wird. Die von Ihnen bei diesem Thema beabsichtigte Verlagerung der Federführung
in den Wirtschaftsausschuss können wir nicht nachvollziehen. Sie betonen doch auch immer die starke Stellung
des mündigen Verbrauchers und seine Mitverantwortung
bei der Gestaltung des Marktes.
Der Handlungsbedarf geht weit über Ombudsstelle
und Kartellrecht hinaus. Wir brauchen einen ganzen
Maßnahmenkatalog, um den Fehlentwicklungen am Lebensmittelmarkt entgegenzuwirken. Deshalb sollten wir
die Kette vom Ende her denken und Verbraucherpolitik
endlich ernst nehmen. Wir bleiben dabei: Die Federführung gehört in den Verbraucherausschuss.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Dr. Nüßlein hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! „Für
faire Lebensmittelpreise und transparente Produktionsbedingungen - Gegen Missbrauch von Marktmacht“ lautet der geradezu Beifall und Zustimmung heischende Titel Ihres Antrages. Ich gebe ganz offen zu, dass ich für
das, was Sie in Teilen formuliert haben, insbesondere
wenn es um die Problembeschreibung geht, ein hohes
Maß an Sympathie habe. Ich habe mich zunächst einmal
über diesen Antrag gefreut, weil die Probleme, die Sie
gerade eben auch beschrieben haben, im Lebensmittelhandel evident sind. Es gibt in der Tat eine Marktmacht
des Handels, und wenn es eine solche Marktmacht gibt,
ist Missbrauch nicht von der Hand zu weisen. Es stimmt
auch, dass davon auf der einen Seite die Lieferanten und
auf der anderen Seite die noch verbliebenen mittelständischen Händler sowie natürlich auch deren Mitarbeiter
betroffen sind, die dadurch unter einen gewissen Druck
kommen.
Ich fand es nur ein bisschen schade, dass Sie in Ihrem
Antrag in Richtung Ideologie abschweifen,
({0})
von sozialen und ökologischen Verbesserungen weltweit
schwärmen
({1})
und den Mindestlohn mit einbauen. Das, was Sie an dieser Stelle fabriziert haben, gehört wahrscheinlich auch
unter die Kategorie Analogkäse. Mit Verlaub: Es wäre
schön gewesen, wenn Sie sich an dieser Stelle auf das eiDr. Georg Nüßlein
gentliche Thema konzentriert hätten; denn das ist durchaus wichtig. Weil Sie das nicht getan haben, finde ich es
durchaus richtig, dass die Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie liegen wird.
({2})
Wir werden uns auf das Wesentliche konzentrieren.
„Konzentration“ ist dabei das Stichwort. Diese Konzentration hat über viele Jahre hinweg zugenommen. Sehr
geehrte Frau Vorrednerin, Sie haben es deutlich beschrieben: Die vier größten Händler erwirtschaften inzwischen 85 Prozent des Branchenumsatzes. Ich weiß,
dass man an dieser Stelle differenzieren muss, weil
REWE eine Mittelstandskooperation ist, aber natürlich
handelt es sich auch um eine Einkaufskooperation, sodass auch hier natürlich Marktmacht auf den Beschaffungsmärkten ausgeübt werden kann. Das ist etwas, was
wir nicht wegschieben dürfen.
Es gibt eine Studie des Instituts für Handelsforschung
und der BBE Retail Experts im Auftrag des Handelsverbands Deutschland vom September 2009. Darin steht
folgendes Ergebnis: Es gibt keine generelle Nachfragemacht des Handels. Ich betone das Wort „generelle“.
Keine generelle Nachfragemacht heißt: Es gibt in bestimmten Konstellationen eben sehr wohl eine solche
Marktmacht. Diese wird teilweise auch missbraucht.
Seit zwei Jahren gibt es ein Kartellverfahren gegen
Edeka, das Plus von Tengelmann übernommen hat. Hier
wird dem Verdacht nachgegangen, dass es den Versuch
gab, über Boni von Lieferanten der Plus-Märkte den
Kaufpreis zu refinanzieren.
({3})
Das muss man sich einmal vorstellen: Es wird der Versuch unternommen, das zu refinanzieren, was man gekauft hat, indem man die Lieferanten des aufgekauften,
des akquirierten Unternehmens unter Druck setzt, Boni
zu gewähren. Wenn sich das erhärtet - ich spreche ausdrücklich von einem Verdacht -, dann ist das natürlich
schon etwas, das uns alle miteinander bedenklich
stimmt. Das zeigt, dass es hier offenkundig ein ganz
deutliches Mittelstandsproblem gibt.
Das Gegenargument ist, der Handel würde nur Spielräume ausloten, und das sei ja eben gerade das Kennzeichen von Handel. Ich meine aber, hier stellt sich die
Frage des Kräftegleichgewichts. Das ist schwer herzustellen, eventuell auf der einen Seite durch Kooperationen und auf der anderen Seite dadurch, dass diejenigen,
die als Markenartikler die Finanzkraft haben, einen entsprechenden Pull-Effekt erzeugen können, sodass der
Händler das Unternehmen letztendlich auch listen muss.
Ich gebe zu: Wir in der Politik haben lange zugeschaut. Das ist der Schwierigkeit dieses Themas, aber
auch dem intelligenten Einsatz von Marktmacht an der
Stelle geschuldet, weil man sich eben nicht auf die Absatzmärkte bezieht, sondern weil der Druck auf der Beschaffungsseite aufgebaut wird, das heißt, die Verbraucherpreise sind natürlich niedrig. Das kann man ganz
deutlich sehen. Wenn man die Lebensmittelpreise in unserem Land mit denen in Europa vergleicht, dann wird
man feststellen, dass sie relativ niedrig geblieben sind,
was auch die Monopolkommission in ihrem 47. Sondergutachten zu Preiskontrollen in Energiewirtschaft und
Handel ganz deutlich bestätigt.
Das ist einem intensiven Wettbewerb geschuldet, der
sich aber nur im Handel vollzieht und davon lebt, dass
auf die Lieferanten entsprechender Druck ausgeübt wird.
Davon sind nicht nur mittelständische Lieferanten, sondern ist auch unsere Landwirtschaft betroffen. Das
möchte ich betonen.
({4})
- Nur die Ruhe: Das kommt alles noch.
Sie haben am Rande das Qualitätsbewusstsein der
Verbraucher angesprochen und darauf hingewiesen, was
ihnen alles vorgesetzt werde. Dazu sage ich offen: Dabei
kommt es aber auch auf die Verbraucher selber an, die
gerade im Lebensmittelbereich offenkundig gern vor allem billig einkaufen wollen,
({5})
nach dem Motto „Geiz ist geil“. Das halte ich geradezu
für katastrophal. Diese Preissensibilität können wir als
Gesetzgeber aber sicherlich genauso wenig ändern wie
das Bewusstsein derjenigen, die sich in dieser Frage
falsch verhalten.
({6})
Sie haben die Instrumente angesprochen. Wie Sie
wissen, haben wir präventiv die Fusionskontrolle und repressiv die Missbrauchsaufsicht. Jetzt müssen wir die
Frage erörtern, ob der Gesetzgeber etwas tun kann, damit die Vielfalt des Einzelhandels wieder entsteht und
die Forderung Ludwig Erhards nach Wohlstand und
Teilhabe für alle auch in diesem Bereich wieder eine
Rolle spielt. Das ist nicht trivial und auch nicht einfach
zu beantworten.
Wir müssen bei der Achten Novelle dieses Gesetzes
aus meiner Sicht bei der Fusionskontrolle zu einem
Wechsel von der Voraussetzung der Marktbeherrschung
hin zu der einer erheblichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs als Fusionshindernis kommen. Das ist aus meiner Sicht ein Kriterium, das an der Stelle etwas weiterhelfen könnte.
Was die Missbrauchsaufsicht angeht, schneiden Sie in
Ihrem Antrag die Nachweisproblematik an, die auf die
Frage hinausläuft: Wer traut sich, seinen erpresserischen
Abnehmer anzugehen und eine Auslistung zu riskieren?
Das ist insbesondere deshalb schwerwiegend, weil unabhängig davon, ob man bei einer Beschwerde obsiegt, die
Abhängigkeit fortbesteht.
Sie schlagen die Einrichtung einer Ombudsstelle vor,
die Beschwerden auch anonym aufnehmen sollte. Das ist
ein interessanter Gedanke. Ich befürchte aber, dass er
nur bis zu einem bestimmten Punkt trägt. Denn an ir11732
gendeiner Stelle in einem Verfahren müssen Ross und
Reiter genannt und gesagt werden, wem was widerfahren ist.
({7})
Deshalb wird das Problem dadurch nicht gelöst, wenn
ich auch zugebe, dass ich an der Stelle etwas ratlos bin,
wie man das letztlich hinbekommt.
({8})
Der bürokratische Wust, den Sie vorschlagen - noch
mehr Informationspflichten, Herkunftsbezeichnungen
und anderes -, ist mittelstandsfeindlich. Sie werden genau denen, für die Sie sich angeblich einsetzen, damit
nicht helfen. Auch das muss in aller Klarheit gesagt werden.
({9})
Es bringt auch nichts, dass Sie den Antrag mit Selbstverständlichkeiten erweitern, indem Sie schreiben, der
Bund müsse soziale und ökologische Ausschreibungskriterien anwenden. Das haben wir bei der letzten Novelle diskutiert und gemeinsam entschieden, dass die
eigentlich vergaberechtsfremden Aspekte mit aufgenommen werden, um den Ausschreibungsspielraum zu
erweitern.
Was mir mehr am Herzen liegt, ist die Frage, wie wir
mit § 20 Abs. 3 und 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen umgehen. Es gibt nämlich für bestimmte Instrumente Befristungen, die in naher Zukunft
auslaufen. Ich meine, wir sollten im Interesse des Ganzen diese Befristungen aufheben und die Instrumente
weiter einsetzen. Insbesondere mit dem Verkauf unter
Einstandspreis müssen wir uns noch einmal intensiv beschäftigen. § 20 Abs. 4 des Gesetzes, der diesen regelt,
ist in einem Punkt befristet. Aber das Bundeskartellamt
ist, als es gegen Rossmann ging, böse auf dem Bauch gelandet. Wir werden daher im Rahmen der Novellierung
des Gesetzes noch einmal darüber diskutieren müssen,
wie man dieses Schwert schärfen kann. Dazu finde ich in
Ihrem Antrag leider nichts. Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn Sie hierzu einen Hinweis gegeben hätten.
Stattdessen fordern Sie eine ganze Reihe von Studien
ein. Ich glaube, die zentrale Studie ist - diese wird in Ihrem Antrag nicht genannt, aber Sie haben sie vorhin angesprochen - diejenige, die das Bundeskartellamt gerade
vorbereitet, nämlich eine Befragung der Unternehmen
im Rahmen der Sektoruntersuchung. Das Ziel ist, die
Abläufe auf dem Markt nachzuvollziehen und Missstände zu ermitteln. Das Bundeskartellamt rechnet - ambitioniert - mit einem Abschluss dieser Studie im Laufe
dieses Jahres. Wir sollten diese Studie abwarten und
dann als Gesetzgeber, basierend auf den Ergebnissen
dieser Studie, entscheiden und dafür Sorge tragen, dass
das von Ihnen zu Recht angesprochene Problem zügig
einer Lösung zugeführt wird.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Binder für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft wird immer älter; die Menschen werden immer älter. Das ist sicherlich ein erfreulicher Umstand. Aber gleichzeitig
beobachten wir, wie ganze Regionen, insbesondere ländliche Gegenden und Dörfer, fast aussterben. Das hängt
unter anderem damit zusammen, dass nicht einmal mehr
ein Laden da ist. Es gibt in vielen Orten keinen Bäcker,
keinen Metzger und keinen Lebensmittelhändler. Warum
nicht? Weil sechs Supermarktketten in Deutschland
- damit komme ich auf das eigentliche Thema zu sprechen, das in engem Zusammenhang mit dem Antrag der
SPD zu sehen ist - den Markt beherrschen. Dadurch
hatte der kleine Händler schlichtweg keine Überlebenschance mehr. Es gibt den Tante-Emma-Laden nicht
mehr, weil die großen Sechs mit ihren Dumpingpraktiken dafür sorgen, dass andere Läden nicht mehr überleben können. Das Dumping bezieht sich unter anderem
auf die Preisgestaltung. Die Dumpingpreise liegen teilweise unter den Erzeugerpreisen. Das kann nicht funktionieren. Viele Lebensmittel sind nicht mehr preiswert,
sondern billig. Das bedeutet letztendlich, dass zwangsläufig auch die Produktion billig wird. Kein Erzeuger
und keine Lebensmittelindustrie ist auf Dauer in der
Lage, zu den Dumpingpreisen, die die Supermarktketten
von ihnen erwarten, zu liefern. Das muss aufhören.
({0})
Wir wollen qualitativ hochwertige Produkte; diese haben ihren Preis. Letztendlich müssen die Menschen auch
von ihrer Arbeit leben können, die Erzeuger genauso wie
die Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie oder der
Landwirtschaft.
({1})
Sie müssen Löhne bekommen, die deutlich höher sind
als das, was heutzutage in vielen Bereichen gezahlt wird.
Die SPD plädiert in ihrem Antrag für einen Mindestlohn
in Höhe von 8,50 Euro. Das ist auf jeden Fall ein Schritt
in die richtige Richtung. Wir fordern 10 Euro. Ich begründe auch, warum. Bei einem Stundenlohn in Höhe
von 8,50 Euro kommt man auch bei 38 oder 40 Stunden
in der Woche höchstens auf 1 400 Euro im Monat. Wer
in der Stadt lebt, kann damit gerade die Miete und die
Nebenkosten begleichen. Aber dann bleibt zum Leben
nicht mehr viel übrig. Daher ist es dringend notwendig,
auch in der Lebensmittelwirtschaft und der Landwirtschaft für Mindestlöhne einzutreten.
({2})
Aber das ist nicht alles. Zu den Forderungen nach
mehr Transparenz, die es den Verbraucherinnen und Verbrauchern möglich machen sollen, ihren Einkauf nach
sozialen und ökologischen Kriterien selbstbestimmt vorKarin Binder
zunehmen, gehört, dass der Verbraucher weiß, woher ein
Produkt kommt. Es ist wichtig, dass er weiß, dass die
Rosen, die bei uns so billig für den Muttertag oder auch
für den Valentinstag verkauft werden, in Kenia von Arbeiterinnen für den Versand verpackt werden, die für
56 Euro im Monat arbeiten. Diese Frauen arbeiten von
morgens 7 Uhr bis abends 18 Uhr, und in den Hauptzeiten arbeiten sie möglicherweise bis zu 18 Stunden am
Tag. Jedem hier im Raum ist klar, dass auch in Kenia
niemand von 56 Euro im Monat existieren kann. Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass diese Blumen
so billig wie möglich sein müssen, damit die Supermärkte ihre Lockangebote finanziert bekommen.
Es gibt darüber hinaus viele Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit schlechten Arbeitsbedingungen in den Erzeugerländern. Deshalb tragen die Unternehmen hier in Deutschland die Verantwortung nicht
nur für das, was sie hier anstellen - ich erinnere nur daran, wie Lidl und Schlecker mit ihren eigenen Beschäftigten umgehen
Kommen Sie bitte zum Schluss.
- ja, letzter Satz -, sondern es geht auch um die Verantwortung dieser Unternehmen für die gesamte Lieferkette. Hier müssen wir sie in die Pflicht nehmen. Deshalb bin ich der SPD für diesen Antrag dankbar, und ich
hoffe, dass die Beratung im Ausschuss mehr Zeit findet
als hier in der 30-minütigen Plenardebatte.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Schweickert
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Binder, Sie haben gerade das Thema „Der
Tante-Emma-Laden stirbt aus“ angesprochen. Dazu
muss man aber fairerweise sagen: Wenn die Verbraucher
immer zu den Märkten auf der grünen Wiese fahren und
nur dann, wenn sie den Zucker vergessen haben, dort
mal kurz einkaufen gehen, dann können sich die kleinen
Einzelhandelsgeschäfte natürlich auch nicht halten. Man
darf das Verbraucherverhalten in dem Bereich also nicht
außen vor lassen.
({0})
Ich komme zum Antrag. Was sind denn faire Lebensmittelpreise? Ein fairer Preis entsteht eigentlich durch
funktionierenden Wettbewerb zwischen Angebot und
Nachfrage, so weit die Theorie. Diese Theorie ist auch
ganz wichtig; denn funktionierender Wettbewerb steigert
Qualität, Effizienz und beschleunigt Innovationen. Da,
wo Auswahl ist, ist der Verbraucher König, und in dem
Moment, in dem der Verbraucher König ist, ist der Handel gezwungen, sich an diesen Bedürfnissen der Verbraucher auszurichten. Dann hat der Verbraucher Marktmacht, und ich muss sagen: Das ist eine Marktmacht, die
mir persönlich gefällt.
Wenn dieser Wettbewerb aber lahmt, dann dreht sich
die Marktmacht um, der Verbraucher bleibt auf der Strecke. Aber nicht nur die Verbraucher - das ist ja angesprochen worden -, sondern auch die Ernährungsindustrie, die Landwirte und die Arbeitnehmer bleiben auf der
Strecke. Angesichts dessen bringt uns das derzeit niedrige Preisniveau, das wir im europäischen Vergleich haben, erst mal nichts. Denn wenn das eine Folge von oligopolen Händlerstrukturen mit Niedrigpreisstrategien
ist, dann wird sich das irgendwann mal drehen, dann
wird die Vielfalt zurückgehen, die Qualität sinken, und
die Verbraucherpreise werden anziehen.
Deshalb ist es für uns wichtig, sich dieses Thema genau anzuschauen; denn wir wollen keine Strukturen haben, in denen Oligopole oder gar Monopole vorhanden
sind. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage: Ist
dies im Lebensmitteleinzelhandel der Fall?
Wir haben zu diesem Thema am 5. Juli des letzten
Jahres eine Anhörung durchgeführt. Da wurden zwei
Zahlen genannt: Fünf haben 75 Prozent, sechs haben
85 Prozent Marktmacht in diesem Bereich; die dominieren. Dann hat ein Hersteller praktisch keine Ausweichmöglichkeit, wenn er eines von diesen großen Einzelhandelsunternehmen verliert.
Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen einmal so wie ich
über mehrere Jahre hinweg Jahresgespräche mit dem
Handel geführt haben. Ich weiß, wie sich da ein kleines
Herstellerunternehmen fühlt. Wenn man dort hineingeht,
ist das - das kann ich Ihnen sagen - nicht immer ganz
angenehm. Denn wenn eine Auslistung im Raum steht,
dann ist man vielleicht zu Zusagen bereit, die man unter
normalen Margengesichtspunkten nicht eingehen würde.
Aber ich sage Ihnen auch ganz offen: Wenn ich mit
meinen Kollegen aus größeren Firmen, von Markenfirmen geredet habe, dann war es gerade umgekehrt. Es
gibt auch eine Marktmacht von Herstellern. Ich nenne
mal Coca-Cola.
({1})
- Frau Drobinski-Weiß, es kann sich heute ein Händler
fast nicht mehr leisten, manche dieser Produkte nicht
mehr zu haben. Das muss man einfach sehen,
({2})
und deswegen ist es richtig, dass wir in diesem Bereich
eine Sektoruntersuchung durchführen und nicht alles
über einen Kamm scheren, meine Damen und Herren.
({3})
Nicht jede Auslistung ist nur mit Marktmacht zu begründen. Es gibt auch Sortiments- und Preisstrategien. Ich
glaube, der richtige Weg ist, dieses Thema detailliert, gut
und ordentlich anzuschauen. Ich halte es für richtig, dass
wir diesen Weg gehen.
Ich halte es übrigens auch für richtig, einen Ombudsmann für den Lebensmitteleinzelhandel einzurichten.
({4})
Im Gegensatz zum Kollegen Nüßlein bin ich diesbezüglich gar nicht so negativ eingestellt. Natürlich ist es
wichtig, erst einmal Anonymität herzustellen. Oftmals
haben Händler nicht nur ein Produkt im Angebot, sondern mehrere. Häufig sind es die gleichen Konsorten, die
Druck ausüben. Davon betroffen sind nicht nur die jeweiligen Hersteller, sondern auch andere.
Der große Vorteil eines Ombudsmannes ist es, dass er
Beschwerdefällen anonymisiert nachgehen kann. Fühlt
sich ein Hersteller in Preisverhandlungen ungerechtfertigt benachteiligt, hat dieser eine Anlaufstelle, ohne Gefahr zu laufen, dass seine Produkte als Sanktion des
Handels ausgelistet werden. Allein die Institutionalisierung eines Ombudsmannes ist der richtige Weg. Damit
greifen wir übrigens nicht in die Vertragsfreiheit ein, was
manche fordern. Vielmehr wird somit ein Weg eröffnet,
um aus diesem Dilemma herauszukommen.
({5})
Neben der Frage der Marktmacht behandeln Sie in Ihrem Antrag noch andere Fragen. Dieser Antrag ist geradezu ein Sammelsurium von Einzelthemen, die meines
Erachtens gar nichts mit der entscheidenden Frage, nämlich der Marktmacht und ihrer Begrenzung, zu tun haben, etwa Verbraucherinformationsgesetz, flächendeckender Mindestlohn. Anscheinend darf es jetzt keinen
SPD-Antrag mehr geben, in dem der flächendeckende
Mindestlohn nicht gefordert wird. Erklären Sie mir bitte
einmal, inwiefern der flächendeckende Mindestlohn für
Friseure - ich weiß, gleich ruft Herr Kelber dazwischen etwas mit Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel zu
tun hat.
({6})
Ich muss mich schon wundern, dass Sie in Ihrem Antrag schreiben:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf … zu prüfen, wie das Verbot des Verkaufs
von Lebensmitteln unter Einstandspreis neu und
praktikabel geregelt werden kann …
Das ist eigentlich eine Art verspäteter Offenbarungseid;
denn bis 2012 gilt das Gesetz zur Bekämpfung von
Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und
des Lebensmittelhandels. Es stammt aus dem Jahr 2007.
Wer hat 2007 regiert? Ich kann daher nur staunen, dass
die SPD jetzt sagt, es müsse zu einer praktikablen Regelung kommen.
({7})
Hier entlarvt sich wieder einiges. Es wurde einfach nicht
effizient genug an das Thema „Faire Lebensmittelpreise
und transparente Produktionsbedingungen“ herangegangen. Dieser Antrag ist Ausdruck einer Placebogesetzgebung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Dieser
Antrag ist nichts als ein Sammelsurium von Einzelthemen.
Was werden wir tun? Wir warten die kartellrechtliche
Prüfung ab. Wir werden evidenzbasiert handeln, also auf
der Grundlage der Zahlen und Fakten, die dann vorliegen. Wir machen keine Placebogesetze, sondern Gesetze, die dem Verbraucher etwas bringen.
({8})
Der Kollege Kelber hat zu einer Kurzintervention das
Wort.
({0})
Diese Kurzintervention findet nur deswegen statt,
weil der Kollege Professor Schweickert mich persönlich
angesprochen hat, noch bevor ich irgendetwas dazwischengerufen hatte. Ich möchte deutlich machen, worum
es mir ging.
Ist Ihnen bekannt, dass sich der Arbeitsminister aus
Schleswig-Holstein, Heiner Garg, FDP, heute für bundesweit einheitliche Mindestlöhne ausgesprochen hat?
Ich darf zitieren:
Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit heranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im
Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe …
Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Menschen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und
sich und ihre Familien davon nicht ernähren können.
({0})
Nachdem wir heute im Bundestag dreimal von der FDP
eine Ablehnung der Mindestlöhne gehört haben, muss
ich feststellen: Auf dem Land sind sie schon ein bisschen
schlauer.
({1})
Herr Schweickert, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Herr Kollege Kelber, Sie haben recht: Ich hatte Sie
angesprochen. Immer wenn ich rede, erwarte ich fast,
dass Sie darauf mit einer Kurzintervention reagieren. Irgendwie hatte ich Sie schon vermisst.
Herr Kelber, was das Thema Mindestlöhne angeht:
Ich bin ganz sicher jemand, dem es fernliegt, zu sagen,
er stehe links. Ich bin der Meinung, dass jemand, der orDr. Erik Schweickert
dentlich arbeitet, sprich: eine 40-Stunden-Woche hat,
sich einmal im Jahr einen Urlaub leisten und ein ordentliches Auto fahren können muss. Mit anderen Worten: Er
muss von seinem Gehalt ordentlich leben können. Da
bin ich bei Ihnen.
({0})
Das ist eines unserer Ziele.
Ich stelle mir allerdings die Frage: Sind Mindestlöhne
der richtige Weg, dieses Ziel zu erreichen? Ist es nicht
vielmehr so, dass den Menschen durch Mindestlöhne etwas weggenommen wird, etwa weil Arbeitsplätze ins
Ausland verlagert werden? Kommt man durch Mindestlöhne diesem Ziel also womöglich nicht näher?
Lassen Sie uns darüber streiten, wie der Weg dahin
aussehen soll, dass die Menschen ein Mindesteinkommen haben. Es ist eine etwas zu verengte Sichtweise, zu
glauben, dass die Mindestlöhne der richtige Weg dahin
sind.
({1})
Lassen Sie uns gemeinsam darüber streiten, wie die
Ziele, die ich Ihnen genannt habe, erreicht werden können. Man sollte aber nicht einfach nur plakativ einen flächendeckenden Mindestlohn fordern. Es ist genau wie
bei der Sektorenuntersuchung: Man muss sich die Sektoren einzeln anschauen, um zu erkennen, was man im jeweiligen Bereich zu tun hat.
({2})
Der Kollege Ostendorff hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wer sich heute in der Gesellschaft umschaut, bemerkt einen klaren Bewusstseinswandel: Die Menschen
leben bewusster, planen bewusster und konsumieren
auch bewusster als vor 10 oder 20 Jahren. Das sagen Ihnen alle Studien.
Im heutigen Charta-Prozess bei Ministerin Aigner
sagte sogar der Chef des Vion-Fleischkonzerns, dass für
77 Prozent der Verbraucher artgerechte Tierhaltung
wichtig sei. „Geiz ist geil“ und „Hauptsache billig“ haben zunehmend ausgedient.
({0})
Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass die Preisschilder in den Supermärkten oft nicht die soziale und
ökologische Wahrheit abbilden. Viele Billigprodukte
wären viel teurer, wenn die gesellschaftlichen Folgekosten der agrarindustriellen Produktion mit eingerechnet
werden würden. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen
Preisen und Werten. Darin sind wir uns mit der SPD einig. Wir sind uns sicherlich auch darin einig, dass die
Regierungskoalition diesen Bewusstseinswandel in der
Bevölkerung nicht aufnimmt und ihren agrarindustriellen und exportorientierten Kurs weiter fortsetzt.
({1})
Leider gerät der Antrag insgesamt zu allgemein, um
zielgenau konkrete Verbesserungen zu erreichen. In den
Details werden wichtige aktuelle Entwicklungen nicht
ausreichend berücksichtigt. Natürlich stimmen wir zu,
wenn Sie die Verbraucherinteressen in der Anwendung
des § 54 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
berücksichtigt sehen wollen. Auch die Abschaffung der
EU-Agrarexportsubventionen bleibt richtig.
({2})
Insgesamt aber bleibt doch der Eindruck, dass Sie viele
Politikbereiche nur streifen, ohne ein schlüssiges und
zielgerichtetes Maßnahmenpaket zu entwickeln. Bei einigen Ihrer konkreten Vorschläge teilen wir zwar die
Analyse, doch die Forderungen sind nicht zielführend.
So schlagen Sie eine Ombudsstelle vor, um dem Missbrauch von Marktmacht zu begegnen. Das ist aus unserer Sicht ein viel zu bürokratischer Weg. Warum stärken
Sie nicht stattdessen die Verbraucherzentralen in ihrer
Marktwächterfunktion?
Ihre Maßnahmen in Bezug auf transparente und nachhaltige Produktionsbedingungen sehen wir grundsätzlich
als positiv an, auch wenn wir zum Beispiel beim Verbraucherinformationsgesetz weiter gehende Vorstellungen zum Informationsanspruch von Bürgerinnen und
Bürgern gegenüber Unternehmen haben.
Dem Antrag fehlt insgesamt der rote Faden, der klare
Kompass. Er entwickelt keine Leitidee zur ökologischen
und sozialen Fairness in den Lebensmittelmärkten. Uns
als Agrarpolitiker treibt die Frage um, wie wir den Erzeugern von Lebensmitteln, zum Beispiel den Milchbauern, einen Rahmen für faire Produktionsbedingungen
schaffen können. Der Trend bei der Milch geht zurzeit in
Richtung Monopol, vor allem in Norddeutschland. Hier
müssen wir etwas tun und den Markt wiederherstellen.
Die Regierung verzichtet leider vollständig auf jegliche
Ordnungspolitik.
Wir müssen den Rahmen dafür setzen, dass Bäuerinnen und Bauern angemessene Preise für ihre Produkte
erhalten, ohne dass wir sie weiter in die industrielle Produktion treiben, eine Produktionsweise, die weder umwelt- noch tierschutzgerecht ist, viele bäuerliche Existenzen zerstört und in der Gesellschaft auf keine
Akzeptanz mehr stößt.
Der vorliegende Antrag reißt viele richtige und wichtige Fragen an, bleibt aber in seinen Maßnahmen zu
allgemein und stößt an einigen Stellen in die falsche
Richtung vor. Lassen Sie uns in der weiteren parlamentarischen Beratung gemeinsam an der Stoßrichtung
arbeiten! Denn eines ist klar: Die Regierung wird erfahrungsgemäß nichts unternehmen, um den Lebensmittelmarkt fair und transparent zu gestalten.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat die Letzte auf
unserer Rednerliste, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm,
für die Sozialdemokraten das Wort. - Bitte schön, Frau
Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Ostendorff, schade, dass Sie den roten Faden nicht erkennen können.
({0})
Ich glaube, das liegt daran, dass Sie ein Grüner und eben
kein Roter - so wie wir - sind.
({1})
Es ist schon erschreckend, dass sich gerade einmal
vier Handelsriesen praktisch den gesamten Lebensmittelmarkt aufteilen.
({2})
Sie alleine bestimmen, wohin die Reise geht.
({3})
In der Anhörung im letzten Juli ist sehr klar geworden,
was diese gigantische Monopolisierung im Einzelhandel
bedeutet: Qualitätsverfall und miese Löhne.
({4})
Die Leidtragenden sind die Angestellten in den Supermärkten und Discountern.
Der Einzelhandel ist die größte Niedriglohnbranche
in Deutschland. 12 Prozent der Beschäftigten erhielten
2008 weniger als 5 Euro brutto. Besonders Frauen - sie
stellen 70 Prozent der Beschäftigten - sind Opfer der
miesen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie
arbeiten zu einem großen Teil in ungesicherten Minijobs. Altersarmut ist vorprogrammiert. Das, meine Damen und Herren, werden wir nicht hinnehmen.
({5})
Wir fordern deshalb einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Der würde schon
enorm helfen.
Der gewaltige Preisdruck, den die Supermarktgiganten
ausüben, verläuft entlang der gesamten Lieferkette der
Konzerne. Die unabhängige Hilfsorganisation Oxfam
weist seit Jahren auf schockierende Arbeitsbedingungen
in Asien und Mittelamerika hin. Es ist beschämend,
wenn beim Handelsriesen Metro Lieferanten in Indien
den Landarbeiterinnen gerade einmal 85 Cent bezahlen,
und zwar nicht pro Stunde, sondern für zehn bis zwölf
Stunden harter Arbeit pro Tag. Damit, liebe Kolleginnen
und Kollegen, muss Schluss sein.
({6})
Leider bleibt die Bundesregierung hier untätig. Wie
die Antwort auf unsere Kleine Anfrage gezeigt hat, sieht
sie keinen Handlungsbedarf. Dabei waren sich fast alle
Sachverständigen in der Anhörung einig: Wir brauchen
Regeln, um den Missbrauch von Marktmacht wirksam
einzudämmen. Die SPD legt deshalb - übrigens als einzige Fraktion - einen umfassenden Maßnahmenkatalog
vor.
Meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß ist schon auf
eine zentrale Forderung eingegangen: die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle. Diese Stelle soll auch
Ermittlungen einleiten, wenn bei Einkaufspraktiken eines Unternehmens negative Auswirkungen auf die Beschäftigten entlang der Lieferkette zu befürchten sind.
({7})
Unternehmen wären dann auskunftspflichtig und die Ergebnisse der Untersuchungen öffentlich einsehbar.
({8})
Das führt zur zweiten zentralen Forderung: Insbesondere große Unternehmen müssen verpflichtet werden,
Berichte über die Wahrung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte in der gesamten Wertschöpfungskette vorzulegen. Denn klar ist: Die bestehenden Selbstverpflichtungen von Unternehmen zur Einhaltung von fairen
Arbeitsbedingungen reichen nicht aus.
({9})
Natürlich sind Initiativen von Unternehmen wünschenswert, die sich freiwillig über das normale Maß hinaus für
ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren. Deshalb hatte Olaf Scholz als SPD-Arbeitsminister in der
Großen Koalition die nationale CSR-Strategie auf den
Weg gebracht. Wir müssen aber den Druck erhöhen, dass
alle Unternehmen faire Arbeitsbedingungen einhalten.
Wir müssen dafür sorgen, dass nur solche Unternehmen
öffentliche Aufträge erhalten, die soziale und ökologische Mindeststandards im eigenen Betrieb und in der
Zulieferkette einhalten.
Stärken wir auch diejenigen, auf die es im Markt
letztendlich ankommt, die Verbraucherinnen und Verbraucher! Wir fordern im Verbraucherinformationsgesetz einen Informationsanspruch zu der Frage, ob sich
Unternehmen fair verhalten, auch entlang der Zulieferkette. Dann können Kunden beim Einkauf schwarzen
Schafen die Rote Karte zeigen.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm.
Jetzt schließe ich die Aussprache.
Vizepräsident Eduard Oswald
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der Sozialdemokraten wünscht die Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie,
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
13 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung
- Drucksachen 17/5334, 17/5388 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck ({0}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der
Zivilprozessordnung
- Drucksache 17/5363 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Erster Redner unserer Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler. Ich gebe ihm das
Wort. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Stadler.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ist seit
längerer Zeit Gegenstand einer heftigen rechtspolitischen Debatte. Nach dieser Regelung, die im Jahr 2002
eingeführt worden ist, muss das Berufungsgericht in
aussichtslosen Fällen die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch einen unanfechtbaren Beschluss zurückweisen. Damit war seinerzeit eine Verfahrensbeschleunigung beabsichtigt. Dieses Ziel ist durchaus erreicht
worden. Die Regelung wird aber dennoch von vielen
Bürgerinnen und Bürgern als unangemessene Beschränkung ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten empfunden.
({0})
Deshalb haben die Innen- und Rechtspolitiker der
CDU/CSU und der FDP schon bei den Koalitionsverhandlungen eine Änderung dieser Vorschrift verabredet.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir tätig
werden sollten. Die Statistik belegt, dass die Berufungsgerichte die Vorschrift im bundesweiten Vergleich sehr
unterschiedlich anwenden.
({1})
Beispielsweise werden beim Oberlandesgericht Bremen
in 5,2 Prozent aller Fälle Berufungen durch Beschluss
zurückgewiesen. Beim Oberlandesgericht Rostock erfolgt dies in 27 Prozent aller Fälle. Auch diese unterschiedliche Handhabung in der Praxis ist ein Anlass für
ein Eingreifen des Gesetzgebers.
({2})
Die Bundesregierung schlägt daher im vorliegenden
Entwurf vor, bei Zurückweisungsbeschlüssen die gleiche
Anfechtbarkeit wie bei den streitigen Berufungsurteilen
einzuführen. Künftig soll der Bundesgerichtshof auf die
Nichtzulassungsbeschwerde einen Zurückweisungsbeschluss ab einer Beschwer von 20 000 Euro in gleicher
Weise überprüfen wie jetzt schon ein Berufungsurteil.
Wenn die Zulassungsgründe vorliegen, wird der Beschluss im Revisionsverfahren auf Rechtsfehler kontrolliert. Damit wird es für den Zugang zum Bundesgerichtshof unerheblich, ob das Berufungsgericht durch
Beschluss oder durch Urteil entschieden hat.
Meine Damen und Herren, das ist eine Verbesserung
des Rechtsschutzes, und das ist keine rein technische
Angelegenheit; denn von vielen Betroffenen haben uns
Beschwerden erreicht, dass das jetzt geltende System
auch bei bedeutenden Rechtssachen nicht den vollen
Rechtsschutz bereitstellt, weil die beschlussmäßige Verwerfung derzeit unanfechtbar ist.
Wir haben auch bedacht, ob die Berufungsgerichte
durch den Begründungsmehraufwand für die künftig anfechtbaren Zurückweisungsbeschlüsse im Übermaß belastet werden. Dies glauben wir nicht; denn die eigentliche Begründungsarbeit wird bereits bei dem Beschluss
geleistet, der dem Zurückweisungsbeschluss vorangeht
und die Parteien auf den voraussichtlichen Ausgang des
Rechtsstreits hinweist.
({3})
In besonderen Fällen, zum Beispiel, wenn die Sache
für den Berufungsführer existenzielle Bedeutung hat,
muss künftig wieder mündlich verhandelt werden. Das
war nämlich das zweite große Beschwernis aus der Praxis: Die Betroffenen hatten den Eindruck, sie würden
mit ihrem Anliegen nicht hinreichend gehört. Bürgerinnen und Bürger haben nämlich oft den Eindruck, eine
bloß schriftliche Vortragsweise habe nicht denselben
Wert wie die mündliche Verhandlung.
Mit der Neuregelung besteht nunmehr eine Möglichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes wieder rechtliches
Gehör zu gewähren. Eine mündliche Erörterung bietet
im Übrigen auch die Chance für die vergleichsweise Lösung eines Rechtsstreits, aber auch für Berufungsrücknahmen, wenn im Rechtsgespräch dem Berufungsführer
die mangelnde Erfolgsaussicht seines Rechtsmittels dargelegt worden ist.
Wir meinen daher, dass der Entwurf, den wir Ihnen
vorlegen, einen ausgewogenen Kompromiss darstellt.
Wir schaffen die Vorschrift nicht gänzlich ab, weil sie
durchaus eine gewisse Beschleunigungswirkung hatte
und auch künftig haben soll, sondern greifen einen Lösungsansatz auf, den die FDP-Fraktion bereits in der
letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hat. Wir glauben, dass damit die aufgetretenen Probleme aus der Praxis und das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, stärkeren Rechtsschutz zu erhalten, in einer sinnvollen
Weise einer Lösung zugeführt werden. Ich würde mich
sehr freuen, wenn wir für unseren Entwurf eine breite
parlamentarische Unterstützung erhalten würden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Jetzt als Nächste
auf unserer Liste aus der Fraktion der Sozialdemokraten
Frau Kollegin Sonja Steffen. - Bitte, Frau Kollegin
Steffen, Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Irrend lernt man“, hat Johann
Wolfgang von Goethe einmal gesagt. Diese Weisheit
sollte sich in der geplanten Änderung der Vorschrift des
§ 522 Abs. 2 ZPO wiederfinden.
Wir erinnern uns - der Staatssekretär Stadler hat ja
schon darauf hingewiesen -: Im Jahre 2001 beschloss
der Deutsche Bundestag eine praktisch sehr weitreichende Änderung des § 522 ZPO. Die Berufungsgerichte wurden berechtigt und verpflichtet, eine Berufung
zurückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass
die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundlegende Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert.
({0})
- Ich weiß. Ich komme auch noch darauf zu sprechen.
Der entscheidende Punkt der Vorschrift ist folgender:
Der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 ZPO ergeht
ohne mündliche Verhandlung, und er ist unanfechtbar.
Den Rechtsuchenden ist also bislang der Weg zum Bundesgerichtshof gegen den Zurückweisungsbeschluss versperrt.
Das Fehlen eines Rechtsmittels gegen diesen Beschluss ist umso gravierender, als die Zurückweisungspraxis der Gerichte erheblich variiert. Einige Zahlen hat
der Staatssekretär schon genannt. Ich will sie noch ein
bisschen vervollständigen, und ich muss gestehen:
Mecklenburg-Vorpommern ist hier wirklich ganz weit
hinten, warum auch immer. Bei den Landgerichten beträgt die Zurückweisungsquote zum Beispiel beim Landgericht Karlsruhe 6,4 Prozent und beim Landgericht Rostock 23,8 Prozent. Bei den Oberlandesgerichten sind die
regionalen Unterschiede ähnlich stark ausgeprägt: Sachsen 10,5 Prozent, Hamburg 24,4 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern 27,1 Prozent.
Unverändert steht die Bestimmung des § 522 ZPO
seitdem im Brennpunkt der rechtspolitischen Diskussion
und vor allem in der Kritik. Insbesondere die Anwaltschaft hat sich in der Vergangenheit für die Abschaffung
der Vorschrift sehr stark gemacht. Der Präsident des
Deutschen Anwaltvereins, Wolfgang Ewer, hat dies erst
kürzlich auf dem diesjährigen Neujahrsempfang des
DAV erneut deutlich gemacht, indem er den vorliegenden Änderungsentwurf der Bundesregierung lediglich
als ersten Schritt bezeichnet hat. Eigentlich, so sagte er,
gehöre die Vorschrift abgeschafft.
({1})
Betroffene Kläger, denen eine mündliche Verhandlung
und der Gang zur Revisionsinstanz versperrt bleiben,
fordern das ebenfalls. Dies wird beispielsweise auch an
den vielen Petitionen deutlich, die dem Bundestag zum
Thema § 522 vorliegen.
Es wird mit dem neuen Formulierungsvorschlag der
Bundesregierung nicht gelingen, die unterschiedliche
Zurückweisungspraxis einzudämmen. Allein die Änderung des Wortlauts der Vorschrift von bisher „weist die
Berufung … zurück“ zu „hat … zurückzuweisen“ wird
an der Praxis voraussichtlich nichts ändern.
Die mit dem Änderungsvorschlag der Bundesregierung nun vorgesehene Nichtzulassungsbeschwerde bedeutet in der Praxis eine für alle Beteiligten vermeidbare
Zusatzbelastung. Wenn der BGH zukünftig die Berufung
nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde an das
Berufungsgericht zurückverweist, bedeutet dies für den
Rechtsuchenden einen zusätzlichen zeit- und gebührenintensiven Umweg zum Erreichen des Ziels einer mündlichen Verhandlung. Herr Staatssekretär Stadler, das ist
keine Verbesserung des Rechtsschutzes. Ich meine auch,
dass die Vorschrift insgesamt keine besondere Beschleunigungswirkung - zumindest unter diesem Aspekt - hat.
Darüber hinaus ist ein weiterer entscheidender Punkt
zu nennen. Die meisten Kläger werden die Hürde der
Streitwertgrenze bei der geplanten Nichtzulassungsbeschwerde ohnehin nicht überwinden. Sie ist nur bei einer
Beschwer von mehr als 20 000 Euro eröffnet. Dies haben Sie vorhin nicht dargestellt. Nach den Statistiken des
BMJ weisen jedoch 80 bis 90 Prozent aller anhängigen
Gerichtsverfahren Streitwerte von unter 6 000 Euro auf.
Der Gang zum BGH wird also nach der geplanten Gesetzesänderung ohnehin nur für 10 bis 20 Prozent der Fälle
möglich sein. Die bestehenden Gerechtigkeitslücken
werden dadurch nicht geschlossen.
Nun fordert der Bundesrat in seiner aktuellen Stellungnahme sogar, von der Einführung eines Rechtsmittels gegen den Zurückweisungsbeschluss ganz abzusehen. In der Begründung heißt es, gewichtige Gründe für
eine Änderung seien nicht zu erkennen. Ignoriert werden
dabei die Gerechtigkeitsdefizite, die durch die Vorschrift
entstanden sind. Ignoriert wird auch die Rechtszersplitterung durch die unterschiedliche Anwendungspraxis
der Gerichte.
Statt der Einführung eines Rechtsmittels schlägt der
Bundesrat übrigens die Einführung einer Ausnahmevorschrift vor, nach der die mündliche Verhandlung aus Angemessenheitsgesichtspunkten doch noch angeordnet
werden kann. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn das
Berufungsgericht durch einstimmigen Beschluss zu
dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen des
§ 522 Abs. 2 ZPO vorliegen, dann wird es sich doch
nicht im nächsten Schritt wieder umentscheiden und
eine mündliche Verhandlung nun doch für angemessen
und notwendig erachten.
Der Vorschlag des Bundesrates ist daher abzulehnen,
weil er den Anlass für das Änderungsbedürfnis nicht
zielführend berücksichtigt. Er geht an der Beseitigung
der Gerechtigkeitslücken vorbei.
Daher fordern wir in unserem Antrag die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO, weil er sich in der Praxis
nicht bewährt hat.
({2})
Den Parteien steht ein fairer Instanzenzug zu. Die Grünen fordern dies in ihrem Antrag ebenfalls. Ich hoffe,
dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens auch
die Regierungskoalition von der Streichung der Vorschrift überzeugen können.
Nun möchte ich zum Abschluss noch auf eine weitere
geplante Regelung zu sprechen kommen. Das ist die
beabsichtigte Streichung des § 7 der Insolvenzordnung.
Damit wären Rechtsbeschwerden gegen Entscheidungen
des Insolvenzgerichts künftig nur noch statthaft, wenn
das Beschwerdegericht sie zulässt. Diese Abschaffung
halten wir für ausgesprochen problematisch. Weder die
Anzahl der Verfahren noch die den Verfahren zugrunde
liegenden Konflikte rechtfertigen diesen Schritt. Insolvenzverfahren sind für die Betroffenen fast immer von
wesentlicher persönlicher und wirtschaftlicher Bedeutung.
Nach der geplanten Neuregelung werden zukünftig
durch eine Vielzahl von Landgerichten rechtskräftige
Entscheidungen getroffen, wodurch eine Zersplitterung
der Rechtsprechung droht. Die Einführung dieser Vorschrift hatte seinerzeit den Sinn, mit der Umsetzung der
damals neu erlassenen Insolvenzordnung eine höchstrichterliche Klärung durch den Gang zum BGH zu ermöglichen. Jedoch steht nun eine weitere Reform der Insolvenzordnung vor der Tür. Es wird daher auch zukünftig wieder Streitfragen geben, die höchstrichterlich geklärt werden müssen. Die generelle Rechtsschutzmöglichkeit durch die uneingeschränkte Rechtsbeschwerdemöglichkeit zum BGH muss daher erhalten bleiben.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({3})
Wir danken Ihnen, Frau Kollegin Steffen. - Als
Nächster hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Jan-Marco Luczak das Wort. Bitte schön, Herr
Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren im Bundestag ja schon seit
geraumer Zeit über die Regelung des § 522 Abs. 2 der
Zivilprozessordnung. In der letzten Legislaturperiode
- Herr Staatssekretär hat das schon angeführt - hat die
FDP dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Anfang des
Jahres haben wir über einen Antrag der SPD dazu debattiert. Anfang der Woche haben nun auch die Grünen einen Vorstoß hierzu gemacht. Lassen Sie mich deswegen
mit einem ganz klaren Bekenntnis anfangen: Auch ich
halte den aktuellen Rechtszustand, den uns § 522 Abs. 2
bietet, für wirklich unbefriedigend.
({0})
Besonders die tragischen Einzelschicksale, wie etwa
das der kleinen Deike - ich denke, wir kennen das alle -,
führen uns allen vor Augen, dass die Zurückweisung einer Berufung im Beschlussverfahren tatsächlich zu Ergebnissen führen kann, die in der Sache falsch sind und
die niemand von uns will. Deswegen ist es auch absolut
richtig, dass die christlich-liberale Koalition hier etwas
ändert.
({1})
Derzeit, meine Damen und Herren, sieht § 522 Abs. 2
vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen - sie sind
hier schon genannt worden; das brauche ich nicht zu
wiederholen - eine Berufung im Beschlusswege zurückgewiesen werden kann. Das führt dazu, dass eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet. Vor allen Dingen ist
der Zurückweisungsbeschluss für den Kläger nicht anfechtbar.
Obwohl § 522 Abs. 2 die kumulativen Voraussetzungen abschließend und ohne die Eröffnung eines gerichtlichen Ermessens darstellt, bestehen in der Praxis erhebliche regionale Unterschiede in seiner Anwendung.
Auch hierzu haben wir die Zahlen schon gehört. Ich
brauche sie nicht mehr im Einzelnen anzuführen. Es gibt
in den einzelnen Gerichtsbezirken eine Spreizung von
bis zu 20 Prozent. Nun kann man vielleicht trefflich über
die Evaluierung der einzelnen Quoten streiten. Aber unter dem Strich bleibt es dabei, dass die Handhabung regional sehr unterschiedlich ist. Das führt dazu, dass - je
nachdem, wo ein Kläger gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung einlegt - ein Rechtsschutzsuchender ganz
unterschiedliche Chancen hat. Einmal kann er mündlich
über das erstinstanzliche Urteil verhandeln und ein gegen ihn ergehendes Berufungsurteil anfechten. Das andere Mal gibt es keine mündliche Verhandlung, und er
hat keine ordentlichen Rechtsmittel mehr.
