Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und einen
erfolgreichen Tag.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung 2006
- Drucksache 16/3910 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Wege in der Technologieförderung ergreifen - Deutschland als Technologiestandort
stärken
- Drucksache 16/4863 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ilse Aigner,
Michael Kretschmer, Katherina Reiche ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die technologische Leistungsfähigkeit mit
dem 6-Milliarden-Euro-Programm und der
High-Tech-Strategie stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz
Riesenhuber, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten René
Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschungsprämie zur besseren Kooperation von Wissenschaft und Klein- und Mittelunternehmen ({4}) zügig umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innovationen brauchen Freiheit - Für mehr
Arbeit und Wohlstand
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innovationen durch Investitionen - Sonderprogramm für die Wissenschaft zur Verbesserung der Kooperation mit der Wirtschaft
({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({6}), Krista Sager, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Technologiepolitik auf nachhaltige Innovationen ausrichten
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2006 und Stellungnahme
der Bundesregierung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung und
Entwicklung - Neue Impulse für Innovation
und Wachstum
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Hightech-Strategie für Deutschland
- Drucksachen 16/1546, 16/2628, 16/1532,
16/2083, 16/2621, 16/1245, 16/1400, 16/2577,
16/3546 Berichterstattung:
Abgeordnete Ilse Aigner
Cornelia Pieper
Priska Hinz ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
({8})
Guten Morgen, sehr verehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Deutschland ist Teil des europäischen Forschungsraumes. Erfolgsstrategien müssen hier wie dort Hand in
Hand gehen, damit das Ziel der Lissabonstrategie erreicht wird. Hierbei zeichnet sich klar ab: Wissenschaft
und Wirtschaft sind natürliche Partner in einer erfolgreichen Forschungs- und Technologiepolitik. Genau daran
richten wir unsere Forschungspolitik aus.
({0})
Das heißt konkret: Mehr Kooperationen und strategische Allianzen zwischen Unternehmen, Hochschulen
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind
Voraussetzung, um Forschung und Entwicklung zu Innovationen zu führen. Innovationen wiederum sind der
Schlüssel zu mehr Wachstum und Beschäftigung.
({1})
Was haben wir erreicht? Wohin wollen wir? Ich bin
davon überzeugt: Die Hightechstrategie, an der zahlreiche Häuser der Bundesregierung beteiligt sind, ist der
Instrumentenkasten für die natürliche Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Die Hightechstrategie ist verbunden mit deutlich höheren Investitionen in
Forschung und Entwicklung sowie mit neuen Anreizsystemen und Instrumenten; ich erinnere an dieser Stelle
an die Forschungsprämie, die wir in den nächsten Jahren
zunächst auf kleine und mittelständische Unternehmen
fokussieren. Wir haben damit einen Einstieg gemacht.
Die Erfahrungen mit diesem Anreizsystem werden uns
dann zur Diskussion über die Fragen führen: Wie entwickeln wir weiter? Welche anderen Anreizsysteme gibt
es? In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit
den Instrumenten zu beschäftigen haben, die in anderen
Ländern der Europäischen Union erfolgreich praktiziert
werden.
Lassen Sie mich etwas zum Wettbewerb „Austauschprozesse zwischen Wissenschaft und Wirtschaft“ des
Stifterverbandes und meines Hauses sagen: Gestern
Abend hat die Verleihung des Preises stattgefunden.
Fünf Standorte, interessanterweise übrigens auch zwei
Fachhochschulen, wurden für ihre besonders gelungenen
Prozesse des Austausches zwischen Hochschule und Unternehmen ausgezeichnet.
({2})
Schließlich bereiten wir derzeit gemeinsam mit dem
Stifterverband einen Wettbewerb zur Förderung von
Spitzenclustern vor. Das heißt - das halte ich für eine
gute Entwicklung -: In Deutschland wird nicht allein die
Exzellenzinitiative das Instrument sein, mit dem die Exzellenz in der Forschung und in den Formen der strategischen Allianzen gefördert wird, sondern wir schaffen
weitere Instrumente. Wir entwickeln einen ausdifferenzierten Instrumentenkasten. Das wird Früchte tragen.
Zum Berichtswesen: Der Bundesbericht Forschung
2006 ist auch Teil dieser Debatte. Er war der letzte seiner
Art. Ich sage Ihnen zu: Das Volumen des nächsten Berichtes kann deutlich weniger umfangreich sein als die
Volumina der letzten Berichte, der Bericht sollte dafür
aber stärker auf das Thema Innovation fokussiert sein.
Es geht nicht um die Sammlung irgendwelcher Fakten,
sondern um die Sammlung der Fakten, die wir brauchen,
um hier darüber zu diskutieren, was die richtigen Wege
zu mehr Innovation sind.
Die entscheidende Botschaft ist: Wir haben seitens des
Bundes 2006 11,8 Millionen Euro für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung ausgegeben. Das ist eine deutliche Steigerung.
({3})
- Milliarden! Vielen Dank, Herr Kollege Tauss. Es waren 11,8 Milliarden Euro.
({4})
Das ist die Basis. Jedem ist auch klar: Bei den Haushaltsverhandlungen 2008 wird die positive Nachricht
von Dynamik in der Wirtschaft auch zu einer positiven
Nachricht für Investitionen in FuE führen müssen;
denn 3 Prozent von 100 ist weniger als 3 Prozent von
200.
({5})
Das heißt, wir müssen weiter zulegen. Ich erwarte entsprechendes Verhalten auch von den Ländern und von
den Unternehmen in Deutschland.
({6})
Wir wollen nicht zunehmen - das wird uns jetzt verboten -,
sondern wir wollen zulegen. Ich rede jetzt auch nicht über
Ernährungsforschung - das habe ich Herrn Westerwelle
eben versprochen -, weil dazu schon alles gesagt ist.
({7})
Mit der Hightechstrategie haben wir die Weichen gemeinsam richtig gestellt. Ich nenne als Beispiel für strategische Allianz die Initiative zur Forschung an organischen Leuchtdioden, bei der wir 100 Millionen Euro, die
Wirtschaft 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
Weitere solche Vereinbarungen sind in Vorbereitung.
Wir bereiten derzeit gemeinsam mit Wirtschaftsministerium, Umweltministerium, Verbraucherschutzministerium und dem Ministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung eine Strategie zum Thema Energieeffizienz vor. Wir werden die Entwicklung moderner
Energietechnologien mit rund 2 Milliarden Euro bis zum
Jahre 2009 fördern.
Auf dem Klimaforschungsgipfel in Hamburg haben
wir Vorbereitungen getroffen, um im Herbst die Hightechstrategie für den Klimaschutz vorzulegen.
({8})
Wir werden übrigens allein mit dem Klimaschutzprogramm, das vorgelegt worden ist und über das Kollege
Gabriel gesprochen hat, 255 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
Es müssen also immer zusammenspielen: Erhöhung
der Finanzinvestitionen, Erneuerung unserer Konzepte,
Förderung all der Instrumente, die strategische Allianzen, die die Partnerschaft zwischen Wissenschaft und
Wirtschaft befördern. Dann gilt - davon bin ich überzeugt - ab 2010 der Satz: Steuerpolitik ist Innovationspolitik. Unternehmen, die mehr in Forschung investieren, müssen das bei ihrer Steuerlast spüren. Ich bin
davon überzeugt: Das wird die Fortsetzungsgeschichte
nach der Einführung der Forschungsprämie sein müssen.
({9})
Zwei weitere Punkte möchte ich nennen; dann ist
meine Redezeit abgelaufen; Herr Präsident, ich weiß es.
Forschungsinfrastruktur: Wir sind dabei, mit internationalen Partnern XFEL vorzubereiten. Im Juni soll es
den Startschuss in Hamburg geben. Auch das ist wichtig.
Schließlich: Wer Forschung und Entwicklung befördern will, muss dafür sorgen, dass Qualifizierung gelingt. Deshalb bereitet die Bundesregierung - mit gemeinsamen Anstrengungen des Bundes, der Länder, der
Stiftungen und anderer Experten - bis Herbst eine Qualifizierungsinitiative vor, um auch im Bereich der Qualifizierung die Voraussetzungen zu schaffen, die notwendig
sind, damit wir auch den wichtigen, von mir zuletzt genannten Punkt erreichen: dass jeder Innovationswettbewerb nicht nur mit Finanzen und Konzepten, sondern
auch mit dem Erfolg im weltweiten Talentwettbewerb
verbunden ist.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Frau Ministerin, eine auf Zukunft ausgerichtete Forschungspolitik schafft die Grundlage für Innovationen und damit für neue Arbeitsplätze und nachhaltiges Wachstum.
({0})
Deswegen ist für uns die Forschungs- und Bildungspolitik das Kernthema deutscher und europäischer Politik,
und deswegen legen wir, Frau Ministerin, großen Wert
darauf, dass diese Bundesregierung auf die Forschungsförderung ein weitaus größeres Augenmerk richtet, als
es bisher der Fall ist.
({1})
Ihre Hightechstrategie, Frau Ministerin, ist eine Ansammlung von Forschungsprogrammen bis zum Jahr
2009, aber sie lässt eben keine strategische Ausrichtung
erkennen, wie Deutschland als europäischer und internationaler Forschungsstandort etabliert werden könnte.
({2})
Bei einer solchen Strategie müssen wir - dass das bei Ihrer Strategie fehlt, bemängeln wir - auf Spitzenforschung und auf Wachstumsbranchen in der Wirtschaft
setzen. Dafür stehen für uns Liberale im Kern die folgenden drei Bereiche: Biotechnologie, Gesundheitsforschung und Energie- und Klimaforschung.
({3})
Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel nennen: Die
pharmazeutische Industrie, Herr Tauss, ist ein Wachstumsmotor. Mit einem Forschungsanteil von 78 Prozent
trägt sie überdurchschnittlich zum 3-Prozent-Ziel der
Wirtschaft bei. Die Wirtschaft hat ihre Hausaufgaben gemacht. Sie ist die tragende Säule der Forschungsfinanzierung in unserem Land. Ihre Ausgaben hierfür stiegen
in den letzten zehn Jahren von 27 Milliarden auf heute
rund 40 Milliarden Euro. Das kommt natürlich auch bei
den hohen Exportraten für Technologiegüter zum Ausdruck. Deutschland ist dabei Exportweltmeister.
Die Ausgaben für Forschung von Bund und Ländern
dagegen stagnieren. Waren es 1997 noch 15,6 Milliarden
Euro, so sind es heute 16,8 Milliarden Euro. Man merkt
keinen großen Unterschied. Die Lissabonstrategie, die
Sie, Frau Ministerin, immer betonen, verlangt von uns,
für Forschung 3 Prozent vom BIP auszugeben. Mit den
Weichenstellungen, die bis jetzt im Haushalt vorgenommen worden sind, werden wir dieses Ziel aber nicht erreichen. Der Anteil der Forschungsausgaben liegt jetzt
bei 2,46 Prozent, bei rückläufiger Tendenz. Deswegen
meinen wir, wir müssen klotzen und nicht kleckern. Die
Bundesregierung muss mehr in Bildung und Forschung
investieren. Das vermissen wir. Insbesondere gilt das für
die Länder, die das Ziel, einen Anteil von 3 Prozent des
BIP bei den Forschungsausgaben zu erreichen, in ihren
Haushalten zum Teil gar nicht berücksichtigen.
({4})
Ich glaube, es reicht nicht aus, halbherzige Positionen
bezüglich der Forschung zu beziehen. Ich nenne das
Stichwort Forschungsprämie - Sie sind darauf eingegangen, Frau Ministerin -: Wir haben begrüßt, dass die
Bundesregierung dieses Konzept, das die FDP seit der
letzten Legislaturperiode verfolgt, realisiert hat. Leider
fördert die Prämie so, wie sie jetzt umgesetzt wurde,
nicht die eigentlichen Forschungsarbeiten zur Gewinnung neuen Wissens, sondern setzt den Schwerpunkt auf
den Technologietransfer bereits vorhandener FuE-Ergebnisse, zum Beispiel auf Workshops mit der Wirtschaft zur Feststellung des Forschungsbedarfs. Auch
Messungen zur Validierung von Forschungsergebnissen
finden, einmal abgesehen vom sehr bürokratischen Antragsverfahren, nicht statt.
({5})
Die Einschränkung bei der Verwendung der Mittel hat
in der Praxis die Folge - Herr Tauss, hören Sie gut zu,
dann können Sie etwas lernen -, dass die Prämie nicht
zur Finanzierung von Forschungstätigkeiten wie dem
Kauf von Geräten oder der Einstellung von Forschungspersonal verwendet werden darf. Das heißt, unterm
Strich werden dadurch eben nicht die Defizite in der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft abgebaut und keine
neuen Kooperationen gefördert.
({6})
Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie die bürokratischen Hürden fallen! Hören Sie auf die Unternehmen!
Hören Sie auf die Wirtschaft! Wir brauchen neue Innovationsimpulse, damit das 3-Prozent-Ziel erreicht wird.
Frau Ministerin, handeln Sie hier!
({7})
Seit Jahren zeigt sich, dass die industrielle Umsetzung von Forschungsergebnissen aufgrund einer strukturellen Lücke im Innovationsprozess nicht mit der gebotenen Effizienz erfolgt. Was heißt das? Diese Lücke
resultiert aus der nicht ausreichenden Reife der Forschungsergebnisse und führt zu einer mangelhaften Attraktivität für Investoren - Industrie wie auch kleine und
mittelständische Unternehmen - für die das betriebswirtschaftliche Risiko bei einer Produktentwicklung bei fehlender Validierung zu groß ist.
Führen Sie einen Innovationsfonds der deutschen
Forschung ein, wie ihn die Max-Planck-Gesellschaft fordert! Das wäre der richtige Weg. Vor allen Dingen: Zollen wir den Wissenschaftlern in unserem Land endlich
mehr Anerkennung! Lassen wir endlich zu, dass ein
Wissenschaftstarifvertrag geschlossen wird! Denn der
TVöD ist der größte Hemmschuh für Spitzenforschung
in diesem Land, dafür, dass internationale Wissenschaftler hierher kommen bzw. Nachwuchs im Land bleibt.
Wir brauchen mehr Anerkennung für die Wissenschaft. Wir brauchen ein weitaus forschungsfreundlicheres Klima in diesem Land. Deswegen rege ich an, Frau
Ministerin, dass jedes Ministerium des Bundes jedes
Jahr einen Forscherpreis auslobt und nicht nur Ihr Haus
auf diesem Gebiet aktiv wird. Es ist gesellschaftspolitisch einfach nicht mehr einzusehen, dass ein Fußballstar
in Deutschland Gagen in Millionenhöhe bekommt, junge
Spitzenforscher aber keinerlei Anerkennung erfahren.
Darauf, dass sich das ändert, legen wir als Liberale großen Wert.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Keine Angst; ich werde den Bundesbericht nicht
vorlesen.
Ich wollte Sie schon darauf aufmerksam machen, dass
die Redezeit dafür vermutlich nicht reichen würde.
Deutschland ist zum vierten Mal hintereinander
Exportweltmeister.
({0})
9,2 Prozent aller in der Welt exportierten Waren haben
den Stempel „Made in Germany“. Das hat viele Gründe.
Es liegt sicherlich daran, dass wir viele fleißige und gute
Arbeitnehmer haben, die übrigens lange genug Lohnverzicht geübt haben. Es liegt auch daran, dass wir viele
gute, kreative und verantwortungsbewusste Unternehmer haben.
Aber darauf werden wir uns nicht ausruhen können.
China hat im letzten Jahr die USA von Platz zwei auf
Platz drei verdrängt. Ich gehe davon aus, dass wir nächstes oder spätestens übernächstes Jahr den Weltmeistertitel an China abgeben werden. China hat Riesenvorkommen an Rohstoffen, wir nicht. Unser Potenzial sind
die gut ausgebildeten Menschen, die hier leben. Die Basis unseres Erfolgs lässt sich mit zwei Worten ausdrücken: Bildung und Forschung.
({1})
Eigentlich müsste ich deswegen nicht nur den Bundesbericht Forschung hier liegen haben, sondern auch den nationalen Bildungsbericht, den wir demnächst sicherlich
auch diskutieren werden. Beides gehört zusammen, ist
unabdingbar verknüpft in einer Gesellschaft, die nicht
nur sozial, sondern auch wirtschaftlich und im Forschungsbereich nach vorne kommen will.
({2})
Zuständig für Bildung und Forschung ist nicht nur der
Bund. Auf der einen Seite sind es die öffentlichen
Hände, Bund und Land, auf der anderen Seite - es ist
schon erwähnt worden - die Wirtschaft. Auch aus dem
Bundesbericht geht hervor, dass es in den Ländern - ich
weiß, es ist nicht einfach ({3})
deutliche Defizite gibt, was die finanzielle Förderung
angeht. Ich würde mir - das ist dringend nötig - eine Reform des Bildungswesens in Deutschland wünschen.
Dafür sind originär die Länder zuständig.
({4})
In Nordrhein-Westfalen, meinem Heimatland, hat die
SPD bereits eine Diskussion über ein modernes und gerechtes Schulsystem begonnen. In Baden-Württemberg
gibt es eine interessante Initiative von 100 Hauptschulen, die sich an das Kultusministerium gewandt und die
Landesregierung aufgefordert haben, endlich das ungerechte dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen.
({5})
Als Forschungspolitiker spricht man ja gerne auch einmal über die Bildung.
Die zweite wichtige Säule ist die Wirtschaft. Sie
trägt große Teile der Investitionen in Forschung und Entwicklung. Das ist gesagt worden; aber trotzdem ist es
richtig. Die Wirtschaft profitiert eben auch von dem, was
die öffentliche Hand, was Bund und Land für Bildung
und Forschung zur Verfügung stellen. Deswegen habe
ich kein Verständnis, wenn die Wirtschaft - die Zahlen
des Stiftungsverbandes der deutschen Wirtschaft, Frau
Pieper, sprechen da eine deutliche Sprache - ihrer Verpflichtung zur Steigerung von Forschung und Entwicklung in gehörigem Maße nicht nachkommt.
({6})
Deswegen habe ich auch kein Verständnis, wenn Unternehmen Rekordumsätze machen, aber gleichzeitig
Arbeitsplätze abbauen, wenn sie Rekordgewinne ausschütten, aber immer weniger in die Köpfe ihrer Beschäftigten und in Forschung und Entwicklung investieren.
({7})
Wenn man den Finger nach außen richtet, zeigen ja
nach Gustav Heinemann drei Finger zurück: Die dritte
Säule ist der Bund. Auch wir haben hier eine Aufgabe
und spielen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Ich
darf in Erinnerung rufen - das gehört zur Geschichte -:
Zwischen 1998 und 2005 hat die SPD zusammen mit
dem damaligen Koalitionspartner, den Grünen, Bildung
und Forschung erst wieder nach vorne gebracht. Wir haben die Ausgaben für Bildung und Forschung von 1998
bis 2005 um 37 Prozent erhöht.
({8})
Frau Pieper, in Ihrer Regierungszeit war Bildung und
Forschung ein Auslaufmodell, die Etats gingen nach unten. Wir haben sie erst wieder gesteigert. Wir sind froh,
dass wir mit dem neuen Koalitionspartner diesen erfolgreichen Kurs noch einmal verstärkt fortsetzen können.
({9})
Ein Beispiel dafür ist die Exzellenzinitiative. Das ist
ein Wettbewerb zur Förderung von Spitzenleistungen an
Universitäten, der in diesem Bereich bereits für große
Dynamik und Bewegung gesorgt hat. 1,9 Milliarden Euro
werden wir bis 2011 zur Verfügung stellen; drei Viertel
davon trägt der Bund, ein Viertel tragen die Länder.
Mit dem Pakt für Forschung und Innovation sichern wir den großen deutschen Forschungsorganisationen zu, jedes Jahr bis zum Jahr 2010 verlässlich
3 Prozent mehr Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dass sich das lohnt, sieht man, wenn man in den
Bericht hineinschaut. Ich möchte einige Beispiele - bei
fast 800 Seiten kann ich nicht alle nennen - anführen.
54 der weltweit am meisten zitierten Wissenschaftler im
Bereich der Grundlagenforschung kommen aus der deutschen Max-Planck-Gesellschaft.
({10})
Schaut man sich an, welche Institute mit ihrer Publikationszitierung in wissenschaftlichen Zeitschriften weltweit vorne liegen, dann stellt man fest: In den Bereichen
Chemie, Physik, Materialwissenschaften und Weltraumwissenschaften ist die Max-Planck-Gesellschaft auf
Platz eins - Entschuldigung, dass ich sie zweimal nenne.
Wir sind hier erfolgreich.
({11})
Auch für Erfolge im Bereich der angewandten Forschung gibt es gute Beispiele. Jedes Kind kennt mittlerweile den MP3-Player, eine Entwicklung der Fraunhofer-Gesellschaft aus Deutschland. Das zeigt aber auch
die immer noch vorhandenen Probleme des Technologietransfers, ohne Frage.
({12})
Die Fraunhofer-Gesellschaft macht zu 90 Prozent Vertragsforschung für Industrie, Handel und Dienstleistungen
öffentlicher Hand, die sehr erfolgreich ist. Die Leibniz9988
Gemeinschaft, die ich in der letzten Ausschusssitzung
als Gemischtwarenladen bezeichnet habe, wird auf
Seite 84 des Berichtes treffend charakterisiert:
Vielfalt bei gleichzeitig hoher Qualität, Effektivität
und Effizienz der wissenschaftlichen Arbeit.
Ein berechtigtes Lob.
({13})
Wir können uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen.
Die Chinesen schlafen nicht, schon gar nicht um
9.20 Uhr deutscher Zeit. Der dickste Brocken beim
Export - Sie sprachen es an; das muss man analysieren sind Autos. Der Großteil der privaten Forschungsgelder
und Investitionen geht in wenige Bereiche: Kfz-Bau,
Elektrotechnik, Chemieindustrie.
({14})
- Und Maschinenbau, danke; im letzten Jahr aber übrigens mit rückläufigen FuE-Investitionen.
({15})
Das ist sehr bedenklich. Wir sind zusammen mit den
Schweizern ziemlich weit oben im internationalen Maschinenbau, aber Forschung und Entwicklung gehen zurück.
Das bedeutet für die öffentliche Forschungsförderung
- das ist unsere Aufgabe -, dass wir zusätzliche Forschungsfelder identifizieren und unterstützen müssen,
die uns parallel zu diesen großen Bereichen Zukunftschancen eröffnen. Das sind zum Beispiel diejenigen, die
wir - Frau Ministerin Schavan erwähnte es schon - in
der Hightechstrategie beleuchten, mit der wir 6 Milliarden Euro bis 2009 zusätzlich zur Verfügung stellen:
Nanotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Verkehrstechnologie und Gesundheitsforschung. Insbesondere diese ist nicht nur technologisch
interessant, sondern für die Menschen unmittelbar; ich
nenne hier das Stichwort Krankheitsbekämpfung. Bei
der Umwelttechnologie sind wir bereits Exportweltmeister; hier steht noch ein gigantischer Markt zur Verfügung. Nicht zuletzt nenne ich auch die Energietechnologie. Wenn es uns gelingt, neue Energieträger zu
mobilisieren, die umweltfreundlich sind und die hier vor
Ort angewandt werden können, und wenn wir die Effizienz dieser Technologie steigern können, dann schafft
das nicht nur mehr Exportmöglichkeiten, es schafft vor
allen Dingen im Inland mehr Arbeitsplätze, wir können
damit das Klima und die Umwelt schützen und den Frieden nach innen und außen sichern.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die
Bewertung der Hightechstrategie hat sich mir ein Bild
aus dem Umweltbereich aufgedrängt. Die Hightechstrategie der Bundesregierung erscheint mir ein bisschen
wie eine Flussbegradigung, also quasi wie die Begradigung eines Erkenntnisstromes aus Wissenschaft und
Forschung. Die Seitenarme intellektuellen Artenreichtums dieses Flusses werden nämlich weitestgehend
durch die Hightechstrategie ausgetrocknet.
Ich will Ihnen sagen, warum ich diese Feststellung
treffe: weil jegliche zu fördernden Aktivitäten ihre Existenzberechtigung im Wesentlichen aus einem gemeinsamen Nenner ableiten. Europa - ich zitiere Sie - soll zu
einem „wissensbasierten, wettbewerbsfähigen Forschungsraum“ und der angeschlossene „europäische
Forschungsraum zu einem wirklichen Forschungsbinnenmarkt“ werden. Also all das, was nicht direkt in diese
Richtung fließt, wird demzufolge kaum etwas vom Milliardenregen der Hightechwolke der Bundesregierung
auffangen können.
({0})
Ihre Zuwendungsvoraussetzungen für Förderprogramme besagen ganz klar - ich zitiere wieder; das
kann man nachlesen -:
Die Projekte müssen unter industrieller Federführung stehen. In Ausnahmefällen können auch Einzelvorhaben von Unternehmen gefördert werden.
Wohlgemerkt, wir reden hier über öffentliche Mittel
in Höhe von 14,5 Milliarden Euro, die sich aus Steuergeldern speisen. Ein gehöriger Teil dieser Mittel stammt
aus der Besteuerung von Löhnen und Gehältern.
Ich will an dieser Stelle deshalb darauf verweisen,
weil diese Hightechstrategie natürlich positiv die Frage
beantworten muss, wem sie am Ende wirklich nutzen
soll.
({1})
Wie wirkt sie sich denn am Ende tatsächlich auf die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen in diesem
Land aus?
Eine Gewinnergruppe können wir schon heute benennen: Das sind die großen Unternehmen der sogenannten Hightechbranche, also jene, die es bereits im
Vorfeld dieser Hightechstrategie durch ihre Interessenverbände geschafft haben, die Schwerpunktsetzung in
diesen Programmen auf sich selbst zu lenken. Erkenntnis- und Wissensanwendung wird vor allem dann öffentlich gefördert, wenn sich dafür bereits jetzt ein Markt
abzeichnet oder wenn man wie im Bereich der Sicherheitstechnologien einen Markt erst künstlich schaffen
will. Innovative kleine und mittelständische Unternehmen dagegen, die häufig vor dem Hintergrund strukturschwacher Regionen wie im Osten die Keimzellen sind,
werden es deutlich schwerer haben, sich um Projektförderung zu bewerben und sich dann auch zu behaupten.
({2})
Dazu muss ich sagen: Ich bin einigermaßen froh, dass
es nach endlosem Drängen auch meiner Fraktion nun gelingen soll - dies ist schon von Frau Pieper angesprochen worden -, bis zum Sommer eine Art Forschungsprämie für innovative kleine und mittelständische
Unternehmen aufzulegen, wie es sie bereits für andere
öffentliche Wissenschaftseinrichtungen gibt.
Frau Ministerin, damit wir uns nicht falsch verstehen:
Sie haben als Hauptidee dieser Strategie die Auflage einer modernen Form staatlicher Innovations- und Wirtschaftsförderung angekündigt. Mit deren Hilfe sollen
neue Arbeitsplätze insbesondere in strukturschwachen
Regionen entstehen. Dagegen legen wir natürlich überhaupt keinen Widerspruch ein. Widerspruch melden wir
an, weil sich schon jetzt abzeichnet, dass diese Hightechstrategie in Teilen nicht eingehalten werden kann. Es
werden eben nicht nur wichtige strategische Partner wie
die zitierten innovativen kleinen und mittelständischen
Unternehmen vernachlässigt. Was dem Programm derzeit auch völlig fehlt, ist ein Konzept, wie man diesem
riesigen Fachkräftebedarf begegnen will. Weiterbildung und Fortbildung spielen in diesem Konzept kaum
eine Rolle.
