Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich zur 100. Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in der laufenden Legislaturperiode.
({0})
- Frau Künast, das ist die natürliche Erklärung für die
überraschende Kostümierung einzelner Mitglieder anderer Fraktionen. Das trägt dem besonderen Anlass Rechnung.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz
von NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({2}) unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolution 1386 ({3}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943
({4}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/5190, 17/5251 ({5}) Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({6})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5252 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Wir werden über die Beschlussempfehlung nach Abschluss der Debatte namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({8})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir werden heute über eine weitere Teilnahme deutscher Soldatinnen und Soldaten an einem NATO-Einsatz
abstimmen.
Ich möchte mir an dieser Stelle eine sehr persönliche
Bemerkung erlauben, gerade vor dem Hintergrund der
Diskussion der letzten Tage. Über eine mögliche Teilnahme deutscher Soldatinnen und Soldaten in Libyen hat
es eine heftige Diskussion gegeben. Ich bin der Meinung,
dass man auch über das Vorgehen der Bundesregierung
unterschiedlicher Auffassung sein kann. Man kann zu unterschiedlichen politischen Bewertungen kommen. Das
geht quer durch die Fraktionen.
({0})
Ich finde, das ist ein Zeichen für eine gesunde demokratische Auseinandersetzung.
Was mich persönlich in den letzten Tagen aber sehr
befremdet hat, sind Äußerungen von Mitgliedern dieses
Hauses und von Kommentatoren,
({1})
in denen die Bündnistreue unseres Landes in Zweifel gezogen worden ist.
({2})
Redetext
Angesichts der Tatsache, dass über 20 000 Soldatinnen
und Soldaten Jahr für Jahr in europäischen Missionen
und in NATO-Missionen einen zum Teil lebensgefährlichen Dienst leisten, angesichts der Tatsache, dass
Deutschland im RC North in Afghanistan das Kommando führt, und angesichts der Tatsache, dass wir auf
dem Balkan seit vielen Jahren und Jahrzehnten einen
hervorragenden Dienst tun, möchte ich persönlich diesen
Vorwurf mit aller Entschiedenheit zurückweisen.
({3})
- Frau Künast, es wäre schön, wenn Sie innerhalb Ihrer
Fraktion bei der Frage, welche Position Bündnis 90/Die
Grünen einnimmt, für Klarheit sorgen würden.
({4})
Heute reden wir über die Teilnahme deutscher Soldatinnen und Soldaten am AWACS-Einsatz. Der Bundesminister der Verteidigung hat in der ersten Lesung die
Ziele dieses gemeinsamen Einsatzes sehr gut, sogar ausgezeichnet beschrieben.
Insbesondere für die Sicherheit des Luftraums über
Afghanistan, aber auch für die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten auf dem Boden ist AWACS eine
wichtige Fähigkeit der NATO. Wir beteiligen uns seit
vielen Jahren daran. Wir sind Host Nation für AWACS
in Geilenkirchen. Insofern darf ich auch im Namen meiner Fraktion um eine breitere Unterstützung bitten. Ich
glaube, dass wir hier einen wichtigen Beitrag zur Entlastung des Bündnisses in Afghanistan leisten.
Vor dem Hintergrund, dass wir heute über ein gesondertes Mandat entscheiden, möchte ich an dieser Stelle
doch noch einen Gedanken in die Diskussion bringen,
wenn wir Ende des Jahres über eine Verlängerung dieses
Mandats und des ISAF-Mandats reden. Da wir gemeinsam das Ziel teilen, im Jahr 2014 die komplette Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte anzupeilen, sollten wir auch darüber nachdenken,
ob wir die beiden Mandate sinnvollerweise im nächsten
Jahr zusammenführen.
Wir als FDP-Fraktion werden uns an der Abstimmung
positiv beteiligen. Wir haben einen breiten Konsens in
der Fraktion. Das hatten wir bereits bei der ersten Abstimmung über AWACS ins Bild gesetzt.
Der Minister hat noch einmal versichert, dass wir mit
Blick auf die Soldaten, die jetzt an dieser schwierigen
Mission teilnehmen, darüber nachdenken müssen, ob die
langen Anreisewege für unsere Soldaten - über acht
Stunden - dazu führen, dass eine zu große Belastung erfolgt. Wir sollten die Möglichkeit einer dauerhaften Stationierung in Masar-i-Scharif für die Dauer des Einsatzes erwägen.
Ich darf Sie herzlich bitten, diesem Einsatz eine breite
Zustimmung in diesem Hause zu erteilen und damit zu
beweisen, dass wir hinter dem wichtigen und gefährlichen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan stehen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Wir entscheiden heute über das
AWACS-Mandat für Afghanistan. Jedenfalls aus meiner
Sicht hat es der Verlässlichkeit der deutschen Politik in
der Vergangenheit ganz gut getan, dass solche Entscheidungen von einer breiten Mehrheit hier im Hause getragen wurden. Diejenigen, die in Afghanistan als Soldaten
oder als zivile Helfer ihren Dienst tun, dürfen das jedenfalls erwarten.
Die SPD - das haben Sie in den letzten Monaten erfahren - hat sich auch in ihrer Rolle in der Opposition
nicht aus der Verantwortung gestohlen.
({0})
Aber auch das sei ganz am Anfang meiner Rede in
Richtung der Regierungsfraktionen gesagt: Diese Regierung unternimmt alles, um auch diese gute Tradition in
der Außenpolitik zu gefährden. Man muss entweder auf
der einen Seite verwegen oder auf der anderen Seite panisch sein, um drei Tage vor wichtigen Landtagswahlen
wie Zieten aus dem Busch zu kommen und einen solchen Gegenstand in die Tagesordnung des Bundestages
zu pressen.
({1})
Ich sage ganz ehrlich an Ihre Adresse: Viele von uns
hatten den Eindruck, dass Sie im Grunde genommen gar
nicht nach einer breiten parlamentarischen Mehrheit suchen, sondern dass Sie eine Ablehnung provozieren
wollten. Meine Meinung ist anders: So viel Strategie
traue ich Ihnen in diesen Tagen gar nicht zu.
({2})
Aber es ist mir in der Tat ernster. Es geht mir gar nicht
um die Provokation von Konflikten mit der Opposition.
Denn mir fällt in den letzten Monaten nicht nur bei der
Diskussion in diesem Hause auf: Es geht eigentlich um
etwas, was schlimmer ist. Es geht um die seit Monaten
immer wieder deutlich werdende Missachtung des ParlaDr. Frank-Walter Steinmeier
ments. Heute werden wir einmal mehr gezwungen, weitreichende Entscheidungen in einem für das Parlament,
finde ich, völlig unwürdigen Schweinsgalopp über die
Bühne zu bringen.
({3})
Das Ganze scheint mittlerweile System zu haben. Das
fällt nicht nur uns auf. Wenn Sie - das sage ich an die
Damen und Herren der Regierung gerichtet - schon
nicht auf uns hören, dann hören Sie zumindest auf den
Bundestagspräsidenten. Er hat es Ihnen in der vorvergangenen Woche einmal mehr ins Stammbuch geschrieben.
({4})
Wenige Beispiele. Beim Euro-Rettungsschirm hat die
Bundesregierung jede Auskunft, die wir verlangt haben,
so lange verweigert, bis die wesentlichen Entscheidungen in Brüssel eingetütet waren. Bei der Wehrpflicht
- sie hatte eine ausgezeichnete Tradition in dieser Republik - waren sich die großen Parteien über lange Zeit einig. Nun wird die gesetzliche Verankerung der Grundlagen der Bundeswehr mit einem politischen Ukas auf
einmal ausgesetzt. Die gerade erst per Gesetz verlängerten Laufzeiten der Kernkraftwerke werden mit politischem Beschluss ohne Beteiligung des Parlamentes einfach so zurückgenommen.
Heute legen Sie auf die Schnelle einen Antrag zur Beteiligung an einem AWACS-Einsatz vor, nicht weil die
Lage in Afghanistan das erfordert, nicht weil die Bedrohungslage in Deutschland über Nacht eine andere geworden wäre, nicht weil die NATO-Anforderung in den
letzten Tagen dringlicher geworden wäre, sondern weil
der Bundesregierung das Wasser bündnispolitisch bis
zum Hals steht. Darum geht es und um nichts anderes.
({5})
Das wissen nicht nur die, die jetzt Beifall geklatscht
haben; die Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen reden genauso darüber. Ich weiß, dass es
Ihnen genauso wie uns auf die Nerven geht, dass ohne
begründeten Ausnahmefall mit dauerndem, sich immer
wiederholendem unzulässigem Druck auf die Beratungsmöglichkeiten hier in diesem Hohen Hause eingewirkt
wird. Das geht allen auf die Nerven. Es geht nicht nur
auf die Nerven, sondern rüttelt auch an den Grundsätzen
der parlamentarischen Demokratie.
({6})
Ich darf an die Adresse der Regierung sagen: Die Regierung kann sich nicht beschweren, hier im Parlament
würde das Verständnis für notwendige und zeitgerechte
Entscheidungen fehlen. Aber der Umgang der Regierung
mit dem Parlament wird mehr und mehr eine Frage der
Selbstachtung. Auch das muss am Anfang dieser Debatte gesagt werden.
({7})
Aus meiner Sicht hat die Geringschätzung parlamentarischer Gepflogenheiten, Usancen und Verfahren in der
Frage der AWACS einen ganz einfachen Grund. Der
Grund heißt nicht Afghanistan, der Grund heißt Libyen.
Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie in den Regierungsfraktionen über die Wertung eines Militäreinsatzes nachdenken, gegebenenfalls auch streiten. Das tun auch wir;
ich verschweige das nicht. Aber Sie sind in der Regierung. Sie konnten sich zwischen Friedensfürst auf der einen Seite und Bündnistreue auf der anderen Seite nicht
entscheiden. Sie haben es fahrlässig zu dieser engen Alternative kommen lassen. Nachdem Fehler gemacht
worden sind, nachdem Wunden geschlagen worden sind,
wird das Parlament jetzt über Nacht zur Wundheilung
verdonnert und soll die Trostpflaster für die Verbündeten
kleben. Das ist unsere Aufgabe in dieser Stunde.
({8})
Jetzt auf einmal werden wir als Parlament gebraucht,
weil die Bündnistreue der Deutschen in Zweifel steht,
und das drei Tage vor wichtigen Wahlen. Herr
Westerwelle - Sie haben eben etwas kritisch dazwischengemurmelt -, ich kann mich, vielleicht besser als
jeder andere hier in diesem Hause, an manchen hämischen, manchen unverschämten Kommentar aus dem
Jahre 2003 erinnern, zum Beispiel „Ruin der transatlantischen Beziehungen“. Frau Merkel gab damals den Hinweis Richtung USA, dass der Bundeskanzler nicht für
alle Deutschen sprechen könne. Das vergesse ich zwar
nicht, aber es beeinflusst auch nicht mein Abstimmungsverhalten; das will ich Ihnen sagen.
({9})
Würde ich es danach ausrichten, wäre das nicht die Verantwortung, wie ich sie und wie ich sie auch für die
SPD-Fraktion verstehe. Glaubwürdigkeit - das ist meine
Überzeugung - haben wir als Deutsche nur, wenn wir in
den langen Linien denken, an denen wir uns orientieren.
Trotz der ganzen Chaotisiererei in den letzten Tagen
lassen wir uns nicht auf einen Pfad führen, der die Entscheidung von wechselnden innenpolitischen Stimmungen abhängig macht. Mit einer solchen Politik - das ist
meine Überzeugung - gewinnt man kein Vertrauen.
Wenn man das Vertrauen kurzfristig zerstört - das haben
wir in den letzten Tagen bei Herrn Brüderle in Fragen
der Energiepolitik gemerkt - und wenn ein Minister dieser Bundesregierung gegenüber den Verbänden mal eben
erklärt, dass man das mit den Lehren, die aus der Reaktorkatastrophe gezogen werden sollen, nicht so ernst
nehmen soll, dann hat man dieses Vertrauen nicht verdient. Ich glaube, das werden Sie am Sonntag spüren.
({10})
Heute geht es um Afghanistan, und es geht um grundsätzliche Prinzipien, nämlich Verlässlichkeit, Verantwortung und Gradlinigkeit. Wir haben uns in der Vergangenheit nicht populistisch vom Acker gemacht. Auch wenn
es heute aufgrund dieser Vorwahlsituation verlockend
wäre, auf Konfrontation zur Regierung zu gehen, gebe
jedenfalls ich dieser Versuchung nicht nach, weil ich davon überzeugt bin, dass der Einsatz, über den wir reden,
vernünftig ist. Wer sich in der Vergangenheit darauf vorbereitet hat, der weiß: Die Entscheidung darüber wäre in
wenigen Monaten ohnehin auf uns, auf dieses Parlament
zugekommen, nämlich dann, wenn die dreimonatige
Phase endet, in der AWACS in Afghanistan ohne deutsche Beteiligung läuft.
Ich sage: Auch wenn die Bundesregierung schlingern
mag, kommen jedenfalls wir nach nüchterner Erwägung
zu der Auffassung, dass wir diesem Einsatz mehrheitlich
zustimmen können und dass wir ihn mittragen werden.
Wir werden nicht etwas ablehnen, dem wir 2009 zugestimmt haben, und nicht etwas ablehnen, dem wir in
zwei Monaten zugestimmt hätten. Das wäre keine Politik der Gradlinigkeit. Wir wollen sie. Daran, ob sie die
Regierung will, habe ich allerdings meine Zweifel.
({11})
Darum unterstützen wir diesen Einsatz.
Mein letzter Satz. Herr Westerwelle und meine Damen und Herren der Regierung, klar muss auch sein:
Wenn die Bundesregierung jetzt mit diesem Mandat und
der Entsendung von Soldaten für den Einsatz von
AWACS nah an die Gesamtobergrenze für das Einsatzkontingent in Afghanistan heranrückt, dann wird sie das
nicht von der Zusage entbinden, noch in diesem Jahr
substanzielle erste Schritte beim Rückzug aus Afghanistan einzuleiten. Es bleibt dabei: Davon, ob das gelingt,
wird unsere weitere Unterstützung für das deutsche
Afghanistan-Mandat abhängen.
Herzlichen Dank.
({12})
Ernst-Reinhard Beck ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das vorliegende Mandat zur Beteiligung der
Bundeswehr am Einsatz von NATO-AWACS - ausgesprochen: Airborne Warning and Control System -, also
Luftüberwachung und Kontrollsysteme, ist wichtig, richtig und zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch notwendig.
AWACS-Operationen stehen beispielhaft für die integrierte Verteidigung der Allianz. Unsere Entscheidung
für diesen Einsatz ist auch ein Stück gelebte Bündnissolidarität.
Wir unterstützen den konzeptionellen Ansatz der internationalen Staatengemeinschaft, die afghanische Regierung alsbald zur eigenständigen Wahrnehmung ihrer
Sicherheitsverantwortung zu befähigen. Erst am Dienstag hat Präsident Karzai verkündet, dass Provinzen und
Städte in die Sicherheitsverantwortung der afghanischen
Sicherheitskräfte übergeben werden sollen und auch
übergeben wurden. Leider ist diese Meldung in der medialen Berichterstattung fast untergegangen. Dabei handelt es sich um einen Meilenstein für die Entwicklung
des Landes. Zum ersten Mal in der zehnjährigen Geschichte unseres Einsatzes werden afghanische Behörden selbst die Sicherheit in Teilen ihres Landes verantworten, darunter übrigens auch in Masar-i-Scharif, im
deutschen Zuständigkeitsbereich im Norden. Dies
stimmt mich hoffnungsfroh.
Die Unterstützung bei der Luftraumüberwachung, die
wir mit AWACS zu leisten bereit sind, stärkt das Konzept der Übergabe der Sicherheitsverantwortung und
trägt erheblich zur Sicherheit des zivilen Luftverkehrs
bei. Mit der Entflechtung des zivilen und militärischen
Flugverkehrs sind die afghanischen Behörden derzeit
noch überfordert. Diesen Zustand zu überbrücken und
gefährliche Situationen zu verhindern, das kann AWACS
leisten. Parallel setzen wir uns dafür ein, dass eigene
afghanische Luftraumüberwachungskapazitäten aufgebaut werden. Das wird aber noch eine gewisse Zeit in
Anspruch nehmen.
Mit der heutigen Entscheidung kommen wir nur einer
Debatte zuvor - Herr Kollege Steinmeier, Sie haben darauf hingewiesen -, die ohnehin in wenigen Tagen angestanden hätte.
({0})
Mitte April läuft die 90-Tage-Frist aus, in der AWACS
ohne deutsche Beteiligung eingesetzt wird. Dass dies
kein Dauerzustand bleiben würde, war und ist uns allen
klar. Klar ist, dass AWACS ohne deutsches Personal
nicht dauerhaft eingesetzt werden kann.
Als Anfang Januar dieses Jahres die Anfrage an die
Bundesregierung gerichtet wurde, die AWACS-Flüge zu
unterstützen, haben wir aus mehreren, wie ich meine,
nachvollziehbaren Gründen zunächst Nein gesagt. Zum
einen waren unsere Partner in der Lage, den Auftrag
auch ohne deutsche Unterstützung mit nationalen Mitteln durchzuführen. Zum anderen wollten wir unsere Kapazitäten auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte am Boden konzentrieren.
Zumindest das erstgenannte Argument hat sich geändert. Unsere Verbündeten können durch unsere Soldatinnen und Soldaten in den AWACS-Maschinen entlastet
werden, um ihre Kräfte an anderer Stelle, nämlich in Libyen, einsetzen zu können. Diese Art von Burden Sharing ist, wie ich meine, übliche Praxis unter Verbündeten. Das Mandat ist so konzipiert, dass wir innerhalb der
bestehenden Obergrenze von 5 350 Soldaten für ISAF
den Auftrag erfüllen können. Ich begrüße dies ausdrücklich, zeigt es doch, dass es klug war, diese Flexibilität in
das ISAF-Mandat einzubauen.
Den Vorwurf, es handele sich um ein Ablenkungsmanöver oder um eine Befriedigung des schlechten Gewissens gegenüber unseren Partnern, weise ich mit Nachdruck zurück.
Ernst-Reinhard Beck ({1})
({2})
Ich glaube, dass wir diese Art von Nachhilfeunterricht in
Sachen Bündnissolidarität wirklich nicht nötig haben.
Es gibt keinen Grund, unsere Beteiligung an AWACS
zu kritisieren. Ich freue mich deshalb, dass die SPD jenseits aller der Oppositionsrolle geschuldeten Gefechtsfeldlyrik ihre Zustimmung zu diesem Mandat heute bekundet hat. Ich würde mich freuen, wenn sich auch
andere Fraktionen in diesem Hohen Hause der Vorlage
und diesem Vorgehen anschließen könnten.
({3})
Oftmals wird in diesen Tagen eine Verbindung zwischen dem AWACS-Einsatz in Afghanistan und der
Operation gegen Libyen konstruiert. Dieses Junktim, so
meine ich, führt in die Irre. Die Eskalation in Libyen bewegt uns alle. Wenn ein Diktator Krieg gegen sein eigenes Volk führt, kann dies niemanden kaltlassen. Die
Position der Bundesregierung zu Libyen war immer klar:
wirtschaftlicher und diplomatischer Druck ja, militärisches Eingreifen nein. Diese souveräne Entscheidung
steht jedem NATO-Mitglied zu, damit auch uns.
({4})
Es ist, meine ich, übrigens gelebte Praxis in der
Allianz, dass nicht immer alle Staaten an der Umsetzung
militärischer Maßnahmen teilnehmen müssen. Von einem deutschen Sonderweg oder von einer Isolierung
Deutschlands zu sprechen, halte ich deshalb für verfehlt.
Die Forderungen für ein energisches militärisches
Eingreifen kommen dabei gerade oft von jenen, die sich
ansonsten nicht gerade durch ein besonderes Interesse an
der Bundeswehr auszeichnen. Ich frage diejenigen, die
am lautesten nach deutschen Kampfflugzeugen rufen:
Wenn es 2003 aus deutscher Sicht falsch war, Saddam
Hussein aus dem Amt zu bomben, warum soll ein deutscher Einsatz dann in Libyen richtig sein? Haben wir daraus nichts gelernt?
Der Dissens in der NATO und Bedenken in vielen
Ländern der Welt zeigen doch, dass ein politisches Konzept fehlt, was nach den Luftschlägen folgen soll. Wir
waren uns immer darin einig, dass militärische Einsätze
nur im Rahmen politischer Konzepte sinnvoll und richtig
sind. Die Devise „fangen wir erst einmal an“ überzeugt
mich ebenso wenig wie offenkundig die Bundesregierung.
Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Beitrag dort
einbringen, wo wir es für richtig halten und wo es nach
meiner Einschätzung auch Sinn macht. Genau das tun
wir mit dem AWACS-Einsatz in Afghanistan. Das Signal
ist klar: Deutschland ist und bleibt ein verlässlicher, starker Bündnispartner. Wir engagieren uns in einer Vielzahl
von Einsätzen, von Afghanistan über den Balkan bis
zum Horn von Afrika. Aber wir müssen nicht, Automatismen folgend, überall militärisch beteiligt sein. Man
muss uns die Souveränität der eigenen Entscheidung
schon zubilligen, wenn man es auch anderen Staaten zugesteht. Dies ist in einem Bündnis souveräner Staaten
selbstverständlich.
({5})
In diesem Sinne bitte ich Sie um eine breite Zustimmung zu einem Einsatz, der unsere Fähigkeiten zur Geltung bringt und die Entwicklung in Afghanistan weiter
stabilisiert. Das ist im Übrigen auch ein Zeichen für unsere Solidarität im Bündnis.
Herzlichen Dank.
({6})
Jan van Aken ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal glaube ich wirklich, ich bin hier im falschen Film.
({0})
Es soll darüber abgestimmt werden, dass nochmal
300 deutsche Soldaten nach Afghanistan geschickt werden. Es wird gleich hier darüber entschieden, dass der
Afghanistan-Einsatz weiter verschärft wird,
({1})
und Sie streiten sich hier wie die Kesselflicker um die
Frage, ob das nun in einer Woche oder in zwei Wochen
entschieden werden soll. Sie werfen sich hier Wahlkampf vor und reden von Gradlinigkeit und Bündnistreue. Aber keiner von Ihnen redet davon, worum es
geht: Es geht hier um Krieg, um die Ausweitung des
Krieges in Afghanistan, und den finden wir falsch.
({2})
Herr Westerwelle hat sich vor zwei Tagen hier sogar
dazu hinreißen lassen zu sagen, der Einsatz der AWACSFlugzeuge in Afghanistan dient auch der Sicherung der
zivilen Luftfahrtwege nach Südostasien. Das ist doch
kompletter Blödsinn. Es geht nicht darum, dass die Lufthansa-Maschine von Frankfurt sicher in Hongkong ankommt. Das tut sie seit zehn Jahren, während der Krieg
dort läuft.
Es geht doch einzig und allein um eine Ausweitung
des Krieges. Das steht ja auch schwarz auf weiß in dem
Antrag der Bundesregierung drin. Da steht nämlich drin,
dass die Daten aus den AWACS-Aufklärungsmaschinen
an die militärischen Flugzeuge und Hubschrauber in
Afghanistan weitergegeben werden. Das benutzen sie
nicht nur, um von A nach B zu fliegen, sondern das be11482
nutzen sie natürlich auch, um ihre Bombenangriffe, ihre
Fliegerangriffe gezielter zu koordinieren.
Was diese Bombenangriffe heißen, das wissen wir
hier in Deutschland spätestens seit Kunduz.
({3})
Das wissen wir seit anderthalb Jahren, als damals
über 100 unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten durch
einen Bombenangriff getötet worden sind. Jetzt glaube
niemand, das sei ein Einzelfall. Darüber wird hier in
Deutschland kaum noch berichtet. Aber solche Bombenangriffe finden regelmäßig statt, mit vielen, vielen zivilen Toten.
Gerade erst vor drei Wochen wurden ganz im Osten
von Afghanistan, in der Provinz Kunar, neun Kinder
beim Holzsammeln durch einen Bombenangriff getötet.
Das passiert natürlich bei Luftangriffen besonders häufig. Ich selber habe damals die Videos gesehen, die aus
den Flugzeugen heraus aufgenommen worden sind. Da
sieht man nur kleine schwarze Punkte, die da unten herumlaufen. Da kann kein Pilot sagen, ob das nun Taliban
oder kleine Kinder beim Holzsammeln sind. Es gibt gerade bei Luftangriffen besonders viele Tote. Das ändert
sich auch mit den AWACS-Aufklärungsflugzeugen
nicht. Dadurch kriegen Sie keine besseren Bilder. Dadurch kriegen Sie aber eine größere Dichte an solchen
Bombenangriffen. Das wird sich ausweiten, und das finden wir falsch.
({4})
Ein zweites Beispiel. Mitte Februar sind, wiederum in
der Provinz Kunar, 65 Zivilistinnen und Zivilisten bei einem Bombenangriff getötet worden. Die Dorfbewohner
waren geflüchtet, als sie das Dröhnen der Flugzeuge und
der Hubschrauber hörten, und haben sich in einem Unterstand versammelt. Dort sind sie mit Raketen- und
Bombenabwürfen gezielt getötet worden. Das passiert
regelmäßig in Afghanistan und hat dazu geführt - hier
müssen Sie jetzt einmal zuhören -, dass Präsident Karzai
vor zwei Wochen, am 12. März 2011, vor NATO-Offizieren gesagt hat: Ich bitte die NATO und die USA in aller Demut darum, ihre Operationen in unserem Land zu
beenden.
Herr Steinmeier, ich frage Sie jetzt einmal: Wissen
Sie, dass Herr Karzai, Ihr Bündnispartner Karzai, vor
zwei Wochen gesagt hat, diese Operationen müssten beendet werden? Wenn Sie es wissen: Wie können Sie
dann jetzt, zwei Wochen später, zustimmen, dass diese
Operationen ausgeweitet werden? Das ist unlogisch. Sie
sind doch auf Einladung von Karzai da. Da er jetzt die
Beendigung dieser Operationen fordert, dürfen Sie diesem Mandat nicht zustimmen.
({5})
Es ist ein Hohn und wirklich auch eine Missachtung
der Menschen in Afghanistan, dass sich Herr Westerwelle
vor zwei Tagen hierhin gestellt und gesagt hat: Der Einsatz der AWACS-Flugzeuge ist militärisch notwendig,
weil er die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung erhöht. Das Gegenteil ist der Fall. Schauen Sie sich nur einmal die Zahlen der Vereinten Nationen an: Im letzten Jahr
hat es wieder 2 777 zivile Opfer bei Gefechten in Afghanistan gegeben. Ich betone: Das sind Zahlen der Vereinten Nationen.
({6})
Das ist wieder eine Steigerung, nämlich um 15 Prozent,
gegenüber dem Jahre 2009. Das beweist doch nur, dass
es richtig war, dass wir von Anfang an gesagt haben: Je
mehr Soldaten Sie nach Afghanistan schicken, desto
mehr Tote, Leid und Zerstörung gibt es dort.
({7})
Ich finde, Sie verharmlosen, was diese Flugzeuge tun.
Das gilt für Libyen genauso wie für Afghanistan. Man
tut immer so, als ob da ein paar Flugzeuge kreisen. Auch
in Deutschland haben viele Menschen bei der Einrichtung der Flugverbotszone in Libyen gedacht: Na ja, ein
paar NATO-Flugzeuge sorgen dafür, dass die Flugzeuge
von Gaddafi nicht mehr aufsteigen können. - Nein, es
geht um flächendeckendes Bombardement. Deswegen
ist es richtig, dass Deutschland da nicht mitmacht.
Niemand soll jetzt aber glauben, dass CDU/CSU und
FDP zu Friedensengeln mutiert sind; denn Sie tauschen
hier einen Krieg gegen den anderen Krieg, Herr
Westerwelle. Sie tauschen den Libyen-Krieg gegen den
Afghanistan-Krieg, und das geht so nicht. Wir müssen
beide Kriege ablehnen.
({8})
Herr Kollege van Aken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hoff?
Aber gerne. Das ist die erste Zwischenfrage, die mir
gestellt wird.
Herr van Aken, wären Sie so fair und so freundlich,
dem Plenum mitzuteilen, wie viele tote Zivilisten auf das
Konto von Taliban gehen? Wenn Sie hier schon eine Relation herstellen: Wären Sie auch so freundlich, mitzuteilen - so zynisch sich das anhört -, wer mehr zivile
Tote verursacht: Taliban oder ISAF?
({0})
In den letzten vier Jahren gab es nach UNO-Angaben
über 8 000 zivile Opfer. Davon gehen im Schnitt der
letzten Jahre ungefähr zwei Drittel auf das Konto der Taliban oder der Aufständischen, ein Drittel geht auf das
der Alliierten. Ich sage Ihnen: Wenn Sie diesen Krieg beenden, dann gibt es auf beiden Seiten keine Toten mehr.
Das ist doch die richtige Argumentation.
({0})
Jetzt noch einmal zur Erinnerung:
({1})
Im Januar haben Sie alle von der Kriegskoalition aus
SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP hier über den Abzug
geredet. Ich konnte das Wort „Abzugsperspektive“
schon gar nicht mehr hören. Irgendwie hat sich in
Deutschland dann der Eindruck verfestigt, dass alle für
den Abzug sind. Jetzt, nur drei Monate später, schicken
Sie noch einmal 300 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan. Das beweist doch, dass Sie überhaupt kein Interesse an einem Abzug haben.
({2})
Ich sage Ihnen: Wenn es irgendwann einmal Frieden in
Afghanistan geben soll, wenn nicht wieder zehnjährige
Kinder beim Holzsammeln bombardiert werden sollen,
dann müssen Sie dieses AWACS-Mandat heute ablehnen
und endlich einmal auf das hören, was Ihr Bündnispartner
Karzai dieses Mal gesagt hat. Stellen Sie Ihre Operation
ein, ziehen Sie die deutschen Soldaten zurück, und beenden Sie den Krieg in Afghanistan!
({3})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr irgendwohin auf der Welt exportieren sollte. Auch damit könnten wir heute anfangen.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Grünen haben es uns, was Einsätze angeht, angewöhnt, jeden Einsatz für sich zu betrachten und dann unsere Position an dieser Stelle zu bestimmen. Wir haben unsere
Position nicht davon abhängig gemacht, ob wir Opposition oder Regierung sind. Wir tragen in der Opposition
bis heute die Einsätze im Sudan mit. Wir haben - anders
als die FDP, Herr Westerwelle - in der Opposition den
Einsatz an der Küste des Libanon zur Beendigung des
Krieges zwischen Libanon und Israel mitgetragen.
({0})
Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass es richtig ist,
den Einsatz zur Bekämpfung der Piraterie vor Somalia
mitzutragen. Wir haben übrigens auch 2009 in diesem
Hause einem Mandat für den Einsatz von AWACS-Flugzeugen zugestimmt.
Anders als 2009 können wir dem heutigen Mandat
aber nicht zustimmen. Wer zu bestimmten Dingen Ja
sagt, muss auch die Freiheit haben, zu bestimmten Dingen, weil sie falsch sind, Nein zu sagen.
({1})
Das hat etwas mit den Unterschieden zwischen dem
Mandat damals und dem Mandat heute zu tun.
Das Mandat, um das es heute geht, bezieht sich explizit - so steht es, anders als 2009, im Antrag der Bundesregierung - auf die Unterstützung bei der Durchführung
von Operationen ISAF-geführter Bodenkräfte. Sie
nimmt explizit Bezug auf die neue Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung, die seinerzeit nicht vorgesehen war, Herr Kollege. Diese Form der Kriegsführung,
die wir, meine Fraktion, mehrfach und zuletzt bei der
Verabschiedung des ISAF-Mandates im Januar kritisiert
haben, ist Bestandteil der Begründung für AWACS. Das
ist der Grund, warum die Mehrheit meiner Fraktion, die
dem ISAF-Mandat im Januar nicht zugestimmt hat, auch
diesem aus demselben Mandat erwachsenen Mandat
nicht zustimmen kann.
({2})
Das Mandat ist aber nicht nur inhaltlich falsch; es
kommt auch zur falschen Zeit. Herr Kollege Beck hat
darauf hingewiesen: Alles, was wir heute über dieses
Mandat wissen, wussten wir schon im Januar. Sie haben
es im Januar aus anderen Gründen nicht vorgelegt. Sie
haben nämlich befürchtet, dass Sie die Obergrenze Ihres
Mandates reißen. Deswegen haben Sie angekündigt, es
im Juni vorzulegen. Jetzt präsentieren Sie es uns mit nur
drei Tagen Vorlauf. Mit der Situation in Afghanistan hat
das gar nichts zu tun.
({3})
Sie versuchen mit diesem Mandat, den bündnispolitischen Scherbenhaufen, der entstanden ist, zu kitten.
Wenn Sie in dieser Woche ein zustimmungsfähiges Mandat hätten vorlegen wollen, dann hätten Sie ein anderes
Mandat vorlegen müssen, und Sie hätten es rechtzeitig
vorlegen müssen.
Ich teile Ihre Skepsis, Herr Westerwelle, was die mit
Luftschlägen einhergehende Strategie angeht. Es war
richtig, dass sich Deutschland nicht daran beteiligt. Es ist
richtig, sich mit den Vereinten Nationen für einen Waffenstillstand in Libyen einzusetzen.
({4})
Es ist richtig, sich für Hilfe für die Flüchtlinge einzusetzen, statt sich in einer Festung Europa abzuschotten. Es
ist richtig, sich für ein totales Ölembargo einzusetzen. Es
ist auch richtig, zu einem Waffenembargo Ja zu sagen,
wie es in der Resolution des Sicherheitsrates enthalten ist.