Wir haben hier also eine Ungleichheit in der Rechtsanwendung. Das ist in der Tat ein Problem. Ich glaube
zwar, dass das kein verfassungsrechtliches Problem ist,
wie es hier zum Teil behauptet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ja mit der Frage des § 522 Abs. 2
diverse Male beschäftigt und immer wieder bestätigt,
dass das Beschlussverfahren als solches nicht zu beanstanden ist. Was aber in jedem Fall bleibt, ist ein Gerechtigkeitsproblem. Da sage ich: Wenn es auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwendig ist, dass wir hier
etwas machen, so ist es doch ein rechtsstaatlich gebotener Auftrag an uns, hier etwas zu tun, hier zu handeln.
({2})
Es stellt sich nun die Frage: Wie handeln wir? Wie beseitigen wir diesen unbefriedigenden Rechtszustand?
Die SPD und seit wenigen Tagen ja nun auch die Grünen
schlagen vor, das Beschlussverfahren ersatzlos abzuschaffen. Das ist doch - das muss man auch einmal festhalten - einigermaßen erstaunlich. Meine Damen und
Herren, hier lohnt sich einmal ein Blick in die Vergangenheit. SPD und Grüne schlagen uns heute die Streichung einer Regelung vor, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001 geschaffen wurde.
({3})
Sie schlagen also die Streichung einer Regelung vor,
die unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung,
also in ihrer eigenen Verantwortung, ins Werk gesetzt
wurde.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist noch keine zwei
Jahre her, da hat die SPD-Justizministerin Zypries hier
im Plenum vehement diese rot-grüne Reform, die Regelung der Zurückweisung durch Beschluss, als - wörtlich ordentliche Reform, die voll akzeptiert werde, verteidigt.
Jetzt sagen Sie einfach: Abschaffen!
Die Kollegin Steffen - wir haben es gerade gehört;
wir hatten die Diskussion Anfang des Jahres auch schon
einmal - stellt auf einmal verwundert fest, dass die rotgrüne Vorschrift des § 522 Abs. 2 besonders anfällig für
Verletzungen des verfassungsrechtlichen Anspruchs der
Parteien auf rechtliches Gehör sei und dass sich der
Rechtsuchende der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Richter ausgeliefert sehe. Meine Damen und Herren, ich sehe nicht, welche bahnbrechenden
Rechtserkenntnisse Sie auf einmal in den letzten Jahren
gewonnen haben, die nicht schon bei der Debatte im
Jahre 2009 vorlagen und die Sie jetzt zu einer 180-GradWendung veranlassen. Das hat mit glaubwürdiger und
konsistenter Politik nichts mehr zu tun.
({5})
Der Vollständigkeit halber will ich hier nur noch einmal erwähnen, dass die Union 2001 gegen die Neuregelung des § 522 war und das seinerzeit auch entsprechend
kritisiert hat. Wir wollten durch die ZPO-Reform nämlich mehr Bürgernähe und nicht weniger Rechtsschutz
erreichen. Das war damals richtig, und das ist auch heute
noch richtig.
({6})
Nun gut, jetzt sind wir zehn Jahre weiter. Das bedeutet, wir müssen uns einmal anschauen: Was in der Zwischenzeit passiert ist? Wie hat sich die Einführung des
Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 entwickelt? Wie
hat sie sich ausgewirkt? Was hat sich bewährt, und was
konnte in der Praxis nicht überzeugen?
Zu den Defiziten dieser Regelung habe ich bereits selber einiges gesagt, und wir haben es auch schon an anderer Stelle gehört. Wahr ist: Wo Schatten ist, muss auch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer
seriösen Diskussion, zu fragen, welche positiven Aspekte das Beschlussverfahren bewirkt hat und welche
Folgen dessen ersatzlose Streichung nach sich zöge. Es
gibt durchaus einige Punkte, die man berücksichtigen
muss.
Die Reform der ZPO im Jahre 2001 war notwendig;
darüber besteht im Hause wohl Einigkeit. Menge und
Länge der Verfahren sollten auf ein gesundes Maß zurückgeführt werden, um jedem Bürger den ihm zustehenden Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es
so, dass auch solche Berufungen terminiert werden
mussten, die offensichtlich unbegründet waren und die
keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Das ist aber nicht
effizient und bindet richterliche Arbeitskraft, die dann an
anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur das konkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle anderen, für die dann keine oder jedenfalls
weniger Zeit zur Verfügung steht. Guter, effizienter
Rechtsschutz setzt aber auch voraus, dass er in angemessener Zeit gewährleistet wird.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Ministerin Zypries hat im Jahr 2009 hier im Deutschen Bundestag ausgeführt, dass es vor der Möglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss kein gutes, weil nur
langsames Recht gab. Im Kern ist das durchaus richtig.
Die Daten zeigen uns, dass das Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrensbeschleunigung geführt hat.
Deswegen wollen wir - im Interesse aller Rechtsuchenden - diese positiven Effekte nicht wieder völlig aufgeben.
Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen, dass
es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichtigen
gilt: das Interesse des weiterhin Rechtsschutzsuchenden,
also des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des
Berufungsbeklagten. Dieser hat in der ersten Instanz obsiegt und daher verständlicherweise ein Interesse daran,
dass das erstrittene Urteil möglichst schnell durchgesetzt
werden kann. Dafür benötigt er aber die Rechtskraft des
Urteils, die unmittelbar durch den Zurückweisungsbeschluss herbeigeführt wird.
Ich glaube, es ist richtig, den Zurückweisungsbeschluss, also die schnelle Rechtskraft, für die Fälle zu erhalten, in denen die Berufung tatsächlich ohne Aussicht
auf Erfolg ist.
({7})
Denn sonst stünde zu befürchten, dass vermehrt Berufung wieder nur deswegen eingelegt würde, um das Verfahren zu verzögern und die Vollstreckung eines zu
Recht titulierten Anspruchs zu vereiteln. Dazu wollen
wir aber keine Anreize setzen. Wir wollen, dass die in
erster Instanz erfolgreiche Partei möglichst schnell Klarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens und damit
Rechtssicherheit hat. Die christlich-liberale Koalition
verfolgt deshalb einen anderen Weg als SPD und Grüne,
einen Weg, der die Schwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt, gleichzeitig aber die Vorteile der ZPOReform bewahrt. Unsere Lösung schafft einen Ausgleich
zwischen den Interessen von Kläger und Beklagtem und
nimmt zudem auch Rücksicht auf die Belastung der Gerichte.
Mit unserem Gesetzentwurf stellen wir zunächst klarer
den zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO heraus;
denn wenn seine Voraussetzungen vorliegen, muss das
Berufungsgericht einen Zurückweisungsbeschluss erlassen. Unterschiede bei der Anwendung, die daraus resultieren, dass ein Gericht vermeintliches Ermessen ausübt,
werden so in der Praxis gemindert. Zugleich ermöglichen
wir die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in
den Fällen, wo dies angemessen ist. Nach meiner Überzeugung ist eine mündliche Verhandlung immer dann angemessen, wenn deren rechtsstaatliche Funktion, nämlich
die Befriedung der Parteien, die Schaffung von Akzeptanz für gerichtliche Entscheidungen oder die Gewährung
rechtlichen Gehörs, dies erfordert. Das ist unter anderem
dann der Fall, wenn es um existenzielle Fragen geht, in
Arzthaftungssachen zum Beispiel. Ich hatte den Fall
„Deike“ vorhin schon erwähnt. Dieser wird zukünftig
mündlich zu verhandeln sein. Aber auch wenn ein erstinstanzliches Urteil zwar in der Sache, also im Ergebnis,
richtig sein mag, aber die Begründung nicht hinreichend
oder vielleicht sogar falsch ist, wird in diesen Fällen
mündlich zu verhandeln sein. Ich habe großes Vertrauen
in unsere Richterschaft - Vertrauen, dass sie um diesen
rechtsstaatlichen Wert, den eine mündliche Verhandlung
darstellt, weiß und entsprechend großzügig mit der Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO umgehen wird.
Schließlich lassen wir für Zurückweisungsbeschlüsse
mit einer Beschwer über 20 000 Euro die Nichtzulassungsbeschwerde zu. Damit stellen wir sicher, dass bei
höheren Streitwerten die Spruchpraxis der Berufungsgerichte einer höchstrichterlichen Kontrolle unterliegt.
Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen jetzt die
prozessualen Details. Im Kern aber kann der BGH zukünftig über die Nichtzulassungsbeschwerde überprüfen,
ob das Berufungsgericht § 522 Abs. 2 ZPO und auch die
darin festgelegten Voraussetzungen für den Erlass eines
Zurückweisungsbeschlusses richtig angewendet hat.
Wenn das Berufungsgericht verkannt hat, dass eine Sache
grundsätzliche Bedeutung hat oder dass eine Entscheidung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, dann wird
das Revisionsverfahren eingeleitet. Hier kann der BGH
dann vollumfänglich die Verletzung formellen und sachlichen Rechts prüfen.
Damit gewährleisten wir eine bundesweit einheitliche
Handhabung der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 der
Zivilprozessordnung und stellen so die rechtsstaatlich
gebotene Rechtsanwendungsgleichheit sicher.
({8})
Die Einführung eines Rechtsmittels ist aber noch aus
einem zweiten Grund richtig und wichtig. Vereinzelt
mussten wir in der Vergangenheit feststellen, dass
Spruchkörper in einer fehlsamen, manchmal an der
Grenze zum Missbrauch liegenden Weise § 522 Abs. 2
ZPO angewendet haben. Die Folge war, dass mitunter
Anhörungsrügen oder gar Verfassungsbeschwerden erhoben werden mussten, damit Kläger zu ihrem Recht kamen. Diese Gerichte müssen jetzt sorgsamer sein. Sie
wissen jetzt, dass zukünftig über ihnen mehr ist als nur
der blaue Himmel.
({9})
Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass die Berufungsgerichte und der Bundesgerichtshof gewissen
Mehrbelastungen ausgesetzt werden. Die Berufungsgerichte werden dadurch mehr belastet, dass Zurückweisungsbeschlüsse zukünftig nur dann zulässig sind, wenn
eine mündliche Verhandlung nicht angemessen ist. Man
muss aber sehen, dass bereits nach geltendem Recht der
Aufwand für einen ordentlich begründeten Hinweisbeschluss und die Berücksichtigung der darauf eingehenden Stellungnahme des Berufungsführers nicht eben gering ist. Ich glaube aber, dass diese Mehrbelastung
wegen der herausgehobenen Bedeutung des individuellen Rechtsschutzes in unserer Verfassung vertretbar ist.
In welchem Umfang der Bundesgerichtshof letztlich
zusätzlich belastet wird, lässt sich zahlenmäßig noch
nicht definitiv absehen. Ich jedenfalls glaube, dass auch
die Mehrbelastung des Bundesgerichtshofs einen vertretbaren Umfang nicht überschreiten wird; denn über eine
Nichtzulassungsbeschwerde kann man ohne mündliche
Verhandlung entscheiden, und diese braucht regelmäßig
auch nicht begründet zu werden.
Dennoch sehen wir, dass es eine Mehrbelastung geben
wird. Deswegen werden wir den BGH an anderer Stelle
entlasten. Wir haben vorgesehen, dass § 7 der Insolvenzordnung, der die Erhebung einer zulassungsfreien Rechtsbeschwerde zum BGH vorsieht, abgeschafft wird. Der
Hintergrund ist, dass wir glauben, dass die Insolvenzordnung nach zehn Jahren durch die höchstrichterliche
Rechtsprechung hinreichend konturiert ist, dass es auf
dem Gebiet Klarheit gibt und es kein praktisches Bedürfnis für diese zulassungsfreie Rechtsbeschwerde mehr
gibt. Ob und in welchem Umfang der BGH darüber hinaus entlastet werden muss, werden wir in Zukunft genau
beobachten. Wenn es notwendig sein sollte, könnten wir
über weitere Kompensationsmaßnahmen miteinander reden.
Ich komme zum Schluss. Es bleibt festzuhalten: Der
Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition behält
die positiven Effekte der ZPO-Reform bei. Wir beseitigen aber die Schwachstellen der rot-grünen Reform. Wir
verbinden die Ziele individueller Rechtsschutz, Entlastung der Gerichte und eine schnellere Rechtskraft in einem wirklich ausgewogenen Kompromiss. Dafür bitte
ich Sie herzlich um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Als nächster Redner spricht von der Fraktion Die
Linke unser Kollege Raju Sharma. - Bitte schön, Herr
Kollege Sharma.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist schon mehrfach gesagt worden, dass dies ein
wirklich spannendes rechtspolitisches Thema ist. Es geht
um § 522 ZPO, der es erlaubt, dass eine Berufung ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen werden kann, und dieser Beschluss ist dann noch
nicht einmal anfechtbar. Fertig! Wieder wurde ein
Rechtsstreit einfach und ohne großen Aufwand für immer erledigt. Kurzer Prozess!
Alle Fraktionen sehen hier Handlungsbedarf; denn
diese Vorgehensweise widerspricht dem Interesse der
Bürgerinnen und Bürger an einem effektiven Rechtsschutz.
({0})
Entschiede das Gericht in dem gleichen Rechtsstreit nicht
durch einen Beschluss, sondern durch ein Urteil, wäre gegen die Zurückweisung der Berufung wenigstens eine
Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Mehr als 100 Jahre
kamen wir ohne diese Regelung aus. Doch im Jahr 2001
- das wurde schon gesagt - versuchte Rot-Grün, die
Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten. Das haben wir neun Jahre lang ausprobiert. Jetzt müssen wir feststellen: Das Ziel wurde verfehlt. Für alle, die bei den Gerichten Rechtsschutz
suchen, ist § 522 ZPO ein Fluch und kein Segen. Auch die
gewünschte Entlastung der Gerichte trat nicht ein. Darüber hinaus - auch das wurde heute schon gesagt - wird
diese Vorschrift ungleich angewandt. Je nach Bundesland
erledigen manche Oberlandesgerichte 4 Prozent ihrer
Verfahren nach § 522 ZPO und andere über 27 Prozent.
Das ist nicht in Ordnung. Das ist ungerecht.
({1})
Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das
ist in der Regel nicht schlimm. Wir müssen nur daraus
lernen. Mit dem Regierungsentwurf wird aber lediglich
versucht, die gröbsten Patzer etwas zu glätten. Dafür
werden an § 522 Abs. 2 und 3 ZPO kosmetische Korrekturen vorgenommen, indem höhere Anforderungen an
den Zurückweisungsbeschluss gestellt werden.
Statt bisher drei sind nun vier Bedingungen für die
Zurückweisung der Berufung vorgesehen. Als kleines
Bonbon sollen den Betroffenen nun Rechtsmittel gegen
den ablehnenden Beschluss zugestanden werden. Das ist
aus unserer Sicht nicht genug.
({2})
Auf der anderen Seite schränken Sie die Rechte der
Rechtsschutzsuchenden weiter ein, indem Sie § 26 Nr. 8
des Einführungsgesetzes der ZPO ändern wollen. Obwohl die Revision grundsätzlich vom Streitwert losgelöst betrachtet werden soll, verlängern Sie die bis Ende
2011 vorgesehene Befristung der Mindesthöhe des
Streitwertes für Revisionen von 20 000 Euro bis Ende
2013. Damit übernehmen Sie die früheren Fehler von
Rot-Grün. Wir finden das falsch.
({3})
Gerade in Arzthaftungsfällen ist die derzeitige Anwendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im
Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschädigten eine Zumutung. Wir dürfen nicht
zulassen, dass Kosteneinsparungen im Justizsektor dazu
führen, dass die Bürgerinnen und Bürger den Glauben an
Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit verlieren.
SPD und Grüne haben erkannt, dass die damalige Reform ihr Ziel verfehlt hat und dass das Problem nur
durch eine Abschaffung gelöst werden kann. Diese Einsichtsfähigkeit verdient Anerkennung.
({4})
Deshalb sollten Union und FDP nicht die Fehler vergangener Wahlperioden wiederholen. Tun Sie das Richtige,
und wickeln Sie die verkorkste Reform ab. Streichen Sie
die Absätze 2 und 3 in § 522 ZPO!
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Sharma.
Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unsere Kollegin Ingrid Hönlinger. - Bitte schön, Frau
Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben
schon viel Bedenkenswertes zu § 522 ZPO gesagt. Wir
alle wissen: Im Jahr 2002 wurde die Vorschrift eingeführt, um die Gerichte zu entlasten und Rechtsmittelverfahren zu beschleunigen. In den letzten Jahren haben wir
verschiedene Erfahrungen damit gemacht. Auf der
Grundlage dieser Erfahrungen nehmen auch wir Grünen
eine Neubewertung der Vorschrift vor.
Wir alle wissen: Für Betroffene endet der Rechtsweg
abrupt, wenn sie durch schriftlichen Beschluss mitgeteilt
bekommen, dass ihre Berufung zurückgewiesen wird,
weil es keine Aussicht auf Erfolg gibt, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weil kein Erfordernis einer Fortbildung des Rechts vorliegt oder
keine Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung
erforderlich ist. Es findet keine mündliche Verhandlung
statt. Der Rechtsweg ist endgültig beendet und damit
auch der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum
Recht. Diese Rechtspraxis ist bedenklich. Deswegen diskutieren wir heute zu Recht über diese Vorschrift.
({0})
Ein weiteres Problem ist - das wurde schon gesagt -,
dass § 522 ZPO von den Berufungsgerichten sehr unterschiedlich angewandt wird. Die Diskrepanz liegt bei ungefähr 22 Prozent; der Herr Staatssekretär hat das Beispiel schon angeführt. Das Oberlandesgericht Bremen
weist 5,2 Prozent der Berufungsverfahren durch schriftlichen Beschluss zurück, während das Oberlandesgericht
Rostock sehr viel überschwänglicher damit umgeht und
27,1 Prozent der Verfahren durch schriftlichen Beschluss
beendet. Diese Diskrepanz besteht, obwohl § 522 Abs. 2
zwingenden Charakter hat und es keinen Spielraum bei
der Anwendung gibt. Für die Betroffenen, aber auch für
juristische Expertinnen und Experten wie auch für uns
ist es unbegreiflich, dass eine zwingende Vorschrift eine
derart unterschiedliche Handhabung erfährt.
Wir diskutieren heute auch über den Gesetzentwurf
der Bundesregierung. Er beinhaltet unter anderem Folgendes:
Erstens. Eine mündliche Verhandlung findet nicht
statt, wenn sie nicht angemessen ist. Das Wort „angemessen“ ist aus unserer Sicht ein weiterer unbestimmter
Rechtsbegriff, der wieder dazu einlädt, dass die Berufungsgerichte die Vorschrift unterschiedlich handhaben.
Zweitens. Die Nichtzulassungsbeschwerde, mit der
die Betroffenen gegen den zurückweisenden Beschluss
vorgehen können, wird eingeführt; dies ist aber erst ab
einem Beschwerdewert von 20 000 Euro möglich. Damit ändert sich für einen Großteil der Betroffenen nichts.
Ihr Rechtsweg ist nach wie vor beendet, wenn der
schriftliche Beschluss vorliegt. Wir führen den Bürgerinnen und Bürgern damit vor, dass wir uns um ihre finanziellen Angelegenheiten nur dann vollumfänglich kümmern, wenn es sich um einen relativ hohen finanziellen
Betrag handelt. Dies ist aus unserer Sicht nicht ausreichend, um soziale Gerechtigkeit herzustellen.
({1})
Der Änderungsvorschlag greift also aus unserer Sicht
zu kurz. Wir meinen: Alleinige Abhilfe bietet eine vollständige Abschaffung von § 522 Abs. 2 ZPO. Dann
würde in jedem Fall eine mündliche Verhandlung stattfinden.
Der Richter bzw. die Richterin kann sich ein persönliches Bild von den Parteien machen, eventuell noch auf
eine Einigung hinwirken, vielleicht auch darauf hinwirken, dass die Berufung zurückgenommen wird. Wir gewährleisteten den Bürgerinnen und Bürgern damit umfassenden Zugang zu einer zweiten Instanz und damit
zum Recht. Im Klartext: Eine wirkliche Verbesserung
der rechtlichen Situation bietet nur die ersatzlose Streichung einer Vorschrift, die sich weder bewährt noch zur
Gleichbehandlung beigetragen hat.
Vielen Dank.
({2})
Gestatten Sie noch eine Frage der Frau Kollegin
Dyckmans?
Aber gern.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin, Sie haben gesagt, es sei eine Ungerechtigkeit, eine Nichtzulassungsbeschwerde bei einem
Betrag von über 20 000 Euro einzuführen. Können Sie
mir erklären, wieso Sie meinen, dies sei eine Ungerechtigkeit? Können Sie mir erklären, wie es sich bei einem
Urteil verhält, wann also bei einem Urteil die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben ist?
Das ist bei einem Urteil genau dasselbe. Aber das Urteil setzt die mündliche Verhandlung voraus. Hier gehen
wir von dem Fall aus, dass der schriftliche Beschluss
vorliegt. Nach unserer Auffassung ist es notwendig, im
Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung zu ermöglichen, um umfassendes rechtliches Gehör zu gewährleisten.
({0})
Vielen herzlichen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/5334 und 17/5363 an den
Rechtsausschuss vorgeschlagen. Die inzwischen vorliegende Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates auf Drucksache 17/5388 zu
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll wie der
Gesetzentwurf überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
Vizepräsident Eduard Oswald
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in
Krankenhäusern
- Drucksache 17/5119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege Weinberg.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema, um
das es jetzt geht, ist sicherlich kein Thema für politische
Fensterreden - vielleicht behandeln wir es auch deshalb
um diese Uhrzeit -: die Begleitforschung zur Einführung
der Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung.
Mit der Einführung der Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung zwischen 2003 und 2005 wurden
die Leistungen im Krankenhaus nicht mehr nach der Liegezeit, sondern pauschal nach Diagnosen vergütet, auf
Englisch DRGs genannt. Das war ein vollkommener
Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung und angesichts eines Volumens von immerhin 34 bis 35 Prozent der gesamten GKV-Ausgaben ein dicker Brocken,
der bewegt worden ist.
Die Begleitforschung, die gesetzlich vorgeschrieben
war, sollte die Einführung dieses neuen Vergütungssystems begleiten. Es sollte um die Wirkungen der DRGEinführung gehen: auf die Verweildauer in den Krankenhäusern, das Aufnahme- und Entlassungsverhalten, die
Aufbau- und Ablauforganisation, die Wirtschaftlichkeit
der Einrichtungen, mögliche Verlagerungen von Leistungen auf andere Leistungserbringer, die Auswirkungen
auf die Qualität der Leistungen, aber auch die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der im Krankenhaus
Beschäftigten und die Zufriedenheit der Patientinnen
und Patienten sowie der Beschäftigten.
Als Begleitforschung hatte sie den Anspruch, ein
Frühwarnsystem zu sein. Der erste Forschungsbericht
wurde im März 2010, also im letzten Jahr, vorgelegt. Er
ist über 800 Seiten dick und umfasst als Untersuchungszeitraum die Zeit von 2004 bis 2006, also die erste Phase
der Einführung dieses Vergütungssystems. Allerdings erfolgte die Ausschreibung zu dieser Begleitforschung erst
2008. Das beauftragte Institut, das IGES, konnte erst im
Januar 2009 mit der Arbeit beginnen. Daher verwundert
folgende Aussage aus dem Forschungsbericht nicht - ich
zitiere -:
Die Funktion eines „Frühwarnsystems“ kann die
Begleitforschung sechs Jahre nach Systemeinführung nicht mehr wahrnehmen.
({0})
Durch den verspäteten Beginn sind Vorher-Nachher-Vergleiche nicht mehr möglich. Auch dies wird in dem Bericht durchaus angemerkt. Dort heißt es - ich zitiere wieder -:
Die Trennung zwischen einem spezifischen „GDRG-Effekt“ und anderen plausiblen Einflussfaktoren ist zumeist nicht möglich.
Es können also Veränderungen in dem Zeitraum dargestellt werden, aber der Nachweis einer Kausalität, eine
Zurückführung der Veränderungen auf die Einführung
dieses neuen Vergütungssystems ist kaum möglich. Auf
jeden Fall kommen die Autoren des Forschungsberichts
zu dem Schluss:
Eine engmaschige wissenschaftliche Analyse der
Veränderungsprozesse des Gesundheitssystems
muss auch in Zukunft gewährleistet werden, um
diesen Prozess für Versicherte und Patienten, Beschäftigte, Akteure und die Legislative vor dem
Hintergrund der Ziele möglichst objektiv bewertbar
zu machen und somit steuerbar zu gestalten.
Dem können wir uns nur anschließen. Aber das heißt mit
anderen Worten auch: Die Autoren des Forschungsberichts sind sich selbst durchaus bewusst, dass erstens
diese Forschungsphase eigentlich zu spät eingesetzt hat
und zweitens nur ein erstes Schlaglicht auf einen komplexen Veränderungsprozess wirft.
In unserem Antrag greifen wir das auf und schlagen
vor, die Begleitforschung zu den Fallpauschalen nun
fortzuentwickeln, sodass die methodischen und inhaltlichen Defizite des bisherigen Ansatzes überwunden werden können und bei der Begleitforschung zur Einführung
eines analogen Vergütungssystems in psychiatrischen
und psychosomatischen Einrichtungen vermieden werden können. Wir sollten den Fehler, den wir damals gemacht haben, dort nicht wiederholen, sondern jetzt durch
eine frühzeitig einsetzende Begleitforschung einen Vorher-Nachher-Vergleich ermöglichen.
({1})
Unsere Vorschläge dazu sind, einen Sachverständigenrat
einzurichten oder, wie Herr Braun in der Anhörung gesagt hat, eine Untergruppe des bestehenden Sachverständigenrats zu bilden, um die methodischen Voraussetzungen zu schaffen, Hypothesen und Fragestellungen unter
Einbeziehung der von mir genannten Aspekte zu entwickeln, und eine Geschäftsstelle im BMG einzurichten,
die den Prozess überwacht und auf die Einhaltung der
Fristen achtet.
Ich denke, es ist ein nur wenig politisch aufgeladenes
Thema. Es hat bereits bestimmte andere Forschungsberichte gegeben. Wir als Linke haben durch die Ergebnisse in Berichten anderer Forschungsinstitute durchaus
zur Kenntnis nehmen müssen, dass einige unserer Annahmen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem
Fallpauschalensystem so nicht eingetreten sind. Ich
denke da beispielsweise an das Thema „blutige EntlasHarald Weinberg
sungen“. Das hat sich nicht bestätigt, und das ist auch
gut so.
({2})
Nun werden wir dadurch nicht gleich zu Fans eines
DRG-Systems; aber wir haben dazugelernt. Wir lernen
gern immer weiter dazu, aber bitte, wenn es irgend geht,
auf einer validen, gründlich erhobenen und soliden Datenbasis.
Vielen Dank.
({3})
Wir danken Ihnen, Herr Kollege Weinberg.
Als Nächster auf unserer Rednerliste steht unser Kollege Lothar Riebsamen für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Mit einem Umsatz von 65 Milliarden
Euro und 1,1 Millionen Beschäftigten in 2 000 Krankenhäusern in unserem Land ist das Krankenhauswesen
nicht nur der bedeutendste Faktor im Bereich des Gesundheitswesens, sondern ein sehr bedeutender Faktor
insgesamt in unserer Wirtschaft - national, aber auch lokal, wenn es um Arbeitsplätze in den Landkreisen und
den Städten geht, in denen diese Krankenhäuser stehen.
Es ist richtig und gut, dass wir eine gute medizinische, bauliche und personelle Ausstattung in diesen
Häusern haben. Deswegen ist es aber auch wichtig, dass
wir ein zeitgemäßes Abrechnungssystem und eine zeitgemäße Kalkulation haben. Das war mit der alten Bundespflegesatzverordnung aus dem Jahr 1972 nicht der
Fall. Diese wurde dem Anspruch an diese komplizierten
Einrichtungen bei weitem nicht mehr gerecht. Es war
nicht vernünftig, einfach nur Übernachtungen zu zählen
wie in einem Hotel
({0})
und die Patienten, wenn die vereinbarten Berechnungstage nicht erreicht wurden, über das Wochenende dazubehalten. Das war einfach nicht zeitgemäß.
Wir haben mit den DRGs erstmals ein differenziertes
Preissystem, das Transparenz schafft - Transparenz nach
innen für die Kalkulation und das interne Rechnungswesen, aber auch nach außen für die Kostenträger und die
Patienten. Die Einführung dieses Systems war wichtig
zur Finanzierung und Sicherung des GKV-Systems;
denn durch die Einführung der Fallpauschalen hat auch
Wettbewerb im deutschen Krankenhaussystem Einzug
gehalten. Nun haben wir - Herr Weinberg, Sie haben das
angedeutet - vielleicht noch nicht ganz eine gemeinsame
Sprache gefunden; aber ich denke, wir haben durchaus
eine gemeinsame Grammatik, was diese Punkte anbelangt. Wir haben nie behauptet, dass das DRG-System
eine Patentlösung bzw. ein Königsweg ist. Wir haben
immer gesagt - so steht es auch im Gesetz -, dass es sich
um ein lernendes System handelt. Wir haben ins Gesetz
implementiert, dass eine wissenschaftliche Begleitforschung stattfinden muss. Sie findet auch statt. Der erste
Bericht liegt nun vor, und zwar für die Zeit von 2004 bis
2006. Ich räume ein, dass dies relativ spät ist. Mir wäre
es auch lieber, wenn es schneller gegangen wäre. Der
Bericht für die Zeit bis 2008 liegt auch schon weitgehend vor. Er soll uns noch in diesem Jahr zur Kenntnis
gebracht werden. Dann wären wir wieder einigermaßen
à jour.
In Ihrem Antrag unterstellen Sie, dass innerhalb des
Fallpauschalensystems eine Differenzierung zwischen
den verschiedenen Diagnosen nicht möglich ist. Das ist
so nicht richtig. Es gibt Zusatzentgelte für bestimmte
Diagnosen und auch für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Das ist also durchaus einbezogen
und mit bedacht.
Dass im Bericht keine Belege dafür gefunden werden,
dass eine Neuausrichtung dieser Fallpauschalen notwendig ist, kann man auf der einen Seite kritisieren. Auf der
anderen Seite kann man aber auch sagen - und das sage
ich -, dass das ein Beleg dafür ist, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass eine Neuausrichtung nicht notwendig ist.
Die entscheidende Aussage in diesem Bericht ist, dass
die Verweildauer deutlich verkürzt werden konnte, und
zwar - Sie haben das angesprochen - ohne dass es zu
„blutigen Entlassungen“ gekommen ist. Die Verweildauer konnte verkürzt werden, obwohl die Kurzlieger
durch die Einführung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern in den ambulanten Bereich abgewandert
sind. Aufgrund des statistischen Moments hätte es im
Gegenteil zu einer Verlängerung der Verweildauer kommen müssen. Das ist aber eben nicht der Fall. Die Fallpauschalen haben also dazu geführt, dass die Verweildauern verkürzt worden sind, und zwar trotz der
demografischen Entwicklung, die in diesen Jahren zusätzlich zu bewerten ist.
Sie kritisieren auch, das Aufnahme- und Belegverhalten sei zweifelhaft. Dem kann ich nicht folgen. In diesem
Bericht wird deutlich, dass keine Risikoselektion stattgefunden hat.
({1})
Das kann man ausdrücklich nachlesen. Auch das ist ein
weiterer entscheidender Beleg dafür, dass wir auf dem
richtigen Weg sind.
({2})
Ich räume ein, dass ich selber in den zukünftigen Berichten noch etwas mehr Aufschluss über die Lenkungsfunktion insbesondere innerhalb des stationären Bereiches erwarte. Mir geht es hier um die Frage, wie
Krankenhausstandorte im ländlichen Raum mit diesem
System durch eine Steigerung des CMI und durch Spezialisierungen gesichert werden können. Es besteht die
Gefahr, dass Anreize dafür geschaffen werden, in verdichteten Räumen besserbezahlte Fälle ins Haus zu holen, wodurch Doppelstrukturen aufgebaut werden. Das
erschließt sich mir noch nicht. Im normalen Marktge11746
schehen müsste es als Folge daraus nämlich zu Preissenkungen kommen, die im System der DRGs aber natürlich nicht vorgesehen sind.
Eine wichtige Erkenntnis ist sicher auch, dass die
durchschnittliche Preissteigerung im Krankenhausbereich im Berichtszeitraum lediglich bei 1,4 Prozent jährlich gelegen hat. Das kann man dem Bericht entnehmen.
In den Jahren 1991 bis 2002 lag sie dagegen bei durchschnittlich 3,7 Prozent im Jahr. Das ist ein Beleg dafür,
dass die Kosten im Krankenhausbereich mit den Fallpauschalen deutlich eingedämmt werden konnten.
Ihr Vorschlag, einen Sachverständigenrat einzuführen, bedeutet mehr Bürokratie. Ich sehe keinen Mehrwert darin. Es kann auch nicht weiterhelfen, jetzt von einer wissenschaftlichen Begleitforschung auf einen Sachverständigenrat umzustellen.
Ich halte es für vernünftig, die Lehren aus einem lernenden System zu ziehen. Darum geht es, um nicht mehr
und nicht weniger. Wir sind noch nicht ganz am Ziel.
Das erwartet heute auch niemand. Wir sind aber auf dem
richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({3})
Wir haben zu danken, Herr Kollege Riebsamen. - Als
Nächste hat unsere Kollegin Mechthild Rawert von der
Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön,
Frau Kollegin Rawert.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende im Saal! Wir beraten heute den
Antrag der Linksfraktion „Ergebnisoffene Prüfung der
Fallpauschalen in Krankenhäusern“. Wer glaubt, dass
das ein aufregendes, ein Thema mit Exotik ist, hat sich
getäuscht. Aber vorhin sind zu Recht die immensen
Geldsummen genannt worden, die in dem System der
Fallpauschalen bewegt werden. Insofern ist das Thema
sehr wichtig für das Gesundheitswesen.
Es geht um die Finanzierung der Krankenhausleistungen und darum, dass wir damit eine hochwertige medizinische Versorgung für die Patientinnen und Patienten mit
einem motivierten und gut bezahlten Gesundheits- und
Pflegepersonal sichern wollen.
Fallpauschalen existieren seit einigen Jahren. Der bisherige Weg, die Besonderheiten in den Versorgungsstrukturen und Behandlungsweisen immer besser im
Fallpauschalen-Katalog zu berücksichtigen, wird konsequent beschritten. Insofern ist es richtig, dass wir von
einem lernenden System reden. Die Abbildungsgenauigkeit wird immer besser, wie sich auch im Fallpauschalen-Katalog 2011 längst erwiesen hat.
Zu Recht - dafür danke ich - wird darauf Bezug genommen, dass sich einige der Befürchtungen, die bei der
Einführung der DRGs geäußert worden sind, nicht bewahrheitet haben. Hierzu gehörte die Angst vor den
sogenannten blutigen Entlassungen, der selektiven Auswahl von Patientinnen und Patienten durch die Krankenhäuser oder vor deren sinkender Behandlungsqualität.
Man kann einfach sagen, dass sich das DRG-System bei
den unterschiedlichsten Trägern des Gesundheitssystems
etabliert hat.
Diagnosebezogene Fallpauschalen, um den Begriff,
den wir kurz DRG nennen, auch einmal in Gänze auszusprechen, werden anhand medizinischer Diagnosen und
Behandlungen wie auch anhand von demografischen
Daten, Alter und Geschlecht, für Zwecke der Abrechnung klassifiziert. Leistung wird also auf einer Kostenebene anders abgebildet.
Unser hier in Deutschland praktiziertes System kann
so schlecht nicht sein. Denn die Schweizer haben sich
entschieden, ab dem Jahr 2012 das deutsche DRG-System als Grundlage für ein eigenes Abrechnungs- und
Finanzierungssystem im Krankenhaus zu wählen.
Der Antrag der Linksfraktion fordert unter anderem
die Einsetzung eines Sachverständigenrates zur Evaluierung des Fallpauschalensystems in der Krankenhausfinanzierung. Dieser Forderung können wir nicht zustimmen. Zu Recht ist vorhin schon gesagt worden, dass
es Kritik an der Begleitforschung in der Vergangenheit
gibt, die in den Berichten auch schon benannt worden
ist.
Es gibt also auch Möglichkeiten, Themen der gesundheitlichen Versorgung genauer zu untersuchen. Hierzu
wurden vielfältige Prüfanfragen verfasst, anhand derer
derzeitig evaluiert wird. Unter anderem befasst sich das
renommierte IGES-Institut damit. Es wurde 1980 gegründet und hat in über 1 000 Projekten zu Fragen des
Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich
der Gesundheit geforscht. Der schon erwähnte erste
„Endbericht zum ersten Zyklus der G-DRG-Begleitforschung“ hat die Jahre 2004 bis 2006 begleitet und wurde
2010 vorgelegt.
Die Kritik habe ich bereits angesprochen. Begleitforschung darf nicht wie mit dem ersten Bericht verspätet
erfolgen, sondern muss von Anfang an stattfinden. Auch
die Hoffnung, dass es mit dem zweiten Bericht nun besser klappt, wurde schon formuliert.
Das Ergebnis ist Folgendes: Ein pauschaliertes Vergütungssystem führt weder zu frühzeitigen Entlassungen
noch zu einer systematischen Patientenauswahl und auch
nicht zu einer Verlagerung von Behandlungen in andere
Versorgungsbereiche. Wir werden in den Diskussionen,
die wir unter anderem über das Versorgungsgesetz führen werden, sehen, welche neuen Steuerungsfunktionen
in Zukunft auf uns zukommen werden. Diese Funktionen sind auf jeden Fall noch genauer auszurichten.
Ich möchte auf einen anderen Punkt, der in der Praxis
nur indirekt mit dem DRG-System zu tun hat, zurückkommen, und zwar auf die Situation der Beschäftigen im
Gesundheitswesen. Ich bin genau zu dem Zeitpunkt, als
das DRG-System eingeführt wurde, Zentrale Frauenund Gleichstellungsbeauftragte der Charité gewesen.
Gerade im Pflegebereich hat das DRG-System tatsächlich zu einem massiven Abbau von Beschäftigten geführt. Ein solcher Abbau kann und darf in Zukunft nicht
mehr erfolgen. Deswegen sind die Prüffragen zur Situation der Versorgung im Gesundheitswesen im Interesse
der Beschäftigten von uns als Parlamentarier und Parlamentarierinnen genau zu analysieren.
({0})
Auf Fragen der sogenannten Mengenerweiterung will
ich nicht näher eingehen.
Mein Vorschlag für eine gemeinsame Kontrolle ist:
Nehmen wir die auch durch das InEK implementierte
Steuerungsfunktion durch den Fallpauschalen-Katalog
wahr! Kontrollieren wir die Wirkungen und Auswirkungen für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die
Beschäftigten im Gesundheitswesen! Kontrollieren wir
den hoffentlich in naher Zukunft vorliegenden zweiten
Evaluierungsbericht!
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. - Jetzt hat Kollege Lars Lindemann das Wort für die FDP-Fraktion.
Bitte schön, Kollege Lars Lindemann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor acht Jahren
wurde in den somatischen Krankenhäusern in Deutschland begonnen, die DRGs einzuführen. Diese Einführung sollte - so hat es der Bundestag hier beschlossen auch forschend begleitet werden. Der Bundestag hat
auch Vorgaben gemacht, was dabei besonders in den
Blick zu nehmen ist. Es sollte untersucht werden, ob
durch die Einführung der DRGs sich Veränderungen der
Versorgungsstrukturen ergeben, sich die Qualität der
Versorgung verändert und Auswirkungen auf die anderen Versorgungsbereiche zu verzeichnen sind. Schließlich sollten auch Art und Umfang von Leistungsverlagerungen untersucht werden. Nach Vorlage des Berichtes
des IGES-Institutes im März 2010 erklärten alle beteiligten Vertragspartner, dass die Einführung weder zu frühzeitigen Entlassungen noch zu einer systematischen
Patientenauswahl geführt habe. Dies waren, so erinnere
ich mich, die wesentlichen Einwände, die damals vorgebracht wurden. Auch konnte eine Leistungsverlagerung
in andere Bereiche nicht festgestellt werden.
Der Antrag der Linken, über den wir heute debattieren, fordert nun, einen Sachverständigenrat einzuberufen, der anstelle des bisherigen Vorgehens selbst und im
Auftrag des BMG evaluieren soll. Man kann, so meine
ich, heute nicht generalisierend sagen, dass die Behandlungsqualitäten durch die Einführung der DRGs an sich
gelitten haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken - da haben wir eine Schnittmenge -, wir
müssen in eine Überlegung eintreten, was genau wir gemeinsam unter Qualität verstehen wollen. Sie wollen in
den Mittelpunkt der Überlegungen des von Ihnen geforderten Sachverständigenrates die Interessen der Patienten und Beschäftigten der Krankenhäuser stellen und
umschreiben damit, wenn ich Sie da richtig verstanden
habe, dass es seit der Einführung der DRGs Veränderungen von Handlungslogiken im Krankenhausbereich gibt,
die bisher aber nicht in den Blick der Begleitforschung
genommen wurden. Somit konnten daraus auch keine
Ableitungen folgen. Um es deutlich zu sagen: Wenn es
als eine gemeinsame Herausforderung verstanden wird,
dass sich menschliche Zuwendung und der dafür notwendige Faktor Zeit bei den Beschäftigten nur schwer in
eine stückkostenorientierte Abrechnungswelt einbauen
lassen, dann muss dies in die Untersuchung einbezogen
werden. Wir alle - da, denke ich, sind wir uns einig vermuten nicht nur, dass die DRG-Einführung eine Leistungsverdichtung mit sich gebracht hat, die natürlich
auch Druck auf die Personalkostenblöcke erzeugt hat.
Nun möchten meine Fraktion und ich aber nicht, dass
wir ein neues Gremium schaffen, das da selbst evaluiert.
Wir haben die Möglichkeit, die offenen Fragestellungen
im Rahmen der auch mit der Einführung der PsychDRGs durchzuführenden Begleitforschung mit aufzunehmen und dort auch gleich beide Bereiche untersuchen zu lassen.
Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die Begleitforschung mit dem BMG abzustimmen ist. Darunter verstehe ich hier auch das Evaluationsdesign. Meine Bitte
geht darum an den zuständigen Parlamentarischen
Staatssekretär, nach Überweisung des Antrags an den
Ausschuss dort darüber zu berichten, wie die Abstimmung in Bezug auf die im Jahr 2010 vorgelegten Untersuchungen ausgesehen hat. Wir wollen dann unsererseits
im Ausschuss darüber beraten, welche Punkte wir als
Parlamentarier dann über das BMG mit in die Untersuchung eingebracht sehen wollen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollege Lindemann. - Jetzt folgt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Elisabeth Scharfenberg. Bitte schön, Frau Kollegin
Scharfenberg.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir halten den von der Linken vorgeschlagenen
Sachverständigenrat zur Evaluierung des DRG-Systems
für den falschen Weg. Gleichwohl sind auch wir natürlich der Auffassung, dass bei einer solch weitreichenden
Veränderung, wie es gerade die Einführung der DRGs
zweifellos war, eine umfassende Evaluation zwingend
dazugehört. Genau dies haben wir ja auch getan.
Unter Rot-Grün haben wir parallel zur Einführung der
DRGs einen umfassenden Auftrag zur Begleitforschung
beschlossen. Die DRGs sind ein lernendes System. Wir
erleben aber, dass einige Akteure im Gesundheitswesen
gerade nicht aus Erfahrungen lernen wollen. Sie wollen
möglichst wenig darüber wissen, wie sich die DRGs in
der Praxis auswirken und wo gegengesteuert werden
muss. Das ist nicht nur das Versagen der Selbstverwaltung, sondern vor allem auch der schwarz-roten und nun
natürlich der schwarz-gelben Bundesregierung.
({0})
So wurde die Begleitforschung mit etlichen Jahren
Verspätung ausgeschrieben. Deshalb wurden die ersten
Ergebnisse auch nicht, wie vorgeschrieben, 2005, sondern erst 2010 vorgelegt.
Aber sind wir denn nach der Lektüre der nun vorliegenden Ergebnisse der Begleitforschung eigentlich wirklich schlauer geworden? Erfahren wir, welche Auswirkungen es auf andere Versorgungsbereiche gibt?
Erfahren wir, ob es tatsächlich sogenannte blutige Entlassungen gibt? Oder erfahren wir, wie sich die Situation
der stationären Pflegekräfte durch die DRG-Einführung
entwickelt hat? Nein, muss ich sagen, dazu erfahren wir
nichts. Es wäre aber die Aufgabe der Bundesregierung,
dafür zu sorgen, dass der gesetzliche Auftrag zur Begleitforschung erfüllt wird. Das hat die Bundesregierung
aber weder getan, als die Ausschreibung der Begleitforschung über Jahre verschleppt wurde, noch tut sie es
jetzt angesichts dieser völlig unzureichenden Ergebnisse.
Kürzlich hatten wir im Gesundheitsausschuss auf Initiative der Grünen eine Anhörung zur ambulanten Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt. Dort wurde
insbesondere von den Krankenkassen vertreten, dass es
keine Belege für eine solche Versorgungslücke gebe. Die
Mehrheit der geladenen Sachverständigen hat das aber
ganz anders gesehen.
Das zeigt doch, dass es hier einen Erkenntnisbedarf
gibt. Haben die Kassen, hat irgendein anderer Akteur darauf gedrängt, diese Frage zu klären? Ich bin der Auffassung: Nein, denn dieses Problem wurde im Rahmen der
Begleitforschung gar nicht untersucht. Deswegen fehlt
mir auch der Glaube, dass eine Sachverständigenkommission, wie sie die Linke fordert, an diesen Mängeln
grundsätzlich etwas ändern würde.
Dabei kann niemand leugnen, dass es Probleme gibt.
Das zeigen zahlreiche Studien außerhalb der gesetzlichen Begleitforschung. So wissen wir doch, dass es nicht
erst seit Einführung der DRGs zu einem erheblichen Abbau von Pflegepersonal gekommen ist. Die DRGs bilden
den Pflegeaufwand nicht ausreichend ab. Deswegen
hoffe ich sehr, dass die nunmehr entwickelten Kriterien
zur Berücksichtigung des Pflegeaufwandes, der Pflegekomplexmaßnahmen-Score, die Pflegequalität wirksam
verbessern werden.
Auch in der stationären psychiatrischen Versorgung
wird ein stärker pauschalisiertes Entgeltsystem eingeführt. Wir müssen dabei von den Erfahrungen der DRGEinführung lernen und hier eine bessere Begleitforschung erreichen.
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Beratung dieses
Antrags Konsequenzen hat und die Erkenntnisverweigerung sowohl in der Bundesregierung als auch in der
Selbstverwaltung endlich ein Ende hat.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Scharfenberg. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max
Straubinger. - Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Scharfenberg, es gibt keine Erkenntnisverweigerung der Bundesregierung und auch nicht der sie
tragenden Fraktionen; vielmehr nehmen wir diese Berichte natürlich ernst. Es ist richtig, dass Berichte und Untersuchungen letztendlich fundiert sein müssen. Es bedurfte eines längeren Zeitraums, bis die Ausschreibung
sachgerecht vollendet war. Gute Grundlagen gehören
dazu. Es darf nicht sein, dass etwas sozusagen hoppladihopp zusammengeschrieben wird. Da wir für „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ stehen - das hat sich im Leben immer wieder bewährt -, kann ich hier keine Kritik üben.
({0})
- Das gilt für alle Bereiche der Politik, Frau Kollegin
Rawert.
Verehrte Damen und Herren, hier wurde bereits dargelegt: Mit der Einführung des Systems der DRG waren
Befürchtungen verbunden. Es hat sich gezeigt, dass es
ein selbstlernendes System ist. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich bin dem Kollegen Weinberg dankbar, dass er
dargelegt hat, dass die Befürchtungen, die gehegt worden sind, so nicht eingetreten sind, dass wir somit auf einem guten Weg sind und dass es überall Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Bereits ein altes Sprichwort besagt,
dass das Bessere der Feind des Guten ist. Es gilt, in diesem Sinne weiterhin die Arbeit zu leisten. Ich möchte
dem nicht mehr unendlich viel hinzufügen.
Ich möchte darauf verweisen, dass weitere Strukturen
- die Fraktion Die Linke schlägt vor, einen weiteren
Sachverständigenrat zu schaffen - nicht notwendigerweise eine Verbesserung bedeuten. Letztendlich sind alle
Phasen in Begleitung der Bundesregierung zu untersuchen. Der Kollege Lindemann hat auf Folgendes hingewiesen: Wenn wir diesen Antrag im Ausschuss beraten,
dann werden uns auch die bisherigen und die neuen Erkenntnisse der Bundesregierung dargelegt. Es gilt dann
natürlich, auch den letzten Schritt zu begleiten. Die gesamte Phase der Einführung der DRGs muss wissenschaftlich begleitet werden.
Bereits heute Vormittag, in der Kernzeit, haben wir
über das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung beraten. Hier kann ein wichtiger Beitrag dazu geleistet werden.