({3})
Bei der Umsetzung der neuen Hightechstrategie werden aber auch neue Konflikte und neue Konfliktlinien
entstehen. Man kann schon jetzt in einzelnen Förderbereichen Problematisches erkennen. Im Programm selbst
finden sich kaum Mittel für Projekte zur Risikoabschätzung und für die Voraussetzungs- und Begleitforschung.
Es zeichnet sich bereits jetzt ein mangelnder Daten- und
Verbraucherschutz ebenso ab wie fehlende Transparenz
in der Mittelbewilligung. Es fehlen bei der Umsetzung
dieses Programms Ansätze für einen öffentlichen Dialog
zwischen Interessierten, Betroffenen, Experten sowie
Vertretern und Vertreterinnen aus Wirtschaft und Politik.
Ihr Innovationskreis ist zwar für Sie eine interessante
Beratungseinrichtung; aber er findet nicht öffentlich
statt. Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften finden
in dem Programm nur dann Erwähnung - das ist bezeichnend -, wenn sie der Erklärung und damit am Ende
auch einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber sensiblen und besonders umstrittenen Technologien
dienen.
Schließlich werden wir - da bin ich mir sehr sicher mit dem Programm vor dem Problem stehen, dass bei
anwendungs- und industriebezogener Forschung die Unternehmen - das ist natürlich - ein Geheimhaltungsinteresse haben. Das widerspricht den Zielen öffentlicher
Forschungsförderung. Ich will Ihnen diese Kritik gern an
einem Beispiel erläutern. Das Programm „IKT 2020“
dient der Subventionierung von Informations- und Kommunikationstechnologien.
({4})
Viele Projekte gelten offenbar nützlichen und Erfolg versprechenden Innovationen. Das wiederum kann ich nur
vermuten und hoffen. Aber viele Projekte, die sich dort
finden, sind inhaltlich noch nicht genau beschrieben.
So soll beispielsweise die Funkchiptechnologie
künftig weit mehr leisten als reine Identifikation in vielen Transport- und Vertriebssystemen, in Fertigungsanlagen zur Prozesssteuerung oder in Teilen des Einzelhandels. Eingebaute Funksensoren in Produkten machen
auch umfassende Datenerfassung und Datenauswertung
über Einzelpersonen möglich. Produkte bekommen gewissermaßen ein Gedächtnis. Das Nutzer- und Verbraucherverhalten kann so lückenlos dokumentiert werden,
und zwar ohne dass es die Betroffenen merken. Zu dieser Problematik gibt es aktuell keine verbindliche Selbstverpflichtung der Wirtschaft zum Datenschutz. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen reichen in diesem
Bereich überhaupt nicht aus.
({5})
Nun kann ja mancher hier, sowohl auf der Tribüne als
auch Sie im Saal, meinen: Das betrifft mich ja alles
nicht. - Weit gefehlt, kann ich Ihnen da nur sagen. Denn
es bezieht sich auf Ihr Kauf- und Fahrverhalten genauso
wie auf Ihren Fernseher und PC an jedem denkbaren Ort,
ob in Ihrer Wohnung, im Garten oder sonst wo. Entwicklungen dieser Art halten wir für höchst problematisch.
Deshalb wollen wir sie nicht auch noch mit öffentlichen
Fördergeldern ausstatten und vorantreiben.
({6})
Weitere Beispiele ließen sich aufzählen für den Bereich der Sicherheitstechnologien, für Teile der Gesundheits- und Medizintechnik, für nukleare Energietechnologien, für die Grüne Gentechnik, für Fahrzeug- und
Verkehrstechnologien, aber auch für Querschnittstechnologien wie die Nanotechnologie.
({7})
Für die Hightechpolitik der Bundesregierung ist übrigens auch symptomatisch, dass für die aus den Forschungsvorhaben gewonnenen Patente und Nutzungsrechte keinerlei Auflagen gemacht werden. Offenbar gilt
Folgendes: Die Kosten für Forschung und Entwicklung
sind gesellschaftlich aufzubringen, später anfallende
Verwertungsgewinne dagegen werden privatisiert.
Je tiefer ich mich bei der Vorbereitung und im Zuge
unserer Beratungen im Ausschuss in die Hightechstrategie eingearbeitet habe, desto mehr bestätigt sich für mich
folgende Erkenntnis: Öffentliche Forschungsförderung
und die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre stehen immer weniger im Dienste der
Gesellschaft.
({8})
Unlängst - Sie erinnern sich ganz gewiss an die Tumulte wurde am Bundestag die Inschrift „Dem deutschen
Volke“ durch ein Transparent verhängt, auf dem „Der
deutschen Wirtschaft“ stand.
({9})
Nachdem ich die Hightechstrategie studiert habe, kann
ich nur sagen: Die Protestierenden haben den Nagel auf
den Kopf getroffen.
Danke schön.
({10})
Ilse Aigner ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute neben einer
ganzen Reihe von Anträgen über den letztjährigen Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands. Ich möchte hier zwei Feststellungen aus diesem
Bericht aufgreifen: Innovationen richten sich zunehmend an den Möglichkeiten des Weltmarktes aus, und
die Ausgaben für Forschung wurden von der Wirtschaft
nicht kräftig genug erhöht. Letzteres ist bzw. war für
eine Technologie- und Exportnation ein alarmierender
Befund. Dies liegt nicht im Interesse unseres Landes,
aber auch nicht im Interesse der entsprechenden Firmen
und der Wirtschaft.
({0})
Von unserer Seite haben wir den ersten Schritt getan
und ein Programm mit zusätzlich 6 Milliarden Euro auf
den Weg gebracht. Man kann es nicht oft genug sagen:
Die Wirtschaft muss jetzt nachziehen.
Natürlich braucht die Wirtschaft gute Rahmenbedingungen. Deshalb würde ich mich darüber freuen - es
gibt entsprechende Anzeichen -, wenn sich bei der jetzt
anstehenden Unternehmensteuerreform gewisse Veränderungen zugunsten von Forschung und Entwicklung
auftun würden. Das kann nur in unserem Interesse sein.
({1})
Zurück zum Ausgangspunkt. Die Bundesregierung,
insbesondere das federführende Forschungsministerium
unter der Leitung unserer Ministerin Annette Schavan,
hat umgehend weitere Konsequenzen gezogen. Mit einer
schlüssigen Hightechstrategie, die alle Ressorts der Bundesregierung einschließt, hat sie alle auf einen gemeinsamen Kurs eingeschworen. Die Richtung ist klar: Mehr
Innovation für mehr Arbeitsplätze.
({2})
Das Herzstück ist die Stärkung von Forschung und
Innovation in der Wirtschaft. Diese erreichen wir vor
allem, indem wir strategische Kooperationen zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft fördern. Die Ministerin hat
die OLED-Initiative angesprochen. Wir wollen darüber
hinaus gerade den kleinen und mittleren Unternehmen
helfen, sich international zu positionieren.
Eines der neuen Instrumente wurde schon angesprochen: die Forschungsprämie. Sie soll für Hochschulen
und Forschungseinrichtungen ein Anreiz sein, sich verstärkt in Kooperationen mit der Wirtschaft zu begeben.
Ziel: mehr Forschung und Entwicklung in den Betrieben.
Ein weiteres wichtiges Instrument zur Bündelung der
Kräfte von Wissenschaft und Wirtschaft wird der Clusterwettbewerb der Bundesregierung sein. Cluster von
Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen sind anerkanntermaßen eine immer wichtiger werdende Innovationsquelle. Das wissen wir auch durch erfolgreiche Beispiele früherer Fördermaßnahmen. In
diesem Zusammenhang muss ich mal wieder - es sei mir
nicht verübelt - eine bayerische Erfolgsstory ansprechen.
({3})
Letztes Mal war Sachsen dran. Zum Ausgleich nenne ich
dieses Mal Bayern: die Biotechregion rund um München, wo 180 neue Unternehmen entstanden sind, deren
magnetische Wirkung bis ins Ausland reicht.
({4})
Wichtig wird sein, dass wir den geplanten Clusterwettbewerb so ausgestalten, dass sich diese Erfolgsstory
mehrfach wiederholt.
Eine Sache liegt mir noch am Herzen - das wäre das
i-Tüpfelchen -: Vielleicht fällt uns irgendwann einmal
eine bessere Bezeichnung als „Cluster“ ein. Ich habe
einmal nachgeschaut, was es in der wörtlichen Übersetzung heißt: Traube, Bündel, Schwarm, Haufen. So steht
es in „Wikipedia“. All das ist nicht sonderlich treffend.
Dann gibt es - das habe ich bisher nicht gewusst - das
alte deutsche Wort „Kluster“; das schreibt man mit K.
Das Wort ist allerdings nicht mehr gebräuchlich. In einem alten Wörterbuch, dem Grimm’schen Wörterbuch,
steht: „Was dicht und dick zusammensitzet.“ - „Dicht“
ist ja noch in Ordnung. „Dick“ klingt aber, insbesondere
nach der gestrigen Debatte, zusammen mit „sitzen“ nicht
sonderlich dynamisch. Bis jetzt haben wir also keinen
passenden deutschen Begriff.
({5})
- Clusterle.
Nun zurück zur Hightechstrategie. Man könnte auch
Hochtechnologiestrategie sagen. Sie spricht ein in der
deutschen Forschungslandschaft neues Förderinstrument
an - wieder so ein Wort -: Public Private Partnership, öffentlich-private Partnerschaften beim Aufbau von Forschungsinfrastrukturen. Ich halte dieses Instrument für
vielversprechend, um eine erkennbare Lücke zu schließen. Wir werden das unterstützen.
Eine wichtige Säule der Hightechstrategie ist die
Internationalisierung der deutschen Wissenschaft und
Wirtschaft. Damit komme ich zurück auf den anfangs
genannten Punkt aus dem Bericht zur technologischen
Leistungsfähigkeit: „Innovationen richten sich zunehmend an den Weltmarktmöglichkeiten aus.“ Besonders
stark auf internationale Märkte ausgerichtet sind auch
unsere umwelttechnologischen Unternehmen. Hier belegen wir international einen Spitzenplatz, den wir verteidigen müssen.
({6})
Lassen Sie mich beispielhaft ein Projekt des Forschungsministeriums aus diesem Bereich nennen, in
dem die Ziele unserer Strategie - strategische Kooperationen von Wissenschaft und Wirtschaft und Orientierung auf internationale Märkte - exemplarisch umgesetzt wurden: „Spree 2011“. Die Spree fließt unmittelbar
vor unserer Haustür. Anders als viele vergleichbare
Flüsse in Deutschland hat die Spree eine relativ
schlechte Wasserqualität. Der Grund: Bei Starkregen
läuft das Abwasser aus dem Kanalsystem in die Spree
über. Jetzt hat sich ein Verbund aus mehreren mittelständischen Unternehmen und der Technischen Universität
Berlin zusammengeschlossen und die Idee entwickelt,
mit sogenannten Pontons, künstlichen Inseln, dieses
Wasser zu sammeln, Membrankläranlagen in diese Inseln einzubauen und dadurch neue Inseln in der Spree zu
gewinnen.
({7})
Diese können künftig, wenn wieder Badewasserqualität
besteht, zum Beispiel durch Strandcafés für die dann
zahlreichen Badegäste genutzt werden.
Dieses Problem der Wasserqualität gibt es aber nicht
nur in Deutschland: Die Qualität der Flüsse ist leider
weltweit nicht überall in Ordnung.
({8})
Deshalb ist dies auch ein Beispiel, wie man gute Ideen
aus Deutschland in die weite Welt exportieren kann.
Leider kann ich, weil die Uhr schon blinkt, keine weiteren Beispiele bringen - die es verdient hätten. Entscheidend ist: Wir sollten nicht versuchen, auf gleichem
Gebiet und mit gleichen Produkten mit anderen Ländern
zu konkurrieren. Unser Vorteil war immer: Wir waren
besser, innovativer und erfinderischer. Dass dies so
bleibt, muss unser gemeinsames Interesse sein. Dass wir
da noch besser werden, muss unser gemeinsames Ziel
sein.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollege Priska Hinz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal möchte ich festhalten, dass der Bundesbericht
Forschung in seiner Präambel keine neuen politischen
Aussagen enthält, die Bundesministerin in ihrer Rede
seltsam nebulös blieb und wieder nur Ankündigungen
vorgetragen hat, nichts über die Umsetzung gesagt hat.
({0})
Die Hightechstrategie ist zwar gut gedacht, weil damit gebündelt werden soll und Schwerpunkte gesetzt
werden sollen; doch sie ist damit noch lange nicht gut
gemacht. Denn die dringenden Fragen und Probleme der
Gesellschaft erfordern konkrete Antworten. So wäre die
Ausrichtung der Forschungspolitik auf den Klimawandel, auf die demografischen Veränderungen, auf die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft und auf die
Ressourcenschonung dringend notwendig. Doch das
lässt die Hightechstrategie vermissen.
({1})
Wir brauchen Nachhaltigkeit im Umgang mit Finanzmitteln und der Qualifizierung von Menschen. Die Entwicklung von Rahmenbedingungen, die Forschung und
Entwicklung begünstigen, gehört dazu. Die Forschungsprämie für die Kooperation von Hochschulen
und Wirtschaft ist ein solcher Baustein. Ich will die Detailkritik, die wir daran üben, jetzt nicht zum dritten Mal
vortragen - wir werden sehen, was die Forschungsprämie bringt. Aber klar ist: Deutschland braucht mehr Unternehmen, die hierzulande forschen und in die Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte investieren.
Forschung ist hierzulande durchaus attraktiv: Nach den
USA und Japan belegen die Deutschen einen Spitzenplatz bei der Anmeldung von Patenten. Aber die Bedingungen dafür, die Forschungsergebnisse zu marktfähigen Produkten und Verfahren weiterzuentwickeln,
reichen in Deutschland bei weitem nicht aus, um innovative Unternehmen in Deutschland zu halten oder sie
überhaupt entstehen zu lassen. Dafür fehlt nämlich ein
ausreichendes Angebot an Wagniskapital.
({2})
Wir haben hier einen Antrag eingebracht. Sie hätten
schon lange selber einen Gesetzentwurf dafür auf den
Weg bringen können. Bislang erfolgt sind nichts als Ankündigungen, auf jeder Veranstaltung, von fast jedem
Minister dieser Bundesregierung.
({3})
Taten lassen Sie auf diesem Gebiet vermissen. Dabei
könnte hier ein neues Kapitel für die Entwicklung und
Umsetzung von Innovationen aufgeschlagen werden.
({4})
Mit dem, was Sie nun mit der Unternehmensteuerreform vorlegen, widersprechen Sie Ihren Sonntagsreden
ebenfalls. Muss es denn ausgerechnet die Forschung
sein, die mit dem Gesetz steuerlich erschwert wird?
Müssen es ausgerechnet die jungen und innovativen Unternehmen sein, die in Entwicklung investieren wollen?
Für sie werden die steuerlichen Bedingungen, Kapital zu
erhalten, verschlechtert. Ich bin überzeugt, dass es bessere Wege gibt. Vielleicht - ich habe die Signale von
Frau Aigner gehört - bewegen Sie sich; dann müssen Sie
das schnell machen, wenn in der nächsten Zeit Investitionen in Deutschland getätigt werden sollen.
({5})
Priska Hinz ({6})
Die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört zur Leistungsfähigkeit unbedingt dazu. Wir
haben bereits jetzt einen Fachkräftemangel. Was macht
aber die Regierung? Mittlerweile wird offensichtlich,
dass durch den Hochschulpakt nicht genügend Mittel zur
Verfügung gestellt werden - er ist unterfinanziert -, um
die notwendige Zahl an zusätzlichen Studienplätzen zu
finanzieren.
Die Quote der Studienanfänger ist in den letzten drei
Jahren von 39 Prozent auf 35,5 Prozent gesunken. Flächendeckend wird der NC eingeführt; die Abiturienten
verdrängen die Realschüler von den Ausbildungsplätzen; die Hauptschüler gucken in die Röhre - da kann
man doch nicht von einem Land für Bildung, Forschung
und Entwicklung sprechen. Hier ist die Bundesregierung
gefragt, tatsächlich mehr zu tun; denn, Frau Schavan, Sie
sind nicht nur Forschungsministerin, sondern auch Bildungsministerin.
({7})
Meine Damen und Herren, auch bei der Nachwuchsförderung tun Sie viel zu wenig. Jetzt wollen Sie zwar
ein Programm zur Förderung von Professuren für
Frauen auflegen - nachdem Sie vorher alle Mittel für
die Programme aus dem Haushalt gestrichen haben,
durch die wirklich nachhaltig Strukturen verändert werden sollten -, aber Sie springen hier wieder zu kurz.
Feste Zielzahlen und strukturelle Veränderungen sind
notwendig, damit sich tatsächlich nachhaltige Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb zugunsten von Frauen
ergeben. Es reicht nicht, einfach noch etwas dazuzupacken, während sich der Wissenschaftsbetrieb ansonsten
nicht weiter um die Frauen und die Frauenförderung im
Bereich des Nachwuchses bemühen muss.
({8})
Das BAföG ist ein wichtiges Instrument zur Förderung von Nachwuchs und ein weiterer Zankapfel in der
Koalition.
({9})
Ich bin einmal gespannt, wie das ausgeht. Man hört nur
unterschiedliche Signale. Auch hier ist die Quote der
Geförderten stark zurückgegangen. Es wäre für die Wissenschaft in Deutschland dringend notwendig, dass Sie
hier einen großen Schritt gehen.
Frau Schavan, Sie sagen in einem Interview, das in
dieser Woche erschienen ist, dass man jetzt erst einmal
die Studiengebühren richtig einführen muss. Ich richte
an Sie die Aufforderung, sich nicht nur darum zu kümmern, ob die Länder jetzt Studiengebühren einführen,
sondern auch darum, dass es endlich gescheite Stipendiensysteme gibt, damit es den Studierenden ermöglicht
wird, tatsächlich ein Studium zu absolvieren. So könnten
wir den Fachkräftemangel beseitigen.
({10})
Meine Damen und Herren, einen zweiten großen Fehler neben der Unternehmensteuerreform scheinen Sie bei
der Umsetzung der Forscherrichtlinie der EU vorzubereiten. Sie ist von der EU als Initiative für den gemeinsamen Forschungsraum Europa gedacht, von dem Sie
heute Morgen gesprochen haben, Frau Schavan.
Was macht aber die Bundesregierung daraus? Forscherinnen und Forscher dürfen dann in die Bundesrepublik, wenn sich die Forschungseinrichtung, an der sie arbeiten sollen, vor der Einreise verpflichtet, eventuelle
Abschiebungskosten für diese Forscherinnen und Forscher zu übernehmen. Das kann ja wohl nicht wahr sein.
Dadurch können wir von dem Wissenschaftsaustausch
durch Köpfe wirklich nicht profitieren. Das ist doch
keine Internationalisierungsstrategie, das ist eine Abschottungsstrategie.
({11})
Ich hoffe sehr, dass Sie sich besinnen. Wir werden unseren Beitrag in den weiteren Debatten in den Ausschüssen
über die Umsetzung der Forscherrichtlinie leisten.
Unsere Kritik an der Schwerpunktsetzung im Rahmen
der Hightechstrategie gilt nach wie vor. Die technische
Ausrichtung der Programme ist falsch. Am Beispiel der
Forschung für die zivile Sicherheit kann man das besonders
gut sehen. Es sollen vor allen Dingen neue Technologien
gefördert werden. Um den ökologischen Gesamtzusammenhang, zum Beispiel zwischen den Klimaveränderungen, den Naturkatastrophen, den Bedrohungen aufgrund
von Ressourcenknappheit und den Sicherheitsnotwendigkeiten, die daraus entstehen, kümmern Sie sich mit
Ihrer Strategie aber viel zu wenig. Die Ursachenforschung und die Weiterentwicklung friedlicher Konfliktlösungsstrategien fehlen völlig, und die Geistes- und Sozialwissenschaften werden immer nur als Anhängsel
betrachtet, nach dem Motto: Wir gucken erst einmal,
was sich technologisch entwickeln soll, und dann gucken wir, ob die Gesellschaft das auch ertragen kann.
Sie müssen eine integrierte Sicherheitsforschung anstreben, wobei die Beteiligung der Geistes- und Sozialwissenschaften von Anfang an eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Damit haben Sie noch einen langen Weg
vor sich.
({12})
Als letzten Punkt möchte ich den Klimaforschungsgipfel ansprechen, den Sie heute Morgen bereits lobend
erwähnt haben. Eigentlich müssten Sie schon in diesem
Jahr die Energieforschung auf die erneuerbaren Energien und deren Vernetzung, Transport und Speicherung
ausrichten. Sie müssten mehr Forschungsmittel für den
Bereich der klimafreundlichen Mobilität einsetzen.
Diese Bereiche müssten auch gesellschaftlich erforscht
werden.
Sie haben aber im Wesentlichen nur angekündigt,
wieder in die Atomforschung investieren zu wollen. Im
Übrigen gibt es bereits ein neues großes Programm zur
Fusionsforschung. Das zeigt wieder einmal, auf welcher
Priska Hinz ({13})
Seite Sie stehen. Diese Schwerpunktsetzung stellt sicherlich keine nachhaltige Strategie für die gesellschaftlichen Umbrüche und Herausforderungen dar, vor denen
wir stehen.
Ich bin der Meinung, dass eine Regierung aus den
Fehlern lernen sollte. Für die Forschungspolitik gilt das
allemal. Ich hoffe sehr, dass Sie noch umsteuern und sich
eines Besseren besinnen, damit die Hightechstrategie in
Deutschland zu einem echten Erfolgsmodell werden
kann.
Danke schön.
({14})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulla Burchardt,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal ist festzustellen: Mit dem
6-Milliarden-Euro-Programm hält die Koalition Wort.
Der Bund steht zum 3-Prozent-Ziel für Forschung und
Entwicklung und geht in Vorleistung.
({0})
Der Kollege Röspel hat völlig recht. Das sage ich mit
Blick auf die FDP: Wenn Sie jetzt feststellen, das sei alles nicht genug, und immer mehr fordern, dann muss
man daran erinnern, dass Sie der schwarz-gelben Koalition angehört haben, die bis 1998 die Forschungsausgaben heruntergefahren hat.
({1})
Wir mussten uns dann bemühen, aus diesem Tief wieder
herauszukommen.
Insofern bringen wir als Sozialdemokraten jetzt
Nachhaltigkeit in die von der rot-grünen Koalition erfolgreich begonnenen Maßnahmen wie die Exzellenzinitiative, den Pakt für Forschung, die Clusterbildung, die
Netzwerke und vieles andere.
Mit der ressortübergreifenden Hightechstrategie
wird - ich greife gerne ein Bild auf, das die Kollegin
Aigner immer verwendet - die nächste Stufe der Rakete
gezündet. Wo sie recht hat, sie recht.
({2})
Aus dem 6-Milliarden-Euro-Programm fließen
4,5 Milliarden in die Wirtschaft. Das ist ja nicht per se zu
kritisieren. Wenn aber die Unternehmen die eigenen
FuE-Tätigkeiten am Standort Deutschland real zurückfahren - das belegen die Zahlen des Stifterverbandes -,
dann ist das innovationsschädlich und ordnungspolitisch
prekär. Wir Sozialdemokraten stehen dazu: Forschungsförderung darf kein Synonym für Subventionen und
Wirtschaftsförderung werden. Die Steuerzahler haben
ein Anrecht darauf, dass das, was wir zur Forschungsförderung in Unternehmen ausgeben, von den Unternehmen gemehrt wird und sich in einer Rendite für die gesamte Gesellschaft niederschlägt.
({3})
In dieser Koalition wollen wir deutsche Marktführerschaften in der Welt weiter ausbauen und knüpfen an unsere strategischen Weichenstellungen zur Förderung von
Spitzentechnologien an. Ein besonders gutes Beispiel
- das kann ich als Berichterstatterin feststellen - ist die
Förderung der Nanotechnologie.
Seit 2004 gibt es die nationale Nanostrategie. Auch
deshalb liegt Deutschland mit den USA und Japan an der
Weltspitze, was die Publikationen und Patentanmeldungen angeht. In Europa ist Deutschland - das kann man
mit Stolz feststellen - mit großem Abstand der Champion im Bereich der Nanotechnologie. 50 000 Arbeitsplätze wurden bis jetzt geschaffen. Vielfältige Produkte
wurden als Ergebnis von Innovationen entwickelt. An
diese erfolgreiche Strategie knüpfen wir in dieser Koalition an.
Ob Ideen in Produkte, Verfahren und Dienstleistungen umgesetzt werden - das ist die klassische Frage: wie
kommt man von der Idee zum Produkt? -, hängt nicht
zuletzt von einer klugen ressortübergreifenden Politikstrategie ab, in die die Forschungsförderung als wichtiger Teil eines Instrumentenmix eingebunden ist.
Ich verweise auf ein weiteres erfolgreiches Beispiel,
nämlich die Klima- und Energiepolitik der letzten
Jahre. Weg vom Öl und von der Atomenergie hin zum
Solarzeitalter - das war und ist unser Leitbild -,
({4})
mit klaren Zielen für den Ausbau erneuerbarer Energien!
Mit dem EEG wurde ein weltweit beachtetes innovatives
Förderinstrument geschaffen, das zur Entstehung von
über 170 000 neuen Arbeitsplätzen geführt hat.
Bei aller Übereinstimmung in der Koalition, was die
Hightechstrategie angeht: Frau Schavan, es gibt von uns
die Gelbe Karte, wenn Sie die Atomtechnik als Brückentechnologie zum Ausstieg aus dem Atomausstieg
benutzen wollen. Das entspricht nicht dem Koalitionsvertrag.
({5})
Das deutsche Innovationssystem ist besser als sein
Ruf. Die Kollegen haben darauf schon vielfach hingewiesen. Die größte Schwachstelle ist die mangelnde
Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Frau Schavan
hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass beispielsweise nahezu 100 000 junge Forscherinnen und
Forscher fehlen, um das 6-Milliarden-Euro-Programm
tatsächlich realisieren zu können. Daran sieht man, wo
die großen Defizite im Innovationssystem bestehen.
Deswegen muss die Föderalismusreform II als große
Chance einer neuen Innovationspolitik genutzt werden.
({6})
Wir brauchen endlich einen Investitionsbegriff im
Grundgesetz, der Bildung, Wissenschaft und Forschung
nicht länger diskriminiert. Beton wichtiger einzuschätzen als Wissen oder - wie es unser KMK-Präsident Professor Zöllner treffend formuliert hat - die Investition in
eine Friedhofsmauer zu erlauben, nicht aber in einen
Forschungsbereich, ist vorsintflutlich und entspricht
nicht mehr der Wissensgesellschaft.
({7})
Nicht nur Forschung, sondern auch Bildung und Wissenschaft brauchen eine ausreichende Finanzierung. Auch
Bildung braucht ein klares quantitatives Ziel. Lassen Sie
uns im Rahmen der Föderalismusreform II gemeinsam
die Chance für einen Paradigmenwechsel in der Innovationspolitik nutzen!
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden heute nicht nur über Forschung und Grundlagenforschung, sondern auch über Technologie und Technologieförderung, also über das, was - so hat es Helmut
Kohl einmal formuliert - hinten herauskommen muss,
und darüber, wie viel wir in diesem Lande leisten. Frau
Schavan, es war klar, dass Sie uns sagen würden, dass
die Bundesregierung sehr viel getan habe. Aber, Frau
Schavan, „viel hilft viel“ ist an dieser Stelle nicht das
richtige Motto.