({5})
Die Kanzlerin hat sich gestern uneingeschränkt für
die UN-Resolution 1973 ausgesprochen. Lieber Herr
Westerwelle, wenn das Ihre Zustimmung findet, frage
ich Sie: Warum haben Sie uns heute kein Mandat zur Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Durchsetzung des Waffenembargos vorgelegt? Das wäre konsequent gewesen.
({6})
Man kann sich doch nicht erst für das Waffenembargo
aussprechen und sich dann, wenn es beschlossen wird,
aus der NATO zurückziehen.
({7})
- Kollege Schockenhoff, ich weiß, dass Ihnen das wehtut; aber Sie müssen nicht in Verzweiflungsschreie ausbrechen. Ich weiß, dass es Sie trifft; aber Sie sollten
ruhig bleiben.
Ich will Sie nicht einmal dafür kritisieren, dass Sie die
deutschen Truppen vom Kommando der NATO kurzfristig abgezogen haben. Das war notwendig, weil Sie kein
Mandat des Deutschen Bundestages hatten. Aber wenn
Sie es heute mit Ihrer Position zu einem Waffenembargo
ernst meinen, dann müssen Sie auf den Deutschen Bundestag zukommen und sagen: Ja, wir beteiligen uns daran und geben uns nicht die Blöße, dass alle mitmachen
- selbst die Türkei, die Sie nicht in die Europäische
Union lassen wollen - und nur wir Deutschen nicht dabei sind.
({8})
Herr Kollege Trittin, darf der Kollege Schockenhoff
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Nein. Herr Schockenhoff, Sie werden zur Erwiderung
gleich noch Gelegenheit haben, wenn ich die Rednerliste
richtig lese.
Herr Kollege Schockenhoff, wir erleben von Ihrer
Seite erstaunliche Volten in der Energiepolitik. Ich warte
eigentlich nur noch darauf, dass Sie als CDU vor dem
Hintergrund dieser Entwicklung gemeinsam mit der
Linkspartei erklären, Sie erwarteten ein dreimonatiges
Moratorium der Mitgliedschaft Deutschlands in der
NATO.
({0})
Was Ihre Außenpolitik angeht, empfehlen wir das
Gleiche wie bei dem anderen Moratorium: endgültige
Stilllegung dieser Regierung. Ich glaube, das kommende
Wochenende wird ein großer Schritt in diese Richtung
sein.
({1})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Schockenhoff das Wort.
Herr Trittin, Sie haben gerade gesagt, dass die
Resolution 1973, nachdem sie bei deutscher Enthaltung
im Sicherheitsrat eine Mehrheit gefunden habe, jetzt
auch die Resolution der Bundesregierung sei, die sich
aber nicht an der Durchsetzung des darin enthaltenen
Waffenembargos beteilige. So haben Sie es soeben dargestellt.
({0})
Richtig ist, lieber Herr Kollege Trittin, dass das Waffenembargo nicht in der Resolution 1973 verankert ist,
sondern in der Resolution 1970, der die Bundesregierung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zugestimmt hat.
({1})
Richtig ist auch, dass es bislang keine Anfrage der
NATO an die Bundesrepublik Deutschland gibt, sich an
der Durchsetzung des Waffenembargos auf Grundlage
der Resolution 1970 zu beteiligen, dass diese Frage deshalb nicht endgültig zur Entscheidung anstand und dass
sich die Bundesregierung diesbezüglich nicht abschließend festgelegt hat.
Lieber Herr Schockenhoff, ich bin Ihnen dankbar. In
der Tat ist das Waffenembargo in der Resolution 1970
festgelegt. Was steht in der Resolution 1973? Dort wird
Bezug genommen auf Resolution 1970. Man hat sich mit
Resolution 1973 den Inhalt von Resolution 1970 zu eigen gemacht.
Die Kanzlerin hat gesagt: Obwohl sich Deutschland
enthalten hat, ist Resolution 1973 jetzt auch unsere Resolution.
({0})
Damit bleibt die Frage unbeantwortet, sehr geehrter Herr
Schockenhoff, ob Sie dafür sind, dass das Waffenembargo auf Grundlage der Resolution 1970, von der Sie
sagen, dass Sie ihr zugestimmt haben, auch tatsächlich
durchgesetzt wird.
({1})
Die NATO hat beschlossen, dieses Waffenembargo
durchzusetzen. Was passiert? Die deutsche Bundesregierung nimmt ihre Soldatinnen und Soldaten in diesem Bereich aus den NATO-Strukturen heraus. Das ist falsch.
Herr Kollege Schockenhoff, wenn Sie darauf abheben,
dass für die Durchsetzung des Waffenembargos keine
NATO-Anfrage vorliegt, dann kann ich Ihnen nur sagen:
Eine solche liegt bezüglich des Einsatzes der AWACSFlugzeuge ebenfalls nicht vor. Damit sind wir wieder an
dem Punkt, wo Sie in der Sache argumentieren müssen.
Sind Sie dafür, dass dieses Waffenembargo, auch unter
deutscher Beteiligung, von der NATO durchgesetzt
wird? Ja oder nein? Um diese Frage kommen Sie mit Ihren Zahlenfilibustereien nicht herum.
({2})
Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorab einige
Bemerkungen an die Adresse der sozialdemokratischen
Bundestagsfraktion machen. Ich weiß, dass es bei Ihnen
einen schwerwiegenden Abwägungsprozess gibt, und
zwar nicht erst in dieser Woche, sondern schon seit den
Debatten, die wir Anfang des Jahres über das Afghanistan-Mandat insgesamt geführt haben. Ich mache gar keinen Hehl daraus, dass es mir schon Anfang des Jahres
immer darum gegangen ist - auch als wir den Antrag zu
diesem Mandat in den Deutschen Bundestag eingebracht
haben -, eine möglichst breite Mehrheit für das Afghanistan-Mandat zu erzielen. Ich halte das aber für nicht
sachfremd, sondern für richtig.
Ich glaube, je breiter die Mehrheit hier im Deutschen
Bundestag für den Einsatz unserer Frauen und Männer
der Bundeswehr in Afghanistan ist, desto mehr Rückendeckung bekommen sie von der Politik. Das ist angemessen, notwendig und auch richtig. Wir sollten nie vergessen: Dieser Einsatz ist unter anderen politischen
Verhältnissen begonnen worden. Wir haben jetzt verantwortungsvoll eine gemeinsame Abzugsperspektive erarbeitet.
({0})
Ich möchte vorab eine zweite Bemerkung machen,
weil mir der Umgang hier in diesem Hause, im Deutschen Bundestag, von großer Wichtigkeit ist. Es ist nicht
so, als seien Sie in die Gespräche nicht einbezogen worden. Der Verteidigungsminister hat in dieser Woche Gespräche mit den Oppositionsfraktionen gesucht. Er hat
die für Sicherheitsfragen zuständigen Arbeitsgruppen
der Oppositionsfraktionen aufgesucht. Er hat Gespräche
mit den Fraktionsspitzen geführt. Auch ich habe vor der
Entscheidung in New York selbstverständlich meine
Auffassung und meine Tendenz nicht nur in der Regierungserklärung am Mittwoch letzter Woche vorgetragen,
sondern auch in einem Vieraugengespräch mit den jeweiligen Fraktionsspitzen erörtert. Zu sagen, das Parlament sei bei einer so bedeutsamen Entscheidung nicht
einbezogen worden, halte ich für unangemessen. Es ist
eher ein Getümmel und ein Getöse, das für den kommenden Sonntag herhalten soll. In der Sache ist das aber
nicht angemessen.
Ich weiß noch, wie es war, als wir in der Opposition
waren. Wir, die Regierung, haben uns vorgenommen,
Gespräche mit der Opposition zu führen. So wie wir mit
der Opposition in diesen Fragen umgehen und uns austauschen, habe ich es umgekehrt in all den Jahren in der
Opposition nicht ein einziges Mal bei Ihnen erlebt.
({1})
Dritte Bemerkung. Es ist überraschend, dass die Redner der Opposition viermal in ihren Ausführungen erklären, das habe etwas mit den Landtagswahlen am Sonntag
zu tun. Sie sagen, vor den Landtagswahlen am Sonntag
hätte man das hier im Deutschen Bundestag nicht durchbringen dürfen. Herr Kollege Steinmeier, wenn Sie sagen, es sei unangemessen, dass man drei Tage vor den
Landtagswahlen am Sonntag den Bundestag mit so etwas eilig befasst, dann muss ich sagen, dass Sie die Entwicklung in der Welt nicht zur Kenntnis genommen haben. Ich kann bei solchen Entscheidungen nicht auf den
Wahlsonntag warten, wenn international Entscheidungen
zu treffen sind.
({2})
Was die AWACS-Entscheidung angeht, will ich hier
ganz klar sagen: Die Entscheidung ist in der Sache richtig; sie ist aber auch unter Bündnisgesichtspunkten richtig. Beides kommt zusammen. Sie ist in der Sache richtig, weil der Flugverkehr über Afghanistan geregelt,
kontrolliert und auch überwacht werden muss. Das gilt
für den militärischen und den zivilen Flugverkehr. Es ist
aber auch in der Bündnispolitik notwendig, so zu handeln.
Wir haben entschieden: Wir schicken keine deutschen
Soldaten in Kampfeinsätze nach Libyen. Weil wir das
entschieden haben, müssen wir dementsprechend auch
unseren Einsatz im Rahmen von AWACS zurückziehen.
Alles andere wäre mit der Verfassung nicht vereinbar.
Das würde aber bedeuten, dass die AWACS-Flugzeuge
vor Libyen nicht fliegen könnten, weil unser Personal
derzeit gebraucht wird. Es soll durch Personal ersetzt
werden, das derzeit in Afghanistan eingesetzt wird. Wir
beteiligen uns nicht mit Soldaten an einem Kampfeinsatz
in Libyen. Das heißt aber nicht, dass wir unsere Verbündeten in Libyen in Gefahr bringen. Wir wollen natürlich
nicht zum Ausdruck bringen, wir seien neutral. Wir werden sie entlasten, auch wenn wir selber keine deutschen
Kampfhandlungen in Libyen vornehmen werden. Das ist
Bündnispolitik der Vernunft.
({3})
Die vorletzte Bemerkung, die ich machen möchte, betrifft die Frage der Obergrenze. Den Eindruck zu erwecken, das Mandat für Afghanistan von Anfang des Jahres sei verändert worden, ist falsch. Das trifft einfach
nicht zu. Wir bleiben bei der Obergrenze. Es werden
keine zusätzlichen Kontingente von Soldaten nach
Afghanistan geschickt. Das Mandat, das der Bundestag
beschlossen hat, bleibt gewahrt. Das ist aus unserer Sicht
richtig und notwendig. Aber wir werden in Afghanistan
natürlich unseren Beitrag leisten, damit dieser notwendige AWACS-Einsatz erfolgreich sein kann.
Insgesamt sind wir sehr besorgt über die weitere Entwicklung. Ich kann uns alle nur davor warnen, jetzt eine
Diskussion darüber zu beginnen, wie es, auch in anderen
Ländern, weitergehen soll. Wir haben eine verantwortungsvolle Entscheidung getroffen und eine Abwägung
vorgenommen. Wir setzen auch auf zivile Sanktionen.
Es ist ein großer Erfolg der Bundesregierung, insbesondere der Bundeskanzlerin, dass bei dem Treffen der
Staats- und Regierungschefs der EU gestern eine Ausweitung der Sanktionen einschließlich solcher, die den
Ölexport betreffen, beschlossen worden ist. Das ist gute
Politik, und die sollte die Rückendeckung dieses Hohen
Hauses haben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister Westerwelle, ich habe den Eindruck, dass
Sie ein Problem nicht verstehen. Wir alle haben in der
Vergangenheit versucht, miteinander eine auf möglichst
breitem Konsens gestützte Afghanistan-Politik zu verabreden. Das ist für sich schon ein schwieriges Thema.
Das, was wir Ihnen vorwerfen, ist, dass Sie uns im
Grunde genommen dazu zwingen, jetzt bei einer so
wichtigen Abstimmung wie dieser über den AWACSEinsatz zu überlegen, ob unsere Zustimmung nicht auch
als eine Zustimmung zu Ihrer völlig verfehlten LibyenPolitik missverstanden werden kann. Das ist es, worum
es hier eigentlich geht. Für viele unserer Mitglieder ist
das ein großes Problem.
({0})
Herr Westerwelle, merken Sie eigentlich nicht, wie
peinlich es ist, dass wir heute hier im Deutschen Bundestag über Bündnissolidarität sprechen müssen? Das ist
immer eines der Grundprinzipien der deutschen Politik
gewesen: Treue zu den Vereinten Nationen, Unterstützung der Vereinten Nationen und, so weit es überhaupt
möglich ist, gemeinsames Vorgehen im Bündnis mit unseren wichtigsten Partnern. Das haben Sie ohne jede Not
aufgegeben.
({1})
Sie verstricken sich immer mehr in eine abenteuerliche Politik. Herr Kauder hat gestern in der Bild-Zeitung
die UNO angegriffen und gesagt, sie habe ein unklares
Mandat erteilt. Es fehlten die Bodentruppen zur Bekämpfung der libyschen Streitkräfte. Herr Niebel hat im
Tagesspiegel von gestern die Verbündeten angegriffen
und gesagt, sie hätten überhaupt kein Konzept für die
Zukunft.
({2})
Das ist das, was Sie aus Bündnissolidarität machen. Das
ist völlig unverantwortlich.
({3})
Wir bleiben dabei: Der Schaden, den Sie jetzt anrichten, der schon fast ein GAU für die deutsche Politik ist,
wenn man sich das auf internationaler Ebene betrachtet,
ist der kurzfristigen, taktischen Überlegung geschuldet,
einen Vorteil durch die Nichtbeteiligung zu erlangen.
Wir werden noch lange den Preis für das bezahlen, was
Sie hier mit den Verbündeten gemacht haben.
({4})
Florian Hahn ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition versucht offensichtlich, unsere Bündnisfähigkeit und unsere Solidarität im
Bündnis infrage zu stellen.
({0})
Das tut sie, obwohl sie selber völlig uneinig ist. Herr
Steinmeier hat mehrfach geäußert, dass er die Haltung
der Bundesregierung, die Haltung des Vizekanzlers in
der Frage der Resolution versteht und damit auch - damit zeigt er sein Verständnis - unterstützt.
Aber weg von diesem Geplänkel. Seit Januar dieses
Jahres fliegt der NATO-AWACS-Verband von Konya
aus, allerdings ohne deutsche Beteiligung. 13 andere Nationen nehmen diese Aufgabe im Augenblick wahr.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es eben an der
Zeit, Verantwortung zu zeigen und unsere Verbündeten
und Partner zu entlasten - das ist das, was Bündnis ausmacht -, die durch das Engagement in Nordafrika zusätzlich belastet sind.
Das entspricht auch meinem Verständnis von einem
dauerhaften, verlässlichen und ehrlichen Bündnis. Wir
müssen gemeinsam Verantwortung tragen und uns gegenseitig unterstützen. Gerade wir in Deutschland wisFlorian Hahn
sen um die hohe Bedeutung von multinationalen Bündnissen wie der NATO, die unserem Land, aber auch
Europa Frieden und Sicherheit über Jahrzehnte gegeben
haben und heute noch geben. In Europa müssen wir aber
näher zusammenrücken und mittelfristig in der Lage
sein, gemeinsame außenpolitische Positionen zu vertreten, und auf nationale Alleingänge oder ein Vorpreschen
- beides mussten wir leider erleben - verzichten.
Zum Charakter eines Bündnisses gehört auch, dass
sich Partner dann zusätzlich unterstützen, wenn bei gemeinsamen Mandaten Durchhaltefähigkeit gewährleistet
werden muss. Mit Blick auf die Entwicklung in Libyen
ist dies beim Einsatz von AWACS-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan klar der Fall.
Unterstützung muss vor allem dann sein, wenn wir
grundsätzlich auch noch alle dasselbe wünschen - bei aller unterschiedlichen Bereitschaft, was die einzusetzenden Mittel angeht -, nämlich den Sturz des Diktators
Gaddafi. Deutschland unterstützt die politischen Ziele
der UN-Resolution 1973 in vollem Umfang. So forcieren wir die Durchsetzung von Sanktionen gegen das Regime mit aller Kraft und wollen unsere Partner an anderer Stelle entlasten.
Kolleginnen und Kollegen, der Einsatz von AWACS in
Afghanistan dient gerade unserem vernetzten Ansatz aus
zivilen und militärischen Komponenten zur Übergabe in
Verantwortung. Mit einer verbesserten Luftraumkoordinierung schützen wir überdies Leib und Leben von Piloten und Flugzeugbesatzungen ebenso wie von Soldatinnen und Soldaten am Boden, die in Notsituationen auf
Unterstützung aus der Luft angewiesen sind.
Daneben ist natürlich in besonderem Maß der Schutz
der Zivilbevölkerung ein wichtiger Aspekt der Mandatierung. Diesen Schutz zu gewährleisten, ist unsere Verantwortung; denn hier hat die afghanische Bevölkerung
ganz konkret die Erwartung von Hilfestellung, und dies
allein sollte schon reichen, dass auch die Grünen hier
diese Verantwortung teilen.
Insgesamt leisten die AWACS-Flugzeuge einen wichtigen Beitrag zur Erreichung unseres Ziels für Afghanistan: Übergabe in Verantwortung durch den vernetzten
Ansatz. Wir unterstützen die Afghanen in der Ausbildung von Flugsicherungspersonal. Das muss noch viel
stärker vorangetrieben werden.
Es ist zu begrüßen, dass die Beteiligung am AWACSEinsatz unter Einhaltung der geltenden Mandatsobergrenze von 5 000 Soldaten zuzüglich einer flexiblen Reserve von 350 Soldaten erfolgt. Die flexible Reserve
wird nur ausgeschöpft, wenn deutsche Soldaten für den
AWACS-Einsatz benötigt werden. Das zeigt deutlich,
dass wir dem Ziel, nämlich dem schrittweisen Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten bis zum Jahre 2014, abhängig von der Lage vor Ort, verpflichtet bleiben.
Das Nein der Grünen, das Sie heute angekündigt haben, Herr Trittin, ist aus meiner Sicht bedauernswerterweise offenbar ein weiterer durchschaubarer Schritt aus
diesem ISAF-Einsatz. Sie selber wollen sich aus diesem
Einsatz herausziehen. Sie haben das schon mit Ihrer Enthaltung im Februar bei der Verlängerung des letzten
Mandats getan. Ich bedauere das sehr.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie alle, das
Mandat für unseren Beitrag auf dem Weg hin zu Frieden
und Sicherheit im Interesse unseres Landes heute zu unterstützen. Unseren Soldatinnen und Soldaten sowie allen Einsatzkräften wünsche ich von dieser Stelle Gottes
Segen und danke ihnen für ihren vorbildlichen Einsatz.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Jan van
Aken noch einmal das Wort.
({0})
Ich finde diese Debatte absolut unwürdig. Hier wird
gleich über Krieg und Frieden abgestimmt, und Herr
Westerwelle und Herr Steinmeier buhlen darum, wer
heute Abend die 10 Sekunden in der Tagesschau bekommt. So machen Sie aus einer Entscheidung, 300 weitere Soldaten nach Afghanistan zu schicken, hier reinen
Wahlkampf.
(Zuruf der Abg. Renate Künast ({0})
Ich muss Ihnen sagen: Wenn ich jetzt als Bundeswehrsoldat dieser Debatte zuschauen würde, würde ich
mich in Grund und Boden schämen und würde mir wirklich die Frage stellen: Für wen werde ich eigentlich nach
Afghanistan geschickt, für wen halte ich eigentlich meinen Kopf hin? - Ich finde das absolut unwürdig.
({1})
Noch eine Bemerkung an Ihre Adresse, Herr Trittin:
Sie versuchen jetzt auch - wieder mit Blick auf den
Wahlsonntag -, in letzter Sekunde die Kurve zu kriegen.
Aber es war Ihr Joschka Fischer, es war Ihr Daniel
Cohn-Bendit, es waren viele aus Ihrer Partei, die sich für
den Militäreinsatz in Libyen ausgesprochen haben. Das
wird immer ganz beschönigend als Flugverbotszone dargestellt. Da darf sich niemand täuschen; denn Flugverbotszone heißt: flächendeckendes Bombardement. Flugverbotszone heißt auch: Angriffe direkt in den Städten,
etwa in Tripolis. Da fliegen die Granatsplitter und Trümmer durch die Luft, und dort gibt es natürlich zivile Tote.
Da darf es überhaupt keine Relativierung geben.
Mir wird angst und bange, wenn ich jetzt Sarkozy sagen höre: Jetzt sollen alle arabischen Herrscher wissen,
dass es ihnen genauso ergeht wie Gaddafi. - Heißt das
denn jetzt, dass die NATO bald auch in Syrien einmarschieren wird? Heißt das, dass sie auch im Jemen einmarschieren wird? Wo wollen Sie eigentlich die Grenze
ziehen, wenn Sie jetzt für den Einmarsch und die Bombardierung in Libyen sind?
Es geht nicht, dass, wenn es irgendwo auf der Welt
eine Krise gibt, deutsches oder europäisches Militär
dorthin geschickt wird. Wir können nicht jedes Mal zur
Waffe greifen - auch nicht Sie von den Grünen. Sie müssen doch endlich irgendwann wieder einmal Nein zu
Kriegen sagen.
({2})
Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Heute stimmen wir über die Beteiligung deutscher Soldaten am NATO-AWACS-Einsatz in Afghanistan ab. Ich sage Ihnen am Anfang auch ganz bewusst: Es
geht heute in erster Linie um Afghanistan, es geht heute
um die Sicherung des Erfolges unserer AfghanistanStrategie, es geht um die Zukunft der afghanischen Bevölkerung, und es geht um die Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz. Ich finde es beschämend, dass diese
Punkte heute bei Ihnen überhaupt keine Rolle gespielt
haben.
({0})
Herr Kollege van Aken, Sie haben heute schon zweimal geredet, das hat die Sache nicht viel besser gemacht.
({1})
Ich will Ihnen das an dieser Stelle ganz deutlich sagen
und extra für Sie noch einmal die Erfolge und Fortschritte ins Gedächtnis rufen: Präsident Karzai hat diese
Woche die Übernahme der Sicherheitsverantwortung in
sieben Regionen angekündigt. Die Entschlossenheit der
Afghanen zur selbstständigen Gewährleistung von Sicherheit ist ein gutes Zeichen dafür, dass sich die internationale Gemeinschaft auf dem richtigen Weg befindet.
Unsere internationale Strategie hat uns in Afghanistan
schon ein großes Stück weitergebracht. So müssen wir
weitermachen, so müssen wir unserem Konzept treu
bleiben, und so müssen wir alle uns möglichen Ressourcen zur Zielerreichung ausschöpfen. Dazu gehört auch
der Einsatz von AWACS.
NATO-AWACS unterstützen bereits seit Anfang des
Jahres sehr erfolgreich den Einsatz der ISAF-Mission
sowie die Implementierung der neuen ISAF-Strategie.
Die AWACS-Mission in Afghanistan hat sich bewährt.
Sie ist effektiv, sie ist zivil und sie ist militärisch notwendig, um die Sicherheit der steigenden Zahl von Flugbewegungen zu gewährleisten. Der Flugverkehr über
Afghanistan hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Eine Kontrolle des Luftraumes ist in dem gebirgigen Land vom Boden aus allerdings fast unmöglich.
Die Luftraumüberwachung hilft darüber hinaus, die
Lage am Boden zu stabilisieren. Somit wird der angestrebte Plan der Truppenreduzierung unterstützt. Ohne
einen AWACS-Einsatz kann also der Erfolg, den wir mit
der neuen Afghanistan-Strategie erreicht haben, nicht für
die Zukunft gesichert werden.
Ohne eine deutsche Beteiligung kann diese Mission
allerdings nicht wesentlich länger andauern als die Anfang des Jahres zunächst festgesetzten 90 Tage. Ein Drittel der AWACS-Besatzungen wird von unserer Bundeswehr gestellt. Wir sind ein Teil von NATO-AWACS und
können nicht hauptsächlich unsere amerikanischen und
britischen Freunde die Arbeit über einen so langen Zeitraum alleine ausführen lassen. Aus diesem Grunde hat
die FDP-Fraktion bereits im Juni 2009, damals noch in
der Opposition, der deutschen Beteiligung am AWACSEinsatz in Afghanistan zugestimmt. Auch heute stimmen
wir für diese Mission.
({2})
Ich kann verstehen, dass einige geschätzte Kollegen
in diesem Haus die deutsche Beteiligung am NATOAWACS-Einsatz in Afghanistan mit der Entscheidung
zur Resolution des UN-Sicherheitsrats in Verbindung
bringen. Das ist auch völlig legitim; denn zusätzlich zu
der zivilen und militärischen Notwendigkeit unserer Beteiligung gibt es einen weiteren Grund für unser Engagement: Das ist die Bündnissolidarität - das Wort ist ja
mehrmals auch in einem anderen Zusammenhang von
Ihnen gebraucht worden - mit unseren NATO-Partnern.
Zum einen betreiben wir ganz klar die AWACS-Flotte
als NATO gemeinsam. Zum anderen entlasten wir natürlich unsere Bündnispartner an anderer Stelle, so gut wir
es vermögen, auch wenn wir uns nicht mit deutschen
Soldaten in Libyen beteiligen. Das ist werteorientierte
Außenpolitik.
({3})
Wir entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Dabei vergessen wir - auch wenn das einige hier anders sehen mögen - in keinem Moment die Partner, mit denen
wir gemeinsam für Frieden und Sicherheit in der Welt
eintreten.
Die zeitweise Übernahme der Luftüberwachung
durch AWACS sowie der Aufbau afghanischer Kräfte
und Infrastruktur in der zivilen Luftverkehrskontrolle
stellen ein schlüssiges Konzept zur Sicherung der
Afghanistan-Strategie dar. Wir werden dort nicht unendlich mit unseren Aufklärungsflugzeugen bleiben; auch
das ist klar. Wir werden auch die Einsatzobergrenze für
den gesamten Afghanistan-Einsatz, der hier im Haus
schon beschlossen wurde, nicht zusätzlich erhöhen.
Meine Damen und Herren, die Situation in Libyen hat
die Gesamtlage verändert. Das ist hier ja auch mehrmals
betont worden. Unsere Hilfe wird jetzt an dieser Stelle
gebraucht. Damit ermöglichen wir es unseren NATOFreunden, in Libyen flexibel und schnell zu handeln.
Aus diesem Grund müssen wir schon jetzt über die Zukunft von AWACS-Flugzeugen in Afghanistan diskutieren und nicht erst in einigen Monaten. Das hat viel mit
Weitsicht und Verantwortungsbewusstsein zu tun.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Meine Damen
und Herren, am Ende dieser Überlegungen steht auch die
Beendigung des militärischen Einsatzes in Afghanistan
bis zum Jahr 2014, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen stimmen. Ich begrüße es, dass die Argumente
für dieses Mandat in diesem Haus große Zustimmung
finden. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Notwendigkeit dieses Einsatzes anerkannt wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr van
Aken, ich weiß nicht, ob Sie richtig zugehört haben. Die
Mehrheit meiner Fraktion hat im Januar dem ISAF-Mandat nicht zugestimmt. Viele haben mit Nein gestimmt,
viele haben sich enthalten. Genauso wird sich diese
Fraktion heute wieder verhalten, und zwar aus den Gründen, die ich Ihnen hier genannt habe.
Aus einer Geschichte aber, Herr van Aken, kommen
Sie nicht heraus. Sie sind da in merkwürdiger Weise
spiegelbildlich, geradezu brüderlich vereint mit dieser
Koalition.
({0})
- Ja, brüderlich passt gut zur Koalition des Herrn
Brüderle.
({1})
Sie sind in einem Punkt mit denen einer Meinung. Sie
reden davon, dass man in Konfliktgebiete keine Waffen
liefern darf. Wenn es aber dazu kommt, dieses Reden in
Handeln umzusetzen und wirklich dafür zu sorgen, dann
taucht die Linkspartei genauso ab wie die Koalition.
({2})
Diese Haltung „Wasch mir den Pelz, aber mach mich
nicht nass“ stellt eine Gemeinsamkeit zwischen Links
und Schwarz-Gelb dar. Das ist doch bemerkenswert.
({3})
Sie stellen sich hier hin und sagen: Wir lehnen ein solches Mandat ab. Was aber macht die Bundesregierung?
Genau dasselbe. Dafür müssten Sie ihr eigentlich Beifall
klatschen. Denn in dem Moment, wo die NATO beschließt, auf der Basis von UN-Resolutionen ein Waffenembargo durchzusetzen, zieht die deutsche Bundesregierung die deutschen Soldaten aus dem Kommando der
NATO heraus. CDU/CSU und FDP haben nicht die
Traute, sich hier hinzustellen und zu sagen: Jawohl, wir
wollen, dass das weitergeht. Lieber Bundestag, stimme
dem zu! - Unsere Zustimmung hätten Sie von den Koalitionsfraktionen an dieser Stelle, aber Sie tauchen aus dem
einfachen Grund weg, weil Sie Angst vor dem kommenden Sonntag haben. Das ist der Punkt.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Trittin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich
zum dritten Mal zu Wort gemeldet haben. Das hat, so
glaube ich, den Zuschauerinnen und Zuschauern sowie
den Gästen im Deutschen Bundestag noch einmal die
Möglichkeit gegeben, hier einen Einblick in Ihre nicht
konsistente außenpolitische Konzeption zu bekommen.
({0})
Denn einerseits werfen Sie uns vor, wir argumentierten
nicht einheitlich genug. Andererseits sagen Sie, ein Teil
Ihrer Fraktion stimme dagegen, ein anderer Teil stimme
dafür, und die anderen enthielten sich. Wofür die Grünen
außenpolitisch stehen, ist mir in dieser Debatte, was
AWACS angeht, nun überhaupt nicht klar.
({1})
Ich danke aber allen Fraktionen und allen einzelnen
Bundestagsabgeordneten, die heute dem AWACS-Mandat hier zustimmen.
Auch mir ist es ganz besonders wichtig, unseren Soldatinnen und Soldaten, die wir auf der Grundlage des
Mandats in den Einsatz schicken, mit auf den Weg zu
geben - Kollege Hahn hat es bereits gesagt -, dass es
auch bei diesem Einsatz eine breite Unterstützung ihres
Tuns gibt. Meine Damen und Herren, das gehört trotz aller Polemik in dieser Debatte dazu: Dieses Hohe Haus
steht hinter den Soldaten, die wir in eine schwierige Mission schicken.
({2})
Die NATO braucht deutsche Streitkräfte bei AWACS.
Im Juni 2011 wäre es voraussichtlich so weit gewesen,
dass die AWACS-Flugzeuge hätten am Boden bleiben
müssen. Insofern wäre diese Debatte ohnehin auf uns zugekommen. Auch hier machen wir es uns nicht leicht
und schicken nicht leichtfertig deutsche Soldaten in eine
schwierige Mission. Sie ist natürlich nicht so gefährlich
wie andere Aufgaben, die die Bundeswehr übernimmt.
Es ist trotzdem eine verantwortungsvolle Entscheidung,
die wir heute hier zu treffen haben. Damit leisten wir erneut einen Beitrag zur Bündnissolidarität in der NATO.
Wir treffen diese Entscheidung, obwohl wir wissen,
dass ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland
aufgrund sehr vieler begründeter und auch unbegründeter Aspekte den Afghanistan-Einsatz ablehnt. Die Unterstellung, wir hätten hier irgendetwas aus Wahlkampfüberlegungen gemacht, ist falsch; denn uns ist natürlich
vollkommen bewusst, dass man mit dem Thema Afghanistan keine Wählerstimmen mobilisieren kann. Fakt ist
vielmehr: Wir werden mit dieser Entscheidung unserer
Verantwortung gerecht und nehmen auch keine Rücksicht darauf, dass zwei wichtige Wahltermine unmittelbar vor uns liegen.
({3})
Warum sind wir in Afghanistan? Auch wegen unserer
eigenen Sicherheit. Es gab viele Gründe, die immer wieder angeführt wurden. Etliche Gründe sind verworfen
worden. Der Grund, unsere eigene Sicherheit, bleibt bestehen. Deshalb werben wir dafür, die Übergabe in Verantwortung in Afghanistan früher abzuschließen, als es
bisher möglich zu sein schien. Da gibt es zum Teil gute
Ansätze, zum Teil aber auch große Schwierigkeiten.
Dies haben wir im „Fortschrittsbericht Afghanistan“ benannt. Wir haben Klartext gesprochen sowie über Licht
und Schatten des Einsatzes in Afghanistan hier im Plenum und in der deutschen Öffentlichkeit ausführlich diskutiert.
Unsere eigene Sicherheit muss nach wie vor gewährleistet bleiben. Deswegen gibt es keinen kopflosen Abzug aus Afghanistan. Deshalb sehen wir uns in der Verantwortung, die Abzugsperspektive, die diese Regierung
- ich nenne den Außenminister, den früheren Verteidigungsminister und den aktuellen Verteidigungsminister entwickelt hat, konsequent und maßvoll umzusetzen.
Wir wollen die Übergabe der Verantwortung bis 2014 erreichen und, wenn die Sicherheitslage es zulässt, schon
in diesem Jahr damit beginnen.