({1})
Es geht darum, dass in der Gesundheitsökonomie die Patientenorientierung und die Patientensicherheit einen
großen Stellenwert haben. Unter diesem Gesichtspunkt
bin ich überzeugt, dass die notwendigen Erkenntnisse erarbeitet werden. Ebenso überzeugt bin ich, dass die Forschungsstrukturen und die Studien auch in diesem Bereich einen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten
werden. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass das
Ganze auch in finanzieller Hinsicht mit einem gewaltigen Forschungsaufwand verbunden ist: Die Bundesregierung ist bereit, hier 1 Milliarde Euro einzusetzen.
({2})
Es wird sichtbar, dass wir größten Wert auf die Patientensicherheit und vor allen Dingen auf die Patientenorientiertheit unseres Gesundheitssystems legen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Kollege Straubinger. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Erhebung der Beiträge
zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute ({1})
- Drucksachen 17/4977, 17/5122 Nr. 2, 17/5401,
17/5405 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter
Aumer. - Bitte schön, Kollege Peter Aumer.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Verantwortung übernehmen, das ist vor
allem die Lehre, die wir aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gezogen haben. Diese Verantwortung haben wir als
Politik zuvörderst. Wir haben die nötigen Maßnahmen
der Regulierung zu treffen, dass so etwas, wie es in der
Finanz- und Wirtschaftskrise geschehen ist, nicht noch
einmal möglich ist. Wir haben dies zu tun aus der Verantwortung für unser Land und aus der Verantwortung
für die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren Steuern
Schlimmeres für das Allgemeinwohl in dieser Krise verhindert haben.
({0})
Vor allem die Kreditinstitute selbst haben jedoch die
Verantwortung für die Stabilität des Finanzmarktes zu
übernehmen. Wir haben Instrumente geschaffen, um
Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, in einem
geordneten Verfahren zu sanieren oder abzuwickeln. Die
Erfahrungen mit der Insolvenz der Investmentbank
Lehman Brothers haben gezeigt, dass gerade auch mittelgroße, aber stark vernetzte Banken Einfluss auf das
Finanzsystem und die gesamte Stabilität haben können.
Durch staatliche Stabilisierungsmaßnahmen, die die
Fortführung des Geschäftsbetriebs ermöglichen, wurden
negative Folgen für die Stabilität des Finanzmarktes
wirksam vermieden. Die Erfahrungen haben gezeigt,
dass Restrukturierung und geordnete Abwicklung systemrelevanter Banken regelmäßig finanzielle Mittel erfordern werden. Diese Mittel sollen nicht allein - wie in
der Vergangenheit - durch die öffentliche Hand, sondern
vorrangig durch den Finanzsektor selbst bereitgestellt
werden.
Wir haben im Zuge der sogenannten Bankenabgabe
im letzten Jahr das Restrukturierungsfondsgesetz beschlossen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde ein
Restrukturierungsfonds als Sondervermögen des Bundes
errichtet, der von der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung verwaltet wird. Aus dem Fonds werden die
künftigen Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnahmen bei systemrelevanten Banken finanziert.
Das Gesetz sieht vor, die Mittel des Fonds durch Jahresbeiträge und gegebenenfalls Sonderbeiträge der beitragspflichtigen Kreditinstitute anzusammeln. Es regelt
die wesentlichen Eckdaten für die Erhebung der Beiträge. Die weitere Ausgestaltung wird in der heute zur
Debatte stehenden Rechtsverordnung geregelt, die der
Finanzausschuss in seiner gestrigen Sitzung ohne Änderungen übernommen hat und die jetzt zur Abstimmung
steht.
Bei der Ausgestaltung der Bankenabgabe gibt es nicht
nur verfassungsrechtliche Gründe zu beachten, dass die
Lasten unter den Kreditinstituten auch angemessen und
gerecht verteilt werden. Auch die Europäische Kommission achtet genau darauf, ob einzelne Banken bei der
Bankenabgabe bevorzugt werden; denn das könnte eine
unzulässige Beihilfe sein. Vor diesem Hintergrund ist
auch die Nacherhebungsregelung zu sehen, die einen
Ausgleich zwischen Banken mit volatilen und Banken
mit stabilen Erträgen schafft. Änderungen bei dieser Regelung müssen daher gut begründet werden, um einseitige Begünstigungen bestimmter Banken und Geschäftsmodelle zu vermeiden.
Generell können wir festhalten, dass Deutschland in
diesem Punkt Maßstab für Europa ist. Die EU-Kommission hat unser Modell aufgegriffen und plant, einen EUweiten Krisenmechanismus nach deutschem Vorbild einzuführen. Das zeigt, dass die christlich-liberale Koalition
auf dem richtigen Weg ist und ihrer Verantwortung für
unser Land gerecht wird.
({1})
Darüber hinaus können wir der Forderung der Opposition nicht folgen, die eine Bankenabgabe in Höhe von
20 bis 25 Prozent des Bankengewinns einführen will.
Wir haben auch Verantwortung für die Kreditinstitute in
unserem Land, denn auch sie sind eine tragende Stütze
und ein tragender Pfeiler für unser Wirtschaftssystem.
({2})
- Die haben es ausgelöst, das stimmt; aber trotzdem sind
sie wichtig, damit das ganze Wirtschaftssystem am Laufen gehalten werden kann. Man muss sie natürlich mit
heranziehen, aber man darf sie auch nicht über Gebühr
strapazieren.
Nicht der Steuerzahler soll in Zukunft für das Missmanagement der Banken aufkommen, so wie dies vor
zwei Jahren der Fall war, sondern die Kreditinstitute
müssen ihrer Verantwortung nachkommen und ihren
Beitrag für die Stabilität des Finanzmarkts leisten. Niemand kann genau sagen, wie die Wirkung der Bankenabgabe ausfallen wird. Deswegen ist es auch absurd, Maximalforderungen zu stellen, wie Sie das tun, meine sehr
geehrten Damen und Herren in der Opposition. Wir werden die Wirkungen der heute zu beschließenden Verordnung beobachten und schauen, ob Änderungen notwendig sind. Wenn dies der Fall ist, werden wir Änderungen
vornehmen.
Wir sichern durch diese Verordnung die weitere Stabilität der Finanzmärkte und teilen die Kosten auf 1 990
beitragspflichtige Kreditinstitute anteilsmäßig und gerecht auf.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, werden auch Sie Ihrer Verantwortung gerecht und
stimmen Sie der vorliegenden RestrukturierungsfondsVerordnung zu!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Kollege Peter Aumer von der Fraktion
CDU/CSU. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred Zöllmer. - Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Regierung will nicht mehr für Banken einspringen“, so
titelte Spiegel-Online am 31. März dieses Jahres. Wenn
ich mir die vorliegende Verordnung genauer anschaue,
dann glaube ich: Dieser Satz wird bald genauso der Vergangenheit angehören wie das Versprechen der Kanzlerin, die Banken zur Finanzierung der Krise heranzuziehen. Dieses Versprechen hat sich inzwischen in heiße
Luft aufgelöst, wie so vieles, was von dieser Bundesregierung versprochen wurde. Herr Aumer hat eben noch
einmal bekräftigt, dass die Koalitionsfraktionen ihre
Verantwortung für die Banken wahrnehmen wollen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Basis der Verordnung, über die wir jetzt diskutieren, ist das Restrukturierungsgesetz, das bereits von der Mehrheit des Bundestages verabschiedet worden ist. Mit diesem Gesetz sollte
die „Too big to fail“-Problematik angegangen werden
und die Banken an den Kosten der Krise beteiligt werden. Der erste Teil des Gesetzes beruht auf den Arbeiten
von Frau Zypries, der damaligen Justizministerin, und
des damaligen Finanzministers Steinbrück.
({1})
- Das ist, glaube ich, wirklich noch einen Beifall wert.
Das Bundeskabinett hat am 2. März 2011, basierend
auf einer entsprechenden Ermächtigung im Restrukturierungsfondsgesetz, die Restrukturierungsfonds-Verordnung
beschlossen. Auf dieser Grundlage soll zukünftig die
Bankenabgabe erhoben werden. Ziel der Bundesregierung war - so wurde es formuliert -, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler davor zu schützen, bei zukünftigen
Krisen zahlen zu müssen.
Wird nun alles gut?
({2})
Können wir Entwarnung geben?
({3})
Das glauben Sie doch selber nicht.
({4})
Wir haben doch eben gehört: Die Banken sollen geschützt werden, nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({5})
Die vorliegende Verordnung führt auf absehbare Zeit
nicht dazu, den Steuerzahler zu entlasten. Die vorgesehene Bankenabgabe ist viel zu gering, um dieses politische Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung geht bei der
Bankenabgabe von circa 1 Milliarde Euro an Einnahmen
pro Jahr aus. Das bedeutet, dass man 70 bis 100 Jahre
warten muss, bis eine entsprechende Summe zur Verfügung steht, um eine mögliche neue Finanzkrise zu finanzieren.
({6})
- Ja, das scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. Für diesen langen Zeitraum bleiben nach wie vor der
Steuerzahler und die Steuerzahlerin in der Verantwortung.
Die Restrukturierungsfonds-Verordnung präzisiert die
Vorgaben des Gesetzes für die Erhebung der Bankenabgabe hinsichtlich der Abgabesätze und der Zumutbarkeitsgrenze. Die Abgabesätze werden gestaffelt. Je größer das Geschäftsvolumen einer Bank ist, desto höher ist
der Jahresbeitrag, in entsprechenden Stufen. Außerdem
werden bestimmte Termingeschäfte berücksichtigt.
Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze. Der Jahresbeitrag
wird bei 15 Prozent des Jahresüberschusses gekappt.
Auf jeden Fall soll aber ein Mindestbeitrag in Höhe von
5 Prozent des regulären Jahresbeitrags erhoben werden.
Banken, die in einem Jahr aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze keinen vollen Jahresbeitrag oder nur den Mindestbeitrag gezahlt haben, müssen die gekappten Beiträge nachzahlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Hauptkritikpunkt bleibt: Das zu erwartende Aufkommen der Bankenabgabe ist zu gering, um den Finanzbedarf bei der
Restrukturierung systemrelevanter Banken decken zu
können.
({7})
Das politische Ziel wird verfehlt.
Sie haben darüber hinaus das Ziel einer verursachergerechten Belastung von Banken nicht erreicht.
({8})
- Die haben diese Bankenabgabe nicht konzipiert.
Schauen Sie doch einfach einmal in die Geschichte. Diese Bankenabgabe schont große Banken mit ihren risikoreichen Geschäftsmodellen, weil die Bemessungsgrundlage zu einem ganz überwiegenden Teil nur an die
Passivseite der Bilanz anknüpft und damit lediglich die
Verbindlichkeiten der Bank berücksichtigt.
Eine risikoorientierte Bankenabgabe, die eine stabile
und langfristig orientierte Geschäftspolitik begünstigen
würde, müsste auch den Risikogehalt der Forderungen
einer Bank angemessen berücksichtigen. Um dies zu erreichen, müssten die risikobehafteten außerbilanziellen
Geschäfte einer Bank stärker als bisher vorgesehen belastet werden.
({9})
Große Banken werden außerdem durch die in der Verordnung enthaltene Zumutbarkeitsgrenze bevorteilt, da
die Höhe der Bankenabgabe auf maximal 15 Prozent des
Jahresüberschusses gedeckelt ist. Nach Expertenschätzungen hätte die Deutsche Bank ohne diese Zumutbarkeitsgrenze etwa im Jahre 2009 eine um einen mittleren
dreistelligen Millionenbetrag höhere Bankenabgabe entrichten müssen.
({10})
Die nunmehr in der Verordnung vorgesehene Nachzahlung der aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze nicht erhobenen Bankenabgabe reicht bei weitem nicht aus, um
eine angemessene Belastungsverteilung zu gewährleisten.
({11})
- Wir sind nicht in der Regierung. Wir sprechen über Ihren Vorschlag.
({12})
- Ja, nun mal ganz ruhig bleiben. Wir haben unseren
Vorschlag in der letzten Sitzung des Finanzausschusses
gemacht, und ich werde gleich noch darauf eingehen. Sie
waren bei der Sitzung nicht dabei, deswegen können Sie
das auch nicht wissen.
({13})
Die Deckelung von 15 Prozent schwächt die eigentlich vorgesehene Ausrichtung der Beitragserhebung am
systemischen Risiko einer Bank in deutlichem Maße und
begrenzt damit sehr stark das Aufkommen der Bankenabgabe. Die Zumutbarkeitsgrenze bevorzugt Institute
mit hochvolatilen Geschäftsmodellen und damit verbundenen starken Ergebnisschwankungen. Damit werden international tätige Großbanken mit hohen Renditezielen
deutlich bevorzugt. Sie werden nicht in der erforderlichen Weise zur Beitragserhebung herangezogen.
Wir Sozialdemokraten wollen Risiken begrenzen und
die Beiträge an der Risikogeneigtheit der Banken orientieren, wie es auch der IMF gefordert hat.
({14})
Wir haben deshalb im Finanzausschuss den Antrag gestellt, die Zumutbarkeitsgrenze von 15 auf 25 Prozent
des Jahresergebnisses zu erhöhen.
({15})
Diesen Antrag haben Sie ebenso abgelehnt wie die Änderungsanträge der Grünen zur Veränderung des Berechnungsverfahrens und zur Beteiligung des Parlaments sowie zu einigen anderen Punkten.
Dieses Verhalten von Schwarz-Gelb ist aus unserer
Sicht unklug. Wir sind nicht die Einzigen, die Kritik an
dem Inhalt der Verordnung haben. Es gibt eine Reihe
von Bundesländern, die mit den Regelungen, die Sie
vorgeschlagen haben, nicht zufrieden sind, und das sind
nicht nur rot-grün regierte Länder.
Den Ländern wurde von Ihnen eigentlich ein Mitspracherecht eingeräumt. Sie haben es aber versäumt, im
Vorfeld eine Abstimmung mit den Ländern vorzunehmen. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie glauben immer
noch, Sie würden allein regieren und hätten die Mehrheit
im Bundesrat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass dies
nicht der Fall ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Ihnen mit dieser Verordnung leider nicht gelungen, ein in sich konsistentes und belastbares System einer Bankenabgabe vorzulegen. Wir bedauern das.
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege Manfred Zöllmer. - Jetzt
für die FDP-Fraktion Kollege Björn Sänger. - Bitte
schön, Kollege Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hier vorliegt, ist der zweite Schritt nach dem
Bankenrestrukturierungsgesetz. Die Verordnung regelt
technische Details. Die grundsätzlichen Entscheidungen
wurden bereits im Gesetz getroffen. Ich sage das hier so
deutlich, weil es von interessierter Seite immer wieder
den Versuch gab, über den Verordnungsweg Dinge zu regeln, die eigentlich im Gesetz abschließend geregelt
sind. Das betrifft insbesondere die Frage der Bemessungsgrundlage der Bankenabgabe.
Das Bankenrestrukturierungsgesetz - ich denke, das
kann man hier auch einmal mit einem gewissen Selbstbewusstsein sagen - ist ein Vorbild für die gesamte EU.
({0})
Wir sind hier Vorreiter. Eine Nachahmung auf europäischer Ebene ist, was man so hört, durchaus angedacht
und auch wünschenswert. Darauf können wir sicherlich
alle gemeinsam stolz sein. Sollte es auf EU-Ebene zu einer Regelung kommen, die sich der deutschen Regelung
anpasst, wird damit auch das Problem einer eventuellen
Doppelbelastung von international agierenden Finanzunternehmen gelöst. Man muss nämlich fairerweise sagen,
dass wir, auch wenn die Bundesregierung dankenswerterweise schon intensiv daran arbeitet, dieses Problem
noch nicht direkt im Griff haben.
Was ich bei unserer Regelung ausgesprochen gut
finde, ist, dass die Mittel nicht im allgemeinen Haushalt
verschwinden, sondern in einen Fonds eingezahlt werden, sodass dann die Branche in der Tat für mögliche
Probleme selber zahlt. Hier ist Deutschland Vorreiter,
und das ist auch gut so.
Aber diese Vorreiterrolle bringt auch eine gewisse
Unsicherheit mit sich, weil wir noch nicht genau wissen,
welche Auswirkungen diese Abgabe am Ende des Tages
auf die Finanzunternehmen haben wird. Wir haben hier
schnell reagiert. Das war allgemein gewünscht. Diese
Regierung ist handlungsfähig
({1})
und hat in einer ausgesprochen guten Geschwindigkeit
ein gutes Gesetz mit einer entsprechend guten Verordnung vorgelegt, aber natürlich zu dem Preis, dass wir
keine Auswirkungsstudien - manche würden vielleicht
von Impact Studies sprechen; ich wähle lieber das deutsche Wort - machen konnten. Wir alle wissen ja, wie
viele Studien beispielsweise zum Thema Basel II oder
auch zum Thema Basel III gemacht worden sind. Da ist
jahrelang untersucht worden, welche Auswirkungen das
jeweils auf die Branche hat.
Wir wissen ja noch gar nicht, was da alles kommt. Wir
haben Basel III. Wir haben Kapitalaufschläge für systemrelevante Institute. Wir haben eine Finanzmarktsteuer. Wir haben eventuell höhere Kosten aus der Einlagensicherung. Wir wissen auch noch gar nicht, welche
Auswirkungen sich aus anderen Regulierungen auf die
Branche ergeben, zum Beispiel Solvency II. Die Summe,
die dabei unterm Strich herauskommt, kennen wir nicht.
Wir befinden uns also in einer Situation der Unsicherheit.
Was macht man, wenn man unsicher ist? Man agiert vorsichtig. Kein Autofahrer würde auf die Idee kommen, bei
Nebel voll aufs Gas zu drücken. Diejenigen, die das dennoch tun, machen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr
schnell Bekanntschaft mit einem Helfer. Im glimpflichsten Fall ist es der Gelbe Engel vom ADAC, im schlimmeren Fall ist es die Feuerwehr oder auch der Notarzt. Übertragen auf die Finanzbranche bedeutet das: Der Staat
muss wieder eingreifen, wenn wir die Unternehmen über
Gebühr belasten. Es hilft uns nichts, wenn wir sie mit der
Bankenabgabe am Ende des Tages erdrosseln.
({2})
Deswegen sind auch die Forderungen nach einer höheren Zumutbarkeitsgrenze, zum heutigen Tag zumindest,
nicht angebracht. Wir müssen vielmehr schauen, welche
Auswirkungen diese Bankenabgabe auf die Branche haben wird. Wir von den Koalitionsfraktionen - Kollege
Aumer hat es schon gesagt - sind die Garanten dafür, dass
man sich das sehr genau anschaut, und stellen auch sicher,
dass hier in die eine oder andere Richtung nachgesteuert
wird. Daher ist das von den Grünen vorgesehene Transparenzgebot an dieser Stelle überhaupt nicht notwendig.
({3})
Herr Kollege Zöllmer, es ist natürlich richtig, dass wir
eine Verantwortung für die Banken übernehmen. Es
wundert mich aber, dass Sie trotz Ihrer stattlichen Körpergröße nicht in der Lage sind, über den sozialdemokratischen Tellerrand hinauszublicken. Für ein Finanzunternehmen ist es doch von entscheidender Bedeutung,
Gewinne zu erwirtschaften; denn ein Gewinn bedeutet,
dass man Geld zurücklegen und damit die Eigenkapitalbasis stärken kann. Ein Gewinn bedeutet ferner, dass
man für Investoren attraktiv wird, wodurch die Eigenkapitalbasis ebenfalls gestärkt wird. All das bedeutet unter
dem Strich Krisenprävention.
({4})
Deswegen ist es wichtig, dass die Unternehmen der Finanzbranche in Deutschland weiterhin Gewinne machen
können.
Wenn die Banken Gewinne machen, dann sind sie
auch in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen, nämlich ihre Finanzierungsfunktion zu erfüllen und Unternehmen entsprechende Dienstleistungen anzubieten. Sie
müssen die Unternehmen, insbesondere den Mittelstand,
dabei unterstützen, globale Geschäfte zu tätigen. So können Arbeitsplätze in der Realwirtschaft gesichert werden. Die Erfüllung dieser Aufgaben müssen wir von den
Banken letzten Endes fordern.
Dieses gemeinsame Ziel hat die Koalition mit dem
Bankenrestrukturierungsgesetz und mit der vorliegenden
Verordnung erreicht. Die Verordnung ist sinnvoll. Sie
können deswegen der Beschlussempfehlung des Ausschusses getrost zustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Jetzt spricht für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Axel Troost. Bitte schön, Kollege Axel Troost.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
lehnen die Verordnung ab, da sie keine ausreichenden
Mittel für die Abwicklung systemrelevanter Banken bereitstellt und schon das zugrunde liegende Bankenrestrukturierungsgesetz praxisuntauglich war.
({0})
Mit ihrer Versicherungslösung will die Bundesregierung den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. Die logische Antwort auf die Krise wäre aus unserer Sicht doch
gewesen, erstens die Finanzbranche für die Kosten der
jüngsten Krise zahlen zu lassen, zweitens zugleich die
Systemrelevanz einzelner Banken ganz aufzuheben oder
zumindest deutlich zu verringern und erst dann drittens
über eine Versicherungslösung für Restrisiken nachzudenken.
({1})
Die vorgelegte Verordnung kann dagegen nur die Basis
für einen unzulänglich ausgestatteten Krisenfonds legen.
Zu allem Ärger wird dieser noch nicht einmal risikogerecht finanziert.
Die Zielgröße des Restrukturierungsfonds liegt bei
70 Milliarden Euro. Wir haben es schon gehört: Bei Einzahlungen in Höhe von 1 Milliarde Euro pro Jahr wäre
der Fonds frühestens kurz vor Ende des Jahrhunderts gefüllt. Der Fonds ist also auf absehbare Zeit nicht voll.
Selbst dann wäre die angesammelte Summe zu gering,
um eine systemrelevante Bank aufzufangen. Letzteres
räumt sogar die Bundesregierung ein.
Gleichzeitig sträubt sich die Bundesregierung hartnäckig, Vorschläge für eine Schrumpfung oder Aufspaltung von Banken zu machen. Letztlich werden die Kosten der nächsten Krise wieder bei den Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern hängen bleiben.
({2})
Das Verursacherprinzip wird auch branchenintern verletzt: Sparkassen und Genossenschaftsbanken werden
mit der Verordnung in einen Haftungsverbund gezwungen, von dem sie wegen ihrer Institutssicherung nicht
wirklich profitieren. Das ist wie eine verbindliche kollektive Brandschutzversicherung, in die auch Iglubewohner
einzahlen müssen.
({3})
Zudem verfehlt die Bankenabgabe auch ihre Lenkungswirkung. Kurzfristige spekulative Aktivitäten, die
sich nicht über den Bilanzstichtag erstrecken, werden
nicht erfasst. Langfristige Absicherungsgeschäfte werden
dagegen mit Sicherheit erfasst. Eine Lenkungswirkung
zugunsten realwirtschaftlich geerdeter Bankgeschäfte
sieht doch ganz anders aus.
({4})
Darüber hinaus ist die Progression der Beitragssätze
viel zu gering, um die Vorteile aufzuwiegen, die aus der
günstigeren Refinanzierung systemrelevanter Banken erwachsen. Überhaupt sind wir gespannt, zu erfahren, wie
letztendlich dieses Fondsvermögen angelegt werden soll,
damit es im Falle einer Finanzkrise ohne erhebliche Wertverluste abgerufen werden kann. Es müssen immerhin
70 Milliarden Euro irgendwo angelegt werden.
Der Internationale Währungsfonds schreibt völlig zu
Recht - ich zitiere -:
Das Finanzsystem ist immer noch krisenanfällig,
aber die Finanzinstitute sind noch größer und komplexer geworden.
Auch in Deutschland ist die Anzahl der Kreditinstitute seit Jahren rückläufig. Die Größe der Institute nimmt
dagegen zu. Mit der Finanzkrise hat sich die Konzentration im Bankenwesen durch zahlreiche Übernahmen
noch einmal sprunghaft erhöht.
Die Lehre aus der Vergangenheit ist, dass man umfallende Großbanken nicht durch ein Insolvenzregime retten kann, ohne dabei erhebliche Kollateralschäden in
Kauf zu nehmen. Die logische Konsequenz daraus ist,
stattdessen große Banken zu schrumpfen, entweder auf
direktem oder auf indirektem Weg. Das heißt, das Restrukturierungsgesetz und die dazugehörende Verordnung sind aus unserer Sicht überhaupt kein geeignetes
Mittel, und alle hierzu gemachten Vorschläge der Bundesregierung greifen viel zu kurz.
({5})
Wir lehnen deshalb die vorgelegte Verordnung als
völlig unzureichend ab. Die Linke ist aber gerne bereit,
an entsprechenden Schritten zur Lösung der wirklichen
Probleme mitzuarbeiten.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Axel Troost. - Jetzt hat für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Gerhard Schick das Wort. Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben hier vor einigen Monaten das Restrukturierungsgesetz diskutiert. In diesem Rahmen ist die Grundlage
dafür geschaffen worden, dass der Bundestag jetzt ausnahmsweise über eine Verordnung diskutieren kann. Es
geht jetzt nur noch um die Ausgestaltung der Bankenabgabe, die den Fonds füllen soll, mit dem Banken gerettet
werden sollen.
Die Grundproblematik, dass es irgendwie nicht stimmig ist, wer einbezogen ist und wer nicht, haben wir damals thematisiert. Was man aber heute noch ändern
könnte, sind die Höhe des Aufkommens und die Lenkungswirkung, die von der Bankenabgabe ausgeht.
Deswegen haben wir Änderungsvorschläge gemacht.
Sie von der Koalition haben die Vorschläge abgelehnt,
durch die genau diese zwei Defizite geheilt werden
könnten. Das Defizit „zu gering“ ließe sich dadurch heilen, dass man die Zumutbarkeitsgrenze anhebt, sich also
fragt, wie viel von dem Gewinn eine Bank insgesamt abgeben muss. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass Sie in
Sorge sind, dass trotz der inzwischen teilweise schon
wieder erreichten Milliardengewinne hier eine zu große
Belastung entsteht. Wir teilen das nicht. Wir glauben,
dass es notwendig ist, diese Grenze anzuheben, um das
Aufkommen zu erhöhen. Nach den Berechnungen der
Bundesregierung wären das bei unserem Vorschlag bis
zu 20 Prozent. Das würde die Frist verkürzen, die wir
brauchen, um diesen Fonds wirklich einsatzfähig zu machen.
({0})
Das Zweite ist: Wir wissen, dass das zentrale Problem
die besonders großen Banken sind. Am Anfang hieß es
noch, alle Banken könnten mit diesem Restrukturierungsgesetz gerettet werden. Inzwischen geben auch Sie
zu, dass das bei den großen Banken nicht funktioniert.
Deswegen wollen wir hier einen Schritt in die Richtung
machen, dass wir eine Größenbremse für besonders
große Banken schaffen. Wir wollen, dass große Banken
überproportional belastet werden; denn sie stellen aufgrund der Systemrelevanz besonders große Risiken dar.
Wir schlagen vor, die Abgabe progressiv ansteigen zu
lassen, damit besonders große Banken stärker belastet
sind. Das tun Sie nur bis zu einem geringen Maße, nämlich bis zu der 100-Milliarden-Schwelle. Wir wollen das
weiter anheben. Dadurch steigern wir das Aufkommen
und bremsen die Größenentwicklung bei Banken, weil
große Banken dann teurer sind.
({1})
Der dritte Punkt bei der Steuerung ist die Frage: Wie
gehen wir mit den Derivaten um? Wir haben im Ausschuss extra erfragt, wie hoch deren Anteil bei der Bemessungsgrundlage ist. Es gibt zwei Bemessungsgrundlagen. Die eine ist im Grunde genommen die Größe der
Bilanz, und die andere ist die Menge der Derivate. Der
Satz auf Derivate führt nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank für die letzten Jahre dazu, dass im
Durchschnitt nur etwa 6 Prozent des Aufkommens auf
den Derivatebereich entfallen. Wir wissen aber, dass bei
der Abwicklung gerade Derivate eine besondere Schwierigkeit darstellen. Wir wissen, dass es da zu Konstruktionen kommt, die die Finanzmärkte in Schwierigkeiten
bringen. Deswegen sagen wir: Wir müssen den Satz auf
die Derivatepositionen deutlich anheben.
Dazu nur ein Beispiel: Bei der WestLB beläuft sich
das Derivatevolumen insgesamt auf 2 300 Milliarden
Euro. Das führt nach Ihrer Berechnung jetzt lediglich zu
einem Beitrag zur Bankenabgabe in Höhe von 3,4 Millionen Euro. Das halten wir für zu gering.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt
eingehen, damit ganz klar wird, welche Frage nach dieser Verordnung noch offen ist.
Am Anfang hieß es: Die Bankenabgabe dient dazu,
dass die Banken für die Kosten der jetzigen Finanzkrise
zahlen. Diese Bankenabgabe leistet das nicht. Sie füllt
einen Fonds für die Zukunft. Deswegen ist die Frage,
wer die Kosten dieser Krise trägt, nach wie vor offen.
Auf diese Frage muss die Bundesregierung noch eine
klare Antwort geben. Denn wir haben die Befürchtung,
dass es sonst die kleinen Leute in diesem Land trifft, die
schon in Form von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder
Verlusten bei ihren Geldanlagen schwer an dieser Krise
zu tragen hatten. Deshalb darf das nicht passieren.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Frage von Herrn Schick, wer die Kosten der
vergangenen Krise trägt: Am besten ist es natürlich,
wenn es so abläuft wie jetzt mit der Commerzbank,
wenn also das Geld, das der Staat eingelegt hat, wieder
zurückgezahlt wird. Das hat geklappt, und das muss man
an dieser Stelle auch einmal anerkennen.
({0})
Ich bin sehr dankbar für den Hinweis, dass wir heute
über die Verordnung reden und nicht über das Gesetz.
Die eine oder andere Diskussion hätten wir uns dann
sparen können. Die hätten wir vor einem halben Jahr
führen müssen oder können, aber nicht an dieser Stelle.
Jetzt geht es einzig und allein um das Feintuning, wie die
Bankenabgabe tatsächlich erhoben und wie das Ganze
ausgesteuert wird.
Herr Kollege, geben Sie dem Kollegen Dr. Schick die
Chance, eine Zwischenfrage zu stellen?
Ich gebe dem Kollegen Dr. Schick gerne eine Chance.
Dann wird er sie ergreifen. - Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Herr Brinkhaus, Sie haben in der Vorbemerkung kurz
gesagt, dass alles Geld zurückgezahlt worden sei. Wir
sind beide Ökonomen und wissen, dass man bei der
Commerzbank genau rechnen und genau hinschauen
muss. Ich möchte Sie bitten, mir folgende Frage zu beantworten: Sind die Zinsen, die auch auf Korrektur der
EU-Kommission festgelegt worden sind, für die Jahre
2009 und 2010 in voller Höhe gezahlt worden, oder sind
sie nicht gezahlt worden, und hat es dadurch eine Wettbewerbsverzerrung gegeben zulasten derjenigen Banken
und Institute, die sich am Markt finanzieren müssen,
oder nicht?
Meine Position dazu ist klar, weil man das errechnen
kann: Die Zinsen sind nicht in voller Höhe gezahlt worden, und dadurch hat es eine Wettbewerbsverzerrung gegeben. Deswegen ist es nicht aufrichtig, zu sagen, aus
dieser Lage sei der Steuerzahler so herausgekommen,
wie es sich gehört.
Herr Kollege Schick, Sie wissen auch, dass im Falle
der Commerzbank Folgendes passiert ist: Das Geld, das
nominal eingelegt worden ist, wird jetzt hoffentlich zu
einem großen Teil zurückgezahlt. Es wird eine Sonderzahlung geleistet, die zumindest die Refinanzierungskosten des Steuerzahlers aller Voraussicht nach abdecken wird. Insofern entsteht dem Steuerzahler in dieser
Sache unmittelbar kein Schaden. Es handelt sich eher
um ein erfreuliches Beispiel.
Zu der Tatsache, dass die 9-prozentige Verzinsung in
den Krisenjahren nicht geleistet worden ist: Das Ganze
ist damals aus gutem Grund so angelegt worden, um der
Commerzbank die Chance zu geben, überhaupt wieder
auf den richtigen Weg zu kommen. Im Übrigen partizipieren wir an diesem Erfolg der Commerzbank, weil wir
noch ein nicht unbeträchtliches Aktienpaket halten. Es
hätte sicherlich besser laufen können; aber so, wie es gelaufen ist, ist es gut, zumindest besser als bei der Hypo
Real Estate oder bei anderen Geldinstituten.
({0})
Zurück zu meiner Rede. Im Allgemeinen ist kritisiert
worden, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz an
Grenzen stößt. Das wissen wir. Wir haben das genau diskutiert. Wir wissen, dass wir international tätige Banken
mit diesem Restrukturierungspaket nicht stützen können.
Deswegen finden wir es sehr spannend, dass ein europäischer Krisenmechanismus entsteht. Wir werden diese
Diskussion begleiten. Der europäische Krisenmechanismus ist eine logische Fortsetzung des Bankenrestrukturierungspakets.
({1})
Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, dass eine Megakrise natürlich nicht durch dieses Restrukturierungspaket abgedeckt werden kann. Zusammen mit Ihrem damaligen Finanzminister haben wir
ein Paket von 500 Milliarden Euro aufgelegt. Das werden wir nie füllen können. Deswegen wissen wir zu genau, dass die ganze Sache begrenzt ist. Das haben wir
auch immer kommuniziert.
Nun im Einzelnen zu der Kritik, die Sie vorgebracht
haben. Die Kritik der Linken ist besonders einfach zu
widerlegen. Ich greife nur einen Punkt heraus: Die Tatsache, dass Sie kritisieren, dass Sparkassen und Volksbanken einbezogen werden sollen, obwohl sie nicht gerettet werden können, offenbart das grundlegende
Unverständnis der Linken bei diesem gesamten Gesetzgebungspaket. Es geht nicht darum, eine einzelne Bank
zu retten, sondern darum, ein System zu retten, und die
Rettung des Systems nutzt auch den Sparkassen und
Volksbanken. Um bei Ihrer Argumentation zu bleiben:
Wenn Sie die Sparkassen und Volksbanken in diesem
Zusammenhang erwähnen, müssten Sie auch die kleinen
Privatbanken nennen. Aufgrund Ihres gespaltenen Verhältnisses zum Privateigentum ist das aber natürlich
nicht möglich.
({2})
Als Lösungsansätze haben Sie im Grunde doch nur die
Zerschlagung und die Enteignung vorgebracht.
({3})
Die eine oder andere Fraktion in diesem Haus sollte sich
einmal überlegen, ob die Linke, die in dieser Marktwirtschaft so mit dem Eigentum umgehen will, ein geeigneter Koalitionspartner ist.
({4})
Jetzt will ich auf die Kritikpunkte eingehen, die von
den Rednern der Grünen und der SPD vorgebracht worden sind. Da wurde gesagt, dass die Bankenabgabe nicht
hoch genug ist. Ich denke, diese Kritik sollte man ernst
nehmen. Man sollte aber auch dies ernst nehmen: Wenn
Sie bis zu 25 Prozent des Gewinns einkassieren wollen,
zuzüglich einer 30-prozentigen Ertragsteuer - die Bankenabgabe ist nicht als Betriebsausgabe steuerlich absetzbar -, dann werden 55 Prozent des Gewinns abgeschöpft.
({5})
Das kann man gut finden - das ist überhaupt keine Frage -;
aber wenn man das gut findet, dann muss man auch sagen, wie das gehen soll. Die Banken sollen im Normaljahr 1,2 Milliarden Euro Bankenabgabe zahlen. Außerdem sollen sie 2 Milliarden Euro zum Sparpaket
beitragen. Darüber hinaus sollen sie gemäß Basel III die
Eigenkapitalquote erhöhen, was circa 50 bis 100 Milliarden Euro kosten wird, und sie sollen die Wirtschaft, die
dank der guten Politik der Bundesregierung floriert, mit
Kapital und Krediten versorgen. An dieser Stelle muss
ich einen alten westfälischen Spruch anbringen: Die
Kuh, die man melkt, kann man nicht gleichzeitig
schlachten.
({6})
Ich glaube, diese Zwischenfrage lassen wir jetzt einmal aus.
({0})
Vor diesem Hintergrund könnte man eigentlich sagen,
dass Ihre Kritik ins Leere läuft. Das sage ich aber bewusst nicht. Wir machen uns genauso wie Sie Sorgen
und fragen uns, wie hoch das Aufkommen aus dieser
Bankenabgabe am Ende des Tages sein wird. Wir bewegen uns auf unsicherem Terrain. Die Referenzgröße war
das Jahr 2006. Im Jahr 2006 hätten wir rund 1,3 Milliarden Euro zusammenbekommen. Das Jahr 2006 war aber
vor der Krise. 2006 hatten wir eine komplett andere Bankenlandschaft. Im Jahr 2006 hatten wir im Übrigen - das
wird uns auch noch treffen - noch kein Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Insofern ist unklar, in welcher Höhe
die Bankenabgabe in den nächsten Jahren gezahlt werden wird.
({1})
Wir werden in den nächsten Jahren zusammen mit Ihnen genau beobachten, wie hoch die Beiträge sind. Wir
haben das übrigens durch eine Verordnung geregelt, weil
die leichter zu ändern ist. Wir werden genau beobachten,
ob diese Bankenabgabe krisenverschärfend wirkt oder
nicht. Wir werden auch genau beobachten, wie es mit
der Nacherhebungsfrist aussieht. Ich denke, das ist gut
und richtig.
An dieser Stelle kann ich nur den Kollegen Sänger
von der FDP zitieren.
({2})
Wir hatten zwei Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit
war, jahrelang sogenannte Auswirkungsstudien durchzuführen, wie das bei Basel II und Basel III der Fall gewesen ist. Die andere Möglichkeit war, einfach anzufangen.
Wenn das erwartete Aufkommen nicht erzielt wird, werden wir nachjustieren. Ich denke, das ist der bessere
Weg.
Deswegen ist die Kenntnisnahme richtig. Es ist richtig, dass der Bundesrat jetzt Gelegenheit bekommt, dazu
Stellung zu nehmen. Da ich weiß, dass der Bundesrat genauso wie wir daran interessiert ist, dass noch in diesem
Jahr die ersten Zahlungen geleistet werden, gehe ich davon aus, dass der Bundesrat zügig einen guten Beschluss
fassen wird.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:
Die christlich-liberale Koalition hat mit diesem Bankenrestrukturierungspaket einen Mechanismus entwickelt
- wir sind die erste Nation auf der Welt, die das gemacht
hat, vielleicht zusammen mit den Briten -, mit dem man
strategisch wichtige Banken abwickeln kann, ohne dass
das ganze System zusammenfällt.
({3})
Sie können das kritisieren und sagen, dass man das an
der einen oder anderen Stelle hätte besser machen können, und Sie können auch die eine oder andere zusätzliche Idee vortragen. Aber Sie sollten bitte anerkennen,
dass wir uns vorangewagt haben, dass wir den ersten
Schritt gewagt haben,
({4})
und eingestehen, dass das am Ende des Tages dazu führen wird, dass sich der Mechanismus, den wir auf europäischer Ebene erarbeiten werden, an den deutschen
Prinzipien orientieren wird. Das ist gut, das ist richtig,
das ist beispielhaft, und das sollte man auch zu dieser
späten Stunde an dieser Stelle einmal sagen.
Danke schön.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu der Verordnung der Bundesregierung
über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/5401
und 17/5405, die Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 17/4977 - dort hieß es zunächst „einvernehmlich“; das wird jetzt in Klammern gesetzt - zur
Kenntnis zu nehmen und keine Änderungen vorzunehmen. Jetzt lasse ich - das ist mit den Geschäftsführern so
vereinbart - über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimaschutz in der Stadt
- Drucksache 17/5368 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erste Rednerin ist Frau Kollegin Bettina Herlitzius
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön,
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, danke schön. - Meine Damen und
Herren! Nach dem großen Thema „Finanzkrise“ könnte
man meinen, dass wir jetzt zu einem ganz kleinen
Thema kommen, dass es bei „Klimaschutz in der Stadt“
vielleicht um ein paar Büsche, ein paar Bäume und um
Fassadenbegrünung, also Lieblingsthemen der Grünen,
geht. Ich muss Sie leider enttäuschen. Klimaschutz in
der Stadt ist ein Problem, das jetzt noch ganz klein ist,
das aber in 10, 20, 30 Jahren zu einem immensen Problem für unsere Städte und Kommunen werden wird.
50 Prozent der Bevölkerung leben aktuell in urbanen
Räumen. 2050 werden es fast 80 Prozent sein. Der
Drang in die Großstädte, in die urbanen Zentren wird
immer größer. Das hat viele Gründe, zum Beispiel das
intensivere soziale und kulturelle Leben und die Verwirklichung von eigenen Lebensträumen. Aber auch die
Arbeitssituation zwingt Menschen vermehrt in die
Städte.
Unsere Städte sind die größten Energieschleudern.
Sie verursachen fast 75 Prozent der jährlichen Emissionen von Öl, Gas und Kohle. Sie sind der Hauptverursacher des Klimawandels. Aber unsere Städte sind auch
die ersten Opfer des Klimawandels. Steigende Meeresspiegel und große Hitze im Sommer werden zu großen
Katastrophen führen und haben das zum Teil auch schon
getan. Nehmen wir Frankfurt als Beispiel. Im
Sommerhalbjahr 2050 - das ist im Moment noch weit
weg, aber für unsere nachfolgende Generation sehr nah wird die Temperatur an durchschnittlich jedem dritten
Tag über 25 Grad Celsius betragen. Was das bedeutet,
können Sie sich gut vorstellen.
({0})
Da reicht es nicht aus, ein paar Alleebäume zu pflanzen.
Wir müssen unsere Städte grundsätzlich umbauen, um
diesen Herausforderungen gerecht zu werden.
({1})
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Politiker, den
wir alle gut kennen, zitieren:
Der Klimawandel wird sich zunehmend auf das
Bauwesen und die dazugehörige Infrastruktur auswirken. Die Städte müssen sich deshalb frühzeitig
auf klimatische Veränderungen vorbereiten und die
nun vorliegenden Erkenntnisse nutzen. Frischluftschneisen sowie innerstädtische Grünflächen als
Ausgleichs- und Entlastungsflächen werden immer
wichtiger.
Haben Sie eine Idee, wer dies gesagt hat? Unser Bauminister Ramsauer hat das Anfang dieses Jahres bei der
Vorstellung einer Studie gesagt.
({2})
Jetzt könnte man meinen, dass er das Problem erkannt
hat. Aus seinen Aussagen könnte man diesen Schluss
ziehen. Aber wo ist das Handeln? Das Handeln fehlt.
Hier zeigen sich die großen Defizite dieser Regierung.
Nach den Kürzungsorgien des letzten Jahres bei den
Mitteln für die Städtebauförderung und für die KfW-Förderung sieht es im diesjährigen Haushaltsentwurf nicht
besser aus. Auch jetzt will die Bundesregierung das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW wieder auf
fast null setzen, und das, obwohl die Internetseite des
Ministeriums nur so strotzt vor guten Tipps, wie man
energetisch saniert, und vor allen Dingen vor Hinweisen,
wie wichtig die energetische Sanierung ist.
Dasselbe passiert im Bereich der Städtebauförderung.
Die Mittel werden halbiert. Hier muss ich mich besonders an den Parlamentarischen Staatssekretär Mücke
wenden, der die Dreistigkeit hat, die Opposition an dieser Stelle aufzufordern: Jetzt kümmert euch doch einmal
darum, jetzt bemüht euch doch einmal, damit wir diese
Mittel wieder erhöhen können.
({3})
Wer ist hier Regierung, und wer ist hier Opposition?
({4})
Wir verdanken Herrn Mücke eine weitere Täuschung.
Auch das Programm „Energetische Städtebausanierung“, das jetzt ganz neu über die KfW initiiert wird,
verheißt viel Gutes; schließlich geht es um energetische
Städtebausanierung. Aber wo ist die Finanzierung? Auf
der einen Seite soll die Finanzierung über die KfW bzw.
den neuen Klima- und Energiefonds der Regierung erfolgen. Auf der anderen Seite hören wir vom Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Mücke, dass er für die
energetische Gebäudesanierung kein Geld mehr hat. Wir
wissen nicht, wie es mit der Brennelementesteuer weitergeht. Sie initiieren hier also ein Programm, ohne zu
wissen, wie Sie es finanzieren wollen.
({5})
Das heißt, das ganze Programm ist eine riesige Luftnummer.
Mit unserem Antrag „Klimaschutz in der Stadt“ wollen wir auf die wichtigen Voraussetzungen aufmerksam
machen, die wir unbedingt erfüllen müssen, um unsere
Städte im Hinblick auf den Klimawandel richtig aufzustellen. Wir brauchen eine bessere Verankerung des Klimaschutzes im Baurecht. Wir müssen die Förderung
kontinuierlich, vor allen Dingen verlässlich und auch für
die Kommunen berechenbar aufbauen. Es darf kein ständiges Auf und Ab geben, wie es im Moment der Fall ist.
({6})
- Wenn Sie sich für unsere Vorschläge interessieren,
müssen Sie nur unseren Antrag lesen, Herr Kollege. In
unserem Antrag steht dazu ganz viel.
({7})
Die energetische Städtebausanierung muss weiter
ausgebaut werden, aber nicht mit solchen Luftnummern,
wie Sie sie im Moment produzieren.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon lange abgelaufen.
Danke schön, Herr Solms. Ich dachte, Sie hätten es
nicht gemerkt.
({0})
Außerdem müssen wir uns stärker mit dem Flächenverbrauch und der Qualifizierung der am Bau Beteiligten
beschäftigen. Ich fordere Sie auf: Lesen Sie unseren Antrag! Dort finden Sie viele Tipps. Sie dürfen auch abschreiben. Wir nehmen es Ihnen nicht übel. Vielleicht
können Sie in unserem Antrag Argumente finden, um
die Regierung zu überzeugen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Peter Götz von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Klimaschutz
in der Stadt“ ist ein wichtiges Zukunftsthema. Darüber
sind wir uns in diesem Haus, wie ich denke, alle einig.
Deshalb wollen wir den Klimaschutz, liebe Frau Kollegin Herlitzius, bei der anstehenden Novellierung des
Baugesetzbuches im Bau- und Planungsrecht verankern;
genauso ist es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben.
({0})
In unseren Städten und Gemeinden wird bereits heute
viel für einen besseren Klimaschutz getan. Dafür sage
ich ein herzliches Dankeschön an alle kommunalpolitisch Verantwortlichen vor Ort.
({1})
Ohne konkretes Handeln vor Ort sind unsere hochgesteckten Klimaziele nicht erreichbar. Mit dem neuen
Förderprogramm der Bundesregierung mit dem Titel
„Energetische Städtebausanierung“, das Sie angesprochen haben, werden gerade im Stadtquartier umfassende
Maßnahmen bezüglich der Energieeffizienz der Gebäude, aber auch der Infrastruktur angestoßen. Inzwischen liegen die Eckpunkte dieses KfW-Förderprogramms des Bundes vor.
({2})
Entgegen der sonst üblichen Programme zur Städtebauförderung - da gibt es einen Unterschied; das ist richtig -,
({3})
bei denen sich Bund, Länder und Kommunen die Fördermittel teilen müssen, finanziert der Bund das Programm „Energetische Städtebausanierung“ zu
100 Prozent, also allein.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat ferner - auch
dies sei gesagt - zu Beginn dieses Monats mit Geldern
des Bundes ein neues Förderangebot hinsichtlich einer
günstigen Finanzierung energieeffizienter kommunaler
Beleuchtungen gestartet. Energiesparende Straßenbeleuchtung verbessert auch den Klimaschutz in der Stadt
ganz konkret und vor allen Dingen schnell.
({4})
Viele Kommunen beschreiten diesen Weg schon heute.
Sie profitieren davon durch geringere Energiekosten
ganz erheblich.
Um zum Antrag der Grünen, der zur Debatte steht
und den wir lesen sollten, zu kommen - ich habe ihn gelesen -: In diesem Antrag wimmelt es geradezu von Forderungen nach neuen Vorschriften, Regulierungen und
neuen Statistiken.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten zurückhaltender sein, wenn es darum geht, zu sehr in die Planungshoheit der Kommunen einzugreifen.
({6})
Unnötige bürokratische Zwänge nehmen den Kommunen die Möglichkeit, lokal angepasste, bestmögliche Lösungen vor Ort zu finden. Die engagierten Akteure vor
Ort benötigen flexible Instrumente und keine Zwangsbeglückung.
({7})
Wenn wir wollen, dass Deutschland, wie der Bauminister formulierte, zum Weltmeister im Energiesparen wird,
ist es wichtig, unnötige Gängelei zu vermeiden.
({8})
Freiwilligkeit und finanzielle Anreize sind allemal besser als irgendwelche Zwänge. Das gilt für die Bürger, für
die Kommunen, für die Wirtschaft - egal ob für Eigenheimbesitzer, für Mieter oder für Vermieter. Wir brauchen vor Ort nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Energieeffizienz.