({0})
Wenn wir zeitnah marktfähige Produkte erhalten wollen,
helfen weder Ihre schönen, von uns immer anerkannten
Glanzbroschüren zur Hightechstrategie noch die Subventionsgießkannen des Bundeswirtschaftsministers.
Das Geld muss effizient eingesetzt werden. Mitnahmeeffekte müssen vermieden und die Projekte konsequent
auf ihren Erfolg überprüft werden. Genau hier, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition,
haben Sie Ihr großes Defizit.
({1})
Lieber Herr Tauss, lassen Sie mich das am Beispiel der
Luft- und Raumfahrt verdeutlichen; das ist ja Technologie.
Beispiel Airbus. Hier hören wir seit Monaten Krisennachrichten über einen deutsch-französischen Kleinkrieg. Das Problem des Flugzeugbauers EADS ist nicht
- wie die Propheten des Staatsinterventionismus immer
sagen - zu wenig staatlicher Einfluss, sondern zu viel.
Die Konkurrenz schläft nicht. Boeing hat nicht wie Airbus unter einer unflexiblen Firmenstruktur zu leiden.
Wie lautet nun die Antwort der Bundesregierung? Mein
geschätzter Kollege Hintze, der selten unter Sprachhemmungen leidet, hat uns geantwortet: Wir werden „alles
tun, um die Luft- und Raumfahrtindustrie zu unterstützen.“ Lieber Herr Hintze, das ist nicht nur äußerst
schwammig, sondern wahrscheinlich auch mehr eine
Drohung als eine Verheißung, muss ich als Technologiepolitikerin sagen.
({2})
Der Einfluss des Staates auf strategische Unternehmensentscheidungen von Airbus hat eben nicht zu einem besseren Ergebnis bei der Technologieentwicklung und
nicht zu Arbeitsplätzen in Deutschland geführt, ein Ziel,
das wir alle haben.
Lassen Sie mich noch kurz das nationale Raumfahrtprogramm streifen. Da haben wir ein Schauspiel erlebt,
das jeden strategischen Gedanken seitens der Bundesregierung vermissen lässt. Da wird plötzlich aus heiterem
Himmel erklärt: Wir alle wollen zum Mond. - Auf unsere Frage, warum wir alle zum Mond wollen,
({3})
lautete die Antwort: weil die anderen auch dorthin fahren. Das ist alles andere als eine Hightechstrategie. Das
ist einfach nur ein ideenloses Hin und Her.
({4})
Lassen Sie mich zum Abschluss ein Beispiel anführen, das uns alle zurzeit besonders bewegt, ein Glanzstück der deutschen Technologiepolitik: Galileo. Hier
hat schon die rot-grüne Bundesregierung den Fehler begangen, nicht entschieden gegen ein Zusammengehen
der beiden Bieterkonsortien anzugehen. Sie von RotGrün haben in Ihrer Regierungszeit auf dem Rücken der
Steuerzahler ein Monopol entstehen lassen.
({5})
Was dieses Monopol angeht, schläft die Große Koalition
seit 2005 - und jetzt wundert sie sich, dass ihr alles um
die Ohren fliegt.
({6})
Galileo strotzt vor Ungereimtheiten. Es gibt eine unsinnige Diskussion mit Spanien über ein drittes Bodensegment, das keiner braucht. Deutschland und Frankreich haben bis heute offensichtlich unterschiedliche
Vorstellungen, was Galileo können soll und inwieweit
auch eine militärische Nutzung möglich sein soll.
Lassen Sie mich an dieser Stelle Herrn Enders zitieren. Er sagte:
Ich habe noch kein Projekt erlebt, das so stark politisch geprägt war wie dieses.
An dieser Stelle scheint die Politik offensichtlich nicht
segensreich zu wirken; genau das Gegenteil ist der Fall.
({7})
Herr Hintze, Sie haben noch sehr viel Arbeit vor sich!
Die Beispiele zeigen, dass Sie zwar nach wie vor
schöne Hochglanzbroschüren drucken lassen, es Ihnen
aber nur schwer gelingt, im Technologiebereich etwas zu
bewegen. Trotz aller Reden zum Thema Hightech sind
Sie in den letzten Jahren kaum vorangekommen; das zeigen uns die vorliegenden Berichte deutlich.
Frau Schavan, Innovationsförderung muss sich am
Erfolg messen, und zwar - da stimme ich Frau Burchardt
absolut zu - am Erfolg für die Menschen. Sie haben uns
ein Plus von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen versprochen.
Nach anderthalb Jahren müssen wir Ihnen sagen: Wir erkennen keine Bewegung. Damit befinden wir uns in guter Gesellschaft mit Herrn Professor Rürup, der das vor
wenigen Tagen gegenüber der Öffentlichkeit gesagt hat.
Ihre Versprechen sind bisher Makulatur. Ich hoffe, in den
nächsten beiden Jahren wird das deutlich besser.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinz
Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Liebe Frau Flach, Sie haben
mit Begeisterung von Airbus, vom Mond und von Galileo gesprochen. Das sind faszinierende Themen. Wenn
Sie mit Ihrer Kritik die Hightechstrategie der Bundesregierung angreifen wollen, geht das ein bisschen am Zentrum vorbei.
({0})
Die Hightechstrategie ist eine Strategie - Frau
Schavan hat darauf hingewiesen -, die im europäischen
Kontext betrachtet werden muss. Wir haben den Ehrgeiz - darüber sind wir uns einig -, Teil des dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraums der Welt zu werden. - Dazu hat Frau Flach eine Frage. Es scheint ein
Verständnisproblem zu sein. Intellektuelle Probleme räumen wir sofort aus; über politische Probleme müssen wir
diskutieren.
({1})
Ich mache aber gleich zu Beginn darauf aufmerksam,
dass ich serienweise bestellte Zwischenrufe weder aus
den Reihen der Koalition noch aus den Reihen der Opposition zuzulassen gedenke. Das ist insofern jetzt die
einsame Ausnahme. Bitte schön, Frau Flach.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Sie haben den Finger in die Wunde gelegt. Ich höre Herrn Riesenhuber
einfach so gern.
Herr Professor Riesenhuber, es ist Ihnen doch sicherlich bekannt, dass die Luft- und Raumfahrt ein Leuchtturmprojekt der Hightechstrategie ist. In diesem Zusammenhang müssen wir leider darüber reden, dass in den
letzten Monaten vieles gegen die Wand gefahren worden
ist. Darüber sind wir uns normalerweise einig, lieber
Herr Professor Riesenhuber.
Liebe Frau Flach, wir beide haben mit sorgsam verteilten Rollen bei den zuständigen Stellen mehrfach mit
Herzlichkeit angemeldet, dass Galileo nicht mit glücklicher Hand gemanagt worden ist. Wir haben hier vorzügliche europäische Institutionen, bei denen Manager antreten, über die wir alle nicht uneingeschränkt glücklich
sind; und leider ist es in den vergangenen Jahren nicht
gelungen, Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wenn wir
keine Geschäftsmodelle haben, steigt die Industrie nicht
ein, weil sie nicht weiß, ob das Geld zurückkommt. Über
all diese Punkte haben wir mit Fleiß, Sachkenntnis und
Entschlossenheit diskutiert.
Hier aber geht es um die Frage der Gesamtanlage der
Hightechstrategie. Dazu muss ich sagen: Für den Weg
in diese komplexe, wissensbasierte Welt, über die wir
sprechen, hat die Bundesregierung ressortübergreifend
eine einzigartige, integrierte Strategie angemeldet, und
das war mit einer solchen Entschlossenheit und Einmütigkeit bis jetzt noch nicht der Fall gewesen.
({0})
Es ist von verschiedenen Rednern darauf hingewiesen
worden, welche Elemente umgesetzt worden sind, die
konstitutiv für die nächste Runde sein werden: die zusätzlichen 6 Milliarden Euro, die Planungssicherheit geben, die zugesagten Steigerungsraten im Bereich der
Grundlagenforschung, das Konzept des Wirtschaftsministers, ein technologieoffenes Förderprogramm für
den Mittelstand mit schnellen Bearbeitungszeiten einzustellen. Dies alles sind vernünftige und integrierte Elemente, eingebunden in ein Gesamtkonzept. Dass es darüber hinaus noch eine Menge offener Baustellen gibt,
wissen wir. Wenn wir nichts mehr zu tun hätten, könnten
wir nach Hause gehen. Wir sind dabei, die Sache mit einem sorgsam angelegten Konzept aufzubauen.
Die Frau Ministerin sprach von der Schwierigkeit und
auch der Chance, in vier Ressorts Energieforschung zu
betreiben. Es ist eine Kunst, diese Forschung zu einer
Strategie zusammenzuführen, in der sich die Kompetenzen der einzelnen Ressorts wirklich auswirken können
und die Forschung auch umgesetzt wird.
Die Hightechstrategie spricht von Querschnittsbereichen, die zu organisieren schwierig, aber lebensnotwendig ist. Ich nenne die Stichworte innovative öffentliche Nachfrage, Normen und Standards; die Frage der
Abstimmung reicht bis hin zu den Finanzstandards. Frau
Hinz hat das Wagniskapital zu Recht angesprochen. Zu
dieser Stunde tagt das Gremium, das die Eckpunkte des
Unternehmensbeteiligungsgesetzes berät. In der letzten
Debatte, die wir leider aufgrund Ihres schönen Antrags
nicht Auge in Auge führen konnten - nachts um vier diskutiert man nicht mehr so lebendig -,
({1})
sind wir uns in vielen Positionen einig gewesen. Wir
sind der festen Überzeugung, dass, weil wir die jungen
Unternehmen brauchen und weil wir mehr Wagniskapital brauchen, die Bundesregierung im Rahmen ihrer
Hightechstrategie die Voraussetzungen dafür schafft,
dass sich in Deutschland Schwung und Dynamik weiterentwickeln können.
({2})
Zu dieser Stunde, während wir hier diskutieren, sind wir
dabei, dies zu tun. Nicht alle tun alles zugleich, aber mit
verteilten Rollen bringen wir Deutschland sehr gut
voran.
({3})
Es stellt sich die Frage, wie wir die Forschung zurück in die Universitäten verlagern. Wenn die Fusion des
Forschungszentrums Karlsruhe mit der Universität zum
Karlsruhe Institute of Technology, KIT, gelingt, dann haben wir plötzlich wieder eine neue Qualitätseinrichtung
voll strahlkräftiger Forschung und Lehre an einer Stelle.
Es stellen sich hier Fragen in ganz unterschiedlichen
Bereichen. Dabei beziehe ich Galileo durchaus mit ein.
Wir sind hier weitergekommen und haben die richtigen
Ansätze. Wir sind das Land der Ideen.
({4})
- Wenn Sie dem Präsidenten mitteilen, dass Sie mir zusätzliche zehn Minuten Redezeit Ihrer Fraktion überlassen, dann halte ich hier eine flammende Rede über die
Erfolge.
({5})
Daran hat niemand Zweifel, Herr Kollege
Riesenhuber. Deswegen wird die Opposition auch keine
weiteren zehn Minuten zur Verfügung stellen.
Das ist sehr schmerzlich.
({0})
Was haben wir jetzt noch zu tun? Ich muss sagen:
Frau Schavan spricht sanft, behutsam und mit liebenswerter Keuschheit die Fragen an.
({1})
Sie sagt hier - das finde ich gut -, Steuerpolitik sei auch
Innovationspolitik. Ich lese in einem Dokument der
Bundesregierung, dass wir steuerliche Instrumente der
Forschungsförderung erwägen wollen.
({2})
Ich höre von Frau Schavan, dass sie die Auswirkungen
der Forschungsprämie beobachtet und überlegen will,
welche weiteren Instrumente man hier ansetzen kann.
Mir scheint das eine faszinierende Debatte zu sein.
Wir haben die Frage der Tax-Credits gelegentlich in
diesem Haus diskutiert. Wir haben das schon vor mehreren Jahren vorgeschlagen. Aber mir scheint dieser Zeitpunkt jetzt - das finde ich faszinierend - besonders günstig zu sein. Da greife ich einer komplexen Diskussion
nicht vor. Wir haben eine ausdifferenzierte Forschungslandschaft. Dieses flexible Instrument - unbürokratisch,
verlässlich für den Unternehmer, technologieoffen, perspektivisch angelegt - kann dazu beitragen, für Dynamik
und Entfesselung in denjenigen Bereichen zu sorgen, in
denen wir noch nicht so stark sind, wie wir es sein könnten. Die mittelständischen Unternehmen haben ihre Forschung in den vergangenen Jahren nicht mit der Dynamik ausgebaut, die wir brauchen. Wir haben gelernt,
dass wir das Land der Ideen sind. Aber die Umsetzung in
Produkte und der Eintritt in die Märkte sind nicht immer
ganz glücklich gelaufen.
Herr Kollege!
Es scheint mir eine faszinierende Sache zu sein, die
Fülle der Möglichkeiten zu bedenken und sie mit Entschlossenheit und ohne Hurrapatriotismus zu nutzen.
({0})
Der Staat soll die Zukunft nicht erfinden, der Staat ist
nicht kreativ.
({1})
Wenn er versucht, kreativ zu sein, irritiert er die Menschen.
Herr Kollege Riesenhuber, ich bin über Ihre Zuwendung deswegen ganz besonders begeistert, weil ich weiß,
dass Sie sich den Hinweis auf solche Kleinigkeiten wie
Redezeiten bei diesem großen Blick auf die Welt und
ihre aktuelle Verfassung nur schwerlich gefallen lassen.
Ja.
Gleichwohl ist es so, wie es ist.
Herr Präsident, Sie sehen die richtige Relation zwischen der Redezeit und der Welt in ihrer aktuellen Verfassung.
({0})
Das ist eine Disproportionalität, die wir überbrücken
müssen.
Wir können nicht kreativ sein. Wir sollten verlässlich
sein, einen sauberen Rahmen setzen und gute Bedingungen schaffen. Wir sollten es den Männern und Frauen,
die Ideen haben, überlassen, den Raum zu nutzen und
mit fröhlichem Unternehmungsgeist die Welt für uns neu
zu erfinden, sodass wir gemeinsam in eine frohgemute
Zukunft schreiten können.
({1})
Herr Kollege Riesenhuber, ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass Sie Ihren Vortrag diesmal ganz überwiegend in unmittelbarer Nähe des Rednerpultes gehalten haben.
({0})
Ich hatte nämlich schon Vorkehrungen treffen lassen: Einige der Plenarassistenten haben sich an den Türen aufgestellt, um sicherzustellen, dass wir der Bestimmung
der Geschäftsordnung gerecht werden, dass die Verhandlung im Deutschen Bundestag stattfindet.
({1})
Nun erhält das Wort der Kollege Klaus Hagemann für
die SPD-Fraktion:
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Beim Thema Forschung geht es nicht um liebenswerte Lyrik, um den Zustand der Welt
({0})
- oder um Keuschheit -, sondern um harte Fakten: Wir
haben uns verpflichtet, 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Forschung und Entwicklung aufzubringen.
({1})
Wir, Deutschland, liegen bei etwa 2,5 Prozent. Es geht
darum, diesen Wert um einen halben Prozentpunkt zu erhöhen, damit wir unseren Verpflichtungen innerhalb der
Europäischen Union nachkommen.
({2})
Aufzubringen sind immerhin zusätzlich circa 50 Milliarden Euro. Die Hälfte davon, also etwa 25 Milliarden
Euro, hat die Wirtschaft aufzubringen. Etwa 6 Milliarden Euro muss der Bund und ebenfalls 6 Milliarden Euro müssen die Länder bereitstellen. Heute wurde
schon mehrfach gefragt: Werden diese Ziele erreicht?
Ich habe die große Sorge, dass dieses Ziel nicht erreicht
wird.
({3})
Wird die Wirtschaft ihre 2 Prozent schaffen, Frau Flach?
Die Wirtschaft soll den größten Beitrag leisten - das ist
der Hauptpunkt -:
({4})
24 bis 25 Milliarden Euro.
Eine Studie des ZEW, des Zentrums für Europäische
Wirtschaftsforschung, besagt: Die Initiativen des Bundes
haben sich in der Wirtschaft noch nicht durchgreifend
niedergeschlagen. - Ich bitte die FDP als wirtschaftsnahe Partei, einen entsprechenden Appell an die Wirtschaft zu richten.
({5})
75 Prozent der Mittel, die der Bund zur Verfügung stellt,
fließen in die Wirtschaft. Damit sollen Anstöße für Forschung und Entwicklung gegeben werden.
Hier ist schon wieder über steuerliche Entlastungen
im Rahmen der Unternehmensteuerreform geredet
worden. Ich muss darauf hinweisen, dass es in den zurückliegenden Jahren bereits eine Reihe von Steuerentlastungen gegeben hat.
({6})
Zu einer erneuten Steuerentlastung wird es so bald nicht
kommen. Im Rahmen der Unternehmensteuerreform
werden wir wiederum für weitere Entlastungen der Wirtschaft sorgen.
({7})
Es wurde schon herausgestellt, dass Deutschland auf
dem Gebiet der Grundlagenforschung gut dasteht. Das
ist richtig so, und dazu tragen wir, der Bund, erheblich
bei. Aber erhebliche Probleme gibt es doch bei der Umsetzung der Ergebnisse in Produkte und in Verfahren.
Auf den MP3-Player wurde schon hingewiesen: Seine
Entwicklung wurde von der Fraunhofer-Gesellschaft
und damit auch durch Steuermittel gefördert. Allerdings
ist in Deutschland niemand auf die Idee gekommen,
MP3-Player zu produzieren.
Zwischenzeitlich steht auch Wagniskapital zur Verfügung. Die KfW, die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau, stellt Mittel zur Verfügung, um Risiken abzudecken, Frau Flach. Davon wird nur kein Gebrauch
gemacht, bzw. die Hausbanken sperren sich dagegen. Ich
könnte Ihnen schlimme Beispiele aus meinem Wahlkreis
nennen.
Was EADS angeht, Frau Kollegin, haben bisher die
Aktionäre profitiert; denn sie haben 500 Millionen Euro
an Dividenden bekommen. Auch das sollte man noch
einmal herausstellen.
({8})
Galileo, verehrte Frau Kollegin, ist natürlich in erster
Linie an der Privatwirtschaft gescheitert.
({9})
Ich bin dankbar, dass Minister Tiefensee in dieser Frage
jetzt die Notbremse gezogen hat und der Kommission etwas Druck gemacht wird, damit Entscheidungen gefällt
werden. Ich bitte Sie, Frau Ministerin Schavan, dass
auch Sie - oder die Frau Bundeskanzlerin - in Ihren
Wirtschaftszirkeln, zum Beispiel in der Forschungsunion, entsprechend Druck machen, damit die feierlichen Verpflichtungen in den schönen Hochglanzbroschüren seitens der Wirtschaft umgesetzt werden. Das
Gleiche gilt übrigens für die Länder; das möchte ich mit
Nachdruck hervorheben.
({10})
- Kein Einziger ist auf der Bundesratsbank. Das ist fast
schon skandalös bei diesem Thema.
Wir haben versucht, in diesem Zusammenhang die
neuesten Zahlen über die Forschungsmittel der Länder
zu bekommen. Mein Büro hat sich zwei Tage lang bemüht, ist aber nicht an die Zahlen herangekommen. Die
vorhandenen Zahlen über den Anteil der Länder sind
zwei Jahre alt; sie stammen aus dem Jahr 2005.
Auch wir als Bund sind betroffen. Wir stellen gern
das Geld zur Verfügung. Im Haushaltsausschuss haben
wir darüber sehr heftig diskutiert; die Strategie wurde
begrüßt. Aber die Gelder müssen natürlich abgerufen
und verausgabt werden. Ich bitte Sie, die entsprechenden
Konzepte voranzubringen.
({11})
Wir werden in der nächsten Sitzungswoche den ersten
Bericht in Bezug auf die Hightechstrategie diskutieren.
Da hoffe ich, noch mehr Antworten auf die Fragen zu
bekommen, die im Mittelpunkt stehen. Die Forschungsprämie und die Exzellenzinitiative sind beispielsweise
zu erwähnen. Wir wollen wissen, wie diese Programme
laufen, was - zusätzlich - bewirkt wurde und welche
konkreten Konzepte das BMWi und das BMBF vorzuweisen haben.
Das 3-Prozent-Ziel ist kein Selbstzweck. Wir wollen
damit vielmehr einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes, aber auch Europas leisten.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort erhält der Kollege Axel Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gut, dass
heute hier im Hause bei dem Thema Hochtechnologiestrategie - oder neudeutsch: Hightechstrategie - die positiven Beiträge weit überwogen haben.
({0})
Es ist ein großer Fortschritt, dass wir wieder verstärkt
über Chancen reden, fest ins Auge fassen, was uns morgen Vorteile bringt, und nicht länger Unheil heraufbeschwören, was uns am Ende vielleicht gar nicht droht.
Die Blütezeit fruchtloser Angstdebatten über potenzielle
Risiken der technologischen Entwicklung scheint jedenfalls endlich vorbei zu sein. Das Klima für Forschung
und Innovationen hat sich gewandelt und wandelt sich
weiter positiv.
({1})
Auch politisch können wir, können die Menschen im
Land die Vorteile dieses Wandels hautnah spüren und die
Früchte quasi mit Händen greifen. Die Zukunft gewinnt
nicht, wer die Vergangenheit konserviert. Wer rastet, der
rostet. Wer nicht strampelt, der fällt zurück. Deshalb
müssen Chancen und Risiken der Forschung gewissenhaft abgewogen werden.
Dem Wunsch der Fraktion der Grünen nach Technikfolgenabschätzung kann daher entsprochen werden.
Wir praktizieren dies ohnehin bereits seit Jahren erfolgreich, nicht wahr, Frau Burchardt?
Aber wenn Technikfolgenabschätzung draufsteht,
muss auch Technikfolgenabschätzung darin sein, worauf
Kollege Krummacher immer großen Wert legt.
({2})
Positive Neuerungen dürfen nicht durch Risikodiskussionen unnötig behindert werden. Im Gegenteil: Vorhandene und absehbare Chancen müssen angemessen einbezogen und entsprechend nach außen transportiert werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen verantwortungsvoll mit unserem Können und mit unseren wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten umgehen. Dies gilt insbesondere für die Energieerzeugung.
Es kann nicht unser Ziel sein, die Erfolge Deutschlands
beim Klimaschutz zu erschweren; denn wir haben eine
Verantwortung für die Schöpfung.
Die Kernkraft zum Beispiel ermöglicht eine kostengünstige und klimafreundliche Energieerzeugung.
({3})
Sie steht in Deutschland derzeit für mehr als 75 Prozent
der CO2-freien Stromerzeugung.
({4})
Zudem wirkt sie einer Verknappung der Öl-, Gas- und
Kohlevorkommen entgegen.
Frau Hinz, Sie haben vorhin behauptet, der Kernfusion werde in der Energieforschung eine zu große Bedeutung beigemessen.
({5})
Axel E. Fischer ({6})
Diese Behauptung ist angesichts des Entwicklungspotenzials dieser Energieumwandlungsform unverständlich.
({7})
Was glauben Sie eigentlich, warum sich die Europäische
Union, die Schweiz, Japan, Russland, die Volksrepublik
China, Südkorea, Indien und die USA gemeinsam im
Rahmen des ITER-Projekts engagieren? Warum investieren all diese Länder Geld und wollen in internationalen Kooperationen Wege zur wirtschaftlichen Nutzung
der kontrollierten Kernfusion aufzeigen? Was gewinnen
wir denn, wenn wir uns hier zurückziehen und uns auf
wissenschaftlichem Gebiet isolieren?
({8})
Was konkret gewinnen wir, wenn wir uns aus der Forschung im Hinblick auf Kernkraftwerke der vierten Generation ausklinken? Nichts! Genau deshalb müssen wir
unsere Wissenschaftler und unsere Unternehmen an
diese neu entstehenden Technologien heranführen. Nicht
durch Abkopplung unserer Wissenschaft vom internationalen Standard oder durch deutsche Sonderwege werden
wir am weltweiten technologischen Fortschritt teilhaben,
sondern nur durch Mitmachen.
({9})
Unsere Unternehmen und unsere Wissenschaft müssen
an vorderster Stelle mit dabei sein.
Da Sie immer von der Vorreiterrolle sprechen,
({10})
sage ich Ihnen: Wir dürfen uns bei internationalen Projekten nicht in die Schmollecke stellen oder uns gar
klammheimlich vom Acker machen.
({11})
Denn wir sind es unseren Kindern schuldig,
({12})
dass wir ihnen die gleichen Entwicklungschancen hinterlassen, die auch wir vorgefunden haben. Mit der technologischen Leistungsfähigkeit eines Entwicklungslandes
jedenfalls werden wir mit Sicherheit keine gute Zukunft
haben. Vor diesem Hintergrund ist es in höchstem Maße
unredlich, Investitionen in die Kernforschung schlechtzureden. Im Gegenteil, wir müssen die Chancen und die
ökologischen, ökonomischen und sozialen Vorteile der
technologischen Weiterentwicklung dieser Schlüsseltechnologie betonen.
Es ist ebenfalls unredlich, die hervorragenden Ergebnisse des Klimaforschungsgipfels, der in der letzten
Woche stattgefunden hat, kleinzureden. So zu tun, als
habe die damalige Bundesregierung unter dem Autokanzler vorbildhaft gearbeitet und als stehe die jetzige
Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel auf der
Bremse, ist einfach nur lächerlich. Sie hatten sieben
Jahre lang Zeit, eine Forschungsstrategie im Hinblick
auf das Klima zu entwerfen. Nichts ist geschehen.
({13})
Bis zum Herbst dieses Jahres, also nach weniger als zwei
Jahren Regierungstätigkeit, will Bundesforschungsministerin Schavan konkrete Ergebnisse vorlegen. So sieht
die Realität aus. Das ist erfolgreiche Realpolitik.
({14})
Die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft wird immer bedeutender. Deshalb ist die Verschmelzung des Forschungszentrums Karlsruhe und der
Universität Karlsruhe zum KIT, zu einer Art MIT, ein
hervorragender Schritt, um einen Beitrag dazu zu leisten,
dass sich Wissenschaft, Wirtschaft und Staat endlich gemeinsam an der Erforschung, Entwicklung und Fertigung von Produkten beteiligen. In dieser Richtung muss
die Arbeit der Bundesregierung fortgesetzt werden. Wir
unterstützen Frau Schavan auf diesem Kurs und freuen
uns, dieses Thema in der Großen Koalition gemeinsam
voranzubringen.
({15})
Nun spricht die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
gehe jetzt nicht auf die Rede von Herrn Fischer ein.
({0})
Denn dann müsste ich so viel sagen, dass ich für meinen
eigenen Text zu wenig Zeit hätte. Ich glaube allerdings,
meine Rede ist erfreulicher.
({1})
Wer samstags durch die Straßen zieht, sieht häufig
leidenschaftlich putzende Männer
({2})
- wohlgemerkt, sie putzen ihre Autos. Insbesondere die
Felgen gelten als hartnäckige Schmutzmagneten, die
schon manchen stolzen Autobesitzer in Rage gebracht
haben. Doch - eine erfreuliche Nachricht - das ist bald
passé. Eine Firma aus Herford hat dieses Problem erkannt und bei der Suche nach einer Lösung die Universität Paderborn um Hilfe gebeten. Dort hat man sich im
Fachbereich Chemie mit dem Problem beschäftigt und
einen Lack erfunden, der Autofelgen quasi immun gegen
Schmutz macht. Der Clou dabei: Der Lack wehrt insbesondere Eisenstaub ab, der von den Bremsscheiben
stammt und als hartnäckig gilt.