Ein zweiter Aspekt, der zum Afghanistan-Mandat dazugehört, ist die Solidarität mit den Verbündeten. Die
Afghanistan-Mission beinhaltet viele Schwierigkeiten.
Es zeigt sich aber, dass sich das Bündnis und die Weltgemeinschaft an dieser Stelle bewähren. Trotz der deutlichen Ablehnung und trotz der Wahlniederlagen, die
manche unserer Verbündeten wegen dieses Mandats
schon haben einstecken müssen, ist es immer noch so,
dass sich 48 Nationen solidarisch an dieser Mission beteiligen.
Einen Augenblick, Herr Kollege Mißfelder. - Ich darf
die Kolleginnen und Kollegen, die nachher an der Abstimmung teilnehmen wollen, bitten, die Plätze einzunehmen und dem verbleibenden Rest der Debatte mit der
gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen.
({0})
48 Länder beteiligen sich, wie gesagt, solidarisch an
diesem Einsatz. Das macht deutlich, dass die Weltgemeinschaft und die NATO Afghanistan noch nicht aufgegeben haben.
({0})
Unsere Erfolge in Afghanistan bleiben bestehen. Wir
haben teilweise Menschenrechte durchgesetzt, von denen man zu Zeiten der Talibanherrschaft in Afghanistan
weit entfernt war, insbesondere die Rechte der Frauen,
den Zugang zu Bildung, zu einem besseren Gesundheitswesen usw. Wir haben auf der Londoner Konferenz
deutlich gemacht, welche zivile Perspektive wir Afghanistan bieten wollen. Wir werden auch in diesem Jahr einen politischen Beitrag dazu leisten: Auf einer erneut
stattfindenden Petersberger Konferenz wollen wir uns
dafür einsetzen, die zivile Perspektive Afghanistans
nicht aus dem Blick zu lassen.
({1})
Die Perspektive Afghanistans - das möchte ich hier
und heute deutlich sagen - hängt in erster Linie nicht
von der militärischen Option ab, sondern von unserem
politischen Engagement, das die westliche Welt hier einbringt. Da leistet die Bundesregierung - neben der militärischen Komponente - sehr gute Dienste: mit einer
Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, mit der Vertiefung der Zusammenarbeit in nahezu
allen Bereichen der Bürgergesellschaft und der damit
verbundenen Schaffung einer zivilen Perspektive Afghanistans. Das bleibt unser Ziel und kein kopfloses Heraus
aus einem Einsatz, mit dem wir es uns wirklich nicht
leicht machen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung zur
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von
NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/5251 ({0}),
den Antrag der Bundesregierung auf der Drucksache 17/5190
anzunehmen. Hierzu liegen mir zahlreiche Erklärungen
zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor, die wir dem Protokoll der Sitzung beifügen.1)
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich er-
öffne die Abstimmung.2)
Haben alle anwesenden Kolleginnen und Kollegen
ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der
1) Anlagen 2 bis 5
2) Ergebnis Seite 11492
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Beratungen nun fort. - Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich bitte herzlich, Platz zu nehmen,
damit wir in der Tagesordnung fortfahren können.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitaler-
träge wie Löhne besteuern
- Drucksache 17/4878 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder erheben
- Drucksachen 17/453, 17/4594 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Barbara Höll für die Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Jetzt haben alle Kolleginnen und Kollegen noch die
Chance, sich zu entscheiden, ob sie sich hinsetzen und
zuhören oder doch lieber den Saal verlassen wollen. Danke schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eklige Toiletten, teilweise zugenagelte Fenster und veraltete Leitungen, so beschrieb gestern die
Leipziger Volkszeitung den Alltag vieler Lehrer und
Schüler - nicht in einem Entwicklungsland, sondern an
Leipziger Schulen. Wenn es jetzt wieder wärmer wird,
empfängt auch meine Tochter in ihrer Grundschule jeden
Morgen intensiver Abortgestank - ein toller Schulbeginn. Allein in Leipzig fehlen 570 Millionen Euro zur
Sanierung der Schulen. Die Stadt hat nicht einmal genug
Eigenmittel, um die Fördergelder des Landes abrufen zu
können.
Verkürzte Öffnungszeiten und die Schließung von
Museen und Jugendklubs, Schlaglöcher in den Straßen,
die gesundheitsbedrohlich sind und uns bis zum nächsten Winter erhalten bleiben werden, verarmte Kommunen und auf staatliche Hilfe angewiesene Menschen, allein über 1,4 Millionen Aufstocker, also Menschen, die
zwar arbeiten, deren Geld aber nicht reicht, ihr tägliches
Leben bewältigen und Brot, Butter, Milch, Wasser,
Strom und Miete bezahlen zu können - das ist die Realität in Deutschland.
2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die auf
Hartz IV angewiesen sind, die häufig von Kultur und
Sport ausgeschlossen sind, die in Perspektivlosigkeit
aufwachsen, die die Erfahrung machen, dass ihre Eltern
von Arbeit ausgeschlossen sind oder dass sich die Arbeit
ihrer Eltern nicht lohnt, weil sie von dem Lohn ihre Familie nicht ernähren können - das ist die Realität in
Deutschland.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse vom Wischmopp
bis zum Laptop, von den Reinemachefrauen bis zu den
jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern - das
ist die Realität in Deutschland. Private und öffentliche
Armut sind die Kehrseite des angehäuften Reichtums in
den Händen einiger weniger. Das ist ein Skandal.
({0})
Beginnend mit der Aussetzung der Vermögensteuer
1997, erleben wir eine politisch gewollte und durchgesetzte Entlastung hoher Einkommen und Vermögen in
bis dahin ungeahntem Ausmaß, durchgesetzt von RotGrün, fortgesetzt zunächst von der Großen Koalition und
nun von Schwarz-Gelb. Ich nenne nur einige Stichpunkte: Aufhebung der Vermögensteuer, Absenkung der
Körperschaftsteuer von 25 auf 15 Prozent, Absenkung
des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 bzw. 45 Prozent,
Einführung der Abgeltungsteuer, Privilegierung von Kapitaleinkünften. Das ist die Realität.
Als Ergebnis ist festzuhalten: Ja, Deutschland ist ein
reiches Land. Das Nettovermögen der privaten Haushalte wächst stetig, zum Beispiel zwischen 2002 und
2007 um 10 Prozent. 2009 betrug nach einer Studie des
DIW das Vermögen etwa 7 370 Milliarden Euro. Das
entspricht dem dreifachen Wert der Jahreswirtschaftsleistung unseres Landes. 2010 ist dieser Wert weiter angewachsen.
Aber wie ist das Vermögen verteilt? Das ist die Frage.
Zwei Drittel aller Erwachsenen verfügen über kein oder
nur ein äußerst geringes Vermögen. Dagegen verfügen
die reichsten 10 Prozent über wesentlich mehr. 2002 lag
ihr Anteil am Gesamtvermögen bei 57,9 Prozent, 2007
bereits bei 61,1 Prozent. Das reichste eine Prozent der
Bevölkerung verfügt über ein Viertel des Gesamtvermögens der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man
sich einmal vorstellen. Das ist ein skandalöser Zustand.
({1})
Die Zahl der Vermögensmillionäre lag 2006 noch bei
knapp 800 000, 2008 bei 810 000, und 2009 verfügten
trotz Krise 861 000 Menschen über ein Vermögen von
mehr als 1 Million Euro.
Dieser Zustand, die öffentliche und die private Armut
auf der einen Seite und das Anhäufen des Vermögens auf
der anderen Seite,
({2})
ist unhaltbar.
({3})
Deshalb begrüßen wir es, dass es verschiedene Initiativen gibt, die Druck machen. Ich begrüße es, dass SPD
und Grüne die Vermögensteuer mittlerweile wieder einsetzen wollen. Ich begrüße es, dass es die Initiative „Vermögensteuer jetzt!“ gibt. Es gibt sogar einen Club von
50 deutschen Millionären, die eine gerechte Besteuerung
verlangen. Sie wollen mehr Geld an den Staat in Form
von Steuern abführen.
({4})
Sie wollen nicht einfach eine Stiftung gründen, sondern
die Gesellschaft unterstützen. Das heißt, die demokratisch gewählten Gremien sollen darüber entscheiden,
wie dieses Geld ausgegeben wird, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu der Gründung von Stiftungen.
Das ist eine Initiative des Clubs der Millionäre.
Wir legen Ihnen heute zwei Anträge vor. Wir möchten, dass die Vermögensteuer so geändert wird, dass das
Vermögen der Vermögensteuerpflichtigen individuell
besteuert wird. Das ist ganz wesentlich. Wir möchten,
dass die Regierung einen ordentlichen Gesetzentwurf
vorlegt, in dem sie das aufgreift. Wir sagen: Zum Stichtag 31. Dezember wird die Summe der privaten Geldvermögen und der Verkehrswerte der privaten Immobilienund Sachvermögen zusammengerechnet. Private Kredite
sind natürlich abzuziehen. Wir schlagen Ihnen vor, dass
jeder einzelne Vermögensmillionär 1 Million Euro steuerfrei für sich behalten kann. Aber das, was darüber
liegt, wird mit 5 Prozent besteuert.
({5})
Wir schlagen Ihnen die Abschaffung der Abgeltungsteuer vor, weil die Abgeltungsteuer grob ungerecht ist.
Kapitaleinkünfte werden nämlich nur noch mit
25 Prozent besteuert und unterliegen nicht dem persönlichen Steuersatz, der im Einzelfall - das ist der Spitzensteuersatz - bei 42 Prozent liegen kann.
Das wäre ein Beitrag für mehr Gerechtigkeit in unserem Land. Damit lässt sich der eben von mir beschriebene Zustand - eklige Toiletten, zugenagelte Fenster und
verschlissene Leitungen - an den Schulen in Leipzig und
in Städten anderer Bundesländer, in denen die Zustände
ähnlich sind, verbessern.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von
NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungsgruppe in Afghanistan“ bekannt: abgegebene Stimmen 552. Mit Ja haben gestimmt 407, mit
Nein haben gestimmt 113, Enthaltungen 32. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon
ja: 407
nein: 113
enthalten: 33
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Bettina Kudla
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({15})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({25})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({26})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Carola Reimann
Karin Roth ({27})
Michael Roth ({28})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({29})
Marianne Schieder
({30})
Ulla Schmidt ({31})
Carsten Schneider ({32})
Ottmar Schreiner
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({33})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({34})
Michael Link ({35})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({36})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({37})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({38})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({39})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({40})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({41})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Priska Hinz ({42})
Tom Koenigs
Undine Kurth ({43})
Jerzy Montag
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({44})
Norbert Schindler
SPD
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Willi Brase
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({45})
Daniela Kolbe ({46})
Aydan Özoğuz
Dr. Wilhelm Priesmeier
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
René Röspel
Marlene Rupprecht
({47})
Swen Schulz ({48})
Stefan Schwartze
Sonja Steffen
Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({49})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({50})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Monika Lazar
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
SPD
Ulla Burchardt
Christel Humme
Burkhard Lischka
Ewald Schurer
Frank Schwabe
FDP
Joachim Günther ({51})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({52})
Viola von Cramon-Taubadel
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Oliver Krischer
Renate Künast
Markus Kurth
Kerstin Müller ({53})
Dr. Konstantin von Notz
Dr. Hermann Ott
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nun setzen wir die Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt fort. Ich erteile das Wort dem Kollegen
Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({55})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist erstaunlich: Es gibt viele Anträge im Bundestag, aber
mit diesen Anträgen, die die Linken heute hier vorgelegt
haben, ziehen Sie sich selbst die Maske vom Gesicht und
zeigen, dass Sie einen Großteil der deutschen Bevölkerung enteignen wollen.
({0})
Sie sind und bleiben Kommunisten.
({1})
Der Vorschlag der Linken lautet: Alle Besitzer von
Immobilien, Geld- und Sachvermögen, das 1 Million
Euro überschreitet, sollen durch die Besteuerung mit einem Steuersatz von 5 Prozent systematisch enteignet
werden.
({2})
- Hören Sie bitte zu.
Da ist der Handwerksmeister mit dem kleinen Betrieb
in Stuttgart, der vielleicht ein Haus mit einem guten
Grundstück im Innenstadtbereich geerbt hat. Eine solche
Immobilie erreicht schnell einen Wert von 1 Million
Euro, wenn man sie pflegt.
Ein anderes Beispiel: Ein Meister, der wahrscheinlich
nicht solche Pensionsansprüche wie die linke Gruppe
hier vorn hat, hat für seine Altersversorgung ein Mehrfamilienhaus gebaut, das vielleicht einen Wert von
1 Million Euro erreicht hat und aus dem er 3 bis
4 Prozent Ertrag zieht, die er natürlich versteuert. Die
Linke schlägt nun vor, dass dieser Hausbesitzer im Jahr
50 000 Euro an Vermögenssteuer abgibt. Das ist Enteignung! Das ist eine Gefahr für die Demokratie, meine
liebe Kolleginnen und Kollegen!
({3})
Woher soll dieser Handwerksmeister diese
50 000 Euro überhaupt nehmen? Soll er einen Kredit
aufnehmen? Wahrscheinlich wird er versuchen, dieses
Haus zu verkaufen. Aber wer kauft ein Haus, wenn klar
ist, dass der neue Besitzer ebenso enteignet wird?
({4})
Was passiert mit dem Mietwohnungsbau in Deutschland? Wird es überhaupt noch Mietwohnungen in
Deutschland geben, oder werden diese Kosten auf den
Mieter umgeschlagen?
Viele werden das Land verlassen, solange noch keine
neue Mauer da ist. Sie von den Linken kennen die
Wohnsituation der ehemaligen DDR bestens. Sie wollen
den Wohnungsmarkt hier wie in der DDR runterwirtschaften. Dabei fühlen Sie sich offensichtlich wohl.
({5})
Was ist, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, mit den Kapitalwerten aus Pensionen? Unter Ihnen sind viele, die einen hohen Pensionswert haben, der
sehr schnell, wenn Sie vorher als Beamte tätig waren,
1 Million Euro erreicht. Werden Sie diesen Kapitalwert
auch versteuern wollen, oder halten Sie sich selbst aus
der ganzen Sache heraus?
Die Krise hat gezeigt, dass eine kluge Steuerpolitik in
Deutschland entscheidend wichtig ist.
({6})
Eine kluge Steuerpolitik haben wir damals noch gemeinsam betrieben, als wir die Körperschaftsteuer gesenkt
und damit die Betriebe in Europa wettbewerbsfähig gemacht haben. Das war eine kluge Politik.
({7})
Wir haben Anfang des letzten Jahres Familien und Arbeitnehmer entlastet.
({8})
Und wir haben die Kurzarbeit eingeführt. Dadurch konnten viele Arbeitsplätze gehalten werden.
In meinem Wahlkreis unterlagen 15 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Fulltimejobs der Kurzarbeit. Glauben Sie, die Firmen hätten überall Kredit bekommen, um den Betrieb zu retten? Die Eigentümer
haben zu einem großen Teil ihr gesamtes Privatvermögen eingesetzt, um die Betriebe zu retten, die Arbeitsplätze zu erhalten und wieder eine Zukunft in der Region
zu haben. Ich danke diesen Menschen, die ihr Privatkapital eingesetzt haben, um die Zukunft in meiner Region zu retten.
({9})
Sie betreiben mit Ihrem Antrag einen Anschlag auf
einen großen Teil der Leistungsträger in dieser Gesellschaft,
({10})
die durch ihre Steuern im Wesentlichen das Sozialsystem mitfinanzieren.
Moderat dagegen ist Ihr Antrag auf Abschaffung der
Abgeltungsteuer. Sie beschreiben, dass das Volumen der
Einnahmen von 13,5 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf
8,7 Milliarden Euro in diesem Jahr zurückgegangen ist.
Sie sind zu einem großen Teil auch Finanzpolitiker. Sie
wissen natürlich auch, dass die Rendite zehnjähriger
Staatsanleihen von 5,36 Prozent auf unter 3 Prozent ge11496
sunken ist. Schauen Sie sich einmal die Festgelder von
vor drei Jahren an, und vergleichen Sie die Zinsen mit
dem heutigen Stand.
({11})
Natürlich sind mit dem Rückgang der Zinserträge auch
die Einnahmen aus der Abgeltungsteuer zurückgegangen.
Jetzt kommt ein wunderbarer Satz aus Ihrem Antrag,
in dem es heißt: Aber dann steigen doch die Kurse bei
den einzelnen Wertpapieren, sodass die zinsbedingten
Mindereinnahmen doch kompensiert worden sein müssten.
Erstes Semester: Wenn die Kurse steigen, wird nur
dann Abgeltungsteuer gezahlt, wenn Papiere veräußert
werden. Also: Wenn keine Papiere veräußert werden,
gibt es keine Steuern.
Jetzt kommt das Besondere: Wenn sie veräußert worden wären, hätte bei den meisten das alte Gesetz mit dem
Stand vor der Abgeltungsteuer gegolten. Danach sind
diese Veräußerungen steuerfrei. Also ist der gesamte
Inhalt Ihres Antrags auch fachlich völlig daneben.
({12})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Ja.
Sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich hier in der Diskussion Belehrungen wie „erstes Semester“ höre, dann
kann ich nur sagen: Lesen bildet. Wenn Sie unseren Antrag richtig gelesen hätten, wüssten Sie, dass darin steht,
dass wir zwar die Abschaffung der Abgeltungsteuer fordern, aber die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
beibehalten wollen. Das unterscheidet uns. Wir fordern
nicht einfach eine Rückkehr zum alten Zustand, sondern
wir wollen eine Beibehaltung der vorgenommenen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Das von Ihnen
Beschriebene könnte daher nicht eintreten. Diese Unterstellung hätten Sie wohl nicht gemacht, wenn Sie den
Antrag richtig gelesen hätten.
Liebe Kollegin Höll, Sie müssen nicht nur Ihren eigenen Antrag lesen, Sie müssen auch die Beschlüsse der
Großen Koalition von damals lesen. Das ist ganz wichtig. Damals sind all die Schlupflöcher, die es gab, von
der Großen Koalition geschlossen worden. Das war der
ganz große Unterschied. Warum haben wir den Steuersatz auf 25 Prozent gesenkt? Zum damaligen Zeitpunkt
waren alle Kursgewinne nach einem Jahr steuerfrei, und
vor allem große Vermögen haben insbesondere über
Kursgewinne große Erträge erzielt. Das war einer der
wichtigsten Punkte. Wir haben die Dividenden zu
100 Prozent besteuert; früher waren es nur 50 Prozent.
({0})
Es gab diskontierte Rentenpapiere, die überhaupt keinen
Zinsertrag abwarfen; das ist übrigens auch ein Problem
der Zinsrichtlinie gewesen. Im Ausland wurden Papiere
kreiert, die überhaupt keine Zinsen abwarfen; diese wurden dort legal angelegt. Wir sind diese Punkte angegangen, damit auch die Hochverdiener in diesem Staat Steuern zahlen. Das war uns damals in der Großen Koalition
sehr wichtig.
({1})
Ich danke Ihnen für Ihre Zwischenfrage.
({2})
Für Bezieher großer Einkommen war es damals wichtig, große steuerfreie Erträge zu erzielen. Je höher der
Steuersatz ist, desto interessanter wird es. Bezüglich der
Abgeltungsteuer gibt es den legendären Ausspruch des
damaligen Finanzministers Steinbrück, der hier deutliche Worte gefunden hat. Er hat damals aufgezeigt, dass
ein großer Teil des Kapitals in Deutschland nicht angelegt wird. Er hat hier im Bundestag am 25. Mai 2007 gesagt: Kein Zins, keine Dividende, keine Kapitalerträge.
Da gibt es eben nichts für uns. Es ist doch logisch:
Es ist besser, 25 Prozent auf X zu haben statt
42 Prozent auf gar nix. So simpel ist die Rechnung.
Er hatte recht.
({3})
Er hat damals auch gesagt, dass es besser gewesen
wäre, wenn Hans Eichel im Jahre 2004 neben der Steueramnestie - diese wurde ja von der rot-grünen Koalition
eingeführt - eine Abgeltungsteuer eingeführt hätte. Das
wäre wahrscheinlich der richtige Weg gewesen. - Auch
damit hatte er damals recht. Deswegen kann ich an die
Grünen und an die SPD immer nur appellieren: Arbeiten
Sie mit uns zusammen. Wir hätten auch beim Schwarzgeldbekämpfungsgesetz viel besser zusammenarbeiten
können, wenn Sie unserem Antrag zugestimmt hätten.
Wir haben damals den richtigen und konsequenten Weg
der Besteuerung fortgesetzt. Dem hätten Sie zustimmen
sollen.
({4})
Bei der von der Linken geplanten Enteignung, der geforderten Besteuerung von Vermögen ab 1 Million Euro,
stellt sich natürlich auch die Frage nach den Eigentumsrechten. Art. 14 des Grundgesetzes beginnt: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Eigentum
ist die wirtschaftliche Basis von bürgerlichen Freiheiten.
Ohne Eigentum ist unsere Gesellschaftsordnung nicht zu
verstehen. Dies ist auch Grundvoraussetzung für die
Wirtschaft.
({5})
Privates Eigentum hat auch mit persönlicher Verantwortung zu tun. Eigentum verpflichtet. Wir alle kennen
diesen Ausspruch. Eigentum heißt aber auch Nachhaltigkeit. Wenn beispielsweise ein Handwerksmeister eine
Immobilie als Altersvorsorge hat, dann wird er diese Immobilie hegen und pflegen; denn er muss sein Einkommen im Alter, seine Rente nachhaltig daraus schöpfen.
Das Problem bei Ihnen, Frau Höll, ist, dass Sie mit
dem Privateigentum nichts zu tun haben wollen.
({6})
Das war doch auch einer der Gründe für den Untergang
der DDR. Sie haben das doch alles selbst erlebt. Sie haben die Substanz der Immobilien verbraucht. Sie haben
die Substanz der Umwelt verbraucht. Ich spreche gar
nicht von der Unterdrückung und Freiheitsberaubung.
Sie haben in der DDR im Grunde das Material und die
Umwelt ausgebeutet und auch noch die Menschen unterdrückt.
({7})
Frau Höll, Sie haben auch die Steuerbelastung insgesamt angesprochen. Es ist ganz interessant - wir haben
all die Datensammlungen zur Steuerpolitik aus dem Finanzministerium; darin wird das deutlich gezeigt -: Im
Jahr 2000 hatten wir einen Spitzensteuersatz von noch
51 Prozent plus Solidaritätszuschlag plus Kirchensteuer
und Einnahmen - so wird es ausgewiesen - aus Einkommen und Vermögen von 240 Milliarden Euro. Im Jahr
2008 - das ist die letzte Zahl - hatten wir einen Steuersatz von nur noch 42 Prozent und Einnahmen aus Einkommen und Vermögen von 285 Milliarden Euro. Wir
haben also 45 Milliarden Euro mehr, obwohl der Steuersatz von 51 auf 42 Prozent gesenkt worden ist.
Das zeigt: Entscheidend ist doch nicht der Steuersatz,
sondern entscheidend ist, dass die Wirtschaft funktioniert, dass wir viele Akteure am Markt haben, dass wir
gute Firmen haben und dass wir vor allen Dingen gut
verdienende Arbeitnehmer haben. Das gehört zusammen. Das schafft Stärke für diesen Standort und für unsere Sozialsysteme.
({8})
Der Kollege Koch, der in der ersten Lesung hier gesprochen hat, wird am 15. Januar im Focus folgendermaßen zitiert: „Der demokratische Sozialismus“ könne
„nur die Vorstufe zum Kommunismus sein.“ - Er bekennt sich auch dazu.
Ich kann deshalb den Kolleginnen und Kollegen der
SPD für die weiteren Beratungen nur empfehlen: Machen Sie keinen Pakt mit den Kommunisten, nicht in den
Ländern, nicht hier! Die Geschichte hat gezeigt, dass Sie
dabei schlecht fahren.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Schick? Damit verlängern Sie Ihre Redezeit.
({0})
Herr Flosbach, ich möchte Sie noch etwas fragen. Sie
haben jetzt die absoluten Steuererträge der Jahre 2000
und 2008 verglichen. Wenn ich mich an mein erstes
Semester richtig erinnere, dann muss ich sagen, dass
man diesen Vergleich nur dann ziehen kann, wenn man
gleichzeitig zumindest die Inflation in dieser Zeit dazu
nennt
({0})
und wenn man berücksichtigt, wie sich das Volumen der
Einnahmen im Vergleich zum Wirtschaftswachstum verändert hat. Entscheidend für den Vergleich ist ja wohl
die Steuerquote.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns nach diesem
bewusst irreführenden Vergleich vielleicht die tatsächlichen Zahlen geben könnten oder zumindest eingestehen,
dass Ihr Vergleich arg schief war.
({1})
Ich finde diesen Hinweis sehr gut. Herr Kollege, Sie
haben inhaltlich recht. Ich werde Ihre Reden, die Sie hier
im Parlament gehalten haben, sehr aufmerksam nachlesen.
Wann haben Sie zum letzten Mal das Wort „Inflation“
in den Mund genommen? Wir müssen zunächst immer
die absoluten Zahlen vergleichen. Die Inflationssrate
von 2000 bis 2008 in Deutschland lag im Durchschnitt
unter 1,5 Prozent. Das wissen Sie.
({0})
- Da kommt man in der Summe vielleicht auf
15 Prozent, wenn man überhaupt so hoch kommt, und
zwar kumuliert plus Zinseszinsfaktor.
({1})
Aber darüber können wir uns im Finanzausschuss gerne
weiter streiten. Ich will Ihre Reden gerne nachlesen, um
zu prüfen, wann Sie das letzte Mal das Wort „Inflation“
in den Mund genommen haben.
Ansonsten bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte nach den beiden Beiträgen als Erstes gerne daran
erinnern, dass wir uns hier heute in einer Debatte über
die Abgeltung- und Vermögensteuer befinden. Ich habe
ein bisschen den Eindruck, dass die wichtigste Zahl, die
die Rednerin und den Redner vor mir bewegt hat, die
Zahl 62 ist; denn in 62 Stunden schließen die Wahllokale
in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen.
Nachdem wir uns beide Reden angehört haben, ist
ziemlich deutlich, dass die Sachdebatte leider etwas in
den Hintergrund getreten ist. Die Anträge der Linkspartei sind bedauerlicherweise bestenfalls geeignet, in diesem Wahlkampf vielleicht die Litfaßsäulen und die Laternenpfähle zu schmücken, aber sie zeigen nicht die
wirklichen Probleme und entsprechende Lösungspunkte
auf.
({0})
Dem Kollegen Flosbach muss man sagen: Man hat
das Gefühl, dass Sie, wenn Sie hier durch den Saal gehen, immer gucken, ob nicht gerade ein kleiner Kommunist an Ihrem Hosenbein hochkriecht.
({1})
So agieren und so reden Sie hier. Ich kann Sie beruhigen:
Das Einzige, was Ihnen die klugen Wählerinnen und
Wähler vor allem in Baden-Württemberg bringen werden, ist hoffentlich eine gute rot-grüne Regierung. Das
wird etwas Ordentliches und Solides. Da können Sie
Ihre Ängste zurückstellen.
({2})
Zur Sache: Die Linkspartei legt hier zwei Anträge
vor. Im ersten Antrag geht es um eine Vermögensteuer
und die Vermögensbesteuerung. Ich möchte darum bitten, dass wir, damit wir in der Diskussion weiterkommen
- denn wir haben es hier mit realen Problemen zu tun -,
eine sehr nüchterne Bestandsaufnahme der Lage in diesem Land machen, gerade im Hinblick auf die fundamentalen Verteilungsfragen, die eine Grundvoraussetzung auch dafür bilden, dass wir wieder ordentliche
Wachstumsraten bekommen.
Selbst der Bundeswirtschaftsminister, der zurzeit für
jede Aussage gut ist, ist schon so weit, dass er sagt: Die
Binnennachfrage muss gestärkt werden. - Herr
Flosbach, wenn Sie die Binnennachfrage stärken wollen,
müssen Sie etwas im Bereich der Einkommen tun, die
eine geringe Sparquote haben, also bei denjenigen, die
nur über geringes Vermögen verfügen und ganz normale
Einkommen haben.
Gerechtigkeit und Wachstum hängen eng zusammen.
Darum ist es eine wichtige Feststellung, dass es in
Deutschland eine deutliche Schieflage gibt, eine Schieflage dahin gehend, dass die Besteuerung der Vermögen
aus dem Ruder gelaufen ist, und zwar nach unten. Das
ist nicht mehr hinnehmbar. Wir brauchen eine Erhöhung
der vermögensbezogenen Steuern.
({3})
Damit spreche ich mich deutlich dafür aus, dass wir
die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten ins Auge fassen. Wir als SPD haben die entsprechende Beschlussfassung: Wir brauchen die Wiedereinführung der Vermögensteuer.
({4})
Wir müssen allerdings jedes Konzept in seiner Gesamtheit betrachten. Dabei müssen wir vor Augen haben,
dass wir auch bei der Erbschaftsteuer und der Schenkungsteuer mehr werden tun müssen.
({5})
Schauen Sie sich doch einmal die Daten der OECD
an. In Deutschland beträgt das Aufkommen vermögensbezogener Steuern nur 0,9 Prozent des BIP, im internationalen Vergleich 2 Prozent des BIP. Warum können wir
als reiches Land es uns nicht endlich leisten, hier anders
vorzugehen? Ich würde mich freuen, wenn auch die
Koalition zu dieser Einsicht gelangen würde. Es geht
schließlich um Leute - ich darf das einmal in einem
Ihrer Slogans sagen -, die mehr dazu beitragen können,
dass in diesem Land stabile Verhältnisse herrschen, dass
die Schulden der öffentlichen Haushalte abgebaut werden, dass wichtige Investitionen getätigt werden können.
Darum muss es uns doch gemeinsam gehen. Wenn diese
Leute am Ende etwas weniger Netto vom Brutto haben,
dann werden sie es aushalten. Für das Gemeinwesen
wäre das ein Fortschritt. Darum sagen wir zur Vermögensbesteuerung Ja.
({6})
Ich greife die Frage, warum zu diesem Thema kein
Antrag von uns vorliegt, gerne auf. Das ist deshalb der
Fall, weil wir eine solide Steuerpolitik machen müssen,
der ein Gesamtkonzept zugrunde liegt.
({7})
- Natürlich. - Wir haben dazu bereits erste Beschlüsse
gefasst. Dabei geht es um eine Korrektur bei Erbschaftsteuer, Schenkungsteuer und Grundsteuer. Die Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer - ich sage
gleich noch etwas zu diesem wichtigen Adjektiv - ist ein
weiteres Element. Ich füge hinzu: Auch die moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 42 auf 49 Prozent
ist bei uns Beschlusslage.
({8})
Bevor es bei Ihnen jetzt zu falschen Zuckungen und
Reflexen kommt: Ich erinnere daran, dass der Spitzensteuersatz in diesem Lande zu Zeiten von Bundeskanzler
Kohl, Außenminister Genscher und Wirtschaftsminister
Lambsdorff bei 56 respektive 53 Prozent lag.
({9})
Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent ist also moderat.
Das ist ein Steuersatz, den Deutschland verträgt, der
Deutschland nützt und dient.
({10})
Mit diesen Themen muss man sich, wie gesagt, in ihrer Gesamtheit befassen. Man muss sich aber auch mit
den Details beschäftigen. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion, gehen an dieser Stelle
aber nicht mit dem Florett, sondern mit dem Vorschlaghammer vor. Es kann nicht angehen, dass Sie sich bei Ihren Vorschlägen zur Vermögensbesteuerung unnötige
Fehler erlauben. Kollege Flosbach hat in diesem Zusammenhang bereits auf die Besteuerung von eigengenutzten Wohnungen, Versorgungsvermögen etc. hingewiesen.
Außerdem ist es wichtig, saubere Regelungen im Hinblick auf das Betriebsvermögen zu treffen. Wir wollen,
dass auch dann, wenn es eine Vermögensteuer gibt, gewährleistet ist, dass Betriebsfortführungen möglich sind
und es nicht zu einem Abzug von Kapital aus Unternehmen kommt. Wir wollen mit unserer Steuerpolitik vielmehr dafür sorgen, dass mit Unternehmensgewinnen
nicht spekulativ umgegangen wird, sondern dass sie im
Unternehmen verbleiben und für vernünftige Investitionen eingesetzt werden. Das ist vernünftige Wirtschaftspolitik und Gesellschaftspolitik.
({11})
Jetzt zur Abgeltungsteuer. Ich darf Ihnen sagen: Man
merkt, dass Sie Ihren Antrag kurzfristig nachgeschoben
haben, weil Ihnen Ihre vermögenspolitischen Vorstellungen wohl doch etwas zu dünn schienen, um 62 Stunden
vor Schließung der Wahllokale noch für ein bisschen Furore zu sorgen. Leider gelingt Ihnen dies aber auch mit
Ihrem Antrag zur Abgeltungsteuer nicht. Auch bei diesem Thema muss man nämlich den Gesamtzusammenhang im Auge haben. Allerdings konzediere ich, dass
sich die Erwartungen, die wir alle im Hinblick auf die
Abgeltungsteuer hatten, nicht in dem Maße erfüllt haben, wie wir es uns erhofft haben.
Zunächst ist ganz wichtig, dass mit der Einführung
der Abgeltungsteuer die Bemessungsgrundlage verbreitert worden ist. Kollege Flosbach hat darauf hingewiesen. Wenn wir da einer Meinung bleiben, ist das gut. Mit
der Einführung verbunden war ferner, dass die Versteuerung von Veräußerungsgewinnen nicht mehr einer Spekulationsfrist und der große Bereich der Dividenden jetzt
der Steuerpflicht unterliegt. Das ist ein Erfolg und ein
richtiger Schritt bei dieser Steuerform.