Durch das Konjunkturpaket II wurde die energetische
Sanierung kommunaler Gebäude - von Schulen und
Kindergärten - mit all den vielen positiven Auswirkungen auch für die Städte, Kreise und Gemeinden angestoßen. Auch das war übrigens ein wichtiger Beitrag für
den Klimaschutz.
Außerdem haben wir das von Ihnen kritisierte CO2Gebäudesanierungsprogramm mit inzwischen über
7 Milliarden Euro angesetzt.
({9})
- Die 7 Milliarden Euro sind ausgegeben und haben Investitionen in einer Größenordnung von 78 Milliarden
Euro ausgelöst.
({10})
Neben diesen konjunkturellen Effekten für das heimische Handwerk und für die Mieter, aber auch für die Vermieter haben wir erreicht, dass dadurch der CO2-Ausstoß alljährlich um 4,7 Millionen Tonnen reduziert
worden ist.
({11})
Ich frage Sie von den Grünen: Warum nehmen Sie das
nicht einfach einmal zur Kenntnis?
({12})
Wir alle wissen - Sie vielleicht nicht oder vielleicht
auch doch, ich weiß es nicht -, dass die öffentlichen Mittel knapp sind und dass auch der Bundeshaushalt Sparzwängen unterliegt. Trotzdem sage ich an dieser Stelle
klar und deutlich, dass dieses erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter ausgebaut werden muss,
wenn wir die großen Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich aktivieren wollen.
Herr Kollege Götz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Herlitzius?
Ich erlaube, Herr Präsident.
Bitte schön, Frau Herlitzius.
({0})
Sie will halt noch einmal sprechen.
Herr Kollege Götz, nur eine Zwischenfrage.
({0})
Herr Ramsauer hat in seinem jetzigen Haushalt eine
Haushaltserleichterung. Er hat dadurch knapp
700 Millionen Euro mehr für den Haushalt 2012 zur Verfügung. Warum steckt er diese Mittel in den Straßenbau
und nicht in Programme für die energetische Sanierung
oder für den Städtebau?
Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie jetzt den Haushalt 2011 meinen. Oder reden Sie vom Haushalt 2012?
({0})
- Sie reden jetzt vom Jahr 2012. - Die Beratungen für
den Haushaltsplan 2012 beginnen erfahrungsgemäß im
Laufe des Sommers. Das Kabinett trifft seine Entscheidung in der Regel kurz vor der Sommerpause. Die parlamentarischen Beratungen für den Haushalt 2012 beginnen im September. Sie werden im November dieses
Jahres abgeschlossen, und wenn ich richtig informiert
bin, haben wir jetzt gerade April.
Was vorgelegt worden ist, ist ein Eckpunktekatalog,
und ein Eckpunktekatalog ist für mich kein Haushaltsplan.
({1}):
Sie kürzen beim Straßenbau!)
Deshalb habe ich gerade eben gesagt: Wir müssen,
um die Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich zu
nutzen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter
ausbauen.
({2})
Das war eine klare, deutliche Ansage. Da ist null zu wenig, um die Frage konkret zu beantworten.
({3})
Ich nenne einen weiteren Punkt: Wir sollten außerdem zur Motivation der Gebäudeeigentümer auch
verstärkt die steuerlichen Aspekte von energetischen
Sanierungsmaßnahmen einbeziehen. Klimaschutz und
Energieeffizienz waren uns in der Vergangenheit wichtig
und sind heute wichtig. Sie werden auch bei der Weiterentwicklung des Energiekonzepts eine ganz bedeutende
Rolle spielen.
Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, diese klimapolitischen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die
kommende Novellierung des Baugesetzbuches und die
Novellierung des Bau- und Planungsrechts bieten dazu
ausgezeichnete Möglichkeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
merke schon, dass die Stimmung noch gut ist. Es ist ein
wirklich wichtiges Thema, das die Grünen heute auf die
Tagesordnung gebracht haben. Klimaschutz ist eine der
großen Herausforderungen für die Städte. Zusammen
mit dem demografischen und wirtschaftlichen Wandel
und den wachsenden sozialen Differenzen in und zwischen Städten ist Klimaschutz eine zentrale Aufgabe
nachhaltiger Stadtentwicklungspolitik.
({0})
Gemeinsam mit den Ländern und mit den Städten und
Gemeinden trägt der Bund Verantwortung für die umwelt- und klimafreundliche sowie sozialintegrierende
Entwicklung von Städten und Gemeinden, eine Verantwortung, der diese Bundesregierung, allen voran das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, leider in keiner Weise gerecht wird.
({1})
Für Oktober lädt das Ministerium zum 5. Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik ein. In der
Einladung heißt es so schön:
2011 ist das Jahr, in dem die Städtebauförderung,
ein wichtiger Baustein der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, 40 Jahre alt wird. Die Leistungen
dieser Programme … werden deswegen … besonders gewürdigt und ein Ausblick in die Zukunft der
Städtebauförderung gegeben.
Auf diesen Ausblick bin ich gespannt, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, nachdem Sie die
Mittel für die Städtebauförderung im Haushalt zusammengestrichen haben.
({2})
Wir hören: Es soll weitere drastische Kürzungen im
nächsten Haushalt geben. Kollege Götz, so einfach, wie
Sie das gerade gemacht haben, können Sie sich nicht herausreden, weil die Eckwerte immerhin vom Kabinett
beschlossen worden sind.
({3})
- Ja, das ist natürlich richtig. Wir haben das gehört und
nehmen das zur Kenntnis.
({4})
- Das ist wirklich das Neueste. Ich danke den Kollegen
für die Zwischenrufe.
Mit einer Städtebauförderung, für die 2012 gemäß
den Eckwerten nur noch 266 Millionen Euro zur Verfügung stehen könnten,
({5})
ist der notwendige ökologische Stadtumbau und die zugleich notwendige soziale Integration in den Städten und
Gemeinden nicht zu leisten.
({6})
Laut Ihrem eigenen sogenannten Energiekonzept will
die Bundesregierung die Quote für energetische Gebäudesanierung verdoppeln. Gleichzeitig streichen Sie aber
die Mittel für die KfW-Programme zusammen - übrigens auch schon in dem von Ihnen beschlossenen letzten
Haushalt. Nun hören wir, dass in den kommenden Haushalt überhaupt kein Geld mehr eingestellt werden soll,
sondern dass der Energie- und Klimafonds eine wichtige
Rolle bei der Finanzierung der Gebäudesanierung spielen soll.
({7})
Dass das eine sichere Finanzierung ist, haben im Oktober schon die Experten bezweifelt.
({8})
Inzwischen glaubt das doch selbst Ihr eigener Minister
nicht mehr.
({9})
Peter Ramsauer schreibt in dem Liebe-Freunde-Brief
- ich muss jetzt einmal zitieren -: Wie sich angesichts
der neuen Sachlage diese Fondszuschüsse tatsächlich
entwickeln, ist angesichts der aktuellen Situation kaum
absehbar. Zudem sind in dem Sondervermögen ausschließlich Mittel für Zinsverbilligungen eingestellt, sodass ab 2012 keine investiven Zuschüsse mehr vergeben
werden könnten.
({10})
Dies würde insbesondere die Häuslebauer treffen. - Das
ist ein Originalzitat des Briefes von Bundesminister
Ramsauer. So verunsichert man doch Investoren und Eigentümer, liebe Koalition.
({11})
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der darf die
Energieeinsparpotenziale bei Gebäuden nicht so sträflich
vernachlässigen, wie diese Regierung das tut.
({12})
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss
die Kraft-Wärme-Kopplung und quartiersbezogene Lösungen der Energie- und Wärmeversorgung in nennenswertem Umfang fördern. Sie und wir alle sollten die Novelle zum Baugesetzbuch nutzen, um den Kommunen
klimaschützende Maßnahmen zu erleichtern.
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss
die Energieeffizienz deutlich erhöhen. Wenn Sie es nur
wollten, dann könnten Sie die Energieeffizienz bis 2020
verdoppeln. Unser Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch.
Wir wollen einen Energieeffizienzfonds schaffen, der es
zum Beispiel Haushalten mit einem geringen Einkommen ermöglicht, alte, stromschluckende Geräte durch
neue, energiesparende zu ersetzen.
({13})
Wer es ernst meint mit der Energiewende, Kollege
Döring, der muss die Energieversorgung in kommunaler
Hand stärken; denn es sind doch die Stadtwerke, die die
erneuerbaren Energien mit vorangebracht haben.
({14})
- Ja, das sagen die Richtigen. - Stattdessen hat die Regierung einen teuren und immer teurer werdenden Deal
mit den Stromkonzernen gemacht, durch den diese Bemühungen ausgebremst werden. Geben Sie den Stadtwerken doch Planungssicherheit für ihre Investitionen in
erneuerbare Energien und faire Wettbewerbsbedingungen.
({15})
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss
aber auch eine umwelt- und klimaverträgliche Mobilität
fördern. Ein Finanzierungskreislauf Straße dient dem gewiss nicht. Wir brauchen eine konsequente Förderung
von öffentlichem Nahverkehr, Fahrradfahren, Zu-FußGehen, innovative Formen der Automobilität und deren
intelligente Verknüpfung.
({16})
Wir brauchen an dieser Stelle doch einen Masterplan
Personenverkehr!
Dass eine solche umwelt- und klimafreundliche Verkehrspolitik in Peter Ramsauer keinen Fürsprecher hat,
zeigt sich doch anhand von zwei Beispielen:
Erstes Beispiel. Noch vor 2014 steht nicht nur die Revision der ehemaligen Gemeindeverkehrsfinanzierung,
sondern auch die Revision der Regionalisierungsmittel
an.
({17})
Bisher vermisse ich jegliche Aussage der Regierung
dazu, wie sie eine ausreichende Finanzierung kommunaler Verkehrsinvestitionen und des öffentlichen Nahverkehrs nach 2014 sichern wird.
({18})
Dem öffentlichen Nahverkehr fehlt nicht nur eine sichere finanzielle Basis, sondern auch ein sicherer
Rechtsrahmen. Nun endlich hat das Ministerium einen
Entwurf für die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz vorgelegt, der den Anforderungen hinsichtlich einer
rechtssicheren Umsetzung der Verordnung jedoch in keiner Weise genügt. Was noch schwerer wiegt: Die kommunale Verantwortung für die Daseinsversorgung wird
durch diesen Entwurf untergraben. Ich hoffe nur, dass
dieser Entwurf am Ende des Tages so nicht in das Gesetzblatt kommt.
({19})
Das zweite Beispiel ist mein Lieblingsbeispiel, weil
ich seit Jahren dafür kämpfe. Seit Jahr und Tag fordern
wir, den Kommunen die Einrichtung von CarsharingParkplätzen zu ermöglichen. So gut wie alle vom Städtetag bis zum ADAC sind dafür. Das war das eindeutige
Ergebnis der Anhörung im Verkehrsausschuss im Dezember. Bisher gibt es immer noch keine Initiative der
Regierungsfraktionen, um diese kleine, aber sehr wichtige ordnungspolitische Maßnahme auf dem Weg in die
Mobilität der Zukunft umzusetzen.
({20})
Wenn wir ehrgeizige Ziele wie die im EU-Verkehrsweißbuch geforderte völlige Abschaffung der mit konventionellem Kraftstoff betriebenen Pkws in Städten bis
2050 erreichen wollen,
({21})
brauchen wir einen breitangelegten Ideenwettbewerb für
städtische Mobilitätskonzepte. Ob Shared Space, wie es
im Grünenantrag steht, hier das beste Mittel der Wahl ist,
weiß ich nicht. Ich denke, es muss darum gehen, mit Beteiligung der Menschen vor Ort integrierte Konzepte für
Mobilität und Wohnen zu entwickeln. Aus der sozialen
Stadtentwicklung haben wir schon Erfahrungen mit der
Bewohnerbeteiligung und vor allen Dingen auch mit der
ressortübergreifenden Kooperation. Diese Erfahrungen
lassen sich übrigens auch gut für eine integrierte Verkehrs- und Stadtentwicklungsplanung nutzen.
Nicht nur das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“,
wie es die Grünen fordern, muss in die Köpfe und Programme Eingang finden, sondern auch eine fachübergreifend angelegte Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung, die möglichst wenig Verkehr produziert.
({22})
Die von uns begonnene Stärkung der Innenentwicklung
muss fortgesetzt werden. Voraussetzung ist der politische Wille, integriert zu denken, vor allen Dingen endlich auch wieder im Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ist eine lange Liste überwiegend bedenkenswerter Vorschläge. Ich würde mich dann aber auch freuen,
wenn Sie uns zu Ihren zahlreichen Spiegelstrichen wie
der Forderung nach einer Grundsteuerreform auch Umsetzungsvorschläge machen würden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Abend.
({23})
Das Wort hat die Kollegin Petra Müller von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
vorliegenden Antrag wird eine Reihe von Themenkreisen
aufgegriffen: Städtebauförderung, Energiesparfonds, Baunutzungsverordnung, Flächennutzungsplan. Es geht um
Nahwärmenetze, Frischluftschneisen und Wärmerückgewinnung, Radverkehrsbenutzungspflichten, Emissionswerte, Tempo 30 innerorts, City-Maut, Weiterbildung
von Bauleuten und Studiencurricula für Architekten und
Bauingenieure.
({0})
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist kein
Antrag, sondern ein Forderungskatalog. Es ist ein Forderungskatalog ohne Konzept, völlig überfrachtet und
ohne jedes Maß. Es ist eine Zumutung für die Kommunen.
({1})
- Das stimmt, nicht?
Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge greifen Sie entweder Einzelaspekte aus dem Baugesetzbuch heraus - ich
erinnere nur an die denkenswerten und selbstverständlich
medienwirksamen Anträge vor der Baden-WürttembergWahl zur Intensivtierhaltung im Außenbereich und zu
Spielhallen in Innenstädten -, oder Sie fordern Änderungen am Baugesetzbuch in zusammenhangloser Fülle wie
heute. Damit machen Sie eine konzentrierte Sachdebatte
zu wichtigen Themen leider unmöglich.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben die Novellierung des Baugesetzbuches in den Koalitionsvertrag
geschrieben,
({2})
und wir setzen es um. Wir werden Planungsrecht und
Planungsziele weiterentwickeln. Wir werden die Innenstadtentwicklung stärken, Genehmigungsverfahren entbürokratisieren, den demografischen Wandel berücksichtigen und den Klimaschutz verankern.
({3})
Daran arbeiten wir längst.
In der zweiten Jahreshälfte werden wir in diesem Hohen Hause mit den Beratungen zur Novellierung des
Baugesetzbuches beginnen. Bis Anfang 2012 soll der
Prozess abgeschlossen sein. Im Ausschuss und im Plenum werden Sie alle die Möglichkeit haben, sich einzubringen. Ich denke, damit ist das Thema dann endgültig
abgeschlossen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die energetische
bzw. die dynamische Stadtentwicklung ist ein erklärtes
Ziel liberaler Politik. Wir müssen die Förderprogramme
verstetigen - ich wiederhole mich zum x-ten Male -, insbesondere das Programm zur CO2-Gebäudesanierung.
Wir werden aber nicht beim einzelnen Gebäude stehen
bleiben. Nein, die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich für
den Schritt hin zu quartiersbezogenen Betrachtungen
ein.
({5})
Dazu legt die Koalition das neue KfW-Programm „Energetische Städtebausanierung“ auf. Damit haben wir den
Nagel genau auf den Kopf getroffen.
({6})
Als hätten Sie mir das Stichwort gegeben: An erster
Stelle steht natürlich die Haushaltskonsolidierung. Dazu
haben sich CDU/CSU und FDP verpflichtet. Ich glaube,
der Schuldenbremse haben auch Sie zugestimmt. Das
war doch so, oder? Angesichts der Notwendigkeit zur
Haushaltskonsolidierung ist es umso wichtiger, Förderprogramme so zu gestalten, dass Eigeninitiative und
Petra Müller ({7})
Engagement der Bürgerinnen und Bürger angeregt werden, dass sich Private und Privatwirtschaftliche einbringen können.
({8})
Ein Programm ist eben nur ein Instrument. Aber so ausgestaltet ist es ein urliberales Instrument.
In Ihrem Antrag wird die Polarisierung von Stadt und
Land hervorgehoben. Besondere Beachtung verdient der
ländliche Raum. Kleine Städte und Gemeinden dürfen
nicht gegen große, urbane Ballungszentren ausgespielt
werden. Aus den spezifischen Problemen der Städte darf
keine baurechtliche oder förderpolitische Bevorzugung
abgeleitet werden, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern.
({9})
Mit dem Bundesprogramm „Kleine Städte und Gemeinden“ sorgen wir auch zukünftig für Daseinsvorsorge und
urbane Weiterentwicklung in dünnbesiedelten Räumen.
({10})
In dem vorliegenden Antrag finden sich viele, vielleicht zu viele Ideen auf einmal. Wir müssen uns nicht rituell bekämpfen. Wir als liberale Fraktion
({11})
sehen einen inhaltlichen Konsens in vielen Punkten.
Aber wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Heute
geht es auch nicht um Zustimmung, sondern um Überweisung. Schauen Sie einmal in die Tagesordnung!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der Grünen gibt eine gute Übersicht über die
Dinge, die im städtischen Klimaschutz anzupacken wären. Wir finden es gut, wo die Schwerpunkte liegen,
nämlich bei Energieeffizienz im Gebäudebestand und
bei Neubauten, bei Anpassungsmaßnahmen wie Frischluftschneisen, bei der Verringerung des Flächenverbrauchs - das ist ganz wichtig - und natürlich bei nachhaltiger Mobilität. Erneuerbare Energien werden in
Städten eine wichtige Rolle spielen. Aber im Unterschied zu Gemeinden im ländlichen Raum sind die Möglichkeiten hier sicherlich begrenzt, jedenfalls im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Weil 40 Prozent der Endenergie im Gebäudesektor
verbraucht werden, liegen unserer Ansicht nach hier die
größten Einsparmöglichkeiten, allerdings aus sozialer
Sicht auch die größten Konfliktpotenziale. Die Rechnung, dass sich energetische Sanierungen im Bestand
durch die Energieeinsparung von selbst rechnen, geht
nach dem, was wir wissen, nur bei sehr alten, bis dato
unsanierten Gebäuden auf. Kein Wunder, wer bis heute
vor allem die Umwelt heizt, hat enorme Energierechnungen, die sich bei guter Dämmung und effizienten Heizungen extrem verringern. Solche Häuser machen aber
nur circa 15 Prozent des Gebäudebestands aus. Bei der
Mehrzahl der Gebäude haben wir ein wirtschaftliches
Dilemma. Die Häuser sind zwar schlechter isoliert, als es
nötig wäre, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Durch
sie pfeift aber auch nicht der Wind. Die Heizkosten sind
vielfach überschaubar, jedenfalls noch. Eine Sanierung
ist jedoch fast ebenso aufwendig wie bei einer Bruchbude.
Unter dem Strich könnten auf Familien Kostensteigerungen in Höhe von mehreren Hundert Euro pro Monat
zukommen. Das wäre aber nicht akzeptabel. Bei Eigenheimbesitzern mit 800 Euro Rente ist auch nichts mehr
mit Eigeninitiative. Das heißt, öffentliche Fördermittel
sind dringend erforderlich, um Klimaschutz- und Sozialpolitik zueinanderzubringen. Aber genau hier hat die
Bundesregierung den Rotstift gezückt. Die Mittel für das
KfW-Gebäudesanierungsprogramm wurden halbiert.
({0})
Gleichzeitig wurde angekündigt, die mögliche Umlage
für Investitionen auf die Kaltmiete der Mieter von
11 Prozent der Kosten zu erhöhen.
Es ist also kein Wunder, dass das Klimaschutzgesetz
in Berlin scheitern musste. Konsequente Vorschriften für
den Klimaschutz im Gebäudebereich würden nach jetziger Rechtslage sowie bei jetziger Subventionspraxis
nichts anderes bedeuten als Sozialabbau in Größenordnungen. Das aber wird die Linke nicht mitmachen; denn
es ist nicht alternativlos.
({1})
Es geht darum, drei Seiten zu einem Dreieck zueinanderzubringen: erstens die sozialen Interessen der Mieterinnen und Mieter, zweitens die Vorgaben für Sanierung
und Neubau, die es möglich machen, anspruchsvolle
Klimaschutzziele zu erreichen, und drittens die berechtigten wirtschaftlichen Interessen der Vermieter.
({2})
Dieses Dreieck zu bilden, gelingt dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen nicht. Dies ist aber die eigentliche Herausforderung, für die es nicht nur mehr Mittel
aus dem Bundesetat geben muss, sondern auch Innovationen im Mietrecht und im BGB. Ehrlich gesagt sind
die meisten Experten ziemlich ratlos, wenn es darum
geht, das sogenannte Vermieter-Mieter-Dilemma aufzulösen.
Da der Vermieter alle Heizkosten auf die Mieter umlegen kann, hat er kein ökonomisches Interesse an Sanierungen. Andererseits werden gesetzliche Verpflichtungen zu energetischen Sanierungen, wie bereits erwähnt,
Mieterinnen und Mieter vielfach überfordern. Bei Zuschüssen oder Kreditprogrammen der öffentlichen Hand
wiederum ist nur schwer zu verhindern, dass ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte für die Hauseigentümer entstehen.
In den Ausschüssen sollten wir uns für dieses Thema
genügend Zeit nehmen und es sehr ernsthaft diskutieren,
um dann auch wirklichen Klimaschutz zu erreichen.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Volkmar Vogel von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Die Debatte eben war natürlich nicht so harmonisch wie
die, die wir zum Feuerwehrführerschein geführt haben.
Das ist aber auch ganz klar, es handelt sich hier ja nicht
um eine Vorlage von uns, die wir die Zusammenhänge
immer ganzheitlich darstellen und bei denen auch große
Mehrheiten möglich sind.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn
man all Ihren Vorschlägen nachkommen und Ihre Forderungen erfüllen will, kommt das einem Ausbremsen der
Schuldenbremse schon ziemlich nahe.
({2})
Noch eines muss ich dazu sagen: Vieles von dem hätten
Sie ja auch mit Minister Tiefensee verwirklichen können.
({3})
- Kommt gleich! - Ich glaube, bei vielen Dingen hätten
wir wahrscheinlich nur eine geringe Gegenwehr an den
Tag gelegt, und wir wären heute schon ein Stück weiter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der
Antrag, den Sie heute vorlegen, ist eigentlich nichts
Neues.
({4})
Er entspricht in weiten Teilen dem, was wir bereits im
Energiekonzept festgelegt haben und woran wir bereits
arbeiten.
({5})
Wenn ich das vergleiche, dann muss ich sagen: Ja, auch
wir sagen natürlich, der Gebäudebereich ist ein wichtiger Faktor bei der gesamten Energieeffizienzsteigerung;
ja, wir müssen die Programme verstetigen, wir müssen
sie ausbauen und verzahnen.
({6})
Wir sagen Ja zur Vorbildwirkung des öffentlichen Bereichs, vor allen Dingen für den Bereich des Bundes, für
den wir zuständig sind. Wir sagen auch Ja zu weiterer
besserer Beratung sowie zu weiterer besserer Fortbildung und fachlicher Anleitung.
({7})
Wir sagen natürlich auch Ja zu differenzierten Betrachtungen der unterschiedlichen Strukturen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, alles
das ist nichts Neues.
({8})
Ich muss an der Stelle aber auch sagen - Kollegin Müller
und auch Peter Götz haben es bereits angesprochen -:
Wir sagen auch Nein. Wir sagen vor allen Dingen Nein,
wenn es um die Vernachlässigung von kleinstädtischen
und ländlichen Strukturen geht.
({9})
Und wir sagen Nein, wenn es um Benachteiligung oder
nicht angemessene gleichwertige Behandlung von kleinteiligen privaten Gebäudestrukturen geht, die ja immerhin über 80 Prozent des gesamten Gebäudebestandes
ausmachen.
({10})
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen auch
Nein, wenn es - auch das steht im Antrag - um die Ungleichbehandlung der Verkehrsträger geht.
Die Union will - ich denke, da sind wir uns mit den
Kollegen von der FDP einig - breit aufgestellte Strukturen in allen Bereichen.
({11})
Das macht uns krisensicher, das haben die letzten Monate gezeigt.
In der Wohnungspolitik sind wir immer gut mit einem
Mix aus Kommunal-, Genossenschafts- und Privateigentum gefahren.
Volkmar Vogel ({12})
({13})
In der Infrastrukturpolitik müssen wir Straße, Schiene
und Wasserstraße sinnvoll ergänzen, je nachdem, welche
Vorteile der einzelne Verkehrsträger mit sich bringt.
({14})
Wir müssen in unserem Handeln den Bedürfnissen der
Menschen folgen und nicht umgekehrt.
({15})
Ich sage das deswegen, weil uns das Ordnungsrecht
nicht in jedem Fall, sondern immer nur bedingt weiterhilft.
({16})
Wir brauchen einfache, nachvollziehbare, planbare
klimapolitische Prinzipien, die ihre Wirkung in der Stadt
und auf dem Land sowohl auf dem großen gemeinschaftlichen Wohnungsmarkt als auch auf dem privaten Wohnungsmarkt entfalten können. Der Gebäudebereich hat
ein riesiges Energieeinsparpotenzial, das es zu aktivieren
gilt, ohne die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen jemals
aus dem Auge zu verlieren.
({17})
Die Potenziale sind im ländlichen wie im städtischen
Bereich immens. Für uns gelten folgende Prämissen:
Wir geben die Standards und die zu erreichenden Ziele
vor; aber wir lassen die Technologien, die zur Umsetzung dieser Standards und zur Erreichung dieser Ziele
notwendig sind, weitgehend offen. Technologieoffenheit
ist also eines unserer Prinzipien.
({18})
Wir folgen konsequent dem Wirtschaftlichkeitsgebot
und respektieren damit die Eigentumsgarantie. Beides
kann man ordnungspolitisch nicht außer Kraft setzen.
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass eine CDU/CSUgeführte Regierung schon in der letzten Legislaturperiode Prioritäten gesetzt hat, zum Beispiel mit den
Konjunkturprogrammen. In diesen Programmen waren
die in Ihrem Antrag geforderten und bei uns nach wie
vor auf der Agenda stehenden energetischen Maßnahmen bei öffentlichen Gebäuden - Schulen, Turnhallen,
Kindergärten - und die kommunalen Strukturen insgesamt im Fokus. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
hat ein großes Stück vom Konjunkturprogrammkuchen
abbekommen - zu Recht!
({19})
Ich möchte daran erinnern, dass dieses Programm eigentlich im Jahr 2011 auslaufen sollte. Unser Bestreben
ist, es zu verstetigen und weiterzuentwickeln. Ab diesem
Monat werden über das KfW-Programm wieder hocheffiziente Einzelmaßnahmen gefördert. Das ist ein wichtiger Schritt, um Förderung in der Breite zu betreiben.
Die förderfähige Gebäudekulisse in den KfW-Programmen wird im kommunalen Bereich auf Nichtwohngebäude erweitert.
({20})
Das ist ein weiteres Beispiel für den Ausbau.
Außerdem werden wir die energetische Städtebausanierung auf den Weg bringen. Wir haben dafür im Baubereich
federführend die Instrumente mit dem Baugesetzbuch, der
Städtebauförderung, dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm und der Energieeinsparverordnung als Ordnungsrahmen. Diese Instrumente ergänzen sich. Wir
können und werden sie sinnvoll verzahnen. Auch das
werden wir machen. Es wird einen Fahrplan zur energetischen Sanierung von Bundesbauten geben. Damit werden wir auch der Vorbildwirkung des Bundes und des öffentlichen Bereiches insgesamt gerecht.
Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was wir
mit dem Energiekonzept auf den Weg gebracht haben,
und dafür, was wir noch umsetzen wollen. Das heißt
konkret, wir sind schon weiter als das, was in Ihrem heutigen Antrag gefordert wird.
({21})
Wir machen Angebote an alle Akteure, nicht nur an die
Stadt, nicht nur an bestimmte Eigentümerstrukturen,
nicht nur im Hinblick auf das Ordnungsrecht. Wir handeln vielmehr technologieoffen und wirtschaftlich, wir
schaffen Anreize zur Eigeninitiative, um tatsächlich eine
Breitenwirkung zu erzielen.
({22})
Nur wenn uns das gelingt, können wir unsere klimapolitischen Ziele erreichen. Wir werden den Antrag der Grünen nicht mittragen. Ich freue mich schon auf die Diskussion im Ausschuss.
Vielen Dank.
({23})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein11766
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt haben wir noch eine Reihe von Tagesordnungspunkten, bei denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich bitte Sie, so lange hierzubleiben, bis das Ganze
formal abgewickelt ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und
anderer Vorschriften
- Drucksache 17/5311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Das Ziel des in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften ist es, die Rentenleistungen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte Personen
- zum Beispiel Wehr- und Zivildienstopfer, Gewaltopfer,
SED-Opfer - nach dem Bundesversorgungsgesetz so anzupassen, dass sie ab dem 1. Juli 2011 in gleicher Höhe
in ganz Deutschland gezahlt werden. Mit Ausnahme der
Grundrentenbezieher der Kriegsbeschädigten und SEDOpfer erhielten die Anspruchsberechtigen in den neuen
Ländern bislang nur 88,71 Prozent der in den alten Ländern gewährten Leistungen. Daher möchte ich mich der
Bewertung meiner Kollegen anschließen, dass wir mit
der Gesetzesänderung einen wichtigen Beitrag zur gerechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von Regierungsregimen und Gewalttaten leisten, Unterschiede
zwischen Ost und West bereinigen und damit konkret zur
Gerechtigkeit in unserem Land beitragen.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenen Änderungen setzen den Beschluss des Bundesrates vom
18. März 2011 um. Auf Bitten des Bundesrates soll sichergestellt werden, dass die Ost-West-Anpassung allen
Berechtigten zugutekommt. Gerade für die Bestandsfälle
sind dafür Gesetzesänderungen nötig. Um den Berufsschadensausgleich bei Bestandsfällen zu gewährleisten,
ist eine ergänzende Klarstellung im Bundesversorgungsgesetz vorgesehen. Gleichzeit muss im Unterstützungsabschlussgesetz, das auf das BVG verweist, noch eine
Änderung erfolgen. Schließlich soll mittels des heute in
erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzes zusätzlich auch der Bitte des Bundesrates entsprochen
werden, den Stichtag für den zeitlichen Geltungsbereich
des Opferentschädigungsgesetzes in den neuen Ländern
korrekt zu benennen.
Die Bundesregierung kommt mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf auch dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes nach, wonach alle Bezieher von Leistungen
aus dem Bundesversorgungsgesetz im EU-Ausland identische Leistungen erhalten müssen. Im Falle der Grundrenten von Anspruchsberechtigten aus osteuropäischen
EU-Mitgliedstaaten wurde mit der Umsetzung bereits
begonnen. Mithilfe dieses Änderungsgesetzes soll nun
die europaweite Angleichung erfolgen. Das Recht der
Auslandsversorgung und -fürsorge würde damit maßgeblich vereinfacht und entbürokratisiert.
Dass in Zukunft Leistungen gekürzt oder in ihrem bisherigen Umfang beschnitten werden, verhindert eine in
den Gesetzentwurf integrierte Besitzstandsregelung.
In Übereinstimmung mit meinen Kollegen in der
Fraktion halte ich den Gesetzentwurf für ein gelungenes
Beispiel für eine Vereinfachung bestehender gesetzlicher
Regelungen. Damit liefern wir einen weiteren Baustein
für das in unserem Koalitionsvertrag festgehaltene Ziel,
Bürokratieabbau, gesetzliche Vereinfachungen und
Transparenz voranzubringen.
Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein
wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der alten und neuen Bundesländer. Damit setzt er ein klares
Zeichen für Gerechtigkeit in unserem Land.
Handlungsbedarf entstand, da Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht bis heute - über 20 Jahre
nach der Wiedervereinigung - in den alten und neuen
Bundesländern nicht gleich sind. Ausgenommen davon
sind die Grundrenten für Kriegsbeschädigte und
SED-Opfer. Zudem sind die für die Berechnung des Berufsschadensausgleichs nach dem Bundesversorgungsgesetz erforderlichen Vergleichseinkommen kaum noch
nachvollziehbar festzustellen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung präsentiert
hierfür eine gerechtere, transparentere und einfachere
Lösung: Zunächst wird die Höhe der Rentenleistungen
nach dem Bundesversorgungsgesetz in den neuen Ländern angepasst. Damit erhalten Berechtigte nach dem
Sozialen Entschädigungsrecht in den neuen Ländern
nicht wie bisher nur geminderte Rentenleistungen - sie
erhielten bisher nur 88,71 Prozent der in den alten Ländern erbrachten Leistungen -, sondern Leistungen in
voller Höhe. Diese werden voraussichtlich ab dem
1. Juli 2011 in ganz Deutschland einheitlich sein.
Dies ist ein wichtiger Schritt, der für Kriegsopfer in
den neuen Ländern für mehr Gerechtigkeit sorgt und für
das widerfahrene Leid entschädigen soll. Vom neuen
Gesetz profitieren in den neuen Ländern etwa
40 000 Menschen.
Die neuen Regelungen sind - neben den Kriegsopfern
und den Opfern des SED-Regimes - auch auf Wehrdienst- und Zivildienstopfer und auf Opfer von Gewalttaten anzuwenden und führen damit zu einer zumindest
finanziellen Besserstellung dieser Menschen und zu einer gerechteren Entschädigung.
Mit dem Gesetzentwurf kommt die Bundesregierung
auch dem EuGH-Urteil nach. Demnach müssen alle BePaul Lehrieder
zieher von Leistungen aus dem Bundesversorgungsgesetz im EU-Ausland identische Leistungen erhalten. Das
BMAS hat mit einem Rundbrief vom 17. Juni 2009 bereits mit der Umsetzung begonnen, sodass die Grundrenten von Berechtigten in osteuropäischen EU-Staaten
bereits angeglichen werden konnten. Der vorliegende
Gesetzentwurf stellt nun eine vollständige Umsetzung
dar. Damit wird das Recht der Auslandsversorgung und
-fürsorge maßgeblich vereinfacht und entbürokratisiert.
Das neue Gesetz umfasst darüber hinaus wesentliche
Verbesserungen beim Berufsschadenausgleich. So wurde
die Berechnung des Ausgleichs, den Berechtigte nach
dem Sozialen Entschädigungsrecht erhalten, erheblich
vereinfacht.
Eine Besitzstandsregelung gewährleistet, dass niemand in Zukunft geringere Leistungen bekommt als bisher. Damit die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten
zugutekommt und dies bei Bestandsfällen auch für den
Berufsschadenausgleich gewährleistet ist, muss im Bundesversorgungsgesetz eine Klarstellung eingefügt werden und im Unterstützungsabschlussgesetz, das auf das
Bundesversorgungsgesetz verweist, noch eine Änderung
erfolgen. Diese Anregungen des Bundesrates sollen zusätzlich berücksichtigt werden.
Der Gesetzentwurf ist ein gelungenes Beispiel für
eine erfolgreiche Vereinfachung bestehender gesetzlicher Regelungen. Die christlich-liberale Koalition hält
sich damit an das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel,
für Bürokratieabbau, Vereinfachungen und Transparenz
zu sorgen.
Erlauben Sie mir, die entsprechende Passage aus dem
Koalitionsvertrag zu zitieren:
Regeln sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht
mehr Regeln geben soll als erforderlich. Notwendige Regelungen müssen schlank und verlässlich,
Verwaltungs- und gerichtliche Verfahren zügig
sein.
Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur
gerechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von
Regierungsregimen und Gewalttaten, bereinigt Unterschiede zwischen Ost und West und leistet einen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau und zur Gerechtigkeit.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt es sich
politisch nicht mehr vermitteln, dass unterschiedliche
Rentenberechnungssysteme in Ost und West existieren.
Ebenso wenig kann man den Leuten vermitteln, dass die
Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht noch
immer unterschiedlich sind. Die Initiative der Bundesregierung ist hier also richtig, denn sie sorgt dafür, dass
Opfer in Ost und West nicht länger benachteiligt werden, und stellt auch klar, dass es in diesem Land keine
Wertigkeit von Opfern gibt und geben darf.
Allerdings stelle ich fest, dass es Missverständnisse
über die Wirkung einzelner Regelungen gibt; so haben
mich Schreiben erreicht, wonach Bürgerinnen und Bürger befürchten, dass der § 87 mit Bezugnahme auf den
§ 56 BVG dazu führen kann, dass die Leistungen des Berufsschadenausgleichs nach Entwicklung des allgemeinen Rentenwerts und des allgemeinen Rentenwerts Ost
unterschiedlich angepasst werden könnten. Das würde
dem Ansinnen des Gesetzes zuwiderlaufen, und hier
sollte eine Klarstellung im Wege des parlamentarischen
Verfahrens erfolgen.
Als Behindertenbeauftragte meiner Fraktion begrüße
ich auch die zusätzlichen Klarstellungen zum persönlichen Budget. Weiterhin ist auch die Regelungsabsicht zu
begrüßen, das von SPD und Union auf den Weg gebrachte Assistenzpflegebedarfsgesetz zu erweitern. Es
soll klargestellt werden, dass auch Berechtigte nach dem
Bundesversorgungsgesetz ihre Pflegekräfte mitnehmen
können, wenn eine stationäre Behandlung im Krankenhaus nötig sein sollte. Wenn Sie diese Regelung treffen,
um eine Gleichbehandlung herbeizuführen, frage ich
mich allerdings, warum Sie nicht gleich auch den
Rechtskreis auf Menschen ausweiten, die von einem
Pflegedienst versorgt werden. Es ist keinem Menschen
mehr zu erklären, warum er seinen Pflegeassistenzbedarf nur dann im Krankenhaus erhalten soll, wenn er die
Pflegekräfte selbst beschäftigt. Mittlerweile ist die Praxiswirkung der Regelung bekannt, und es ist überfällig,
zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten eine
geeignete Lösung zu finden. Weiterhin besteht die Frage,
warum nicht auch auf den Bereich stationäre Reha ausgeweitet wird. Was unterscheidet denn am Ende den Aufenthalt ohne Assistenz im Krankenhaus vom Aufenthalt
in der stationären Reha? In beiden Fällen sind die Einrichtungen finanziell und personell nicht in der Lage,
bedarfsgerechte Assistenz und Pflege zu erbringen.
Hier bedarf es also aus behindertenpolitischer Sicht
noch einmal eines größeren Wurfes, der den tatsächlichen Bedarf in den Blick nimmt.
Wir debattieren heute das Gesetz zur Änderung des
Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften.
Der vorliegende Gesetzentwurf berührt einen der Kernpunkte des deutschen Sozialversicherungsrechts. Zwar
betreffen die vorliegenden Änderungen zahlenmäßig
nicht außerordentlich viele Menschen, sie zeigen aber
sehr deutlich das Verständnis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Geprägt von der Grundidee der Solidarität - dass derjenige, der der Hilfe der
Gemeinschaft bedarf, die ihm zustehende Unterstützung
erhält - zeigt sich die Stärke unserer Gesellschaft auch
in dieser Frage.
Da dies die erste Lesung ist, möchte ich gerne ein wenig genauer auf den vorliegenden Gesetzentwurf eingehen, der im Wesentlichen drei Punkte betrifft. Erstens.
Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung werden wir
endlich die Höhe der Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz in den neuen Bundesländern an
die der alten Bundesländer angleichen. Die bisherige
Ungleichbehandlung hat in dieser Bundesrepublik keinen Platz mehr. Die Angleichung entspricht auch einer
langjährigen Forderung von Betroffenen, Verbänden
Zu Protokoll gegebene Reden
und Ländern. Damit sollen die circa 40 000 meist hochbetagten Kriegsopfer in den neuen Bundesländern
dieselben Leistungen wie die Kriegsopfer in den alten
Bundesländern erhalten. Dies ist ein weiterer Schritt zur
Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz
Deutschland und so zur Verwirklichung der Deutschen
Einheit.
Zweitens. Die Auslandsversorgung und -fürsorge
nach dem Bundesversorgungsgesetz wird reformiert.
Dies war nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Dezember 2008 notwendig geworden,
da bisherige Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes zur ({0})Versorgung von Kriegsopfern in ost- und
südeuropäischen EU-Mitgliedstaaten gegen EU-Recht
verstoßen. Die in diesen Staaten gezahlten Leistungen
müssen die gleiche Höhe haben wie die Leistungen an
Berechtigte mit Wohnsitz in anderen EU-Mitgliedstaaten. Durch unsere Änderungen wird das Recht der Auslandsversorgung und -fürsorge zugleich wesentlich vereinfacht und entbürokratisiert mit dem Ziel einer
einheitlichen Auslandsversorgung und -fürsorge für alle
Berechtigten im Ausland - auch außerhalb der EU.
Drittens. Berechtigte nach dem sozialen Entschädigungsrecht, die durch erlittene gesundheitliche Schäden
Nachteile haben, erhalten einen Berufsschadenausgleich. Ebenfalls eine Frage der Entbürokratisierung
war die Entscheidung, für die circa 20 000 Berechtigten
als Vergleichseinkommen bei der Berechnung neuer
Berufsschadenausgleiche zukünftig nur noch die Einkommen des öffentlichen Dienstes heranzuziehen. Somit
wird auch an eine bereits seit vielen Jahrzehnten bewährte Systematik in diesem Bereich angeknüpft, die
den das Gesetz ausführenden Behörden bekannt ist.
Durch eine Besitzstandsregelung wird sichergestellt,
dass niemand in Zukunft eine geringere Leistung als bisher erhält.
Im Übrigen werden in dem Gesetz Klarstellungen und
redaktionelle Änderungen, die aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung und als Folge von Änderungen anderer Gesetze erforderlich geworden sind, vorgenommen.
An der ein oder anderen Stelle besteht möglicherweise
noch Beratungsbedarf. Mir ist bekannt, dass es aus dem
Bundesrat möglicherweise noch Nachbesserungsbedarf
gibt, und entsprechende Beiträge werden wir selbstverständlich in die Debatte einbeziehen.
Dieser vorliegende Gesetzentwurf enthält wichtige
Änderungen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte
Personen. Daher würde ich mich freuen, wenn über die
Parteigrenzen hinweg diese Regelungen breite Zustimmung finden würden.
Die Bundesregierung hat recht, wenn sie in ihrem Gesetzentwurf als Problem konstatiert: „Auch 20 Jahre
nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es immer
noch Unterschiede zwischen den alten und den neuen
Ländern in Bezug auf die Leistungshöhen im Sozialen
Entschädigungsrecht.“ Deswegen - hier sind sich Bundesregierung und die Linke einig - sollte die Höhe der
Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, BVG, endlich angeglichen werden. Warum dies erst jetzt geschieht, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Es wird höchste Zeit, die
Leistungshöhen auch im Rentenrecht sowie bei Löhnen
und Gehältern zwischen Ost und West anzugleichen und
so bestehendes Unrecht zu verringern. In diesem Zusammenhang erinnere ich nochmals an die 19 Anträge der
Linken zu verschiedenen Bereichen der Rentenüberleitung, welche der Bundestag am 24. Februar 2011 mit
Mehrheit erneut ablehnte.
Da der heute vorliegende Gesetzentwurf direkt Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen beeinflusst, muss er sich auch an der UN-Behindertenrechtskonvention messen lassen. Dies schließt ein, dass
der Bundesbehindertenbeauftragte sowie die betroffenen Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertretungen in das Gesetzgebungsverfahren aktiv einbezogen werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbinden sich
für mich jedoch noch weitere Fragen: Wer sind eigentlich die Bezieher von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz? Warum erhalten Menschen mit vergleichbaren Behinderungen nicht auch Leistungen nach
diesem, sondern nach anderen Gesetzen? Das BVG sieht
laut § 7 BVG Leistungen für Deutsche und deutsche
Volkszugehörige sowie für andere Kriegsopfer vor, wenn
sie ihren Wohnsitz in Deutschland haben und ihre gesundheitliche Schädigung im ursächlichen Zusammenhang mit dem Dienst in der deutschen Wehrmacht oder
einem militärähnlichen Dienst in einer deutschen Organisation bzw. in Deutschland oder einem deutsch besetzten
Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten
ist. Insgesamt sind heute noch laut Bundessozialministerium rund 250 000 Personen bzw. deren Angehörige versorgungsberechtigt, darunter 8 000 aus dem Ausland.
Die über 80 Prozent aus der ehemaligen BRD kommenden Personen erhalten durchschnittlich 400 Euro pro
Monat, die aus der DDR kommenden Versorgungsberechtigten 240 Euro.
Warum gilt das Bundesversorgungsgesetz eigentlich
nicht für alle Menschen mit Behinderungen? In einer
Kleinen Anfrage zum Contergan-Skandal - dies ist die
Bundestagsdrucksache 17/2915 vom 14. September
2010 - fragte die Linke die Bundesregierung: „Wodurch
unterscheiden sich die Leistungen an Contergangeschädigte qualitativ und quantitativ von Leistungen gemäß
dem Bundesversorgungsgesetz, BVG, und was spräche
aus Sicht der Bundesregierung dafür bzw. dagegen, die
Versorgung von Contergangeschädigten auf der Grundlage des BVG zu gewährleisten?“ Die Antwort der Bundesregierung lautete: „Leistungen aus dem Bereich der
Sozialen Entschädigung kann gemäß § 5 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch erhalten, ‚wer einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche
Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers
oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen
Grundsätzen‘ einzustehen hat. Erforderlich ist daher ein
Sonderopfer, wie es zum Beispiel Kriegsopfer erbracht
haben, oder das Vorliegen eines Aufopferungstatbestandes, wie zum Beispiel bei Menschen, die während des
Wehr- oder Zivildienstes oder durch eine Gewalttat geZu Protokoll gegebene Reden
sundheitlich geschädigt worden sind. Beides ist bei contergangeschädigten Menschen nicht der Fall.“ Ich halte
das für problematisch. Das ist das klassische Denken
nach dem Kausalitätsprinzip: Die Ursache der Beeinträchtigung ist ausschlaggebend für die Leistung. Wäre
es nicht überfällig, endlich dem Finalitätsprinzip zu folgen? Das hieße: gleicher Leistungsanspruch bei vergleichbarer Beeinträchtigung.
Notwendig ist meines Erachtens auch die gründliche
Prüfung der Einwände des Bundesrates. Dazu gehört,
sicherzustellen, dass von der im Gesetzentwurf vorgesehenen Anhebung auf die Leistungshöhen in den alten
Ländern auch alle bisher in den neuen Ländern noch abgesenkten Entschädigungs- und Rentenleistungen nach
dem BVG oder den Nebengesetzen - insbesondere nach
dem Gesetz über den Abschluss von Unterstützungen der
Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen erfasst werden.
Des Weiteren ist die für den Berufsschadenausgleich
und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene
Übergangs- und Besitzstandsregelung noch einmal mit
Blick auf die beabsichtigte Gewährung gleicher Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht in den
neuen und alten Ländern zu überprüfen, damit mit dem
Gesetz nicht Regelungen eingeführt werden, die zu einer
substanziell erheblichen Verschlechterung bei den Leistungen aus dem Berufsschadenausgleich für betroffene
Geschädigte führen. In diesem Sinne wird die Fraktion
Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf in den Ausschüssen konstruktiv diskutieren.
Im Großen und Ganzen begrüßen wir den vorgelegten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften, stellt doch die
volle Angleichung der Höhe der Entschädigungs- und
Rentenleistungen in den neuen Ländern ab 1. Juli 2011
an die Leistungshöhen in den alten Ländern einen
wichtigen Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz Deutschland dar. Es ist zudem erfreulich, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates ankündigt, die
dort geäußerten Änderungen zu berücksichtigen. Hierbei geht es insbesondere um die Erfassung aller bisher
in den neuen Bundesländern noch abgesenkten Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem BVG oder den
Nebengesetzen. Wir werden die Bundesregierung beim
Wort nehmen und in den kommenden Ausschussberatungen darauf dringen, insbesondere die für den Berufsschadenausgleich und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene Übergangs- und Besitzstandsregelung darauf
zu überprüfen, ob die beabsichtigte Gewährung gleicher
Leistungshöhen in Ost und West auch wirklich eintritt.
Darüber hinaus hat das Gesetz zum Inhalt, die Auslandsversorgung im Nachgang zum Urteil des EuGH
vom 4. Dezember 2008, wonach Berechtigte nach dem
BVG mit Wohnsitz in osteuropäischen Ländern der
Europäischen Union keine abgesenkten Leistungen im
Vergleich zu anderen EU-Staaten erhalten dürfen, europarechtskonform auszugestalten. Auch diese Regelung
ist zu begrüßen.
Klärungsbedarf besteht von unserer Seite allerdings
noch bezüglich der Änderung der Regelungen zum Berufsschadenausgleich. So sieht der Berufsschadenausgleich vor, in Zukunft wie bei selbstständig tätigen Beschädigten berechnet zu werden. Berechtigte nach dem
Sozialen Entschädigungsrecht, die durch die erlittene
gesundheitliche Schädigung berufliche Nachteile haben,
erhalten einen Berufsschadenausgleich, zu dessen Berechnung vom BMAS jährlich Vergleichseinkommen bekanntgegeben werden, die auf Erhebungen des Statistischen Bundesamtes beruhen. Die Bundesregierung sieht
hier Änderungsbedarf, weil viele Berufe heute in dieser
Form nicht mehr existierten. Auch die statistische Ermittlung der Einkommen habe sich durch EU-Vorschriften verändert. Allein durch solche statistischen Effekte
seien die Vergleichseinkommen zum Teil um mehrere
hundert Euro gestiegen.