({3})
Der neue Lack ist den sich derzeit im Handel befindlichen Produkten ganz klar überlegen und wird von der
Herforder Firma mittlerweile auch vermarktet.
Solche Beispiele zeigen: Unternehmen, die mit Wissenschaftlern kooperieren, die Forschung und Entwicklung betreiben, haben im Wettbewerb die Nase vorn. Das
ist auch der Grund, warum wir anwendungsnahe Forschung und Kooperationen zwischen Wirtschaft und
Wissenschaft fördern. Dafür investieren wir eine Menge
Geld. Insgesamt 15 Milliarden Euro fließen in den
nächsten Jahren in die Hightechstrategie. Ein großer Teil
davon kommt direkt der Wirtschaft zugute, insbesondere
dem Mittelstand.
({4})
Das tun wir nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil wir
damit einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen verfolgen.
Unsere Förderung unterstützt Wirtschaftswachstum, zukunftssichere Arbeitsplätze und schafft damit auch ein
solides Fundament für unseren Sozialstaat. Da das Beschäftigungswachstum in innovativen Firmen fast viermal so hoch ist wie in anderen, konzentrieren wir unsere
Unterstützung natürlich genau auf diesen Bereich.
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
fordern in Ihrem Antrag für die Wirtschaft - ich zitiere „eine indirekte FuE-Förderung“, die „zielgenau auf den
Ausgleich bestehender Schwächen … ausgerichtet“ ist
und „effizient, flexibel, bedarfsgerecht und unbürokratisch“ ist. Ich kann Ihnen heute eine freudige Nachricht
übermitteln: Genau das gibt es bereits
({5})
mit der indirekten Förderung für den Mittelstand durch
das Wirtschaftsministerium, im Übrigen einem wesentlichen Bestandteil der Hightechstrategie. Knapp 600 Millionen Euro fließen allein dieses Jahr in diesen Bereich.
Mit unseren Investitionen erreichen wir zudem, dass
die Wirtschaft in diesem Bereich zusätzlich investiert,
zum Beispiel bei ProInno: 1 Euro Innovationsförderung
vom Staat macht 2 Euro an Investitionen aus der Wirtschaft locker.
({6})
Solche Programme haben eine enorme Hebelwirkung.
Die Evaluation bescheinigt ihnen eine hohe Effizienz.
({7})
Zurzeit wird im Wirtschaftsministerium daran gearbeitet, das breite Förderangebot für Unternehmen noch
übersichtlicher und serviceorientierter zu gestalten.
Ein Problem beschäftigt uns aber sicherlich alle momentan. Das wurde schon von einigen geäußert; nur
Frau Pieper hat da die Augen ein bisschen zugemacht.
Wir, der Bund, haben die Notwendigkeit erkannt, auf
technologische Erneuerungen zu setzen, und 6 Milliarden Euro auf unsere FuE-Ausgaben draufgepackt.
({8})
Aber die Unternehmen ziehen noch nicht genug mit; das
wurde eben schon mehrfach erwähnt.
({9})
Dabei sind die Chancen, die sich auch für die Wirtschaft
durch Forschung und Entwicklung und neue Technologien ergeben, doch so eindeutig. Sie liegen auf der Hand.
Nehmen wir zum Beispiel die Energietechnologien. Da
verfügen wir bei den erneuerbaren Energien über eine
dominante Patentposition weltweit. Das macht sich wirtschaftlich bezahlt. Deutsche Hersteller von Kraftwerkstechnik, Windkraftanlagen und Solartechnik sind in der
Welt führend. Das ist beispielgebend für andere Bereiche.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erkenntnis, dass
die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands
über die Zukunft unserer Industrie- und Wissensgesellschaft entscheidet und damit über Wohlstand und Teilhabechancen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, hat
sich inzwischen fast überall durchgesetzt. Dafür zu sorgen, dass wir in eine gute Zukunft gehen, ist Aufgabe
von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Lassen Sie uns
gemeinsam weiter beherzt daran arbeiten!
({11})
Der Kollege Thomas Oppermann von der SPD-Fraktion ist der letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzter
Redner kann ich nur feststellen: Es ist vieles gesagt worden, aber noch niemand hat die Debatte zusammengefasst.
({0})
Man kann das, ohne alle Belege, die dafür erbracht worden sind, noch einmal anzuführen, sicherlich in einem
Satz machen: Die deutsche Forschung ist schon heute
besser, und ihre internationale Wertschätzung ist schon
heute größer, als es die eine oder andere politisch inspirierte Diskussion der vergangenen Jahre uns nahezulegen versucht hat.
({1})
Das ist natürlich auch ein hervorragender Ausgangspunkt, um noch besser zu werden.
Als jemand, der in den letzten zehn Jahren die Forschungsdebatte verfolgt hat und die Forschungspolitik
teilweise auch mitgestalten durfte, bin ich erstaunt, wie
viel in Deutschland im Augenblick gleichzeitig umgesetzt wird: Wir machen die Hightechstrategie und den
Pakt für Forschung und Innovation; wir führen die Forschungsprämie und Vollkostenfinanzierung ein; die
Exzellenzinitiative mit Graduate-Schools, Exzellenzclustern und Eliteuniversitäten ist auf dem Weg; Juniorprofessuren wurden eingeführt; wir machen ein European Research Council mit Pionierforschung - so etwas
hätte ich mir vor zehn Jahren im Rahmen der EU nie
vorstellen können -,
({2})
und wir befinden uns inmitten der Umsetzung der Lissabonstrategie. Das alles passiert jetzt. Es wäre - das muss
man bei aller Fairness sagen - ohne die Reformdebatte
der letzten zehn Jahre und ohne die Arbeit der Vorgängerregierung von Rot-Grün nicht möglich gewesen, so
viel in so kurzer Zeit in Deutschland auf einmal zu machen. Viele Konzepte sind da schon entwickelt worden.
({3})
Es belegt aber auch die enorme politische Durchsetzungskraft der Großen Koalition, die ja nicht an jeder
Stelle so leicht wie hier ins Auge fällt.
({4})
Wir werden allerdings auch mit der Hightechstrategie
Deutschland nicht wieder dahin bringen können, wo es
einmal stand. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in
die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Glaube
an den Zusammenhang von wissenschaftlichem Fortschritt und Wohlstandsbildung noch ungebrochen war
und in Deutschland grundlegende Erkenntnisse wie die
Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik entwickelt
wurden, waren wir im Grunde genommen in den Naturund Technikwissenschaften international unangefochten
die Nummer eins. Dahin kommen wir nicht so ohne
Weiteres wieder hin, weil die anderen - das muss man
zur Kenntnis nehmen - inzwischen viel besser geworden
sind. Das schaffen wir nur mit vereinten Kräften im Rahmen der Europäischen Union.
({5})
Die Europäische Union kann zur Nummer eins in
Forschung, Entwicklung und Innovation werden, aber
nur, wenn wir die Lissabonstrategie umsetzen. Das ist
schwierig, wie wir wissen. Der Bund schafft es, die Länder schaffen es kaum; auch die Wirtschaft schafft es bis
2010 nicht, die 2 Prozentpunkte beizubringen. Am
1. Mai haben wir gesagt: Der Aufschwung muss ein
Aufschwung für alle werden, auch für die Arbeitnehmer.
Heute können wir hinzufügen: Der Aufschwung, den wir
im Augenblick haben, muss auch zu einem Aufschwung
von Forschung und Entwicklung in den Unternehmen
führen.
({6})
Angesichts der Tatsache, dass die Länder es nicht schaffen, ihren Anteil von 0,5 Prozentpunkten aufzubringen,
dürfen wir uns nicht zufrieden zurücklehnen und mit
dem Finger auf sie zeigen.
({7})
Auch auf europäischer Ebene wird es nicht möglich
sein, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen, wenn wir auf
Länder wie Rumänien, Bulgarien, Malta oder Zypern
warten, bei denen der Anteil für diese Ausgaben irgendwo bei 0,5 Prozent liegt. Da muss, wie ich denke,
der Exportweltmeister eine Führungsrolle übernehmen.
({8})
Wenn wir das 3-Prozent-Ziel bis 2010 erreichen, dann
sollten wir uns für den Zeitraum bis 2020 vornehmen, einen Anteil von 3,5 Prozent zu erreichen.
Ich möchte noch drei Anmerkungen machen.
Die müssen aber knapp sein, Herr Kollege.
Seien Sie großzügig, Herr Präsident.
({0})
Ich war durch wochenlange Gefangenschaft im Untersuchungsausschuss gehindert, hier im Plenum zu reden.
({1})
Die erste der drei Bemerkungen zur Exzellenzinitiative: Frau Pieper, Sie sagten, dass Sie Strategien vermissten. Mit der Exzellenzinitiative überwindet die deutsche Forschung eine bis dahin eklatante strategische
Schwäche. Die Versäulung der deutschen Forschung in
Max-Planck-Institute, Fraunhofer-Institute usw. bedeutete ja nichts anderes als der Auszug der Spitzenforschung aus den Hochschulen. Jetzt kehrt sie zurück.
Schauen Sie sich einmal die ganzen Anträge zur Exzellenzinitiative an, die Cluster und die Zukunftskonzepte.
Die außeruniversitäre Forschung kommt zurück und verbündet sich mit der Hochschulforschung. Wir haben
wieder exzellente internationale Forschungszentren in
den Universitäten. Das heißt, wir überwinden eine strategische Schwäche, ohne eine vorhandene Stärke, nämlich
die Eigenständigkeit zum Beispiel der Max-Planck-Institute und der Fraunhofer-Institute, aufzugeben.
({2})
Zwei weitere kurze Bemerkungen. Wir müssen zwei
Probleme lösen, zwei Lücken schließen. Die erste ist die
Spitzentechnologie- und Innovationslücke. Die FDP
hat nicht ganz unrecht, wenn sie sagt, dass wir genau in
den Bereichen der Spitzentechnologie, wo die Wertschöpfungspotenziale am größten sind, noch Schwächen
in Bezug darauf haben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse wirtschaftlich verwertbar zu machen. Wir brauchen
den Innovationsfonds. Wir müssen im Rahmen der
Hightechstrategie eine Lösung finden.
Die zweite Lücke, die geschlossen werden muss, ist
die Mittelstandslücke. 88 Prozent der Mittel für Forschung und Entwicklung werden von Unternehmen mit
mehr als 500 Beschäftigten aufgewendet. Die Forschungsinvestitionen der KMU machen 12 Prozent der
Gesamtinvestitionen der Wirtschaft aus. Das ist zu wenig. Angeblich gehen auch noch 40 Prozent der Aufträge
ins Ausland. Die Forschungsprämie ist eine erste Antwort darauf. Wir müssen prüfen, ob wir noch weitere
Maßnahmen ergreifen müssen, um dem Mittelstand Forschung und Entwicklung zu ermöglichen.
Jetzt komme ich zu meiner Schlussbemerkung, Herr
Präsident. Es genügt nicht, die noch vorhandenen Lücken zu schließen. Es reicht nicht aus, den Instrumentenkasten zu vervollständigen, die Instrumente zu schärfen
und Milliarden Euro zu mobilisieren. Wir müssen in diesem Land auch das Denken und die Einstellungen der
Menschen verändern. Wir müssen vor allem die immer
noch verbreitete Angst vor Technik überwinden.
Sie wollten eine Schlussbemerkung machen, Herr
Oppermann.
Wir brauchen in den Schulen und Hochschulen, in
den Unternehmen und Forschungseinrichtungen mehr
Innovationskultur, mehr Risikobereitschaft und mehr
Unternehmergeist. Die SPD wird sich in ihrem neuen
Grundsatzprogramm dazu bekennen. Wir wollen neue
Wertschöpfungen durch technischen Fortschritt und auf
diese Weise die Voraussetzungen für ökonomischen
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in Deutschland erhalten und verbessern.
Herzlichen Dank.
({0})
Lieber Kollege Oppermann, um allzu weitreichenden
Schlussfolgerungen vor allen Dingen anderer Kolleginnen und Kollegen vorzubeugen, weise ich darauf hin,
dass die Mitgliedschaft im Untersuchungsausschuss keinen Anspruch auf zusätzliche Redezeiten im Plenum begründet. Nehmen Sie den Zuschlag als ganz persönliche
Sympathiebekundung.
({0})
- Ebendrum. - Deswegen trage ich den eingeräumten
Zuschlag gar nicht vor. Sie können sich im Präsidium erkundigen, wie wir das gehandhabt haben.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen zu den Vorlagen,
zunächst zu den Tagesordnungspunkten 22 a und 22 b.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3910 und 16/4863 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich
nehme an, dass Sie damit einverstanden sind. - Dann ist
das so beschlossen.
Zum Tagesordnungspunkt 22 c. Hier geht es um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung auf der
Drucksache 16/3546 zu den Unterrichtungen durch die
Bundesregierung über den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2006, Drucksache 16/1245, über den Bericht zum 6-MilliardenEuro-Programm für Forschung und Entwicklung,
Drucksache 16/1400, sowie über die Hightechstrategie
für Deutschland, Drucksache 16/2577, und zu weiteren
Vorlagen.
Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, in Kenntnis der genannten Unterrichtungen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD auf Drucksache 16/1546 mit dem Titel „Die technologische Leistungsfähigkeit mit dem 6-MilliardenEuro-Programm und der High-Tech-Strategie stärken“ in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der
genannten Unterrichtungen den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/2628 mit
dem Titel „Forschungsprämie zur besseren Kooperation
von Wissenschaft und Klein- und Mittelunternehmen
({1}) zügig umsetzen“ anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der
genannten Unterrichtungen den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/1532 mit dem Titel „Innovationen brauchen Freiheit - Für mehr Arbeit und Wohlstand“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis dieser Unterrichtungen den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/2083 mit dem Titel „Innovationen
durch Investitionen - Sonderprogramm für die Wissenschaft zur Verbesserung der Kooperation mit der Wirtschaft ({2})“ abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5, in
Kenntnis der schon mehrfach erwähnten Unterrichtun-
gen den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/2621 mit dem Titel „Technolo-
giepolitik auf nachhaltige Innovationen ausrichten“
abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Entwicklung der extremen Rechten und die
Maßnahmen der Bundesregierung
- Drucksachen 16/1009, 16/4675 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Jan Korte, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der LINKEN
V-Leute in der NPD abschalten
- Drucksache 16/4631 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus
dauerhaft verankern und Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung berücksichtigen
- Drucksache 16/4807 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so
vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste aus antifaschistischen Organisationen und Verbänden, die wir heute eingeladen haben! Neofaschistische
Propaganda und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. In den Parlamenten von Sachsen und
Mecklenburg-Vorpommern verbreitet die NPD menschenverachtende Hetze. Auf den Straßen richten ihre
Fußtruppen Terror gegen alle, die nicht in ihr Weltbild
passen.
({0})
Einen Augenblick, bitte! Ich bitte diejenigen, die an
dieser Debatte nicht teilnehmen können oder wollen,
ihre anderweitigen Verpflichtungen außerhalb des Plenarsaals wahrzunehmen und - soweit sie der Debatte im
Plenarsaal doch folgen wollen - die dafür hinreichend
verfügbaren Sitzplätze zu benutzen. - Wir warten, bis
wir das realisiert haben. - Bitte schön, Frau Jelpke.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Sinn unserer Großen Anfrage war es, diese Entwicklung so gründlich wie möglich zu erforschen. Die Linke
will, dass Neofaschismus in diesem Land bekämpft
werden kann.
({0})
Die Antworten der Bundesregierung sind jedoch extrem
knapp. Oftmals hat sie trotz des Einsatzes von V-Leuten
in dieser Partei überhaupt keine Erkenntnisse.
Wir wollen Aufklärung und wir wollen Konzepte gegen rechts. Stattdessen präsentiert uns die Regierung
eine Mischung aus Oberflächlichkeit, Ignoranz und Verharmlosung. Diese Antwort, auf die wir ein Jahr lang
warten mussten, hinkt weit hinter den Notwendigkeiten
her.
Ein Beispiel. In manchen Regionen werden Linke
oder Menschen ausländischer Herkunft Tag für Tag von
Rechtsextremisten bedroht. Neofaschisten sprechen von
sogenannten national befreiten Zonen. Selbst die
Bundeszentrale für politische Bildung warnt auf ihrer
Homepage vor einer Faschisierung der ostdeutschen
Provinz. Aber die Bundesregierung wiegelt ab und behauptet, es könne lediglich der Eindruck entstehen, dass
Rechtsextremisten punktuell das öffentliche Erscheinungsbild bestimmen. Das ist unserer Meinung nach
eine zynische Missachtung der Opfer neofaschistischer
Gewalt.
({1})
Zweites Beispiel. Über Nazikonzerte erteilt die Regierung die nichtssagende Auskunft - ich zitiere -:
Rechtsextremistische Bands bevorzugen Rockmusik in den verschiedensten Stilrichtungen oder
Liedgut in Balladenform.
Tatsächlich dringen Neofaschisten immer stärker in andere Musikstile ein. Ich nenne hier nur Ska, Punk, Rap
und Hip-Hop. Diese Musik wird mit Texten unterlegt,
die Hetze und Mordaufrufe enthalten. Darauf geht die
Bundesregierung in ihrer Antwort mit keinem Wort ein.
Eine falsche Behauptung löst die andere ab; eine Wissenslücke folgt auf die nächste. Bekannt ist, dass Läden
der rechten Szene für den Zusammenhalt der Nazikameradschaften zentral sind. Warum die Regierung keinerlei
Erkenntnisse hat, wie sich diese Läden entwickeln und
wie verbreitet sie sind, können wir nicht nachvollziehen.
Dies betrifft ebenso die Widersprüche innerhalb der
NPD.
Rechtsextreme Einstellung ist ein Problem in der
Mitte der Gesellschaft, keines des Randes oder bestimmter Altersgruppen.
({2})
So heißt es in einer Studie der sozialdemokratischen
Friedrich-Ebert-Stiftung.
Doch die Bundesregierung will den Neofaschismus
nur als Problem sehen, das den extrem rechten Rand betrifft. Tatsächlich suchen und finden Neofaschisten Anknüpfungspunkte weit in der sogenannten Mitte dieser
Gesellschaft. Vor wenigen Tagen hat der CDU-Landrat
von Muldental mit sogenannten volkstreuen Jugendlichen und Anhängern der NPD freundlich geplaudert.
Der sächsische Landtagspräsident Erich Iltgen, Mitglied
der CDU, hielt es in dieser Woche nicht einmal für nötig,
den NPD-Abgeordneten Holger Apfel zu rügen, als er
Migranten als „Wohlstandsneger“ bezeichnete und diese
diffamierte, indem er sagte, sie seien sowieso nicht in
Deutschland integrierbar. Für die Linke ist so etwas
nicht mehr mit Naivität zu entschuldigen.
({3})
Aber damit nicht genug. Das Studienzentrum Weikersheim unter der Schirmherrschaft von Unionspolitikern fördert seit Jahren Wehrmachtsverherrlichung und
Antisemitismus. Bei Vertriebenenverbänden, Burschenschaften und etlichen pensionierten Bundeswehroffizieren lässt sich Ähnliches beobachten. Umfragen zeigen
hohe Zustimmungswerte für rassistische Positionen. Es
hat sich ein Graubereich etabliert, in dem sich Rechtsextremisten und Konservative vermischen. Doch die Regierung drückt beide Augen zu und will hiervon nichts
wissen. Es gibt keinerlei Erkenntnisse.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage
zeigt erneut: Eine ernsthafte Bekämpfung des Rechtsextremismus bedarf einer umfassenden Konzeption.
Der Einsatz von V-Leuten in der NPD gehört unserer
Meinung nach nicht dazu.
({4})
Wenn wir verhindern wollen, dass Naziparteien weitere
Wahlerfolge feiern und der rechte Terror auf den Straßen
zunimmt, brauchen wir vielfältige Programme und Aktionen gegen diese braunen Banden. Wir brauchen Konzepte gegen den weitverbreiteten Antisemitismus und
Rassismus in dieser Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große
Anfrage der Fraktion Die Linke „Entwicklung der extremen Rechten und die Maßnahmen der Bundesregierung“
mit 286 und - wenn wir die Unterfragen hinzurechnen insgesamt 390 Fragen wurde von der Bundesregierung
in der geforderten Ausführlichkeit beantwortet. Die Kritik an der Sorgfalt der Bundesregierung bei der Beantwortung dieser Fragen, Frau Jelpke, möchte ich zurückweisen.
({0})
Vielmehr scheinen zwischen den Fragestellern und der
Position der Bundesregierung Diskrepanzen aufzutreten,
auf die ich in meiner Kommentierung der Großen Anfrage eingehen möchte.
Da ist zunächst einmal eine Vorbemerkung erforderlich. Wir reden heute über Rechtsextremismus. Das ist
angesichts der leider anhaltenden Aktualität dieses Themas sicher wichtig. Der Rechtsextremismus, der heute
unser Thema ist, stellt aber nur einen Teil der extremistischen Bedrohungen unserer Grundordnung dar - einen gewichtigen, den wir sehr ernst nehmen müssen und
auch sehr ernst nehmen. Es muss aber auch klar bleiben
- ich glaube, das ist für die meisten Mitglieder dieses
Hauses selbstverständlich -, dass sich der freiheitliche
Staat gegen jede Form extremistischer Bedrohung verteidigen muss.
({1})
Dieser Logik folgen unsere Verfassungsschutzberichte,
wenn sie rechtsextremistische, linksextremistische und
islamistisch-terroristische Bestrebungen und Gefährdungen darstellen.
Wir reden also heute aus klarem Anlass über einen
Teil des Gesamtproblems. Das Gesamtproblem verdient
auch deshalb eine Erwähnung, weil nur so das Schutzgut
„freiheitlich-demokratische Grundordnung“ hinreichend deutlich wird. Die Diskussion über den Rechtsextremismus, den wir gemeinsam bekämpfen wollen,
darf nicht zur Legitimierung linksextremistischer Gegenbewegung führen.
({2})
Grundlage unserer Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus und seiner Bekämpfung ist ein
mehrdimensionaler Handlungsansatz mit präventiven
und repressiven Elementen. Dabei ist das wohl wichtigste Instrument der Extremismusprävention, den
Menschen - auch und gerade den heranwachsenden
Menschen - den Wert von Freiheit, Recht und Demokratie deutlich zu machen.
({3})
Gerade wir in Deutschland wissen leider aus überreicher
Erfahrung, was es bedeutet, dieser Grundwerte zu entbehren. Ein positives Verhältnis zu unserem Staat, zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist die
sicherste Gewähr gegen extremistische Versuchungen.
({4})
Ich habe mich unter diesem Gesichtspunkt mit den
Vorbemerkungen der Großen Anfrage der Linken auseinandergesetzt. Leider finde ich in diesen Vorbemerkungen wenig überzeugende Hinweise für solch ein
positives Verhältnis zu unserem Gemeinwesen. Stattdessen werden rechtsstaatliche Institutionen und demokratische Parteien zu indirekten Handlangern des Rechtsextremismus erklärt. So weisen Sie, meine Damen und
Herren von der Linken, auf angeblich gut begründete
Ängste in der Bevölkerung hin und behaupten, dass antisemitische und rassistische Lösungsangebote auch deshalb auf Zustimmung stoßen, „weil die Bürgerinnen und
Bürger nach Alternativen zur Koalition der marktradikalen Kräfte von Grünen bis zur CDU suchen.“
Ich könnte hier noch weitere Beispiele aus den Vorbemerkungen nennen. Wenn man diese Vorbemerkungen
liest, fragt man sich, ob wir wirklich im selben Staat leben. Ich bitte deshalb das Hohe Haus um Verständnis,
dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Antwort darauf verzichtet hat, auf diese Vorbemerkungen der Fragesteller einzugehen.
({5})
Einen Punkt aber möchte ich in Reaktion auf die Vorbemerkungen der Großen Anfrage festhalten: Wer unsere
freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen Extremismus, gerade auch gegen Rechtsextremismus, verteidigen will, der ist nur glaubwürdig, wenn er diese
Grundordnung selbst bejaht und davon überzeugt ist,
dass sie es wert ist, verteidigt zu werden.
({6})
Nach meiner persönlichen Beobachtung - wenn ich
dies anführen darf - besteht das gegenwärtige Risiko in
der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutes
bei weitem nicht nur in der Verführungskraft und Attraktivität dieser menschenverachtenden Thesen, es besteht
nicht nur in der gefährlichen Struktur rechtsextremistischer Organisationen, sondern das Risiko besteht auch in
der Leere und Orientierungslosigkeit in den Köpfen Einzelner, insbesondere Jugendlicher.
({7})
Ich sage das deshalb, weil politische Bildung, die
zum Verständnis und zur Bindung an die Werte unseres
Rechtsstaates und unserer Rechtsordnung beiträgt, in
diesem Zusammenhang unbedingt Beachtung verdient.
Der politische Bildungswert dieser Großen Anfrage ist
jedoch durchaus in Zweifel zu ziehen. Schwerpunkt für
die Autoren war, Erkenntnisse über rechtsextremistische
Erscheinungen und Tendenzen in unterschiedlichen
Gliederungen unserer Gesellschaft zu erhalten. Die Bundesregierung hat sich, wie gesagt, um angemessene Auskunft bemüht, was oft dadurch erschwert wurde, dass
sich die Fragesteller in ihrem Auskunftsbegehren weit
von den gültigen Kriterien des Verfassungsschutzes,
etwa den §§ 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes, entfernt und die Fragestellung nicht selten zum Anlass zweifelhafter politischer Wertungen und Unterstellungen genommen haben. Hier, Frau Jelpke, ist
möglicherweise die Ursache für die in Ihren Augen unbefriedigende Antwort auf Ihre Fragen zu suchen. Wenn
Sie Fragen stellen, die mit Wertungen verbunden sind,
die die Bundesregierung nicht teilt, können Sie nicht die
Antworten erwarten, die Sie sich vorgestellt haben.
({8})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lötzsch?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
über die Hälfte Ihrer Redezeit sind Sie auf die Vorbemerkungen unserer Großen Anfrage eingegangen, was
Sie ja eigentlich nicht tun wollten. Ich nehme das zum
Anlass, um darauf hinzuweisen, dass Sie viele unserer
Fragen unzureichend beantwortet haben. Mir geht es
konkret um die Frage 180. Darin geht es um die rechtsextremen Denkfabriken. Die Bundesregierung lässt hier
sehr viel offen. Ich möchte die unzureichend beantwortete Frage 180 zu einer Zwischenfrage nutzen. Vielleicht
können Sie das Ganze etwas präziser ausführen.
Sie wissen, dass das Studienzentrum Weikersheim
in die Schlagzeilen gekommen ist, weil dort immer wieder rechtsextreme Vorträge gehalten wurden. Ministerpräsident Oettinger sah sich gezwungen, seine Mitgliedschaft in diesem Studienzentrum zumindest ruhen zu
lassen. In Anbetracht dieser Tatsache möchte ich gerne
von Ihnen wissen, warum die Bundesregierung dieses
Studienzentrum weiterhin unterstützt und ob Sie bereit
und in der Lage sind - Sie sind natürlich in der Lage
dazu; ich möchte aber wissen, ob Sie dazu auch bereit
sind -, die finanzielle Unterstützung für das Studienzentrum Weikersheim sofort einzustellen.