({12})
Selbst bei diesem kurzen Erfahrungszeitraum - darauf komme ich gleich - müssen wir allerdings feststellen, dass die Abgeltungsteuer auf Zinsen nicht zu den
entsprechenden Wirkungen geführt hat. Ich bin sehr gespannt darauf, ob jemand in den weiteren Debatten darlegen kann, ob dieser Einbruch mit dem reduzierten Satz
zu tun hat oder ob er nicht doch damit zu tun hat, dass
die Zinseinkommen in der Finanzkrise gesunken sind
und damit ein geringeres Aufkommen zur Verfügung gestanden hat. Diese Frage muss geklärt werden, bevor
man Rezepte vorschlägt und sagt, wie es denn weitergehen soll; denn wir brauchen ein solides Konzept zur Heranziehung der Einnahmen, die die Menschen aus Vermögen und Kapitalanlage erzielen. Das wollen wir
jedenfalls.
({13})
Ich will in dem Zusammenhang auch klar und deutlich die Richtung angeben; da haben wir innerhalb der
Sozialdemokratie einen breiten Konsens. Ich freue mich
ja, Herr Kollege Flosbach, dass Sie nach der gestrigen
Debatte zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
nicht die Bundeskanzlerin, sondern Peer Steinbrück zitiert haben. Ich glaube, das passt auch zur Presseberichterstattung des heutigen Tages und zu dem, was wir hier
gestern erlebt haben. Das ist der richtige Bezugspunkt.
Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten wissen - Peer
Steinbrück tut dies ganz explizit -, dass wir dann, wenn
wir den Spitzensteuersatz anheben, auch den Satz der
Abgeltungsteuer anheben müssen, damit wir die Wirkung, die wir damals gemeinsam in der Großen Koalition gewollt haben, auch wirklich erzielen.
Man wird dann an den Punkt kommen, an dem man
sich die Frage beantworten muss - für uns ist das eine
Frage, mit der wir uns im Zusammenhang mit unseren
steuerpolitischen Überlegungen sehr ernsthaft auseinandersetzen -, ob wir nicht doch wieder zu einer synthetischen Besteuerung kommen, also auch die Zins- und Kapitaleinkünfte der normalen Einkommensbesteuerung
unterwerfen sollten.
({14})
Aber bitte: Seit 1. Januar 2009 gilt diese Regelung.
Man muss sich erst einmal die Effekte und Wirkungen
anschauen. Erst dann kann man an dieses Thema herangehen. So ist mittlerweile auch die Beschlussfassung der
SPD. All denjenigen, die sich nicht die Mühe machen,
SPD-Parteitagsbeschlüsse zu lesen, kann ich sagen, dass
wir uns genau diesen Punkt vorgenommen haben und bis
Ende des Jahres zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden.
Meine Damen und Herren, die beiden Anträge der
Linken sind
({15})
erste Klasse, aber leider nur erste Schulkasse. Wir aber
brauchen etwas, was einem hohen Niveau entspricht.
({16})
Die beiden Anträge sind leider nur den Wahlterminen an
diesem Wochenende geschuldet. Sie enthalten nicht die
Substanz, die wir in dieser Frage brauchen. Darum lehnen wir sie ab. Ich sage Ihnen: Die Frage, ob wir eine gerechte, leistungsfähige und ordentliche Steuerpolitik in
Deutschland bekommen, entscheidet sich in der Tat am
Wochenende. Ich setze darauf, dass wir nach dem Sonntag neue Verhältnisse in diesem Land haben, die dafür
sorgen werden, dass eine wachstumsorientierte, aber
auch auf Gerechtigkeit ausgerichtete Politik in diesem
Land Raum greift.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
all die Bürgerinnen und Bürger, die uns an den Bildschirmen oder hier im Saal zuhören, möchte ich zunächst zur Aufklärung beitragen. Die Ausführungen des
Herrn Kollegen Sieling waren nicht zutreffend. Die
Wahllokale schließen nicht nach 62 Stunden.
({0})
Sie können in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg
nicht bis Montagvormittag wählen, sondern die Wahllokale schließen nach exakt 55 Stunden, am Sonntag um
18 Uhr. Ich hoffe, dass viele Bürgerinnen und Bürger zur
Wahl gehen und ihre Stimme abgeben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie
haben ein klares Feindbild. Das bringen Sie in Ihren Anträgen auch zum Ausdruck. Sie bekämpfen den Wohlstand in Deutschland.
({2})
Sie gönnen auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den Wohlstand nicht. Sie wollen hohe Einkommensteuern in Deutschland haben. Diejenigen, die es zu
etwas gebracht haben, die Kapitalerträge haben, sollen
hohe Kapitalertragsteuern bezahlen. Über die Vermögensteuer wollen Sie den Menschen das Geld, das sie
sich erarbeitet haben, schleichend wieder abnehmen.
Das bringt im Wesentlichen auf den Punkt, was in Ihren
Anträgen steht.
({3})
Wenn Sie es könnten, dann würden Sie den Wohlstand in Deutschland unter Strafe stellen.
({4})
Weil das nicht geht, wollen Sie wenigstens Strafsteuern
für Wohlhabende in Deutschland einführen, es sei denn,
es geht um die Herren Ernst und Lafontaine. Dann werden Sie dialektisch und sagen: Wir predigen nicht nur
Wein, wir trinken ihn auch. Dass das bei Ihnen der Fall
ist, kann man Ihren Anträgen entnehmen; denn ganz
nüchtern können Sie bei der Formulierung der Anträge
nicht gewesen sein.
({5})
Die Abgeltungsteuer ist eine Kapitalertragsteuer, aber
keine Vergeltungssteuer, und sie ist auch keine Neidsteuer in Deutschland, sondern durch sie soll sichergestellt werden, dass sich Bezieher von Kapitalerträgen an
der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen. Das
funktioniert auf einfache Weise auch sehr gut. Wir sind
froh, dass wir die Abgeltungsteuer haben. Sie ist international wettbewerbsfähig. Das ist eine gute Form der Kapitalertragsbesteuerung.
Sie wundern sich jetzt, dass in Zeiten der Finanzkrise
das Aufkommen zurückgegangen ist. Das Gegenteil
müsste einen wundern. Wenn die Kapitalerträge sinken
und sich die Zinsen im freien Fall befinden, dann darf
man sich doch nicht ernsthaft wundern, dass das Aufkommen der Kapitalertragsteuer zurückgeht. Was rechnen Sie denn da eigentlich?
Deswegen glaube ich, dass Sie Ihren Antrag selbst gar
nicht so ernst meinen. Sie brauchen ihn vielleicht für
Ihre Basisarbeit, aber dem Deutschen Bundestag solche
Anträge ernsthaft zur Abstimmung vorzulegen:
({6})
Ich muss schon bitten.
({7})
Nun kann man über Ihre Neiddebatten lange diskutieren, aber fest steht doch, dass Sie mit Ihrer Politik eines
niemals erreichen können, nämlich einen Beitrag zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu leisten.
Ein Sozialstaat funktioniert nicht nur über das Geldverteilen, sondern er beinhaltet auch das Erwirtschaften von
Geld. Wenn Sie die Anreize dafür nehmen, dann können
Sie auch keinen Sozialstaat finanzieren. Das sollte Ihnen
eigentlich zu denken geben.
({8})
Herr Kollege Flosbach hat Herrn Steinbrück ja schon
zitiert, der gesagt hat: „25 Prozent von X ist besser als
45 Prozent von nix.“ Wir haben bei diesem Satz ja auch
applaudiert. Das ist einer der wenigen klugen Sätze von
Herrn Steinbrück, den man auch unterstreichen kann.
Deswegen möchte ich Herrn Steinbrück einmal weiter
zitieren. Sie hätten sich bei Ihrem Antrag zur Vermögensteuer nämlich auch einmal mit seinen Thesen zur Vermögensteuer auseinandersetzen können. Das hätte Ihnen, Herr Kollege Sieling, vielleicht auch geholfen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Das brauchen wir nicht; wir haben von Frau Höll genug gehört.
({0})
Herr Sieling, ich glaube, wenn Sie sich mit den Thesen von Herrn Steinbrück, den ich gleich noch einmal zitiere, intensiver auseinandergesetzt hätten, dann könnten
Sie auch die Fragen für sich selbst beantworten, warum
er als Finanzminister die Vermögensteuer in Deutschland nicht eingeführt hat und warum er die Abgeltungsteuer so mit eingeführt hat, wie sie heute ausgestaltet
ist.
({1})
Zu dem Zitat. Auf die Frage: „Wie halten Sie es mit
dem Firmenvermögen“, sagte Herr Steinbrück - ich zitiere ihn -:
Wenn wir es voll besteuern, schwächen wir den
Mittelstand. Klammern wir es aus, schaffen wir
viele Umgehungsmöglichkeiten nach dem Motto:
Der Picasso hängt bei mir nicht mehr im Wohnzimmer, sondern im Besucherzimmer meines Betriebs.
Das sagte der sozialdemokratische Finanzminister.
Sehr geehrte Frau Höll, Sie finden in Ihrem Antrag
keine einzige Antwort auf diese Problematik. Deswegen
wollte ich auch Ihre Frage nicht zulassen. Wenn man
keine Antworten auf die zentralen Fragen geben kann,
dann braucht man hier auch keine weiteren Fragen zu
stellen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können die Problematik der Trennung von betrieblichem und privatem
Vermögen bei der Vermögensteuer nicht einfach ausklammern. Wenn Sie das tun, dann zeigen Sie damit nur
eines, nämlich dass Sie uns keinen Antrag vorlegen, der
einen ernsthaften Hintergrund hat. Sie wollen die politische Diskussion der letzten Jahre nicht nacharbeiten, die
Sie selbst verschlafen haben, und legen uns nur Schlagwörter wie „Millionärsteuer“ vor, ohne dass Sie wirklich
eine sachgerechte Lösung haben.
Durch Ihren Antrag ergeben sich mehr Fragen, als Sie
Antworten geben. Ich will sie einmal formulieren:
Wie wollen Sie das Grundvermögen in der Landwirtschaft bewerten? Wie gehen Sie mit dem Produktionsvermögen von Personengesellschaften um? Wie wollen
Sie verhindern, dass das Betriebsvermögen in der Substanz reduziert wird und dann die Investitionsfähigkeit
von Betrieben leidet und Arbeitsplätze verloren gehen?
Die Vermögensteuer, die Ihnen vorschwebt, ist eine
Substanzbesteuerung. Ihre Form der Besteuerung würde
dazu führen, dass ein Betrieb, der das Pech hat, im Großraum München angesiedelt zu sein, allein aufgrund seiner Flächenwerte Vermögensteuer zahlen müsste, während andere davon verschont blieben, obwohl beide am
gleichen Markt miteinander im Wettbewerb stehen. Auf
diese einfachen ökonomischen Fragen finden Sie keine
Antwort. Deshalb brauchen wir über Ihren Antrag nicht
seriös zu entscheiden. Man kann ihm nicht zustimmen,
wenn man Verantwortung für dieses Land tragen
möchte.
({3})
Es ist ein Antrag für die Einführung der Vermögensteuer, der eine Kriegserklärung an den deutschen Mittelstand und an die deutschen Personengesellschaften
darstellt. Er ist eine Kriegserklärung an all diejenigen,
die den Wohlstand erwirtschaften, den wir zur Finanzierung des Sozialstaates brauchen.
Ein Staat, der neben der Verteilungsgerechtigkeit
nicht auch immer die Belastungsgerechtigkeit im Blick
hat, kann auf Dauer kein sozialer Staat sein. Deswegen
lehnen wir Ihren Antrag ab.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Barbara Höll.
Sehr geehrter Herr Kollege Wissing, Herr Flosbach
hat vorhin gesagt, Vermögen sei die Voraussetzung für
bürgerliche Freiheit. Sie haben diese Auffassung bestätigt, indem Sie uns eine pure Neiddebatte unterstellen.
Ich halte noch einmal fest, was ich vorhin schon gesagt habe: Zwei Drittel aller Erwachsenen in Deutschland haben gar kein oder nur ein sehr geringes Vermögen. Das heißt, zwei Drittel sind nach Ihrer Auffassung
sowieso weit weg von Freiheit und Mitbestimmung.
So regiert diese Regierung: Sie praktiziert einen Lobbyismus zugunsten derjenigen, die viel Geld haben. Dabei geht es nicht um 1 Million oder 2 Millionen Euro,
sondern um viel größere Vermögen. Denn sonst könnten
diese Menschen nicht Zehntausende von Euro an Ihre
Partei spenden. Das sind diejenigen, die Politik machen.
Das zeichnet ein klares Bild von dem Zustand, in dem
sich unsere Demokratie leider befindet. Wir sind dagegen.
({0})
Ich kann nicht alle Ihre Fragen beantworten - das ist
nicht Sinn einer Kurzintervention -, aber ich will auf das
Stichwort „Kriegserklärung“ eingehen. Danach hätten
wir bis 1997 einen Kriegszustand gehabt. Bis dahin hatten wir nämlich eine Vermögensteuer, komischerweise
unter der Regierung Kohl und mit Ihnen als kleinem Koalitionspartner. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995
nicht festgestellt, dass die Vermögensteuer verfassungswidrig ist; es hat nur die Art und Weise der Erhebung bemängelt, weil es eine Ungleichbehandlung bzw. Bevorzugung von Immobilienvermögen gab.
Durch die Neuregelung der Erbschaftsteuer ist eine
Grundlage entstanden, auf der wir eine Neubestimmung
vornehmen und die von Ihnen genannten Probleme beheben werden können. Eine ernsthafte Diskussion über
die Ungleichverteilung von Vermögen in der Bundesrepublik Deutschland, die wir damit anstoßen, ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Ungleichverteilung bei
der Teilhabe am politischen Leben endlich wieder ändern kann und Menschen wieder ihre Rechte wahrnehmen, damit wir nicht zu einer Wahlbeteiligung von unter
50 Prozent kommen. Dass die Menschen denken, viele
seien sowieso gekauft und es habe keinen Sinn, zur Wahl
zu gehen, ist leider auch ein Nährboden für solche Entwicklungen, die wir alle nicht begrüßen können.
Deshalb ist die Verteilungsfrage eine immanent demokratische Frage. Wir haben Ihnen dazu einen sehr
fundierten Vorschlag vorgelegt. Es ist notwendig und es
lohnt sich, ihn zu diskutieren.
({1})
Kollege Wissing, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Frau
Kollegin Höll, es ist eine Zumutung, von einem fundierten Antrag zu sprechen, wenn Sie die zentralen Fragen,
die ich Ihnen in meiner Rede gestellt habe, nicht beantworten können. Sie führen eine reine Neiddebatte,
({0})
solange Sie nicht in der Lage sind, einen verfassungskonformen Antrag vorzulegen, der beispielsweise beantwortet, wie landwirtschaftliche Vermögen besteuert werden sollen. Sie lassen alle zentralen Fragen aus und
sprechen immer nur abstrakt von Millionären.
Glauben Sie ernsthaft, einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit in Deutschland leisten zu können, indem Sie Kapitalvermögen höher besteuern, als es Erträge bringt?
Das ist in Wirklichkeit eine Substanzbesteuerung. Sie
hätten in Ihrer Kurzintervention sagen können, was Sie
tatsächlich wollen. Sie wollen, dass die Menschen
schrittweise Kapital, das sie sich erarbeitet haben, an den
Staat abgeben. Das können Sie doch klar zum Ausdruck
bringen. Dann wissen wir, was Sie wirklich wollen.
Wir lehnen das ab. Dafür gibt es in Deutschland keine
Mehrheit. Das ist gut so. In Deutschland sind nicht mehr
Gerechtigkeit und bessere Lebensverhältnisse zu erreichen, wenn es allen gleich schlecht geht. Deswegen sind
Sie auf einem Irrweg.
({1})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was haben wir bisher erlebt?
Wir haben eine Linke erlebt, die wie wir und völlig zu
Recht die dramatisch weiter auseinandergehende Schere
zwischen Arm und Reich in Deutschland beklagt und anklagt, die mit ihrem Antrag zur Vermögensteuer selbst
aber mehr zum Problem als zur Problemlösung beiträgt,
weil er handwerklich einfach richtig schlecht ist.
({0})
Wir haben eine Koalition erlebt, die sich genüsslich
über die erheblichen ökonomischen und juristischen
Schwächen des Linkenantrages zur Vermögensteuer hermacht, um nicht über die erheblichen ökonomischen und
juristischen Schwächen ihrer eigenen, real existierenden
Gesetze zur Abgeltungsteuer, die heute ebenfalls Thema
sind, reden zu müssen.
Schließlich haben wir eine SPD erlebt, von der wir
aktuell vor allem wissen, dass sie sich noch immer in einem steuerpolitischen Programmrevisionsprozess befindet - mit offenem Ausgang.
Da ist noch viel Luft nach oben in dieser Debatte.
Heute wird es wohl nicht gelingen, alle Probleme zu lösen, aber ich möchte ein paar Denkanstöße geben. Worum geht es?
Ich zitiere einmal einen Kronzeugen aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren von der Koalition. Der
konservative Premierminister von Großbritannien,
David Cameron, hat gesagt - ich übersetze für Sie auf
Deutsch -:
({1})
„Im Herzen wissen wir alle, dass, solange tiefe Armut
neben großem Reichtum existiert, wir alle ärmer bleiben.“ - Recht hat der Mann.
({2})
Jetzt müssen Sie von der Koalition nicht gleich vom
Stuhl fallen. In der Tat hapert es bei Herrn Cameron
noch bei den Taten. Aber immerhin spricht er deutlich
aus, dass wachsende Ungleichheit ein ernstes gesellschaftliches Problem ist, dass sie nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden vieler verletzt, sondern dass sie auch
krank macht, dass wachsende Ungleichheit auch ein
wirtschaftliches Problem ist, weil sie zum Beispiel ein
treibender Faktor der Finanz- und Wirtschaftskrise geLisa Paus
wesen ist, und dass wachsender privater Reichtum bei
gleichzeitig wachsender öffentlicher Verschuldung das
Gemeinwesen in seinem Kern gefährdet. Daran sollten
Sie sich ein Beispiel nehmen, meine Damen und Herren
von der Koalition.
Aber wie sieht es bei Ihnen aus? - Egal ob CDU/CSU
oder FDP, Sie bekommen sofort Pickel, wenn zum Beispiel das Wort „Vermögensbesteuerung“ fällt. Sie schwadronieren - wie Sie, Herr Wissing, gerade noch einmal
gezeigt haben - gleich von Neiddebatten, wenn wir Grünen oder andere darüber reden, warum es angesichts der
dramatisch angestiegenen öffentlichen Verschuldung richtig und notwendig ist, dass die Reichen in diesem Lande
sich stärker als bisher an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
({3})
Sie von der FDP setzen sogar noch eins drauf.
Christian Lindner, Ihr Generalsekretär, hält in einem
Gastbeitrag im Tagesspiegel mit der Parole „Ungleichheit
ist besser“ dagegen. Nicht faul, setzen Sie diese Parole sogleich in den Haushaltsbeschlüssen um, indem Sie auf der
einen Seite Hoteliers, reiche Erben und Atomkonzerne
beschenken und auf der anderen Seite bei den Sozialausgaben, bei den Investitionen in die soziale und ökologische Infrastruktur - Stichwort „Soziale Stadt“, Stichwort
„CO2-Gebäudesanierungsprogramm“ - streichen.
({4})
Das DIW hat 2010 noch einmal festgestellt: Die Mittelschicht in Deutschland wird immer dünner, die Armen
in diesem Land werden immer ärmer und die Reichen
immer reicher. Wissenschaftler haben außerdem nachgewiesen, dass zumindest ein Drittel dieser Ungleichheit
von der Steuerpolitik verursacht wird. Daran können,
sollten und müssen wir etwas ändern.
({5})
Wir Grüne schlagen deshalb neben anderen wichtigen
steuerpolitischen Reformen wie der Abschaffung der Abgeltungsteuer vor, eine zeitlich befristete Vermögensabgabe einzuführen. Wir wollen damit die Kosten der Krise,
die aktuell auf gut 100 Milliarden Euro geschätzt werden,
finanzieren. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat für uns errechnet, dass diese Summe wegen
der bestehenden hohen Vermögenskonzentration bereits
in zehn Jahren zusammenkommen könnte, und zwar bei
einem Freibetrag von 2,5 Millionen Euro für Familien
mit zwei Kindern und einem Steuersatz von lediglich
1,4 Prozent. Von den 30 Millionen Steuerpflichtigen in
Deutschland würde das lediglich 340 000 Menschen betreffen. Das ist zumutbar und überfällig.
({6})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Letzter Satz, Herr Präsident.
Wir werden unser Konzept in den nächsten Wochen
mit Fachleuten aus Wirtschaft und Gesellschaft vertieft
erörtern und dann einen entsprechenden Antrag im Parlament einbringen. Freuen Sie sich schon jetzt darauf.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Peter Aumer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Paus, wir haben jetzt einen
Wettbewerb um die Einführung neuer Steuern - eine begrenzte Vermögensteuer und eine Finanztransaktionsteuer -, mit denen die Kosten der Krise bewältigt werden sollen. Ich glaube, das ist nicht der richtige Weg, den
Sie hier einschlagen. Wir stehen für eine nachhaltige
Politik, für eine Politik für die kommenden Generationen. Angela Merkel hat vor einiger Zeit in einer Regierungserklärung gesagt, dass unser Staat in den letzten
Jahrzehnten über die Verhältnisse gelebt hat. Angesichts
einer Staatsverschuldung von 1,8 Billionen Euro hat sie
recht. Für meine Generation und alle folgenden Generationen ist es wichtig, dass wir nicht über Gebühr mit
Steuern belastet werden und dass sich der Staat auf die
Dinge beschränkt, die wichtig und notwendig sind, um
die staatliche Existenz zu sichern und die Infrastruktur
aufrechtzuerhalten.
Wir diskutieren über zwei Anträge der Linken mit den
Titeln „Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitalerträge
wie Löhne besteuern“ und „Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder erheben“. Wir haben heute schon sehr
viel über den Wahlkampf gesprochen. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, das, was Sie machen, ist Wahlkampf pur. Ihnen geht es nicht darum, verlässliche Politik für unsere Bevölkerung zu machen.
({0})
Ihnen geht es nur um Populismus und darum, unser Land
in eine andere Richtung zu lenken. Das wollen wir nicht.
({1})
Wie meine Vorredner schon gesagt haben, wollen wir
keine Neiddebatte, sondern eine verlässliche Politik für
die Menschen in unserem Land. Sie von der Linken bekennen sich ganz klar zur Einführung des Kommunismus.
({2})
- Ihre Parteivorsitzende hat das ganz klar gefordert. Sie
wollen in der Folge wahrscheinlich auch den real existierenden Sozialismus.
({3})
In Deutschland wurde bewiesen, dass das nicht geht,
dass das nicht zukunftsfähig ist.
Wir halten an der sozialen Marktwirtschaft fest.
({4})
Wir wollen das, was unser Land in den letzten 60 Jahren
stark gemacht hat, in eine gute Zukunft führen. Es liegt
an uns, die sozialen Leitplanken in der sozialen Marktwirtschaft einzuziehen. Wir sind dabei, aus der Krise zu
lernen und die Konsequenzen zu ziehen. Wir wollen auf
dem Kapitalmarkt neue Wege gehen und neue Instrumente einsetzen, sodass auch der soziale Anspruch in
unserem Wirtschaftssystem erfüllt werden kann. Das ist
der Anspruch, den wir von der Union an das Wirtschaftssystem stellen.
({5})
Es geht um ein gutes Miteinander in unserer Gesellschaft. Dazu trägt die heutige Debatte nicht bei; denn Sie
wollen nicht das, was unsere soziale Marktwirtschaft
stark gemacht hat.
({6})
Wir wollen die Anerkennung des privaten Eigentums.
Wir wollen Vertragsfreiheit. Weitere wesentliche Pfeiler
sind freier Wettbewerb, offene Märkte und eine stabile
Währung. Angela Merkel hat in den letzten beiden Tagen in Brüssel zugunsten einer stabilen Währung verhandelt.
({7})
Wer das nicht will, der steht für das, was die DDR in
wirtschaftspolitischer Hinsicht falsch gemacht hat.
Volkseigentum in der Hand von Parteifunktionären stand
dort an oberster Stelle, genauso wie Beschränkungen bei
Konsumentscheidungen und der Eingriff des Staates in
den Wettbewerb.
({8})
All diese Dinge bringen unser Land im internationalen
Wettbewerb nicht weiter.
({9})
Wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir wollen
kein anderes Denken, sondern eine moderne soziale
Marktwirtschaft, die uns in eine gute Zukunft führt.
({10})
Die Erfolge der sozialen Marktwirtschaft haben Deutschland in den letzten Jahrzehnten starkgemacht. Wir wollen,
dass sich das auch in unserer Gesellschaft widerspiegelt.
Die Leistungsfähigkeit ist der Maßstab unseres Steuersystems. Das Leistungsfähigkeitsprinzip der Besteuerung
spiegelt sich in unserem Steuersystem wider. Sicherlich
- da gebe ich Ihnen recht - gibt es Unwuchten im Steuersystem. Gerade bei der Besteuerung der Leistungsträger
in unserer Gesellschaft, bei den jungen Familien, die einigermaßen gut verdienen, schlägt der Spitzensteuersatz
voll zu. Deswegen wollen wir von der Union die kalte
Progression abmildern. Wir wollen auch den Mittelstandsbauch verringern. Die sozialen Aspekte müssen
sich in unserer Steuerpolitik widerspiegeln.
({11})
In Ihrem Antrag schreiben Sie, es sei ein Gebot der
Gerechtigkeit und ein Gebot zur Bewältigung der Krise,
die Vermögensteuer einzuführen. Meine sehr geehrten
Damen und Herren der Linken, Sie haben wahrscheinlich noch nicht bemerkt, dass wir die Krise schon längst
bewältigt haben.
({12})
Wir in Deutschland haben eine Wirtschaftsentwicklung,
an der sich andere Länder in Europa ein Beispiel nehmen
können. Das liegt vor allem daran, dass es einen Schulterschluss der Bevölkerung, insbesondere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Politik und der
Wirtschaft gegeben hat, um Verantwortung für das Allgemeinwohl zu übernehmen. Ihr Vorschlag, meine sehr
geehrten Damen und Herren der Linken, eine Vermögensteuer zu erheben, ist populistisch und irreal.
({13})
In fünf Sätzen legen Sie Ihre steuerpolitischen Vorschläge dar. Sie wollen Vermögen von über 1 Million
Euro mit einer Millionärsteuer belegen. Herr Kollege
Flosbach hat vorhin gesagt, wann man nach Ihren Vorstellungen schon Millionär wäre. Das kann nicht sein.
Das ist kein Weg zu einer sozialen und gerechten Steuerpolitik, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken.
({14})
- Ich bin heute im Dialog mit Ihnen und muss mich mit
Ihnen auseinandersetzen. - Peer Steinbrück hat in einer
seiner Reden gesagt, wie hoch die Einnahmen aus der
Vermögensteuer 1996, als sie zum letzten Mal erhoben
worden ist, waren. Sie betrugen 4,5 Milliarden Euro.
({15})
Sie sprechen von über 100 Milliarden Euro. Das ist irreal.
({16})
Das hat nichts mit der Höhe des Steuersatzes zu tun. Das
hat etwas mit Realismus zu tun. Wir sind von den Menschen gewählt worden, um realistische Politik zu betreiben. Die Menschen vertrauen darauf, dass wir eine soziale und gerechte Politik machen.
({17})
Diese Politik besteuert nach Leistungsfähigkeit.
Auch bei der Abgeltungsteuer verkennen Sie die Realitäten. Wir leben in einer Zeit der globalen FinanzPeter Aumer
märkte, in der es keine Grenzen gibt. Die deutsche Steuergesetzgebung muss darauf Rücksicht nehmen, wie sich
Menschen in unserem Land, die Kapital besitzen, verhalten. Deswegen war es richtig, dass man seinerzeit die
Abgeltungsteuer eingeführt hat. Auch ich finde es nicht
unbedingt gerecht, wenn auf Kapitaleinkünfte nur
25 Prozent Steuern bezahlt werden müssen, auf alle anderen Einkünfte gegebenenfalls mehr. Aber bevor Kapitalbesitzer überhaupt nichts zahlen, ist es mir lieber,
wenn sie 25 Prozent zahlen.
({18})
Sie kennen doch die Zahlen und wissen, wie viele Milliarden Euro in das Ausland geflossen sind. Leugnen Sie
doch nicht die Tatsachen. Das war so, das ist so, und das
wird so bleiben. Wir haben gemeinsam mit der SPD die
Abgeltungsteuer eingeführt, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Es ist die Aufgabe des Staates, seine
Lenkungsfunktion wahrzunehmen.
({19})
Ihre Überzeugung, meine sehr geehrten Damen und
Herren der Linken, spiegelt die Vergangenheit wider.
Wir stehen für die Zukunft. Die Menschen haben uns in
diesem Land gewählt und uns die Verantwortung übertragen, damit wir dieses Land in eine gute Zukunft führen. Wir wollen das mit einer starken sozialen Marktwirtschaft, mit einer Marktwirtschaft, die den Menschen
in unserem Land Zukunftschancen bietet, die Arbeit
schafft, die Bildung als oberste Priorität hat und vor allem die Chancengerechtigkeit als oberstes Ziel betrachtet. Wir als christlich-liberale Koalition sind an der Regierung, weil die Menschen uns das zugetraut haben.
Wir arbeiten in dieser Legislaturperiode für dieses Ziel.
Wir bitten Sie: Machen Sie konstruktive Vorschläge, arbeiten Sie mit an der Gestaltung der Zukunft, aber verharren Sie nicht in der Vergangenheit! Wir lehnen Ihren
Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat nun Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Vermögensteuer zählt zu den ältesten Steuern der Welt.
Schon in Babylonien und im alten Ägypten hat es Abgaben auf das Vermögen gegeben.
({0})
Die Steuern dienten damals allerdings hauptsächlich der
Kriegsfinanzierung. Vieles hat sich seitdem geändert, einiges ist gleichgeblieben, zum Beispiel die Forderung
nach mehr Steuergerechtigkeit. Unser Steuersystem
muss gerechter werden. Dazu gehört nach Auffassung
der Sozialdemokraten eine Vermögensteuer.
({1})
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland ist
ungerecht. Das obere Zehntel in Deutschland besitzt
circa 61 Prozent des gesamten Vermögens. Der Anteil
der vermögensbezogenen Steuern in Deutschland am
Bruttoinlandsprodukt beträgt ungefähr 0,9 Prozent. Damit ist deren Anteil am gesamten Steueraufkommen im
internationalen Vergleich deutlich geringer als in anderen Staaten.
Lieber Kollege Aumer, das hat nichts mit einer Neiddebatte zu tun, sondern das bedeutet, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen. Das ist die wichtigste Voraussetzung, um eine vernünftige Politik machen zu
können.
({2})
Die Struktur des Steueraufkommens in Deutschland
ist zu stark am Lohneinkommen ausgerichtet. Dies hat
auch wirtschaftspolitische Konsequenzen. Es bedeutet,
dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu gering ist.
Sie zu steigern, ist auch ein Gebot der wirtschaftlichen
Vernunft.
Eine Vermögensteuer ist wirtschaftspolitisch richtig,
und sie ist ein Gebot sozialer Gerechtigkeit.
({3})
Wir brauchen sie, um den Staat handlungsfähig zu halten. Eine Vermögensteuer steht den Ländern zu. Viele
Bundesländer haben erhebliche Liquiditätsprobleme; einige bewegen sich fast am Rande der Insolvenz.
({4})
Liebe Kollegin Höll, das hat natürlich auch etwas mit
den Kommunen zu tun. Ich komme aus Wuppertal. Ich
will jetzt keine Ost-West-Debatte aufmachen, aber doch
anmerken: Wir zahlen pro Jahr 25 Millionen Euro in
Richtung neue Bundesländer
({5})
- gerne - und müssen das alles mit Krediten finanzieren. - Das aber nur am Rande.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuelle Situation erinnert mich fatal an eine Diskussion, die wir in
den 70er-Jahren unter der Überschrift „Privater Reichtum - öffentliche Armut“ geführt haben. Das Gebot der
sozialen Gerechtigkeit und die ökonomische Vernunft
sprechen für eine Vermögensteuer in Deutschland.
Werfen wir doch einen kurzen Blick auf die Steuerpolitik von Schwarz-Gelb! Sie beschließen Steuergeschenke für Hoteliers, reiche Erben und große Unternehmen in Höhe von 5,6 Milliarden Euro. Das ist eine reine
Klientelpolitik.
({6})
Sie diskutieren weiter über mögliche Steuersenkungen,
ohne die Konsequenzen für Länder und Kommunen zu
bedenken. Sie versuchen, sich mit fadenscheinigen Argumenten der Einführung einer Vermögensteuer zu widersetzen.
({7})
Lassen Sie mich festhalten: Eine Vermögensteuer in
Deutschland ist verfassungsrechtlich selbstverständlich
möglich; überhaupt kein Problem.
({8})
Die ungerechtfertigte Besserbehandlung von Immobilien
gegenüber anderen Vermögensteilen muss aufgehoben
werden.
({9})
Das ist mit der Reform der Erbschaftsteuer wirklich
möglich. Das ist kein Problem. Lieber Herr Wissing,
schauen Sie sich das doch einfach einmal an! Die Bewertungsprobleme sind lösbar.