Zum 1. Juli 2011 soll die Berechnung - für Neuanträge - auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die
Höhe soll in Zukunft wie bei Selbstständigen ermittelt
werden; Grundgehälter der Besoldungsgruppen der
Bundesbesoldungsordnung A. Die Beträge sollen im einzelnen Fall zum 30. Juni 2011 festgestellt und dann in
den Folgejahren wie die gesetzlichen Renten angepasst
werden. Hierfür bedarf es einer Änderung der Berufsschadenausgleichsverordnung. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt unsererseits nicht absehbar, welche unmittelbaren
Folgen eine solche Regeländerung mit sich bringt. Dies
werden wir im Laufe des parlamentarischen Verfahrens
klären müssen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf eine weitere
Änderung bzw. Ergänzung eingehen. Der vorgelegte Gesetzentwurf schreibt explizit fest, welche Leistungen des
BVG Teil eines persönlichen Budgets im Sinne des § 17
SGB IX sein können. Vorbehaltlich der Prüfung, ob damit auch alle budgetfähigen Leistungen abgedeckt werden, ist es durchaus positiv, wenn Leistungsgesetze den
rehabilitationsträgerübergreifenden Rechtsanspruch auf
ein persönliches Budget entsprechend abbilden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5311 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
Täterverantwortung
- Drucksache 17/1466 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden.
Gewalt in den eigenen vier Wänden gehört für viele
Frauen und Kinder in Deutschland noch immer zum Alltag - sicherlich eine unvorstellbare Tatsache für die
meisten von uns. Jährlich flüchten circa 45 000 physisch, sexuell oder psychisch misshandelte Frauen mit
ihren Kindern in eines der circa 400 Frauenhäuser oder
in vergleichbare Zufluchtswohnungen. Da längst nicht
alle häuslichen Gewalttaten gemeldet werden, haben
wir es in diesem Kontext mit einer hohen Dunkelziffer zu
tun.
Nach über zwanzigjähriger intensiver Arbeit der
Frauenhäuser, die dem enormen Andrang von Gewaltopfern kaum gewachsen sind, liegt der Fokus schon seit
einiger Zeit darauf, vermehrt mithilfe interdisziplinärer
Interventionsprojekte das Problem häuslicher Gewalt in
den Griff zu bekommen. Ein Schwerpunkt des Gewaltinterventionsprozesses soll dabei vor allem auch auf der
sogenannten Täterarbeit liegen. Da häusliche Gewalt
oftmals nicht mit Freiheitsentzug bestraft wird und eine
Geldbuße häufig auch das mit dem Täter zusammenlebende Opfer zusätzlich schädigt, erweisen sich Täterprogramme als geeignete Alternative im Umgang mit
Gewaltstraftätern.
Täterarbeit steht dabei für Maßnahmen in Form sozialer Trainingskurse, in denen sich gewalttätige oder
potenziell gewaltbereite Männer mit ihren Taten auseinandersetzen, die Verantwortung für ihre Gewalthandlungen übernehmen und alternative, nicht gewalttätige
Verhaltensweisen erlernen sollen. Diesbezüglich hat die
Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e. V. bundesweite Standards für qualifizierte Täterprogramme erarbeitet. Langfristig sollen Täter durch
Verantwortungsübernahme und Selbstkontrolle von der
Wiederholung ihrer Taten abgehalten werden. Täterarbeit kann damit ein wichtiges Element der Gewaltprävention und des Opferschutzes sein.
Wie die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung der Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt in Deutschland zeigen, ist die Täterarbeit im
Kontext von Interventionsprojekten eine sinnvolle und
richtige Maßnahme. Zwei Drittel der in der Studie
berücksichtigten Männer haben das Programm abgeschlossen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Erkenntnis: Diejenigen Täter, die
aufgrund einer justiziellen Weisung oder Auflage - die
in den letzten Jahren in Fällen häuslicher Gewalt durch
Staats- oder Amtsanwaltschaft in der Praxis bereits angewandt wurden - an einem Programm teilgenommen
haben, schließen dieses signifikant häufiger ab als die
anderen Teilnehmer. Dass sich gewalttätige Männer aus
eigener Initiative heraus zu einem Täterprogramm anmelden, ist äußerst selten der Fall. Der Druck von außen
trägt also nicht nur zur Absolvierung, sondern auch zum
Abschluss eines Programms bei.
Der Gesetzentwurf zur Täterverantwortung des Bundesrates trägt dieser Erkenntnis Rechnung und schlägt
vor, mit einigen Änderungen die Möglichkeiten, Straftäter durch staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen Täterprogrammen zuzuweisen, zu erweitern. So
wird § 153 a StPO um die Möglichkeit der Auflage erweitert, dass Staatsanwaltschaft und Gericht das Verfahren vorläufig einstellen und den Be- bzw. Angeschuldigten anweisen können, an einem Täterprogramm
teilzunehmen. Die vorgesehene Frist zur Erfüllung dieser Auflage wird auf bis zu ein Jahr erweitert. Der Katalog bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 a
StGB wird in dessen Absatz 2 um die Möglichkeit der
Weisung erweitert, dass der Täter an einem Täterprogramm teilnimmt.
Auch die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellungnahme positiv zu dem Entwurf des Bundesrates geäußert
und misst der Gewaltprävention und dem Opferschutz
eine hohe Bedeutung zu. Es kann nur in unser aller Interesse sein, die häusliche Gemeinschaft und die partnerschaftlichen Konflikte zu befrieden und so weit wie möglich aus der öffentlichen Strafverfolgung auszunehmen.
Durch die Teilnahme an qualifizierten sozialen Trainingsprogrammen werden den Tätern Handlungsalternativen zur Gewalt eröffnet. Erfahrungsgemäß leugnen
diese Täter zunächst ihre Gewaltbereitschaft. In den
Fällen jedoch, in denen sie sich dem Druck eines Strafverfahrens ausgesetzt sehen, müssen sie sich auch dieser
Verantwortung stellen. Oftmals kann der Konflikt nicht
gelöst werden, solange sich der Täter nicht aktiv mit seiner Gewaltbereitschaft auseinandersetzt. Weigert er
sich, an einem Täterprogramm teilzunehmen, bricht er
es ab oder wird er rückfällig, droht ihm die Konsequenz
der strafrechtlichen Verfolgung.
Demgegenüber steht die Bundesregierung der Fristverlängerung von sechs Monaten auf ein Jahr im Rahmen der Auflage des § 153 a StPO kritisch gegenüber,
da diese im Spannungsfeld des Grundgedankens stehe,
innerhalb einer überschaubaren Frist eine Entscheidung herbeizuführen, um das Verfahren dann endgültig
einzustellen. Hier sollten wir doch nochmals genau hinschauen. Zum einen ist bereits jetzt im Rahmen des
§ 153 a StPO eine Fristverlängerung von drei weiteren
Monaten vorgesehen; das heißt, sie ist bereits jetzt schon
auf faktisch neun Monate möglich. Des Weiteren ist bei
der Auflagenweisung der Unterhaltspflichtverletzung
eine Frist von einem Jahr bekannt. Demnach ist die
Frist des § 153 a StPO von der Art der Weisung abhängig. Auf das Täterprogramm bezogen handelt es sich
nun aber um eine Auflage, bei der sich erweist, dass der
Erfolg nicht binnen einer kurzen Frist von sechs Monaten erzielbar ist. Der Täter unterzieht sich einem langwierigen Prozess sozialer Verhaltensänderung. Dies
kann nicht von heute auf morgen passieren, sondern es
nimmt viel Zeit in Anspruch. Daher erscheint aus meiner
Sicht die Frist von einem Jahr im Hinblick auf die im
Gesetzentwurf des Bundesrates in Rede stehende Tätergruppe durchaus ausgewogen.
Die Bundesregierung kritisiert ferner, den Begriff
„Täterprogramm“. Er sei nicht sachkonform gewählt,
da die Weisung, an einem Programm teilzunehmen, bereits während des Ermittlungsverfahrens erfolgen kann.
Der Begriff „sozialer Trainingskurs“ sei die bessere
Wahl. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob diese Begrifflichkeit der beabsichtigten VerantwortungsüberZu Protokoll gegebene Reden
nahme des Täters gerecht werden kann, wenn man lediglich von einem „Training“ spricht.
Abschließend darf ich einen weiteren Punkt ansprechen, der im Gesetzentwurf des Bundesrates bislang
keine Berücksichtigung findet, über den wir allerdings
in der weiteren Debatte ebenfalls beraten sollten. Oft
bagatellisieren die Täter ihre Tat und weisen die Schuld
von sich. Für die begleitenden Trainer wäre es daher
von großem Vorteil, den gesamten Sachverhalt zu kennen, um ihn in ihre Arbeit einbeziehen zu können. Daraus ergibt sich unter Umständen die Notwendigkeit,
personenbezogene inhaltliche Daten aus den Ermittlungs- bzw. Strafakten zugänglich zu machen. Schließlich wären daraus folgende Ergebnisse auch für die Auswertung der Erfahrungsberichte von Bedeutung. Eine
entsprechende Regelung könnte, wie auf Länderebene
bereits diskutiert wird, in § 155 b StPO eingefügt werden.
In der Sache sehen wir den Gesetzentwurf des Bundesrates grundsätzlich positiv. Eine Erweiterung der zuvor angesprochenen notwendigen personenbezogenen
inhaltlichen Datenübermittlungen für die Arbeit im sozialen Trainingsprogramm in § 155 b StPO sollte für die
Zukunft überlegt werden. Insgesamt ist der Gesetzentwurf ein weiterer richtiger Schritt auf dem langen Weg
der Bekämpfung häuslicher Gewalt.
Die SPD begrüßt den Gesetzentwurf. Der Schutz der
Opfer von Straftaften ist eine wichtige Aufgabe der
Strafjustiz. Grundlage ist das Straf- und Strafverfahrensrecht, und hier hat der Gesetzgeber vor allem im letzten
Jahrzehnt zur Verbesserung des Opferschutzes schon
viel getan. Der Vorschlag des Bundesrates, der auf die
Initiative von Rheinland-Pfalz zurückgeht, ist nun ein
weiterer Baustein, der das Regelwerk verdichten wird.
Er dient dem vorbeugenden Opferschutz, weil er darauf
abzielt, Gewalttäter künftig verstärkt in Verantwortung
nehmen und auf Verhaltensänderungen hinwirken zu
können.
Konkret geht es darum, den Rahmen dafür zu schaffen, dass Staatsanwälte und Gerichte, die Ermittlungsbzw. Strafverfahren einstellen, besser als bisher einem
Täter qua Weisung die Pflicht auferlegen können, an
speziellen sozialen Trainingskursen oder Täterprogrammen teilzunehmen. Zweck solcher Kurse und Programme ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen auf der Seite des Täters zu bewirken und ihm die
Fähigkeit zu vermitteln, Verantwortung zu übernehmen
und Selbstkontrolle auszuüben.
Grundgedanke ist, dass die Bestrafung der Täter
durch Geldbußen, Geldstrafen bzw. Haftstrafen nicht
automatisch zu einer kritischen Auseinandersetzung der
Täter mit ihrem Gewaltverhalten und zur Beendigung
des gewalttätigen Verhaltens führt. Mit solchen Programmen können Täter lernen, ihre Wahrnehmungen
und Verhaltensweisen zu ändern. Im Rahmen von strukturierten Täterprogrammen finden Gruppensitzungen,
aber auch Einzelgespräche mit den Tätern statt. Sie sollen befähigt werden, Verantwortung für ihr Tun zu erkennen, zu übernehmen und sich besser zu kontrollieren.
Die Täterarbeit verbreitert somit zugunsten des Opferschutzes die Möglichkeiten, insbesondere Ersttäter vor
dem Begehen weiterer Straftaten zu bewahren, und erhöht die Chance, dass sich anbahnende kriminelle Karrieren erst gar nicht verfestigen.
Richtig ist, dass es dieses Instrument grundsätzlich
auch schon heute gibt. Bei geringer Schuld kann ein
Strafverfahren gegen Auflagen oder Weisungen eingestellt werden, und eine solche Weisung kann auch schon
heute lauten, an einem speziellen Programm teilzunehmen, zum Beispiel an einem Antigewalttraining. Nicht
nur, aber gerade auch zur Bekämpfung von häuslicher
Gewalt und Beziehungsdelikten wird die Täterarbeit
schon seit etlichen Jahren als Teil einer Interventionskette eingesetzt, weil die Gewalthandlungen von Tätern
gegenüber ihrem Partner bzw. Expartner gezielt und
strukturiert bearbeitet werden. Erfüllt der Täter die Weisung nicht, drohen ihm Anklage oder Verurteilung. Dies
motiviert namentlich solche Täter zur Teilnahme, die
bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten sind.
Allerdings schreibt die Strafprozessordnung bislang
vor, dass eine Weisung innerhalb von sechs Monaten erfüllt sein muss. Demgegenüber sind sich die Fachleute
und Praktiker einig, dass ein strukturiertes Programm
mindestens sechs Monate dauert. Dazu kommen das
Aufnahmeverfahren und etwaige Folgetermine. In der
gesetzlichen 6-Monate-Frist liegt somit das Problem in
der Praxis. Sie ist schlicht zu kurz.
Der vorliegende Entwurf bietet hier eine einfache wie
gute Lösung an: Die Frist von sechs Monaten wird auf
eine Frist von bis zu einem Jahr verlängert. Dadurch
können Staatsanwälte oder Gerichte künftig Ermittlungs- bzw. Strafverfahren einstellen und zugleich die
Weisung erteilen, dass der Beschuldigte innerhalb eines
Jahres an einem qualifizierten Täterprogramm teilnimmt.
Ebenfalls eine gute Lösung hält der Entwurf dafür
parat, dass künftig auch bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Teilnahme an einem Täterprogramm angeordnet werden kann. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt
nach dem Strafgesetzbuch ist praktisch der richterliche
„Schuss vor den Bug“ des Angeklagten: Das Gericht
stellt die Schuld des Täters fest und bestimmt die Strafe,
wobei die Verhängung der Strafe vorbehalten bleibt; besteht der Täter die Bewährungszeit, bleibt er unbestraft.
Die Verwarnung mit Strafvorbehalt hat gegenüber der
Einstellung des Verfahrens den Vorteil, dass sie eine gerichtliche Schuldfeststellung enthält. Das kann Opfern
eine gewisse Genugtuung verschaffen.
Wünschenswert wäre es, wenn in den anstehenden
Ausschussberatungen für den Begriff „Täterprogramm“
eine Alternative gefunden würde. Wie schon das Bundesjustizministerium der 16. Legislaturperiode weist auch
das jetzige zutreffend darauf hin, dass der Begriff „Täterprogramm“ auf einen Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ zurückgeht und mittlerweile feststehender Fachbegriff konkret
für diesen Täterkreis ist, und schlägt daher vor, statt des
Zu Protokoll gegebene Reden
Begriffs „Täterprogramm“ den Begriff „sozialen Trainingskurs“ zu verwenden.
Wir beraten heute eine Initiative aus den Ländern zur
stärkeren Betonung der Täterverantwortung nach Fällen häuslicher Gewalt. Wir greifen damit im Sinne des
Opferschutzes einen Bundesratsbeschluss aus dem Jahr
2008 auf, der in der letzten Wahlperiode nicht mehr beraten wurde. Mit dem Entwurf sollen die Möglichkeiten
verbessert werden, Straftäter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täterprogrammen zuweisen zu können. Es sollen bei den
Tätern Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen erreicht und dadurch neuerliche Gewalttaten vermieden
werden. Ziel sind damit zugleich Kriminalitätsverhinderung und vorbeugender Opferschutz.
Aus liberaler Sicht ist die aus dem Gesetzesvorschlag
sprechende Forderung an Straftäter zu begrüßen, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst besser zu
kontrollieren. Mit dieser Ausrichtung ergeben sich gerade für nicht vorbelastete Personen Anreize zur Teilnahme an entsprechenden Programmen. Dass wir mit
dem Aufgreifen des Länderentwurfes auf einem guten
Weg sind, zeigt auch die Unterstützung durch den Deutschen Richterbund. Der Ausbau der Täterprogramme
als Auflage stärkt den Opferschutz deutlich. Es ist nachgewiesen, dass Geldstrafen zwar die Opfer mittelbar
selbst treffen, jedoch das Verhalten des Täters nicht entscheidend verändern. Hier würde dann eine pädagogisch-therapeutische Maßnahme eher greifen, um neue
Gewalttaten zu verhindern.
Lassen Sie mich dennoch in der ersten Lesung einige
kritische Bemerkungen machen. Jeder, der aus der polizeilichen und staatsanwaltlichen Praxis kommt, weiß,
dass häusliche Gewalt in nahezu gleichem Umfang
Frauen wie Männer trifft. Dies ist ein Tabu in der Debatte, weil das Gewaltthema gerne ausschließlich bei
Männern abgeladen wird. Gewalt wird aber nicht nur
körperlich, sondern auch psychisch ausgeübt. Wir sollten uns deshalb in den Beratungen mit der Frage befassen, wie auch dieser Form von Gewaltanwendung besser begegnet werden kann. Die Gesetzesänderungen
müssen den Opfern jedweder Gewalt zugutekommen.
Die Bundesregierung hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass sich im Strafgesetzbuch die Bezeichnung
„Täter“ für noch nicht verurteilte Personen verbietet.
Wir sollten hier nach einer besseren Formulierung suchen. Insgesamt ist es aber eine begrüßenswerte Initiative, die wir in den nun beginnenden Beratungen unterstützen werden.
Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung von Täterverantwortung zu eigen gemacht, und deshalb debattieren wir ihn heute. Wir sind
uns alle einig darin, dass häusliche Gewalt ein sehr ernst
zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch einig darin,
dass die Täterverantwortung gestärkt und vor allem die
Präventionsarbeit verbessert werden muss. Wir sind uns
einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu
Verhaltensänderungen beizutragen. Wir sind uns auch
alle einig, dass häusliche Gewalt gesellschaftlich geächtet gehört. Ich will aber an dieser Stelle darauf hinweisen, dass beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe
erst seit 1997 strafbar ist und dass die Dunkelziffer im
Bereich der häuslichen Gewalt immer noch ausgesprochen hoch ist. Häusliche Gewalt gilt bedauerlicherweise
immer noch zu häufig als Kavaliersdelikt.
Wir sind uns einig darin, dass Betroffenen häuslicher
Gewalt schnell und unbürokratisch geholfen werden
muss. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf
Frauenhäuser? Die Linke fordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung der Frauenhäuser und einen ungehinderten Zugang für alle betroffenen Frauen und deren Kinder, unabhängig von sozialer oder ethnischer
Herkunft. Täterprogramme sind notwendig und wichtig,
aber die Opfer sollten nicht unberücksichtigt gelassen
werden. Wenn der Rechtsanspruch auf eine Zufluchtsmöglichkeit in allen Fällen von Gewalt als freiwillige
Leistung gewährt wird, führt das, auch wegen der Steuerpolitik der Regierung zulasten der Kommunen, häufig zu
weitreichenden Kürzungen und damit zur Einschränkung
von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten.
Unser Problem mit dem Gesetzentwurf ist zunächst
ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschreibung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die Verlängerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StPO
vorgeschlagen wird. Mein Kollege Nešković hat bereits
am 16. Februar 2009 in der „taz“ alles Wesentliche
dazu gesagt: „Nötig ist nicht die Legalisierung des
Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht
geringfügigen Straftaten.“ Worum geht es genau: Wir
sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige
Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung
einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns
einig sind, dass in Fällen häuslicher Gewalt zum Opferschutz und zur Prävention Täterprogramme mit dem Ziel
durchzuführen sind, Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderungen zu erreichen, dann ist nicht nachvollziehbar,
dass bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfahren eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als:
Du darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterprogramm besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein.
Das ist ein Skandal. Insofern geht der Gesetzesentwurf
an dieser Stelle in die falsche Richtung. Solange der
Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird,
können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Dem Gesetzentwurf hätte es aber auch gut zu Gesicht
gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und
gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Täterprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass es
keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der
Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Festschreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend
Täterprogramme vorhanden sind. Das erscheint uns zumindest als ein mindestens ebenso großes Problem. Vor
diesem Hintergrund fordern wir ein umfassendes Konzept im Umgang mit häuslicher Gewalt, zu dem neben
der Ächtung derselben die Ausfinanzierung von Frauenhäusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen
gehörten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Sanktionenrecht im deutschen Strafrecht ist
immer noch zentral ausgerichtet auf Geld- und Freiheitsstrafen. Weitere und effektivere Einwirkungs- und
Ahndungsmöglichkeiten wurden bisher immer nur als
Einzelmaßnahmen und wenig systematisch ins Sanktionensystem eingefügt. Zu erwähnen ist hier an erster
Stelle die Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Seit Jahrzehnten wird über eine Generalrevision diskutiert, es
gibt viele Vorschläge - nur leider liegen sie nicht auf
dem Tisch, sondern in den Schubladen des Justizministeriums und der Rechtspolitik.
Die rot-grüne Koalition hat zweimal - 2002 und 2004 Gesetzentwürfe vorgelegt, die letztlich am Widerstand
der Union, der Länder und einer zaudernden SPD gescheitert sind. Die damalige Kritik aus den Reihen der
CDU/CSU, alle Ansätze zur Diversion würden auf eine
Straflosigkeit von Straftätern und auf ein täterfreundliches Strafrecht hinauslaufen, wird - so hoffe ich - heute
nicht mehr so vorgetragen werden. Zu klar und deutlich
ist inzwischen, dass entpönalisierende Maßnahmen sehr
wohl eine messbare spezial- und generalpräventive Wirkung haben können und einen Beitrag zum zukünftigen
Opferschutz leisten. Auch die Bundesländer sehen - hoffentlich - inzwischen ein, dass die Kosten der Diversion
sich doppelt auszahlen, denn nichts ist teurer als die
Geldeintreibung und der Strafvollzug als einzige Antworten des Strafrechts auf strafwürdiges Verhalten.
Der heute zu diskutierende Vorschlag des Bundesrates geht in die richtige Richtung. Allerdings ist das nur
eine minimale Korrektur oder, besser gesagt, Ergänzung
des Sanktionensystems, was ein weiteres Nachdenken
und Arbeiten an einer Reform des Sanktionensystems
nicht ersetzen kann. Aber immerhin: Damit signalisieren
auch die Länder, dass sie den Elementen der Diversion
nicht mehr apodiktisch negativ entgegenstehen.
In der Sache geht es darum, ein aus dem Bereich der
Verfolgung von häuslicher Gewalt entwickeltes Instrument der Einwirkung auf gewalttätige Männer zu einer
allgemeinen Maßnahme im Sanktionensystem zu etablieren. Konkret geht es um sogenannte Täterprogramme,
die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit
Häusliche Gewalt“ entwickelt und mit Erfolg eingesetzt
werden. Diese Täterprogramme sind ein gewaltzentriertes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Männer, bei dem vielfältige pädagogisch-therapeutische
Ansätze, Konzeptionen und Methoden verfolgt werden.
Solche Programme als Ersatz oder Vorstufe zur Geldoder Freiheitsstrafe sind richtige und längst notwendige
Sanktionsmaßnahmen eines modernen Strafrechts. In
der Sache ähneln sie sicher den bereits im Jugendstrafrecht eingeführten „sozialen Trainingskursen“ als Weisungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG.
Der Bundesrat schlägt vor, solche Täterprogramme
ausdrücklich als Weisungen in Fällen der Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 a StPO und als Anweisungen bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt nach
§§ 59, 59 a StGB aufzuführen und dabei die Frist zur Erfüllung der Weisung nach § 153 a StPO auf ein Jahr zu
verlängern.
Nach § 153 a StPO ist schon jetzt die Verhängung einer solchen Weisung möglich, was sich aus dem Wort
„insbesondere“ ergibt. Die Aufzählung der Weisungsmöglichkeiten im Gesetz ist nicht abschließend. Allerdings bleibt richtig, dass die regelmäßige Frist von
sechs Monaten zur Weisungserfüllung kontraproduktiv
kurz ist. Deshalb wird im Verlauf der parlamentarischen
Beratungen zu prüfen sein, ob es sich nicht anbietet, die
Frist von sechs Monaten generell auf ein Jahr anzuheben. Für die Weisung, Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen, ist dies bereits jetzt geltendes Recht.
Auch in Fällen der Weisung der Wiedergutmachung
des verursachten Schadens oder der Zahlung eines
Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung in Raten sind viele Beschuldigte überfordert, die jeweiligen
Weisungen innerhalb von sechs Monaten zu erfüllen.
Unter Umständen würde eine solche generelle Verlängerung der Frist auf ein Jahr ausreichend sein, um der
Forderung des Bundesrates nach einer Ausweitung der
Weisung nachzukommen.
Wenn allerdings eine ausdrückliche Erwähnung der
Weisung im § 153 a StPO in Betracht gezogen wird, um
ihre gewollte erweiterte Verhängung deutlich zu machen, dann ist jedenfalls der Auffassung der Bundesregierung zu folgen, wonach es sich verbietet, Beschuldigte ohne eine rechtskräftige Verurteilung als „Täter“
zu bezeichnen. Auch die Formulierung des Bundesrates,
den Begriff „Täterprogramm“ zu verwenden, engt die
Möglichkeiten der Nutzung dieser Weisung eher ein.
Denn dieser Begriff ist für Männer, die im häuslichen
Umfeld gewalttätig werden, eingeführt. Deshalb wird
auch im Rahmen von § 59 a StGB eine ähnliche Formulierung, wie sie schon im Jugendstrafrecht vorliegt, vorzuziehen sein.
Wir Grüne werden uns an der parlamentarischen Debatte mit eigenen Vorschlägen beteiligen und erwarten
von der Koalition, insbesondere von der Fraktion der
CDU/CSU, dass der Vorschlag des Bundesrates konstruktiv aufgenommen wird.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen
- Drucksache 17/5377 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden nehmen wir zu Protokoll.
Erst vor drei Wochen haben wir über das Thema Dioxin debattiert. Nun liegt heute ein Antrag der Linken vor,
der sich des Themas erneut annimmt. Doch neu geschrieben ist nicht neu gedacht, werte Kolleginnen und
Kollegen von der Linken. Aber gern lege ich Ihnen noch
einmal die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
zu den Dioxinvorfällen dar:
Im vergangenen Jahr, genauer: am 21. Dezember,
drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastungen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Januar - nur 24 Tage später - stellte Bundesagrarministerin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der
Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am
2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen
zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetzliche Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans.
Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ersten Dioxinmeldungen! Ich wiederhole: anderthalb Monate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung
kennt, der weiß, was dieser Zeitraum bedeutet.
Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wieder einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie
und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untätigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein
Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere
Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert.
CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert. Das ist verantwortungsvoller Verbraucherschutz!
Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal
wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die
Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese
sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in
der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein dickeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregierung kann ich mir kaum vorstellen.
Bevor ich zu der heute in erster Lesung zu beratenden
Novelle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches
komme, lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den
Dioxinvorfällen sagen. Ich denke, das ist, auch wenn wir
darüber schon debattiert haben, bitter nötig.
Die Rolle, die die Opposition und ein Teil der Medien
hier gespielt haben, war höchst verantwortungslos. Anstatt zur sachlich-fachlichen Aufklärung beizutragen,
überschlug man sich in immer hysterischeren Überschriften. Und während der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages die Vorfälle um das dioxinverschmutzte Futtermittel diskutierte, hatte die Opposition
nichts Besseres zu tun, als den Sitzungssaal zu verlassen
und der Presse angebliche neue Skandale in die Feder
zu diktieren. Wir hätten uns eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition gewünscht. Doch von dieser kam, wie so häufig in der Vergangenheit, nur ein destruktives Skandalisieren. Ihr Antrag spiegelt diese
oppositionelle Unsachlichkeit beispielhaft wider - und
das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition
scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher
zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben.
Dann kann man eigene politische Ziele am besten umsetzen.
Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergangen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene
Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde
dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundesinstitut für Risikobewertung die wenigen geringen
Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebensmitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich eingestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass
die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland - gut
zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Muttermilch - seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen ist und
heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten liegt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie betreiben politischen Missbrauch auf dem Rücken der Verbraucher mit dem Ziel, Ihre sogenannte ökologische
Agrarwende zu erreichen.
Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus:
Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Landwirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in dieser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD
und Linke eigentlich sind.
De facto ist es doch so: Die moderne, arbeitsteilige
und intensive Landwirtschaft ist dafür verantwortlich,
dass die Menschen heute nur 11 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen. Die moderne
Landwirtschaft ist unter anderem dafür verantwortlich,
dass die Lebensmittel heute qualitativ so hochwertig
sind wie nie zuvor. Die moderne Landwirtschaft produziert für die Verbraucher Lebensmittel gut und preiswert. Das nenne ich wirklich nachhaltig! Verschonen Sie
uns also bitte mit Ihrem Gerede von der Agrarwende!
Niemand will die Situation schönreden. Es hat die
Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben.
Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminellen Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um individuelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswirkungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende
bäuerliche Familien.
Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkommen als Folge der Dioxinpanscherei lassen sich schon an
den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den vergangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte
deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Geflügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt
sich, was von der von der Opposition propagierten ökologischen Systemwende und den darin verborgenen Anschuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden
Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und
ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter!
Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die
Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die
intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft.
Wir müssen vorwärtsschauen und vorwärtshandeln. Was
wir, was die Bundesregierung und - das darf nicht vergessen werden - was auch die EU plant, sind Maßnahmen, um Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion
so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher
für Betrüger noch kleiner werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Am 24. März wurde die 41. Verordnung zur Änderung
der Futtermittelverordnung dem Bundestags zugeleitet.
Hierin wird eine Zulassungspflicht für bestimmte Futtermittelhersteller sowie eine Trennung der Produktionsströme von Fetten und Ölen, die als Futtermittel verwendet werden, geregelt. Zudem wird vorgeschrieben, dass
diese Betriebe Eingangsuntersuchungen auf Dioxine
und dioxinähnliche Stoffe durchzuführen haben. Damit
werden die Punkte 1 bis 3 des Aktionsplanes der Bundesregierung und der Länder umgesetzt.
Des Weiteren sind Änderungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch in der Umsetzung. Diese betreffen
insbesondere die Punkte 4 und 8 des Aktionsplanes, also
die Meldepflicht von privaten Laboren, wenn sie erhöhte
Werte bei ihren Untersuchungen von Futtermittelproben
feststellen, sowie die Meldepflicht bei internen Untersuchung von Unternehmen, bei denen erhöhte Werte festgestellt worden sind. Sie sehen, die Bundesregierung ist
auf einem guten Weg.
Vor mehr als drei Monaten, am 23. Dezember 2010,
wurde bekannt, dass ein skrupelloses Futtermittelunternehmen dioxinbelastetes Futter in Umlauf gebracht
hatte. In der Folge wurden erhöhte Grenzwerte in Eiern,
in Geflügel- und Schweinefleisch nachgewiesen. Mehrere Tausend landwirtschaftliche Betriebe wurden gesperrt, und Verbraucherinnen und Verbraucher waren
zutiefst verunsichert.
Die SPD-Bundestagsfraktion legte daraufhin umgehend einen Forderungskatalog vor, um Konsequenzen
aus diesem Skandal zu ziehen. Diese wurden dann weitgehend in den Aktionsplan des Bundes und der Länder
„Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel,
Transparenz für den Verbraucher“ aufgenommen.
Auch im vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
„Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen“ finden sich unsere Forderungen wieder; das
freut uns.
Insofern liegt uns aber hier nichts Neues vor, und einige der geforderten Maßnahmen befinden sich bereits in
der Umsetzung bzw. werden beraten, wie zum Beispiel im
Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuches, LFGB, die Meldepflichten
für private Labore und Planungen für ein Dioxinmonitoring.
Natürlich ist es aber generell richtig, dass aus dem
Dioxinskandal die nötigen Lehren gezogen werden müssen und das Thema weiter auf die Tagesordnung gehört.
Alle Beteiligten müssen die geplanten Maßnahmen zügig
abarbeiten, und wir als Opposition müssen immer wieder darauf hinweisen und nachfragen.
So liegen zum Beispiel auch heute noch keine Planungen für den von uns geforderten weiteren Ausbau der
Rückverfolgbarkeitssysteme vor. Verbraucherinnen und
Verbraucher müssen die Herkunft von Lebensmitteln
und auch Futtermitteln über alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen lückenlos nachverfolgen
können. Und dies muss auch europaweit gelten. Wir
brauchen im Lebensmittelbereich die gläserne Produktion vom Acker bis auf die Teller der Verbraucherinnen
und Verbraucher, denn nur so kann Vertrauen in die Sicherheit von Lebensmitteln wiederhergestellt werden.
Darin sind wir uns mit der Linken einig.
Wir freuen uns auch darüber, dass die Linke in ihrem
Antrag unsere Forderung nach einem Informantenschutz aufgreift. Auch wir wollen, dass Zivilcourage gefördert wird, und kritisieren die Bundesregierung, die
den Informantenschutz nicht regeln will.
Wir fordern, dass Insider, die die zuständigen Behörden über Missstände bei ihren Arbeitgebern informieren, gesetzlich vor Kündigung geschützt werden. Auch in
der Vergangenheit wurden Lebensmittelskandale nur
durch Insider aufgedeckt. Eine Regelung für die sogenannten Whistleblower sollte bereits als Konsequenz
aus dem Gammelfleischskandal im Jahre 2008 gezogen
werden. Der damalige Verbraucherschutzminister
Seehofer konnte sich aber nicht gegenüber der CDU
durchsetzen. Und Frau Aigner hat eine Regelung beim
jetzigen Dioxinskandal gar nicht erst in Erwägung gezogen. Also werden wir als SPD zeitnah einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen.
In dem vorliegenden Antrag der Linken steht auch zu
Recht, dass das Verbraucherinformationsgesetz, VIG,
endlich zu verbessern ist. Das VIG muss unverzüglich
novelliert und an die neuen Anforderungen angepasst
werden. Sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungsergebnisse sollen in einer Datenbank veröffentlicht werden. Dies hat unabhängig davon zu
geschehen, ob Grenzwerte eingehalten oder unterschritten wurden.
Auch auf EU-Ebene muss die Bundesregierung umgehend die Initiative ergreifen, damit eine Positivliste für
Futtermittel europaweit verbindlich eingeführt wird.
Aber auch die Bundesländer sind gefragt. Sie müssen
die notwendigen Maßnahmen ergreifen und ihre Kontrollsysteme auf den Prüfstand stellen. Ein bundesweit
einheitliches Niveau der Lebensmittelüberwachung
muss erarbeitet werden, und verstärkte Kontrollen in
den Betrieben sind nötig.
Die bundesweite Internetplattform mit Lebensmittelwarnungen muss endlich freigeschaltet werden. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wohin
belastete Lebensmittel geliefert wurden, und müssen
sich rechtzeitig informieren können.
Um jetzt nicht noch einmal alle SPD-Forderungen zu
wiederholen, möchte ich abschließend nur noch einmal
grundsätzlich feststellen: Es darf bei allen Beteiligten,
die für die Konsequenzen aus dem Dioxinskandal verantwortlich sind, nicht bei bloßen Absichtserklärungen
bleiben, sondern Taten müssen folgen. Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten zu Recht Ergebnisse, um
wieder auf die Qualität der Lebens- und Futtermittel
vertrauen zu können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir sind sehr dafür, Lehren aus dem Dioxinvorfall zu
ziehen, und wir haben dies längst getan. Der Antrag
kommt also zu spät.
Als Erstes sollten wir uns bewusst sein, dass die Ursache des Dioxinvorfalls nach bisheriger Kenntnis auf
kriminelles Handeln zurückzuführen ist. Das bewusste
Fehlverhalten des Betriebes hat zu dem überhöhten Gehalt an Dioxin in Fettsäuren geführt, die Futtermischungen beigemengt und verfüttert wurden. Für Schweine
und Geflügel ist das Beimengen von Futterfetten zum
Getreidefutter für eine gesunde Ernährung wichtig. Gegen bewusstes Fehlverhalten helfen keine Gesetze. Die
Erwartung, dass es nie wieder einen Dioxinfall geben
wird, geht ins Leere.
Die intensive Beschäftigung mit Dioxin hat auch
deutlich gemacht, dass in den letzten 20 Jahren viel erreicht wurde: Die Hintergrundbelastung mit dem Umweltgift Dioxin ist auf ein Drittel gesunken. Das ist ein
großer Erfolg. Er wurde erzielt durch eine bessere Filtertechnik, durch eine verbesserte Steuerung von Verbrennungsprozessen. Dennoch müssen wir den Menschen sagen, dass Dioxine vorhanden sind, die sich nur
langsam abbauen, und dass immer wieder auch neue
entstehen. Durch die im Januar aufgefundenen erhöhten
Gehalte von Dioxinen in Tierfutter sowie auch in tierischen Produkten wurde zu keinem Zeitpunkt die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Opfer des Dioxinvorfalls sind insbesondere kleinere
landwirtschaftliche Betriebe, die das Futter für ihre Tiere
selbst mischen. Wer den Dioxinvorfall jetzt noch thematisiert, nachdem die Bundesregierung ihr 14-PunkteProgramm beschlossen und auf den Weg gebracht hat
- die Gesetzesberatung beginnt nächste Woche -, hat daher kaum den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Auge, sondern will denen schaden, die bisher
schon unter dem Vorfall am meisten gelitten haben: die
landwirtschaftlichen Betriebe.
Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass Fehlverhalten erschwert, Verstöße
schneller entdeckt werden. Deshalb soll eine Zulassungspflicht für alle Betriebe eingeführt werden sowie
eine Trennung der Produktionsströme von Fettsäuren,
die für Futtermittel verwendet werden sollen, und denen,
die technisch verwendet werden. Wir wollen eine Positivliste für Futtermittel. Die Betriebe werden verpflichtet,
ihr Haftungsrisiko abzusichern. Wir brauchen verbindliche Vorgaben für Eigenkontrollen, eine Meldepflicht bei
Gefahr, die Absicherung der Rückverfolgbarkeit. Bund
und Länder müssen zusammenarbeiten, um Qualitätsmanagementsysteme flächendeckend zu evaluieren, eine
verbesserte risikoorientierte Futtermittelkontrolle auf
den Weg zu bringen und ein Dioxinmonitoring zu installieren.
Bereits am kommenden Montag findet die Anhörung
des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz zum Gesetz zur Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches statt.
Warum also dieser Antrag? Ganz klar, Sie möchten
gar nicht in der Sache weiterkommen. Ihr Antrag soll
suggerieren, dass unsere Lebensmittel nicht sicher
seien. Das trifft nicht zu. Mit Ihren unrealistischen Forderungen verunsichern Sie Konsumenten und Produzenten, vertreiben Unternehmen ins Ausland, verteuern die
Produktion in Deutschland und schaden letztendlich
dem Verbraucher mehr, statt ihn zu stärken.
Sie bedienen die Sorgen und Ängste der Verbraucherinnen und Verbraucher, statt ihnen Orientierung zu geben. Gefährdungen durch Lebensmittel passieren zumeist dann, wenn Hygienevorschriften nicht beachtet
werden. Letztes Jahr sind Menschen an mit Listerien
kontaminiertem Käse gestorben, in diesem Jahr wurde
wiederum in Nordrhein-Westfalen vor Käse gewarnt, der
mit Listerien belastet war. Die Thematisierung von
Schadstoffen verursacht eine verzerrte Risikowahrnehmung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Gemeinsam sind jetzt der Bund und die Länder in der
Pflicht, entsprechend dem 14-Punkte-Programm „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transparenz für den Verbraucher“, dem alle zugestimmt haben,
zu handeln. Dabei gilt es, mit Augenmaß zu handeln,
keine bürokratischen Monster zu errichten und nicht Datenmengen anzuhäufen, die niemand überblicken kann.
Wir wollen Transparenz, und wir wollen gleichfalls, dass
die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen.
Eines zum Schluss: Bei aller Pflicht zur Vorsorge, wir
dürfen unsere Verantwortung für die eigentlich Geschädigten, die Landwirte der gesperrten Betriebe, welche
ohne eigenes Verschulden in existenzielle Notlage geraten sind, nicht vergessen.
Agrarpolitik könnte so schön sein: Wiesen, Wälder
und Traktoren. Das sind Themen, mit welchen ich mich
gerne beschäftigen würde. Stattdessen müssen die Mitglieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, ELV, in regelmäßigen Abständen Skandale aufarbeiten. Erinnern wir uns an BSE
oder die Berge von brennenden Tierkadavern in der
MKS-Krise oder ans Gammelfleisch oder eben an den
Futtermittelskandal Anfang des Jahres 2011: Kaum war
die letzte Silvesterrakete explodiert, platzte die DioxinBombe!
Illegale Panscherei in der Futtermittelindustrie erschütterte das politische Berlin. Belastetes Industriefett
war mindestens über Monate hinweg ins Tierfutter gemischt worden, und keiner hatte es gemerkt. Das hochgelobte QS-Prüfsystem - unter Renate Künast als Allheilmittel eingeführt - hat dieses kriminelle Handeln
nicht eindämmen können. - Das ist die eine Schwachstelle im System.
Die andere ergibt sich aus der hochriskanten Art und
Weise, wie heutzutage Futtermittel hergestellt werden.
Das Risiko ergibt sich zunächst aus der offensichtlich
kriminellen Motivation einiger Manager zur Profitmaximierung durch Kostenminimierung bei Rohstoffen, oft
Zu Protokoll gegebene Reden
genug auch auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Und es gibt drei weitere wesentliche Risiken: erstens
Kenntnislücken über Eintragsrisiken des Umweltgiftes
Dioxin in die Lebensmittelkette, zweitens die hohe Anzahl von Futtermittelzusätzen, drittens die sehr komplexen Lieferbeziehungen in der Futtermittelbranche, die
zur Folge haben, dass Tausende Höfe in mehreren Bundesländern vorsorglich gesperrt werden mussten, weil
ein Futtermittelhersteller kriminell gehandelt hat. Diese
Betriebe hatten keinerlei Chance, diesem Risiko zu entgehen. Der Schweinemarkt brach zusammen, gegenseitige Schuldzuweisungen füllten wochenlang die Medien.
Eine ganze Branche stand unter Verdacht.
Die Linke meint, der Dioxinskandal wäre vermeidbar
gewesen, wäre bereits nach den Erfahrungen aus früheren Skandalen ein wirklich wirksames, bundesweites
Kontrollsystem installiert worden. Hier haben alle Bundesregierungen der jüngeren Vergangenheit versagt.
Die Bundesregierung will nun konsequent handeln leider aber wieder unzureichend, weil nicht strategisch
und strukturverändernd. Bundesagrarministerin Aigner
legte einen 10-Punkte-Plan vor und verständigte sich
mit den zuständigen Ministerinnen und Ministern der
Länder auf einen 14-Punkte-Plan. Das war ein erster
Schritt, dem nun aber Taten folgen müssen. Der BundLänder-Plan enthält Maßnahmen und Gesetzesvorhaben, die eine Wiederholung des Dioxinskandals verhindern sollen. Einiges davon hat auch Die Linke gefordert,
und das unterstützen wir natürlich; aber insgesamt wird
das nicht ausreichen. Zum Beispiel fehlen dringend notwendige Forschungsvorhaben zu Einschleppungsrisiken
von Umweltgiften in die Lebensmittelkette. Auch eine
systematische Überprüfung der Kontrollsysteme ist eine
Fehlstelle, mal abgesehen davon, dass an den strukturellen Ursachen in der Branche kaum gerüttelt wird. Aber
genau hier muss aus Sicht der Linken ein strategisches
Handlungskonzept ansetzen.
Leider werden von den 14 Bund-Länder-Vorhaben
nur ganze zwei im Deutschen Bundestag als Gesetzentwürfe behandelt: das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, zu dem in der kommenden Woche eine
Anhörung des ELV-Ausschusses stattfindet, und eine
Novelle des Verbraucherinformationsgesetzes. Die
Linke sieht es als wenig nachvollziehbar an, dass wesentliche Entscheidungen - zum Beispiel Trennung der
Produktionsströme, verbindliche Anforderungen an das
Eigenkontrollsystem der Unternehmen und die Zulassungspflicht für die Futtermittelbetriebe - in Rechtsverordnungen geregelt und damit nicht im Parlament behandelt werden sollen. Das sind wesentliche Fragen, die
wegen ihrer Bedeutung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher vom Parlament entschieden werden sollten.
Der Entwurf einer Änderung der Futtermittelverordnung liegt mittlerweile auch auf dem Tisch. Die Futtermittellobby hat bereits Protest angemeldet und kritisiert
angeblichen politischen Aktionismus. Ministerin Aigner
wird also Schwierigkeiten haben, selbst die meiner Meinung nach wenig ambitionierten Vorhaben gegen die geballte Lobby durchzusetzen. Wettbewerbsverzerrungen
werden befürchtet und ein nationaler Alleingang abgelehnt - am besten solle alles fast so bleiben, wie es war,
findet die Industrie. Aber ein „Weiter so“ darf es aus
meiner Sicht auf gar keinen Fall geben.
Aus Sicht der Linken sind Aigners Vorschläge nicht
ausreichend. Es müssen weitergehende Konsequenzen
gezogen werden. Wir meinen, der Dioxinskandal darf
nicht nur Änderungen kosmetischer Natur zur Folge haben, sondern muss an die Basis der Futtermittelproduktion und -kontrolle heran. Darum bringen wir heute unseren Antrag „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen“ in den Bundestag ein.
Wir fordern, die strukturellen Defizite in der Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle zu beseitigen. Wir wollen, dass Landwirtinnen und Landwirte genauso wie
Verbraucherinnen und Verbraucher vor schädlichen
Umwelteinflüssen und Giften geschützt werden. Der unter Rot-Grün begonnene zunehmende Ersatz staatlicher
Kontrollen durch Eigenkontrollen der Betriebe - nach
deren eigenen Regeln - hatte verheerende Folgen. Aus
unserer Sicht wird ein strategischer Ansatz zur Lösung
des Problems gebraucht. Das heißt, die gesamte Produktionskette mit den Stoffkreisläufen vom Acker bis zum
Teller muss wirksam unter Kontrolle genommen werden.
Wir schlagen ein betriebliches Zertifizierungssystem
nach strengen gesetzlichen Vorgaben - das ist sehr wichtig - für die gesamte Erzeugungskette vom Stall bis in
die Ladentheke vor. Das wurde uns übrigens schon mal
in der Anhörung zum Gammelfleischskandal vor einigen
Jahren empfohlen, und wir greifen das jetzt auf. Die daraus entstehenden Mehrkosten sollten branchensolidarisch umgelegt werden. Das Zertifikat muss auf strengen
gesetzlichen Regeln basieren und die einzelnen Marktteilnehmer und ihr Handeln überwachen. Für jede Futtermittelcharge sollte vor der Verarbeitung zu einem
Mischfutter die Unbedenklichkeit nachgewiesen werden.
Labore sollten verpflichtet werden, über auffällige Befunde den Behörden zu berichten, das heißt in Verdachtsfällen oder bei Grenzwertüberschreitungen in
Futtermitteln. Die Berliner Verbrauchersenatorin der
Linken, Katrin Lompscher, hält die von der Bundesregierung vorgesehene Meldepflicht nicht für weitgehend genug, wie sie in ihrer Stellungnahme zur LFGB-Anhörung
am 11. April 2011 schreibt. Sie fordert eine Ausweitung
der Meldepflicht auf jede Person, die beruflich mit Lebens- oder Futtermitteln zu tun hat und Unstimmigkeiten
dabei feststellt. Aigner will sie auf Laboratorien beschränken. Die Linke will die staatlichen Kontrollen
stärken, indem zum Beispiel die Zusammenarbeit der
Länder weiter verbessert und der Zugang zu allen Betriebsdaten der Erzeugerkette ermöglicht wird.
Der Dioxinskandal hat nicht nur Verbraucherinnen
und Verbraucher verunsichert - der Run auf Bio-Eier
war ein deutliches Signal, denke ich -, sondern auch
viele Landwirtinnen und Landwirte hart getroffen. Ihre
wirtschaftliche Existenz wurde bedroht. Der Lieferstopp
sorgte für fehlende Einnahmen auf vielen Bauernhöfen.
Hinzu kommt noch der Vertrauens- und Kundenverlust
durch jeden weiteren Lebensmittelskandal. Einzig der
Zu Protokoll gegebene Reden
kriminellen Gier und Skrupellosigkeit einiger Weniger
ist es zu verdanken, dass eine ganze Branche so schwer
erschüttert werden konnte.