({0})
Frau Kollegin Lötzsch, ich bin auf die Vorbemerkungen eingegangen, weil die Bundesregierung in der
Beantwortung der Großen Anfrage aus den von mir geschilderten Gründen zu diesen Vorbemerkungen nicht
Stellung genommen hat und weil die Vorbemerkungen
bedauerlicherweise keine Hinweise auf das eigentliche
Schutzgut, um das es uns bei der Extremismusbekämpfung - hier der Rechtsextremismusbekämpfung - geht,
enthält.
Wir sind zurzeit dabei, eine schriftliche Anfrage, die
Sie zum Thema Weikersheim gestellt haben, zu beant10006
worten. Ich will dieser Antwort nicht vorgreifen, ich will
mir aber einen Hinweis erlauben: Ich habe das Zitat gebracht, in dem Sie von einer marktradikalen Koalition
sprechen, die von den Grünen bis zur CDU reicht; die
SPD gehört vermutlich auch dazu.
({0})
- Wenn ich das Zitat richtig deute. Vielleicht sind Sie
auch außen vor geblieben. Ich weiß das nicht. - Ich habe
diese Aussage in Ihren Vorbemerkungen aus gutem
Grund zitiert: Sie leisten mit einer solch sektiererischen
Wertung gegenüber anderen demokratischen Parteien
keinen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Das ist meine feste Überzeugung.
({1})
Gerade vor dem Hintergrund solcher oft problematischer Fragestellungen sei es mir erlaubt, im Sinne einer
Klarstellung zusammenfassend zu betonen: Für die Bundesregierung bleibt die Bekämpfung des Rechtsextremismus eine Daueraufgabe, nicht nur, aber natürlich
auch im Bereich der inneren Sicherheit. Die Bundesregierung nimmt zusammen mit allen demokratischen
Kräften die Bekämpfung des Rechtsextremismus sehr
ernst und tritt den rechtsextremistischen Erscheinungsformen mit einem Bündel an repressiven und präventiven Maßnahmen deutlich entgegen. Gerade die Entwicklung von zielgerichteten Präventionsstrategien ist
hierbei von besonderer Bedeutung. Vielfalt, Toleranz
und Demokratie sind Werte, die in der präventiven Arbeit kontinuierlich und überzeugend vermittelt werden
müssen.
Aber auch die bereits rechtsextremistisch gefährdeten
Jugendlichen dürfen nicht aufgegeben werden. Das Parlament hat für diese Arbeit 19 Millionen Euro im Jahr
zur Verfügung gestellt. Das Programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ ist am 1. Januar 2007 erfolgreich gestartet. In Ergänzung zu dem Präventivprogramm ist im Auftrag des Parlaments ein weiteres
Programm geplant, das einen Schwerpunkt auf die anlassbezogene Intervention gegen Rechtsextremismus
setzt. Für dieses Programm sollen 5 Millionen Euro im
Jahr zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es um
Angebote zur Beratung, darum, den betroffenen Kommunen, aber auch den betroffenen Menschen vor Ort in
einer akut bedrohlichen Situation mit rechtsextremem,
fremdenfeindlichem oder antisemitischem Hintergrund
schnelle und professionelle Hilfe anzubieten. Die Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung wahr. Wir wollen dabei Hand in Hand mit allen demokratischen Kräften in Bund, Ländern und Kommunen handeln. Um neue
Wege bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus auszuloten und vorhandene Strategien zu optimieren, hat
das Bundesministerium des Innern mit dem Familienministerium und den jeweiligen Partnerressorts der neuen
Länder einschließlich Berlins sowie den kommunalen
Spitzenverbänden eine Koordinierungsgruppe eingesetzt. Es geht vor allem darum, Synergieeffekte zu erzeugen und Lücken in der Handlungskette aufzuzeigen.
({2})
Ich bin zuversichtlich, dass wir hier wichtige Impulse
geben können. Nur wenn jede Ebene ihre Verantwortung
übernimmt und im Verbund mit den anderen Verantwortungsträgern entschlossen und konsequent handelt, können und werden wir diesen schwierigen Kampf bestehen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Miriam Gruß,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Jeder vierte Deutsche ist tendenziell ausländerfeindlich eingestellt. Rechtsextreme Einstellungen
sind kein Randphänomen, sondern in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt; dies ergab unlängst die schon
angesprochene bundesweite Studie der Friedrich-EbertStiftung. Ausländerfeindlichkeit ist demnach die am
weitesten verbreitete rechtsextreme Einstellung. 26,7 Prozent der Befragten aus allen Bevölkerungsschichten,
Bundesländern und Wählergruppen stimmten entsprechenden Thesen zu. Das ist jeder vierte Bundesbürger.
Wir reden hier also nicht von einer Gruppe Verrückter.
Es ist deshalb notwendig, immer wieder zu thematisieren, wie gefährlich die unterschiedlichen Spielarten des
politischen Extremismus sein können.
({0})
Dieses Problem darf nicht marginalisiert werden.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet sind in
Teilen Deutschlands rechtslastige Strukturen entstanden, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage stellen. Der Rechtsextremismus beginnt,
dort langsam die Alltagskultur zu durchdringen. Es ist
ein schwelender Brand, der die Zivilgesellschaft bedroht. Dieser Brand breitet sich klammheimlich immer
weiter aus und ist bald nicht mehr einzudämmen. Dabei
geht es nicht nur um Skinheads mit Springerstiefeln und
Springmessern, sondern auch um scheinbar ganz normale Menschen, die in der Mitte unserer Gesellschaft
leben. Die rechte Szene wird immer selbstbewusster,
warnte unlängst das Bundeskriminalamt. Das zeigt sich
auch an ihren zunehmend öffentlich gewählten Tatorten
und an provokativen Auftritten und Demonstrationen.
Vor allen Dingen junge Menschen werden mehr und
mehr, ideell verbrämt, mit demokratiefeindlichem Gedankengut erzogen. Viele von ihnen werden so für ihr
Leben geprägt und gebrandmarkt.
Es ginge auch anders. Doch präventive politische
Bildungsarbeit scheint nicht immer erwünscht. Sie, sehr
geehrte Damen und Herren von der Großen Koalition,
hätten die Beratungs- und Hilfeprogramme gegen
Rechtsextremismus doch am liebsten einstampfen lassen - gegen den Rat aller Experten und der vor Ort engagierten Spezialisten.
({1})
Nur mit massivem Druck konnten wir Sie alle dazu bringen, diese Programme weiter existieren zu lassen, wenn
auch in mangelhafter Ausstattung.
({2})
Sie alle haben die Programme auf ein Minimum reduziert, auf Projekte, die nur noch eine Reaktion zulassen,
nicht aber die so dringend notwendige präventive Aktion.
({3})
Dabei ist und bleibt Prävention das wichtigste Mittel im
Kampf gegen extremes Gedankengut.
({4})
Die neuen Programme, die Sie aufgelegt haben, greifen nur in Krisensituationen.
({5})
Doch wer beurteilt, wann ein Vorfall problematisch ist?
Wie schnell kann ein mobiles Beratungsteam im Notfall
vor Ort sein, und wie lange hat dieses Team Zeit zu arbeiten? Muss es gleich zum nächsten Brandherd weiter?
Der Rechtsextremismusexperte Wilhelm Heitmeyer betonte bereits mehrfach, dass Projekte nur dort erfolgreich
arbeiten können, wo sie gut vernetzt sind. Berater von
außerhalb werden von den Menschen vor Ort nicht akzeptiert.
Angesichts der vom Rechtsextremismus ausgehenden
Bedrohungen und der Gefahr einer sich zunehmend herausbildenden rechtsextremen Jugendszene bleiben
staatlich unterstützte Projekte zur Bekämpfung solcher
Tendenzen eine Daueraufgabe und kein einmaliges Ereignis.
({6})
Die Motive rassistischer Einstellungen sind mittlerweile sehr vielschichtig. Ihre Bekämpfung muss es deshalb auch sein. Neben den hier thematisierten punktuellen Beratungs- und Hilfeangeboten müssen wir
weiterhin die Ursachen dieser fatalen Entwicklung finden und beheben. Diese sind in erster Linie Bildungsmangel, Armut und Arbeitslosigkeit.
Deshalb brauchen wir, wie von unserer Fraktion bereits im vergangenen Spätsommer gefordert, ein tragfähiges und langfristiges Konzept zur Bekämpfung von
Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus
({7})
und keine Oberflächenkosmetik. Die zuständigen Stellen
brauchen Planungssicherheit.
({8})
Wir brauchen einen integrativen Ansatz, durch den
der Extremismus im Ansatz bekämpft wird. Eine reine
Krisenintervention wird nicht ausreichen. Wie ein solcher integrativer Ansatz aussehen könnte, haben wir in
unserem Antrag bereits deutlich gemacht.
({9})
Die Bundesregierung zeigt in diesem Punkt allerdings
Beratungsresistenz.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Meine Damen und Herren, nur wenn wir dieses Programm langfristig gemeinsam angehen, können wir unsere Gesellschaft vor einer katastrophalen Entwicklung
und viele junge Menschen vor einem Irrweg, der ihr Leben ruiniert, bewahren.
Danke.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Gabriele Fograscher,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Klarstellung: Das Studienzentrum
Weikersheim erhält weder aus dem Bundeshaushalt
noch aus dem Landeshaushalt Baden-Württemberg Mittel. Traurig ist allerdings natürlich, dass es anscheinend
durch Privatpersonen finanziert wird und dadurch finanziell gut ausgestattet ist.
Frau Gruß, wir wollten die Bundesprogramme
Civitas und Entimon keineswegs einstampfen. Es war
aber von Anfang an klar, dass die Programme weiterentwickelt werden müssen. Das haben wir getan. Ich gebe
ja zu, dass der Diskussionsprozess nicht immer einfach
war, aber ich glaube, wir haben hier jetzt einen guten
Ansatz gefunden, der nachhaltig wirken wird.
({0})
Die Anfrage der Linken zum Rechtsextremismus enthält 286 Fragen, deren Beantwortung nicht ausschließlich in der Zuständigkeit des Bundes liegt; das wissen
Sie. Viele Fragen wurden deshalb nur knapp beantwortet. Ich finde aber schon, dass trotzdem ein guter Überblick über die Entwicklung und die Erscheinungsformen
des Rechtsextremismus in Deutschland gegeben wird.
Trotz der vielfältigen Aktivitäten der Bundesregierung
bleibt die Bekämpfung des Rechtsextremismus natürlich
auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe.
Das wird leider auch durch die aktuellen Zahlen gezeigt. Dr. Schäuble stellte am 30. März 2007 fest - ich
zitiere -:
Der höchste Zuwachs ist dabei im Bereich der politisch motivierten Kriminalität - rechts festzustellen,
der mit 18.142 Straftaten … ohnehin den Hauptanteil stellt …
Die politisch motivierte Kriminalität rechts ist im Vergleich zu 2005 in 2006 um rund 14 Prozent gestiegen.
Die Gewalttaten von rechts stiegen um rund 7,8 Prozent
auf 1 115 registrierte Fälle.
Diese Zahlen sind erschreckend. Deshalb brauchen
wir beides: Wir brauchen repressive Maßnahmen, wie
Vereins- und Versammlungsverbote, und konsequente
Strafverfolgung. Das ist die eine Seite wehrhafter Demokratie.
Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung
- dort sind die Vereinsverbote der letzten Jahre seit 2000
aufgeführt -:
Verbote sind grundsätzlich Ultima Ratio der Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus …
Die Bundesregierung bewertet diese Verbote als
erfolgreich, da hierdurch die Strukturen des gewaltbereiten subkulturell geprägten Rechtsextremismus … deutlich geschwächt wurden.
Auch mit den Änderungen des Versammlungsrechts
und des Strafgesetzbuches seit April 2005 wurden die
Möglichkeiten verbessert, rechtsextremistische Versammlungen zu verbieten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jelpke?
Ja.
Frau Kollegin Fograscher, Sie haben gerade über Verbote von Organisationen gesprochen. In der Tat hat die
Bundesregierung einige Verbote erlassen. Wie Sie wissen, ist aber das NPD-Verbotsverfahren gescheitert,
und zwar vor allem deshalb, weil die V-Leute des Verfassungsschutzes nicht abgezogen wurden.
Vertreter Ihrer Partei - an führender Stelle Herr
Struck, aber auch der Vorsitzende des Innenausschusses,
Herr Edathy - sprechen sich immer wieder für ein neues
Verbotsverfahren aus. Sind Sie bereit, nähere Auskunft
darüber zu geben, wie das Thema in der Fraktion der
SPD weiterbehandelt wird? Wird sich die SPD unserem
Antrag anschließen, die V-Leute abzuschalten, damit die
Bundesverfassungsrichter die Situation erneut überprüfen können?
Frau Jelpke, ich wollte eigentlich später auf Ihren Antrag zum Abzug der V-Leute aus der NPD eingehen, aber
ich kann das auch gerne an dieser Stelle tun. Ich halte
diesen Antrag für naiv. Denn ich glaube, dass viele Einschätzungen in den Antworten der Bundesregierung auf
Erkenntnissen beruhen, die ohne den Einsatz von V-Leuten nicht gewonnen werden könnten.
Ich halte Ihren Antrag auch für gefährlich, weil sich
ein weiteres Verbotsverfahren über lange Zeit hinziehen
könnte und wir dann keine Informationen mehr über
Entwicklungen in der extremen rechten Szene hätten.
Deshalb werden wir Ihrem Antrag, die V-Leute abzuziehen, nicht zustimmen.
({0})
Schwerpunkt der Maßnahmen in der Auseinandersetzung mit politischem Extremismus bleiben die präventiven Maßnahmen. Wir haben die ehemaligen Bundesprogramme Civitas und Entimon weiterentwickelt bzw.
ein neues Bundesprogramm mit dem Titel „Jugend
für Vielfalt, Toleranz und Demokratie - gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ aufgelegt, das mit jährlich 19 Millionen Euro ausgestattet ist.
Wir setzen mit diesem Programm bei den Jugendlichen an. Wir nehmen die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung der vergangenen Jahre zu
Civitas ernst und setzen sie um. Von zentraler Bedeutung
ist die Eingebundenheit von Projekten in Vernetzungsstrukturen. Wenn zum Beispiel ein außerschulisches Programm auch in der Schule seinen Widerhall findet, erhöht dies die Erfolgsaussichten deutlich. Deshalb ist es
richtig, dass das neue Programm lokale Aktionspläne
fördert. Eingebundenheit und Akzeptanz eines Projektes
in der jeweiligen Kommune sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg. Denn demokratische Kultur muss zuallererst auf lokaler Ebene gestaltet und gelebt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Spieth?
Ja.
Frau Kollegin Fograscher, ich habe eine Nachfrage zu
Ihren Ausführungen über die Programme Civitas und
Entimon. Sie sprachen davon, dass diese Programme
mit dem neuen Programm fortgesetzt werden, und haben
auf die einzelnen Positionen hingewiesen. Sind Sie wirklich der Überzeugung, dass das neu aufgelegte Bundesprogramm eine Weiterentwicklung des Civitas-Programms darstellt? Wie Sie wissen, stand im CivitasProgramm der präventive Charakter - insbesondere die
Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Ansätze - im Vordergrund. Bei dem neuen Programm hingegen wird im
Wesentlichen der präventive Ansatz vermieden; stattdessen wird mit der Krisenintervention nur noch der reaktive Ansatz verfolgt. Das heißt, es wird erst dann mit Beratungsangeboten agiert, wenn das Kind schon im
Brunnen liegt.
Halten Sie das wirklich für eine Fortentwicklung,
oder sehen Sie es als das, was es ist, nämlich ein Rückschritt gegenüber den ursprünglichen Programmansätzen?
({0})
Ich habe über das Folgeprogramm von Civitas und
Entimon gesprochen, das mit jährlich 19 Millionen Euro
ausgestattet ist und in der Tat eine Weiterentwicklung
dieser Programme bedeutet. Ich komme gleich zu dem
Programm, das wir zusätzlich auflegen. Ich danke unseren Haushältern in der SPD-Bundestagsfraktion und besonders Frau Griese, dass es uns gelungen ist, dieses
Programm mit 5 Millionen Euro auszustatten. Dieses
Programm beinhaltet die sogenannte Krisenintervention.
Das kommt hinzu. Ich halte das für sinnvoll.
Dieses mit 5 Millionen Euro ausgestattete Programm
„Förderung von Beratungsnetzwerken - Mobile Kriseninterventionsteams gegen Rechtsextremismus“ ist
ein zusätzliches Programm. Es wird in Zukunft in jedem
Bundesland eine Koordinierungsstelle geben, die neben
der Bildung eines landesweiten Beratungsnetzwerkes
auch über die Zusammensetzung und Koordinierung der
mobilen Interventionsteams entscheiden wird. Diese
Landeskoordinierungsstellen dienen als Kontaktstellen
für die Betroffenen in Krisensituationen. Es werden ein
regelmäßiger Informationsaustausch und Öffentlichkeitsarbeit über das Beratungsnetzwerk und die mobilen
Interventionsteams gewährleistet. Mit dieser Konzeption
werden wir - davon bin ich überzeugt - mehr erreichen,
als Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, in Ihrem entsprechenden Antrag fordern.
Wir haben gerade über den Abzug der V-Leute diskutiert. Sie fordern die Bundesregierung auf, „dem Bundestag ein inhaltliches und finanzielles Konzept für eine
zu schaffende unabhängige Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vorzulegen“. Glauben Sie ernsthaft, dass eine solche Beobachtungsstelle mehr Informationen über das Innenleben der
NPD oder anderer rechter Organisationen bekommt als
der Bundesverfassungsschutz und die Verfassungsschutzämter der Länder?
({0})
Ich halte diese Ansicht nicht nur für naiv, sondern
auch für gefährlich.
({1})
Rechte und rechtsextreme Parteien engagieren sich
inzwischen auch im vorpolitischen Raum. Sie gehen in
Vereine, richten Straßen- und Familienfeste aus, engagieren sich in Elternbeiräten der Schulen, stellen sich als
Trainer und Betreuer in Sportvereinen zur Verfügung.
Besonders besorgniserregend ist die zunehmende Veralltäglichung rechtsextremer Jugendkultur. Mit rechtsextremer Musik und Dresscodes, Symbolen und Konzerten werden Jugendliche angelockt. Hier besteht in der
Tat weiterer Aufklärungs- und Informationsbedarf.
Wertvolle Arbeit leistet dabei das Bündnis für
Demokratie und Toleranz, auch aus Bundesmitteln gefördert, die in diesem Haushalt auf 1 Million Euro pro
Jahr aufgestockt wurden.
({2})
Ich selbst durfte in der letzten Woche in Würzburg Preisträger auszeichnen, die am Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ teilgenommen haben. Ich habe
dabei engagierte und motivierte Menschen kennengelernt, die sich ehrenamtlich in vielfältigen Projekten und
Initiativen gegen rechts und rechtes Gedankengut stellen
und für Respekt, Vielfalt, Demokratie und Toleranz im
Alltag werben. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung und Anerkennung.
Ich darf Sie zum Schluss zu einer Veranstaltung am
23. Mai, am Tag des Grundgesetzes, einladen. Das ist in
der nächsten Sitzungswoche. Hier wird das Bündnis für
Demokratie und Toleranz wie in jedem Jahr aktiv. Im
Haus der Berliner Festspiele werden unter anderem die
Botschafter der Toleranz ausgezeichnet. Sie können sich,
wenn Sie diese Veranstaltung besuchen - ich glaube, Sie
alle haben eine Einladung erhalten -, von vorbildlichen
Projekten einen eigenen Eindruck verschaffen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Kurzintervention bezieht sich sowohl auf den Herrn Staatssekretär
als auch auf die Kollegin Fograscher. Herr Staatssekretär, Sie waren der Auffassung, dass Sie meine Anfrage
noch nicht beantwortet hätten. Ich darf Ihnen mitteilen,
dass Herr Staatssekretär Diller vom Finanzministerium
mir am 9. Mai die Antwort zugeleitet hat. Frau Kollegin
Fograscher, aus dieser Antwort geht eindeutig hervor,
dass das Studienzentrum Weikersheim - mir liegt eine
vierseitige Tabelle vor - aus Mitteln des Bundes finanzielle Unterstützung erhalten hat,
({0})
zum Beispiel für das 5. Jung-Weikersheim-Seminar zum
Thema Konservatismus, eine sicherheitspolitische Tagung und die 13. Internationalen Studientage „Der Sozialstaat im Wandel - Eigentum oder Bevormundung des
Bürgers?“. All das fand im Studienzentrum Weikersheim
statt; all das wurde über den Bundeshaushalt finanziert.
({1})
Ich will das hier richtigstellen.
Ich habe mich auf eine offizielle Angabe der Bundesregierung bezogen. Frau Kollegin Fograscher, Sie können sich diesen Bericht gern von den Berichterstattern
des Einzelplanes 06 Ihrer Fraktion überreichen lassen.
Dann müssen Sie mich hier nicht mehr zeihen, die Unwahrheit zu sagen.
({2})
Es besteht kein Bedürfnis, zu antworten. Deswegen
gebe ich das Wort zum nächsten Redebeitrag der Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Teile der extremen Rechten haben es geschafft, durch
langfristige Strategien ernst zu nehmende Erfolge zu erzielen; das zeigen die Antworten auf die Große Anfrage
deutlich. Der NPD ist es gelungen - ich zitiere aus der
Antwort -,
... im Rahmen der „Volksfront von rechts“... unterschiedliche Kräfte sowohl aus dem Neonazilager
als auch aus dem rechtsextremistischen Parteienspektrum zu bündeln.
Sie hat
... die Bedeutung langjähriger kontinuierlicher Basisarbeit und lokaler Verankerung … erkannt und
versucht deshalb, entsprechende Schwerpunkte …
zu setzen …
Da ist also von „kontinuierlicher Basisarbeit“ und von
„lokaler Verankerung“ die Rede. Was heißt das konkret?
Ich möchte Ihnen ein aktuelles Beispiel erzählen. Es
illustriert, wie Rechtsextreme vor Ort Fuß fassen und
einbezogen werden. In meiner Heimat Sachsen liegt der
Muldentalkreis mit der Kreisstadt Grimma. Es ist eine
ganz normale Kleinstadt mit normalen Leuten. Die NPD
sitzt allerdings im Kreistag; es gibt dort junge Leute, die
sich selbst als „volkstreu“ bezeichnen und aktiv Kontakt
zu den örtlichen Behörden aufbauen. Wie wir vor einigen Tagen zur Kenntnis nehmen mussten, tun sie das mit
Erfolg: Der Landrat Dr. Gey, ein CDU-Mitglied, empfing direkt in seinem Amtssitz eine rechtsextreme Delegation und debattierte mit deren Angehörigen, als wären
sie politisch Interessierte wie andere auch. Danach
schwärmte die NPD in einer Pressemitteilung davon und
erklärte, es sei ein „von gegenseitigem Respekt und von
Fairneß“ getragener Dialog gewesen.
Ich will Ihnen sagen, was mich hieran am meisten erschüttert: Es ist nicht die Tatsache, dass Herr Gey bereit
ist, mit allen Menschen aus seiner Stadt zu sprechen,
sondern die Tatsache, dass es in einem derart offiziellen
Rahmen getan wurde, ohne sich in angemessener Weise
von diesen Neonazis zu distanzieren.
({0})
Nach dem Medientrubel war der Vorfall dem Landrat
peinlich; er erklärte, er habe einen Fehler gemacht. Zu
dieser Einsicht hätte er aber schon vorher kommen können; denn es gab schon vorher Warnungen. Sie wurden
aber leider nicht ernst genommen.
Dieses aktuelle Ereignis zeigt die Hilflosigkeit, mit
der die Behörden vielfach den Rechtsextremen gegenüberstehen. Mittlerweile hat sich Dr. Gey beraten lassen;
er geht mit einem Anwalt gegen bestimmte Aussagen
der NPD vor. Am Tag zuvor rechtfertigte er sein Treffen
noch, indem er erklärte, dass für ihn Toleranz keine Einbahnstraße sei.
({1})
Ich bin auch für Toleranz; aber Demokraten sollten ihre
Toleranz nicht auf Verfassungsfeinde ausweiten.
({2})
Wir haben unseren demokratischen Rechtsstaat historisch schwer errungen. Er ist auch heute keine Selbstverständlichkeit. Wenn wir die Nazis von heute nicht bei
jeder Gelegenheit in ihre Schranken weisen, werden sie
alles daran setzen, das Fundament wieder zu zerstören.
Wer Neonazis in seinem Amtssitz empfängt, macht ihre
menschenverachtenden Ansichten gesellschaftsfähig.
Das darf nicht geschehen.
({3})
Ich wünsche mir deshalb, dass die politisch Verantwortlichen insbesondere auf kommunaler Ebene stärker
den Kontakt zu den erfahrenen Initiativen gegen rechts suchen und sich beraten lassen. Die Verzweiflung von Initiativen im Muldentalkreis ist nun groß; das Verhalten des
Landrats zeigt, dass staatliche Stellen bei der Entwicklung
von Weitblick und Sensibilität im Zusammenhang mit
dieser Problematik teilweise noch in den Kinderschuhen
stecken. Das schafft immer wieder Schlupflöcher für gut
geschulte Rechtsextremisten; sie arbeiten kontinuierlich
und basisorientiert.
Gerade solche langfristigen Strategien müssen auch
wir Demokraten im Kampf gegen Rechtsextremismus
noch stärker ausbauen. Ein wichtiger Teil sind dabei die
Bundesprogramme. Die ehemaligen Programme Civitas
und Entimon waren breit angelegt. Sie bauten auf langfristig ausgerichteten Konzepten auf. Sie haben demokratisches Engagement vor Ort gestärkt, waren auf
lokale Projekte zugeschnitten und hatten die Zivilgesellschaft als wichtigsten Akteur im Blick. Die neuen Bundesprogramme sind im jetzigen Zustand nicht in der
Lage, das zu leisten, weil sie eine Abhängigkeit der Initiativen von örtlichen Behörden schaffen. Leider fehlen
da, wie wir an dem Beispiel gesehen haben, immer noch
die notwendigen Kompetenzen.
Der vorhin genannte Muldentalkreis erhält Bundesmittel, ist aber ein Beispiel dafür, wie es schlecht laufen
kann. Bewährte Initiativen stehen dort ohne Bundesförderung da und sind auf die Gnade dieses Landrates
angewiesen. Stattdessen besteht die Gefahr, dass rechtsextreme Gruppierungen davon profitieren können. Initiativen und Beratungsnetzwerke werden so zu Rufern in
der Wüste degradiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({4})
Außerdem zeigen die neuen Programme teilweise einen
Mangel an konzeptioneller Nachhaltigkeit. Wenn etwa
die Bundesregierung nur zahlt, nachdem es vor Ort bereits gebrannt hat, ist das zu kurz gedacht. Die Evaluation der früheren Bundesprogramme zeigt eindeutig,
dass es auf eine präventive und kontinuierliche Beratung
ankommt.
({5})
Eine Intervention ist nur möglich, wenn Strukturen
vorhanden sind, auf die man im Ernstfall zurückgreifen
kann. Da die Förderung aber auf drei Monate begrenzt
ist, können kontinuierliche Beratungssysteme gar
nicht entstehen. Ein solcher Ansatz, der nur auf Reaktion
setzt, steht in der Gefahr, zu scheitern.