Herr Kollege Flosbach, auch vor 1997 war die Bundesrepublik Deutschland keine Wüste. Es hat Vermieter
gegeben, es hat Häuser gegeben, es hat Mieter gegeben,
es hat den Mittelstand gegeben,
({10})
und es hat eine Vermögensteuer gegeben.
({11})
Erzählen Sie uns hier also bitte nicht solche Märchen!
({12})
Warum können wir jetzt dem Antrag der Linken nicht
zustimmen? Der Kollege hat eben schon einiges dazu
gesagt. Sie verstehen die Vermögensteuer praktisch als
konfiskatorische Steuer. Ein Steuersatz von 5 Prozent
bedeutet wirklich eine Politik mit dem Vorschlaghammer.
({13})
Eine solche Substanzbesteuerung ist nicht akzeptabel.
Deswegen haben wir Sozialdemokraten ein realistisches Gesamtkonzept für mehr Steuergerechtigkeit gegenüber den Besserverdienenden in dieser Republik vorgelegt. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode
die Reichensteuer eingeführt, und wir fordern neben der
Vermögensteuer eine Anhebung des Spitzensteuersatzes
von 42 Prozent auf 49 Prozent. Dies ist ein guter Schritt
insgesamt in Richtung mehr Steuergerechtigkeit. Dies ist
ein Gesamtkonzept.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Daniel Volk für die FDPFraktion.
({0})
Ich danke Ihnen. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Sie hier und an den Bildschirmen die Debatte verfolgen! Es ist sehr erhellend, eine solche Debatte über die
Steuerpolitik zu führen; denn man sieht: Die Opposition
ist sich einig. Es wird ein Strauß von Steuererhöhungen
vorgeschlagen. Man ist sich nur noch nicht ganz einig
darüber, in welcher prozentualen Höhe. Aber man ist
sich einig darüber: Vermögensabgabe, Vermögensteuer
usw. usf. Es wird hier insgesamt das Lied der weiteren
Steuererhöhungen gesungen.
Es interessiert die Opposition offenbar überhaupt
nicht, dass wir ohnehin schon eine absolut überzogene
Steuerbelastung in Deutschland haben. Die Opposition
malt hier auch das Bild, dass nur durch Steuererhöhungen die öffentlichen Haushalte saniert werden könnten.
Dem möchte ich doch mal ganz deutlich widersprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
Deutschland in einem sehr großen Bundesland einen gerichtlich festgestellten Verfassungsbruch in der Haushaltspolitik. Dieses Bundesland ist Nordrhein-Westfalen.
({0})
Nordrhein-Westfalen hat nach dem Regierungswechsel
und der damit verbundenen Regierungsübernahme durch
Rot-Grün, geduldet durch die dunkelrote Linkspartei, einen verfassungswidrigen Landeshaushalt vorgelegt,
({1})
und zwar deswegen verfassungswidrig, weil die Neuverschuldung so rasant angestiegen ist. Die Begründung
dieser Landesregierung dafür lautete, es sei das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört. Während in ganz
Deutschland aufgrund der Finanz-, Wirtschafts- und
Steuerpolitik der schwarz-gelben Koalition
({2})
die Wirtschaft wächst und die Steuereinnahmen ansteigen, ist in Nordrhein-Westfalen das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört. - Es kann nur an der dortigen
Landesregierung liegen, dass dort dieses Gleichgewicht
gestört ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Paus?
Ich möchte gerne fortfahren.
({0})
Ich möchte Ihnen nur einen zusätzlichen Hinweis geben: Sie werden durch nominale Steuererhöhung - durch
die Einführung neuer Steuern - nicht die Gesamtsteuereinnahmen des Staates erhöhen, vielmehr werden Sie damit ein Sinken der Gesamtsteuereinnahmen in absoluten
Zahlen verursachen.
({1})
Das liegt einerseits daran, dass eine weitere Steuererhöhung die Wirtschaft insgesamt eben nicht wachsen lässt.
Nur eine wachsende Wirtschaft kann auch zu einer Erhöhung der Gesamtsteuereinnahmen führen.
({2})
Andererseits werden Sie beobachten können, dass,
wenn Sie eine substanzreduzierende Vermögensteuer
einführen, die Vermögen Deutschland verlassen werden.
({3})
Das wäre übrigens auch ein Weg der Angleichung der
Vermögen in Deutschland, allerdings nicht nach oben,
sondern nach unten. Es würden dann nur noch wenige
vermögende Personen in Deutschland bleiben, alle anderen würden dieses Land verlassen haben.
({4})
Dann werden Sie Ihr Ziel erreicht haben: Es geht allen
gleich, und zwar allen gleich schlecht. Und das kann
nicht Sinn und Zweck einer verantwortungsvollen Wirtschafts- und Steuerpolitik in diesem Land sein.
({5})
Die schwarz-gelbe Koalition hat gezeigt, wie man die
Wirtschaft gerade auch in Krisenzeiten durch eine Steuerentlastungspolitik insgesamt voranbringt, eine solide
Haushaltspolitik betreibt und damit auch der generationengerechten Verantwortung, nämlich durch den Abbau
der Verschuldung, Rechnung trägt.
Die schwarz-gelbe Regierung hat zum 1. Januar 2010
eine Steuerentlastung allein der Familien in Höhe von
4,6 Milliarden Euro vorgenommen.
({6})
Des Weiteren wurden für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer Steuerentlastungen vorgenommen, die
sich auf insgesamt mehr als 20 Milliarden Euro summieren. Gleichzeitig hat der Bundesfinanzminister die mittel- und langfristige Finanzplanung des ehemaligen
SPD-Finanzministers bezüglich der Neuverschuldung
halbiert:
({7})
Die Neuverschuldung, die Peer Steinbrück noch für das
Jahr 2010 vorgesehen hatte, betrug mehr als 80 Milliarden Euro; dagegen wurde die Neuverschuldung im
schwarz-gelben Bundeshaushalt 2010 auf 40 Milliarden
Euro gesenkt.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine
vernünftige Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik für
Deutschland. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich diesem
Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik anzuschließen.
({9})
Das Wort hat nun Michael Schlecht für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
spannende Frage ist, ob wir uns weiterhin den Luxus
leisten können, dass die Reichen und Vermögenden immer reicher werden, oder nicht. Ich sage Ihnen klipp und
klar: Diesen Luxus kann man sich deshalb nicht mehr
leisten - ich sage das nicht, weil ich einen Neidkomplex
hätte -, weil auf der anderen Seite der Einkommensskala
in unserem Land große Not herrscht und weil im Bereich
von Erziehung und Bildung - das wird ja in allen Diskussionen anerkannt - riesige Missstände herrschen.
Diesen nur mit strukturellen Maßnahmen zu begegnen,
reicht nicht aus, sondern hierfür muss man richtig viel
Geld in die Hand nehmen. Um allein im Bereich Erziehung und Bildung in Deutschland auf einen vernünftigen
Stand zu kommen, der uns vielleicht der Weltspitze näher bringt, brauchen wir jedes Jahr Mehrausgaben in
Höhe von 20 bis 30 Milliarden Euro.
Wir gehen davon aus, dass wir in dem Bundesland, aus
dem ich komme, in Baden-Württemberg, jedes Jahr ungefähr 3 Milliarden Euro mehr benötigen, um vernünftige
Bildung zu ermöglichen. In Baden-Württemberg besteht
das Problem, dass der CDU-Ministerpräsident, der berühmte Atom-Mappus, in der Bildungspolitik abbauen
will: Er will in den nächsten Jahren - vorausgesetzt, er
bleibt an der Macht - 6 500 Lehrerstellen abbauen. Das
wollen wir nicht. Wir wollen eher 6 500 Lehrerstellen in
Baden-Württemberg schaffen.
({0})
Nur, das kostet Geld. Deshalb sagen wir: Dieses Geld
sollen die Reichen und Vermögenden in diesem Lande
aufbringen; denn die können es am leichtesten erübri11508
gen. Wir wollen eine Millionärsteuer. Wir wollen mit der
Millionärsteuer auf Bundesebene 80 Milliarden Euro
mehr einnehmen.
({1})
Das können die locker bezahlen. Wir sind ja sogar großzügig und lassen ihnen einen Freibetrag in Höhe von 1
Million Euro.
Mit dieser Millionärsteuer hätte Baden-Württemberg
Steuermehreinnahmen in Höhe von 10 Milliarden Euro.
({2})
Mit diesen 10 Milliarden Euro könnten wir locker die
3 Milliarden Euro, die wir für Erziehung und Bildung
benötigen, finanzieren.
({3})
Wir könnten darüber hinaus in Baden-Württemberg mit
diesen Mehrerträgnissen problemlos einen starken Aufwuchs bei den erneuerbaren Energien finanzieren, der
notwendig ist, damit wir in Baden-Württemberg innerhalb sehr kurzer Zeit aus der Atomenergie aussteigen
können.
({4})
Es gibt im Übrigen auch bei den Grünen in BadenWürttemberg seit kurzem einen Gesinnungswandel. Der
Kandidat Kretschmann sagt, er sei dafür, sich bis 2018
bzw. 2019 eher noch mehr zu verschulden, um erneuerbare Energien aufzubauen. Dafür bin ich gar nicht. Ich
bin vielmehr dafür, Reiche und Vermögende durch eine
Millionärsteuer massiv zu besteuern, damit gerade in
Baden-Württemberg, aber auch in anderen Bundesländern der Haushalt konsolidiert werden kann und darüber
hinaus auch massiv in Erziehung und Bildung sowie in
den Ausbau erneuerbarer Energien und in Energieeinsparmaßnahmen investiert werden kann. Damit kann unser Land vorangebracht werden.
Es ist ja so - das wissen viele wahrscheinlich gar
nicht -, dass die Millionärsteuer eine Landessteuer ist.
Sie wäre ein gutes Instrument, um den desolaten Zustand
der Finanzen in den Ländern zu beenden und damit die
Länder in die Lage zu versetzen, die ihnen obliegenden
wichtigen Aufgaben der Daseinsvorsorge gerade auch
im Bereich von Erziehung und Bildung ohne Verschuldung sauber durchzufinanzieren. Deshalb ist die Millionärsteuer eine zentrale Aufgabe.
Dass SPD und Grüne unserem Antrag nach wie vor
reserviert gegenüberstehen, halte ich für sehr bedenklich.
({5})
Ich habe aber nicht die Hoffnung aufgegeben, dass auch
hier eines Tages ein Umdenken einsetzt
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- einen Satz noch - und ein entscheidender Fortschritt
erreicht werden kann, jetzt am Sonntag in BadenWürttemberg durch die Abwahl von Mappus, ({0})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- und weitere Fortschritte in den folgenden Jahren.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man gegen einen Vorschlag ist, sollte man sich
auch überlegen, welche Alternativen es gibt.
({0})
Wir haben deswegen die Einführung einer Vermögensabgabe vorgeschlagen, weil wir wissen, dass der Riesenberg Schulden, den Deutschland in der Finanzkrise angehäuft hat, irgendwie abgetragen werden muss.
Wenn Sie nicht erklären, wer das tragen soll, wird es
genauso geschehen wie bei der Wiedervereinigung: Sie
werden es über große Staatsverschuldung in die Zukunft
schieben und unser Land für die Zukunft stark belasten.
Letztendlich müssen es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über die Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Das wollen wir nicht. Geben Sie einmal zu, wer denn bei
Ihrer Politik die Lasten tragen wird. Dann wird das Unsoziale Ihrer Politik erst richtig deutlich.
({1})
Herr Volk, ich finde, Lautstärke sollte Wahrheit nicht
ersetzen. Sie reden groß von Steuersenkungen. Sagen
Sie doch einmal dazu, dass auch unter Ihrer Regierungsbeteiligung Steuern erhöht worden sind. Hier nenne ich
nur die Kernbrennstoffsteuer, die Luftverkehrsabgabe
und die Tabaksteuer.
({2})
Machen Sie den Menschen doch nicht immer vor, es
gäbe in der Steuerpolitik nur eine Richtung.
({3})
Auch wenn Wahlkampf ist, sollte die Wahrheit bei Ihren Reden nicht ständig unter die Räder kommen.
({4})
Der Sachverständigenrat hat das Kapitel zur Abgeltungsteuer in seinem Gutachten 2008/2009 mit den Worten „Nach der Reform ist vor der Reform“ überschrieben,
und zwar aus folgendem Grund: Diese Abgeltungsteuer
hat so, wie sie eingeführt worden ist, massive Probleme
verursacht. Das muss man einfach auch einmal zur
Kenntnis nehmen.
Es ist schon interessant, dass Sie zu der Frage, was
Sie in diesem Bereich eigentlich machen wollen, heute
nichts gesagt haben - gar nichts.
({5})
Ich zitiere das manager magazin, das ja nicht gerade
als linksradikales Kampfblatt bekannt ist:
Die seit 2009 geltende Abgeltungsteuer sorgt nicht
nur für mehr Ärger und Bürokratie bei der Mehrzahl der Steuerzahler, sondern auch für weniger
Einnahmen für den Staat. Sie ist ein Rohrkrepierer.
Weiter heißt es dort:
Die Abgeltungsteuer ist … ein riesiges Steuergeschenk für sehr vermögende Bürger.
Das muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Es war ein Fehler, sie einzuführen, und zwar aus mehreren Gründen.
Erstens wurde versprochen: Die Abgeltungsteuer hilft
uns im Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Fakt ist:
Dass der Steuerverwaltung über die anonymisierte Vereinnahmung der Kapitalerträge ein wichtiges Indiz fehlt,
macht es schwieriger, Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das Gegenteil dessen, was bei der Einführung gesagt wurde, ist der Fall.
({6})
Zweitens wurde gesagt: Das Ganze wird einfacher. Das stimmt nicht. Die Bundesregierung hat auch auf
eine Anfrage meiner Kollegin Lisa Paus erklärt: Nur für
wenige Leute ist es komplizierter geworden. - Nach
Aussage des Sachverständigenrats haben es aber über
die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger durch die Abgeltungsteuer komplizierter und nicht einfacher. Das Gegenteil dessen, was erreicht werden sollte, ist erreicht
worden.
Da muss man sich einfach einmal sagen: Das war
nichts. Das war ein Fehler, den man korrigieren muss.
({7})
Drittens ist es ein typischer Steinbrück gewesen: guter
Spruch, schlechte Substanz. Es stimmt einfach nicht, dass
die Einnahmen größer geworden sind. Im Endeffekt sind
sie gesunken. Das war auch schon bei der Einführung
klar. Der Finanzminister hat mit dem schönen Spruch
„Lieber 25 Prozent von X als 45 Prozent von garnix“ behauptet: Die Einnahmen werden steigen. - Gleichzeitig
war in dem Finanztableau schon enthalten, dass die Einnahmen sinken werden.
Die Gründe sind genau die von mir genannten: Die
Abgeltungsteuer brachte nicht nur an vielen Stellen eine
Verkomplizierung mit sich, sondern war auch ein Steuergeschenk für sehr Vermögende.
Vor diesem Hintergrund muss man einfach einmal
konstatieren - ich nehme wahr, dass die Sozialdemokraten auf diesem Weg sind -: Es war ein Fehler, die Abgeltungsteuer einzuführen. Dieser Fehler muss korrigiert
werden.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Christian Freiherr von
Stetten für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist in dieser Debatte schon erwähnt worden - die Medien
haben Anfang dieses Jahres auch sehr ausführlich darüber berichtet -, dass es in der Linksfraktion eine neue
Kommunismusdebatte gibt.
Nach meiner persönlichen Meinung haben Sie sich
zwar nie aufrichtig vom Kommunismus distanziert.
({0})
Aber wenn es noch eines Beweises bedarf, dass der
Kommunismus wieder in Ihrer Partei angekommen ist,
dann sollte man ruhig Ihren heutigen Antrag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer lesen; denn darin steht einiges, was dem sehr nahe kommt.
({1})
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir von der
CDU/CSU-Fraktion sind der Auffassung, dass starke
Schultern mehr tragen müssen als schwache. Das, was
Sie heute hier durchsetzen wollen, kommt aber - das haben alle Redner unserer Koalition deutlich gemacht,
glaube ich - einer Enteignung der Bürger nahe. Das ist
doch sehr nah am Kommunismus, liebe Kollegen.
({2})
Sie fordern heute allen Ernstes, nach Abzug eines
Freibetrages eine Steuer von 5 Prozent auf das gesamte
private Geldvermögen, auf die Verkehrswerte aller privaten Immobilien und Sachvermögen zu erheben. Das
heißt: Wenn ein Familienvater über den Freibetrag hinaus eine Eigentumswohnung besitzt, in der er mit seiner Familie und seinen Kindern wohnt, wird er nach Ihrem Vorschlag nach spätestens 20 Jahren enteignet. Es
kann doch nicht der Sinn und Zweck Ihres Gesetzes sein,
Wohnungen nach spätestens 20 Jahren staatlich einzuziehen; das ist doch absurd.
({3})
Wir legen Wert darauf, festzustellen, dass das nicht
nur die Wohnungseigentümer betrifft. Nicht dass Sie hier
nachher als Robin Hood der Wohnungsmieterverbände
auftreten: Sie treffen damit auch die Wohnungsmieter.
Gerade die Mieterverbände müssen ein Interesse daran
haben, dass Sie sich heute nicht durchsetzen. Überlegen
Sie einmal, welche Folgen es auf dem deutschen Wohnungsmarkt hätte, wenn wir heute eine Vermögensteuer
von 5 Prozent auf Immobilien beschließen würden. Nehmen wir hier das Beispiel eines vielleicht von Ihnen
nicht geliebten, aber sehr vermögenden Immobilienbesitzers, der heute mit seiner Immobilie eine Rendite von
4 Prozent erreicht: Er müsste, nachdem er seine Ertragsteuer an das Finanzamt überwiesen hat, auch noch eine
Substanzsteuer von 5 Prozent auf den Verkehrswert der
Immobilien zahlen.
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich möchte jetzt
nicht so weit gehen wie der Vorsitzende des Finanzausschusses, der den Verdacht geäußert hat, dass Sie bei der
Formulierung des Antrages völlig besoffen waren. Sie
sollten aber den Referenten, der Ihnen das aufgeschrieben hat, zumindest einmal überprüfen.
({4})
Nehmen wir einmal an, dass Sie wirklich ernst meinen, was Sie uns zur Abstimmung stellen. Im Falle der
Einführung einer solchen Steuer würde der Immobilienbesitzer versuchen - das ist völlig klar -, seine Immobilie zu verkaufen. Das Problem wäre nur: Er würde keinen Käufer finden, der ihm diese Immobilie abkauft;
denn wer kauft schon eine Immobilie, die eine Rendite
von 4 Prozent abwirft, wenn er 5 Prozent Substanzsteuer
zahlen muss. Die Substanzsteuer in Höhe von 5 Prozent
muss der Immobilienbesitzer übrigens auch dann zahlen,
wenn er gar keinen Mieter hat oder die Wohnung gerade
renoviert wird. Was wird er also machen, wenn er niemanden hat, der ihm die Wohnung abkauft? Er wird die
zusätzlichen Kosten auf den Mieter übertragen.
Hier müssen wir wissen, worüber wir reden: Eine zusätzliche Belastung von 5 Prozent des Verkehrswertes
würde bei uns in der Bundesrepublik Deutschland eine
glatte Verdopplung der Miete bedeuten. Das heißt, die
Familie, die heute 300 Euro im Monat zahlen muss,
müsste dann 600 Euro im Monat zahlen; die Familie, die
heute 500 Euro zahlen muss, müsste dann 1 000 Euro
Miete berappen. Das ist nicht die Sozialpolitik, die wir
uns vorstellen. Sie von der Linken sollten sich schämen,
hier solche Anträge einzubringen. Wir wollen, dass in
Deutschland auch in Zukunft billiger Wohnraum zur
Verfügung steht.
({5})
- Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen.
Die Vorschläge, die Sie hier vorlegen, sind so weit am
Thema vorbei, dass sogar die Kolleginnen und Kollegen
von der SPD und den Grünen, die mit einer privaten Vermögensteuer inhaltlich sympathisieren, diesen Antrag
im federführenden Finanzausschuss abgelehnt haben.
Diese Maßnahme ist konjunkturpolitisch völlig falsch:
Sie fördert nicht private Investitionen im Wohnungsbau,
sondern verhindert sie. Wir werden sie heute mit einem
klaren Nein verhindern.
Meine Damen und Herren, vorhin wurde vom Kollegen der Linken angesprochen, über welches Volumen
wir reden: Sie reden von „Steuermehreinnahmen in
Höhe von 10 Milliarden Euro“ allein in Baden-Württemberg und von insgesamt 80 Milliarden Euro in der Bundesrepublik Deutschland, und das nicht einmalig, sondern jährlich. Da frage ich mich schon, in welchem Land
Sie leben bzw. in welches Land Sie uns führen wollen.
Sie zeigen mit dem Antrag wieder deutlich: Sie betreiben die Politik des Neides und des Klassenkampfes. Seit
heute wissen wir: Sie betreiben auch die Politik der Enteignung.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schlecht?
Gerne.
Ich finde Ihre Ausführungen interessant. Ich habe vorhin gesagt, dass man sich den Luxus leisten könnte, den
Reichen ihren Reichtum zu lassen, wenn es keine Probleme gäbe. Nur können wir uns diesen Luxus nicht leisten. Das gilt auch für Baden-Württemberg; ich habe es Ihnen eben aufgezeigt. Mappus will natürlich nicht die
Reichen besteuern, sondern massive Einsparungen im
Bildungsbereich vornehmen: Er will 6 500 Lehrerstellen
streichen. Wollen Sie das wirklich verantworten? Wie
passt das zu den Sonntagsreden, die auch von Politikern
der CDU/CSU gehalten werden, dass man mehr für Bildung tun muss? Wie passt das zusammen? Das ist doch
ein vollkommen abenteuerlicher Kurs.
Ich frage mich manchmal wirklich, ob die in den letzten Jahren erfolgten Großspenden in Höhe von 30 Millionen Euro an die Parteien der Regierungskoalition Ihre
Gehirne so vernebelt haben, dass Sie nur noch Besitzansprüchen das Wort reden und die Interessen der breiten
Bevölkerung mit Füßen treten.
({0})
Ihre Frage macht deutlich, dass es höchste Zeit ist,
dass der Wahlkampf zu Ende geht. Dann müssen wir uns
solche Zwischenfragen auch nicht mehr gefallen lassen.
Aber gerade Baden-Württemberg - das werden Sie sicherlich verstehen - hat unheimlich viel Geld in die Bildungspolitik investiert. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: Ich bin Berichterstatter der Regierungsfraktionen zu
diesem Gesetzentwurf. Sie haben Ihren Antrag vor gut
13 Monaten in den Bundestag eingebracht. Wenn es Ihnen wirklich um die inhaltliche politische Diskussion gegangen wäre, hätten Sie in diesen 13 Monaten wenigstens einmal zum Telefonhörer greifen und einen von uns
anrufen können, um die inhaltlichen Punkte zu diskutieren.
({0})
Aber Sie haben kein einziges persönliches Gespräch geführt. Auch mit dieser Zwischenfrage machen Sie deutlich, dass es Ihnen nur um den Wahlkampf gegangen ist.
- Jetzt dürfen Sie sich gerne wieder setzen. Danke
schön.
({1})
Sie haben vorhin in Ihrer Rede deutlich gemacht, dass
Sie wollen, dass auf die privaten Geldvermögen, Immobilienvermögen und Sachvermögen 5 Prozent Steuern
erhoben werden. Sie haben uns allerdings bis heute nicht
erklärt: Was passiert mit dem Betriebsvermögen oder
mit dem landwirtschaftlichen Vermögen, vor allem vor
dem Hintergrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils
zur Erbschaftsteuer? Nach diesem Urteil würde Ihr Antrag, selbst wenn wir ihn beschließen würden, vor dem
Bundesverfassungsgericht ganz sicher nicht bestehen,
weil Sie zu diesen Vermögensarten überhaupt keine Ausführungen machen.
Aber, liebe Kollegen von den Linken, eines muss man
euch zumindest zugutehalten:
({2})
Ihr habt einen Antrag zu dem Thema eingebracht. Der ist
aus meiner Sicht zwar völlig falsch, aber er zeigt, dass
Sie wenigstens einen Standpunkt haben - ganz im Gegensatz zu den Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen.
({3})
Sie haben zwar zahlreiche Parteitagsbeschlüsse gefasst,
und Sie haben auch in allen Reden heute deutlich gemacht, dass Sie zu dem Thema eine Meinung haben und
diese auch kundtun wollen. Aber auch Sie haben hier in
den letzten 13 Monaten - spätestens seitdem wissen Sie,
dass wir über dieses Thema im Bundestag eine Debatte
führen bzw. darüber abstimmen müssen - keinen Antrag
eingebracht. Das ist bezeichnend.
({4})
- Wir hätten dem Antrag ganz sicher nicht zugestimmt.
({5})
Aber die Bevölkerung hätte Ihre Auffassung zu diesem
Thema kennenlernen können. Beschlüsse für die Bundesrepublik Deutschland werden nicht auf Ihren Parteitagen getroffen, sondern hier im Deutschen Bundestag,
und das ist auch gut so.
Auch beim Thema Steuervereinfachungen, das heute
noch im Bundestag zu behandeln ist, haben Sie nicht viel
anzubieten. Die Bundesregierung bringt dazu heute einen Gesetzentwurf ein.
({6})
Allerdings haben wir bereits in der internen Abstimmung mit Ihren rot-grün regierten Bundesländern gemerkt, dass keine besondere Steuervereinfachungseuphorie und nicht einmal der Wunsch danach zu spüren
sind.
({7})
Ich glaube, das sollten wir uns für die Zeit nach der
Landtagswahl in Baden-Württemberg aufsparen. Die
Bürger haben verstanden, dass sie in diesem Jahr keine
großen steuerlichen Entlastungen zu erwarten haben.
Aber die Bürger wollen verdammt noch mal wieder ein
Steuerrecht, das sie verstehen. Wir haben als Parlamentarier die Pflicht, dies umzusetzen. Da ist Ihr Antrag zur
Wiedereinführung der Vermögensteuer sicherlich der
falsche Weg. Wir brauchen ein einfaches Steuerrecht und
nicht solche kommunistischen, sozialistischen oder in
dem Fall linkspropagandistischen Anträge. Deswegen
werden wir den Antrag - das wird Sie nicht wundern heute ablehnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Volk hat vorhin auf die Situation in
Nordrhein-Westfalen und auf das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das Schwarz-Gelb im Bund
durchgesetzt hat, hingewiesen. Sie haben sich hier ge11512
rühmt, Herr Kollege Volk, dass Sie die Menschen mit
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz entlastet hätten.
Richtig ist, dass das Gesetz Bund, Länder und Gemeinden 8 Milliarden Euro gekostet hat, davon allein
1,6 Milliarden Euro die Gemeinden. Das ist eine Politik,
die wir nicht mitgemacht haben; denn Sie verteilen Geschenke immer nur zulasten anderer. In dem Paket war
zum Beispiel auch die Milliarde für die Hotelbesitzer
enthalten. Das ist aus unserer Sicht eine falsche Politik.
({0})
Sie haben kritisiert, dass die neue rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen einen Nachtragshaushalt verabschiedet hat, in dem die Neuverschuldung höher angesetzt wurde als ursprünglich gedacht.
({1})
Es ist richtig, dass die Neuverschuldung höher war als
angesetzt. Das hing damit zusammen, dass Sie in fünf
Jahren Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen beispielsweise im Zusammenhang mit den Problemen bei der
Westdeutschen Landesbank überhaupt keine Vorsorge
getroffen haben.
({2})
Aufgrund der politischen Verantwortung war es also geboten, Geld zurückzustellen für die sehr schwierige Lage
der Westdeutschen Landesbank.
({3})
Dafür wurden 1,3 Milliarden Euro im Haushalt vorgesehen. Trotzdem kommen Sie mit dem Argument, das sei
verfassungswidrig.
({4})
Die Begründung für die höhere Neuverschuldung haben auch Sie, Herr Kollege Volk, angeführt, nämlich:
Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist gestört.
Wenn das so ist, ist eine Neuverschuldung, die die
Summe der Investitionen übersteigt, möglich. Diesen
Passus hat die Landesregierung genutzt. Das Gericht hat
gemeint, dass das in diesem Fall nicht richtig war. Okay,
das nehmen wir demütig zur Kenntnis. Man muss aber
auch feststellen, dass Schwarz-Gelb in den fünf Jahren,
in denen Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen regiert
hat, genau diesen Passus genutzt hat. Sie haben in jedem
Haushaltsjahr mehr Schulden aufgenommen, als Sie für
Investitionen eingeplant haben.
({5})
Insofern ist das, was Sie hier von sich geben, ziemlich
schräg. Auch bei den Haushaltsentwürfen, die Sie in dieses Haus einbringen, nutzen Sie genau diesen Passus, um
die höhere Neuverschuldung zu rechtfertigen. Damit ist
Ihnen eigentlich jedes Recht entzogen, das zu kritisieren.
({6})
Eigentlich wollte ich etwas zur Abgeltungsteuer sagen.
Vorher noch eine Bemerkung zur Vermögensteuer.
Ich glaube nicht, dass sie Teufelswerk ist. Sonst wäre die
Regierung Kohl/Genscher ja eine Regierung des Teufels
gewesen; denn damals gab es eine Vermögensteuer. Sie
haben die Vermögensteuer damals durch einen Trick abgeschafft. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Vermögensteuer in der Form, in der sie erhoben wurde, nicht verfassungsgemäß war.
({7})
Das Bundesverfassungsgericht hatte nicht gesagt, dass
die Vermögensteuer an sich verfassungswidrig ist. Sie
haben diese Steuer einfach auslaufen lassen. Unsere Angebote, eine neue Regelung für die Vermögensteuer zu
finden, haben Sie damals nicht angenommen. Die Frage,
warum wir in der Zeit von Rot-Grün keinen Antrag eingebracht haben, ist relativ einfach zu beantworten: Es
gab eine andere Mehrheit im Bundesrat. In Steuerfragen
- das wissen Sie - brauchen wir den Bundesrat. Jede Regierung ist schlecht beraten, wenn sie sich Niederlagen
selbst organisiert. Das heißt, eine Initiative in Steuerdingen geht nur dann, wenn Bundestag und Bundesrat in
diesem Punkt einer Meinung sind. Darauf warten wir,
und darauf arbeiten wir hin.
Jetzt noch eine Bemerkung zur Abgeltungsteuer, die
hier vehement kritisiert worden ist. Der Satz von Peer
Steinbrück ist mehrfach zitiert worden; ich will ihn nicht
auch noch wiederholen. Die damals angeführte Kritik an
der Abgeltungsteuer, dass sie nur einen einheitlich niedrigen Satz vorsieht, während andere Einkommen unterschiedlich hoch besteuert werden, ist gerechtfertigt. Das
hat Peer Steinbrück damals zugestanden. Er hat aber
auch gesagt: Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis
nehmen. - Die Realität ist, dass eine Menge Kapital ins
Ausland fließt, um dort und nicht im Inland angelegt zu
werden.
({8})
Die Idee war, den Anlegern ein Angebot zu machen,
damit sie ihr Geld im Inland und nicht im Ausland investieren, damit es hier arbeitet, hier Erträge bringt und
auch hier der Besteuerung unterliegt. Ob das eingetreten
ist oder nicht, können wir, glaube ich, jetzt überhaupt
noch nicht beurteilen. Die Abgeltungsteuer ist zum
1. Januar 2009 eingeführt worden. Wir erinnern uns: Das
war die Hochzeit der Krise. Ich halte es für verfrüht, aus
den Daten von 2009 und 2010 zum Aufkommen der Abgeltungsteuer den Schluss zu ziehen, das hätte alles nicht
funktioniert. Lassen wir doch noch ein, zwei Jahre ins
Land gehen, um zu sehen, wie sich das entwickelt. Die
Steuerschätzung geht ja auch wieder von steigenden Erträgen aus. Wenn sich in zwei Jahren herausstellen
sollte, dass das alles nicht geklappt hat, sind wir gegebenenfalls bereit, zur synthetischen Besteuerung der Einkünfte zurückzukehren. Wir sind ebenfalls bereit, einen
Vorschlag für eine Vermögensteuer in dieses Hohe Haus
einzubringen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4878 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder
erheben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4594, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/453 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011
- Drucksachen 17/5125, 17/5196 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ein
zentrales Ziel der Politik der christlich-liberalen Koalition ist der Bürokratieabbau. Selbstverständlich darf der
Bürokratieabbau auch nicht vor unserem Steuerrecht kapitulieren. Deshalb haben wir dieses Steuervereinfachungsgesetz eingebracht und damit eine wichtige Zielsetzung aus unserem Koalitionsvertrag abgearbeitet.
Der Rahmen, in den sich unsere Entscheidungen für
Vereinfachungsmaßnahmen im Steuerrecht einfügen müssen, ist klar gesteckt. Die verfassungsrechtlich verankerte
Schuldenbremse erfordert die Rückführung der gesamtstaatlichen Schuldenquote, begrenzt die Kreditaufnahme
in Bund und Ländern und trägt im Zusammenwirken mit
dem jetzt auch dank der Durchsetzungskraft unserer Bundeskanzlerin ertüchtigten Europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt maßgeblich zur zwingend notwendigen
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte bei.
Mit dem Entwurf des Steuervereinfachungsgesetzes
haben wir jetzt ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das die
Zielsetzung der weiteren Vereinfachung und Modernisierung des Besteuerungsverfahrens mit der Notwendigkeit verbindet, den eingeschlagenen Konsolidierungskurs konsequent fortzuführen.