Dabei sind die meisten Landwirtinnen und Landwirte
völlig unschuldig in diese Situation geraten. Die Linke
fordert, die betroffenen Betriebe mit ihren finanziellen
Schwierigkeiten nicht alleinzulassen und Entschädigungsleistungen zu ermöglichen, beispielsweise über die
Landwirtschaftliche Rentenbank. Per Gesetz sollte für
zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichsfonds geschaffen werden. Dieser muss von der Futtermittelindustrie
finanziert werden. Haftpflichtregelungen reichen nicht,
weil sie bei vorsätzlichem Handeln nicht greifen.
Abschließend noch ein Wort zum Thema Forschung.
Die wird ja immer gern vergessen, ist jedoch die Grundlage für die Politikberatung, also für unser Handeln im
Deutschen Bundestag. Wir brauchen ein veterinärepidemiologisches Zentrum, das sich zum Beispiel auch mit
den Eintragsrisiken von Umweltgiften in die Nahrungsmittelkette befasst, und wir brauchen die Entwicklung
von zuverlässigen und schnelleren Diagnostikmethoden.
Aber statt die politikberatende Forschung zu stärken,
wird die Bundesressortforschung seit Jahren und seit
mehreren Bundesregierungen immer weiter zusammengestrichen. Das kritisiert die Linke schon seit Jahren.
Gemeinsam mit den Bundesländern muss eine Strategie
zur Sicherung der Futtermittelsicherheit erarbeitet und
ständig weiterentwickelt werden. Gesetzgeberische Lücken müssen identifiziert und konsequent geschlossen
werden.
Der Dioxin-Skandal, der im Januar Deutschland bewegte, ist inzwischen aus der Presse verschwunden.
Ausgestanden ist er damit noch lange nicht. Noch immer
kämpfen Betriebe mit den Folgen des Skandals und noch
immer sind die Quellen des Dioxins nicht restlos aufgeklärt. Die Verwaltungen von Bund und Ländern bringen
nach und nach den 14-Punkte-Dioxinaktionsplan in
Rechtsform, und der Bundestag wird die Beratungen
über die Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches am Montag mit einer öffentlichen Anhörung beginnen. Das alles geschieht nicht wirklich im Eiltempo,
und vieles, was die Bundesregierung bisher vorgelegt
hat, bedarf noch der Konkretisierung und muss sich erst
noch als praxistauglich erweisen. Dennoch haben Bund
und Länder da, wo sie tätig werden, unsere Unterstützung.
Was fehlt, sind die politischen Konsequenzen aus der
Dioxinkrise. „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen Ursachen bekämpfen“ lautet die Überschrift des hier
debattierten Antrags der Linken. Genau daran mangelt
es nach wie vor, und auch der Antrag der Linken hat
dazu nicht viel anzubieten. Im Antrag der Linken fehlt,
was die Bundesregierung von Anfang an versäumt hat:
die politischen Konsequenzen aus dem Dioxinskandal zu
ziehen.
Der politische Skandal im Dioxinskandal ist doch
nicht der Mangel an technischen und juristischen Nachbesserungen. Da machen die Verwaltungen gute Arbeit.
Der politische Skandal ist, dass die Koalition politisch
überhaupt keine Konsequenzen gezogen hat, sondern
mehr denn je auf ein „Weiter so!“ setzt, was früher oder
später in den nächsten Lebensmittelskandal führen wird.
Das große Versagen der Bundesregierung im Dioxinskandal besteht darin, dass sie die Zeichen der Zeit nicht
erkannt hat, dass sie einmal mehr den Ruf aus der Bevölkerung nach einem radikalen Systemwandel ignoriert
und die überfällige Agrarwende verpasst. Dabei lautet
die entscheidende Frage doch, ob wir in der Landwirtschaft eigentlich noch auf dem richtigen Weg sind mit
der Industrialisierung, Exportorientierung und industrialisierten Massentierhaltung oder ob uns nicht dieses
System der Agrarfabriken in die Sackgasse geführt hat.
Die Bürgerinnen und Bürger haben diese Frage bereits beantwortet. Sie sind informiert; sie sind auf den
Stand der Dinge, und sie sagen eindeutig: Dieses System
vergiftet unsere Nahrung und macht uns als Konsumenten zur Müllkippe, zerstört unsere Umwelt, hält das Mitgeschöpf Tier in unerträglichen Verhältnissen und
degradiert es zum Produktionsfaktor, das man mit demselben Müll füttern kann wie ein Kraftwerk.
„Hauptsache billig!“ - das ist die Logik der Agrarindustrie, und da braucht man sich nicht wundern, wenn
wir alle Jahre wieder Lebensmittel als Sondermüll entsorgen müssen. Dieser Logik der Agrarindustrie ist die
schwarz-gelbe Koalition vor dem Dioxinskandal gefolgt,
und dieser Logik folgt sie jetzt immer noch. Dabei hat
Frau Aigner durchaus einige positive Versuche gestartet. Aber wo immer die Ministerin versucht, etwas anzupacken, und sei es auch nur symbolisch, stehen die
Bremser und Saboteure aus den eigenen Reihen schon
bereit: Verbot des Kleingruppenkäfigs - von der FDP
blockiert. Verbot des Schenkelbrands bei Pferden - vom
Tierschutzbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion Stier
mit zweifelhaften Mitteln und einer Lobbykampagne bekämpft. Aigners Kampagne „Wahrheit und Klarheit“ von der Koalition im Agrarausschuss unter Demütigung
der anwesenden Ministerin zerrissen. Die Charta für
Landwirtschaft - vom Bauernverband mit seinen zahlreichen CDU/CSU-Mehrfachfunktionären auf das Heftigste bekämpft. Eine ökologische EU-Agrarreform einstweilen aus Rücksicht auf den CSU-Kollegen Deß
abgesagt. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Am Ende
steht die Ministerin nicht zu ihren Ankündigungen, sondern erklärt pflichtgemäß: Keine Agrarwende!
Wir sagen: Die Agrarwende in die Zukunft muss kommen, und die Zeichen in Brüssel stehen nicht schlecht.
Die EU-Agrarreform wird zeigen, ob Ilse Aigner am
Ende als Reformerin oder als Requisite des Bauernverbands dastehen wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Monika Lazar, Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauenquote bei Gremienbesetzungen durch
das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung konsequent einhalten
- Drucksache 17/5257 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.
Zunächst möchte ich feststellen: Die Bundesregierung ist bei der Berufung und Entsendung von Frauen in
Gremien ein gutes Stück vorangekommen. Dies belegt
der Fünfte Gremienbericht für den Zeitraum 30. Juni
2005 bis 30. Juni 2009. Wir wollen aber hier nicht stehen bleiben. Denn trotz erheblicher Fortschritte ist eine
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in
Gremien noch nicht gegeben.
Um weitere Verbesserungen zu erreichen, will die
Bundesregierung das Bundesgremienbesetzungsgesetz
novellieren. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen
und Männern ist Ziel dieses Gesetzes. Eine starre Frauenquote - wie in Norwegen - sieht das Gesetz für die
Gremien des Bundes nicht vor. Das Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat bei seinen
Gremienbesetzungen aber bereits jetzt versucht, darauf
hinzuwirken, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen und Männern in Gremien geschaffen und erhalten wird.
Das BMVBS hat im Gleichstellungsplan für die Jahre
2010 bis 2013 eine ganze Reihe von Maßnahmen festgehalten. Nach dem Bundesgremienbesetzungsgesetz ist
jede vorschlagsberechtigte Stelle bei der Besetzung von
Gremien im Bundesbereich grundsätzlich verpflichtet,
für jeden ihr zustehenden Gremiensitz jeweils eine Frau
und einen Mann gleicher Eignung zu benennen. Die
Verpflichtung zur Doppelbenennung entfällt nur in einigen Ausnahmefällen; die Gründe hierfür müssen schriftlich angegeben werden. Das jeweils zuständige Fachreferat bemüht sich darum, Frauen für Gremienfunktionen
zu gewinnen. Der alleinige Hinweis auf die Beachtung
der Vorschriften des Gremienbesetzungsgesetzes reicht
nicht aus. Die Gleichstellungsbeauftragte ist bei den
Gremienbesetzungen zu beteiligen.
Die im Antrag angesprochenen Gremien muss man
differenziert betrachten.
Das Kuratorium Nationale Stadtentwicklungspolitik
zielt auf eine breite Verankerung der nationalen Stadtentwicklungspolitik in der Fachöffentlichkeit. Mitglieder sind: die Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Bauministerkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände, die
für die Belange der Stadtentwicklung relevanten Verbände, Kammern und Vereinigungen sowie in Fragen
der Stadtentwicklungspolitik fachlich profilierte Einzelpersönlichkeiten. Die Bundesregierung hat bei den Verbänden und Kammern keinen Einfluss auf die Benennung
der Vertreter. Gegenwärtig sind 10 von 42 Mitgliedern
Frauen.
Der Anteil der Frauen an dem unabhängigen Fachgutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen
Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im
Rahmen des ESF-Bundesprogramm „Soziale Stadt Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier ({0})“ beträgt 53 Prozent. Die Forderung ist daher hier bereits
erfüllt. Zudem mussten alle Gutachterinnen und Gutachter ihre spezifischen Kompetenzen im Bereich der
Gleichstellung darlegen. Darüber hinaus berücksichtigt
die im Rahmen der zweiten Förderrunde überarbeitete
Förderrichtlinie zum Programm BIWAQ den Gleichstellungsaspekt umfassend. So wird die Chancengleichheit
von Frauen und Männern im Zuge aller verfahrensbezogenen, fachpolitischen und zielgruppenspezifischen Aktivitäten besonders berücksichtigt. Zudem wird analog
zum Operationellen Programm des Bundes für den ESF
- die Gesamtkoordination aller ESF-Bundesprogramme
liegt übrigens beim BMAS - angestrebt, Frauen und
Männer zu jeweils 50 Prozent an den Projektteilnahmen
und am Budget zu fördern.
Die Forderung, dass bei der Benennung von Mitgliedern für projektgebundene Fachjurys, Arbeits- und Auswahlgremien durch das BMVBS mindestens zur Hälfte
Frauen zu berücksichtigen sind, ist bereits erfüllt. Gemäß den §§ 1 und 2 Bundesgremienbesetzungsgesetz
unterliegen grundsätzlich alle Gremien im Einflussbereich des Bundes dem Bundesgremienbesetzungsgesetz.
Für diese Gremien gilt das Ziel einer gleichberechtigten
Teilhabe von Frauen und Männern.
Zudem will die Bundesregierung prüfen, welche Mechanismen geeignet sind, um die Umsetzung des Gesetzesziels in den vom Geltungsbereich betroffenen wesentlichen Gremien transparenter zu machen und zu kontrollieren.
Eine Verpflichtung zur Erstellung und Führung einer
Liste aller Gremien sieht das Bundesgremienbesetzungsgesetz nicht vor. Der Fünfte Gremienbericht der
Bundesregierung empfiehlt in seinen Schlussfolgerungen jedoch, dass künftig „in allen Ressorts an zentraler
Stelle Listen aller Gremien geführt werden, die unter
den Anwendungsbereich des Bundesgremienbesetzungsgesetzes fallen“. Dies beträfe damit auch das BMVBS.
Im Rahmen einer Ressortarbeitsgruppe soll unter Federführung des Bundesfamilienministeriums darüber hinaus eine Liste mit allen wesentlichen Gremien erstellt
werden.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Antrag
der Grünen ist in der Sache nicht falsch, er ist gut gemeint, aber er ist überflüssig, denn die Bundesregierung
hat alle genannten Forderungen längst schon erfüllt
bzw. auf den Weg gebracht.
Das Thema Frauenquote in der Wirtschaft wird zurzeit intensiv diskutiert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern mindestens 40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände. Das muss aber auch für die
Gremien des Bundes gelten. Werfen wir doch einmal einen Blick in die Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn
AG: Der Bund hat in den meisten Fällen keine einzige
Frau in den Aufsichtsrat entsandt. Das ist nicht hinnehmbar. Wir können nicht auf der einen Seite die Wirtschaft
auffordern, mehr für Frauen in Führungspositionen zu
tun, und auf der anderen Seite bei Gremienbesetzungen,
die im Einflussbereich des Bundes liegen, untätig bleiben. Das nimmt uns doch keiner ab!
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz hat zwar zu
kleinen Erfolgen geführt - der Frauenanteil in den Gremien des Bundes ist im Jahr 2009 auf 24,5 Prozent gestiegen -, jedoch verläuft die Entwicklung zu langsam.
Das geht auch aus dem Fünften Gremienbericht der
Bundesregierung zum Bundesgremienbesetzungsgesetz
hervor: „15 Jahre nach Verabschiedung des BGremBG
liegt das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von
Frauen und Männern noch immer in weiter Ferne. Gerade einmal jede vierte Gremienposition ist mit einer
Frau besetzt. Gut jedes zehnte Gremium ist weiterhin
rein männlich.“ ({0})
Dieses Gesetz ist zwar gut gemeint, aber die geringen
Fortschritte machen deutlich, dass das Gesetz viel zu
schwach ist. Es fehlen verbindliche Zielgrößen, Kontroll- und Sanktionsmechanismen. Hier muss dringend
nachgebessert werden. Ansonsten können wir uns in den
nächsten fünf Jahren wieder nur über einen Zuwachs
von knapp 5 Prozent freuen. Angesichts der vielen gut
ausgebildeten Frauen in unserem Land ist das ein Hohn.
Wir vergeuden wichtige Potenziale.
Besonders deutlich werden diese Defizite am Beispiel
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Das Verkehrsministerium hat den drittgrößten
Anteil an Gremien aller Ressorts, belegt jedoch mit einer Frauenbeteiligung von 17 Prozent einen der hintersten Ränge.
Ebenso traurig sieht es beim Frauenanteil in Leitungsfunktionen aus: Mit einem Frauenanteil von nur
20 Prozent belegt das Verkehrsministerium innerhalb
der obersten Bundesbehörden einen der hintersten Ränge.
Alle fünf Staatssekretärsposten sind fest in Männerhand,
und unter den neun Abteilungsleitern ist nur eine Frau.
Hier liegt einiges im Argen.
Die Unterrepräsentanz von Frauen in leitenden
Funktionen setzt sich in den Gremien fort.
Wo keine Frauen in den unteren Ebenen sind, können
nur schwer welche in den Gremien sein. Andersherum
gilt auch: Fehlen Frauen in den Gremien, so fehlen auch
die Vorbilder und der Druck, in den unteren Ebenen - an
den Strukturen - etwas zu verändern. Daher sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch hier für
eine verbindliche Quote von 40 Prozent.
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend
novelliert werden. Dabei sind folgende Punkte von besonderer Bedeutung: Die Novellierung muss dazu beitragen, dass die Gremienbesetzung transparent gestaltet
wird, dass es verbindliche Zielvorgaben gibt - auch hier
fordern wir 40 Prozent -, wie in der Wirtschaft, und dass
Kontroll- und Sanktionsmechanismen eingeführt werden, weil sonst alle Vorgaben nichts weiter als ein zahnloser Tiger bleiben. Dabei ist es natürlich wichtig, dass
die Forderungen zur Novellierung des Gremienbesetzungsgesetzes nicht nur für das Verkehrsministerium,
sondern für alle Bundesministerien gelten.
Auch aus Europa kommt immer mehr Druck, den
Blick auf die Frauenförderung zu erweitern: Mithilfe einer Frauenquote soll endlich mehr Geschlechtergerechtigkeit in Aufsichtsräten erreicht werden. Auch die EU
hat es begriffen. An der Quote führt kein Weg vorbei nicht in der Wirtschaft und auch nicht im Bund.
Die Forderung, den Frauenanteil zu heben - ob in
Gremien des Bundes oder in der Wirtschaft, ob in Verwaltungen oder öffentlichen Ämtern -, diese Forderung
ist gesamtgesellschaftlich richtig und erhält die volle
Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Dass hier
in den zurückliegenden 14 Jahren seit Bestehen des Bundesgremienbesetzungsgesetzes, BGremBG, auch in diesem speziellen Bereich zu wenig passiert ist und die Anhebung des Frauenanteils von anfänglich 12,4 Prozent
im Jahre 1997 auf heute 24,5 Prozent bei Weitem nicht
befriedigen kann, ist richtig. Trotzdem bietet das Gesetz
in seiner Zielstellung, den Bund und andere an der Besetzung von Gremien Beteiligte anzuhalten, auf eine
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
hinzuwirken, eine solide und konsistente Grundlage zur
Umsetzung dieser Forderung, die es weiterzuentwickeln
gilt.
Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum
BGremBG aus dem Jahre 2010, den Sie als Beleg für Ihren Antrag heranziehen, kommt selbst zu den Ergebnis,
dass weder die gesetzlichen Rahmenvorgaben noch die
bisher erzielten Resultate bei der Förderung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen ausreichend sind. Die
Bundesregierung kommt daher auf Seite 36 ihres Berichts zu der Schlussfolgerung, dass eine gesetzliche Novellierung notwendig sei. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
präzisiert die Bundesregierung jedoch diese Forderung
und füllt sie mit einer Reihe konkreter Vorschläge. Hier
bleibt es nicht nur bei einer rituellen Handlung, die
christlich-liberale Koalition macht Nägel mit Köpfen:
Präzisierung der Zielbestimmung in § 1 des BGremBG,
Forcieren einer möglichst flächendeckenden Umsetzung
der gleichberechtigten Teilhabe sowie klare Identifizierbarkeit der Gremien, auf die die gesetzlichen Regelungen Anwendung finden. Das meint das Führen von Gremienlisten. Weiterhin wird auch das von Ihnen kritisierte
Doppelbenennungsverfahren als ineffizient moniert,
ebenso wie das Reißverschlussverfahren. Stattdessen
empfiehlt die Bundesregierung, auf komplizierte Verfahrensregelungen zu verzichten und Neuregelungen durch
Kontrollmechanismen zu flankieren. Schließlich solle im
Zuge einer solchen Novellierung die Zusammenlegung
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
des BGremBG mit dem Bundesgleichstellungsgesetz geprüft werden. Das entspräche auch der Koalitionsforderung nach Entbürokratisierung.
All diese Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Opposition, finden sich auf den Seiten 36 bis 39 des
Gremienberichts der Bunderegierung, und noch einige
mehr. Weshalb der Bundestag hier und heute also die
Novellierung eines Gesetzes fordern soll, ist mehr als
fraglich. Offenbar ist doch die Bundesregierung längst
weiter, als von der Opposition gefordert.
Ein nächster Punkt: Warum begrenzen Sie Ihre Forderungen auf ein Ministerium? Sie fordern das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
BMVBS, zur Einhaltung der durch das BGremBG geforderten Frauenquote auf. Müsste diese Forderung nicht
für alle Ministerien gelten? Und tut sie es nicht längst,
qua Gesetz? Ministerien zur Einhaltung von Gesetzen
aufzufordern, hieße, Eulen nach Athen zu tragen.
Im Übrigen bleiben Sie auch hier wieder im Unkonkreten. Den mahnenden Zeigefinger zu heben, ist ja
schön und gut, reicht aber nicht aus. Nehmen wir also
die in Ihrem Antrag angesprochenen Gremien des
BMVBS: Im Kuratorium Nationale Stadtentwicklung
sind folgende Mitglieder tätig: die Vorsitzenden bzw.
Präsidenten der Bauministerkonferenz, die kommunalen
Spitzenverbände, für die Stadtentwicklung relevante
Verbände, Kammern und Vereinigungen sowie fachlich
profilierte Einzelpersönlichkeiten. Sie können sich vorstellen, dass bei der Auswahl der Vertreter der Verbände
und Kammern die Bundesregierung nicht mitbestimmen
kann. Demzufolge sind die Einflussmöglichkeiten
zwangsläufig begrenzt. Oder nehmen Sie das Fachgutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im Rahmen des ESF-Förderprogramms. Hier beträgt der
Frauenanteil 53 Prozent. Grund zur Beanstandung kann
das nicht sein. Die Vorgaben des Gesetzes werden hier
voll erfüllt.
Sie fordern weiterhin die mindestens hälftige Besetzung mit Frauen in Fachjurys, Arbeits- und Wahlgremien. Diese Forderung ist völlig unverständlich, weil all
die Gremien schon jetzt dem Geltungsbereich des
BGremBG unterliegen. Ich sage nur noch einmal: Eule
und Athen.
Die christlich-liberale Koalition hat sich die Hebung
des Frauenanteils und die praktische Umsetzung der
gleichberechtigten Partizipation von Frauen längst zum
Thema gemacht. Das zeigt nicht nur der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum BGremBG, das
zeigen auch die Bemühungen der Bundesministerinnen
von der Leyen und Schröder zur Frauenquote in Führungspositionen in der Privatwirtschaft. Ihr Antrag zur
Einhaltung der Frauenquote bei Gremienbesetzungen
durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ist in sich inkonsistent und verknüpft
Forderungen ganz verschiedener Handlungsebenen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt diesen Antrag daher
ab.
Seit dem 1. September 1994 gilt das Gesetz über die
Berufung und Entsendung von Frauen und Männern in
Gremien im Einflussbereich des Bundes, Bundesgremienbesetzungsgesetz. Ziel des Gesetzes ist die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in diesen
Gremien. Tatsächlich aber liegt der durchschnittliche
Frauenanteil in allen Gremien im Einflussbereich des
Bundes bei 24,5 Prozent und im Bereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nur
bei 17 Prozent. Diese wichtigen Zukunftsfelder werden
zu 83 Prozent von Männern gestaltet. Damit wird nicht
nur der grundgesetzliche Anspruch auf Gleichberechtigung missachtet, es fehlen auch die weiblichen Perspektiven. Und die sind, was die Lebenswelt in Städten, die
Bauwerke oder den öffentlichen ({0})Verkehr betrifft, eben anders als die männlichen. Wir unterstützen
deshalb den Antrag der Grünen.
Darüber hinaus schlagen wir vor, dass gleich ein konkreter Schritt unternommen wird, der längst überfällig
ist. Ich möchte daran erinnern, dass wir vor einem Jahr
einen Antrag eingebracht haben mit dem Titel „Den
Aufsichtsrat der Deutschen Bahn kompetent und demokratisch besetzen!“ Darin haben wir den Verkehrsminister aufgefordert, die Eigentümerseite im Aufsichtsrat
der Deutsche Bahn AG, die sich zu 100 Prozent im
Eigentum der Bundesrepublik befindet, so zu besetzen,
dass dort zu 100 Prozent das allgemeine öffentliche Interesse vertreten wird. Die Regierung soll Aufsichtsratsmitglieder benennen, die das Ziel verkörpern, den Schienenverkehr in Deutschland sozial, sicher und nachhaltig
zu entwickeln. „Dabei muss die Besetzung geschlechtergerecht werden - auch im Aufsichtsrat sollen 50 Prozent
Frauen sitzen, so wie es in den Zügen zumindest im Nahverkehr der Fall ist.“
Ich bin der Meinung, dass es heute sehr konkreten
Anlass gäbe, zumindest zwei dieser zehn Aufsichtsratsposten - die alle mit Männern besetzt worden sind - sofort umzubesetzen:
Dr. Jürgen Großmann, der ein großer Propagandist
der Atomkraft war und ist, außerdem unter anderem
Vorstandsvorsitzender von RWE, und Christoph DänzerVanotti, Mitglied des Vorstands der E.on AG, Mehrheitseigentümer unter anderem des umstrittenen Bahnkohlekraftwerks Datteln.
Als das Unternehmen mit dem höchsten Stromverbrauch in Deutschland und als größter Staatskonzern
müsste die Deutsche Bahn eine ökologische Vorbildfunktion wahrnehmen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Während Wind bundesweit einen Anteil von rund 8 Prozent im
Strommix hat, liefern die 25 Windräder der Bahn gerade
einmal 0,6 Prozent des Stroms für die Züge. 45 Prozent
des Bahnstroms stammen aus Kohlekraftwerken. Atomkraft hatte zuletzt im Bahnstrommix einen Anteil von
rund 25 Prozent. Und Bahnchef Rüdiger Grube gehörte
im August 2010 zu den 40 Erstunterzeichnern des Energiepolitischen Appells an Bundeskanzlerin Angela
Merkel. Damit hat er sich persönlich für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken eingesetzt. Ein Kenner der
Verhältnisse hat mir kürzlich berichtet, dass das AufZu Protokoll gegebene Reden
sichtsratsmitglied Großmann ihn massiv gedrängt hat,
diese Position zu beziehen.
Angesichts des atomaren Super-GAU in Fukushima
und der aktuellen Energiedebatte wäre es ein doppelt
gutes Signal, jetzt beim Bahnaufsichtsrat mit den konkreten Taten zu beginnen, die den Reden und der Besorgnis der Bundesregierung folgen müssen.
Anstelle der Atom- und Kohlerepräsentanten könnten
Vertreterinnen von Umweltverbänden in den Bahnaufsichtsrat. Wir brauchen dort qualifizierte und profilierte
Frauen, die dazu beitragen, die Bahn auf besseren Kurs
zu bringen.
Seit nunmehr 15 Jahren ist in der Bundesrepublik das
Bundesgremienbesetzungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz
soll die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien sicherstellen. Das damals verfolgte Ziel, nämlich
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
bei Gremienbesetzungen im Einflussbereich des Bundes,
ist jedoch noch immer in weiter Ferne. Während der
durchschnittliche Frauenanteil in Gremien im Einflussbereich des Bundes bei 24,5 Prozent liegt, verzeichnet
der Bericht im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen
Frauenanteil von nur 17 Prozent - und das, obwohl der
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
sich gerne als Frauenförderer sehen möchte. Herr
Minister, Frauen sind im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
in wichtigen Zukunftsfeldern - und das geht weit über
die Gremienbesetzungen hinaus - noch immer erheblich
unterrepräsentiert.
Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte um die Frauenquote in Aufsichtsräten ist die geschlechterparitätische Besetzung von Gremien im Einflussbereich des Bundes von besonderer Relevanz. Der
Bund sollte in puncto Frauenförderung mit gutem Beispiel vorangehen. Wir fordern Sie deshalb auf, die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien,
Kommissionen, Fachjurys und Aufsichtsräten konsequent sicherzustellen. Dieses Anliegen ist kein Selbstläufer, das erfordert schon einige Bemühungen.
Noch immer ist etwa jedes zehnte Gremium rein
männlich besetzt. Das Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung führt zum Beispiel die im Zuständigkeitsbereich des BMVBS gegebene erhebliche
Unterrepräsentanz von Frauen in Gremien und in Führungspositionen auf die überwiegend technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung des BMVBS zurück.
Dabei belegt der aktuelle Bundesgremienbesetzungsbericht, dass Ministerien auch bei technisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung die paritätische Besetzung von
Gremien sicherstellen könnten, wenn der entsprechende
politische Wille vorhanden ist.
Wir fordern in unserem Antrag daher insbesondere
das BMVBS auf, zukunftsorientierte Politik - weg von
den männlich dominierten Strukturen in Gremien - zu
machen und dafür Sorge zu tragen, dass Frauen konsequent in allen Gremien, Aufsichtsräten und Jurys gleichberechtigt vertreten sind. Denn eine Mitwirkung in
Gremien beinhaltet die Möglichkeit, wichtige politische
sowie fachliche Entscheidungen zu beeinflussen. Der
Frauenanteil in Gremien ist insgesamt ein guter Indikator für die Teilhabe von Frauen an gesellschaftlichen
Entscheidungsprozessen und für praktizierte Gleichstellung.
Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung bestätigt: Es bleibt viel zu tun. Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend novelliert und effektiver
gestaltet werden. Transparente und einheitliche Gremienbesetzungsverfahren sowie die Führung von vollständigen Gremienlisten in den Ministerien - ich schaue
hier insbesondere auf das BMVBS - wären ein erster
und wichtiger Schritt, um der Unterrepräsentanz von
Frauen in Gremien, Fachjurys und Aufsichtsräten entgegenzuwirken - und ein längst überfälliges Signal für
praktizierte Gleichstellung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5257 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten Kormoranmanagement einführen
- Drucksache 17/5378 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.
Wir beschäftigen uns heute auf Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Kormoran, besser gesagt: mit der
Forderung, ein Kormoranmanagement einzuführen. Für
dieses Vorgehen spricht sehr viel; die Gründe wurden
von den Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag genannt. Auch wir, das heißt die Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und FDP, fordern ein solches Kormoranmanagement. Wir lehnen jedoch den vorliegenden Antrag ab.
Das geschieht nicht, wie im Antrag behauptet, aufgrund eines Abschiebens von Verantwortung in Richtung
Europa. Es ist vor allem kein Votum gegen ein Kormoranmanagement, wie es ebenfalls im Antrag zu lesen ist.
Vielmehr ist es Ausdruck von verantwortungsbewusster
Politik. Auch in unseren Fraktionen steht ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement weit oben auf der
Agenda. Beim Lesen Ihres Antrages konnte ich erkennen, dass Sie das auch wissen. Die Kolleginnen und KolCarola Stauche
legen der FDP-Fraktion haben ja einen ähnlich lautenden Antrag bereits im Jahr 2006 gestellt.
Bevor entsprechende Einwände kommen - ja, ich
weiß, auch meine Fraktion hat diesen Antrag damals abgelehnt. Das wurde mit den Verweisen auf die verschiedenen Zuständigkeiten bei den gestellten Forderungen
begründet. Auch Ihr Antrag ist alleine aus Zuständigkeitsgründen abzulehnen. Anträge auf finanzielle Förderung müssen die Bundesländer bei der Europäischen
Union einreichen, und die einheitlichen Maßgaben zur
Ermittlung der Schäden müssen diese ebenfalls - zum
Beispiel im Rahmen der Agrarministerkonferenz - festlegen. Das BMELV kann und sollte - unserer Meinung
nach - solche Abspracheprozesse natürlich moderierend
begleiten.
Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vogelschutz oder der Tierschutz allgemein. Die Koalitionsfraktionen haben deshalb bereits einen eigenen Antrag
zu diesem Thema vorbereitet, da uns die Notwendigkeit
eines bundeseinheitlichen Kormoranmanagements bewusst ist. Gerade Frau Dr. Happach-Kasan bringt dieses Anliegen seit Jahren positiv voran, und auch unser
Koalitionsvertrag beinhaltet auf Seite 49 eine Passage
zum Thema Kormoranmanagement.
Sie sehen also, dass gerade wir als Koalition dieses
Thema vorangetrieben haben, und zwar nicht mit abgekupferten Anträgen wie Sie, sondern mit Gesprächen
hinter den Kulissen. Wir freuen uns deshalb natürlich,
wenn Sie zu ähnlichen Schlüssen kommen wie wir.
Dass es Ähnlichkeiten zwischen dem, was Sie wollen,
und dem, was wir wollen, gibt, soll jedoch nicht über
grundlegende Unterschiede hinwegtäuschen. So legen
wir uns bei der Bestandsregulierung nicht auf eine Form
der Regulierung fest, wie Sie das mit der Regulierung
der Reproduktion erreichen wollen. Hier muss genau beobachtet werden, welche Maßnahmen in welcher Region
helfen und welche eben nicht. In Dänemark wurden Kormorane beispielsweise beim Brüten durch grelles Licht
gestört. Diese haben ihre Brutplätze verlassen, die Eier
sind ausgekühlt, und der Kormoranbestand wurde reguliert. Dieses Vorgehen hatte in Baden-Württemberg hingegen keinen messbaren Erfolg zu verzeichnen. Welche
Form der Bestandsregulierung sich am besten eignet,
sollte unserer Meinung nach vor Ort entschieden und
nicht vonseiten des Bundes festgelegt werden.
Dass bei allen Anstrengungen, die der Bund in diese
Richtung unternimmt, ein gemeinsames europäisches
Kormoranmanagement weiter zwingend notwendig ist,
bedarf nicht der Aufklärung durch die Opposition.
Die Frage, warum - wenn wir das eben Geschilderte
doch alles wissen - unser Antrag noch nicht eingegangen ist, hat ganz einfache Gründe: Politik lässt sich, wie
das Leben, nur bedingt voraussagen und dementsprechend schlecht planen. Auch die Koalition aus CDU/
CSU und FDP wäre beim Punkt Kormoranmanagement
gerne weiter. Jedoch haben sich seit Juni vergangenen
Jahres auch einige Dinge ereignet, die in dieser Form
nicht vorhersehbar waren und die verantwortungsvolles
und schnelles politisches Handeln einer Koalition in Regierungsverantwortung erforderten. Themen wie die europäische Finanzkrise, der Dioxinskandal oder nicht zuletzt die dramatischen Ereignisse in Japan haben viel
Raum im politischen Geschäft der letzten zehn Monate
eingenommen. Das hat dazu geführt, dass wichtige Themen, wie beispielsweise das Kormoranmanagement, zurückgestellt werden mussten.
Ich möchte es abschließend noch einmal wiederholen: Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vogelschutz oder der Tierschutz allgemein. Wir lehnen den
gestellten Antrag der Linken ab, sprechen uns aber für
ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement aus. Die
Ausgestaltung eines solchen muss aber an die Realität
angepasst werden.
„Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche
aufhören“ - unter dieses Motto möchte ich meine Rede
stellen. Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgsgeschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten handelt vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unterhalb der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten, und es gibt
für diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese
Artenschutzprogramme drohen zu scheitern.
Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige
Gründe. Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer
und der teilweise noch schlechte ökologische Zustand
der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer wesentlicher Grund ist nach meiner Auffassung der Kormoran. Auch in meiner Fraktion gibt es unterschiedliche
Auffassungen zu diesem Thema. Ich möchte meine Sicht
der Dinge hier kurz darstellen: Um den Kormoran stand
es Anfang der 1980er-Jahre schlecht. Deshalb wurde er
auch unter Schutz gestellt. Aber mittlerweile geht es dem
Kormoran nicht mehr schlecht. Es geht ihm so gut, dass
es mittlerweile allein in Deutschland rund 140 000 Kormorane gibt. In Europa sind es gar rund 2 000 000 Kormorane. Wegen dieser positiven Bestandsentwicklung
wurde der Kormoran bereits 1997 aus dem Anhang I der
Vogelschutzrichtlinie gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt
war der Bestand bereits 20-mal so groß wie 1980. Seitdem hat sich der Bestand bis heute weiter vergrößert.
Es handelt sich hier eindeutig um einen Erfolg für
den europäischen Vogelschutz. Aber dieser Erfolg für
den Artenschutz gefährdet nun den Artenschutz an anderer Stelle - und dies nicht, weil sich etwa die Population
des Kormorans wieder verkleinert, sondern ganz im Gegenteil: Der Erfolg gerät in Gefahr, weil die Kormorane
einige Fischarten bedrohen. Wissenschaftlich heißt das:
Die aquatische Artenvielfalt ist bedroht. Ganz praktisch
bedeutet das: Artenschutzprogramme für bedrohte Arten
wie Lachs, Meerforelle, Äsche und Aal geraten ernsthaft
in Gefahr, und das stellt eine ernsthafte Gefahr für die
Biodiversität dar. Der Bundesumweltminister ist im vergangenen Jahr mit Verweis auf das Jahr der Biodiversität in Sachen Kormoran untätig geblieben. Er muss sich
also den Vorwurf gefallen lassen, dass bei ihm der ArZu Protokoll gegebene Reden
tenschutz an der Wasseroberfläche aufhört. Welche Ausrede er dieses Jahr finden wird, wissen wir noch nicht.
Wir müssen beim Kormoran sehen, dass es Menschen
gibt, deren berufliche Existenz durch den Kormoran zunichte gemacht wird. Es mussten schon einige Teichwirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals über mehrere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt
am Rande der Existenz stehen. Passive Abwehrmaßnahmen gibt es, sie sind aber sehr teuer. Außerdem ist der
Kormoran sehr intelligent. Er findet meist einen Weg
durch die Abspannungen hindurch. Passive Abwehrmaßnahmen sind also wenig erfolgversprechend.
Man muss sich einmal anschauen, was passiert wenn
die Teichwirte den Betrieb einstellen. Denn die Teichwirte übernehmen wichtige Aufgaben bei der Pflege der
Kulturlandschaft. Teichwirtschaften haben eine herausragende ökologische Bedeutung. Es kann doch niemand
ernsthaft wollen, dass diese Lebensgemeinschaften der
Teichgebiete verschwinden. Ohne Teichwirte wird es
keine Fischteiche geben, und mit den Fischteichen verschwindet einer der hochwertigsten Lebensraumkomplexe der mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Der
Schutz der Teichwirte und der Schutz der biologischen
Vielfalt der Teichgebiete sind daher zwei Seiten einer
Medaille.
Das musste übrigens auch der Naturschutzbund
Deutschland NABU feststellen. Der NABU ist der Verband, der den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des
Jahres gemacht hat. Dieser NABU hat eine Teichwirtschaft gekauft und versucht nun, diese extensiv zu bewirtschaften. Er musste aber feststellen, dass wegen des
Kormorans eine Bewirtschaftung nicht lohnenswert ist.
Dort akzeptiert der NABU sogar den Abschuss des Kormorans - den Abschuss des von ihm selbst ernannten Vogels des Jahres. Das ist doch ein bemerkenswerter Vorgang - und das Eingeständnis, dass der Kormoran wohl
doch eine Gefahr ist.
Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europaweit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt nicht
auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben seinerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die Probleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa lokal
lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die
durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran Anfang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert
war, so ist er nun überrepräsentiert. Das Europäische
Parlament hat sich im sogenannten Kindermann-Bericht für ein europaweites Kormoranmanagement ausgesprochen, aber seitdem ist nichts passiert. Die Europäische Kommission sieht keinen Handlungsbedarf.
Die Diskussion um den Kormoran wird äußerst emotional geführt. Das kann nicht gut sein. Das geht schon
in der Bundesregierung los. Da erklärt sich der Bundesumweltminister nicht zuständig, weil der Kormoran
nicht in seiner Art gefährdet ist. Deutsche Angler und
Fischer haben kürzlich über 100 000 Unterschriften für
ein europäisches Kormoranmanagement gesammelt.
Die wollte der Herr Bundesumweltminister gar nicht annehmen, die Frau Bundeslandwirtschaftsministerin
ebenso wenig - sie sei ja nicht zuständig.
Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie auf europäischer Ebene auf
die Erstellung eines Managementplans für Kormorane
drängen will. Bislang war von diesen Bemühungen
nichts zu spüren. Wir werden nun sehen, wie ernst es der
Regierungskoalition mit ihren Bemühungen für ein europaweites Kormoranmanagement ist.
Ein Wort noch zu dem Antrag der Linken: In Ihrem
Antrag vernachlässigen Sie die Rolle der Länder mit ihren Kormoranverordnungen. Insoweit sollten Sie Ihre
Überlegungen hinsichtlich der Handlungsempfehlungen, die sie beschreiben, noch einmal überprüfen. Ich jedenfalls freue mich auf intensive Diskussionen in den
einzelnen Fachausschüssen, um dann hoffentlich eine
für die beteiligten Gruppen zufriedenstellende Regelung
zu finden.
Die Beschreibung der Bestandssituation des Kormorans in Deutschland und der Folgen für Biodiversität
und Fischerei im vorliegenden Antrag der Linken sowie
die Ziele, die verfolgt werden sollen, um die Biodiversität in Seen und Flüssen zu stärken und die Situation der
Binnenfischerei zu verbessern, decken sich weitgehend
mit denen unseres Antrages, den wir in der vergangenen
Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag eingebracht haben. Die Linke hatte sich damals enthalten, inzwischen teilt sie unsere Erkenntnisse. Inzwischen hat
auch die CDU im Landtag in Nordrhein-Westfalen einen
Antrag eingebracht, in dem sie auf ein europaweites
Kormoranmanagement setzt.
Die überaus erfolgreichen Schutzmaßnahmen der
letzten beiden Jahrzehnte für den Kormoran haben dazu
geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren,
dass eine Bestandsregulierung erforderlich wurde. Es
gibt keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war
wie der Kormoranschutz. Anfang der 90er-Jahre wurde
der Kormoran wieder bei uns heimisch. Inzwischen ist
er Bestandsvogel nicht nur an der Küste, sondern auch
in den südlichen Bundesländern, wo er in den letzten
Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen
gewesen ist.
Obwohl es zahlreiche Vogelarten in Deutschland gibt,
die eines intensiven Schutzes bedürfen - über 30 Vogelarten sind in der Kategorie I, der vom Aussterben bedrohten Vögel, darunter Arten wie das Auerhuhn, die
Haubenlerche, die Sumpfohreule oder die Zwergseeschwalbe -, hat der Naturschutzbund Deutschland e. V.,
NABU, den gefiederten Fischjäger zum Vogel des Jahres
2010 gemacht. Dies ist umso bemerkenswerter, als der
NABU selbst eigene Erfahrungen mit dem Kormoran
hat. Er ist Besitzer der Blumenberger Mühle in Brandenburg, einer Karpfenteichwirtschaft. Die Teiche besetzt
der NABU mit Fischen aus einer tschechischen Satzfischaufzucht, die so groß sind, dass Kormorane sie
nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche
der Blumenberger Mühle gesetzt. Ein mit Spenden finanzierter Verband kann sich das leisten, für einen Binnenfischer ist ein solches Verfahren viel zu teuer. Außerdem
Zu Protokoll gegebene Reden
ließen sich diese Transporte leicht durch ein sinnvolles
Kormoranmanagement vermeiden.
Wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken
- Drucksache 17/980 - eingeräumt hat, ist die Anzahl
der heimischen Brutpaare auf etwa 25 000 gestiegen.
Die europäische Population des Kormorans wird auf
rund 700 000 erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamtzahl von insgesamt etwa zwei Millionen Vögel geschätzt.
Damit ist es zwangsläufig an der Zeit, über eine Regulierung nachzudenken, damit die Artenvielfalt in den Gewässern nicht unter dem enormen Fraßdruck des Kormorans zu leiden hat.
Als reiner Fischfresser ist der Kormoran nicht nur für
die Artenvielfalt in den Gewässern, sondern auch für die
Fischerei ein Problem. Ein ausgewachsener Kormoran
frisst täglich bis zu 500 Gramm Fisch. Anders als der
Graureiher kann er nicht auf Mäuse oder andere Beute
ausweichen. Die Verluste in der Teichwirtschaft durch
Kormoranfraß - zum Beispiel Aal und Karpfen - betragen bis zu 90 Prozent. Für die bedrohten Fischarten Aal
und Äsche können vergleichbare Schäden nachgewiesen
werden. In Teichwirtschaft und Binnenfischerei machen
die wirtschaftlichen Schäden nach Angaben der Branchenverbände bis zu einem Viertel des Gesamtumsatzes
aus. Einigen Fischern und Teichwirten hat der Kormoranfraß ein Wirtschaften unmöglich gemacht.
Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auch
aufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, Raubtieren, die
früher einmal bei uns heimisch waren, der Mensch Reh-,
Rotwild- und Damwildbestände beschränken muss, um
im Wald Schäden durch winterlichen Verbiss zu mindern. Genauso müssen wir jetzt durch ein nachhaltiges
Bestandsmanagement für Kormorane verhindern, dass
die durch verschiedene Faktoren bedrohte Fischfauna
durch Kormoranfraß irreparabel in Mitleidenschaft gezogen wird.
Die Äsche, der Fisch des Jahres 2011, ist dafür ein
Beispiel. Ihre Bestände haben sich drastisch in dem Umfang gemindert, in dem die Kormoranbestände gewachsen sind. Die sehr informative Broschüre, die der Verband der Deutschen Sportfischer herausgegeben hat,
dokumentiert die Gefährdungssituation dieser Fischart.
Das Heft ist sehr ansprechend gestaltet. Allerdings vermisse ich ein Grußwort der Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, Frau Professor Beate Jessel, die in
den Vorjahren in solchen Heften, die sehr eindeutig dem
Naturschutz verpflichtet sind, ein Grußwort geschrieben
hat. Offensichtlich ist sie nicht frei, in einem Heft, in dem
selbstverständlich auch der vom Kormoran verursachte
Fraßdruck angesprochen wird, ein Grußwort zu schreiben.
Es gibt im Rahmen der Kormoranverordnungen der
Bundesländer bereits viele Beispiele für regionale Aktivitäten, die eine Regulierung des Kormorans bezwecken.
Der Kormoran ist allerdings ein Wandervogel, und im
Laufe des Jahres kommt es zu einem massenhaften
Durchzug von Vögeln aus den nordeuropäischen Staaten, die zusätzlichen Druck auf bedrohte Fischbestände
ausüben. Zwar sind regionale und nationale Maßnahmen gegen den Kormoran richtig und wichtig, aber ohne
eine Koordinierung dieser Maßnahmen vor allem mit
unseren Nachbarländern, also ohne ein europäisches
Kormoranmanagement, können wir keinen sicheren und
dauerhaften Artenschutz gewährleisten und Schaden
von unseren heimischen Gewässern abwenden.
Ich freue mich, dass unsere Initiative der letzten Legislaturperiode Nachahmung gefunden hat. Die überaus
erfolgreichen Schutzmaßnahmen für den Kormoran haben dazu geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren, dass eine Bestandsregulierung erforderlich
wird.
Die Regierungskoalition ist sich der Wichtigkeit eines
Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiversität
und des Artenschutzes unter der Wasseroberfläche bewusst. Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und FDP
vereinbart, auf europäischer Ebene auf die Erstellung
eines Managementplanes zu drängen. Dieses Ziel verfolgen wir weiterhin. Der entsprechende Antrag hierzu
befindet sich bereits in der Abstimmung. Wir würden es
begrüßen, wenn die Linke unserem Antrag diesmal zustimmt.
Seitdem der Kormoran vor über 40 Jahren durch die
Europäische Vogelschutzrichtlinie unter Schutz gestellt
wurde, ist dessen Population in Europa und in der Bundesrepublik extrem stark gewachsen. Dass es gelungen
ist, eine fast ausgestorbene Art wieder heimisch zu machen, ist ein Erfolg für den Artenschutz. Das verdient
Anerkennung, und das macht Mut für andere Schutzund Wiederansiedlungsmaßnahmen.
Wenn wir allerdings eine Tierart besonders schützen,
müssen wir auch die Folgen im Blick haben, die ein gewachsener Bestand dieser Art auf andere Tierarten hat,
und wir müssen Konsequenzen ziehen, um negative Folgen kontrollieren zu können. Deshalb stellen wir heute
hier im Bundestag den Ihnen vorliegenden Antrag.
Die Kormoranpopulation ist in manchen Regionen so
stark gewachsen, dass sie mittlerweile ein Risiko für den
Bestand von Fischarten in natürlichen und künstlichen
Gewässern darstellt. Um hier keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen: Selbstverständlich sind Kormorane nicht der Grund, weshalb es in den bundesdeutschen Gewässern nicht mehr so viele Fische gibt wie vor
hundert Jahren; das hat der Mensch mit der Verunreinigung, Verbauung und Kanalisierung von Gewässern
schon selber geschafft. Dass hier etwas passieren muss,
hat heute selbst die Union verstanden. Trotzdem werden
immer noch Projekte realisiert, die sich auf die Fischpopulation und die Durchgängigkeit von Gewässern negativ auswirken, wie das von den Grünen mitgetragene
Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg.
Neben den begrüßenswerten Maßnahmen zu Renaturierung von Gewässern oder zur Verbesserung von Wasserkraftanlagen darf eine nachhaltige Strategie zum Erhalt und zur Wiederansiedlung von Fischarten die
Regulierung des Kormoranbestandes nicht ausschließen. Seit Jahren häufen sich die Beschwerden von
Fischern und Anglern, denen die Bejagung ihrer GewäsZu Protokoll gegebene Reden
ser durch Kormorane erhebliche Verluste bereitet. Dass
die Fischentnahme durch Kormorane zu erheblichen
ökonomischen Einbußen für Teichwirte führt, bestreitet
übrigens selbst der Naturschutzbund NABU nicht.
Ich möchte einmal zwei Beispiele anführen. Vor
20 Jahren rechneten Teichwirte im letzten Aufzuchtjahr
für Karpfen mit Verlusten von circa 5 bis 10 Prozent.
Nach einer Erhebung des Landesfischereiverbandes
Brandenburg liegen die Verluste im letzten Aufzuchtjahr
mittlerweile bei fast 30 Prozent. Die Teichwirtinnen und
-wirte in Brandenburg mussten dieser Erhebung nach zusätzlich zu den natürlichen Verlusten bei der Aufzucht
- im Jahr 2009 außerordentliche Verluste von über einer
Million Euro verbuchen - und das bei einem Gesamtjahresumsatz von 3,6 Millionen Euro. Sie können sich ausrechnen, dass Teichwirte bei dem resultierenden Einkommen darüber nachdenken müssen, ihr Unternehmen
aufzugeben. Wenn in der Folge die Teiche verlanden,
verlieren etliche Tierarten ihren Lebensraum.
Ein zweites Beispiel aus einer anderen Region. In einem Abschnitt der Nagold, einem Fluss in BadenWürttemberg, wurden Anfang der 90er-Jahre regelmäßig zwischen 160 und 240 Äschen gefangen. Das hat der
Landesfischereiverband Baden-Württemberg dokumentiert. Nachdem im Winter 1996/1997 circa 400 Kormorane dort überwinterten, sank der jährliche Ertrag auf
unter 25 Äschen, und er ist bis 2008 auf diesem Niveau
geblieben. Für Fließgewässer - die für überwinternde
Kormorane oftmals das letzte Jagdrevier darstellen,
weil sie nicht zufrieren - gibt es etliche dieser Fälle, fast
alle Fischarten betreffend. Der Artenerhalt an diesen
Gewässern ist zum Teil nur noch den Besatzmaßnahmen
der Fischereiberechtigten zu verdanken, den kommerziellen Fischern oder den Anglervereinen. Die verspüren nach dem vierten Kormoranbesuch aber verständlicherweise keine Lust mehr, nur noch Kormoranfutter in
die Flüsse zu kippen; dafür ist auch kein Geld da.