Ein weiterer Fehler dieses Programms ist die Landeskoordinierungsstelle, die die Kontaktstelle für Betroffene sein soll. So wird das nicht funktionieren. Der
Vorteil der bisherigen Programme war doch, dass man
sich unkompliziert an eine nichtstaatliche Einrichtung
wenden konnte. Welche Migrantin und welcher Punker
ruft im Ministerium an? Das frage ich mich wirklich.
({6})
Dieses Denken zeigt sehr wenig praktisches Einfühlungsvermögen in die Szene.
({7})
Ich verlange nicht, dass die Koalition unsere Konzepte
übernimmt, aber ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, dass Sie auf Vernunft und
Erfahrung bauen. Dazu müssen die zivilgesellschaftlichen Initiativen wirklich weiter gestärkt werden.
Wir dürfen uns allerdings nicht in Scheingefechten
zwischen Regierung und Opposition verstricken. Mein
Ziel ist es, einen demokratischen Konsens im gesamten
Spektrum dieses Hauses herzustellen. In anderen Fragen
können wir uns gern politisch streiten, hier aber halte ich
es für wichtig, unsere Kräfte zu bündeln.
({8})
Im Kampf gegen Rechtsextremismus muss die Bundesregierung offensiv für eine Kultur der Demokratie und
Anerkennung werben. In zahlreichen Regionen haben
sich schon Netzwerke gebildet, die den Rechtsextremen
den kulturellen Kampf ansagen. Solche Aktivitäten bilden die Basis für unsere Demokratie. Sie brauchen unsere volle Unterstützung. Ich nenne Ihnen einige ausgezeichnete Beispiele von Initiativen, die ich selbst
besucht habe und die zeigen, dass es funktionieren kann,
wenn Initiativen mit Bürgermeistern zusammenarbeiten.
In Pirna, Sachsen, gibt es die Aktion Zivilcourage, in
Verden, Niedersachsen, das Bündnis für Demokratie und
Toleranz, in Lübtheen, Mecklenburg-Vorpommern, das
Bürgerbündnis gegen Rechts und in Wunsiedel, Bayern,
das Bündnis gegen Rechtsextremismus und die Jugendinitiative. Unsere Demokratie darf es sich nicht leisten,
dass diese kleinen Initiativen pleitegehen. Hier sind besonders Länder, Landkreise und Kommunen in der
Pflicht.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag
der Linksfraktion eingehen, in dem es um die Abschaltung der V-Leute in der NPD als Voraussetzung für ein
neues Verbotsverfahren geht. Das Verbotsverfahren
wird in allen Fraktionen heiß diskutiert, natürlich auch
bei uns. Ich persönlich sehe einen erneuten Verbotsantrag eher kritisch. Die harte Hand der Repression wird
rechtsextremes Denken in den Köpfen nicht zerschlagen
können. Wir müssen uns stattdessen fragen, warum sich
in unserem Land so viele Menschen mit rechtsextremem
und antisemitischem Gedankengut identifizieren. Was
geschieht in diesem Land, in dem nach einer Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung 8,6 Prozent der Befragten ein
geschlossenes rechtsextremes Weltbild vertreten? Würde
ein NPD-Verbot die Haltung der 15,2 Prozent verändern,
die meinen, es sollte einen starken Führer geben, der
Deutschland mit starker Hand regiert? Ganz sicher nicht.
Mit einem Verbot kann man gewisse Strukturen beschädigen, aber nicht die Ideologie in den Köpfen ändern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Landgraf?
Ja.
Ist Ihnen bekannt, dass Landrat Gey aus dem Muldentalkreis, also aus meinem Wahlkreis, heute eine
einstweilige Verfügung gegen diese falsche Darstellung
der NPD gerichtet hat? Für uns ist klar, dass er - das
müssten Sie gehört haben - einem Gespräch mit Jugendlichen zugestimmt hatte, an dem die NPD-Funktionäre
dann ungebeten teilgenommen haben. Die NPD hat es
falsch dargestellt. Halten Sie den Landrat Gey tatsächlich für einen Wegbereiter der NPD-Strategien? Ich jedenfalls halte ihn für einen aufrechten Demokraten.
Ich habe in meinem Redebeitrag schon darauf hingewiesen, dass Herr Gey gegen gewisse Äußerungen der
NPD vorgeht. Es ist vollkommen okay, dass er das
macht. Auch habe ich Herrn Gey nicht abgesprochen,
ein Demokrat zu sein. Er ist für mich in dieser Hinsicht
ein naiver Demokrat gewesen.
({0})
Es mag sein, dass diese Jugendlichen sich irgendwie
benachteiligt gefühlt haben und meinten, mit dem Herrn
Landrat in Kontakt kommen zu müssen. Allerdings hätten bei mir schon dann die Glocken geläutet, wenn sich
eine Gruppierung, die sich „volkstreu“ nennt, anmeldet.
Das mag bei anderen politischen Richtungen anders
sein. Allerdings müsste Herr Gey seine Pappenheimer
eigentlich kennen; denn es waren bekannte NPD-Funktionäre dabei. Diese Funktionäre sitzen auch im Kreistag; selbst der NPD-Kreisvorsitzende war anwesend.
Wie Sie wissen, hat Herr Gey selber gesagt, es sei
eher schwierig gewesen und er hätte es so nicht machen
sollen; zwar hätte er sich mit den Jugendlichen unterhalten sollen, die Funktionäre aber hätte er hinauswerfen
müssen. Das hat er also selber eingesehen. Er hat einen
Fehler gemacht. So etwas muss man einfach benennen,
und man muss darüber diskutieren, damit solche Fehler
nicht noch einmal gemacht werden.
({1})
Abschließend möchte ich drei Beispiele dafür geben,
was wir alle tun können, damit Rechtsextreme nicht in
die schon vorhin angesprochenen Lücken stoßen:
Erstens. Wir selbst müssen die Lücken schließen, die
die Rechtsextremen heute suchen, um Menschen in ihre
Gruppen zu ziehen.
Zweitens. Wir müssen uns selber vor Ort begeben und
uns mit den Anliegen der Menschen dort ernsthaft beschäftigen.
Drittens. Wir müssen gerade für junge Leute Angebote schaffen, nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern
auch kulturell. Wir müssen ihnen zeigen, dass unsere
Gesellschaft ihre Ideen, ihr Engagement braucht. So entsteht auch ein Gemeinschaftsgefühl mit einer demokratischen Grundlage.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Alois Karl, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion der Linken beschert dem Bundestag zum wiederholten Mal eine Debatte über Rechtsextremismus.
({0})
Dies soll offensichtlich in periodischen Abständen geschehen, wohl um der Welt zu zeigen, wie weit wir in
Deutschland auf dem schlechten Weg nach rechts außen
schon gekommen sind.
In ihrer Großen Anfrage malen die Linken dieses
Bild, besser gesagt: dieses Zerrbild, mit 286 Fragestellungen und mit 390 Einzelfragen. Sie nehmen kein Blatt
vor den Mund, sondern ziehen das Fazit gleich vorne
weg: Deutschland ist auf dem Weg nach rechts außen,
und dafür sind alle im Bundestag vertretenen Parteien
gleichermaßen verantwortlich; wir alle hier - von den
Grünen bis hin zur CDU/CSU - gehören zu den marktradikalen Kräften - der Staatssekretär hat das angesprochen -; die Sozialdemokraten und die Freidemokraten
werden automatisch in Sippenhaft genommen.
Die Linken stellen damit eine abstruse, eine wirre Situation dar. Unser Land soll in der öffentlichen Wahrnehmung in ein schlechtes, in ein schiefes Licht gerückt
werden. Das ist der eigentliche Sinn Ihrer Anfrage. Aber
damit werden Sie nicht durchkommen. Wir leben nämlich in einem anderen Land, in einem offenen Land, in
einer anderen Gesellschaft, in einer toleranten Gesellschaft.
Der Widerspruch gegen Rechtsextremismus ist für
mich, für uns, für unsere Fraktionen selbstverständlich.
Wir alle wissen, dass dieser Extremismus menschenfeindlich ist, dass der Rechtsextremismus der Feind des
demokratischen Rechtsstaates ist. Wir wissen, dass er
diese Staatsordnung aufheben möchte.
Die von Ihnen abgekanzelten Fraktionen haben zudem ein anderes gemeinsames Ziel: Wir wollen unsere
Staatsordnung gegen jeden Extremismus verteidigen,
gegen den rechten genauso wie gegen den linken.
({1})
Ich kann für unsere Fraktion nur sagen: Wir sind da
hellwach, und zwar auf beiden Augen. Im Gegensatz zu
Ihnen kann unsere Werteordnung von rechts oder von
links bedroht werden. Ich verweise nur auf die Äußerungen des Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, Konrad
Freiberg, von gestern.
Sie ignorieren beharrlich, dass die Bedrohung von
links genauso gegeben ist. Aus diesem Grunde meine
ich, meine Damen und Herren von der Linken, Sie stellen nicht eine Lösung des Problems dar, sondern Sie sind
oft ein Teil des Problems.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jelpke?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege, ich bin der Meinung, dass es immer
eine schlechte Antwort ist, wenn man kein Konzept geUlla Jelpke
gen Rechtsextremismus hat, auf Linke einzuschlagen.
Ich frage Sie aber ganz einfach: Können Sie mir Beispiele dafür nennen, dass bei Linken Waffenlager gefunden worden sind, wie es bei Neofaschisten in der Vergangenheit der Fall war? 133 Menschen sind durch
Rechtsextremisten erschlagen worden. Haben Sie ähnliche Beispiele für Linke?
Liebe Frau Jelpke, Sie bräuchten nur den Bericht der
Bundesregierung zur Kriminalitätsstatistik des Jahres
2006 anschauen. Dort ist sehr akribisch dargestellt, wie
sich die Entwicklung der rechts- und linksmotivierten
Straftaten vollzogen hat. Die Zahl der linksmotivierten
Gewaltdelikte ist immer noch deutlich höher als die der
rechtsmotivierten.
({0})
- Doch, leider Gottes ist das so. Darunter fällt auch all
das, Frau Jelpke, was Sie angesprochen haben.
({1})
Sie haben vorhin in Ihrer Rede auch kurz die sogenannten befreiten Zonen angesprochen. Fragen Sie zum
Beispiel einmal beim Polizeipräsidium in München
nach. Dort werden Straßenseiten zum Beispiel von
Migranten für sich reklamiert und als deutschenfreie
Zone bezeichnet.
({2})
All das, Frau Jelpke, müssen Sie in Ihre Diskussion einbeziehen. Das, was Sie ansprechen, ist auf der rechten
Seite in der Tat gegeben, wird aber auf der linken Seite
von Ihnen verschwiegen. Das ist Ihr Fehler.
({3})
Politisch motivierte Straftaten sind für uns - ob von
rechts oder von links motiviert - in der gleichen Weise
erheblich. Wir können das Auge auf der linken Seite auf
keinen Fall zudrücken.
({4})
Ich komme auf die Anfrage selber zurück. Sie desavouieren sich selber, weil Sie die historischen Tatsachen
in Ihrer Anfrage verdrehen. Sie führen eine unangemessene Radikalität in Ihrer Sprache. Sie nehmen keine
Rücksicht auf die Opfer und sind teilweise historische
Brandstifter.
({5})
Die Radikalität Ihrer Sprache und die Verdrehung historischer Tatsachen kommt zum Beispiel zum Vorschein,
wenn Sie sich in Ihrer Anfrage mit den Heimatvertriebenen befassen. Sie nehmen die Unwahrheit bewusst in
Kauf, wenn Sie die Vertriebenen - immerhin sind das
15 Millionen; davon sind 2 Millionen auf der Flucht gestorben ({6})
als „sogenannte“ Heimatvertriebene bezeichnen und die
Vertreibung der Deutschen als bloße Umsiedlung aus
Osteuropa bezeichnen.
({7})
Diese Sprache, Frau Jelpke, ist verletzend. Das hätte ich
auch Ihnen nicht zugetraut.
({8})
Meine Fraktion und die große Mehrheit im Haus wissen um das große Leid der Heimatvertriebenen und um
die 2 Millionen, die auf der Flucht umgekommen sind.
Wir wissen aber auch, dass sie sich in großen Teilen
beim Wideraufbau in Deutschland verdient gemacht haben.
({9})
Niemand will Unrecht gegen Unrecht aufrechnen. Wir
alle wissen, welch unendliches Leid die Deutschen über
die Welt gebracht haben. Aber es ist nicht korrekt, dass
Sie die Organisationen der Heimatvertriebenen zwischen
dem rechten Rand des demokratischen Meinungsspektrums und neonazistischen Personen einordnen. Genau das machen Sie. Das weisen wir auf das Schärfste
zurück.
({10})
Im Gegensatz zu Ihnen wissen wir um die Verdienste der
Heimatvertriebenen in diesem Land.
Auch studentische Verbindungen stellen Sie auf
sehr abstruse Weise dar.
({11})
Hierzu sage ich ein offenes Wort: Wer dort aufgenommen werden will, Herr Ströbele, der muss die Frage beantworten, ob er rechten oder linken Organisationen angehört. Wenn er diese Frage mit Ja beantwortet, wird er
nicht aufgenommen. Wenn er sie falsch beantwortet,
wird er später hinausgeschmissen.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. In Ihrer
Großen Anfrage richten Sie Ihren Fokus auch auf die,
wie Sie schreiben, rechtsextremistisch durchsetzten Traditionsverbände, Reservistenvereinigungen und Kameradschaftskreise. Auf diese Frage hat Ihnen die Bundesregierung bereits geantwortet. Aber die Antwort genügt
Ihnen nicht. Sie finden es schick, nur die Frage zu stellen. Auf die Antwort kommt es Ihnen offensichtlich
nicht an. Ihnen genügt es, einen bestimmten Eindruck zu
suggerieren. Die Bundesregierung hat Ihnen geantwortet, dass keine rechtsextremistisch durchsetzten Traditionsverbände bekannt seien. Dennoch bin ich mir sicher, dass Sie die nächste Gelegenheit nutzen werden,
um diese Frage in gleicher Weise erneut zu stellen.
Ich darf Ihnen sagen, dass ich aus meiner früheren Tätigkeit in der Kommunalpolitik viele dieser Vereine
kenne.
({12})
Sie alle haben eine grundlegende Gemeinsamkeit, liebe
Frau Jelpke: All diejenigen, die den Krieg miterlebt haben, sagen, nie wieder dürfe es Krieg und nie wieder
eine Zeit des Unrechts und der Intoleranz geben wie seinerzeit. Diese Einstellung verbindet sie. Ich sage Ihnen:
Das sind keine „kalten Krieger“. Im Gegenteil, sie sind
Teil einer Bürgerinitiative für Frieden und Verständigung in unserem Land geworden.
Durch die Antwort der Bundesregierung zieht sich ein
roter Faden:
({13})
In unserem Lande bewegen wir uns nicht an den rechten
Rand des politischen Spektrums. Es existieren in
Deutschland rechts-, aber auch linksextremistische
Gruppen. Hier stellen sich uns große Aufgaben. Aber im
bloßen Verbot von Parteien sehe ich nicht die Lösung.
Wenn wir die NPD verbieten würden - darauf läuft Ihr
Antrag hinaus, da Sie fordern, die V-Leute in der NPD
abzuschalten -, würden wir uns damit den großen Vorteil
nehmen, über die V-Leute Informationen abschöpfen zu
können, um zu wissen, welche Aktionen und Demonstrationen rechte Gruppen und die NPD planen. Das
allein ist schon ein Gewinn.
Sie verlangen, die NPD zu verbieten. Das verlangen
allerdings auch die Republikaner. Daran sehen Sie, dass
man sich seine Freunde nicht unbedingt aussuchen kann.
({14})
- Auch die Republikaner verlangen das Verbot der NPD.
({15})
Ich meine, dass es unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten richtig wäre, die NPD weiterhin durch V-Leute
verfolgen und beobachten zu lassen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Dadurch gewinnen wir
mehr, als wenn wir in einem unsicheren Verfahren erneut
die Forderung nach einem Verbot der NPD aufgreifen.
({0})
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überzogen, und
Sie haben gerade einen guten Schlusssatz gesagt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Frau Präsidentin.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Spieth.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Karl, nach
meiner Auffassung haben Ihre Ausführungen vor Unkenntnis gestrotzt. In Ihrer Darstellung haben Sie eine
ungeheure Schlichtheit und Verharmlosung herübergebracht, die so selbstredend ist, dass man dazu eigentlich
nichts mehr sagen müsste. Aber dennoch muss man,
glaube ich, auch der Öffentlichkeit sagen, dass das, was
Sie hier äußern, im krassen Widerspruch steht zu dem,
was Ihr eigenes Jugendministerium, das wohl CDU-geführt ist, zu diesem Thema sagt. Ich darf, Frau Präsidentin, aus dem Bundesprogramm zitieren: Die Verfestigung
rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Strukturen im Gemeinwesen und deren gezielte
Einflussnahme auf die Einstellung der Bürgerinnen und
Bürger bedrohen die demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft. - Das heißt: Im Bundesjugend- und -familienministerium wird sehr wohl begriffen, dass wir
hier eine massive Bedrohungssituation in den Kommunen, bei den Menschen in allen Regionen Deutschlands
haben.
Wir haben verschiedenste Untersuchungen. Ich will
hier nur den von der Thüringer Landesregierung - CDUgeführt - vorgelegten „Thüringen-Monitor“ nennen.
Dort wird seit Jahren auf das besondere Problem rechtsextremistischer Einstellungen, fremdenfeindlicher Einstellungen, antisemitischer Einstellungen hingewiesen.
Es wird aufgezeigt, dass über 20 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer - das wird durch andere Studien
für andere Regionen in Ost und West genauso belegt demokratiefeindliche, rechtsextreme Einstellungen haben. Wenn man dann sagt: „Wir können vor dem Hintergrund dieser Debatte links und rechts gleichstellen“,
dann halte ich das für unverantwortlich und meine, das
wird der historischen Herausforderung in keiner Weise
mehr gerecht.
({0})
Ich will Ihnen klar sagen: Wir werden genauso wie
Sie jede Gewalt ablehnen, und zwar egal, ob sie von
rechts oder von links kommt. Aber derart - auch historisch - verharmlosend rechts und links gleichzustellen,
das ist nach meiner Auffassung in der Tat so etwas wie
- Sie haben es vorhin gesagt - Brandstiftung.
({1})
Herr Kollege Karl, Sie haben das Wort.
Ich darf darauf mit wenigen Sätzen antworten. - Wissen Sie, ich habe in meiner Rede nicht bestritten, dass in
der rechten Szene Gefahren bestehen. Das wird auch in
allen Dokumentationen, in allen Statistiken aufgelistet;
das ist gar keine Frage. Wogegen ich mich gewandt
habe, ist die Unehrlichkeit und auch die Unkorrektheit in
Ihren Anträgen und in Ihren Anfragen, die in eklatanter
Weise mindestens 50 Prozent des anderen Spektrums
ausblenden und so tun, als wäre hier eine Bedrohung von
rechts gegeben, eine Bedrohung auf der linken Seite aber
in gar keiner Weise vorhanden. Darin besteht die Unehrlichkeit und damit auch die Unkorrektheit Ihrer Anträge.
({0})
Ich gebe der Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke,
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Karl, eine Zahl vorweg: Im statistischen Schnitt
werden bundesweit nicht durch die Linke, sondern durch
die Bundesregierung Tag für Tag drei Gewalttaten registriert, die rechtsextremistisch, rassistisch oder antisemitisch motiviert sind. Das sind die offiziellen Zahlen - die
tatsächlichen liegen weit höher und damit auch die Zahl
der Opfer.
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus
sind also längst wieder eine Gefahr für Leib und
Leben. Wenn jemand brandstiftet, dann sind das diese
Menschenfeinde, die auf andere Menschen, weil sie anders aussehen, anders leben oder anders lieben, Übergriffe vollziehen. Von den Toten hat meine Kollegin
Jelpke schon gesprochen.
({0})
Eine zweite Zahl dazu: Allein von 2004 bis 2006, also
binnen zwei Jahren, hat die Zahl der registrierten Strafund Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund
um 50 Prozent zugenommen. Diese Entwicklung ist
alarmierend. Deshalb müssen auch wir, der Bundestag
und alle Fraktionen, uns fragen, ob wir bislang adäquat
auf diese Entwicklung reagiert haben. Ich finde: Nein.
Wir sollten es aber endlich tun, und zwar parteiübergreifend.
Aber nicht nur die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Wir haben es auch mit einer neuen Qualität von
Rechtsextremismus zu tun. Rechtsextremismus ist
heute längst nicht mehr auf schlagende Stiefelknechte zu
reduzieren wie vielleicht noch vor zehn Jahren. Von der
Strategie über die Programmatik bis hin zum Personal
suchen Rechtsextremisten Widerhall in der Gesellschaft,
und das mit Erfolg. Auch hiermit haben wir uns gemeinsam im Bundestag bisher nicht adäquat beschäftigt.
Meine erste These: Nur wenn die Analyse stimmt,
gibt es auch Aussicht auf Erfolg. Stimmen unsere Analysen? Ich sage: Nein. Das beginnt schon bei den Zahlen
und Fakten. Deshalb sage ich erneut für die Fraktion Die
Linke: Wir brauchen endlich eine unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus.
({1})
Ihre Einrichtung war eigentlich in diesem Hause schon
einmal beschlossen, aber es gibt sie noch immer nicht.
Meine zweite These: Solange Rechtsextremismus
vorwiegend als Rand-, Jugend- oder Ostphänomen behandelt wird, werden wir ihn nicht zurückdrängen können.
({2})
Dasselbe gilt übrigens, solange der Rechtsextremismus
vorwiegend als innen- oder rechtspolitisches Problem
bearbeitet wird. Die Besetzung der Regierungsbank bei
dieser Debatte spricht Bände.
({3})
Deshalb brauchen wir endlich eine ressortübergreifende Strategie, die sich auf Kompetenz stützt und die
Zivilgesellschaft stärkt.
Aber genau da haben wir das nächste Problem. Wir
erleben gerade - das spielte hier schon eine Rolle - eine
Umstrukturierung der Initiativen, die sich für Demokratie und Toleranz engagieren. Die Gefahr ist eben immer
noch nicht gebannt, dass dabei Bewährtes gegen Verfehltes ausgetauscht wird. Zu dem sächsischen Beispiel
wurde hier schon gesprochen. Das wäre natürlich ein
Ding aus dem Tollhaus, wenn sich Rechte hier Mittel erschleichen könnten.
Meine dritte These: Wer die NPD verbieten will, der
ist zum Erfolg verpflichtet. Deshalb halte ich es ausnahmsweise einmal mit meinem Kollegen Bosbach aus
der CDU. Er hatte an die Adresse der SPD gemeint: Eines gehe überhaupt nicht, nämlich monatelang öffentlich
über ein NPD-Verbot zu reden, aber nichts dafür zu tun;
({4})
denn das werte die NPD nur zusätzlich auf. Ich füge
hinzu: Das sollten wir tunlichst alle gemeinsam unterlassen.
Bezüglich der Frage, ob ein NPD-Verbot sinnvoll ist
oder nicht, gibt es übrigens auch in der Linken unterschiedliche Auffassungen. Aber in einem sind wir uns
einig: Wer die verfassungsfeindliche NPD ernsthaft und
rechtsstaatlich verbieten will, muss zuerst das Verbotshindernis beseitigen, das heißt, die V-Leute abschalten.
Sie nützen nichts, sie schaden aber sehr viel.
({5})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung und diese Große
Koalition bekämpfen jeglichen politischen Extremismus
entschlossen und nachhaltig. Deswegen diskutieren wir
fast in jeder Sitzung des Innenausschusses darüber. Ich
sage dazu: Das ist gut so.
Ich verwehre mich aber an dieser Stelle für mich und
die SPD-Fraktion ganz klar gegen den permanenten Versuch, Rechts- und Linksextremismus gleichzustellen und
gegenseitig aufzurechnen.
({0})
Ich glaube, aus historischer Verantwortung heraus
sind wir verpflichtet, Rechtsextremismus von Grund auf
als zentrale Herausforderung für unsere freiheitliche Demokratie, für unsere Bundesrepublik Deutschland, für
unser friedliches Zusammenleben zu sehen. Deswegen
glaube ich, dass wir uns klarmachen müssen, dass im
Rechtsextremismus ein Bedrohungspotenzial liegt, das
niemals relativiert werden darf.
({1})
Wir dürfen uns an dieser Stelle nichts vormachen. In
betroffenen Gebieten, Städten und Gemeinden, aber
auch in Schulen und Vereinen ist oft die Angst da,
Rechtsextremismus zu thematisieren: die Angst vor Stigmatisierung, die Angst vor Nachteilen. Deswegen wird
das Thema leider viel zu oft totgeschwiegen. Wir haben
es im Rahmen eines Ausflugs mit dem Kollegen Klaus
Uwe Benneter vor einem halben Jahr bei einem Vor-OrtBesuch in Brandenburg erlebt. Da haben uns Bürgermeister und Schulleiter berichtet, dass man sich in der
Schule weigert, zu thematisieren, dass Rechtsextremismus in den Klassen ein Thema ist, weil man Angst um
das gute Image der Schule hat. Deshalb ist es wichtig,
dass wir an dieser Stelle etwas tun.
({2})
Rechtsextremismus ist ein Thema, das wir nicht so
wie viele Medien behandeln sollten, nämlich dass wir es
erst dann auf die Tagesordnung hier im Bundestag setzen, wenn etwas passiert ist und es Schlagzeilen gibt. Es
ist ein Thema, das keine Konjunktur duldet. Im Gegenteil: Dauerhaftes Engagement ist hier gefragt. Genau das
machen die Bundesregierung und die Große Koalition,
indem die wichtigen Programme fortgeschrieben werden.
({3})
In der Tat ist eine schlimme Entwicklung bei den Gewalt- und Straftaten zu verzeichnen. Kollegin Gabi
Fograscher hat es erwähnt, und es ist auch in den entsprechenden Berichten nachzulesen. Im Bund waren es
15 914 Straftaten im vorletzten Jahr und über 18 000 im
letzten Jahr. Auch in Baden-Württemberg gibt es eine
immense Steigerung von 1 166 auf 1 351 Fälle. Das ist
also nicht nur in den neuen Bundesländern ein Thema.
Dort tritt es sicher verstärkt auf, aber es ist ein gesamtdeutsches Problem.
Als Abgeordneter aus Baden-Württemberg möchte
ich einmal darauf hinweisen, was wir dort erleben. Da ist
ein Wanderzirkus unterwegs; es gibt Kundgebungen,
Aufmärsche, Einschüchterungen, in Friedrichshafen, in
Laupheim, in Aulendorf. Es erschüttert einen, was dort
stattfindet. Man kann sich nur wundern, wenn oft so getan wird, als ob dies nur in Sachsen oder MecklenburgVorpommern ein Thema wäre.
({4})
Die Zahlen zum rechtsextremistischen Personenpotenzial sind deutlich: Über 38 000 Personen werden
diesen Kreisen zugerechnet, von denen 10 400 dazu
noch als sehr gewaltbereit eingestuft werden. Das ist
schlimm und besorgniserregend. Es ist sehr wichtig, dass
wir entschieden und nachhaltig dagegen vorgehen.
Rechtsextremismus ist aus meiner Sicht aber nicht
nur an Wahlerfolgen beispielsweise der NPD in zwei
Landtagen oder an Kundgebungen und Aufmärschen
festzumachen, sondern ist auch in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen vorhanden. Auch darauf sollten
wir bei einer solchen Debatte unser Augenmerk richten.