Die finanziellen Entlastungen sind mit rund 590
Millionen Euro auf ein verkraftbares Maß begrenzt, und
sie werden allein vom Bund getragen. Den Schwerpunkt
haben wir ganz bewusst auf die Einkommensbesteuerung gelegt. Mit rund 40 Maßnahmen wollen wir den Erklärungs- und Prüfaufwand im Einkommensteuerrecht
reduzieren. Es ist unser Ziel, Anspruchsvoraussetzungen
zu straffen und den Dokumentationsaufwand zu verringern.
Das Besteuerungsverfahren soll für alle Beteiligten
transparenter und nachvollziehbarer werden; denn Steuerpflichtige profitieren von kürzeren und übersichtlicheren Erklärungsvordrucken sowie von einem Weniger an
Belegsammelei.
Auch die Unternehmen werden dadurch von Bürokratiekosten entlastet. Aber auch die Finanzverwaltung gewinnt, weil schwierige und zeitaufwändige Prüffelder
künftig entfallen und Verfahrensabläufe einfacher und
weniger arbeitsintensiv werden.
Die Länder, denen die Verwaltung der aufkommensstarken Steuern obliegt, haben uns aktiv bei den Vorarbeiten unterstützt und ihren praktischen Erfahrungsschatz in den Prozess eingebracht. Der heute vorgelegte
Gesetzentwurf berücksichtigt natürlich auch die 13 Vorschläge, auf die sich die Finanzminister der Länder bei
ihrer Konferenz im letzten Jahr in Dresden verständigt
haben.
Aber selbstverständlich war es der Ehrgeiz dieser
Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen, über die Ländervorschläge hinaus eigene Vorschläge zur Steuervereinfachung zu erarbeiten und heute
in diesem Gesetzentwurf vorzulegen.
Wir haben daher zunächst unser Augenmerk auf Vereinfachungen und Verbesserungen bei der steuerlichen
Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und bei
der Gewährung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen
für volljährige Kinder gelegt.
Die vorgesehene Neuregelung der Abzugsfähigkeit von
Kinderbetreuungskosten ist ein deutlicher Vereinfachungsschritt. Einerseits werden die besonderen persönlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um Kinderbetreuungskosten steuerlich geltend machen zu
können, deutlich reduziert. Wer Kinderbetreuungskosten
hat, soll diese auch unabhängig von Berufstätigkeit oder
Krankheit steuerlich geltend machen können.
Zudem soll die Berücksichtigung der Kosten in der
Systematik der Einkommensteuer zusammengeführt und
somit einfacher und transparenter werden. Dafür haben
wir den einheitlichen Abzug als Sonderausgaben vorgesehen.
Unerwünschte außersteuerliche Wirkungen, zum Beispiel auf Kitagebühren, werden durch eine Anpassung in
§ 2 des Einkommensteuergesetzes vermieden. Auch der
zukünftige Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze für
die steuerliche Berücksichtigung von volljährigen Kindern vereinfacht das Besteuerungsverfahren. Die Neuregelung erspart Eltern Ermittlungs- und Erklärungsaufwand gegenüber Familienkasse und Finanzamt.
Eine deutliche Vereinfachung sehen wir auch in der
Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages von 920 auf
1 000 Euro. Für eine halbe Million Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zusätzlich wird so der Einzelnachweis
entbehrlich. Das heißt, zukünftig wird für rund 22 Millionen Arbeitnehmer - das sind 60 Prozent aller steuerpflichtigen Arbeitnehmer - kein Einzelnachweis der
Werbungskosten mehr erforderlich sein. Das ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein
wichtiger Schritt zur Steuervereinfachung.
({0})
Eine weitere Steuervereinfachung besteht darin, dass
im Bereich der verbindlichen Auskünfte bei Bagatellfällen zukünftig auf eine Gebührenerhebung verzichtet
wird. Damit können wir den Steuerpflichtigen bereits im
Vorfeld einer Investitionsentscheidung mehr Rechtssicherheit geben und die damit verbundenen steuerlichen
Folgen besser abschätzbar machen. Die Unternehmen
profitieren insbesondere von den in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Erleichterungen bei der elektronischen Rechnungsstellung; durch diese Erleichterungen
werden die hohen Anforderungen im Bereich des Umsatzsteuerrechts reduziert.
Ansprechen möchte ich auch das neue Wahlrecht für
die Abgabe der Einkommensteuererklärung, das den
Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit einer verlängerten Abgabefrist eröffnet. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Länder im Bundesrat die Bundesregierung am vergangenen Freitag aufgefordert haben,
sich diesen Vereinfachungsansatz noch einmal anzuschauen. Das werden wir tun. Wir sind aber der Auffassung, dass die Option zur gleichzeitigen Abgabe von
Einkommensteuererklärungen für zwei Jahre für Steuerpflichtige eine Erleichterung darstellt.
({1})
Die gesetzlichen Neuregelungen werden von einer
Reihe von Maßnahmen auf Ebene der Steuerverwaltung
flankiert, die die Bürgerinnen und Bürger bei der Erfüllung ihrer Erklärungspflichten unterstützen. Dazu gehören die Einführung einer elektronischen vorausgefüllten
Steuererklärung bei der Einkommensteuer als freiwillig
nutzbares Serviceangebot und die schrittweise Einführung der papierlosen Kommunikation mit den Finanzämtern.
Darüber hinaus haben wir in diesem Gesetzentwurf
die Zusage gegeben, die Vereinfachung des Steuerrechts
fortzuführen. Dazu gehört, dass wir den Wunsch der Unternehmen nach mehr Rechts- und Planungssicherheit
aufgreifen, das Institut der zeitnahen Betriebsprüfung
erstmals definieren und einen bundeseinheitlichen Standard in der Betriebsprüferordnung festlegen werden.
Dazu gehören auch die Vorhaben, die steuerrechtlichen
und sozialrechtlichen Vorschriften zu harmonisieren sowie das steuerliche Reisekostenrecht und das Unternehmensteuerrecht zu vereinfachen.
({2})
Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass
wir durch den Dialog mit dem Parlament, mit den Koalitionsfraktionen bereits im Vorfeld eine Reihe von wichtigen Punkten in den Gesetzentwurf aufnehmen konnten.
Ich möchte mich dafür bedanken, dass dieser Dialog
auch mit den Ländern möglich war. Ich bitte um eine zügige Beratung im Parlament. Ich appelliere an dieser
Stelle auch an den Bundesrat: Wenn wir schon die Maßnahmen in den Mittelpunkt gestellt haben, auf die sich
die Länder parteiübergreifend auf der Finanzministerkonferenz verständigt haben, und wir als Bund die Lasten der Steuermindereinnahmen, die durch dieses Steuervereinfachungspaket entstehen, alleine tragen, dann
sollte der Bundesrat, dann sollten die Bundesländer einer
zügigen Beratung und Umsetzung dieses ersten Steuervereinfachungspakets nicht im Wege stehen. Weitere
werden und müssen mit Sicherheit folgen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Steuervereinfachungsgesetz 2011 - der Titel deutet an,
dass es in Zukunft jedes Jahr eines geben wird. So, wie
es in der Vergangenheit jährlich ein Jahressteuergesetz
gegeben hat, wird es in Zukunft jährlich ein Steuervereinfachungsgesetz geben. Ziel ist - dies wurde schon gesagt -, die Bürokratie abzubauen und den Haushalt zu
konsolidieren.
Angefangen hat es aber eigentlich anders. Als man
am 2. Februar den Beschluss im Kabinett gefasst hat, hat
man den Wählern doch noch ein bisschen die Hoffnung
gegeben, sie könnten nicht nur eine Steuervereinfachung, sondern vielleicht auch eine Steuerentlastung erwarten. Man hat sich dann die Vorschläge angeschaut,
und es gab sofort Kommentare. Die Wirtschaftsverbände
haben gesagt: Von den 41 Punkten betreffen zehn Punkte
Streichungen von Tatbeständen, die ohnehin nicht mehr
existieren. Weitere zehn Punkte dienen lediglich der
Umsetzung von Gerichtsurteilen. Nur zehn Punkte betreffen marginal die Wirtschaft, sind aber auch nicht so
existenziell nötig. - Das war die Kritik der Wirtschaftsverbände.
Egal, hat man sich gedacht, dann sind jetzt eben die
Bürger dran, endlich entlastet zu werden oder mit einem
vereinfachten Steuerrecht klarzukommen. Aber auch das
ist nur auf den ersten Blick so. Wenn wir uns die Sache
einmal genauer anschauen, dann sehen wir: Der Gesetzentwurf - dies wurde schon gesagt - basiert auf 13 Vorschlägen der Finanzminister, wurde aber doch ein Stück
weit verfälscht.
Schauen wir uns die Sachen einmal einzeln an, und
beginnen wir mit der zweijährigen Steuererklärung. Das
dürfen nicht alle. Selbstständige, auch Abgeordnete gehören gar nicht zu den Begünstigten. Die zweijährige
Steuererklärung ist eigentlich für Menschen vorgesehen,
die vom Finanzamt etwas zurückbekommen würden.
Jetzt fragt sich natürlich jeder: Warum soll man eine
zweijährige Steuerklärung abgeben und zwei Jahre auf
die Rückerstattung warten? Bei der zweijährigen Steuererklärung muss man auch berücksichtigen, dass sich das
Steuerrecht innerhalb der zwei Jahre vielleicht geändert
hat. Es wird also nicht einfacher; es wird komplizierter,
und es wird unangenehmer, weil man länger auf die
Rückzahlung warten muss.
({0})
Nun zu der tollen Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Das kostet zwar ein bisschen Geld; aber
wenn es gut wäre, dann wäre es okay. Die Anhebung
kostet ungefähr 330 Millionen Euro im Jahr. Aber was
bedeutet das? Statt 920 Euro haben wir demnächst
1 000 Euro Arbeitnehmerpauschbetrag. Der Staatssekretär sagte, dass eine halbe Million Menschen davon
betroffen seien; das mag sein. Aber diese halbe Million
Menschen müssen Belege sammeln, um zu schauen, ob
sie unter oder über dem Pauschbetrag liegen. Nur
2 000 Menschen liegen dazwischen. 2 000 Menschen
also werden diesen Pauschbetrag zu ihren Gunsten bekommen. Ich denke, das ist nicht der große Wurf. Ich
finde, der Ausdruck „Cappuccino-Erhöhung“ - 3 Euro
im Monat mehr beim Spitzensteuersatz - trifft die Sache
ganz gut.
({1})
Eine weitere gute Idee ist auf dem Weg von der
Finanzministerkonferenz zum Steuervereinfachungsgesetz leider auf der Strecke geblieben. Meine Kollegin
wird nachher noch etwas dazu sagen. So wird es keine
Anhebung des Behindertenpauschbetrages geben. Es ist
schade, dass Sie ihn gar nicht mehr erwähnt haben.
Was Sie erwähnt haben, ist die Vereinfachung des Abzugs der Kinderbetreuungskosten. Dies war vorher als
Werbungskosten geregelt. Das hatte gute Gründe, weil
wir gesagt haben: Wer berufstätig ist und seine Kinder
betreuen lassen muss, sollte das steuerlich geltend machen können. Jetzt haben Sie gesagt, nicht nur die Berufstätigen, sondern alle sollten ihre Kinderbetreuungskosten steuerlich geltend machen können. Das hört sich
erst einmal gut an. Viele haben sich schon darüber gefreut, bis einige gedacht haben: Holla, die Kita könnte
teurer werden, weil bei der Kita die Werbungskosten
Grundlage für die Berechnung der Beiträge sind. - Das
haben Sie jetzt repariert. Diese Reparatur bedeutet allerdings das Gegenteil von Bürokratieabbau und wird bei
der Beantragung wahrscheinlich nicht zu irgendeiner
Vereinfachung führen. Auch das hätte man sich also sparen können.
({2})
Für eines, was ich für grenzwertig halte, sind
200 Millionen Euro veranschlagt - aber das wird mit
Sicherheit teurer werden -, und zwar für den Wegfall der
Einkommensprüfung bei volljährigen Kindern für den
Kindergeldbezug. Ich bin grundsätzlich dafür, möglichst
viel Geld in die Familien zu pumpen. Jeder, der mich
kennt, weiß das. Aber hier sind wir an einem Punkt, an
welchem dem Missbrauch schon ein bisschen die Tür
geöffnet wird. Ich weiß - ich habe vier Kinder, die studieren -, dass ich den Einkommensnachweisen hinterherrennen muss. Ich war in der Situation, dass ich es im
dritten Ausbildungsjahr unserer Tochter zur Krankenschwester, die viel Geld verdient hat, eigentlich nicht
mehr gerecht gefunden hätte, wenn ich da Kindergeld
bekommen hätte. Ich würde es gerechter finden, jetzt, da
sie wieder studiert, Kindergeld zu bekommen. Wenn
Kinder selbst hohe Einkünfte haben, kann ich es aber
nicht gut finden, dass die Eltern dann Kindergeld erhalten. Ich glaube auch, dass der Betrag von 200 Millionen
Euro nicht ausreichen wird. Der Deckel wird sich ziemlich weit nach oben öffnen. Über diese Regelung sollten
Sie noch einmal nachdenken.
({3})
Was Sie nicht erwähnt haben - ich will es nur kurz
ansprechen -: Demnächst gibt es bei der Ehegattenveranlagung die Möglichkeit der Reduzierung der Varianten. Man wollte aber vermeiden, dass sich die Ehegatten
am Ende schlechtergestellt fühlen als Nichtverheiratete.
Deswegen wird es eine neue Günstigerprüfung und damit verbunden einen gigantischen Bürokratieaufbau vor
allem bei den Finanzämtern geben.
Zur Situation bei den Finanzämtern möchte ich noch
eines sagen: Wenn Sie mit dem Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herrn Ondracek, sprechen
würden, würde er Ihnen erzählen, dass die Steuerverwaltung 15 000 Beschäftigte zu wenig hat und dass jeder
neue Betriebsprüfer 1 Million Euro mehr Einnahmen erzielen würde. Ich möchte Sie bitten, bevor Sie uns solch
unausgegorene Steuervereinfachungsgesetze vorlegen,
einmal darüber nachzudenken, wie wir in diesem Land
wieder zu mehr Steuerehrlichkeit kommen
({4})
und wie wir vielleicht auch dazu beitragen können, dass
sich mehr Bürger mit ihren Fragen an ihr Finanzamt
wenden und wir dadurch die Bearbeitung ihrer Steuererklärung vereinfachen. Ich denke, dies wäre der richtige
Weg.
Wir sollten zwischen der ersten und der zweiten und
dritten Lesung ernsthaft über diesen Gesetzentwurf dis11516
kutieren. Ich denke, er ist extrem verbesserungswürdig.
Ich biete Ihnen vonseiten der SPD an, dass wir uns daran
beteiligen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Scheelen hat vorhin gesagt, dass die Sozialdemokraten unter Rot-Grün das in der Steuerpolitik
nicht machen konnten, weil sie keine Mehrheit im Bundesrat hatten. Vielleicht lag das aber eher daran, Herr
Scheelen, dass Sie keine guten Konzepte hatten
({0})
und den Bundesrat deswegen nicht überzeugen konnten.
({1})
Auch wir haben gegenwärtig keine Mehrheit im Bundesrat.
({2})
Trotzdem bringen wir ein Steuervereinfachungsgesetz
auf den Weg. Wir sind der Überzeugung, dass man,
wenn man vernünftig mit den Ländern verhandelt - das
hat die Bundesregierung im Vorfeld getan, Herr Staatssekretär Koschyk -, auch in diesen schwierigen Zeiten
gute Steuergesetze auf den Weg bringen kann.
({3})
Das tun wir mit dem vorliegenden Steuervereinfachungsgesetz.
({4})
Pauschalen vereinfachen das Steuerrecht; das ist eine
Binsenweisheit. Sie ersparen den Finanzbehörden die
Prüfung des Einzelfalls. Sie können Beispiele anführen,
solange Sie wollen, Frau Kollegin Arndt-Brauer, aber
Sie werden es nicht schaffen, die Menschen davon zu
überzeugen, dass die Einzelbelegsammlung besser ist als
eine Pauschale. Das ist nicht möglich. Die Pauschale ist
der Weg zur Vereinfachung. Die Koalition bekennt sich
ganz klar zu diesem Steuervereinfachungskonzept. Pauschalen vereinfachen die Besteuerung, sowohl für die
Menschen als auch für die Finanzverwaltung.
({5})
Deswegen ist diese Regelung ein richtiger Schritt.
({6})
Die Art und Weise, in der Sie mit Pauschalen umgegangen sind, zeigt doch ganz klar, dass Sie diesen politischen Schritt hin zur Steuervereinfachung nicht wichtig
finden. Mir ist noch gut in Erinnerung, wie Sie beim
Thema Pendlerpauschale herumgehampelt sind, und
beim Sparerfreibetrag haben Sie nichts als eine Kürzung
und somit eine versteckte Steuererhöhung zustande gebracht.
({7})
Die Initiativen, die von Ihnen ausgingen, waren immer
fiskalpolitisch, vom Haushalt her geprägt.
({8})
Sie haben sich in Ihrer Gesetzgebung aber nie zu einer
Vereinfachung durch Pauschalen bekannt.
Die Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages ist
ein wichtiger Akzent. Der Arbeitnehmerpauschbetrag
soll die Kostenbelastung eines typischen Arbeitnehmerhaushaltes berücksichtigen.
({9})
Es ist deshalb paradox, ihn zu kürzen, wie Sie es getan
haben. Sie haben den Arbeitnehmerpauschbetrag trotz
steigender Kosten gekürzt. Das war Ihre Politik. Wir machen jetzt das Gegenteil. Wir passen den Arbeitnehmerpauschbetrag der Kostenstruktur der Arbeitnehmerhaushalte an. Im Grunde genommen müssten Sie diesem
Gesetzentwurf, wenn Sie wirklich Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer machen wollten, mit
wehenden Fahnen zustimmen.
({10})
Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur ein Schritt hin zu
einem einfacheren Steuerrecht, sondern auch ein Schritt
hin zu mehr Steuergerechtigkeit. Es ist bezeichnend,
dass die Sozialdemokraten dies kritisieren. Das sagt viel
über den Zustand Ihrer Partei. Ihnen fehlt der innere
Kompass für eine arbeitnehmerfreundliche Steuerpolitik.
({11})
Wer wissen will, was die SPD vom Arbeitnehmerpauschbetrag hält, der brauchte heute nicht einmal Frau
Arndt-Brauer zuzuhören, sondern der kann sich auch an
die sogenannte Koch/Steinbrück-Liste erinnern. Es war
die eine Sache, dass der damalige Ministerpräsident der
CDU den Arbeitnehmerpauschbetrag der Kategorie Subvention zugeordnet hat. Dass die SPD unter Peer
Steinbrück dies aber genauso gesehen hat, zeigt deutlich,
dass Sie alle möglichen Interessen vertreten, aber nicht
die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Deutschland.
({12})
Sie haben überall gekürzt. Sie haben den Arbeitnehmerpauschbetrag gekürzt, und Sie haben den Sparerfreibetrag für die Menschen gekürzt. Sie reden immer viel
über Vermögensteuer und Finanztransaktionsteuer. Aber
wenn Sie regieren, dann holen Sie das Geld vor allen
Dingen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Das drehen wir jetzt um. Wir haben bei diesem Steuervereinfachungsgesetz ganz gezielt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick.
({13})
Herr Staatssekretär Koschyk hat es gesagt: Es geht uns
um die Einkommensteuer; es geht uns um die Verbesserung der Besteuerung des durchschnittlichen Arbeitnehmers und der durchschnittlichen Arbeitnehmerin. Sie haben das in elf Jahren Regierungszeit nicht hingekriegt.
Wir sind jetzt auf dem Weg, das zu korrigieren und all
das nachzuholen, was Sie ausgelassen haben.
({14})
Es ist höchste Zeit, dass wir uns im Steuersystem umorientieren. Wir müssen weg von sozialdemokratischer
Ausgabenpolitik hin zu arbeitnehmerfreundlicher Steuerpolitik. Hier gehen wir in die richtige Richtung. Vereinfachen ist schwierig; das ist wahr. Das hat Ihre frühere
Staatssekretärin Barbara Hendricks in einem Beitrag in
der Financial Times einmal breit ausgeführt. Sie erleben
heute, dass Steuervereinfachung vielleicht schwierig,
aber nicht unmöglich ist.
Wenn ich einmal an den damaligen Beitrag von Frau
Hendricks erinnern darf: Sie hat messerscharf analysiert,
dass eine Vereinfachung vor allen Dingen an den Bürgerinnen und Bürgern scheitern würde, aber auch an den
Richtern. Dass es damals vielleicht an der SPD gescheitert sein könnte, darauf sind Sie nicht gekommen. Es lag
nämlich in Wahrheit daran, dass Sie nicht den Gestaltungswillen hatten, dass Ihnen das Thema Steuervereinfachung nicht wirklich wichtig war. Die damalige Staatssekretärin sagte, dass typisierende Regelungen den
Anforderungen eines Massenverfahrens am besten gerecht werden. Das waren die Reden der SPD. Beim
Handeln sah es anders aus. Wir greifen das auf. Diese typisierenden Regelungen wollen wir als Vereinfachungsmaßnahme nutzen. Der Arbeitnehmerpauschbetrag ist
ein ideales Beispiel dafür.
Meine Damen und Herren, Pauschalen bzw. typisierende Regelungen sind ein wesentlicher Bestandteil eines einfachen Steuersystems. Sie werden dort eingesetzt,
wo es darum geht, berechtigte Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wahren. Inflation führt
zu einer schleichenden Entwertung der Pauschalen. Deshalb müssen sie angepasst werden. Das mit diesem Cappuccino-Gerede kleinzureden,
({15})
ist nichts anderes als der Beleg dafür, dass Sie sich nicht
mit uns gemeinsam um eine Vereinfachung des Steuerrechts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bemühen wollen.
({16})
Das sollten Sie dann auch so klar sagen. Uns kommt es
darauf an, uns mit diesem Gesetz klar zu dem Weg der
Pauschalierung, der Vereinfachung zu bekennen. Wer
das tut, der muss auch eine inflationsbedingte Anpassung durchführen und darf nicht in die falsche Richtung
gehen und die Pauschalbeträge kürzen.
({17})
Es ist schlichtweg unlauter, als Sozialdemokraten typisierende Regelungen zu fordern, dann aber tatenlos dabei zuzusehen, wie Pauschalbeträge von der Inflation
entwertet werden, oder diese sogar aktiv zu kürzen.
Im Bereich der Steuervereinfachung gibt es dicke
Bretter zu bohren. Wenn man, wie mit diesem Gesetz,
einen Durchbruch schafft, dann kann man sich, wie Sie
es tun, hinstellen und sagen: Das ist ganz schlecht. Das
Loch ist nicht groß genug. - Wir sagen Ihnen: Das ist
eine Wende in der Steuerpolitik. Wir haben dicke Bretter
gebohrt. Wir haben einen Durchbruch erreicht, und wir
sehen Licht. Das ist ein guter Weg.
Herr Staatssekretär, ich bin Ihnen außerordentlich
dankbar, dass Sie heute gesagt haben, dass das der Anfang von Steuervereinfachungen ist. In diesen schwierigen finanzpolitischen Zeiten ist nicht alles auf einmal
möglich. Da wir für die Stabilisierung der Euro-Zone
und für die Haushaltskonsolidierung Verantwortung
übernehmen müssen, gleichzeitig aber unsere Ziele nicht
aufgeben, sondern sie Schritt für Schritt verfolgen, sind
wir mit diesem Gesetz auf einem guten Weg. Weitere
Schritte werden folgen.
({18})
Sie werden sehen, dass die Menschen dankbar sein werden, wenn sich die Besteuerung für sie verbessert, und
dass Sie mit Ihrer Kleinrederei auf dem Holzweg sind.
Jeder Schritt in die richtige Richtung ist ein guter, ein
wichtiger Schritt. Deswegen laden wir Sie ein, etwas für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun und
diesen Gesetzentwurf aktiv zu unterstützen. Das wäre
ein Weg zu mehr Ehrlichkeit in Ihrer eigenen Politik.
({19})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Wissing, Herr Westerwelle sagte im
Januar 2009 über die Steuerentlastung durch das Konjunkturpaket: „Das ist eine Currywurst mit Majo - ohne
Pommes“. Ihre Ankündigung klang nun so: Jetzt kommen die Pommes dazu, und aus der Currywurst wird
eine Riesencurrywurst. Jetzt wird alles ganz toll.
90 Vorschläge waren im Gespräch, geblieben sind
37 Vereinfachungsvorschläge. Zieht man davon einmal
die Rechtsbereinigungen und Absichtserklärungen ab,
bleiben noch 25. Davon sind letztlich nur ganze drei
Vorschläge finanzwirksam. Ich glaube, die Kritik von allen Seiten, ob aus der Opposition, der Wirtschaft, von
Steuerberatern, von den Finanzbehörden oder von Bürgerinnen und Bürgern, ist berechtigt. Das sind 94 Seiten
mit wenig brauchbaren Ergebnissen.
({0})
Das, was Sie als Entlastung in Höhe von 3,3 Milliarden Euro verkaufen, sind im Wesentlichen geplante Erleichterungen bei der elektronischen Rechnungsstellung
im Umsatzsteuerrecht. Sie wissen genauso gut wie ich:
Das ist hochgepuscht worden. Man sollte die Bürokratiekosten hier nicht derart in den Vordergrund stellen, auch
weil man überhaupt noch nicht weiß, was herauskommt.
Sprechen wir über die Maßnahmen, die finanzwirksam sind. Laut Ihrem Tableau beträgt die Jahresentlastungswirkung 585 Millionen Euro. 330 Millionen Euro
davon sollen den Bürgerinnen und Bürgern durch eine
Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages zukommen.
Gut!
({1})
In Ihrem Gesetzentwurf stehen zwölf Maßnahmen, zum
Beispiel Rechtsbereinigungen bzw. Absichtserklärungen. Ich finde es schon ein bisschen daneben, eine Absichtserklärung als Steuervereinfachung und tolle Leistung zu verkaufen.
Zu den Kinderbetreuungskosten. Gut, Sie versuchen,
etwas zu regeln. Dann merken Sie aber - ich hatte Ihnen
am 26. Januar 2011 hier im Plenum eine Frage dazu gestellt -, dass das so, wie Sie es wollen, nicht geht, weil
Mütter und Väter dann zum Teil wesentlich höhere Betreuungskosten zahlen müssten. Sie versuchen, darauf zu
reagieren. Das, was herauskommt, ist aber wieder
Murks. Es ist steuerrechtlich bedenklich, ob das überhaupt durchzuhalten sein wird.
Die Mütter und Väter sind jetzt wieder verunsichert,
was mit ihrem Geld passiert. Viele von ihnen können Ihrem Vorschlag, ihre Steuererklärung nur alle zwei Jahre
abzugeben, auch gar nicht folgen, weil sie zum Beispiel
aufgrund der Kinderbetreuungskosten einen jährlichen
Entscheid brauchen. Das Gleiche gilt hinsichtlich des
BAföG-Antrags. Vor allem aber - meine Kollegin sagte
das bereits -: Warum soll ich dem Staat eigentlich zwei
Jahre einen Kredit gewähren, wenn ich über die Steuererklärung Geld zurückbekomme, was ich schon jetzt ein
Jahr mache? Das ist unlogisch. Ich glaube, das wird niemand tun.
({2})
- Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie mich.
Bleiben wir einmal beim Arbeitnehmerpauschbetrag.
Sie sprechen von einer riesengroßen Entlastung. Sie beträgt im Monat 2 bis 3 Euro. Das ist alles; mehr kommt
nicht heraus. Die Entlastung einer alleinstehenden Sozialarbeiterin ohne Kind mit einem Jahresbruttoeinkommen von vielleicht 30 000 Euro wird also sehr übersichtlich sein; das sind 25 Euro im Jahr.
({3})
Die Frau kann aber sicher rechnen. Sie sieht dann: Die
Entlastung in Höhe von 25 Euro durch die kleine Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages ist zwar schön;
aber meine Sozialbeiträge sind in diesem Jahr gestiegen.
Meine Krankenversicherung möchte monatlich 8 Euro
mehr haben.
({4})
Mit der Politik von CDU/CSU und FDP kommt für diese
meine Sozialarbeiterin im Gegenzug eine Mehrbelastung
von 96 Euro im Jahr heraus. Das heißt: Sie hat weniger
Netto vom Brutto. Das wollten Sie ja wohl nicht, aber
das ist Ihre Politik.
({5})
Wir brauchen eine Steuervereinfachung und eine Entlastung der unteren und mittleren Einkommen - diesen
Satz unterschreibt hier im Haus wahrscheinlich jede und
jeder. Die Frage ist aber, welchen Inhalt die Regelungen
haben. Unser Antrag für eine wirkliche Einkommensteuerreform, die automatisch zu Vereinfachungen führen
würde, lag Ihnen vor. Sie haben ihn abgelehnt. Wir haben Ihnen einen linear-progressiven Einkommensteuertarif vorgeschlagen, durch den der Mittelstandsbauch,
die überproportionale Belastung im mittleren Einkommensbereich, abgebaut würde. Das würde für alle Bürgerinnen und Bürger mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von bis zu 70 000 Euro eine Entlastung bei
der Einkommensteuer bedeuten. So weit wollen wir entlasten.
({6})
Das wäre natürlich aufgrund der Individualisierung des
Steuerrechts eine wesentliche Vereinfachung.
Ihr Vorhaben ist weder Pommes noch Currywurst;
selbst die Mayo geht völlig verloren. Es bleibt der leere
Pappteller.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
erinnere mich an das Zitat von Guido Westerwelle. Es ist
gerade einmal zwei Jahre her, als er, damals wie heute
Vorsitzender der FDP,
({0})
im Zusammenhang mit dem Konjunkturpaket II über die
damals immerhin 9 Milliarden Euro teure Einkommensteuerentlastung, die an der Spitze 400 Euro Steuerersparnis für Ledige bedeutete, spottete, das sei wie Currywurst mit Mayo, aber ohne Pommes.
Heute legen Sie von der Koalition den Entwurf eines
sogenannten Steuervereinfachungsgesetzes vor.
({1})
Wie sieht es denn nun mit der zusätzlichen Portion Pommes aus? Das fragen wir uns alle am heutigen Tag. Wir
müssen leider feststellen, dass es damit schlecht aussieht.
({2})
Nicht 9 Milliarden, sondern ganze 330 Millionen Euro
hat die Currywurst-und-Mayo-Partei dem Koalitionspartner abgetrotzt,
({3})
um damit den Arbeitnehmerpauschbetrag von 920 auf
1 000 Euro zu erhöhen. Das bringt für den einzelnen Arbeitnehmer oder die einzelne Arbeitnehmerin maximal
36 Euro pro Jahr. Da muss man sich schon entscheiden,
ob es einmal im Monat der Luxus einer Tasse Kaffee
oder doch die lang ersehnte Portion Pommes sein soll.
Das ist wirklich lächerlich.
({4})
Man könnte sagen: „Schwamm drüber“, wenn man
den Eindruck hätte, dass selbst die FDP endlich verstanden hat: Steuersenkungsversprechen sind von gestern;
die will keiner mehr hören, auch FDP-Anhänger nicht
mehr.
({5})
Aber so ist es leider nicht. Im Gegenteil: Es ist viel
schlimmer. Die Frage, ob die 36 Euro im Jahr 2012 oder
doch schon im Jahr 2011 an die Beschäftigten ausgeschüttet werden sollen, war Herrn Westerwelle und seiner Currywurst-und-Mayo-Partei tatsächlich die Androhung eines Koalitionsbruches wert. Sie haben außerdem
noch für diese 36 Euro der Erhöhung der Tabaksteuer
um 4 bis 8 Cent pro Schachtel zugestimmt. Also gibt es
keine Zigarette mehr zur Extratasse Kaffee. Das begrüße
ich zwar aus gesundheitspolitischer Sicht, aber wir sollten nun zu einer ernsthaften Debatte zurückkehren.
({6})
Trotz allen Steuersenkungsgeredes müssen wir festhalten: Wir haben nicht mehr Netto vom Brutto, sondern
weniger. Die 36 Euro, die Sie spendiert haben, werden
schon heute von den bis zu 115 Euro aufgefressen, die
alle Beschäftigten seit dem 1. Januar zusätzlich in die
Sozialkassen einzahlen müssen.
({7})
Sie argumentieren, es gehe nicht um Steuersenkung,
sondern um Steuervereinfachung. So heißt es im Titel
des Gesetzentwurfs. Dazu meint Horst Vinken, der Präsident der Bundessteuerberaterkammer, das Gesetz konterkariere in weiten Teilen sein Ziel und verschlimmbessere das Steuerrecht.
({8})
Ähnlich äußert sich die Deutsche Steuer-Gewerkschaft,
deren Mitglieder das Gesetz in der Steuerverwaltung
umzusetzen haben. Ich kann mich dieser Einschätzung
nur anschließen.
({9})
Allein Ihr Beharren darauf, den Arbeitnehmerpauschbetrag rückwirkend zu erhöhen, führt nicht zu weniger,
sondern zu mehr Bürokratiekosten bei den Unternehmen. Sie weigern sich bis heute, die Frage zu beantworten, auf welche Höhe sich die Kosten belaufen werden.
Kinderbetreuungskosten gelten jetzt als Sonderausgaben. Das ist schön, aber leider steht in diesem Bereich
noch ein Urteil aus, das die komplette Regelung hinfällig
machen könnte.