Für die kommerzielle Binnen- und Küstenfischerei
und auch für die Anglerverbände, deren Mitglieder in
ehrenamtlicher Arbeit ihre Gewässer pflegen und damit
einen aktiven Beitrag zum Naturschutz leisten, ist der
unkontrollierte Kormoranbestand ein Problem, das die
Politik nicht vernachlässigen darf. Wir dürfen die wirtschaftliche Bedeutung der kommerziellen und Freizeitfischerei nicht ignorieren, die in strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze sowohl in der Fischereiwirtschaft
selbst als auch im Tourismus sichert, der gerade im
Osten der Republik ein großes Entwicklungspotenzial
darstellt. Und wir dürfen dem Fischartenschutz keinen
geringeren Stellenwert einräumen als dem Vogelschutz.
Am 4. Dezember 2008 hat das Europäische Parlament die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU mit großer Mehrheit aufgefordert, einen
europäischen Kormoranmanagementplan zu erarbeiten
und umzusetzen. Ziel dieses Kormoranmanagements
sollte es sein, die Kormoranbestände in Europa langfristig in die Kulturlandschaft zu integrieren und damit
Schäden an den Beständen von Wildfischarten an der
Küste und in den Binnengewässern zu reduzieren sowie
Schäden von der Fischereiwirtschaft abzuwenden.
Das Europaparlament hat mit der Annahme des Berichts des Europaparlamentariers Heinz Kindermann
das Problem der gewachsenen Kormoranpopulation in
Europa anerkannt. Leider haben das nicht alle Mitgliedsländer der EU getan, sodass es bis heute kein
europäisches Kormoranmanagement gibt und die Bundesregierung - das hat sie in der Antwort auf eine Kleine
Anfrage meiner Fraktion geschrieben - in absehbarer
Zeit nicht mit einem gemeinsamen Kormoranmanagementplan rechnet.
Die Bundesländer können seit einiger Zeit in Kormoranverordnungen regeln, welche Schutzmaßnahmen für
Gewässer ergriffen werden können. Auch wenn es wie in
Schleswig-Holstein durchaus Erfolge zu verzeichnen
gibt, sind die Auswirkungen der Länderverordnungen
oft nur auf lokaler Ebene spürbar. Hinzu kommt, dass
Abschüsse als in den meisten Verordnungen erlaubte
Vergrämungsmethode oft nur zu einer Verlagerung des
Problems führen und kein Instrument einer nachhaltigen
Bestandskontrolle sein können. Weder der passive
Schutz von Teichen mithilfe von Überspannungen noch
die Renaturierung von Gewässern oder das Einbringen
von Totholz als Unterstand haben bisher zum Schutz von
Fischen beitragen können.
In unserem Antrag schlagen wir deshalb vor, ein bundesweites Kormoranmanagement einzuführen, das auf
Basis von belastbaren Zahlen und konsensfähigen Bestandszielen eine bundesweit koordinierte Bestandskontrolle ermöglicht und vorrangig durch die Regulierung der Reproduktion erfolgen soll, wie es bereits in
Mecklenburg-Vorpommern erprobt wurde. Ein bestandsregulierendes Management dieser Art wird nicht von
heute auf morgen umsetzbar sein und kann zunächst nur
auf dem Gebiet der Bundesrepublik erfolgen, was ein
Management der Zugvögel nicht ermöglicht. Daher
schlagen wir vor, Entschädigungszahlungen an Teichwirte und Fischereirechtsinhaber und die Methoden zur
Ermittlung von Schäden zu vereinheitlichen und dafür
Mittel aus der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU
einzufordern. Zudem schlagen wir, als ersten Schritt zu
einem Kormoranmanagement in Europa, vor, ein gemeinsames Kormoranmanagement mit unseren Nachbarstaaten vor allem im Nord- und Ostseeraum anzustreben.
Gemessen an den Aussagen verschiedenster Politiker
in diesem Hause sollte einem gemeinsamen Vorgehen
des Bundestags nichts im Wege stehen. Gerade die FDP
hat in der Opposition - zumindest was das Kormoranmanagement angeht - auch mal gute Vorschläge gemacht, die wir glatt übernehmen können. Bei dieser
Sachfrage, in der es nicht um Kalten Krieg oder ideologische Grundsatzdebatten geht, hätte der Bundestag
einmal die Möglichkeit, über die Parteigrenzen hinweg
konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei
und für über drei Millionen Anglerinnen und Angler in
der Bundesrepublik zu finden. Wir sind zu einem konstruktiven Dialog bereit.
Im Bundestag reden wir oft über nachhaltiges Wirtschaften, über regionale Wirtschaftskreisläufe und ökologisch vertretbare Produktion. Weit über drei Viertel
Zu Protokoll gegebene Reden
des Fischs, der in der Bundesrepublik konsumiert wird,
wird importiert. In manchen Teilen der Welt fischen internationale Fangflotten ihn der Bevölkerung praktisch
vor der Nase weg, damit wir sie billig im Discounter
kaufen können. Die Fischerei ist ein Beispiel dafür, das
wir regionale Potenziale besser nutzen können.
Um ein Kormoranmanagement kommen wir nicht herum, vor allem auch weil sämtliche passive Schutzmethoden an natürlichen Gewässern und Teichen nicht
funktionieren. Das hat übrigens auch der NABU, der
den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des Jahres erhoben hat, bei seinen eigenen Teichen an der Blumberger
Mühle in Brandenburg feststellen müssen. Der RBB hat
berichtet, dass der NABU seit Jahren für seine dortige
Karpfenzucht tonnenweise Satzfische aus Tschechien
importiert, in einer Größe, die der Kormoran nicht mehr
bewältigen kann. Damit Gäste des NABU-Besucherzentrums nicht mit Vergrämungsabschüssen konfrontiert
werden, wird das Problem einfach ausgelagert. Ob es
über den tschechischen Zuchtteichen aussieht wie nach
einer Kissenschlacht, ist dem NABU dabei offensichtlich
egal. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass
wir mehr Ehrlichkeit in der Diskussion um den Artenschutz in der Bundesrepublik und in Europa brauchen.
Zu einem konstruktiven Dialog fordere ich an dieser
Stelle ausdrücklich auch den NABU auf. Artenschutz
darf weder an der Wasseroberfläche enden, noch sollte
er sich auf Tiere mit hübschen Knopfaugen beschränken.
Wenn wir die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie einhalten wollen, wenn wir wollen, dass Wiederansiedlungsprojekte für den Lachs oder den Stör erfolgreich sind, und wenn wir Arten wie den Aal und die
Äsche - genauso wie den Kormoran - weiterhin erhalten
wollen, können wir nicht auf Europa warten, sondern
müssen jetzt etwas tun. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
Zweifelsfrei nimmt der Kormoran überall dort, wo er
lebt, Einfluss auf die Fischbestände. Das ergibt sich logisch aus seinen Ernährungsgewohnheiten. Und wenn
man denn diese Ernährungsgewohnheiten, also das
natürliche Verhalten des Kormorans, als „Beeinträchtigung der Natur“ ansieht, dann liegt eine solche Beeinträchtigung tatsächlich auch vor. Sicher kann es dort,
wo durch intensive Teichwirtschaft den Kormoranen in
einer ansonsten „ausgeräumten“ Wasserlandschaft ein
besonders verlockendes Nahrungsangebot gemacht
wird, zu Nutzungs- und damit zu Interessenkonflikten
kommen. Wir müssen uns aber abgewöhnen, diese Nutzungskonflikte immer und quasi automatisch mit Ausrottung oder Vertreibung der tierischen Konkurrenten zu
beantworten. Das genau ist das erklärte Ziel des Artenschutzes.
Maßnahmen zur Reduktion des Drucks auf fischereiwirtschaftliche Fischbestände unterliegen daher hohen
Restriktionen, denn der Kormoran ist nach europäischem Naturschutzrecht geschützt und unterliegt damit
einem strengen Schutz, der erhebliche Zugriffsverbote
nach sich zieht. Das gilt insbesondere in Natura-2000Gebieten. Jede Maßnahme mit dem Ziel der Begrenzung
der Bestände oder der Reduktion des Nachwuchses gilt
rechtlich als „Projekt“ gemäß § 38 Bundesnaturschutzgesetz und erfordert damit eine Verträglichkeitsprüfung.
In dieser wird geprüft, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensräume des Kormorans zu gewärtigen ist
oder der günstige Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird. So viel zu den rechtlichen Voraussetzungen
eines möglichen Kormoranmanagements.
Bevor ich auf den Antrag der Fraktion Die Linke näher eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass der
europäische Artenschutz für uns Grüne ein hohes Gut
ist, das es zu verteidigen gilt. Nur durch diesen Artenschutz wird garantiert, dass es für jegliche Eingriffe
hohe Hürden gibt und somit der Schutz von nach europäischem Recht geschützten Pflanzen und Tieren eine
reelle Chance hat, sich in Abwägungsentscheidungen zu
behaupten. Das am 16. März 2011 verkündete Urteil des
Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg zur Durchführung von sogenannten Vergrämungsaktionen an Kormorangelegen hat hierzu wichtige Argumentationslinien
entwickelt. Maßnahmen, wie sie im Naturschutzgebiet
„Radolfzeller Aachried“ im April 2008 durchgeführt
wurden, sind rechtswidrig. Ähnlichen Aktionen ist in Zukunft ein starker Riegel vorgeschoben.
Nun zum Antrag der Linken. Der vorliegende Antrag
verkennt in wesentlichen Punkten die Rechtslage. Erstens. Die Aufforderung, „die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie einzuhalten“, ist sicherlich nicht falsch.
Allerdings ist die Wasserrahmenrichtlinie geltendes
europäisches Recht und insofern ist die Aufforderung an
die Bundesregierung, geltendes Recht einzuhalten, gelinde gesagt befremdlich. Zweitens. Die Forderung nach
einem bundesweiten Kormoranmanagement unter Beteiligung von Fischerei-, Naturschutz- und Anglerverbänden müsste zumindest um die Länder ergänzt werden,
denn diese sind es, die die Vogelschutzrichtlinie konkret
umsetzen. An ihnen vorbei ist keine Lösung denkbar.
Der Antrag verkennt vor allem das Wesen der Artenschutzgesetzgebung. Ein konkretes Reglement zum Beispiel kann es gar nicht geben, denn die Vogelschutzrichtlinie gilt uneingeschränkt; es steht nicht im Belieben der
EU-Mitgliedstaaten zu definieren, ab wie vielen Exemplaren der Schutz des Kormorans „überflüssig“ ist und
aufhören kann. Schon gar nicht kann das mit Nutzergruppen diskutiert werden, denn der Artenschutz orientiert sich einzig und allein an artenschutzrechtlichen
Kriterien, und dabei wird es hoffentlich auch bleiben.
Wir Grünen jedenfalls werden uns allen Bemühungen
entgegenstellen, das europäische Recht an dieser Stelle
abzuschwächen.
Ich bin einigermaßen entsetzt, dass sich die Linke mit
diesem Antrag dazu hergibt, die Bundesregierung aufzufordern, das europäische Artenschutzrecht aufzuweichen und es unter die Maßgabe der „ausgewogenen
Balance“ mit den Interessen von Fischereiwirtschaft
und Freizeitfischern zu stellen. Das ist abenteuerlich
und zeigt, dass sie in Fragen des Artenschutzes bis heute
nichts verstanden hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Undine Kurth ({0})
Es ist sicher auch vernünftig und richtig, zu prüfen,
ob und wie nachteilige Auswirkungen des Fressverhaltens der Kormorane - so sie sich eindeutig verifizieren
lassen - durch Entschädigungszahlungen ausgeglichen
werden können. Wir Grünen werden uns in den Ländern
einer solchen Regelung sicherlich nicht verschließen.
Allerdings werden auch diese Regelungen ausschließlich dort beschlossen - und nicht von der Bundesregierung.
Das Verwaltungsgericht in Baden-Württemberg zum
Beispiel hat die Zahlen geprüft und keine Korrelation
feststellen können; die höchsten Fangerträge wurden in
Radolfzell dann erzielt, als dort die Kormoranbestände
am größten waren. Vielleicht wäre es erst einmal angebracht, Untersuchungen dazu auf den Weg zu bringen,
wie sich Verluste beziffern lassen, um anerkannte
Grundlagen für mögliche Entschädigungszahlen oder
regulierende Maßnahmen zu haben. Ertragsschwankungen - darauf habe ich vor diesem Hohen Hause schon
2008 hingewiesen - haben vielfältige Ursachen. Diese
monokausal auf die Kormorane zurückzuführen, ist
nicht haltbar. Klimaabläufe, sinkender Phosphorgehalt
der Gewässer, Undurchlässigkeit der Gewässerkörper
usw. spielen insofern eine Rolle.
Ich wiederhole es hier gerne: Wer die Fischbestände
nachhaltig stärken will, der muss die naturnahe Bewirtschaftung von Teichen und Seen fördern, die Gewässer
renaturieren, Laich- und Lebensräume erhalten, anstatt
die Schuld für Ertragseinbußen dem Kormoran in den
Schnabel zu schieben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
23 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({0}), Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen
NVA und ziviler Einrichtungen
- Drucksache 17/5233 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr und der ehemaligen NVA voranbringen
- Drucksache 17/5365 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umfassende Entschädigung für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen
NVA
- Drucksache 17/5373 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
Mancher, der die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beobachtet, mag den Eindruck haben, wir kümmerten
uns vor allem um Gegenwart und Zukunft. Da geht es um
die Ausrüstung für unsere Soldaten, um den Umbau der
Bundeswehr zu einer Einsatzarmee und um Nachwuchswerbung, um Mandate, um Standorte und um sicherheitspolitische Konzepte.
Dieser Eindruck ist richtig - und zugleich nicht wahr.
Denn seit mehr als elf Jahren beschäftigen sich Sicherheits- und Verteidigungspolitiker auch mit einem Problem, das uns aus der Vergangenheit bis heute begleitet.
Dass in den 60er- und 70er-Jahren Soldaten in Ost und
West durch Radarstrahlen gesundheitliche Schäden erlitten haben, ist heute unumstritten.
Ich erinnere auch daran, dass es der Verteidigungsausschuss war, der für die Einsetzung einer unabhängigen Radarkommission gekämpft hatte. In ihrem Abschlussbericht kam die Kommission 2003 zwar zu dem
Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusammenhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späteren Erkrankungen gebe. Gleichwohl war dies keine Vorlage, um
finanzielle Hilfe zu verweigern. Im Gegenteil: Die Kommission empfahl vielmehr vereinfachte Kriterien, um
Versorgungsanträge anzuerkennen.
Bis heute sind mehr als 3 800 Anträge eingegangen von Berufs- und Zeitsoldaten, Wehrpflichtigen, Beamten
und Arbeitnehmern. Darunter waren auch fast 1 500 ehemalige NVA-Soldaten. Jeder fünfte Antrag - bislang
etwa 770 - wurde anerkannt. Dies mag auf den ersten
Blick wenig erscheinen, denn 68 Prozent der Anträge
wurden nicht anerkannt. Man hat die Anträge gleichwohl sehr großzügig geprüft - wissend, wie schwierig
für den Betroffenen der Nachweis sein kann, dass seine
heutige Erkrankung mit der Arbeit an Radargeräten vor
Jahrzehnten zusammenhänge. Die Anerkennungskriterien der Radarkommission sind vielfach weit ausgedehnt
worden - im Zweifel für das Opfer, gewissermaßen. So
wurden etwa trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos
- Beispiel: starkes Rauchen - Ansprüche anerkannt.
Man hat bei der Entscheidung über die Anträge auf den
eigentlich vom Gesetz geforderten Kausalitätsnachweis
im Sinne eines Vollbeweises verzichtet, wenn eine sogenannte qualifizierte Tätigkeit und eine qualifizierte
Erkrankung vorlagen. Man ging vielmehr von diesem
Zusammenhang aus - und zwar gleichermaßen bei früheren Angehörigen der NVA und der Bundeswehr.
Es wäre deshalb falsch, Verschwörungstheorien zu
stricken. Niemand - weder im Verteidigungsministerium
noch anderswo - hat das Ziel, die Fälle auszusitzen.
Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt
wurden, bisweilen ungerecht behandeln fühlen, ist
menschlich nachvollziehbar. Ich nehme aber ausdrücklich die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet
haben und weiter begleiten. Sie handeln nach Recht und
Gesetz.
Nun können wir sicher nicht davon ausgehen, dass
mit den bewilligten Anträgen auf ewig alle Probleme aus
der Welt geschafft wären. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Alltag bleiben häufig. Und mehr noch:
Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter - leider
wohl eher selten zum Besseren. Eine Stiftung, wie sie immer wieder vorgeschlagen wird, hätte auf den ersten
Blick Charme. Allerdings sind diese Überlegungen keineswegs neu. Das Verteidigungsministerium hat eine
solche Idee seinerzeit unter Beteiligung anderer Ressorts verworfen, weil es erstens für die betroffenen
Gruppen bereits gesetzliche Bestimmungen als Grundlage für Versorgungsanträge gibt und weil zweitens - so
das Ergebnis der Prüfung - eine Stiftung einseitig Menschen begünstigen würde, bei denen auch bei wohlwollender Betrachtung ein Zusammenhang zwischen Gesundheitsschaden und früherer Arbeit an Radargeräten
unwahrscheinlich ist. Auch eine Stiftung braucht natürlich Kriterien, um Ansprüche zu prüfen; schließlich geht
es um Steuergeld. Wegen einer Behauptung allein kann
keine Unterstützung gezahlt werden. Überdies müsste
auch diese Stiftung zunächst mit Geld gefüttert werden,
um überhaupt helfen zu können. Natürlich spricht prinzipiell wenig dagegen, die Radargerätehersteller an der
Entschädigung zu beteiligen. Dies wäre sogar wünschenswert, aber ob es auch machbar ist, werden wir sehen.
Manches, was die Fraktion Die Linke fordert, wird
bereits gemacht. Auch deshalb werden wir dem Antrag
nicht zustimmen. So erhält der Verteidigungsausschuss
einmal im Jahr einen schriftlichen Sachstandsbericht;
und die Vorschläge der Radarkommission werden schon
lange eins zu eins umgesetzt. Andere Forderungen klingen prima - bis man sich mit den Konsequenzen beschäftigt. Natürlich wollen wir nicht, dass sich ehemalige NVA-Soldaten als Opfer zweiter Klasse fühlen. Aber
wer eine Gleichbehandlung fordert, sollte auch wissen,
was uns dann laut Juristen erwartet: Es könnte bedeuten, dass wir den Einigungsvertrag vom 31. August 1990
noch einmal aufbohren müssten - nach fast 21 Jahren.
Dennoch sind wir dafür, dass der Bundestag die Entschädigungsfrage noch einmal aufgreift. Ich halte das
auch aus ethischen Gründen für geboten. So wie wir
eine Fürsorge für aktive Soldaten haben, so haben wir
sie für ehemalige Angehörige von Bundeswehr und NVA.
Es bedrückt mich, wenn ich in Gesprächen höre, wie
enttäuscht Radaropfer von NVA und Bundeswehr heute
sind. Ich bedauere es, dass diese Männer keine guten
Erinnerungen an ihre Armeezeit haben, weil das Heute
alles überlagert, was sie damals erlebt und geleistet haben.
Es ist so, dass sich das Bild des Kameraden seit der
Gründung der Bundeswehr gewandelt hat - zum Glück.
Eine seelische Wunde ist heute kein Stigma mehr, und
wer sich zu seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwächling. Ich kann mir vorstellen, dass das einst anders war
und dass Schmerzen nicht vorgesehen waren. Man hat
sich weniger Gedanken gemacht um das Wohlergehen
der Soldaten, auch um ihren Gesundheitszustand. Hinzu
kommt, dass man bis in die 60er-Jahre hinein bisweilen
eher unbedarft mit der Strahlengefahr umgegangen ist.
Wie schwer der Kampf für ihre Rechte ist, auch davon
können die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit
ihren Forderungen - um das einmal vorsichtig zu sagen bei der Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer
offene Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück
geändert. Vergessen wir nicht, dass sich die Folgen von
Strahlen nicht sofort zeigen, sondern oft erst Jahre und
Jahrzehnte später. Es fehlte damals letztlich auch das
Wissen, ja das Bewusstsein. Radar ist bis heute ein
Thema, für das es nur wenige Fachleute in Deutschland
gibt.
Allen werden wir es trotzdem nie Recht machen können. Wer von der Politik absolute Gerechtigkeit und die
Zufriedenheit aller Betroffenen verlangt, ist blauäugig.
Das ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit
ganz unterschiedlichen Schicksalen zu tun haben - und
eben nicht mit einer Art Standarderkrankung, die alle
betrifft. Es kann aber darum gehen, sich noch einmal intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Das werden wir
tun. Bereits morgen gibt es auf Arbeitsebene eine neues
Gespräch.
Die Entschädigung von Radaropfern ist ohne Zweifel
ein sperriges Thema, das uns an Grenzen führt. Einfache
Lösungen bieten sich nicht an, auch weil das, was in den
60er- und 70er-Jahren geschehen ist, kaum dokumentiert ist. Juristische Hürden kommen hinzu. Ich sehe allerdings im Bundestag den politischen Willen, bei der
Entschädigung noch einmal aktiv zu werden - und zwar
dort, wo es nötig ist. Meine Fraktion wird sich dem nicht
verschließen. Wir werden versuchen, interfraktionell
eine unbürokratische Lösung zu finden.
Uns liegen heute sowohl der Antrag der SPD als auch
der Antrag der Linken vor. Es wird ein möglichst zügiger
und unbürokratischer Ausgleich für Radargeschädigte
Zu Protokoll gegebene Reden
der Bundeswehr und der ehemaligen NVA gefordert.
Dabei wird unter anderem eine Stiftungslösung in Erwägung gezogen. Weiterhin wird gefordert, dass die Entschädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr
und der früheren NVA angeglichen werden. Der Antrag
der Linken fordert zur Aufklärung und Dokumentation
der Verstrahlung sowie zur Verbesserung der Strahlensicherheit darüber hinaus eine erneute Einsetzung einer
Expertenkommission, wie wir sie im Jahre 2002 eingerichtet hatten.
Anfang Juli 2003 hat die Expertenkommission ihren
Abschlussbericht vorgelegt. Bis heute werden die enthaltenen Empfehlungen konsequent umgesetzt. Bei
Vorliegen einer qualifizierten Erkrankung und einer
qualifizierenden Tätigkeit wird auf den individuellen
Kausalitätsnachweis verzichtet. Das bedeutet, dass im
Einzelfall nicht nachgewiesen werden muss, dass die Erkrankung tatsächlich auf die Beschäftigung an und mit
Radargeräten hervorgerufen worden ist. Diese Regelung
halte ich so nach wie vor für sinnvoll und richtig. Im
Übrigen wurde den Betroffenen in vielen Fällen bei der
Auslegung der Anerkennungskriterien entgegengekommen. Einzelfälle und Vorgehensweisen wurden in der
Vergangenheit an sogenannten runden Tischen zusammen mit Vertretern des Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter beraten. Bislang wurden etwa 20 Prozent
der Anträge positiv beschieden, circa 68 Prozent wurden
abgelehnt. Eine erneute Einrichtung einer Expertenkommission halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für nicht erforderlich. Der Bericht der Radarkommission entspricht
nach wie vor dem Stand von Wissenschaft und Technik.
Sollten zukünftig neue wissenschaftliche Erkenntnisse
eine Ergänzung dieser Regelung nötig machen, so wird
die Bundesregierung das selbstverständlich berücksichtigen.
Die SPD fordert die Angleichung der Entschädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr und der
früheren NVA. Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, dass wir uns seit der Jahrtausendwende mit
dem Thema der Radarstrahlenproblematik beschäftigen.
2001 wurde umfassend geprüft, ob es eines neuen Gesetzes für die Opfer von Radarstrahlen bedarf. Letztlich
wurde jedoch davon Abstand genommen, da für die betroffenen Personen bereits Rechtsvorschriften bestehen,
die Leistungen bei einer durch dienstliche Tätigkeiten
bedingten gesundheitlichen Schädigung vorsehen. Dabei handelt es sich um Versorgungsansprüche wegen einer strahlenbedingten Beschädigung - für Soldaten der
Bundeswehr nach den Bestimmungen des Soldatenversorgungsgesetzes, für Beamte nach den Regelungen des
Beamtenversorgungsgesetzes und für Arbeitnehmer
nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung. Ehemalige Soldaten der NVA können einen Anspruch nach dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz
geltend machen.
Dass ehemalige Angehörige der NVA nicht in der Versorgung durch das Soldatenversorgungsgesetz mit einbezogen wurden, steht im Einigungsvertrag und wurde
um Zuge der Gesetzgebung zur Überleitung von Ansprüchen nach dem Recht der DDR beschlossen. Die unterschiedlichen Regelungen bei geschädigten Grundwehrdienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Regelungen
für Wehrdienstleistende der Bundeswehr resultieren aus
den vom Gesetzgeber als angemessen erachteten Regelungen. Ansprüche, die frühere Wehrpflichtige wegen
Unfällen bei der NVA nach den Gesetzen der DDR aus
der allgemeinen Sozialversicherung hatten, wurden in
die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet. Diese
Unfälle waren in der DDR Arbeitsunfällen gleichgestellt; die Überleitung ist also sachgerecht. Die Hinterbliebenen bleiben nicht unversorgt, sondern haben
gleiche Ansprüche wie Hinterbliebene der Opfer von Arbeitsunfällen. Bei der Frage, inwieweit Soldaten durch
Radargeräte Gesundheitsschäden erlitten haben und
wie mit diesen Gesundheitsschäden umzugehen ist, handelt es sich jedoch um eine schwierige und komplexe
Thematik, die weit über die gesetzlichen Versorgungsvorschriften hinausgeht.
Die Frage, ob die Gründung einer Stiftung in diesem
Fall sinnvoll ist, lässt sich richtigerweise nur mit Nein
beantworten. Genau wie zur Schaffung eines Sondergesetzes ist insofern zu sagen, dass alle eingehenden Versorgungsanträge auf gesetzlicher Grundlage entschieden werden. Eine Stiftung zur Unterstützung derjenigen,
deren Anträge auf dieser Grundlage und trotz der erheblichen Erleichterungen abgelehnt wurden, wäre mit den
Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts nicht
vereinbar. Es kann nun mal nicht sein, dass ein Antragsteller lediglich aufgrund einer Behauptung eine Leistung erhält.
Ich weiß, dass dieses Thema immer wieder zu Recht
viele Emotionen hervorruft. Die damalige Regierung hat
eine Regelung getroffen, die den Opfern so gerecht wie
möglich wird. Leider kann es niemals eine Lösung geben, die von allen Betroffenen als gerecht empfunden
wird. Ich bin jedoch nach wie vor der Ansicht, dass die
vorhandenen gesetzlichen Regelungen und die im
Abschlussbericht der Radarkommission enthaltenen
Empfehlungen eine geeignete Grundlage für die Entscheidung über die Entschädigung von Radaropfern
darstellen und dass somit die Einrichtung einer Stiftung
nicht erforderlich ist. Der Antrag der Fraktion Die
Linke ist daher umfassend abzulehnen. Dem Antrag der
Fraktion der SPD vermag ich nur in einzelnen Aspekten
zuzustimmen, wobei ich davon ausgehe, dass die meisten
dieser Punkte, die ich ja eben auch angesprochen habe,
bereits umgesetzt wurden bzw. bald berücksichtigt werden.
Bis in die 80er-Jahre sind Angehörige der Bundeswehr und der ehemaligen NVA mit ionisierender Strahlung und Radarstrahlung in Berührung gekommen und
haben Partikel inkorporiert. Einige sind daraufhin zum
Teil schwer erkrankt. Da aufgrund des fehlenden Gefahrenbewusstseins genaue Aufzeichnungen über Dauer
und Art der Exposition fehlen, können Betroffene häufig
nur auf unzureichendes „Beweismaterial“ für ihre Schädigung zurückgreifen.
Der Deutsche Bundestag hat sich daher seit dem Jahr
2000 mit der Frage der Entschädigung dieser Soldaten
Zu Protokoll gegebene Reden
beschäftigt. Im Jahr 2002 wurde eine Kommission mit
der Untersuchung dieser Fälle beauftragt. 2003 hat die
„Radarkommission“ in ihrem Abschlussbericht Kriterien erstellt, die festlegen, in welchen Fällen eine
Krankheit auf Strahleneinwirkung zurückzuführen ist.
Die Beschreibung qualifizierender Tätigkeiten und qualifizierender Erkrankungen sollte die Anerkennungsverfahren beschleunigen und erleichtern. In diesem Zusammenhang wurde von der Radarkommission auch die
Umkehr der Beweislast in Teilbereichen zugunsten der
Betroffenen empfohlen.
Von 3 803 gestellten Anträgen wurden 19,7 Prozent
zugunsten der Antragsteller entschieden, 68 Prozent der
Anträge wurden abgelehnt, der Rest befindet sich im
laufenden Verfahren. Die Interessenvertreter der jeweiligen Betroffenengruppen - Bundeswehr und ehemalige
NVA - gehen davon aus, dass die Anerkennungskriterien
des Radarberichts nicht umfassend im Sinne der Antragsteller auslegt werden, was die Bundesregierung entschieden zurückweist.
In der 16. Wahlperiode waren sich alle im Parlament
vertretenen Fraktionen einig, dass es zeitnah eine Lösung des Problems im Sinne der Betroffenen geben
muss.
In Umsetzung der Ergebnisse der Radarkommission
und vor dem Hintergrund des hohen Alters der Betroffenen fordern wir als SPD die Bundesregierung daher auf,
zeitnah eine praktikable Lösung im Sinne der Betroffenen vorzulegen. Wir streben vorzugsweise eine Stiftungslösung an, die den unterschiedlichen Betroffenengruppen gerecht wird. Diese Stiftungslösung ermöglicht
darüber hinaus die Einbeziehung der Gerätehersteller
sowie die Erschließung weiterer Stiftungsgelder.
Eine weitere Angleichung der unterschiedlichen Anerkennungs- und Entschädigungsverfahren von ehemaligen Bundeswehrangehörigen und NVA-Soldaten muss
ebenfalls weiter vorangebracht werden. Die Entscheidungsspielräume sollen dabei zugunsten der Betroffenen
ausgelegt werden.
Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen, dass
die Ergebnisse der Radarkommission - wie vom Verteidigungsausschuss einstimmig beschlossen und vom Verteidigungsministerium zugesagt - eins zu eins umgesetzt
werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch nach
Vorliegen eines Gesetzes weiterhin neue Erkenntnisse
der medizinischen und biologischen Forschung in die
Entscheidungen mit einfließen. Hier ist ein dynamisches
Vorgehen notwendig.
Für die Vermittlung in Zweifelsfällen fordern wir ein
- auch von der Radarkommission befürwortetes - unabhängiges Gremium zur Entscheidungsfindung einzubeziehen. Dem Verteidigungsausschuss muss zu den Bemühungen und den weiteren Schritten der Bundesregierung
jährlich ein Evaluierungsbericht vorgelegt werden.
Lassen Sie uns im Sinne der Betroffenen zügig handeln und entscheiden!
Die Suche nach einer geeigneten Lösung bei der Entschädigung der Radaropfer beschäftigt den Bundestag
schon seit mehr als zehn Jahren. Ich möchte meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss,
sowohl aus den Oppositionsfraktionen, als auch den Regierungsfraktionen, für die gute Zusammenarbeit und
das gemeinschaftliche Engagement für die Radargeschädigten danken. Die sachorientierte gemeinsame Arbeit mit Ihnen, meine lieben Kolleginnen Malczak,
Höger und Strenz und lieber Kollege Meßmer, zeigt, dass
die Suche nach einer geeigneten Lösung für die Opfer
von Radarstrahlen ein gemeinsames Anliegen aller
Fraktionen des Bundestages ist.
Der grundsätzliche Konsens, der schon in der letzten
Legislaturperiode bei diesem Thema leitend war, sollte
für uns auch in dieser Legislaturperiode weiterhin die
Richtschnur unseres Handelns sein.
Auch wenn wir alle ein gemeinsames Ziel verfolgen,
sind unsere Wege, wie wir es erreichen wollen, momentan noch unterschiedlich.
Die aktuellen Zahlen, vorgelegt in der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
Die Linke in Drucksache 17/3137, zeigen, dass sich die
Zahl der Entschädigungen zugunsten der Antragsteller
erhöht hat. Auch wenn die Entschädigungspraxis in Teilen stärker zum Vorteil der Antragsteller ausgelegt wird,
zeigt die Zahl von 68 Prozent abgelehnter Anträge, dass
das von uns allen gewünschte Ziel der „Eins-zu-einsUmsetzung“ der Empfehlung der Radarkommission bisher nicht erreicht wurde.
Aus meiner Sicht brauchen wir daher eine umfassendere Lösung. Und - dies ist mir dabei besonders wichtig -: Es darf hier nicht nur bei warmen Worten bleiben,
sondern wir müssen nun konkrete Maßnahmen ergreifen
und Taten folgen lassen. Wir sind bereit, die notwendigen Mittel aus dem Verteidigungshaushalt zur Verfügung zu stellen.
Der Ausgleich für Radargeschädigte ist aber nicht
nur eine finanzielle Frage, sondern es geht hierbei auch
um die Würdigung der Lebensleistung dieser Menschen
zugunsten unseres Vaterlandes.
Ich habe mich daher sehr gefreut, dass sich Ende letzten Jahres der Verteidigungsminister mit den Vertretern
der Opferverbände zu einem Gespräch getroffen hat.
Dieses persönliche Gespräch war für die Betroffenen
besonders wichtig, da ihnen erstmalig in den vielen
Jahrzehnten ihrer Arbeit die Möglichkeit gegeben
wurde, ihr Anliegen dem Verteidigungsminister direkt
darzustellen, und Ihnen so Achtung erwiesen wurde.
Die Gleichbehandlung der Radargeschädigten in Ost
und West, der NVA und der Bundeswehr, ist aus meiner
Sicht geboten. Seit dem Mauerfall ist die Bundeswehr
zur Armee der Einheit zusammengewachsen. Es darf daher keine Opfer zweiter Klasse geben, auch wenn die
Bundesrepublik gemäß BGH-Urteil nicht für die Verbindlichkeiten der NVA haftet und der Einigungsvertrag
differenziert. Dieser besagt nämlich, dass wir NVA und
Bundeswehr nicht gleich behandeln müssen. Er lässt uns
Zu Protokoll gegebene Reden
aber im Jahre 2011 die Möglichkeit, dass wir nun aus
übergeordneten politischen Gründen gleich behandeln.
Das ist unser politischer Wille.
Wir als FDP-Fraktion setzen uns schon seit Anfang
2001 für eine großzügigere Entschädigung der Radarstrahlenopfer ein und haben dieses immer wieder, sowohl im Verteidigungsausschuss als auch im Plenum,
zum Ausdruck gebracht. Wir laden daher alle Fraktionen ein, mit uns eine geeignete Lösung zu finden und unseren breiten Konsens in einer gemeinsamen Initiative
zum Ausdruck zu bringen.
Seit vielen Jahren kämpfen radargeschädigte ehemalige Soldaten aus Ost und West für eine angemessene
Anerkennung und für eine Entschädigung für Erkrankungen, die auf ihre Tätigkeit an Radaranlagen zurückgeführt werden können. Es ist dringend notwendig, dass
die Bundesregierung hier schnell Abhilfe schafft, da die
Betroffenen immer älter und kränker werden. In ein paar
Jahren ist es für viele zu spät. In der Vergangenheit entstand der Eindruck, die jeweiligen Bundesregierungen
spielen auf Zeit und drücken sich um eine umfassende
Lösung des Problems. Damit muss nun endlich Schluss
sein.
In der vergangenen Legislaturperiode waren sich
Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien einig, dass es zeitnah eine umfassende Lösung des Problems geben muss. Allerdings hapert es bei der Umsetzung durch die verschiedenen Bundesregierungen. Der
Prozess der Aufarbeitung stagniert seit Jahren. Das ist
angesichts des Alters der Betroffenen und der ernsthaften Erkrankungen unerträglich. Die Linke fordert eine
schnelle, unbürokratische und umfassende Anerkennung
und Entschädigung der Strahlengeschädigten. Dabei
dürfen die Ermessensspielräume für das Vorliegen der
Anerkennungskriterien nicht zu eng gefasst sein.
Ehemalige Angehörige der NVA und der Bundeswehr
müssen gleich behandelt werden. Bislang sind radargeschädigte Bundeswehrsoldaten wegen der seltenen
Anerkennung ihrer Krankheit Bürger zweiter Klasse.
Ehemalige Soldaten der NVA sind sogar Bürger dritter
Klasse. Sie unterliegen laut Einigungsvertrag dem
Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz. Dies ist aus
Sicht der Betroffenen noch „strenger“ als das Soldatenversorgungsgesetz, das für ehemalige Bundeswehrsoldaten gilt. Die Bundesregierung erklärt, dass diese
Ungleichbehandlung politisch gewollt ist. Das ist aus
unserer Sicht unerträglich.
Die Linke fordert auch, dass neben dem Staat als Arbeitgeber auch die Radargerätehersteller als Mitverantwortliche an den Entschädigungskosten zu beteiligen
sind. Außerdem brauchen wir mehr Transparenz und
mehr Mitbestimmung durch den Bundestag. Deshalb
soll es erneut eine Radarkommission geben, die dem
Bundestag regelmäßig einen Bericht vorlegt.
Die Linke ruft die Bundesregierung außerdem dazu
auf, strahlengeschädigten Angestellten ziviler Einrichtungen, wie zum Beispiel der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut oder von Atomkraftwerken, eine
angemessene Anerkennung und Entschädigung zuteilwerden zu lassen. Gerade die Nuklearkatastrophe in
Fukushima zeigt, dass in diesem Bereich die Gefahren
immens sind. Wer weiß, was da in den nächsten Jahren
auf uns zukommt! Wenn strahlengeschädigte Menschen
- aus Ost oder West, militärisch oder zivil beschäftigt zu ihrem Recht kommen sollen, müssen für alle Strahlengeschädigten dieselben gesetzlichen Regelungen gelten.
Alles andere schafft nur wieder neue Spaltungen und
Ungerechtigkeiten.
Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Stiftung, die die
Anerkennung und Entschädigung in die Hand nehmen
soll. Diese Forderung ist nicht falsch und kann nicht
schaden. Allerdings hatte eine interfraktionelle Anfrage
an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages ergeben, dass es im Sinne der Betroffenen zielführender ist,
von der Bundesregierung ein Radarstrahlenopfergesetz
zu fordern. Dies Gesetz soll den genannten Kriterien
entsprechen. Es bleibt dann der Bundesregierung überlassen, ob dafür die Gründung einer Stiftung notwendig
ist oder nicht. Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr komplex und vielschichtig. Ich befürchte, dass diese Forderung erneut auf Bürokratisierung und Verzögerung
hinausläuft. Die Strahlengeschädigten haben diese Zeit
aber nicht mehr.
Ich möchte Sie bitten, in den Ausschussberatungen
über den parteipolitischen Tellerrand hinauszuschauen
und sich dafür einzusetzen, zügig die Rechte der Betroffenen zu stärken. Es ist fünf vor zwölf. Die Strahlengeschädigten können nicht länger warten.
Ehemalige Soldaten der Bundeswehr und der NVA
sind bis in die 80er-Jahre hinein während ihrer
Dienstausübung nachhaltig geschädigt worden. Viele
von ihnen waren Wehrpflichtige. Verursacht wurde diese
Schädigung durch Strahlungsquellen in Geräten, die in
der täglichen Dienstausübung zum Einsatz kamen. Warnungen vor diesen Strahlenquellen kamen zu spät oder
wurden zu lange banalisiert. Die betroffenen Menschen
sind auch Jahre später als Folge dieser Verstrahlung
schwer erkrankt.
Seit 2001 ist dieser Umstand bekannt, seit 2003 liegt
mit dem Abschlussbericht einer unabhängigen Expertenkommission eine umfassendere Erfassung der Zusammenhänge und eine Empfehlung für eine wohlwollende Entschädigungs- und Versorgungspraxis vor.
Doch die damals vom ehemaligen Verteidigungsminister
Scharping zugesagte „streitfreie und großherzige Lösung“ ist auch heute nicht wirklich in Sicht. Der Staat
nutzt stattdessen juristische Spielräume aus, die sich aus
dem Umstand ergeben, dass der direkte Zusammenhang
zwischen Erkrankung und Einsatz an den Geräten oft
nicht nachzuweisen ist. Die zuständigen Behörden führen mit den Betroffenen endlose bürokratische Auseinandersetzungen über Beweismittel und Gutachten.
Am Ende steht in der überwiegenden Zahl eine Entscheidung gegen die Interessen der Betroffenen. Das ist wirkZu Protokoll gegebene Reden
lich ein Armutszeugnis für die Fürsorgepflicht gegenüber aktiven und ehemaligen Soldaten.
Seit Jahren setzen sich der Bund zur Unterstützung
Radargeschädigter, als Interessenvertretung ehemaliger
Bundeswehrsoldaten, und der Bund zur Unterstützung
Strahlengeschädigter, die Interessenvertretung ehemaliger NVA-Angehöriger, für eine verbesserte Entschädigungspraxis ein. Für ihr Engagement, ihren Mut und
ihre Ausdauer gebührt ihnen Dank und Anerkennung
dieses Hauses. Nur reicht die Erklärung dieses Dankes
nicht mehr aus. Die größte Anerkennung zeigen wir, indem wir endlich diese traurigen Zustände beenden.
Wir alle sind uns darüber einig, dass den betroffenen
Menschen geholfen werden muss. Dabei geht es nicht
einmal um die abschließende Klärung von Schuld; es
geht vielmehr um die Übernahme von Verantwortung.
Und eine besondere Verantwortung haben wir für die
ehemaligen Angehörigen beider Armeen - der Bundeswehr und der NVA.
Die Probleme bei den Anerkennungsverfahren sind
schon oft thematisiert worden; sie müssen aber auch angegangen werden. Dabei spielt Zeit eine ganz entscheidende Rolle. Zehn Jahre, nachdem die Problematik erstmals bekannt wurde, ist es allerhöchste Zeit für
Lösungen. Wer sich hier weiter hinter der Komplexität
der Frage versteckt, wird unglaubwürdig und fügt den
Betroffenen unnötigerweise weiteres Leid zu. Denn während Formen der Entschädigung hin und her diskutiert
werden und Parlament und Bundeswehrverwaltung, Regierung und Opposition ihre Konkurrenzen austragen,
leiden Menschen und ihre Angehörigen. Zu viele der Betroffenen erleben das Ende der lang gezogenen Verwaltungsverfahren nicht mehr. Seit geraumer Zeit mahnen
alle Fraktionen hier Verbesserungen an. Aber wenn wir
uns dabei in parteipolitisches Gezänk verstricken, werden zu viele der betroffenen Menschen die Lösung für
die offenen Verfahrensfragen nicht mehr erleben. Dieser
Gedanke sollte uns alle innehalten lassen.
Dieses Thema eignet sich nicht dazu, die Grenzen
zwischen den Parteien, zwischen Koalitionsfraktionen
und Opposition zu betonen. Stattdessen sollten wir bei
dieser Frage über unseren Schatten springen - zugunsten der Betroffenen - und gemeinsam für eine vor allem
schnelle Lösung arbeiten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/5233, 17/5365 und 17/5373 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan
- Drucksache 17/4879 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Reden nehmen wir zu Protokoll.
Im Namen der in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bin ich dankbar dafür, dass wir uns
im Deutschen Bundestag mit dem Einsatz der deutschen
Polizei im bilateralen Polizeiprojekt wie auch bei der
EUPOL-Mission beschäftigen. Ziel dieses Einsatzes ist
es, der afghanischen Polizei die Fähigkeit zu vermitteln,
die öffentliche Sicherheit und Ordnung in ihrem Land in
den kommenden Jahren selbstständig zu gewährleisten.
Dabei orientieren wir uns an afghanischen, nicht an
deutschen Maßstäben.
Die heutige Debatte gibt uns Gelegenheit, die Ergebnisse in einem Zwischenfazit zu würdigen. Das kann man
in unterschiedlicher Form tun: Von uns, der CDU/CSUFraktion, werden die unter schwierigen Bedingungen
erarbeiteten guten Ergebnisse unserer Beamtinnen und
Beamten gewürdigt, von den Linken in ihrem Antrag
eher entwürdigt.
Wichtige Akteure beim Polizeiaufbau in Afghanistan
sind die europäische Polizeimission EUPOL Afghanistan, die NATO Training Mission in Afghanistan und in
einem besonderen Maße unser bilaterales deutsches Polizeiprojektteam GPPT.
Was haben wir bisher erreicht? Nach Beendigung der
terroristischen Talibanherrschaft sind wir dabei, ein für
afghanische Verhältnisse beachtliches demokratisch
orientiertes Polizeisystem mit aufzubauen. Deutschland
sorgt dabei in erheblichem Maß für eine allgemeine Polizeiinfrastruktur und den Bau und Ausbau von Trainingszentren, in denen jährlich etwa 5 000 afghanische
Polizisten aus- und fortgebildet werden können. In Kabul sowie den Außenstellen in Masar-i-Scharif, Kunduz
und Faizabad wurden Polizeitrainingszentren errichtet,
deren Kapazität derzeit erweitert wird. Das Polizeitrainingszentrum Kabul wird dabei ausschließlich für das sogenannte „Train the Trainer“-Programm genutzt. Die
ursprüngliche Zielstärke von 500 ausgebildeten afghanischen Trainern bis Ende 2012 wird voraussichtlich
deutlich übertroffen. Im Rahmen des bilateralen deutschen Engagements ist das „Train the Trainer“-Modul
neben der Aus- und Fortbildung und der Beteiligung am
Focused-District-Development-Programm, kurz FDDProgramm, ein wesentlicher Bestandteil der deutschen
Unterstützungsleistung. Von afghanischen Trainern sowie von deutschen Polizisten und Feldjägern wurden allein in diesem Jahr über 1 100 Polizisten erfolgreich
ausgebildet, circa 2 000 weitere werden folgen. Gerade
die Aus- und Fortbildung von Führungskräften, vor allem auch durch Weitergabe von politischer Bildung und
Defizitabbau beim Lesen und Schreiben, war und ist ein
wesentlicher Beitrag zur Professionalisierung der afghanischen Polizei. Daher möchte ich an dieser Stelle
ganz besonderes unseren deutschen Polizistinnen und
Armin Schuster ({0})
Polizisten danken, die diese harte Arbeit Tag für Tag mit
Stolz verrichten.
Zugegebenermaßen gab es auch Probleme, so zum
Beispiel bei der Rekrutierung mangels Teilnehmer und
einer hohen Verlustrate bei den ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften. Das Ziel der Londoner Konferenz von 134 000 Polizisten bis Oktober 2011 war gefährdet. Aber gerade in solch schwierigen Situationen
muss man seiner Führungsverantwortung gerecht werden und Probleme bewältigen, statt vor ihnen davonzulaufen, wie es uns die Linken in ihrem Antrag empfehlen.
Und wie weit Sie mit Ihren Empfehlungen danebenliegen, könnten Sie am besten vor Ort erfahren. Ich bin
sehr beeindruckt, dass unsere deutschen Polizistinnen
und Polizisten mir vor Ort regelmäßig das Vertrauen mit
auf den Weg geben, diese Schwierigkeiten lösen und die
Projekte erfolgreich zu Ende bringen zu wollen, Mit dieser Motivation kommen wir auch politisch Schritt für
Schritt voran: Durch Anreizprogramme, wie einer besseren Bezahlung und einer Weiterverpflichtungsprämie,
haben sich zum Beispiel wieder deutlich mehr Polizeischüler beworben.
Vor allem werden wir aber für unser nachhaltiges und
ganzheitliches Schulungskonzept bei den Afghanen wie
auch bei den Bündnispartnern hoch geschätzt: Nicht nur
eine angepasste Staatsbürgerkunde zeigt Wirkung, unser
Alphabetisierungsangebot gilt als Auszeichnung und
sorgt für ein hervorragendes Bild über uns, nicht nur in
der arabischen Welt. Wem es hier an Zuversicht fehlt,
was diesen Einsatz anbelangt, dem empfehle ich eine
Reise nach Afghanistan. Die Motivation, die Sie vor Ort
bei unseren Leitern, Ausbildern und den afghanischen
Auszubildenden erleben, würde ganz sicher dazu führen,
dass ein Antrag der Linken, wie wir ihn heute diskutieren müssen, so nicht geschrieben würde.