Die Strategie beruht ja vielfach auf vier Säulen:
Kampf um die Straße - Kundgebungen, Aufmärsche; ich
habe es erwähnt -, Einschüchterungen, Kampf um den
Einzug in die Parlamente, leider die beiden Erfolge der
NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch der Kampf um die Köpfe
und letztendlich eine organisierte Willensbildung sind
an dieser Stelle von Bedeutung. Leider sehen sehr viele
in der sogenannten neuen Rechten eine Scharnierfunktion zwischen rechtskonservativem Denken und rechtsextremistischem Handeln. Ich glaube, das ist eine sehr
gefährliche Grauzone, die sich leider sehr stark entwickelt.
({5})
Ich will hier nur ein Beispiel anführen. „Gesellschaft
für freie Publizistik“ zum Beispiel hört sich wunderbar
an; mit 500 Mitgliedern ist diese aber inzwischen die
größte rechtsextremistische „Kulturvereinigung“. Hier
sind Referenten wie David Irving, der Holocaustleugner,
oder auch Albrecht Jebens, früher im Weikersheimer
Studienzentrum, jetzt bei der Hans-Filbinger-Stiftung tätig, zu finden. Ich bin heilfroh, dass die Bundeskanzlerin
in der Woche nach Ostern den Ministerpräsidenten auf
Abwegen ganz klar gestoppt hat.
({6})
Bezüglich der Zwischenfrage von Frau Lötzsch vorhin, in der sie auf Bundesmittel für das Studienzentrum
Weikersheim hingewiesen hat, will ich ganz klar sagen,
dass es offenbar so ist, dass über die Bundeszentrale für
politische Bildung geringe Mittel für einzelne Veranstaltungen zur Verfügung gestellt worden sind. Heute Morgen hatten wir eine Kuratoriumssitzung, wo insbesondere über diese Themen gesprochen worden ist. Schade,
dass von Ihrer Fraktion niemand da war; dort wäre diese
Nachfrage eigentlich gut platziert gewesen. Aber ich
versichere Ihnen, dass wir als Kuratoriumsmitglieder bei
der nächsten Sitzung darüber reden werden, wer von diesen Mitteln profitiert.
({7})
Ich denke, das gehört dort auf die Tagesordnung.
({8})
Ich weise an dieser Stelle aber auch darauf hin, dass
sich in der Grauzone zwischen rechtskonservativem
Denken und rechtsextremistischem Handeln im Bereich
der Publizistik einige Zeitschriftenverlage und Magazine
bewegen, bei denen wir sehr genau hinschauen sollten.
Wir haben erlebt, wie leider auch die stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der FDP - das soll jetzt kein Vorwurf von mir sein - hereingefallen ist und der „Deutschen Militärzeitschrift“ ein Interview gegeben hat.
Kurz darauf hat sie sich dafür entschuldigt. Das ist in
Ordnung. Ich appelliere an uns alle, zukünftig darauf zu
achten, wer nach einem Interview fragt.
({9})
- Herr Kollege, das war von mir nicht böse gemeint; ich
wollte nur einmal dieses Beispiel anführen. Wir haben
auch in unseren eigenen Reihen Kollegen, die in eine
Falle tappen könnten. Wir sollten also alle sehr vorsichtig sein, damit wir als Abgeordnete diesen Leuten nicht
auf den Leim gehen.
({10})
- Ich habe deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht nur
Kollegen von der FDP waren.
Die Frage ist, was wir tun können. Ich will an dieser
Stelle betonen, dass wir die Initiativen vor Ort stärken
müssen. Wir müssen diese Leute ermutigen, im Kampf
gegen rechts weiterzumachen. Es ist vielfach nicht einfach, unsere Werte zu verteidigen; denn man gerät unter
Druck und wird eingeschüchtert. Deswegen glaube ich,
dass die Fortschreibung der entsprechenden Programme
an dieser Stelle ein ganz wichtiges Instrument ist.
({11})
Das Bundesprogramm wird mit 19 Millionen Euro
fortgeschrieben. Außerdem werden 5 Millionen Euro
draufgesattelt. Ich sage herzlichen Dank an alle Kollegen, die an dieser Stelle mitgewirkt haben. Ich bedanke
mich auch bei den betreffenden Ministerien, dass sie
schnell bereit waren, hier mitzuarbeiten. Ich glaube, das
ist ein wichtiges Signal.
Ich will mit dem Hinweis schließen: Geld ist nicht alles. Aber ohne Geld ist auch beim Kampf gegen den
Rechtsextremismus leider kaum Land zu gewinnen.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ahrendt,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, wir können hier übereinstimmend
feststellen, dass der Rechtsextremismus in Deutschland
zugenommen hat. Wir können auch feststellen, dass sich
die rechtsextremistischen Parteien organisieren. DVU
und NPD sprechen sich bei Landtagswahlen ab. Wir haben im letzten Jahr erlebt, dass aufgrund dieser Absprache die NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezogen ist. 2004 konnte die DVU wieder in
den Landtag Brandenburg einziehen. Ebenfalls 2004 ist
die NPD in den Sächsischen Landtag eingezogen.
Auch die rechtsextremistische Gewalt nimmt zu. Die
Frage, die daraus resultiert, lautet, wie die Zivilgesellschaft und die Parteien dieser Herausforderung begegnen
sollen. Man kann nun den Antrag stellen, die V-Männer
in der NPD sozusagen abzuschalten, um so ein neues
Verbotsverfahren gegen die NPD vorzubereiten. Das
halte ich aber für falsch. Ich bin nämlich der festen
Überzeugung, dass es richtig ist, Aufklärung in der
rechtsextremistischen Szene zu betreiben und Erkenntnisse über das Gefährdungspotenzial in der rechten
Szene zu gewinnen. Daher halte ich es, wie gesagt, für
falsch, die V-Männer abzuschalten.
({0})
Man muss ferner sagen, dass die Erfolgsaussichten eines NPD-Verbotsverfahrens nicht unbedingt als positiv
einzuschätzen sind. Aus einem Verbotsverfahren würden
sich in jedem Fall folgende Konsequenzen ergeben:
Erstens. Die NPD dürfte sich während des gesamten
Verfahrens einer nicht unerheblichen medialen Aufmerksamkeit sicher sein.
Zweitens. Wenn das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht verloren geht, dann erhält die NPD das
Gütesiegel „nicht verfassungswidrig“, was sie sich dann
auf die Fahne schreiben könnte.
({1})
Auch vor diesem Hintergrund muss man sich sehr wohl
überlegen, ob man ein solches Verfahren tatsächlich anstrengen möchte.
Drittens. Ein solches Verfahren löst tatsächlich nicht
die Probleme. Wir haben in der Bundesrepublik durchaus Erfahrungen mit Parteiverboten. Bisher haben wir
feststellen müssen, dass man zwar die Partei verbieten
kann, aber nicht die Überzeugung. Die Überzeugung besteht weiter.
({2})
Deswegen kommt es darauf an - das hat mein Vorredner
richtig gesagt -, dass wir die Kräfte in der Zivilgesellschaft unterstützen.
Die NPD setzt im ländlichen Raum und in den
Kleinstädten an. Dort bereitet sie zurzeit große Schwierigkeiten. Während des Landtagswahlkampfs in Mecklenburg-Vorpommern und der Kommunalwahl in Sachsen-Anhalt konnten wir der Presseberichterstattung
entnehmen, dass dort ganz gezielt Politiker anderer Parteien in martialischer Weise in ihrer Meinungsäußerung
eingeschüchtert wurden. Auf der anderen Seite versteckt
sich die NPD hinter einer Fassade bürgerlicher Freundlichkeit, indem sie Kinderfeste veranstaltet, Bürgerinitiativen gründet und in Elternversammlungen vertreten ist.
Die Auseinandersetzung der Menschen vor Ort - gerade derjenigen in einem Ehrenamt - mit diesem Problem über eine lange Zeit verlangt viel Kraft. Dazu muss
aus diesem Hohen Hause wesentlich mehr Unterstützung
geleistet werden, als nur - das sage ich an dieser Stelle
ganz deutlich - Programme aufzulegen und dann zur Tagesordnung zurückzukehren.
({3})
Ich will das Stichwort Brandstiftung, das ein Kollege
in dieser Debatte genannt hat, aufgreifen. Es ist viel geklagt worden, wer wann welcher Zeitung - möglicherweise auch aus dem rechten Bereich - welches Interview
gegeben hat. Ich habe mir ein Plakat herausgesucht, das
mich persönlich, weil ich aus Mecklenburg-Vorpommern komme, immer sehr geärgert hat. Ich glaube, es gehört zur politischen Kultur, dass man sich auch einmal
überlegt, wie man im politischen Wettbewerb wirbt.
Dies ist ein Plakat von Ihnen von der Linken mit dem Titel „Es reicht“.
Herr Kollege, Plakate lässt nur die Präsidentin zu.
Ich zeige es nur kurz und packe es jetzt wieder ein.
Wer solche Plakate aufhängt und sich parallel dazu
die Plakate der NPD anschaut, wird feststellen: Es sind
die gleichen Plakate; es ist die gleiche Sprache. Man
muss sich, da nach unserer Verfassung Extremismus
nicht teilbar ist, sehr wohl überlegen, wie man im politischen Wettbewerb agiert und ob man sich dieser Methoden bedienen will.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen betonen, dass die CDU/CSU-Fraktion jegliche Form
von Extremismus ablehnt, insbesondere den politischen
Extremismus, egal ob von rechts oder links motiviert.
({0})
Ich teile die Auffassung meiner Vorredner und warne davor, Extremismus zu kategorisieren, wie es oftmals vom
Antragsteller getan wird.
Wir alle haben vorgestern die gewalttätigen Ausschreitungen der linken Szene in Hamburg verfolgt.
Nach eigenen Aussagen wollten die linksextremen Randalierer mit Brandanschlägen und anderen Aktionen den
Weltwirtschaftsgipfel verhindern.
({1})
Polizisten wurden mit Flaschen, Brandsätzen und Steinen beworfen. Heute schreibt der „Tagesspiegel“, dass
die Gefahr von links wachse. Das ist die Realität, und
darauf müssen wir Antworten finden.
({2})
Wenn man Ihre Anträge zum Thema Rechtsextremismus liest und die jüngsten Äußerungen zu den Krawallen hört, dann muss man auf der einen Seite den Eindruck gewinnen, dass Sie zwischen tolerierbarem und
nicht tolerierbarem Extremismus unterscheiden.
({3})
Das lehnen wir von vornherein ab. Ich sage für die CDU/
CSU-Fraktion: Wir sind weder auf dem linken noch auf
dem rechten Auge blind. Das sollte auch bei anderen
Fraktionen in diesem Hause so sein.
({4})
Auf der anderen Seite warne ich davor, Extremismus zu
verharmlosen, wie es einige immer wieder tun.
({5})
Jede Form von Extremismus muss entschieden bekämpft
werden.
Es ist besorgniserregend, dass die rechtsextremistische Ideologie gerade bei jungen Menschen ankommt.
Im Verfassungsschutzbericht wird festgestellt: Die Zahl
sowohl der rechts- als auch der linksmotivierten Straftaten hat zugenommen; dies haben wir schon von verschiedensten Seiten gehört. Wir nehmen die Aussagen
des Verfassungsschutzberichts sehr ernst. Ich sage aber
in aller Deutlichkeit, dass ich eine künstlich hochgezogene Debatte für genauso falsch halte;
({6})
denn das zeigt ein falsches Bild von Deutschland in der
Welt.
({7})
Extremismus verfolgt immer die gleichen Ziele: Intoleranz und Ignoranz. Das sind Eigenschaften, die wir in
Deutschland nicht haben wollen.
Ich möchte auf die vorliegenden Anträge und die
Maßnahmen, die die Bundesregierung ganz konkret zum
Thema Rechtsextremismus ergreift, eingehen. Wir begrüßen es, dass sich die Bundesregierung des Themas
Extremismus annimmt. Allein für die Bekämpfung der
extremen Rechten gibt sie 24 Millionen Euro im Jahr
aus. Ich halte das Programm der Bundesregierung
„Förderung von Beratungsnetzwerken - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ für richtig; denn dieses Programm setzt im Gegensatz zu bisherigen Programmen dort an, wo es gebraucht wird, nämlich vor
Ort, in den Kommunen, in den Gemeinden und in den
Ländern.
({8})
Ich halte es auch für richtig, dass die Länder und
Kommunen mit ins Boot genommen werden; denn nur in
enger Kooperation mit den Ländern können in allen
Bundesländern nachhaltige Strukturen für eine präventive und engagierte Arbeit gegen Rechtsextremismus,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufgebaut
werden.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lazar?
Gerne.
Herr Kollege, ich habe gerade gelesen, dass Sie aus
dem Wahlkreis Zollernalb kommen. Ich war vor einigen
Wochen in dieser Region und habe an einer Veranstaltung in Burladingen teilgenommen. Auch Sie haben
wahrscheinlich mitbekommen, dass in Burladingen das
Problem besteht, dass rechtsextreme Jugendliche für Unsicherheit im Ort, zum Beispiel auf dem Weihnachtsmarkt, sorgen. Die Initiativen dort haben mir ganz eindeutig gesagt, dass ihnen die politische Unterstützung,
angefangen beim Bürgermeister, fehlt. Ich würde gern
von Ihnen wissen, ob Sie sich vor Ort dafür einsetzen,
dass das Problem von den Politikern auf kommunaler
Ebene erkannt wird. Sie haben ja gerade das Bundesprogramm befürwortet. Ich würde mich sehr freuen, wenn
Sie den Bürgermeister darauf ansprechen würden.
Ich bin für diesen Einwurf dankbar. Ich kenne die Region sehr gut. Ich bin dort auch Kreisrat. Aus diesem
Grund setze ich mich dafür ein, dass die kommunalen
Kräfte verstärkt werden und im Kampf gegen Rechtsextremismus Unterstützung vom Land und vom Bund bekommen.
({0})
Ich werde mich nicht nur als Bundestagsabgeordneter,
sondern auch als Kreisrat vor Ort dafür einsetzen.
({1})
Für das neue Programm sind im Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 5 Millionen Euro vorgesehen. Oftmals wird verkannt, dass sich die Länder darüber hinaus mit eigenen
Mitteln - Minimum 20 Prozent - an der Finanzierung
des Programms beteiligen müssen. Damit wird die Eigenverantwortung gestärkt, und die Mittel werden erhöht. Dadurch wird die Kraft vor Ort verstärkt.
Ich glaube, mit dem Programm zeigt die Bundesregierung eines: ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den
Rechtsextremismus zielorientierter als bisher anzugehen. Umso erstaunlicher finde ich es, dass die Kollegen
von der Linkspartei das Konzept in ihrem Antrag als
„ungeeignet“ ablehnen. Stattdessen fordern sie ein neues
Konzept, ohne sich mit dem auseinanderzusetzen, was
bereits umfassend geschieht und was die Bundesregierung weiterentwickelt und verbessert hat.
Ich möchte hier ganz offen sagen, dass es in der Vergangenheit Kritik an laufenden Projekten gegeben hat.
Bei näherer Betrachtung muss man feststellen, dass viele
Finanzmittel leider nicht am richtigen Ort angekommen
sind. Gerade deshalb bin ich - das habe ich vorhin schon
erwähnt - für eine kommunale Trägerschaft und nicht
für eine Projektträgerschaft. Das haben wir jetzt festgeschrieben.
Mein Kollege von der SPD hat es vorhin gesagt - sicherlich sind wir uns darin einig -: Geld ist nicht alles.
Wir brauchen auch anderes, um Extremismus zu bekämpfen. Wir müssen die Frage stellen, warum gerade
junge Menschen dem Extremismus oftmals verfallen.
Ein Grund ist sicherlich, dass vielen eine individuelle
Perspektive und Zukunftszuversicht fehlen. Gerade im
Osten führt dies meines Erachtens immer wieder zu Problemen. Deshalb finde ich es unglaublich ermutigend,
dass der Arbeitsmarkt eine hervorragende Entwicklung
vorweist. Bundesweit sind im April 2007 130 000 Jugendliche weniger arbeitslos gemeldet gewesen als im
Vorjahresmonat. Das ist eine erfolgreiche Bilanz, die die
Bundesregierung zu Recht immer wieder stolz in den
Mittelpunkt stellt.
({2})
Ein weiterer Lichtblick ist der Ausbildungspakt, der
kürzlich um drei Jahre verlängert worden ist. Circa
25 000 Verträge - das sind 13 Prozent mehr als im vergangenen Jahr - wurden abgeschlossen. Das „Ausbildungsprogramm Ost“ mit 13 000 Plätzen in 2006 zeigt,
dass jedem Einzelnen eine Perspektive geschaffen wird.
Jeder Ausbildungsplatz oder Arbeitsplatz mehr entzieht
dem Extremismus Nährboden und trägt dazu bei, jungen
Menschen eine Zukunft zu geben. Wer eine Zukunft hat,
wird sicherlich keine fremdenfeindlichen oder andere
Parolen von sich geben.
({3})
Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die Bildung. Ich bin
fest davon überzeugt, dass Bildung das beste Mittel gegen Intoleranz ist. Außerdem bietet Bildung die Chance,
die unterschiedlichen Lebensformen als Bereicherung
und nicht als Bedrohung zu erfahren. Das fördert Toleranz und verhindert Fremdenfeindlichkeit.
Gerade in der Familie werden Werte und vor allen
Dingen Respekt und Toleranz anderen gegenüber gelehrt
und vermittelt. Deshalb ist jeder Euro, der in die Familie
investiert wird, auch ein Mittel gegen Rechtesextremismus. Die Familie bildet deshalb den Kern unserer Gesellschaft.
Daneben bilden - das wurde bereits angesprochen Vereine eine ganz wichtige Basis; das sage ich, weil ich
aus Baden-Württemberg komme. Jeder, der in einem
Verein, zum Beispiel einem Sportverein oder Musikverein, vor Ort engagiert ist, wird nicht zu einer rechtsextremen Vereinigung gehen, sondern einen wichtigen und
engagierten Beitrag in der Gesellschaft leisten.
({4})
Weil wir die Ratspräsidentschaft innehaben, möchte
ich noch eines sagen: Ich glaube, Europa ist ein ganz
wichtiger Schlüssel. Viele Menschen haben heutzutage
die Möglichkeit, Europa und die Welt - andere Menschen, andere Kulturen und andere Religionen - per
Jugendaustausch kennenzulernen. Das ist ein ganz
wichtiges Mittel, um Fremdenfeindlichkeit vorzubeugen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der Europäischen Union über 7 Milliarden Euro für Jugendaustauschprogramme innerhalb der nächsten fünf Jahre zur
Verfügung gestellt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um
Extremismus zu bekämpfen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen: Die
Bundesregierung misst der Auseinandersetzung mit dem
Extremismus und seiner Bekämpfung einen sehr hohen
Stellenwert bei. Die CDU/CSU-Fraktion wird die Bundesregierung bei diesem Vorhaben weiterhin mit voller
Kraft unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Bevor ich dem Kollegen Nitzsche das Wort gebe, gratuliere ich dem Kollegen Michael Hartmann sehr herzlich zu seinem heutigen Geburtstag.
({0})
Das Wort hat der Kollege Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Auseinandersetzung mit Kräften, die unseren Rechtsstaat bedrohen, ist richtig und wichtig.
Bei diesem sensiblen Thema muss aber die Frage gestellt werden, ob die Große Anfrage, die Anträge und die
gesamte parlamentarische Arbeit der Linken wirklich geeignet sind, unseren Rechtsstaat zu schützen. Nach dem
Lesen der Großen Anfrage bezweifele ich mittlerweile
grundsätzlich, dass sie überhaupt darauf abzielt, Gefahren vom Rechtsstaat, somit von der Meinungsfreiheit abzuwenden; denn in der Großen Anfrage werden - der
Kollege Karl hat es schon erwähnt - Heimatvertriebenenverbände, Trachtenverbände, Burschenschaften und
sogar Teile der Bundeswehr pauschal unter Generalverdacht gestellt. Selbst die Union sitzt nach Darstellung der
Linken irgendwo da drin. Ich wundere mich, dass Sie den
ADAC nicht bemühen; denn schließlich setzt er sich für
das Rechtsfahrgebot in Deutschland ein.
({0})
Was wir hier bekommen, ist die Verzerrung der politischen Zustände. Das erinnert mich - einige aus den Reihen der Linken kennen das noch - an die DDR. Das Verständnis von Freiheit und Demokratie wird in eine
ausschließlich linke Meinungsführerschaft umgedeutet. Der Fokus wird umgeschwenkt, sodass die Mitte zwischen SPD und PDS angekommen zu sein scheint. Ich erinnere mich dabei an die Parole von Walter Ulbricht aus
DDR-Zeiten: „Jeder Mann an jedem Ort - mehrmals in
der Woche Sport“ - angesichts der letzten Beschlüsse der
Koalition geradezu Labsal.
Wenn man allerdings die historische Mission der Arbeiterklasse und ihrer leninistischen Arbeiterpartei mit
Führungsanspruch anführt, um die entwickelte sozialistische Gesellschaft mit dem linken Meinungsführeranspruch zu zementieren, wird mir Angst. Ich frage mich:
Sind wir trotz Wendezeit, trotz Montagsdemonstrationen
wieder da angekommen, wo die Freiheit des Wortes mit
Füßen getreten wird? Findet sich das bürgerliche Lager
wie einst die Blockparteien mit der Meinungsführerschaft der politischen Linken ab? Wenn ja, macht sie
sich auch Schuld an der Pervertierung der Meinungsfreiheit.
({1})
Zu den Zahlen: Von 2001 bis 2006 wurden für etwa
4 500 Projekte circa 192 Millionen Euro ausgegeben.
Gleichzeitig stieg aber die Zahl rechtsextremer Straftaten und rechtsextremer Wahlerfolge. Und was will Genossin Jelpke jetzt? Mehr Geld. Und was passiert dann?
Arbeitsbeschäftigung für Politologen und Soziologen.
Frau Jelpke, ich habe gelesen, dass Sie Soziologin sind.
Das ist ja die Kaste von Menschen, die für eine gute Lösung das passende Problem sucht.
({2})
Das Problem DDR haben wir damals abgewickelt. Ich
bin 1989 auf die Straße gegangen,
({3})
da haben Sie sich noch bei den Grünen in Hamburg den
Hintern gewärmt, für gutes Westgeld. Sie hätten die
DDR erleben können.
Für mich ist Demokratie Wettbewerb, Parteienwettbewerb um die besten politischen Konzepte.
({4})
Wenn Sie jetzt die NPD verbieten wollen, müssen Sie
zur Kenntnis nehmen - ({5})
- Frau Präsidentin, kann man einmal um Ruhe bitten?
2004 haben in Sachsen 190 909 Menschen die NPD
gewählt. Bei der letzten Bundestagswahl waren es
748 568. Wollen Sie sagen, das sind alles Rechtsextremisten? Wollen Sie das behaupten? Gehen Sie doch einmal auf die Sorgen und Nöte dieser Menschen ein! Fragen Sie sie, warum sie NPD gewählt haben: aus Frust,
aus Protest, als Denkzettel.
({6})
Sind das etwa die Wechselwähler, die Sie an die NPD
verloren haben, immerhin 11 000 in Sachsen?
({7})
Ich lese - vielleicht beruhigt Sie das - jetzt gern und
oft die „junge Welt“. Da gibt es hochinteressante Beiträge. So konnten wir am 14. März dieses Jahres in der
„jungen Welt“ lesen, dass Genossin Jelpke vom Verfassungsschutz überwacht wird.
({8})
Was steht in diesem Bericht? Ich nenne exemplarisch
wenige Punkte: kontinuierliche Zusammenarbeit mit der
Deutschen Kommunistischen Partei; Ihre politische Heimat war die orthodoxe Politsekte Kommunistischer
Bund - da gibt es hier weitere Verstrickungen -;
({9})
zahlreiche Veröffentlichungen in linksextremistischen
Publikationen; ein ungeklärtes Verhältnis zu politisch
motivierter Gewalt.
({10})
Selbst die Verfassungsschutzbehörden stecken in der
Welt Jelpkes - Zitat - „seit vielen Jahren selber tief im
braunen Dreck“. Für Sie ist also alles rechtsradikal.
Ich sage Ihnen: Personen und Organisationen, die selber in linksextremistische Zusammenhänge verstrickt
sind, können bei der Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus keine Bündnispartner sein. Deshalb
sind Ihre Anträge abzulehnen. Für Ihr Poesiealbum - ich
weiß nicht, ob Sie eines haben
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
- ich komme zu meinem Schlusswort - möchte ich zitieren, was Rosa Luxemburg gesagt hat: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Nitzsche, Ihr Redebeitrag zum Rechtsextremismus
liest sich wie eine Bewerbung für die NPD; dort gehören
Sie geistig auch hin.
({0})
Sie sollten hier nicht über Rechtsextremismus reden. Ich
wundere mich, dass jemand wie Sie in die CDU aufgenommen werden konnte; aber das ist ein anderes Thema.
In dem kleinen Westerwaldort Oberlahr fand letzten
Sonntag eine Demonstration von über 1 000 Menschen
gegen die NPD statt. Dabei war zu beobachten, dass dieser Protest aus der Mitte der Gesellschaft gekommen ist.
Der CDA-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz forderte während der Versammlung ein Verbot der NPD.
Auch die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten“ wirbt mit einer Unterschriftensammlung für einen erneuten Anlauf für ein NPD-Verbot. Und das ist gut so.
Um beurteilen zu können, warum das erste Verbotsverfahren scheiterte, lohnt sich ein genauer Blick ins
Jahr 2000: In der „FAZ“ vom 5. April 2000 wird Herr
Schily zitiert, dass von der NPD keine Gefahr für die
Demokratie ausgehe. In der „Berliner Zeitung“ vom
26. April 2000 warnte er vor unbedachten Schnellschüssen und wies Forderungen nach einem Verbot rechtsextremer Parteien zurück.
Erst nach einer Reihe rechtsextremistischer Anschläge - ich erinnere an den Düsseldorfer Sprengstoffanschlag - wurde die Debatte über ein NPD-Verbot lebhafter. Auf einmal forderte der bayerische Innenminister
ein NPD-Verbot. Es gab auch Widerspruch: Brandenburgs Innenminister Schönbohm fand die Gründe für ein
NPD-Verbot nicht ausreichend, Frau Künast bezeichnete
das Verbotsverfahren laut „FAZ“ vom 11. Oktober 2000
als absoluten Quatsch, und die FDP war immer gegen
ein Verbot der NPD. Dass es überhaupt zu einem Verbotsantrag kam, haben wir dem damaligen Kanzler
Schröder zu verdanken, der seine Kampagne „Aufstand
der Anständigen“ initiierte und davon sprach, dass das
Verbot ein Stück politischer Hygiene bedeute. Danach
setzte ein kampagnenartiger, hektischer Aktionismus
ein. Genau das war das Problem.
Ich behaupte hier und heute, dass die damalige Bundesregierung nie ernsthaft daran interessiert war, die
NPD zu verbieten. Sie wollte lediglich Aktivitäten vortäuschen. Herr Schily war von der großen Sorge erfasst,
dass sein Kontrahent, Herr Beckstein, bei diesem Thema
die Meinungsführerschaft erhält. Deshalb wurden in der
Hektik elementare Fehler bei der Erstellung des Verbotsantrags gemacht.