Des Weiteren wollen Sie auf die Prüfung der Einkünfte erwachsener Kinder verzichten - das finden wir
so weit in Ordnung. Aber Sie wollen das nur dann, wenn
diese noch in der ersten Ausbildung sind. Was soll der
Azubi dazu sagen, der später noch Abitur machen will?
Die zweijährige Steuererklärung ist das beste Beispiel, wie berechtigt die Einschätzung von Herrn Vinken
von der Bundessteuerberaterkammer ist. Erstens lohnt
sie sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht, weil sie nur noch alle zwei Jahre eine Rückzahlung erhalten. Damit geben sie nicht nur einen Kredit,
sondern es kommt de facto einer Steuererhöhung gleich.
Zweitens ist es keine Erleichterung, wenn man alle zwei
Jahre nicht eine Steuererklärung machen kann, sondern
zwei machen muss. Das muss dann aber mit einem Zusatzformular beantragt werden.
({10})
- Genau. Das soll einfach sein?
({11})
Aber damit nicht genug; denn drittens hätten die Finanzämter, wenn diese Möglichkeit tatsächlich massenhaft genutzt würde, ein gewaltiges Problem, allein schon
wegen ihrer derzeit miserablen Personalausstattung.
Stellen Sie sich einmal vor, in diesem Jahr würden alle
keine Einkommensteuererklärung abgeben, sondern
beide Steuererklärungen im nächsten Jahr gemeinsam
einreichen. In Baden-Württemberg haben wir zurzeit
123 Finanzbeamte auf 100 000 Einwohner; das ist eine
deutliche Unterausstattung. Stellen Sie sich einmal vor,
in welchem wunderbaren Chaos unsere Finanzämter versinken würden, wenn tatsächlich von diesem von Ihnen
neu eingeräumten Recht Gebrauch gemacht werden
würde.
Auch der Parlamentarische Beirat für nachhaltige
Entwicklung hat sich zu diesem Gesetzentwurf zu Wort
gemeldet. Er hat uns dringend aufgerufen, den gesamten
Gesetzentwurf noch einmal zu überprüfen. Dem Beirat
ist insbesondere nicht ersichtlich, inwiefern Ihre Vorschläge den sozialen Zusammenhalt stärken und die Generationengerechtigkeit fördern. Als Berichterstatter hat
Herr Aumer,
({12})
CSU-Mitglied und Mitglied im Finanzausschuss, die
Stellungnahme des Beirats unterzeichnet. Herr Aumer,
ich bin gespannt, wie Sie Ihre Empfehlungen in den eigenen Reihen einbringen und durchsetzen werden. Wenn
Sie Unterstützung brauchen, dann kommen Sie gerne zu
uns.
({13})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Auch der Normenkontrollrat spricht fehlende Informationen über die Kosten dieses Gesetzes an. Der Bundesrat fordert, die Pläne zu überdenken. Sie stellen sich
stur. Herr Volk kritisiert den Bundesrat - ich zitiere -:
Es scheint, als hätte der Bundesrat den Begriff Steuervereinfachung nicht wirklich verstanden …
Ich sagen Ihnen, Herr Volk: Der Bundesrat hat das
sehr wohl verstanden, wir haben es alle richtig verstanden, nur Sie wollen es nicht verstehen, sondern wollen
das Problem vertuschen. Wir alle wissen, Ihr Gesetzentwurf ist kein Steuervereinfachungspaket, sondern ein
Placebowerk zum Erhalt des Koalitionsfriedens.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer! Wir sind heute in der ersten Lesung zu
einem Steuervereinfachungsgesetz. Das scheint in der
Debatte ein bisschen untergegangen zu sein. Wir haben
noch hinreichend Gelegenheit zur Diskussion all der guten Vorschläge zu dem, was wir nicht tun sollten. Ich
hoffe, dass Sie die Diskussion dann aber auch durch
positive Steuervereinfachungsvorschläge anreichern.
({0})
Diesbezüglich werden wir in den nächsten Wochen
gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen.
Der Focus titelte im vergangenen Jahr: „Kirchhof
dampft Steuerrecht ein“. Aus mehreren Tausend Paragrafen sollen so 400 werden.
Ein großer Vorwurf im Zusammenhang mit diesem
Steuervereinfachungsgesetz ist, dass es nur ein kleiner
Schritt und nicht der große Wurf ist. Da wir vonseiten
der Koalition aus CDU/CSU und FDP aber ziemlich
sicher sind, dass von Ihnen auch zu dem KirchhofKonzept nur Kritik, aber keine positive Resonanz kommen würde,
({1})
haben wir uns entschieden anzufangen, und zwar mit
ganz vielen - zugegebenermaßen jeweils für sich genommen kleinen - Schritten, die mit Steuersenkungen
allerdings nichts zu tun haben.
Unser Auftrag war von Anfang an, eine Vereinfachung durchzusetzen, die den Bundeshaushalt nicht belastet; denn wir sind überzeugt von der Richtigkeit des
Mottos „Schulden von heute sind die Steuererhöhungen
von morgen“. Angesichts der Ergebnisse des EU-Rats
sind wir fest entschlossen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren und Vereinfachungen zu schaffen, die nicht zu
Steuerausfällen in größerem Umfang für den Bundeshaushalt führen.
({2})
Auf die Frage, ob 3 Euro nichts weiter als Pommes
mit Mayo sind, antworte ich Ihnen: Wir sind in der Fastenzeit.
({3})
Das gilt nicht nur im Privaten, sondern auch für den
Bundeshaushalt. Es geht nicht um Steuersenkungen.
Deswegen ist es auch völlig egal, ob es 3 Euro, 13 Euro
oder 100 Euro sind. Es geht nicht um Steuersenkungen,
sondern um ein einfacheres Steuerrecht, weil das als gerechtere Variante von den Bürgern eher akzeptiert wird.
Der wesentliche Teil der Entlastungen, die wir in diesem Vereinfachungsgesetz vorsehen, kommt den Familien zugute. Das gilt insbesondere für die Frage, ob wir
die eigenen Einkünfte von volljährigen Kindern in Ausbildung prüfen. Die Abschaffung dieser Prüfung ist ein
Vorschlag, den die Steuerverwaltung selbst gemacht hat,
weil sie festgestellt hat, dass die Prüfung in 98 Prozent
der Fälle zu dem Ergebnis führt, dass die Kinder und Jugendlichen unter dem Freibetrag von 8 004 Euro liegen.
({4})
In Zukunft werden natürlich einige höhere Einkünfte
haben. Aber unter dem Aspekt der Vereinfachung glauben wir, dass das akzeptabel ist. Wir wollen künftig insbesondere vermeiden - Frau Arndt-Brauer, Sie haben
Ihre Kinder angesprochen -, dass zum Beispiel ein leistungsbereiter 18-Jähriger, der stolz ist, einen Ferienjob
ergattert zu haben, und sich während der Ferien sechs
Wochen engagieren will, von seinen Eltern zu hören bekommt: Engagier Dich mal ein bisschen weniger; denn
sonst bekommen wir kein Kindergeld mehr.
({5})
Wir erziehen mit der jetzigen Regelung eine ganze
Generation junger Menschen dazu, weniger zu leisten
und lieber Sozialleistungen in Form des Kindergeldes zu
beziehen, statt ihnen zu sagen: Es ist gut, wenn ihr euch
engagiert; es ist gut, wenn ihr eigene Einkünfte erzielt.
({6})
Deshalb glauben wir, dass die wenigen Fälle, in denen es
zu höheren Einkünften kommt, durchaus akzeptabel
sind.
So gar nicht verstanden habe ich in der bisherigen Debatte die Aussagen zu den Kinderbetreuungskosten. Frau
Höll, Sie beschimpfen das Finanzministerium, weil es
im Gesetzgebungsverfahren einen Vorschlag von Bürgern aufgreift. Ihren Debattenbeitrag zur Bürgerbeteiligung habe ich bisher völlig anders verstanden. Es gibt
nun einmal Bürger, die die Referentenentwürfe lesen
- schon das finde ich sehr beeindruckend - und die dann
auf uns zukommen und sagen: Habt ihr eigentlich bedacht, dass es Probleme bei den Kindergartengebühren
gibt?
({7})
- Nein, das haben Sie nicht eingebracht. Das hatten wir
lange vor Ihnen geklärt.
Nun reagiert das Finanzministerium auf die Vorschläge von Bürgern, und Sie sagen: So ein Mist! Jetzt
habt ihr reagiert, und das Problem ist vom Tisch. - Ich
kann nur sagen: Gott sei Dank gibt es Bürger, die die Gesetzgebungsverfahren verfolgen. Es hat Folgen, wenn
uns Bürger auf Probleme hinweisen. Sie werden ernst
genommen, sowohl vom Ministerium als auch von der
Koalition. Wir wollen, dass sich die Bürger beteiligen,
Sie offensichtlich nicht.
({8})
Ein weiteres Problem, Frau Arndt-Brauer, ist die Ehegattenveranlagung. Wir haben gemeinsam für das Faktorverfahren gekämpft. Ich glaube, wir sind uns einig,
dass das nicht sehr erfolgreich war. Es gibt nun mindestens fünf verschiedene Varianten für die Ehegattenbesteuerung. Das ist mittlerweile so unübersichtlich geworden, dass der eigentliche Effekt, Einkünfte zwischen
den Ehegatten gerecht zu verteilen, nicht mehr erzielt
wird. Ich bin sehr gerne bereit, in den folgenden Wochen
mit Ihnen über den entsprechenden Passus im Gesetz zu
sprechen und nach besseren Lösungen zu suchen. Wenn
wir bessere Lösungen finden, sind wir gerne bereit, sie
aufzugreifen. Ich glaube, dass das mittlerweile ein Komplex ist, der für Ehegatten nicht mehr überschaubar ist
und den Finanzbeamten nur unnötige Mehrarbeit bereitet. Wenn wir andere Lösungen finden: herzlich gerne.
Ich freue mich über die Steuerfreiheit von Stipendien.
Hier haben wir erhebliche Rechtssicherheit für Familien
geschaffen. Es ist jetzt unerheblich, ob das Stipendium
unmittelbar für eine wissenschaftliche oder eine künstlerische Ausbildung gewährt wird. Die Gelder sind nun
immer steuerfrei.
Das Gleiche gilt für die Bereitstellung von verbilligtem Wohnraum innerhalb von Familien. Wenn die Oma,
die keine sehr hohe Rente hat, von ihren Kindern durch
verbilligten Wohnraum unterstützt wird, dann kann das
künftig mit wesentlich weniger bürokratischem Aufwand steuerlich berücksichtigt werden; darüber bin ich
froh. Das ist eine echte Vereinfachung für alle betroffenen Fälle.
({9})
Zur steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden. Aktuell
fließen Spenden aus der deutschen Bevölkerung sehr
rege. Es ist aber ausgesprochen ärgerlich für den Spender, wenn er aufgrund eines Fehlers, den er in Unkenntnis der gesetzlichen Regelungen begangen hat, seine
Spende nicht steuerlich absetzen kann. Es gibt nun Vereinfachungen, die das vermeiden helfen.
Das alles sind Themen aus dem Bereich der Einkommensteuer; darum geht es in erster Linie in diesem Gesetz. Deshalb verwundert es mich gar nicht, dass die
Wirtschaftsverbände noch nicht glücklich sind. Aber wir
hatten den Auftrag, Einkommensteuervereinfachungen
vorzunehmen. Im vorliegenden Gesetzentwurf steht ausdrücklich, dass wir zusammen mit dem Ministerium bis
September einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung der
Unternehmensteuern vorlegen werden; das kommt noch.
Trotzdem haben wir diesbezüglich schon einige Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf aufgegriffen,
weil sie technisch schon so weit ausgereift waren, dass
wir sie in Kraft setzen können. Da geht es zum Beispiel
um die elektronische Rechnungstellung. Hier kommt immer die Diskussion auf: Wo ist denn der Entlastungseffekt? Ich glaube, es ist völlig wurscht, ob ich 50 Euro
weniger Steuern zahle, wenn ich auf der anderen Seite
über 1 000 Euro Bürokratiekosten habe. Für Unternehmen ist wesentlich wichtiger, dass wir sicherstellen, dass
wir technisch auf dem neuesten Stand sind. Insbesondere
müssen wir sicherstellen - der Staatssekretär hat das
eben gesagt -, dass das Sozialversicherungsrecht und
das Steuerrecht miteinander harmonieren. Momentan
wird in den beiden Ausschüssen noch nicht einmal über
das Gleiche diskutiert. So soll ein neues IT-System zur
Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge neben dem
des Steuerrechts eingeführt werden. Dadurch fallen in
der Wirtschaft Bürokratiekosten in Milliardenhöhe an.
Das kann nicht richtig sein.
Das Gleiche gilt für den Komplex „Konsens“. Es ist
für den Bürger ausgesprochen interessant, vieles, was er
steuerlich mit den Finanzbehörden zu klären hat, demnächst über den Rechner zu erledigen. Elster.de kommt
gut an; das ist ein gutes Programm. Die Bürgerinnen und
Bürger nutzen es zahlreich. Wir müssen es auf die Unternehmen ausweiten und zum Beispiel für Zerlegungsbescheide für die Körperschaftsteuer nutzen. Das bringt
den Unternehmen erheblichen Zeitgewinn und natürlich
auch erhebliche Einsparungen.
Zeitnahe Betriebsprüfungen und die E-Bilanz sind
schon genannt worden. Im Rahmen der E-Bilanz müssen
wir sicherstellen, dass auch auf dem Rückweg von der
Steuerverwaltung zum Steuerberater oder zum Bürger
die Vereinfachungseffekte wirken und dass der Steuerberater die berichtigte E-Bilanz zurückbekommt. Auch das
spart erhebliche Kosten und hat für den Bundeshaushalt
keine negativen Auswirkungen.
Da wir heute erst mit der Debatte starten, lassen Sie
mich sagen: Es gibt Probleme, die wir noch nicht gelöst
haben. Eines der größten und leider auch teuersten Probleme, die wir noch nicht gelöst haben, ist die Istbesteuerung. Die Umsatzgrenze bei der Istbesteuerung von
500 000 Euro gilt nur noch bis zum 31. Dezember 2011.
Danach fällt sie wieder auf 250 000 Euro zurück.
Der Bundesrat hat das in seiner Stellungnahme beanstandet. Der Vereinfachungseffekt liegt darin, dass jetzt
Buchführungsgrenzen und Istbesteuerungsgrenzen identisch sind, sodass bis 500 000 Euro Umsatz keine Bilanz
zu erstellen ist, wenn man unter der Gewinngrenze
bleibt. Wir suchen eine Lösung. Das kostet leider
1,95 Milliarden Euro. Daher kann es keine Lösung sein,
dass der Bundesrat das einfach mit in dieses Gesetz
packen will; denn bei diesem Gesetz waren die Finanzverwaltung und wir uns einig, dass der Bundeshaushalt
die kompletten Kosten trägt, weil wir Länder und Kommunen nicht zusätzlich belasten wollen. Ich sage Ihnen
an dieser Stelle zu: Wir wollen das Problem lösen und
werden es angehen. Den Kolleginnen und Kollegen der
Länder, die das Protokoll nachlesen, kündige ich schon
einmal gute kameradschaftliche Verhandlungen an. Ich
glaube, wir werden im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens gemeinsam eine Lösung finden. Das wäre ein
zusätzlicher Punkt bei echter Vereinfachung.
Ich danke an dieser Stelle dem Zentralverband des
Deutschen Handwerks, der gleichzeitig Gegenfinanzierungsvorschläge gemacht hat. Ich danke auch anderen
Verbänden, die unseren Konsolidierungskurs Gott sei
Dank unterstützen und bei ihren Vorschlägen zur Steuervereinfachung immer auch die Finanzierung berücksichtigen. Jeder Vorschlag, der gegenfinanziert ist, wird von
uns gerne in die Verhandlungen aufgenommen. Ich freue
mich auf die Beratungen der nächsten Wochen.
({10})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Sabine BätzingLichtenthäler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle meine Reden in dieser Legislaturperiode enthielten
bisher immer den Aufruf an die Regierungsfraktionen:
Machen Sie Schluss mit Ihrer Klientelpolitik! - Leider
geben Sie mir mit Ihren Gesetzentwürfen immer wieder
Gelegenheit, genau diesen Ausruf anzustimmen. Dabei
hören sich Ihre Gesetzentwürfe und die Behauptung dessen, was Sie eigentlich tun wollen, ganz gut an, auch
heute. Steuervereinfachungsgesetz - wer könnte dem
nicht zustimmen? Es gibt zwar keine Steuersenkungen,
die Sie den Menschen vor der Wahl eigentlich versprochen haben, aber Steuervereinfachungen, Vereinfachungen für die Bürger, Vereinfachungen für die Verwaltung.
Wer wollte das nicht? Aber setzen Sie das auch um?
({0})
Daran hat nicht nur meine Fraktion Zweifel. Ich darf
dazu einige Stimmen zitieren. „Das ist eine Luftnummer
der Politik, ein PR-Gag, der niemandem was bringt“, so
Herr Ondracek von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft.
„Reförmchen“, sagt der Bund der Steuerzahler. „Mogelpackung“, sagt Horst Vinken, der Präsident der Bundessteuerberaterkammer. Der Bundesverband der Lohnsteuerhilfevereine erklärt, dass die gemeinsame Abgabe von
Steuererklärungen für mehrere Jahre in der jetzigen
Form nicht zu Ende gedacht und deshalb abzulehnen sei.
Shakespeare hat es schön formuliert: „Much Ado about
Nothing“. Auf Deutsch: Viel Lärm um nichts.
({1})
Genau das trifft es auf den Punkt.
Ich gehe gerne auch in die Einzelkritik. Kommen wir
zur Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Sie
wollen etwas für Arbeitnehmer tun. Das finden wir richtig. Besser gesagt: Wir fänden es richtig, wenn Sie es
denn richtig tun würden. Das tun Sie aber nicht. Sie erhöhen zwar die Arbeitnehmerpauschale. Nur, wem nützt
das? Die Arbeitnehmer können ihre Werbungskosten
pauschal oder tatsächlich absetzen. Wer also höhere
Kosten als die hat, die von der Pauschale abgedeckt werden, wird diese Kosten in voller Höhe absetzen und
muss weiter Belege sammeln. Von der Neuregelung profitiert also nur derjenige, der gar keine höheren Kosten
hat. Sie verteilen also Geschenke, nämlich einen steuerlichen Ausgleich für nicht angefallene Kosten. Da frage
ich mich, Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP: Haben Sie es tatsächlich so üppig, dass Sie sich erlauben können, solche Geschenke zu machen? Oder
hätte man die dafür vorgesehenen 330 Millionen Euro
nicht besser verwenden können? Wäre die Anhebung der
Behindertenpauschale vielleicht nicht doch die bessere
Alternative gewesen?
({2})
Schon bei den Verhandlungen zu Hartz IV haben Sie
die Interessen der Menschen mit Behinderungen hinten
runterfallen lassen, und Sie tun das jetzt schon wieder,
obwohl viele die Erhöhung dieser Pauschale gefordert
haben: die Länderfinanzminister, der Bundesfinanzminister. Aber diesen Forderungen wollten Sie nicht
Folge leisten. Dabei wurden diese Pauschbeträge seit
langem nicht angehoben, und sie decken die tatsächlichen Aufwendungen in den meisten Fällen nicht mehr.
Hier wäre Klientelpolitik also einmal lobenswert gewesen. Aber anscheinend ist das nicht Ihre Klientel.
({3})
Glücklicherweise haben Sie dennoch die Interessen
des kleinen Bürgers auf Ihrem Plan; schließlich muss er
seine Steuererklärung, wenn es nach Ihnen geht, nur
noch alle zwei Jahre machen.
({4})
Das klingt vordergründig ja ganz gut. Denn wer macht
schon gern eine Steuererklärung? Nur derjenige, der
Geld zurückbekommt oder das erwartet! Das sind nach
Herrn Ondracek 21 Millionen von 22 Millionen Arbeitnehmern. Wenn ich richtig rechne, ist diese Gesetzesänderung, die Sie vorhaben, für 21 Zweiundzwanzigstel
der Arbeitnehmer uninteressant. Gute Quote! Alle Achtung!
({5})
Da frage ich mich, wen Sie damit entlasten. Die Steuerverwaltung? Nein, die auch nicht; denn die muss die
Steuererklärungen von 1 Million Arbeitnehmern dann
noch besonders im Auge behalten.
Somit, liebe Kolleginnen und Kollegen - damit
komme ich auch zum Schluss -, habe ich nicht nur recht
damit, dass Sie immer wieder eine Klientelpolitik betreiben, sondern ich habe auch recht mit meiner Behauptung, dass Sie die Expertenmeinungen konsequent
ignorieren, so geschehen beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz und beim Schwarzgeldbekämpfungsgesetz.
Hier geschieht das schon wieder.
Steuervereinfachung? Entlastung der Bürger? Entlastung der Verwaltung? Der große Durchbruch? Fehlanzeige! Auf all das werden wir dann wohl bis 2013 warten
müssen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5125 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen
- Drucksache 17/2480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Hilde Mattheis von der
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
zitiere anfangs aus den Empfehlungen des Beirats zur
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Da heißt
es in der Präambel:
Unsere Gesellschaft muss sich daran messen lassen,
wie sie Menschen, Menschen mit Pflegebedarf und/
oder Behinderung begegnet und insbesondere deren
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglicht.
Weiter heißt es:
Menschen mit Pflegebedarf haben ein Recht auf
qualitätsgesicherte, an ihrem persönlichen Bedarf
ausgerichtete, Fähigkeiten fördernde und menschenwürdige Pflege, Unterstützung und Zuwendung bis zum Lebensende.
Ich meine, diesen Sätzen kann man nur zustimmen.
({0})
Die Konsequenz daraus muss heißen: Wir wollen die
Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sehr schnell
und ganz gezielt.
({1})
Denn der geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff steht seit
langem in der Kritik.
({2})
Er gilt als zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch ausgerichtet. Die frühere Bundesregierung, die damalige Bundesministerin Ulla Schmidt, hat
einen Beirat zur Überprüfung und Überarbeitung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt, damit eine
Grundlage für eine gesetzliche Verankerung eines solchen Begriffs geschaffen wird.
Dieses Vorgehen stand nicht unter dem Motto: Jetzt
setzen wir einen Beirat ein, und dann sehen wir einmal,
was wir mit dem Ergebnis machen. - Dieser Beirat
wurde eingesetzt, um die Reform anzugehen! Für uns
war die Einsetzung des Beirats mit dem erklärten Ziel
verbunden: Wir wollen die Ungerechtigkeiten bei der
Einschätzung der Beeinträchtigungen von Menschen
und die Ungleichbehandlung von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen abbauen.
Wir wollen weg von der Minutenpflege hin zu einem
Pflegebedürftigkeitsbegriff, der auch die speziellen Bedürfnisse von Kindern und Menschen mit psychischen
und kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt. Wir
fordern diesen Paradigmenwechsel hin zu einer ganzheitlichen Sicht auf pflegebedürftige Menschen, um ihrem Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe gerecht
zu werden.
Daher war der von Ulla Schmidt eingesetzte Beirat in
unseren Augen erfolgreich. Seit 2009 liegen die Vorschläge vor. Fast vier Jahre haben sich eine Vielzahl von
Sachverständigen, von Vertreterinnen und Vertretern von
Fachverbänden und Vereinen sowie Gewerkschaften, der
Deutsche Pflegerat bis hin zu den kommunalen Spitzenverbänden dieser Aufgabe gewidmet. Mit großer Einigkeit wurden die Empfehlungen ausgesprochen.
Es sei an dieser Stelle erlaubt, zu sagen: Deshalb formulieren und fordern wir in unserem Antrag auch - und
damit sehen wir uns bei dem Ergebnis des Beirates nicht
nur in Einigkeit mit diesen Verbänden und Vereinen sowie mit den kommunalen Spitzenverbänden, sondern erfahren auch Zustimmung von einer breiten Öffentlichkeit -: Wir wollen nicht weiter warten, sondern der
Pflegebedürftigkeitsbegriff muss jetzt geändert werden.
({3})
Die jetzige Regierung hätte auf diese gute Vorarbeit seit
anderthalb Jahren aufbauen können.
({4})
Und ich frage dazu einmal: Wann war es im Bereich der
Gesundheits- und Pflegepolitik mal der Fall, dass es seitens der unterschiedlichsten Akteure eine breite Zustimmung zu einem Ergebnis gegeben hat? Oder ist dies dem
FDP-Bundesminister einfach zu viel Konsens, dass er
auf diese gute Vorarbeit nicht zurückgreifen mag? Das
muss man einmal fragen. Will er sich in diesem Bereich
der Gesundheitspolitik lieber auf einzelne Lobbygruppen verlassen als auf ein breites, von der Öffentlichkeit
getragenes Ergebnis? Das muss man an dieser Stelle
schon fragen, Frau Widmann-Mauz.
({5})
Jetzt ist 2011. Der Minister lädt weiterhin zu Gesprächsrunden ein, aber ohne sichtbares Ergebnis. Auch
der Beirat wird wieder ins Ministerium geladen, schön.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, endlich
einen Gesetzentwurf einzubringen.
({6})
Wir fordern, dass die Teilhabe als ganzheitliche Herausforderung gesehen wird. Wir fordern auch, dass es eine
Verbesserung im Zusammenspiel der unterschiedlichen
Akteure und Zuständigkeiten gibt. Wir fordern mehr
Durchlässigkeit zwischen diesen einzelnen Systemen.
Uns ist auch klar, dass, weil alles mit allem zusammenhängt, jetzt die Frage nach der Finanzierung kommt: Wir
fordern die Bürgerversicherung Pflege, um diese Reform
finanzieren zu können.
({7})
Wir wollen, dass Sie endlich handeln. Dazu gehe ich
auch auf die Große Anfrage der Linken ein, die vermutlich mit dem gleichen Ziel formuliert worden ist. Darauf
hat die Bundesregierung geantwortet:
Ziel ist es, die Pflegeversicherung und die Rahmenbedingungen für die pflegerische Versorgung so
weiterzuentwickeln, dass auch in Zukunft das
Recht auf eine würdevolle Pflege und Betreuung
eingelöst werden kann und Versorgungsdefizite
vermieden werden.
Dazu kann ich nur sagen: Lassen Sie diesen Worten Taten folgen!
Ich danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Willi Zylajew von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich zunächst ganz herzlich bei der SPD-Fraktion bedanken, namentlich bei der Kollegin Mattheis:
Mit diesem Antrag haben Sie uns wieder einmal die
Chance gegeben, deutlich zu machen, wie gut wir im Bereich der Pflege arbeiten.
({0})
Sie geben uns damit die Chance, zu sagen, wo wir stehen
und wie schnell wir zu konkreten Ergebnissen gekommen sind.
({1})
Wie immer in den letzten 20 Jahren können sich die
Menschen im Land darauf verlassen: Wenn eine christlich-liberale Koalition regiert,
({2})
gibt es Fortschritte in der Pflege, kommen wir weiter
und wird das Leistungsspektrum den Erfordernissen angepasst.
({3})
Auf die SPD ist auch Verlass: Nämlich immer dann,
wenn Sie in der Opposition sind, entwickeln Sie forsche
Forderungen, stellen sie in den Raum
({4})
- dazu komme ich noch - und verbrauchen die Energie,
die Sie in der Zeit aufgespart haben, als Sie in der Regierung waren.
({5})
Mehr haben Sie doch bislang nicht zu bieten. Ich wiederhole - das kann ich Ihnen nicht ersparen -: Die SPD
steht für Ruhephasen bei der Pflege immer dann, wenn
sie das Ministerium innehat und die Ministerin stellt.
({6})
Sie haben darauf hingewiesen, dass die Ministerin
Schmidt den Beirat 2006 eingesetzt hat.
({7})
Das ist wahr; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass
die Ministerin ganz präzise den Auftrag erteilt hat, bei
der Pflegereform nicht schon 2007/2008 zu einem Ergebnis zu kommen, sondern frühestens 2009, zum Ende
ihrer Amtszeit. Das heißt, Sie haben planmäßig den Beirat beauftragt, bis zum Ende - ({8})
Ich bitte jetzt, dem Kollegen Zylajew das Wort zu lassen, sodass alle anderen wenigstens zuhören können. Bitte schön.
({0})
Sie haben planmäßig darauf hingewirkt, dass erst am
Ende der Wahlperiode die Ergebnisse des Beirates für
eine Pflegereform vorgelegt wurden.
Ich darf auch noch darauf hinweisen, dass Frau
Schmidt diesen Auftrag Herrn Wilhelm Schmidt gegeben hat, dem Beiratsvorsitzenden und Bundesvorsitzenden der AWO. Der ist ihr dann allerdings abhandengekommen.
({0})
Am 26. April 2008 - das Schreiben habe ich dabei; ich
stelle es Ihnen gerne zur Verfügung - hat Herr Schmidt
sein Amt niedergelegt und seine Position im SPD-Vorstand aufgegeben,
({1})
weil er sich durch einen Artikel im Vorwärts sehr beleidigt fühlte. Im SPD-Vorwärts wurden in einem Bericht
über Pflegeskandale die Leistungserbringer als „PflegeMafia“ bezeichnet.
({2})
So stand es im Vorwärts. Ich habe, wie gesagt, die Briefe
dabei.
Wilhelm Schmidt, SPD-Mitglied immerhin seit 1964,
wollte sich nicht als „Pflege-Mafioso“ von der SPD beschimpfen lassen und legte sein Amt als Beiratsvorsitzender nieder. So weit also zum Herzensanliegen Pflege
und den hier von der SPD erzielten Fortschritten.
({3})
Die Kolleginnen und Kollegen von der FDP und die
Kolleginnen und Kollegen von der Union sind Herrn
Dr. Gohde, aber auch den anderen Damen und Herren,
die im Beirat waren, ausgesprochen dankbar, dass es am
Ende ein einstimmiges Votum gab, wie Sie ja schon hervorgehoben haben.
({4})
- Auch bei einer Enthaltung ist das Ergebnis in Deutschland normalerweise immer noch einstimmig; ich weiß
natürlich nicht, wie das bei der SPD ist.
({5})
Es herrschte also Einstimmigkeit zwischen Krankenkassen, Leistungserbringern, Pflegewissenschaft, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Sie alle haben zusammen einen Vorschlag entwickelt, der fünf Pflegestufen
vorsieht und auch Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die man bisher - da gebe ich Ihnen recht - noch
nicht in ausreichendem Umfang erfasst hatte, erfasst,
und zwar, ohne die anderen zu vernachlässigen. Das ist
eine großartige Leistung, was diese Damen und Herren
erreicht haben. Sie sind auch planmäßig zu diesem Ergebnis gekommen, so wie von Ulla Schmidt und der
SPD gewünscht, nämlich zum Ende der letzten Wahlperiode.
Nun hat unsere Koalition sich vorgenommen, diesen
Pflegebegriff in dieser Wahlperiode einzuführen. Die
Wahlperiode ist jetzt anderthalb Jahre alt. Derzeit arbeiten wir intensiv daran. Wir wollen dieses Modell umsetzen und Verbesserungen erreichen; denn die Erarbeitung
von Versorgungsplänen und Pflegeberichten kann über
diesen Weg erleichtert werden.
Wir sind auch der Auffassung, dass wir mit den neuen
fünf Pflegestufen nicht zu einem Bürokratieaufwuchs,
sondern zu einem Bürokratieabbau kommen müssen.
Dies verlangt erhebliche Anstrengungen.
({6})
Wir wissen, dass die Situation von Kindern mit Behinderungen über den neuen Pflegebegriff besser berücksichtigt wird.
Wir wollen die sogenannte Minutenpflege ersetzen.
Hier wollen wir einen Paradigmenwechsel.
({7})
- Ja, Frau Schmidt wollte das. Sie ist in den Ruhestand
gegangen. Es macht doch keinen Sinn, dass Sie viel wollen, wenn Sie nicht gestalten können. Das wissen wir. Es
kommt eben auch darauf an, dass wir das, was wir wollen, auch umsetzen, wenn wir die Chance haben.
({8})
All dies braucht Sorgfalt und Zeit. Diese Zeit nehmen
wir uns.
Wir danken insbesondere Herrn Minister Rösler und
seinem Ministerium;
({9})
denn erstmals seit Norbert Blüm hat Pflege im Ministerium einen Stellenwert.
({10})
Das halten wir für durchaus bedeutsam.
({11})
Ich will auf Folgendes hinweisen: Uns ist das Thema
Pflege wichtig. Bei dieser Gelegenheit müssen wir auch
den Fachkräftebedarf im Auge haben. Dort gibt es einiges zu tun.
({12})
Ausbildung pflegender Angehöriger, Bürokratieabbau sowie Ausbau der Angebote für Menschen mit Demenz
sind uns wichtig.
Sobald die Inhalte aufgearbeitet sind, müssen wir
über die Kosten reden. Dies wird in den nächsten Monaten geschehen. Dann stehen wir auch vor einer spannenden gesellschaftlichen Befassung. Das wird nicht allein
das Parlament erledigen können.
({13})
Wir brauchen Verlässlichkeit und Transparenz in der
Pflege. Dort sind wir auf einem guten Weg. Ergebnisse
liegen vor.
({14})
Das Thema Familienpflegezeit ist diese Woche im
Kabinett behandelt worden. Wer hat Sie jemals daran gehindert, so etwas einzuführen? Wir haben es erledigt.