Auch im Bereich der polizeilichen Infrastruktur gibt
es mutmachende Erfolge: Im Jahr 2010 wurde der Bau
der Grenzpolizeifakultät an der Polizeiakademie in Kabul abgeschlossen. Eine Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif befindet sich noch im Bau. Die
Hauptquartiere der Verkehrs-, Bereitschafts- und Grenzpolizei in Kabul sowie eine Reihe von Hauptquartieren
in den Provinzen, etwa in Faizabad, und Distrikten
konnten bereits übergeben werden. Zahlreiche für die
örtliche Sicherheit besonders wichtige feste Checkpoints
wurden fertiggestellt, andere sind noch im Bau. Das
spricht für Taten und Perspektiven!
Nicht ohne Grund verhält sich Deutschland über alle
Fraktionen hinweg sehr sensibel, wenn es darum geht,
mit den Bündnispartnern in militärische Einsätze zu gehen. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber die
Chance, seinen Bündnisverpflichtungen im Schwerpunkt
insbesondere auf dem Sektor der Demokratisierung und
des zivilen Wideraufbaus, also zum Beispiel der polizeilichen Aufbauhilfe nachzukommen. Wir haben das
Know-how, die Infrastruktur und eben ein weltweit hervorragendes Image, das wir uns in vielen internationalen Polizeieinsätzen erarbeiten konnten. Daher stellt
sich für mich nicht die Frage des Ausstiegs, sondern
eher die Frage: Sind wir bei der Polizei für bevorstehende internationale Aufgaben in diesen Bereichen zukunftsfähig aufgestellt?
Bei diesen Missionen, wie zum Beispiel im Kosovo, in
Moldawien oder dem Sudan, handelt es sich um Einsätze
unter ganz besonderen Bedingungen. Das ist uns sehr
wohl bewusst. Betonen möchte ich daher, dass die deutschen Polizistinnen und Polizisten freiwillig diesen außergewöhnlichen Dienst leisten. Durch eine handverlesene Auswahl, durch besonderes Training und spezielle
Ausstattung tun wir alles dafür, dass diese robusten Einsätze zwar nicht ungefährlich, aber verantwortbar bleiben.
Aus diesen Gründen lehnen wir alle Forderungen im
Antrag der Linken ab. Im Gegenteil, wir werden erstens
dem zivilen Aufbau durch EUPOL und die GPPT in besonderem Maße nachkommen, zweitens konzeptionelle
Standards setzen, die mittlerweile von vielen Nachbarprojekten übernommen wurden, drittens die Ergebnisse
weiterhin evaluieren, um die Erfolge klar belegen zu
können, und viertens mit absoluter Sicherheit nicht jetzt
polizeilich in Afghanistan aussteigen, wenn die Früchte
unserer Arbeit sichtbar werden und wir den Eindruck
gewinnen, dass wir eine Übergabe mit Verantwortung,
also unser Kernziel, schrittweise umsetzen können.
Mehrmals habe ich Afghanistan bereist, um mir dort
in erster Linie den Polizeiaufbau vor Ort anzusehen.
Schon seit Langem wird in den Diskussionen um die
richtige Afghanistan-Strategie der Aufbau der Sicherheitskräfte als Schlüssel für eine dauerhafte Stabilisierung des Landes beschworen. Die Durchdringung des
Gewaltmonopols der Zentralregierung bis in die Provinzen soll Voraussetzung für den Aufbau einer modernen
Zivilgesellschaft in Afghanistan sein. So weit, so gut.
Offiziell stehen der afghanischen Regierung zurzeit
113 000 Polizisten zur Verfügung. Tatsächlich werden es
aber wohl nur etwa 90 000 einsatzfähige Kräfte sein, wobei freilich die Aussagen über die Stärke der afghanischen Polizei zwischen 70 000 bis hin zu 113 000 Kräften
variieren. Allein solch vage Schätzungen und Aussagen
geben genug Eindruck vom Zustand der afghanischen
Polizei. Es fällt mir überhaupt sehr schwer, diese bewaffneten Kräfte „Polizei“ zu nennen. Was ist das für
eine Polizei, von der niemand genau weiß, wer ihr jetzt
gerade angehört und wer nicht oder nicht mehr? Wie
wird eine solche Polizei bezahlt, wenn nicht einmal klar
ist, wer im Augenblick bei ihr auf der Gehaltsliste steht?
Der Antrag, über den wir hier sprechen, hat folglich
in seiner Bestandsaufnahme und in seiner Analyse recht.
Denn es stimmt, die sogenannte afghanische Polizei ist
zum größten Teil eine Bürgerkriegstruppe im Kampf gegen die Aufständischen. Es stimmt, Korruption und militärischer Ansatz prägen das Bild dieser Einheiten. Es
stimmt, die sogenannten Polizisten werden vielerorts als
„Kanonenfutter“ im Bürgerkrieg eingesetzt; bislang
wurden in Afghanistan doppelt so viele „Polizeikräfte“
getötet wie afghanische und ISAF-Soldaten zusammen.
Und es stimmt auch, dass die sogenannte afghanische
Zu Protokoll gegebene Reden
Polizei in der Bevölkerung einen extrem schlechten Ruf
genießt.
Um zu verstehen, worüber wir sprechen, wenn wir
den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte meinen,
müssen wir zuallererst unser gewohntes Bild von „Polizei“ aus dem Kopf streichen. Wenn wir Polizei meinen,
denken wir an bestens ausgebildete Sicherheitskräfte,
die allein dem staatlichen Gewaltmonopol unterstellt
und in den Rechtsstaat eingebunden sind und die ihre
klar definierte exekutive Rolle im staatlichen Gleichgewicht aus Legislative, Exekutive und Judikative einnehmen.
Davon kann beim weitaus größten Teil der sogenannten Polizei in Afghanistan nicht einmal im Ansatz die
Rede sein. Die von den US-Streitkräften in Afghanistan
ausgebildeten sogenannten Polizisten werden innerhalb
einer Woche einsatzbereit gemacht, bei den meisten anderen sind es auch gerade einmal sechs Wochen. Man
muss nicht erklären, dass in dieser kurzen Zeit allenfalls
der halbwegs ordentliche Umgang mit der Waffe und anderer Ausrüstung erlernt werden kann. Weil die meisten
der rekrutierten Männer Analphabeten und dabei oft in
schlechter körperlicher Verfassung sind, kommt jegliche
weitere Ausbildung - geschweige denn rechtsstaatliche
Unterrichtung - ohnehin von vornherein nicht infrage.
Um es kurz zu machen: In Afghanistan werden diejenigen Männer, die bereit sind, mit den Streitkräften gegen
die Taliban zu kämpfen, unter Waffen gestellt und unter
dem Gesamtbegriff „Polizei“ zusammengefasst. Dass es
dabei in erster Linie um die Quantität statt Qualität der
Sicherheitskräfte geht und dass der Überblick über die
Gesamtstärke dieser Kräfte dann schon einmal verloren
gehen kann, versteht sich von selbst.
Ein derart vollzogener Polizeiaufbau macht aus verschiedener Hinsicht nicht nur keinen Sinn, sondern ist
sogar gefährlich für die ohnehin schon kaum vorhandene innere Sicherheit Afghanistans. Eine solche „Polizei“ wird von der Bevölkerung natürlich nicht anerkannt, geschweige denn respektiert. Diese sogenannten
Polizisten sind auch nicht in der Lage, mit dem erst im
Aufbau befindlichen Verwaltungs- und Justizwesen zu
kooperieren. Sie agieren also quasi in einem staatlich
leeren Raum. Wem sie ihre Loyalität schulden - westlichen Streitkräften, lokalen Stammesfürsten, der Zentralregierung in Kabul oder erst einmal nur ihren ureigenen
persönlichen Interessen - hängt von der jeweiligen
Situation und den örtlichen Umständen ab. Ob sie im
Ernstfall tatsächlich ihre Gesundheit oder ihr Leben in
der Auseinandersetzung mit Taliban, Drogenbossen
oder einfachen Verbrechern riskieren, ist sehr oft zweifelhaft. Das zeigt die hohe Fluktuation und die Unmöglichkeit, die Stärke dieser Sicherheitskräfte genau zu beziffern. Ein Staat ist mit diesen Kämpfern definitiv nicht
zu machen. Und was wird in Zukunft aus diesen Kräften,
wenn die westlichen Verbündeten abgezogen sind? Die
Gefahr ist sehr groß, dass sich dann aus diesen Kämpfern paramilitärische Einheiten bilden und dass sie den
Bürgerkrieg verschärfen. Anstatt - wie es ursprünglich
ja ihr Auftrag sein sollte - das Gewaltmonopol des
afghanischen Staates aufzubauen, werden sie diesen ohnehin schwachen Staat noch weiter schwächen. Ein solcher „Polizeiaufbau“ macht keinen Sinn. Dafür sollten
und dürfen wir keine deutschen Polizisten einsetzen.
Richtig ist auch, dass unsere Polizisten auf gar keinen
Fall unmittelbar im Krieg eingesetzt werden dürfen. Die
Bundesregierung hat zugesichert, dass deutsche Polizisten im Zuge der neuen Strategie des „Focused District
Development“-Programms nicht in umkämpfte Regionen entsandt werden. Wir werden sehr genau darauf
achten müssen, dass dies tatsächlich so bleibt.
Aber nicht alles am Polizeiaufbau in Afghanistan ist
schlecht. Es sind auch einige richtige Ansätze für den
Aufbau einer Polizei in Afghanistan zu finden. Das deutsche Polizeitrainingszentrum Kundus und das Schulungszentrum in Masar-i-Scharif stehen für vorbildliche
Ausbildung, insbesondere in Hinblick auf die Fortbildung der Bereitschafts- bzw. Grenzpolizei. Gleiches gilt
für die Mission EUPOL Afghanistan. Die Stärkung der
afghanischen Nationalpolizei könnte mithilfe der genannten Projekte und EUPOL durchaus Erfolg versprechen, sofern sie mit entsprechenden Mitteln ausgestattet
würden. Doch diese Vorhaben sind hoffnungslos unterfinanziert, weshalb es noch Jahre für einen Polizeiaufbau bräuchte, der diesen Namen auch verdient. Denn
während 2010 etwa 700 Millionen Euro allein in den
Militäreinsatz der Bundeswehr geflossen sind, liegt das
EUPOL-Budget für ganz Afghanistan weit unter dieser
Summe.
Wenn wir parallel zur Forderung, die Bundeswehr
aus Afghanistan abzuziehen, die Bedeutung ziviler Aufbauprojekte hervorheben und hier größere Anstrengungen der westlichen Welt verlangen, dann gehört zum
Aufbau einer Zivilgesellschaft neben einer funktionierenden Verwaltung und einem Justizwesen, das frei von
Korruption ist, auch eine gut ausgebildete und funktionierende Polizei. Dass Afghanistan hier noch ganz am
Anfang steht und dass die Erfolgsaussichten, so wie sich
die Lage jetzt darstellt, sehr gering sind, habe ich betont. Nur wäre es sehr wohl ein Fehler, die kleinen Ansätze, wie sie zum Beispiel in EUPOL zu finden sind,
auch noch durch den kompletten Abzug aller Polizeiexperten und Ausbilder zu zerstören. EUPOL birgt durchaus Chancen und verdient größere Unterstützung. Deshalb können wir einen Antrag nicht unterstützen, der die
Bundesregierung unter anderem auffordert, „EUPOL
Afghanistan einzustellen“ und alle Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten unverzüglich abzuziehen. Denn eine
zukünftige afghanische Zivilgesellschaft - so ihr Aufbau
denn gelingt - braucht eine Polizei, die den Namen
„Polizei“ auch verdient.
Der Antrag der Linken verdient im Grunde genau ein
Wort: Unerträglich! Da schreiben Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag: „Es wird deutlich, dass das Engagement deutscher Polizeiausbilder der Führung eines
Bürgerkrieges dient.“ Was denken Sie sich eigentlich?
In welcher Realität leben Sie denn? Ich kann dazu nur
sagen: So etwas macht mich fassungslos. Wie eine Bundestagsfraktion derartige Behauptungen aufstellen
kann, ist wirklich nicht zu fassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese unerträgliche Tatsachenverdrehung kann man
nicht so stehen lassen. Der Einsatz deutscher Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan ist ein wesentlicher
Beitrag zum zivilen Wiederaufbau des Landes, zum
Aufbau eines Rechtsstaates, zur Schaffung geordneter
Strukturen und zur langfristigen Stabilisierung der Region. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass vor allem der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützt
wird, damit die internationale Gemeinschaft in ein paar
Jahren ein Land verlassen kann, das nicht wieder in die
Hände von Extremisten und Terroristen fällt. Die Polizei
Afghanistans muss hier einen zentralen Beitrag leisten,
damit ein wirklicher Rechtsstaat entstehen kann.
In unserem Antrag in der letzten Legislaturperiode
haben wir festgestellt:
Der Aufbau eines funktionierenden Polizei-, Justizund Strafvollzugswesens ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung der Sicherheit und
Ordnung und damit die Herstellung stabiler Verhältnisse in Afghanistan. Ziel ist es, dass die afghanische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und perspektivisch selbst für die
Sicherheit im Lande sorgen kann ({0}). Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in Afghanistan, zum Beispiel im Rahmen der International Security Assistance Force ({1}), an der
Deutschland als drittstärkster Truppensteller mit
der Bundeswehr maßgeblich beteiligt ist, darf nicht
über Gebühr ausgedehnt werden. Von zentraler Bedeutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse in
Afghanistan ist der Aufbau einer funktionstüchtigen
sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Polizei.
Diese Haltung vertritt die FDP-Fraktion auch heute.
Gerade vor dem Hintergrund der Abzugsperspektive für
die Bundeswehr aus Afghanistan ist die Polizeiausbildung von besonderer Bedeutung.
Die Haltung der Linken hingegen ist verantwortungslos. Die Linke will die Bundeswehr umgehend aus
Afghanistan abziehen, lehnt aber zugleich jede Verantwortung für den Wiederaufbau ab, insbesondere für den
Aufbau eines Rechtsstaats mit einer funktionierenden
Polizei.
Es ist unbestritten, dass es auch Probleme beim Polizeiaufbau in Afghanistan gibt. Diese aber damit zu beantworten, das Land sehenden Auges nicht mehr beim
Aufbau eines Rechtsstaates zu unterstützen, ist unverantwortlich. Die Antwort kann doch nicht sein, die
Flinte ins Korn zu werfen, sondern die Antwort muss
vielmehr sein, die bestehenden Probleme anzupacken.
Dazu gehört natürlich vor allem, die Ausbildung zügig,
aber zugleich möglichst solide zu gestalten.
Dass das in Afghanistan be- und entstehende Rechtssystem nicht eins zu eins das Rechtssystem Deutschlands
abbildet, auch nicht im Bereich des Polizeirechts, ist
nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig und gut.
Afghanistan kann nur dann als Rechtsstaat funktionieren, ein an Demokratie und Menschenrechten orientiertes Rechtssystem und eine Polizei können nur dann
Akzeptanz erhalten, wenn sich darin auch eigene Vorstellungen und Rechtstraditionen des Landes wiederfinden. Uns muss es aber darum gehen, die Grundsätze, die
jedem Rechtsstaat immanent sein müssen, felsenfest zu
verankern, auch und gerade bei der Durchsetzung des
staatlichen Gewaltmonopols.
Der FDP-Fraktion war und ist die Sicherheit der in
Afghanistan eingesetzten deutschen Polizistinnen und
Polizisten ein zentrales Anliegen. Den Vorwurf der Linken, die Bundesregierung entsende Polizistinnen und
Polizisten aus Deutschland in einen Krieg, weist die
FDP-Fraktion zurück. Afghanistan ist derzeit noch nicht
so stabil, dass dort ein gefahrloses Leben möglich ist.
Aber wir sehen deutliche Fortschritte. Zudem haben die
in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten
Konsequenzen aus der Gefährdungslage gezogen und
ihre eigenen Schutzvorkehrungen entsprechend angepasst, unter anderem auch durch Änderungen bei der
Ausbildung der afghanischen Kollegen vornehmlich in
den gesicherten Lagern.
Die FDP-Fraktion unterstützt die Bundesregierung
nachdrücklich in ihrem Engagement beim Polizeiaufbau
in Afghanistan und wird sich weiterhin für eine kontinuierliche Verbesserung und für konstruktive Lösungen
von Problemen sowie selbstverständlich für die Sicherheit der deutschen Polizistinnen und Polizisten einsetzen.
Seit neun Jahren werden deutsche Polizisten nach
Afghanistan geschickt, angeblich, um beim Aufbau eines
Rechtsstaates zu helfen. Wir sprechen den über
1 000 Beamten, die seit 2002 am Hindukusch waren,
nicht die ehrliche Motivation ab. Aber es ist Zeit für eine
Bilanz, und die sieht erschreckend aus: Der Polizeiaufbau am Hindukusch hat nicht zu einer Verbesserung,
sondern zu einer Verschlechterung der Lage beigetragen. Es wird höchste Zeit, nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die deutschen Polizisten abzuziehen.
Das fordert die Fraktion Die Linke in dem Antrag, den
wir heute beraten.
Die „Fortschritte“, welche die Bundesregierung vermeldet, reduzieren sich bei genauem Hinsehen auf einen
rein zahlenmäßigen Anstieg der afghanischen Polizei.
Ihre Ausbildung dauert gerade mal sechs Wochen.
Fast 90 Prozent der unteren Dienstgrade sind nach Angaben der NATO-Ausbildungsmission Analphabeten.
Und wer einen Alphabetisierungskurs mitmacht, der
kommt gerade mal auf das Niveau der dritten Klasse,
womit er weder Gesetzestexte lesen und verstehen noch
Protokolle aufsetzen kann.
Warum, muss man fragen, bildet die NATO diese angeblich so wichtigen Polizisten so hastig aus? Die Antwort ist: Weil sie nichts weiter als ein schnell verfügbares Kanonenfutter haben will, um es in den Kampf gegen
die Aufständischen zu werfen.
Afghanische Polizisten führen Seite an Seite mit Militärverbänden Gefechte gegen Aufständische. Ihre Ausbildung wird fast ausschließlich von Mitarbeitern des
Zu Protokoll gegebene Reden
US-Pentagon oder der NATO verantwortet, die auch den
Lehrplan festlegen. Das Oberkommando liegt bei einer
Dienststelle der US-Armee. Die Bundesregierung kennt
den militärischen Charakter dieser Polizei, und sie
rechtfertigt ihn sogar: Afghanische Polizisten sollten
eine „modulare Ausbildung im militärischen Sinne“ erhalten, beschied sie in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke ({0}).
Die Linke hingegen sagt: Deutsche Polizisten haben
in einem Kriegsgebiet nichts zu suchen - zum einen, weil
das lebensgefährlich ist, zum anderen, weil wir feststellen: So verfehlt der Militäreinsatz in Afghanistan ist, so
verfehlt ist auch der Polizeieinsatz, der nur die andere
Seite der gleichen Medaille darstellt.
Ein Nutzen für den Rechtsstaat ist weit und breit nicht
zu erkennen, im Gegenteil. Die Bundesregierung kann
keine Zahlen dazu angeben, wie viele afghanische Polizisten es überhaupt gibt. Klar ist nur, dass die offiziellen
Angaben weit übertrieben sind. Die britische Botschaft
schätzt den Anteil sogenannter Geisterrekruten, die nur
auf dem Papier existieren und deren Sold in die Taschen
korrupter Vorgesetzter fließt, auf ein Viertel ({1}).
Keine verlässlichen Zahlen gibt es auch darüber, wie
viele der ausgebildeten Polizisten nach ihrer Ausbildung
im Dienst verbleiben. Etliche von ihnen, nach Schätzungen 20 Prozent, quittieren ihren Dienst und nehmen dabei häufig ihre Waffen mit.
Das größte Problem ist aber nicht etwa, dass der
Polizeiaufbau ineffektiv ist.
Die Frage, was dabei herauskommt, wenn man jungen Männern eine Uniform überstreift, ein Gewehr in
die Hand drückt und einen Schnellkurs verpasst, hat der
frühere stellvertretende UNO-Sonderbeauftragte in Kabul Peter Galbraith in einem Interview mit „CNN“ wie
folgt beantwortet: „Was dabei herauskommt, ist kein
Polizist, sondern jemand, der von seinen Mitmenschen
noch ein bisschen effektiver Geld erpresst“ ({2}).
Genau dieser Eindruck wird auch von deutschen
Polizisten und Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren, bestätigt. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter
berichtet von systematischer Wegelagerei und Straßenräuberabzocke. Selbst der Chef der NATO-Ausbildungsmission, General Caldwell, räumt ein, dass die große
Mehrheit der Afghanischen Nationalpolizei die Gesetze,
die sie angeblich durchsetzen soll, überhaupt nicht
kennt, und er kommt zum Schluss, die meisten Afghanen
sähen in der Polizei „gesetzlose bewaffnete Männer“.
Das ist die offizielle Bilanz von neun Jahren sogenannter Aufbauarbeit. Der afghanischen Bevölkerung wurde
nicht zu mehr Demokratie verholfen, sondern es wurde
ihr ein weiterer Unterdrückungsapparat beschert, der
sie in die Zange nimmt.
Es ist unverantwortlich, diese Politik fortzusetzen. Im
Falle Afghanistan muss man klar sagen: Lieber keine
Polizei als solch eine. Denn diese Polizei dient nicht
dem Recht, nicht der Bevölkerung, sondern sie lässt den
Krieg und die Gewalt nur noch weiter eskalieren. Dabei
dürfen deutsche Polizisten nicht länger mitwirken. Deswegen fordert Die Linke: Die Konsequenzen aus dem
Desaster in Afghanistan ziehen und Soldaten wie Polizisten abziehen.
Das Thema Ihres Antrages ist ein wichtiges, und auch
die einzelnen Fragen, die Sie ansprechen, sind die richtigen. Aber Ihre Begründung und Ihre undifferenzierten
Analysen entwerten diese richtigen Ansätze.
Sie weisen darauf hin, dass die deutsche Polizei nicht
in einem völlig instabilen und höchst unsicheren Gebiet
eingesetzt werden sollte. Das sehe ich ganz ähnlich: Wir
haben deutsche Polizeibeamte mit einem Ausbildungsauftrag nach Afghanistan geschickt. Dieser ist nicht umsetzbar, wenn sie sich täglich ihrer Haut erwehren müssen. Deswegen ist es richtig, aus Sorge um die Sicherheit
der Beamten diesen Einsatz ständig kritisch zu begleiten
und die Situation vor Ort zu bewerten. Dabei muss auch
gesagt werden: Ein Teil des Polizeieinsatzes - ich denke
an die deutschen Ausbilder in der Polizeiakademie in
Kabul - findet übrigens keineswegs mitten im Gefahrengebiet statt.
Ebenso richtig bemängelt der Antrag, dass in Afghanistan Korruption weit verbreitet ist und die Polizei, zu
deren Ausbildung die deutschen Polizistinnen und Polizisten beitragen, allzu oft nicht die rechtsstaatliche Kraft
ist, die wir uns wünschen und die wir anstreben. Sie weisen auf die teilweise problematische Verbindung zwischen Polizei und Militär hin. Nun hat jedes Land seine
eigene Sicherheitsstrategie, und die afghanische Regierung hat sich für eine deutlich stärker militärisch inspirierte Polizei entschieden, als wir das - mit guten Gründen - in der Bundesrepublik getan haben. Natürlich
würde es unseren Wünschen entsprechen, wenn wir landesweit weniger unterschiedliches Vorgehen und weniger unterschiedliche Leitbilder und stattdessen eine
vorrangige Orientierung an einem zivilpolizeilichen Berufsbild hätten. Aber all das kann doch nicht heißen: Abzug! Die deutschen Ausbilderinnen und Ausbilder sollen
ja eben nicht zur Militarisierung der afghanischen Polizei beitragen. Im Gegenteil: Sie sollen gerade helfen, ein
Verständnis für eine zivile rechtsstaatliche Polizeiarbeit
zu entwickeln und Korruption und Klientelismus zu
überwinden. Um das durchzusetzen, hilft eben kein Abzug. Vielmehr würde es helfen - und das fordern wir von
der Bundesregierung -, bessere Konzepte zu entwickeln
und entsprechend auf die Verbündeten einzuwirken.
Der einzige Grund, aus dem man einen Abzug oder
einen zeitweisen Rückzug fordern könnte, ist die Sicherheitslage. Wenn der angestrebte Auftrag wegen der
Sicherheitslage nicht erfüllbar ist und wenn ständig Gefahr für Leib und Leben der eingesetzten Beamten besteht, dann muss man eine Lösung finden. Dann könnte
man zum Beispiel über eine entsprechend stärkere Rolle
der Feldjäger nachdenken. Doch mir scheint nach Lektüre Ihrer Antragsbegründung, dass Sie als Antragsteller nicht durch Sorge um die deutschen Polizisten und
Polizistinnen motiviert sind oder ernsthaft darüber
nachdenken, wie man die Ziele dieses Einsatzes besser
Zu Protokoll gegebene Reden
erreichen könnte. Sie haben einfach ein grundsätzliches
Problem damit, dass sich Deutschland in Afghanistan
engagiert, und deshalb wollen Sie den Abzug. Wir sind
weiterhin der Auffassung, dass wir eine Pflicht haben,
zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens in
Afghanistan beizutragen. Weil das eine höchst gefährlich Aufgabe ist, interessieren wir uns für die Sicherheit
und den Schutz der deutschen Polizistinnen und Polizisten, die vor Ort eine notwendige Aufgabe mit großem
Einsatz zu erfüllen versuchen. Ihnen schulden wir gute
Ausstattung und bessere Konzepte für den Aufbau, nicht
politische Instrumentalisierung. Zu einem Antrag nach
dem Motto „Die Lage ist schwierig, deshalb führen wir
die Katastrophe gleich herbei“ können wir nur Nein sagen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4879 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung einer Kennzeichnungspflicht für
Angehörige der Bundespolizei
- Drucksache 17/4682 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll.
Bevor ich auf den haltlosen Antrag der Fraktion Die
Linke eingehe, möchte ich all den engagierten Bundespolizistinnen und Bundespolizisten danken, die tagtäglich für den Schutz der Bevölkerung höchste Einsatzbereitschaft aufbringen.
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, behaupten in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die Bundesregierung mit dem Verzicht auf die Kennzeichnungspflicht
der Bundespolizisten Spielraum für polizeiliche Straftaten einräumt und die Möglichkeit gibt, sich außerhalb
der Gesetze, in der Anonymität zu bewegen. Diese Aussage ist schlicht und ergreifend haltlos und wird von mir
strengstens abgelehnt.
Seit vielen Jahren hat die Regelung Bestand, dass
sich Beamte der Bundespolizei mittels Dienstausweis
gegenüber einer von polizeilichen Maßnahmen betroffenen Person legitimieren müssen, sofern der Sinn der
Amtshandlung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Im
Falle eines von Ihnen so oft genannten Einsatzes in geschlossenen Einheiten besteht außerdem die Möglichkeit, über taktische Kennzeichnungen oder Einsatzberichte etwaige Ausweisungen vorzunehmen. Dieses
Vorgehen ist heute gängige und bewährte Praxis bei
Einsätzen der Bundespolizei und stellt ein ausgewogenes Mittel zur Wahrung der Interessen der Öffentlichkeit, der Polizeibeamten und deren Anverwandten sowie
ihres jeweiligen Dienstherrn dar. Dass dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundespolizei geschwächt wird, war bislang nicht zu bemerken.
In Bundesländern wie Berlin, in denen bereits eine
Kennzeichnungspflicht für die Polizistinnen und Polizisten besteht, wird diese entgegen den Pressedarstellungen von den Betroffenen nicht als positiv empfunden.
Den Beamten zufolge häufen sich dort bereits jetzt ungerechtfertigte Vorwürfe und Beschwerden, denen durch
die Kennzeichnung Tür und Tor geöffnet wurde.
Wenn Sie nun Ihr bekanntes Beispiel von Demonstrationen oder Fußballspielen ins Feld führen, dann müsste
Ihnen doch auch bekannt sein, dass die Beamtinnen und
Beamten der Bundespolizei besonders in derartigen Situationen unter äußerst komplizierten Umständen, die
zudem sehr gefährlich sein können, agieren müssen. Wie
beispielsweise der 19. Februar 2011 in Dresden zeigte,
wo bei einer Demonstration 82 Polizisten verletzt wurden, sehen sich die Beamtinnen und Beamten einer stetig
wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber. Insbesondere diese Menschen, die sich in ihrem Beruf so engagieren und sich auf eigene Gefahr zum Schutze anderer in
eine bedrohliche Lage begeben, haben einen unumstößlichen Anspruch darauf, dass ihre persönlichen Rechte
gewahrt werden. Durch die namentliche Kennzeichnung
der Polizeibeamten würde die Gefahr von Angriffen auf
Beamtinnen und Beamte jedoch erheblich ansteigen,
und es wäre nicht länger möglich, ihnen und ihren Angehörigen Schutz zu gewähren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Kennzeichnung zu ungerechtfertigten Anschuldigungen und Druckausübung bis hin zu
Gewaltanwendung gegenüber den Polizistinnen und
Polizisten sowie ihren Angehörigen führen kann. Das
bestätigen auch die entsprechenden Experten- und
Fachkreise der Polizei auf Bundes- und Länderebene.
Darüber hinaus ist es auch rein menschlich betrachtet diesen Bundesbeamten gegenüber nicht gerecht, sie
von vornherein unter Generalverdacht zu stellen und ihnen zum Dank für ihren aufopfernden Dienst eine grundsätzliche Bereitschaft zu Gewaltverbrechen zuzusprechen, zumal die Zahlen für sich sprechen: Weniger als
3 000 Strafanzeigen hat es im vergangenen Jahr gegen
Polizistinnen oder Polizisten gegeben, wovon lediglich
3 bis 5 Prozent eine Anklage nach sich zogen. In diesen
Fällen wiederum wird nur etwa ein Drittel der Beschuldigten verurteilt. Demgegenüber stehen täglich Hunderttausende pflichtgetreu ausgeführte und rechtlich
nicht zu beanstandende Einsätze, die nicht selten unter
schwierigen und gefährlichen Umständen durchgeführt
werden müssen. Generell ist also eine Pflicht zur individuellen Bezeichnung des einzelnen Polizeibeamten in jedem Falle als nachrangig anzusehen, wenn die Sicherheit eines oder mehrerer Menschen und der Schutz von
Persönlichkeitsrechten auf dem Spiel stehen.
Bezüglich Ihrer Behauptungen, eine Nichtkennzeichnung sowie das vermeintlich anonyme Auftreten in Einsatzkleidung beeinträchtige Ermittlungen bei GesetzesGünter Baumann
verstößen seitens der Polizisten, liegen uns keinerlei
belastbare Aussagen oder Beweise vor. Nur um Ihnen
das noch einmal mit Nachdruck zu verdeutlichen: Die
Kleidung der Bundespolizisten wird ausschließlich unter
der Maßgabe der Zweckmäßigkeit und Sicherheit der
Beamtinnen und Beamten ausgewählt und nicht, um eine
Anonymisierung herzustellen. Ebenso unterliegen strafrechtliche Untersuchungen gegen Mitglieder der Bundespolizei den geltenden Rechtsvorschriften. Ein Abschluss eines Verfahrens, erfolgt nur, wenn die
umfassenden Ermittlungen und Prüfungen der Staatsanwälte und Richter dies rechtfertigen. Die Behauptung,
dass dadurch das Vertrauen der Bürger in die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsstaat zerstört wird, ist
meiner Ansicht nach völlig widersinnig und nicht nachvollziehbar, meine Damen und Herren von der Linken.
Zusammengefasst besteht nachweislich kein Erfordernis, eine Kennzeichnungspflicht für die Beamtinnen
und Beamten der Bundespolizei einzuführen. Misstrauen
gegenüber den Polizistinnen und Polizisten sowie eine
hohe persönliche Gefährdung wären eine unabdingbare
Folge dessen. Dies kann von unserer Seite nicht hingenommen werden. Darum ist der Antrag der Linken eindeutig abzulehnen.
Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wird auch in der
SPD-Bundestagsfraktion schon länger diskutiert. In einem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch
die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und
Beamte sind umgehend strafrechtliche Konsequenzen zu
ziehen.
Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell aufkommenden Eindruck, jede Demonstration werde seitens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsabbau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht
um ein gesamtpolizeiliches Phänomen!
Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wochenenden in der gesamten Republik unterwegs, in unterschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder
Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungsvollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus. Diese
wichtige Arbeit möchte ich an dieser Stelle auch einmal
ganz ausdrücklich würdigen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert
nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Andererseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt sind.
Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, eine Kennzeichnungspflicht für die Bundespolizei einzuführen, aber
nicht per se für jede Beamtin und jeden Beamten in jeder
Dienstsituation. Hier muss schon differenziert werden.
Meiner Meinung nach sollte eine nach Tätigkeiten
abgestufte Kennzeichnungspflicht eingeführt werden:
Im Innendienst sollte es für jede Beamtin und jeden Beamten verpflichtend sein, ein Namensschild zu tragen.
Ebenso wäre im Sinne einer bürgerfreundlichen Polizei
auf dem Schreibtisch ein Namensschild anzubringen. Im
Einzeldienst sollten die Beamtinnen und Beamten wahlweise ein Namensschild oder ein Schild mit einer Identifikationsnummer tragen. Bei Einsätzen in geschlossenen
Einheiten bin ich nicht der Meinung, dass Namensschilder das Mittel der Wahl sind. Zum einen kann es bei gleichen oder auch ähnlichen Einheiten zu Verwechslungen
kommen.
Ich bin nach der Lektüre des Gutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages „Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ durchaus
nicht der Ansicht, es würde keine unberechtigten Anschuldigungen oder Übergriffe auf Polizeibeamte aufgrund der Kennzeichnungspflicht geben. In Spanien sind
Einzelfälle dokumentiert.
Wir dürfen die Augen vor dem Gewaltpotenzial einiger Demonstranten aus dem bekannten Milieu nicht verschließen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass mit
den Recherchemöglichkeiten, die das Internet bietet, das
persönliche Umfeld meiner Kolleginnen und Kollegen
ausgeforscht wird und sich daraus eine Gefährdung der
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ergibt. Vielmehr
schlage ich bei solchen Einsätzen eine Kennzeichnung
vor, die eine individuelle Zuordnung ermöglicht. Eine
solche Zuordnung gibt es bei „geschlossenen“ Einheiten bereits, weshalb der Antrag der Fraktion Die Linke
an dieser Stelle ins Leere läuft.
Vielleicht kommt Ihnen mein Vorschlag bekannt vor.
Ich habe mich an der Kennzeichnungspflicht orientiert,
die der Berliner SPD-Innensenator in diesem Jahr für
die Landespolizei eingeführt hat. Diesen Vorschlag halte
ich für überzeugend, und ich freue mich, dass Berlin
eine ausgewogene Entscheidung getroffen hat und damit
hoffentlich auch Vorbild für andere Bundesländer und
für die Bundespolizei ist.
An gleicher Stelle debattierten wir in der vergangenen Woche über einen anderen Antrag der Fraktion Die
Linke, in dem sie auch schon so tat, als litte der Rechtsstaat vor allem an exzessiver Gewaltausübung durch
Polizistinnen und Polizisten. In dem heute zu beratenden
Antrag behauptet die Linke nun gar, dass Polizistinnen
und Polizisten „das Gefühl“ hätten, „in voller Einsatzmontur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch außerhalb des Gesetzes“ zu stehen.
Ich habe mal eine Ahnung, welches „Gefühl“ Polizistinnen und Polizisten haben, wenn sie in eine Situation
geschickt werden, bei der sie nur dann eine Chance haben, mit halbwegs heiler Haut wieder rauszukommen,
sofern sie sich mit Helmen und Schutzkleidung gegen
Steinewerfer und Randalierer vom Schwarzen Block
wappnen. Es ist ja mitnichten so, wie es die Linke hier
darzustellen versucht, als würden Polizistinnen und
Polizisten sich hinter Helmen und Schutzschilden verstecken, um unerkannt tun und lassen zu können, was
ihnen einfällt. Vielmehr ist die Kausalitätskette doch
genau umgekehrt: Erst und nur, wenn eine so gefährliche Situation von Leuten, die Recht brechen und Gewalt
ausüben oder dies befürchten lassen, hervorgerufen
wird, müssen sich die Polizistinnen und Polizisten schütZu Protokoll gegebene Reden
zen, um ihre Arbeit zu tun. Ihre Arbeit im Übrigen, die
darin besteht, Recht und Gesetz durchzusetzen. Mit Allmachtsfantasien, wie die Linke sie hier behauptet, hat
das nämlich ganz gewiss gar nichts zu tun.
Es ist selbstverständlich, dass Polizistinnen und Polizisten, die im Dienst Grenzen überschreiten und sich
strafbar machen, wie jeder andere zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es ist auch selbstverständlich,
dass in solchen Fällen genauso sorgfältig ermittelt werden muss wie in allen anderen Fällen. Damit die Identität eines Täters aufgeklärt werden kann, ist ein Namensschild aber nun wirklich nicht erforderlich. Es bestehen
die ganz normalen Möglichkeiten der Ermittlung von
Tätern. Und sie werden ja auch genutzt; es ist ja nicht
so, als ginge die Polizei Straftaten, die in den eigenen
Reihen begangen werden, nicht mit den Mitteln des
Strafrechts wie auch des Disziplinarrechts nach.
Fordern Sie von den Linken eigentlich konsequenterweise auch, dass der Schwarze Block nur noch mit Namensschildern, wahlweise „Nummernschildern“, versehen an Demonstrationen teilnehmen darf, damit die
Ermittlungen nachher leichter fallen, wer die Flasche
auf den Polizisten geworfen hat? Nein, natürlich nicht.
Denn Ihnen von der Linken geht es nur darum, die Polizistinnen und Polizisten in Misskredit zu bringen, und
nicht darum, dass das wirklich eine zielführende Maßnahme zur Aufklärung von tatsächlichen Vergehen und
Verbrechen ist.
Natürlich ist eine bürgernahe Polizei ein wichtiges
Anliegen, auch, weil unser Rechtsstaat von dem Vertrauen der Menschen in ihre Polizei lebt. Polizistinnen
und Polizisten sind die Gesichter unseres Rechtsstaates.
Anträge wie der von der Linken vorgelegte leisten hier
aber einen Bärendienst, wenn sie die Polizei so verzerrt
darstellen. Die Forderung der Linken ist nicht davon getragen, dass die Menschen auf der Straße den Streifenpolizisten nach Blick auf dessen Namensschild ein
freundliches „Guten Tag, Herr Müller!“ entgegnen können, sondern davon, dass sie unterstellt, es könne im
Grunde jederzeit von jedem Polizisten zum unberechtigten Angriff kommen.
Es ist - wie ich schon in der vergangenen Woche anmerken musste - wirklich ausgesprochen bedauerlich,
dass die Linken eigentlich diskussionswürdige Themen
auf ein Niveau herunterzieht, auf dem man nicht mehr
ernsthaft über die Sache sprechen kann.
Diskussionswürdig wäre beispielsweise ja durchaus,
ob die, selbst nach Abzug der zahlreichen Anzeigen auch
bei legitimer Gewaltanwendung durch die Polizei, relativ geringe Zahl von Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung im Amt manchmal auch Zeichen eines falsch
verstanden Korpsgeistes sein könnte, und wie man hier
etwas verbessern kann. Diskussionswürdig wäre aber
ebenso, in wie vielen Fällen die vermeintlichen Opfer
von Polizeigewalt schon von vornherein aggressiv und
mit Gewaltdrohung auf die Polizistinnen und Polizisten
zugegangen sind. Wenn die Linke hier auf Berlin verweist, so muss sie doch auch darauf verweisen, dass gerade in dieser von der Linken mitregierten Stadt Polizistinnen und Polizisten über eine ganz besonders geringe
Akzeptanz und zugleich besonders hohe Aggressivität
gegenüber der Polizei in der Bevölkerung klagen.
Ich kann nur sagen: Angesichts der hier wieder demonstrierten Geringschätzung der Linken gegenüber
der Polizei ist es ein Wunder, dass in Berlin überhaupt
noch engagierte Polizistinnen und Polizisten ihren
Dienst verrichten. Diesen Männern und Frauen gilt
mein Respekt und mein Dank!
Die FDP-Fraktion ist gerne bereit, sich ernsthaft mit
den Phänomenen der Akzeptanz der Polizei in unserer
Gesellschaft ebenso wie mit der kriminologischen Forschung zu Körperverletzung im Amt und deren Vermeidung sowie Verfolgung zu befassen. Aber bitte nicht auf
diesem Niveau!
Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die
Linke, eine Kennzeichnungspflicht für Angehörige der
Bundespolizei einzuführen.
Warum halten wir solch eine Kennzeichnung für notwendig?
Im Mai 2005 stürmte ein Sondereinsatzkommando
der Berliner Polizei die Diskothek Jeton. Es kam zu massiven Übergriffen seitens der Beamten. Die Opfer trugen
zahlreiche Knochenbrüche und Kopfverletzungen davon. Die Staatsanwaltschaft Berlin nannte die Polizeigewalt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, das
Land leistete Entschädigungszahlungen an die Opfer.
Aber die Täter wurden nicht verurteilt: Die Polizisten
trugen allesamt Gesichtsmasken und verhinderten damit
ihre individuelle Identifizierung.
Vor vier Monaten stellte die Generalstaatsanwaltschaft München ein Verfahren gegen Polizisten ein, die
2007 rechtswidrig auf Fußballfans eingeprügelt hatten.
Grund für die Einstellung: Die Schläger konnten nicht
einwandfrei identifiziert werden. Die „Frankfurter
Rundschau“ kommentierte dies mit den Worten, wieder
einmal habe der Rechtsstaat vor der Polizei kapituliert.
Bei zahlreichen Demonstrationen erleben wir immer
wieder, dass uniformierte und behelmte Polizisten mit
Schlagstöcken, Pfefferspray oder Faustschlägen unverhältnismäßig gegen Demonstranten vorgehen. Sie werden dabei zwar häufig gefilmt, manchmal lösen diese
Bilder sogar eine gesellschaftliche Debatte aus, aber zu
Verurteilungen der Beamten kommt es nur selten: Mit
ihren Uniformen und Helmen sehen sie alle gleich aus,
sie sind praktisch vermummt und können im Schutz dieser Anonymität Straftaten begehen.
Nach einer Untersuchung an der FU Berlin, die sich
weit über 100 Fälle von Polizeigewalt vorgenommen
hat, ist in jedem zehnten Fall die mangelnde Identifizierbarkeit eines Beamten zumindest mitverantwortlich
dafür, dass ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird.
Dabei ist natürlich der Aspekt noch gar nicht berücksichtigt, dass viele Betroffene gar nicht erst Anzeige erstatten, weil sie von vornherein wissen, dass sie damit
nicht durchkommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke meint: Wenn der Rechtsstaat sich selbst
ernst nehmen will, muss er dieses Problem anpacken.
Eine Kennzeichnungspflicht kann zwar nicht Polizeigewalt verhindern, aber sie kann das Problem der fehlenden Identifizierung lösen.
Gegner der Kennzeichnung behaupten immer wieder,
sie ermuntere Gewalttäter zu falschen Beschuldigungen
oder gar zu persönlichen Nachstellungen.
Wir wollten das mal genauer wissen und haben zunächst die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage
dazu befragt. Die Regierung antwortete, es lägen ihr
keine eigenen Informationen vor.
Daraufhin haben wir den Wissenschaftlichen Dienst
des Bundestages um eine Untersuchung gebeten. Und
siehe da: In fast der gesamten Europäischen Union ist
die Kennzeichnungspflicht bereits umgesetzt. Deutschland ist, neben Österreich, der einzige Verweigerer. Und
nirgends gibt es Belege für eine damit verbundene Gefährdung von Polizisten. Lediglich aus Spanien werden
„in einigen wenigen Einzelfällen“ unberechtigte Anschuldigungen oder Übergriffe vermeldet, ansonsten lägen jedoch „keine relevanten Informationen vor, ob die
Einführung der Kennzeichnungspflicht zu einem Anstieg
unberechtigter Anschuldigungen gegen Polizeibeamte
oder gar zu persönlichen Übergriffen auf diese geführt
hat“.
Amnesty International zog daraus die Bilanz: Es lägen keine wirklichen Gründe gegen eine Kennzeichnungspflicht vor.
Dennoch stemmen sich gerade die Polizeigewerkschaften noch immer vehement dagegen.
Der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch hat
hierzu in einer Anhörung im Brandenburger Landtag
Anfang Januar das Notwendige gesagt: Die Polizisten
hätten vielfach „emotionale Vorbehalte“, die sich aber
nicht auf Tatsachen stützten.
Berlin hat mittlerweile eine Kennzeichnung beschlossen, Brandenburg steht kurz bevor. Dort hat interessanterweise die CDU die Initiative ergriffen - und die steht
wohl genauso wenig im Verdacht, angeblichen linken
Gewalttätern nahezustehen wie der Berliner Polizeichef.
Die Brandenburger CDU führt in ihrem Gesetzentwurf
völlig zu Recht aus, eine namentliche Kennzeichnung
könne das Vertrauen in die Polizei durch Transparenz
und Bürgernähe stärken. Das sagen wir auch den Polizeigewerkschaften: Sie haben nichts zu verlieren, im Gegenteil. Wenn die Bürger wissen, mit wem sie es zu tun
haben, werden sie eher mehr als weniger Vertrauen in
die Rechtsstaatlichkeit polizeilichen Handelns haben.
Die Kennzeichnung dient, so schreibt es auch die
Brandenburger CDU, der Sicherstellung der Rechtsschutzgarantie für die Bürger und gewährleistet eine
schnelle Aufklärung von Fällen von Polizeigewalt.
Die Linke zieht hieraus das Fazit: Eine Kennzeichnung kostet nichts, sie richtet keinen Schaden an, sie ist
aber geeignet, Schaden abzuwenden, indem sie Opfern
polizeilicher Übergriffe die Möglichkeit gibt, die Täter
zu identifizieren und belangen zu lassen. Eine Kennzeichnung wäre daher ein Gewinn für ehrliche Polizisten wie für die Bürger.
Polizistinnen und Polizisten sind vom Staat beauftragt, das Recht durchzusetzen. Sie sind befugt, dazu
auch unmittelbaren Zwang auszuüben. Sie üben dabei
das staatliche Gewaltmonopol aus, und das heißt im
Konfliktfall eben auch: Sie üben Gewalt aus. Diese Anwendung von Gewalt durch die Polizei muss immer verhältnismäßig sein, und sie muss immer auf klarer rechtlicher Grundlage geschehen. Sonst ist sie rechtswidrig.
Um die Fälle rechtswidriger Gewalt geht es hier.
Dass es sie gibt, kann niemand ernsthaft bestreiten.
Dass sie nicht der Regelfall sind, sei auch klar gesagt.
Die Zeiten der Leberwursttaktik eines Polizeipräsidenten Duensing sind zum Glück Vergangenheit. Aber Gewaltexzesse kommen eben gelegentlich vor, gerade bei
Großlagen wie Demonstrationen. Da gibt es die Fälle,
in denen Bürgerinnen und Bürger, die lediglich ihr Demonstrationsrecht ausüben, zur Zielscheibe von Gewalt
durch Polizeibeamte werden. Es bringt nichts, hier jetzt
zu streiten, wie es dazu in der Situation jeweils gekommen ist. Was zählt, ist: Ein Bürger sieht sich als Opfer
exzessiver Gewalt und damit als das Opfer einer Straftat. Er muss die Möglichkeit haben, diesen Vorfall einer
justiziellen Überprüfung zuzuführen. Doch ein solcher
Bürger steht heute vor einem Problem: Er muss seine
Anzeige gegen Unbekannt stellen, denn er kann nicht
identifizieren, wer ihn da unverhältnismäßig attackiert
hat. Denn Beamte tragen Uniform und sehen deshalb,
das sagt das Wort Uniform schon, alle mehr oder weniger gleich aus - erst recht, wenn sie Helm tragen.
Die Anonymität der Uniform aufzuheben, um den
Bürgerinnen und Bürgern nach einem ganz konkreten
Gewaltakt eine rechtsstaatliche Ermittlung zu ermöglichen - darum geht es. Dazu brauchen wir eine individuelle Kennzeichnung der Polizistinnen und Polizisten,
gerade wenn sie in geschlossenen Einheiten im Einsatz
sind. Das ist kein Generalverdacht gegen die Polizei;
das ist Vorsorge für den Problemfall. Dadurch wird kein
Beamter gefährdet. Denn es muss ja nicht der echte
Name sein, der da auf der Uniform klar lesbar steht; es
reicht eine einprägsame Zahl oder Buchstabenkombination, und die kann auch von Einsatz zu Einsatz neu vergeben werden.
Zum Abschluss: Der Antrag der Linkspartei will das
Richtige. Dies allerdings von der Bundesregierung zu
erwarten, verwundert etwas. Ein Innenminister von der
CSU bekommt vielleicht die Kennzeichnungspflicht für
Demonstranten hin, schwerlich aber Erkennungszeichen für die Polizei. Wenn das im Gesetz stehen soll,
müssen wir das als Bundestag schon selbst in die Wege
leiten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan11802
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. April 2011, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.