({15})
In Bezug auf die Ausbildung kommen von Ihnen forsche Anforderungen im Bund. Uns wäre es lieber, wenn
Sie einmal mit Ihren zuständigen Landesministerinnen
und Landesministern sprächen, damit wir hier weiterkommen.
({16})
Wir sind dort zu einer Kooperation mit den Ländern bereit.
Lassen Sie mich noch einen letzten Blick auf die Bereiche werfen, die über die Zuständigkeit des Gesundheitsministeriums hinausgehen.
Bereich Bildung und Forschung: Frau Schavan stellt
die Mittel für Demenzforschung bereit. Dort kommen
wir weiter.
({17})
Frau Schavan kümmert sich um den Bildungsbereich.
Bereich Familie und Senioren: Kristina Schröder ist
die Ministerin, mit der die Einführung von Familienpflegezeit immer verbunden sein wird.
({18})
Sie hat hier die Dinge erreicht, die Sie sich vielleicht einmal gewünscht haben.
({19})
Im Bereich Arbeit können wir uns auf Frau von der
Leyen mit ihrem Engagement verlassen,
({20})
im Bereich Soziales ebenfalls.
({21})
Ich denke, wir machen deutlich, dass wir in einem regelrechten Pflegepakt weiterkommen
({22})
und konkrete Ergebnisse erwirken. Wir formulieren
nicht nur das, was wir uns wünschen, sondern handeln
auch entsprechend. Wenn Sie das an den Stellen mittragen, an denen Sie bereit sind, einsichtig zu werden, wären wir Ihnen sehr dankbar. Am Jahresende sieht die
Welt deutlich besser aus als heute, glaube ich.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das Thema Pflege liegt uns allen am Herzen; da sind wir uns fraktionsübergreifend einig. Der
neue Pflegebegriff liegt bereits seit Anfang 2009 vor.
Aber was ist seither im Interesse der Betroffenen passiert? Nichts. Die Linke brachte das Thema Pflegebegriff zuletzt im Januar dieses Jahres auf die Tagesordnung; aber leider gilt noch immer der alte Pflegebegriff:
still, satt und sauber. Ich muss sagen: Das ist eine Katastrophe.
({0})
Wir fordern, dass der neue Pflegebegriff mit seinen
wesentlichen Elementen endlich umgesetzt wird. Statt
Pflege im Minutentakt müssen Selbstbestimmung und
Teilhabe für pflegebedürftige Menschen endlich Wirklichkeit werden. Wir meinen, es ist höchste Zeit, das
endlich umzusetzen. Die Bundesregierung muss zugeben, dass eine Umsetzung ohne mehr Geld nicht möglich
ist - das klang eben bei Ihnen, Herr Zylajew, an - und
man die Situation der Betroffenen mit Schmalspurvarianten nicht wirklich verbessern kann.
({1})
Auf den Punkt gebracht: Es darf am Ende keine Kürzungen bei den Pflegebedürftigen geben.
({2})
Eine Pflegeversicherung, die sich „sozial“ nennt, hat die
Aufgabe, gute und hochwertige Pflege für alle Betroffenen zu garantieren. Dabei ist der heutige Stand der Pflegewissenschaft entscheidend.
Noch immer bekommt ein erheblicher Teil der Menschen, die es bräuchten, nicht einmal die Pflegestufe I
zugestanden. Ich denke da insbesondere an Menschen
mit Demenz. Sie brauchen enorm viel Zeit der Zuwendung und Betreuung. Die Angehörigen kommen in erster
Linie für die anspruchsvolle Betreuung auf; das sind vor
allem die Ehefrauen, Schwiegertöchter und Töchter. Sie
haben meine allerhöchste Wertschätzung, denn sie kennen keine Freizeit, ganz zu schweigen von Urlaub. Sie
sind im allerhöchsten Maße krankheitsgefährdet. Sie
sind schlicht überlastet, häufiger von Armut bedroht und
in der Folge oft frühzeitig selbst pflegebedürftig. Das
wird seit Jahr und Tag billigend in Kauf genommen; das
geht doch nicht.
({3})
Im Übrigen macht das Familienpflegezeitgesetz von
Ministerin Schröder die Situation der Frauen kein bisschen besser.
Herr Dr. Gohde, der Vorsitzende des Beirats zur
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, hat zwei
Dinge gesagt:
Erstens. Mit dem neuen Pflegebegriff - Sie haben das
vorhin schon angesprochen - muss auch die öffentliche
Diskussion um den Stellenwert guter Pflege angeregt
werden.
Zweitens. Mit dem Begriff muss Akzeptanz dafür geschaffen werden, dass wir mehr Geld für die Pflege
brauchen.
Er hat recht. Ich fordere Sie auf, die Kosten gerecht
zu verteilen,
({4})
und zwar nach dem bewährten Prinzip, dass starke
Schultern mehr tragen müssen als schwache.
({5})
Das wäre im höchsten Maße sozial und übrigens auch
christlich.
Wir brauchen dafür eine solide und gerechte Finanzierung. Wir, die Fraktion Die Linke, stehen für die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die
alle nach ihren finanziellen Möglichkeiten einzahlen, die
Schwester und der Pfleger in der Altenpflege genauso
wie der Chefarzt im Krankenhaus.
Außerdem müssen die Leistungen der Pflegeversicherung deutlich angehoben und zukünftig jährlich angepasst werden. Unser Ziel muss es sein, dass pflegebedürftige Menschen in Zukunft das bekommen, was sie
wirklich brauchen. Dieser Aspekt fehlt uns leider im Antrag der SPD.
({6})
Ich finde es sehr gut, dass Bundesgesundheitsminister
Dr. Philipp Rösler das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege
ausgerufen hat.
({7})
Heute diskutieren wir bereits zum zweiten Mal über das
Thema des neuen Pflegebegriffs, und mir scheint, dass
man es hiermit nicht so ernst meint.
({8})
Wir sagen: Es müssen endlich Fakten zum neuen Pflegebegriff auf den Tisch gelegt werden.
({9})
Fehlanzeige haben wir auch in Sachen „Finanzierung
der Pflegeversicherung“. Bekannt ist nur, dass insbesondere die FDP eine Pflegekopfpauschale einführen will.
Das belastet in erster Linie wieder einmal Menschen mit
geringen und mittleren Einkommen. Anstatt das den
Menschen klipp und klar zu sagen, wird vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg
der Ball so lange flach gehalten, bis alles halbwegs in
trockenen Tüchern ist. Aber glauben Sie mir: Die Menschen merken das. Im sogenannten Jahr der Pflege ist
das nicht nur mir ein Dorn im Auge.
Herr Minister Rösler - er ist nicht anwesend, aber Sie
werden es ihm ausrichten - soll nicht von einem Pflegedialog zum nächsten hetzen, was ohnehin nichts anderes
ist als ein gut inszeniertes Ablenkungsmanöver. Meine
Aufforderung an Minister Rösler lautet: Handeln Sie!
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte über einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erinnert mich stark an die Debatte über
die UPD. Wir alle sind uns, wenn wir die Detailfragen
einmal außen vor lassen, im Grunde einig, was wir wollen. Sowohl bei der UPD als auch beim Pflegebedürftigkeitsbegriff hatte das Ulla-Schmidt-Ministerium schon
einmal ein paar Gedanken skizziert - und uns dann, wie
immer, eine Baustelle hinterlassen, für die wir jetzt verantwortlich gemacht werden
({0})
und die wir, wie Frau Mattheis fordert, ganz schnell abräumen müssen, obwohl die Sozialdemokraten selbst es
waren, die in der letzten Wahlperiode bei so vielen Projekten erst schwach angefangen und dann doch stark
nachgelassen haben.
({1})
Unser Gesundheitsminister hingegen hat sich von Anfang an mit dem Thema Pflege befasst; denn das ist ihm
persönlich ganz besonders wichtig.
({2})
Philipp Rösler hat das Jahr 2011 nicht ohne Grund zum
Jahr der Pflege ausgerufen.
({3})
Sie werden sehen - wenn Sie einmal zuhören -: Am
Ende der konzeptionellen Arbeit werden wir Ihnen etwas
vorlegen, an dem Sie wahrscheinlich nicht einmal Kommafehler kritisieren können. Also keine Aufregung bitte.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt ins Detail
gehen. Wir wollen eine neue, differenzierte Definition
der Pflegebedürftigkeit. Wir wollen die Pflegebedürftigkeit neu klassifizieren
({5})
und dabei nicht nur Betreuungsbedarf bei körperlichen
Beeinträchtigungen berücksichtigen, sondern auch anderweitigen Betreuungsbedarf, zum Beispiel aufgrund
von Demenz. Da sind wir uns doch hoffentlich einig. Der
Mensch muss in seiner Gesamtheit betrachtet und auch
gepflegt werden. Das ist uns besonders wichtig. Dieser
neue Ansatz des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird auch
von allen Beteiligten auf Bundes- und Länderebene begrüßt. Auf dieser Basis können wir also arbeiten.
({6})
Denn durch die Einbeziehung von demenziell und psychisch erkrankten Menschen erreichen wir eine gerechtere Pflege. Auch darüber sind wir uns hier hoffentlich
einig.
({7})
Das ist - jetzt würde ich an Ihrer Stelle zuhören auch ein Ergebnis der Arbeit von Ulla Schmidt; das gebe
ich hier offen und gerne zu.
({8})
- Na sehen Sie, Applaus von der SPD. - Doch, meine
Lieben, freuen Sie sich nicht zu früh: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kann nicht ohne Systemveränderungen eingeführt werden, und gratis gibt es ihn auch nicht.
Genau dazu hat die SPD nichts gesagt. Das ist die von
Frau Ulla Schmidt hinterlassene Baustelle, die ich eingangs erwähnt habe.
({9})
Das Einzige, was uns bleibt, ist der Umsetzungsbericht des Beirates. Damit befassen wir uns jetzt.
({10})
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff hat erhebliche
Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme insgesamt; das müssen wir berücksichtigen.
({11})
Die Frage nach der Finanzierung muss daher ganz neu
gestellt werden.
({12})
Insofern ist es erforderlich, ganz offen über Mehrkosten
oder Leistungskürzungen zu sprechen. Das ist eine
Wahrheit, die wir den Menschen nicht vorenthalten dürfen. Alles andere wäre Augenwischerei. Wir sind uns
wohl auch darüber einig, dass wir Leistungskürzungen
nicht wollen.
({13})
Wenn wir das System der Pflege insgesamt verbessern wollen, müssen wir langfristig denken. Das System
muss insgesamt auf einer soliden Grundlage stehen.
({14})
Dazu gehört auch, dass wir die Finanzierung so zukunftsfest gestalten, dass wir nicht nach kurzer Zeit
nachbessern müssen.
Die von Pflegebedürftigkeit und Behinderung betroffenen Menschen haben Anspruch darauf, zu erfahren,
wie sich das Verständnis der Pflege an sich auf ihre Unterstützungssysteme auswirken wird.
({15})
Klar muss sein: Eine gänzlich unveränderte Weiterführung der heutigen Leistungsstrukturen nur mit neuen
oder mehr Bedarfsgraden kann es nicht geben. Das wäre
neuer Wein in alten Schläuchen, und das wollen wir
nicht.
({16})
Pflege darf aber auch keine rein betriebswirtschaftlich
getaktete Veranstaltung sein. Deshalb wollen wir weg
vom verrichtungsbezogenen Ansatz. Das ist doch wohl
konkret genug;
({17})
denn der wird den berechtigten Ansprüchen der pflegebedürftigen Menschen nicht gerecht.
Insbesondere durch den weitergefassten Personenkreis entstehen zusätzliche Kosten. Damit darf man nicht
leichtfertig umgehen. Seien Sie sich sicher: Die Länder
und Kommunen werden die Umsetzung nur dann unterstützen, wenn die Folgen für ihre eigenen Haushalte geklärt sind. Deshalb machen wir hier keine Schnellschüsse, sondern arbeiten sachlich, zielorientiert und mit
Bedacht an einem Gesamtkonzept.
({18})
Leider waren Sie während Ihrer Regierungszeit nicht in
der Lage, so ein Konzept vorzulegen, aber das sind wir
ja gewohnt.
({19})
Notwendig ist eine strukturelle und systematische
Unterscheidung zwischen dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und der Eingliederungshilfe für behinderte
Menschen; denn die unterschiedlichen Leistungsträger
brauchen praktikable und leistungsrechtliche Abgrenzungen, an denen sie sich entlanghangeln können. Das
können wir nicht ignorieren.
Wir betrachten die Pflege aus einer neuen Perspektive. Wir nehmen die Lebenslage von pflegebedürftigen
Menschen umfassend in den Blick. Im Ergebnis werden
wir die Pflegebedürftigkeit neu definieren. Wir brauchen
eine professionelle Pflegepraxis, die wir neu installieren
müssen. Wir brauchen also die Abkehr von der Minutenpflege, und wir müssen offen sein für neue Praktiken.
({20})
Das heißt, wir brauchen neue Formen der Leistungserbringung, bezogen auf die ambulante sowie die stationäre Pflege, bezogen auf das persönliche Budget und das
betreute Wohnen. All diese Begriff müssen weiterentwickelt werden.
({21})
Daran arbeiten wir in der Koalition. Daran arbeitet auch
der Minister intensiv. Er führt viele Gespräche.
Zum Schluss kann ich mich nur meinem Kollegen
Lanfermann anschließen,
({22})
der am 28. Januar 2011 von dieser Stelle aus sagte:
… erst reden, dann denken und prüfen, dann entscheiden und dann handeln.
({23})
In dieser Reihenfolge wird das gemacht.
({24})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn der Kollege Zylajew während seiner
Rede weitgehend nur die Szenen aufgearbeitet hat, die
sich hinsichtlich der Pflegepolitik in der schwarz-roten
Ehe abgespielt haben,
({0})
muss ich doch betonen, dass es im Bereich der Pflegepolitik wenig gibt, bei dem wir uns so einig sind. Wir
alle in diesem Haus fordern die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die SPD unterstreicht das mit ihrem
Antrag zu Recht.
Die Pflegeversicherung muss endlich weg von der
körperorientierten Ausrichtung. Dieser einseitige Blick
schließt sehr viele Menschen aus. Der Blick muss geweitet werden. Demenzielle Störungen und kognitive Veränderungen müssen genauso gesehen werden wie die
Potenziale von Pflegebedürftigen.
({1})
Pflege bedeutet nicht nur Versorgung. Das müssen
wir endlich begreifen und umsetzen. Pflege bedeutet
auch, den Betroffenen die Möglichkeit zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu eröffnen. Pflege ist übrigens
keine Frage des Alters, und Pflege ist auch nicht die
Endstation des Lebens.
({2})
Die Betroffenen - ich meine zum Beispiel Menschen
mit Demenz und ihre Angehörigen - stehen unter einem
ungeheuren Druck. Diese Menschen warten seit Jahren
auf wirkliche Leistungsverbesserungen.
Das sieht die Bundesregierung im Kern eigentlich
auch so. Laut dem Koalitionsvertrag
({3})
wollen CDU/CSU und FDP „eine neue, differenziertere
Definition der Pflegebedürftigkeit“ und „mehr Leistungsgerechtigkeit in der Pflegeversicherung“ schaffen.
({4})
Aber seit über zwei Jahren liegen die Empfehlungen
des wissenschaftlichen Beirats zur Überprüfung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf dem Tisch des Bundesgesundheitsministeriums. Passiert ist seitdem nichts. Außer vielen warmen Worten hören wir von Herrn Rösler
nichts darüber.
({5})
Wir hören nicht, wie sich der Gesundheitsminister die
Umsetzung eines überarbeiteten Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorstellt. Ich finde das unglaublich und unbegreiflich.
Gerade ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff bietet
die Chance, ganz neue Wege zu beschreiten sowie die
pflegerische Versorgung neu auszurichten. Uns allen ist
klar: Das ist kein einfaches Projekt. Dennoch: Dieses
ambitionierte Projekt muss jetzt endlich angepackt werden.
({6})
Der Gesundheitsminister wird diese Aufgabe nicht
durch seine Strategie des Nichtstuns bewältigen können.
Da helfen auch die sicherlich gut gemeinten Pflegedialoge nicht weiter. Er muss jetzt endlich handeln, anstatt
ständig nur blumige Reden zu halten. An seinen Taten
werden wir und alle Pflegebedürftigen in diesem Land
den Minister messen.
Wir stehen vor der schwierigen Frage, welche Leistungen die Pflegebedürftigen in Zukunft von der Pflegeversicherung bekommen sollen. Die Lösung kann nicht
sein, manchen Betroffenen mehr Leistungen zu geben
und anderen dafür Leistungen zu streichen ({7})
und das vor dem Hintergrund, nicht mehr Geld auszugeben. Ich sage ganz klar: Umsonst ist gute Pflege nicht zu
haben.
({8})
Das scheint aber die FDP zumindest anders zu sehen.
({9})
Herr Lanfermann und Herr Solms haben am 18. Februar
in der WELT ganz unmissverständlich erklärt, die FDP
wolle und werde eine Beitragserhöhung in dieser Legislaturperiode verhindern.
({10})
Liebe FDP-Kolleginnen und -kollegen, was haben Sie
sich dabei gedacht? Eine Beitragserhöhung ist schon
deshalb nötig, um kurzfristig zu verhindern, dass die
Pflegeversicherung 2014 ins Defizit rutscht. Das gilt erst
recht, wenn man die Leistungen verbessern muss. Das
muss man tun, wenn man die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ernst meint.
Die private Kapitaldeckung, die die FDP unbedingt
will, hilft kurzfristig überhaupt nicht. Diese Kapitaldeckung wird erst in vielen Jahren greifen.
Wenn die Liberalen also gegen eine Beitragserhöhung
sind, kann das nur eines bedeuten: Die FDP will die
Leistungen der Pflegeversicherung kürzen, anstatt sie zu
verbessern.
({11})
Denn, wie gesagt: Der Beitragssatz muss erhöht werden,
allein um die jetzigen Leistungen auf dem derzeitigen
Niveau zu halten.
Bei diesen Aussagen der FDP können wir die Reform
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs - ich sage das ganz salopp - einfach nur in die Tonne treten.
Erfreulicherweise gibt es Stimmen aus der Union, die
die Kapitaldeckung strikt ablehnen. Da kann ich nur in
Richtung von Herrn Singhammer sagen: Bleiben Sie
stark; unsere Unterstützung haben Sie.
({12})
Es kann nicht sein, dass sich diese Koalition von parteipolitischer Ideologie leiten lässt. Ich befürchte: Das
lässt eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum
Opfer von Ideologien werden.
Herr Rösler führt seine medienwirksamen Dialoge. Er
sollte sich bei diesen Dialogen jedoch weniger selbst inszenieren. Er sollte stattdessen zuhören, was die wirklichen Bedürfnisse der Menschen sind, und diese ernst
nehmen.
({13})
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist notwendig,
bevor überhaupt irgendetwas anderes Pflegepolitisches
angepackt wird.
Der Herr Minister selbst hat das Jahr 2011 zum Jahr
der Pflege ausgerufen. Ich nehme ihn hier beim Wort.
({14})
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Menschen in unserem Land
werden zum Glück immer älter. Innerhalb eines Jahrhunderts hat sich die Lebenserwartung verdoppelt. Wer
heute beispielsweise mit 65 Jahren in den Ruhestand
geht, hat meistens noch viele Jahre vor sich: Männer
durchschnittlich 17 Jahre, Frauen etwa 20 Jahre. Ein immer größerer Teil dieser Jahre wird in guter Gesundheit
verbracht. Hierzu beigetragen hat sicherlich auch das gestiegene Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung.
Viele Menschen nutzen diese Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben kreativ mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen. Sie engagieren sich in Vereinen und Verbänden, betreuen ihre Enkel oder pflegen
Angehörige. Sie leisten damit einen unschätzbaren Beitrag für die Gesellschaft, erbringen eine soziale Rendite,
die im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar ist, nicht
nur für die anderen, sondern vor allem für sich selbst.
Denn die Lebenszufriedenheit steigert sich dadurch; dies
hat viel mit sozialer Einbindung zu tun.
({0})
Gesundes Älterwerden ist also nicht allein eine Frage
körperlicher oder seelischer Gesundheit, sondern wird
maßgeblich mitbestimmt durch die Lebenseinstellung
und Lebensgestaltung. Dazu, dass dies gelingt, kann der
Einzelne, aber auch die Gesellschaft viel beitragen, vor
allem durch die Botschaft: Jeder Einzelne ist wichtig, jeder Einzelne wird gebraucht und ist wertvoll, so, wie er
ist.
({1})
Das gilt besonders dann, wenn im höheren Alter die eigenen Kräfte nachlassen, es zu verstärkten gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommt und insbesondere
Hochbetagte nun selbst auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.
Die Pflegeversicherung ist ungeachtet aller Reformnotwendigkeiten ein wichtiger Baustein der sozialen
Sicherung in Deutschland. Sie genießt hohe Akzeptanz,
nicht nur bei den Versicherten, sondern vor allem auch
bei den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Die
Leistungen der Pflegeversicherung tragen zur finanziellen Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen bei.
({2})
Dabei nutzt eine isolierte Betrachtung von Einzelaspekten, wie es die SPD in ihrem Antrag fordert, nicht.
Pflege ist vielschichtig. Pflege ist vielgestaltig. Wir wollen vor allem eine Stärkung pflegender Angehöriger und
eine verbesserte Einbeziehung von Demenzkranken erreichen und eine finanzielle Grundlage schaffen, die stabil, sozial gerecht und zukunftsfest ist.
({3})
In Bayern leben rund 300 000 pflegebedürftige Menschen. 203 000 davon leben zu Hause. 70 Prozent davon
werden ausschließlich von Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden gepflegt.
({4})
Dies zeigt: Die Familie ist der größte Pflegedienst in
Deutschland.
({5})
Das wird in diesem Land leider viel zu wenig wahrgenommen, viel zu wenig beachtet und anerkannt. Familie
hat, wie so oft, keine Lobby in dieser Gesellschaft. Das
wollen wir ändern, und das werden wir ändern.
({6})
Das, was Angehörige leisten, ist enorm. Hier wird die
Partnerschaft zwischen Jung und Alt gelebt; dies gilt es
zu unterstützen. Deshalb werden wir die pflegenden Angehörigen stärken. Ein sinnvoller Ansatz ist die Einführung einer Familienpflegezeit, die wir als christlichliberale Koalition auf den Weg gebracht haben. Die Familienpflegezeit trägt zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bei. Sie ist gut und hilfreich.
({7})
Die pflegenden Angehörigen wünschen sich zudem
mehr Beratung und Hilfestellung bei der Bewältigung
der anspruchsvollen täglichen Aufgaben und einfach
auch einmal - zumindest zeitweise - eine Entlastung.
Dabei kann, wie vorgeschlagen, der Ausbau der Tagespflege, jedenfalls eingestreut in stationäre Einrichtungen, und eine flexiblere Kombination von Leistungen,
beispielhaft von Pflegegeld und Leistungen für die Tagespflege bzw. den ambulanten Dienst, helfen.
Diese Vorschläge sind gut. Wir werden prüfen, welche umsetzbar sind. Neben der Stärkung der Pflege
durch Angehörige wollen wir insbesondere eine bessere
Einbeziehung der Demenzkranken erreichen. 1 Million
Demenzkranke lebt derzeit in Deutschland.
({8})
Infolge der demografischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass in Zukunft mehr Menschen an Demenz erkranken werden, als es bisher der Fall ist. Dieser Entwicklung ist Rechnung zu tragen. Der heute geltende
Begriff der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt Menschen
mit Demenzerkrankung in der Pflegeversicherung nur
sehr unzureichend. Denn der Begriff der Pflegebedürftigkeit zielt auf bestimmte Alltagsverrichtungen ab. Dies
wirkt sich insbesondere für Menschen mit kognitiven
und psychischen Beeinträchtigungen nachteilig aus. Das
wollen wir ändern.
({9})
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen zur Neuregelung
des Begriffs der Pflegebedürftigkeit. Das, was hierbei
diskutiert wird, ist ein sozialpolitischer Fortschritt; denn
im Kern geht es darum, von der Verrichtungsbezogenheit des derzeitigen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, der
sogenannten Minutenpflege, wegzukommen und die Betrachtung der Selbstständigkeit und ihrer Einschränkungen in den Blick zu nehmen. Dies fördert ein teilhabeorientiertes Verständnis von Pflege.
({10})
Klar ist, dass mit einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff das Leistungsrecht neu differenziert und neu definiert werden muss. Dabei müssen auch die Schnittstellen zur Sozialhilfe neu verknüpft werden. All dies ist zu
bedenken. All dies geht nicht hopplahopp, wie die einen
oder anderen hier, vor allem vonseiten der Opposition,
zu meinen glauben. All dies zeigt, dass wir den Mittelbedarf zur Finanzierung der Mehrleistungen und der
Schnittstellen, die durch die Weiterentwicklung des Pflegebegriffs entstehen, nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Es gilt, sorgfältig abzuwägen, was notwendig ist
und was finanzierbar ist. Dabei steht die bessere Einbeziehung von Demenzkranken im Fokus.
Neben der Weiterentwicklung des Leistungsrechts
geht es vor allem darum, dass für die Finanzierung der
Pflegeversicherung ein sozial gerechtes und zukunftsfestes Fundament gelegt wird; denn in den kommenden
Jahrzehnten wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen annähernd verdoppeln. Die rein umlagefinanzierte Pflegeversicherung stößt damit an ihre Grenzen. Sie muss daher
um eine kapitalgedeckte Komponente ergänzt werden.
({11})
All dies zeigt, dass Pflege äußerst vielschichtig ist
und einen erheblichen Bedarf auslöst. Das hat man hier
zu bedenken. Deswegen werden wir zusammen mit dem
Koalitionspartner, mit Minister Rösler und seinem
Ministerium sehr zielgerichtet, sehr genau vorgehen und
die notwendigen Schritte vollziehen. Ich fordere Sie auf,
sich hieran konstruktiv zu beteiligen.
Herzlichen Dank.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Mechthild Rawert von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Stracke, ich danke für die Aufforderung, dass wir
uns beteiligen. Die Frage ist nur: Woran?
({0})
Das blieb bei all Ihren Ausführungen ziemlich unklar.
Wir alle haben herausgestellt, dass wir einen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff wollen. Schon bei der Einführung der Pflegeversicherung durch Norbert Blüm war
klar, dass wir verrichtungsbezogene, rein somatische
Pflegeleistungen nicht wollen, dass es hiermit Probleme
gibt, dass es zu Ungleichbehandlungen von Pflegebedürftigen und somit zu eklatanten Gerechtigkeitslücken
kommt.
({1})
Vor diesem Hintergrund hat Ulla Schmidt die Initiative
ergriffen, einen anderen Maßstab zu schaffen. Mit diesem Maßstab wird berücksichtigt, dass, erstens, nicht
mehr der Zeitaufwand, sondern der Grad der Selbstständigkeit entscheidend ist und dass, zweitens, andere Inhalte in den Mittelpunkt gestellt werden. Es sollte nicht
mehr nur um die Begrenzung auf die Alltagsverrichtungen gehen, sondern darum, dass ein umfassender Pflegebedürftigkeitsbegriff Wirklichkeit wird.
Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag, unterzeichnet
im Oktober 2009, auf diese gute Arbeit Bezug genommen und festgeschrieben - ich glaube, es war auf
Seite 93 -:
Es liegen bereits gute Ansätze vor, die Pflegebedürftigkeit so neu zu klassifizieren, dass nicht nur
körperliche Beeinträchtigungen, sondern auch anderweitiger Betreuungsbedarf ({2}) berücksichtigt werden können.
Es ist richtig, dass Bürger und Bürgerinnen und nicht
nur die Opposition fragen: Was haben Sie zu der Zeit gedacht?
({3})
Ich frage nicht nur, was Sie gedacht haben, sondern ich
frage auch, was Sie in der Zeit geredet haben. Sie prüften, haben Sie gesagt. Aber was prüfen Sie, wenn wir
schon aufgefordert werden, uns zu beteiligen? Bis dato
liegt diesem Hohen Haus nichts außer einer Ankündigung vor.
({4})
Ankündigungen sind das Letzte, was die Menschen, die
Pflegebedürftigen und insbesondere auch ihre Angehörigen brauchen. Wir brauchen keine Ankündigungspolitik,
sondern Handlungspolitik. Das ist das, was bei Ihnen
fehlt.
({5})
Man wäre natürlich ein Schelm, würde man als böse
Opposition vermuten, dass Sie noch keine Vorschläge
gemacht haben, weil am Sonntag Wahlen sind und Sie
sich vor der Frage: „Wie bringen wir die Pflegebedürftigkeit mit der Finanzreform in Einklang?“ drücken wollen. Dass diese Themen zusammengehören, ist seit Jahren bekannt.
({6})
Frau Aschenberg-Dugnus hat gesagt: Es kommt zu
Mehrausgaben. ({7})
Wir wissen aber noch nicht, zu welchen und wie hoch sie
sein werden. Das ist allerdings eine Frage, die die Bürger
und Bürgerinnen sehr interessiert: Wie hoch werden die
Beitragssätze in Zukunft sein? Wofür wird das Geld, das
man einnimmt, verwendet?
({8})
Es ist zu befürchten, dass Sie das Lebensrisiko Pflege individualisieren und privatisieren und somit den Ausstieg
aus der sozialen, auf Solidarität aufbauenden Pflegeversicherung starten wollen.
({9})
Ich sage Ihnen hierzu ganz klar - ich denke, an dieser
Stelle kann ich für die gesamte Opposition sprechen -:
Mit uns nicht! Hier haben wir die Bürger und Bürgerinnen auf unserer Seite.
({10})
Ich möchte noch in Kürze auf einzelne Punkte eingehen.
({11})
Pflege ist nicht nur eine Begleiterscheinung des Alters.
Übersehen wird zumeist, dass 20 Prozent der Pflegebedürftigen junge Menschen sind. Was wird aus deren Teilhabe und Selbstständigkeit?
Ich freue mich - das ist vorhin schon erwähnt worden -, dass wir eine Schnittstellenklärung vorzunehmen
haben. Morgen jährt sich zum zweiten Mal das Inkraft11534
treten der UN-Behindertenrechtskonvention. Es handelt
sich dabei um eine Herausforderung, die uns alle betrifft.
Wer 8,7 Millionen Menschen, die in Betroffenenverbänden organisiert sind, nicht beachtet - das gilt auch für
den Bereich der Pflege -, handelt nicht verantwortungsvoll.
({12})
Wir brauchen mehr interkulturelle Pflege. Wir brauchen
auch mehr gleichgeschlechtliche Pflege. Davon haben
wir von Ihnen noch nichts gehört.
Eines sei gesagt: Heute ist Equal Pay Day.
({13})
Daher: Die Pflege in die Familie, in den unbezahlten
Raum, in die Hände von Frauen zurückzuverweisen, ist
das Schlimmste, was einer guten Pflege passieren kann.
({14})
Frauen, die in der Pflege tätig sind, sind unterbezahlt,
und ihre Arbeitsbedingungen sind in der Regel schlecht.
Deswegen stimmen sie häufig mit den Füßen ab und geben ihren Beruf sehr schnell auf.
({15})
Es stellen sich die Fragen: Wo sind Ihre Pläne zur Pflegeausbildung? Wie wollen Sie für eine bessere Qualität
in der Pflege sorgen? Wie wollen Sie gewährleisten, dass
für diesen Bereich mehr Geld zur Verfügung steht?
Eines ist klar: Wir alle, die wir heute etwa 50 Jahre alt
sind, müssen uns um akzeptable Rahmenbedingungen
für die Pflege kümmern. Tun wir dies nicht, werden wir
selbst die Leidtragenden sein. Dann wird es nämlich,
wenn der eine oder andere von uns im Alter auf Pflege
angewiesen sein wird, keine Hauptamtlichen mehr geben. Auch fachgerechte Pflege, die von der Fachwissenschaft anerkannt wird, wird es dann nicht mehr geben.
Daher sage ich insbesondere Ihnen, meine Herren: Stimmen Sie einem Entgeltgleichheitsgesetz zu! Sorgen Sie
für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege! Dann haben auch Sie die Chance, in 30 Jahren eine gute Pflege
zu erhalten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2480 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis d sowie Zu-
satzpunkt 13 auf:
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Intensive Nutztierproduktion überprüfen
- Drucksache 17/5047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({2}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung von Wildtieren im Zirkus verbieten
- Drucksachen 17/2146, 17/5197 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Undine Kurth ({3})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutz bei Katzen verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({5}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz stärken - Tierheime entlasten
- Drucksachen 17/3653, 17/3543, 17/4491 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({6})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({8}), Friedrich Ostendorff, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schenkelbrand bei Pferden verbieten
- Drucksachen 17/4438, 17/5058 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({9})
ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen
schaffen
- Drucksachen 17/4851, 17/5198 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({11})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, dass die Reden
zu Protokoll genommen werden. - Ich sehe, Sie sind da-
mit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der
Kollegen Dieter Stier und Dr. Max Lehmer, CDU/CSU,
Heinz Paula, SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP,
Alexander Süßmair, Die Linke, und Undine Kurth, Bünd-
nis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5047 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Dann kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Haltung von Wildtieren im
Zirkus verbieten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5197, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/2146 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
1) Anlage 6
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/4491. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/3653 mit dem Titel „Tierschutz bei
Katzen verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3543 mit
dem Titel „Tierschutz stärken - Tierheime entlasten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - In diesem Fall ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/5058. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4438 mit dem Titel „Schenkelbrand bei Pferden verbieten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5058 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Zusatzpunkt 13. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen
schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5198, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4851 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. April 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.