Die Öffentlichkeit hatte den Eindruck, dass man nicht
mehr wusste, ob die NPD von V-Männern oder von ihren
eigenen Leuten geführt wird. Jeder siebte NPD-Funktionär stellte sich als bezahlter staatlicher Verfassungsschutzmann heraus.
({1})
- Doch, das ist wohl wahr.
Die schlampige Arbeit des Bundesinnenministeriums
ist umso bedauerlicher, als es im Bundestag von Ende
2000 bis 2001 eine breite politische Übereinstimmung
gab. Im Kern waren sich alle Parteien einig, dass es der
Staat nicht hinnehmen dürfe, dass „unter dem Schutz des
Parteienprivilegs neonazistisches Gedankengut gefördert“ werde. In einem Antrag aller Parteien sprach man
sich im März 2001 gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt aus. In einer
Drucksache vom 1. März 2002 sprach sich auch die
Fraktion der CDU/CSU für ein Verbot der NPD aus.
Heute macht die Bundesregierung einen großen Bogen
um das Thema NPD-Verbot.
Die NPD provoziert im Landtag von Sachsen einen
Skandal nach dem anderen. Ein NPD-Abgeordneter ging
in Mecklenburg-Vorpommern mit einem „Totschläger“
in den Landtag. Ich fordere Frau Bundeskanzlerin
Merkel auf, das NPD-Verbot zur Chefinsache zu machen. - Leider ist sie nicht hier. Das ist schade. Man
sieht allerdings, dass die Regierungsbank sowieso relativ
schwach besetzt ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat einen klaren Weg
aufgezeigt, wie es zu einem Verbot kommen kann. V-Leute
in der NPD müssen abgezogen werden; denn sie sind für
nichts notwendig. Entscheidende Erkenntnisse werden
über sie nicht erlangt. Das wird durch die Antworten der
Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linksfraktion bewiesen. Es ist ein Armutszeugnis, dass auf viele
Fragen an die Regierung mit einem lapidaren „Dazu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.“ geantwortet wird.
Man kann grundsätzlich nicht mit Agentenmethoden
gegen Parteien vorgehen. Parteien sind öffentlich. Deshalb muss eine nichtstaatliche Organisation Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beobachten. Durch eine Analyse der NPD-Beweise wird
deutlich, dass ausreichend Anlass besteht, ihre Verfassungstreue zutiefst zu bezweifeln.
Wir sind uns sicherlich einig, dass durch ein Verbot allein rechtsextremes und fremdenfeindliches Gedankengut nicht aus den Köpfen der Menschen getrieben wird.
Das muss politisch gelöst werden. Wir müssen uns auf
den Leitsatz „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein
Verbrechen“ einigen. Mit dem NPD-Verbot bekämen wir
ein Instrument in die Hand, um die menschenfeindlichen
Theorien und Zielsetzungen des Faschismus aus den
Köpfen zu bekommen.
({2})
Für die NPD und ihre Anhänger darf nicht das demokratische Gebot der Meinungsfreiheit gelten. Die NPD
ist nicht gestärkt aus dem gescheiterten Verbotsverfahren
hervorgegangen; sie nutzt einfach ihre Möglichkeiten
und kann mit öffentlichen Geldern weiter ihr Unwesen
treiben.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
Mein Appell an die Bundesregierung lautet: Wenn Sie
es mit dem Verbot im Jahre 2000 wirklich ernst meinten,
dann handeln Sie jetzt rechtsstaatlich. Schaffen Sie die
Voraussetzungen für ein zweites NPD-Verbotsverfahren!
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man als letzter Debattenredner das Wort ergreifen
darf, dann hat man zwei Vorteile: Erstens kann einem
anschließend nicht widersprochen werden - wozu es,
wie ich annehme, wahrscheinlich auch keinen Grund geben wird. Zweitens hatte man Gelegenheit, die ganze
Debatte zu verfolgen. Somit muss ich mich nicht mit einem fertigen Manuskript hier hinstellen, sondern kann
vielleicht das eine oder andere, was heute ausgeführt
worden ist, aufgreifen.
Ich glaube, dass wir alle miteinander eindeutig feststellen müssen: Rechtsextremismus ist organisierte Menschenfeindlichkeit. Deshalb ist Rechtsextremismus immer eine latente Herausforderung und Gefahr für die
Demokratie, der wir unsere volle Aufmerksamkeit widmen müssen.
({0})
Das heißt nicht zuletzt: Wenn wir uns mit der Frage
beschäftigen, welche Strategien es gegen Rechtsextremismus - seine Erscheinungsformen, aber auch sein
Entstehen - gibt, dann kommt es auf drei Komponenten
an. Eine Komponente besteht unzweifelhaft darin, dass
wir den Konsens zwischen den Demokratinnen und Demokraten brauchen, dass rechtsextremistisches Verhalten und das Wählen rechtsextremistischer Parteien völlig
inakzeptabel sind.
Ich habe manche Äußerungen mit einem etwas unguten Gefühl vernommen, die darauf hindeuteten, dass
Linksextremismus gegen Rechtsextremismus aufgewogen werden soll; die Fraktionen machen sich gegenseitig
Vorwürfe. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Wir
müssen vielmehr den demokratischen Grundkonsens,
der seit Ende des Zweiten Weltkrieges besteht, auch im
21. Jahrhundert bewahren. Dazu gehört auch, das Thema
nicht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das sollten
wir auch in diesem Haus berücksichtigen.
({1})
Mir macht beim Thema Rechtsextremismus ein Phänomen am meisten Sorge, das auch in der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage erheblichen
Raum einnimmt. Rechtsextremismus in Deutschland ist
seit zehn bis 15 Jahren davon geprägt, dass zunehmend
junge Menschen damit in Erscheinung treten. In der Mitgliederstruktur der NPD als radikalste rechtsextremistische Partei in Deutschland liegt das Durchschnittsalter
bei Anfang 30. Wir müssen also davon ausgehen, dass
uns das Thema weiter beschäftigen wird.
Vor allen Dingen müssen wir berücksichtigen, dass es
Rechtsextremisten in der Vergangenheit zunehmend gelungen ist, ihren Nachwuchs aus den heranwachsenden
Generationen zu rekrutieren. Wenn wir keine gemeinsamen Ansätze formulieren können, um dem Rechtsextremismus zum Beispiel dort mit Alternativangeboten entgegenzuwirken, wo es an Jugendarbeit fehlt oder sie
nicht funktioniert oder wo möglicherweise in der Vergangenheit Entscheidungen von einer falschen Prioritätensetzung in den Kommunen geprägt waren, dann perpetuieren wir das Problem, und dann wird es noch
stärker an Bedeutung gewinnen.
Was heißt das im Hinblick auf Gegenstrategien? Es
war viel von Verboten die Rede, worauf ich auch noch
eingehen werde; aber das ist für mich nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr ist neben der Intervention die
Frage der Vorbeugung von entscheidender Bedeutung.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns in diesem
Land gemeinsam an eines erinnern müssen - das haben
wir aus der deutschen Geschichte gelernt -: Demokratie
lässt sich nicht vererben, und sie ist auch keine Errungenschaft, die für ewige Zeiten als garantiert betrachtet
werden kann. Vielmehr muss Demokratie nicht nur bewahrt, sondern auch weitergegeben werden. Sie muss
von jeder Generation aufs Neue gelernt werden.
Wenn wir es schaffen, Kindern und Jugendlichen auf
dem Weg zum Staatsbürger so viel stabilisierende Hilfe
zu gewähren, dass sie irgendwann die Werte verinnerlichen und es nicht nötig haben, die Würde anderer in den
Dreck zu ziehen, um sich des eigenen Selbstbewusstseins zu vergewissern, dann haben wir den entscheidenden Schritt gegen jede Art von Extremismus, insbesondere aber gegen den Rechtsextremismus, geleistet.
({2})
In der Hinsicht sind wir auf Bundesebene in der Tat
ein Akteur, aber nicht der einzige. Wir brauchen die anderen staatlichen Ebenen - die Länder und die Kommunen -, aber auch die Zivilgesellschaft: die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Kirchen, die
Sozialverbände und die vielen Initiativen und Projekte,
die sich in diesem Bereich vorbildlich engagieren und
die man mit ihrer Arbeit nicht alleinlassen darf. Wir
brauchen ein Bündnis gegen Rechtsextremismus, das sowohl die staatlichen als auch die privaten Akteure in unserem Lande umfasst.
Ich bin stolz darauf, dass wir es in der Großen Koalition geschafft haben, die Mittel des Bundesprogramms
signifikant - von 19 Millionen Euro auf mittlerweile
24 Millionen Euro pro Jahr - zu erhöhen. Ich gebe zu,
dass das nicht leicht war, aber eine Große Koalition hat
auch gelegentlich den einen oder anderen pädagogischen
Effekt. Ich freue mich sehr darüber, dass auch die Unionsfraktion letzten Endes die Vorschläge der Sozialdemokraten als vernünftig anerkannt und ihnen zugestimmt hat.
Wir müssen sehen, wie sich dieses Programm bewährt. Es ist kritisiert worden, dass die Mittel nur dann
verausgabt werden können, wenn die Kommunen zugestimmt haben. Es wurde die Frage aufgeworfen, wie man
mit Kommunen verfahren soll, in denen das Problembewusstsein nicht hinreichend ausgeprägt ist. Wir müssen
bei der Umsetzung des Programms darauf achten, ob im
Einzelfall nachgesteuert werden muss. Grundsätzlich
halte ich es aber für ausgesprochen sinnvoll, darauf zu
achten, dass die Initiativen und Projekte, die vom Bund
unterstützt werden, auf Dauer auch kommunal verankert
sind, akzeptiert und mitgetragen werden. Dort, wo es
Kommunikationsschwierigkeiten gibt, sollten wir behilflich sein, und zwar nicht zuletzt über das Familienministerium.
({3})
Ich will noch etwas - weil das in der Debatte eine gewisse Rolle gespielt hat - zum Thema Intervention sagen, also dazu, was wir dort tun, wo Rechtsextremismus
bereits entstanden ist. Priorität hat für mich, das Entstehen einer Gesinnung zu verhindern. Das ist neben der
Ächtung einer Gesinnung das Beste, was wir machen
können, wenn es um die rechtsextremistische Ideologie
geht. Ich bin der Auffassung, dass wir in der Vergangenheit einen guten Weg gegangen sind, eine vernünftige
Balance gefunden haben. In Zukunft wird es vermehrt
darauf ankommen, sicherzustellen, dass Straftaten zügig
aufgeklärt werden, dass Prozesse zügig stattfinden, dass
es keine Toleranz gegenüber Rechtsextremisten gibt.
Wir müssen darauf achten, dass die Behörden, wenn eine
Demonstration nicht verboten werden kann, den Veranstaltern Auflagen machen, um ihnen das Agieren zu erschweren und den Aktionsradius, den sie in Anspruch
nehmen wollen, einzuengen.
Wir sollten zu gegebener Zeit überlegen, ob wir Konsequenzen aus dem ziehen, was dankenswerterweise die
Justizministerin im April auf europäischer Ebene ausgehandelt hat. Es gibt einen Rahmenbeschluss der Justizminister der Europäischen Union, wonach der Richter
den Strafrahmen bei einer fremdenfeindlichen bzw. rassistisch motivierten Straftat höher ansetzen kann als ursprünglich im Gesetz vorgesehen. Ich gebe zu bedenken,
dass wir sehr sorgfältig prüfen sollten, ob der Staat in
solchen Straftatbereichen, in denen ein besonderer Unrechtsgehalt zu erkennen ist, im Hinblick auf die Präventivwirkung ein höheres Strafmaß als bisher einräumt.
Zum Thema NPD-Verbot. Ich will ganz freimütig sagen: Wenn ein NPD-Verbot erreicht werden könnte, gäbe
es, glaube ich, nur wenige Menschen in diesem Land,
die sich nicht darüber freuten. Die NPD hat in den letzten Jahren zunehmend die Kooperation mit der rechtsextremistischen Szene systematisch ausgebaut. Sie ist
sozusagen Schirmherrin für viele Demonstrationen und
Veranstaltungen. Ich bin sehr dafür, dass wir uns damit
intensiv beschäftigen. Aber wir sollten den Weg eines
NPD-Verbots nur gehen, wenn er absehbar von Erfolg
gekrönt ist. Wir sollten nicht mit dem Kopf gegen die
Wand rennen. Das Prüfungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Aber so gut es wäre, die Infrastruktur der
Rechtsextremisten durch ein NPD-Verbot ein Stück weit
zu zerschlagen: Wir können eine Partei verbieten, nicht
aber eine Gesinnung. Wir können eine Gesinnung ächten
und ihre Entstehung vielleicht präventiv verhindern; das
müssen wir Demokraten gemeinsam machen. Das muss
unser vorderster Ansatz bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus sein.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4631 mit dem
Titel „V-Leute in der NPD abschalten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP und des fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen der Linken
und gegen die Stimme von Herrn Winkelmeier abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 23 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4807 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen
zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksache 16/5240 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sprechen nun über den von den Fraktionen
der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines
Zuteilungsgesetzes für die Periode 2008 bis 2012 als Teil
des Emissionshandels, der ein Instrument des Klimaschutzes in Deutschland ist. Die gute Nachricht vorweg:
Wenn wir an den Grundzügen des Zuteilungsgesetzes
festhalten, dann erreichen wir, dass Deutschland sein
Klimaschutzziel 2012 übertreffen wird. Wir werden
also mehr als 21 Prozent der Treibhausgasemissionen im
Vergleich zu 1990 reduzieren können. Das ist gut so. Wir
haben uns vorgenommen, den CO2-Ausstoß bis 2020 um
40 Prozent zu reduzieren. Das ist ein anspruchsvolles
Ziel. Es ist gut, wenn wir bereits jetzt Schwung holen,
um das höhere Ziel - Reduzierung um 40 Prozent - zu
erreichen, das von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgeschlagen worden ist, damit der Klimawandel einen akzeptablen Umfang einnimmt.
({0})
Die Reaktion darauf ist, dass wir an den Grundzügen
festhalten werden: Mit der SPD wird es keine Aufweichung der Grundzüge des Zuteilungsgesetzes für die Periode von 2008 bis 2012 geben.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu regeln sind. So
ist das immer, wenn man Gesetzentwürfe ins Parlament
einbringt: Nie kommt ein Gesetzentwurf so aus dem ParUlrich Kelber
lament heraus, wie eine Regierung ihn eingebracht hat.
Das ist auch gut so. Die Hauptfrage, die wir stellen müssen, lautet: Werden wir die CO2-Emissionsrechte weiterhin kostenlos an die Unternehmen vergeben, oder werden wir die europäische Rahmenrichtlinie, nach der
wir bis zu 10 Prozent der Zertifikate verkaufen oder versteigern können, nutzen?
Die SPD will diesen Spielraum nutzen: Wir wollen
Zertifikate verkaufen oder versteigern. Dafür gibt es einen Grund: Wir haben feststellen müssen, dass eine
Reihe von Unternehmen insbesondere aus der Energiebranche zwar kostenlos die Zertifikate erhalten haben,
aber den Verkaufspreis gegenüber den Kundinnen und
Kunden so gestaltet haben, als hätten sie sie bezahlt. Sie
sagen nämlich: Wir hätten die Zertifikate auch zum
Marktpreis verkaufen können. Dann ist es aber nur gerechtfertigt, dass wir den Unternehmen einerseits weniger Zertifikate zuteilen - auch dafür sorgen wir mit dem
Zuteilungsgesetz - und dass die Unternehmen andererseits für möglichst viele der restlichen Zertifikate, die sie
erhalten, den Preis bezahlen, den sie den Kundinnen und
Kunden in Rechnung stellen.
Mit diesem Geld können wir etwas sehr Sinnvolles
machen: Wir können den Menschen helfen, ihren Energieverbrauch zu reduzieren und damit ihre Energierechnung nachhaltig zu senken. Davon profitieren die Privathaushalte und die kleinen und mittleren Unternehmen,
die im Augenblick hohe Kosten haben.
So erreicht man mit dem Emissionshandel mehrere
Ziele: Erstens. Er hilft uns, unsere Klimaschutzziele zu
erreichen. Zweitens. Wir finanzieren damit weitere Klimaschutzinstrumente. Drittens. Er schafft Arbeitsplätze.
Es ist sinnvoller, in Jobs zu investieren als in Brennstoffe. Viertens. Er hilft, die Volkswirtschaft zu entlasten; denn mit einer solchen Reduzierung des Energieverbrauchs senken wir dauerhaft die Rechnungen.
Deswegen sollten wir das Zuteilungsgesetz 2012
stringent durchsetzen. Wenn es möglich ist, sollten wir
es im Zuge der Parlamentsberatungen noch verbessern
und bereits jetzt sagen, was wir ab 2013 tun wollen. Wir
möchten, dass dann EU-weit alle Zertifikate versteigert
und verkauft werden. Wir wollen ein nachhaltiges Finanzierungsinstrument für Klimaschutzmaßnahmen und für
die Steigerung der Energieeffizienz bei der Einführung
neuer Technologien bei uns und in den Ländern, die
schon heute am meisten unter dem Klimawandel leiden,
nämlich in den Ländern des Südens. Sie hatten nur einen
geringen Anteil an der Emission der Treibhausgase;
heute haben sie aber bereits die größten Probleme. Wir
sollten schon heute ein Signal setzen und sagen: Investiert so, dass ihr euch mit eurer Technologie auch nach
2012 mit weniger Treibhausgasemissionsrechten gut am
Markt behaupten könnt. Dieses Signal sollte heute von
dieser Debatte an die Unternehmen gehen.
({1})
Der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument im
Klimaschutz; aber er ist nicht das einzige Instrument.
Wir werden über die Novelle des Erneuerbare-EnergienGesetzes - eine der Erfolgsstorys deutscher Gesetzgebung - sprechen. Wir müssen über ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und über die Förderung der KraftWärme-Kopplung sprechen. Wichtig ist natürlich der gesamte Bereich der Energieeffizienz.
In den letzten Wochen gab es einen Wettlauf um die
hehrsten Ziele im Klimaschutz. Ich fand spannend, was
zum Beispiel im Strombereich gefordert wurde: Der Minister sagte, er wolle bis 2020 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 27 Prozent erreichen. Dann haben
die Grünen gesagt, dass ein Anteil von mindestens
30 Prozent möglich sei. Ein Entwurf der Grundsatzprogrammkommission der CDU enthielt die Forderung
nach einem Anteil von 35 Prozent. Wahrscheinlich hat
die FDP gesagt: Wenn wir unsere Art der Förderung umsetzen würden, könnte auch ein Anteil von 40 Prozent
erreicht werden, weil der Markt viel stärker agieren
würde. Ich finde all das gut; ich habe mich als Umweltpolitiker über diesen Wettlauf gefreut. Ich möchte jetzt
bitten, dass wir einen zweiten Wettlauf beginnen: einen
Wettlauf um die Umsetzung der entsprechenden Klimaschutzinstrumente. Der hehre Wettlauf um Prozente liegt
nun nämlich hinter uns.
({2})
Da muss man etwas öffentlich sagen, was die SPD ab
jetzt immer wieder öffentlich sagen wird - es bleibt nicht
mehr hinter verschlossenen Türen -: Der Wettlauf um
die Instrumente hat nicht begonnen; wir warten seit
18 Monaten darauf, dass unser Koalitionspartner mit uns
über ein Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz verhandelt.
({3})
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, obwohl
wir nicht diejenigen sind, die das tun sollten. Nicht einmal über diesen Gesetzentwurf wird verhandelt. Wir
warten seit sechs Monaten auf die Reaktion auf unsere
Vorschläge zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.
Ich höre die Reden, dass man das auch wolle. Warum
können wir nicht darüber verhandeln?
Wir werden das ab jetzt bei jeder Gelegenheit erwähnen, bis Sie von der Union die Verhandlungen mit uns
beginnen.
({4})
Wir werden bis zur Sommerpause weitere Gesetzentwürfe zu Klimaschutzinstrumenten vorlegen. Wir verlangen eine Verhandlung in der Großen Koalition darüber.
Es kann nicht sein, dass die Kanzlerin auf den EU-Gipfeln mit Überzeugung unsere Klimaschutzziele vertritt,
während die Fraktion der Kanzlerin die Verhandlungen
über entsprechende Instrumente verweigert. Diesen
Missstand werden wir - auch wenn wir gemeinsam eine
Koalition bilden - ab jetzt immer öffentlich erwähnen.
({5})
Das tun wir vor allem deswegen, weil die Instrumente
so klar auf dem Tisch liegen.
Für den Energiegipfel im Juli sind drei Szenarien
durchgerechnet worden. Bei allen Szenarien steht die
Energieeffizienz im Mittelpunkt. Dann lassen Sie uns
an der Energieeffizienz arbeiten! In allen Szenarien ist
der Ausbau der erneuerbaren Energien der nächste große
Schritt. Also lassen Sie uns über ein Erneuerbares-Energien-Wärmegesetz sprechen! In allen Szenarien hat die
Erneuerung des Kraftwerksparks einen hohen Stellenwert. Deswegen muss man im Emissionshandel Druck
machen, damit die alten Kraftwerke durch neue ersetzt
werden. Mit diesen Szenarien ist auch regierungsamtlich, dass die Atomkraft für den Klimaschutz keine
Rolle spielt. Es wurde immer gesagt, man möge erklären, wie der Klimaschutz ohne Atomkraft zu schaffen
sei. Jetzt zeigen zwei Szenarien, dass eine CO2-Reduzierung um 40 Prozent ohne Atomenergie möglich ist. Es
ist jetzt regierungsamtlich, dass es geht, mit der Unterschrift des Kanzleramtes und mit der Unterschrift des
Wirtschaftsministers. Das ist gut. Es gibt keinen Kostenvorteil, und es gibt keinen Klimaschutzvorteil. Es gibt
nur ein größeres Risiko für die Menschen in diesem
Land. Ich bin nicht bereit, Schrottreaktoren wie Biblis A
bis 2020 laufen zu lassen,
({6})
die man nicht gegen Terrorangriffe schützen kann. Wir
wissen jetzt, dass es anders geht. Keiner kann mehr behaupten, er wisse nicht, wie man es machen kann. Alle
Fakten liegen auf dem Tisch. Jetzt brauchen wir den
Wettlauf in der Koalition und im Parlament, um die besten Klimaschutzinstrumente einzuführen.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Kauch,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
Herrn Kelber ausgesprochen dankbar dafür, dass er deutlich gemacht hat, welch ein Chaos in dieser Koalition
herrscht, wenn es darum geht, nicht nur Überschriften zu
produzieren, sondern zu handeln und Klimaschutz tatsächlich im Parlament umzusetzen.
({0})
Ich finde es auch ausgesprochen interessant, dass Sie,
Herr Kollege, Biblis A als Schrottreaktor bezeichnen.
Ich frage mich, warum Ihr Umweltminister, der für die
Sicherheit der Reaktoren zuständig ist, einen Schrottreaktor nicht abschaltet. Oder ist das, was Sie angesprochen haben, vielleicht nur Rhetorik?
({1})
Ich möchte jetzt über das Zuteilungsgesetz reden,
über das wir heute debattieren sollen. Ich frage mich,
wie ernst die Bundesregierung eigentlich ihre eigenen
Klimaschutzziele nimmt; denn wir haben einen Widerspruch zwischen dem, was medial verkündet wird, und
dem, was wir tatsächlich hier auf dem Tisch liegen haben. Wie will diese Koalition eigentlich eine Minderung
des CO2-Ausstoßes von 40 Prozent oder auf lange Sicht
gar 80 Prozent erreichen, wenn sie den Brennstoff Kohle
weiter so bevorzugt, wie sie das mit diesem Gesetzentwurf tut?
({2})
Auch bei der Gesamtmenge stellen sich einige Fragen.
Der Minister hat mehrfach festgestellt, dass in der vergangenen Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 zu viele Zertifikate ausgegeben wurden. Er hat gesagt, was passiert
ist, nämlich dass der Börsenpreis so tief in den Keller gegangen ist, dass keine Investitionsanreize mehr vorhanden sind. Das ist eine richtige Analyse, aber ich frage
mich, wer denn in diesem Land regiert hat, als der Entwurf für dieses Gesetz vorgelegt wurde. Das war die
SPD, und deshalb ist es jetzt scheinheilig, wenn Sie sich
auf den Standpunkt zurückziehen, dass das wohl ein
Fehler gewesen ist, wenn nicht gleichzeitig entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Diese Konsequenzen hat der Minister nicht selbst ziehen wollen.
Das Emissionsbudget, das die Bundesregierung zunächst bei der EU-Kommission angemeldet hat, war zu
hoch. Die Kommission hat der Koalition die Rote Karte
gezeigt. Dass wir jetzt ein Emissionsbudget haben, das
den Klimaschutzzielen der Europäischen Union entspricht, ist einzig und allein das Verdienst der Europäischen Kommission und nicht dieser Bundesregierung.
({3})
Kommen wir zum Stichwort Kohleprivilegierung.
Auch hier musste die EU-Kommission eingreifen, damit
die Bundesregierung nicht ein Klimaschutzverhinderungsprogramm beschließt. Die Koalition aus CDU/
CSU und SPD hatte zunächst einmal vorgesehen, dass
neue Kohlekraftwerke 14 Jahre lang von weiteren Minderungsverpflichtungen ausgenommen werden sollten.
Allein dem Einspruch der EU-Kommission gegen diesen
Nationalen Allokationsplan ist es zu verdanken, dass
diese unglaubliche Privilegierung der Kohle beendet
wurde.
Wenn wir uns anschauen, was die Bundesregierung
uns hier vorlegt, dann sehen wir, dass das, was der Minister als großen Erfolg verkauft - dass es kein SonderBenchmark für die Braunkohle gibt -, zwar tatsächlich
im Gesetz verankert wird, dass es aber gleichzeitig eine
Regelung gibt, nach der die Stundenzahl für die Braunkohlekraftwerke höher angesetzt ist als die für die Steinkohlekraftwerke. Das Ganze ist eine Mogelpackung. Die
Braunkohleprivilegierung soll durch die Hintertür wieder eingeführt werden. Sie verstecken das allerdings geschickt, damit der Minister sein Gesicht wahren kann.
({4})
Wie ernst nimmt es eigentlich eine Bundesregierung
mit dem Klimaschutz, wenn ein Kohlekraftwerk mehr
als doppelt so viele Zertifikate wie ein Gaskraftwerk geschenkt bekommt? Die Bevorzugung der Kohle gegenüber dem Gas hat nichts mit Klimaschutz zu tun,
sondern ausschließlich mit der Bedienung von Lobbyinteressen, in diesem Fall mit der Bedienung der Interessen bestimmter Stromkonzerne.
({5})
Der Lobbyismus, der den Emissionshandel in Misskredit bringt, muss beendet werden. Wir müssen so
schnell wie möglich zur Versteigerung der Emissionszertifikate kommen, damit nicht der Staat, sondern der
Markt entscheidet, wer wie viele Zertifikate bekommt.
Um Erfahrungen zu sammeln, müssen wir ab 2008 damit
beginnen, das zu tun, was EU-rechtlich zulässig ist,
nämlich 10 Prozent zu versteigern.
Hier gibt es eine paradoxe Lage. Jetzt plötzlich
spricht sich auch der Umweltminister für eine Versteigerung aus. Monatelang hat er uns hier im Parlament das
Märchen erzählt, dass die Strompreise bei einer Versteigerung steigen. Alle Volkswirte sagen ganz klar: Die
Zertifikate, ob geschenkt oder versteigert, sind und werden in die Strompreise eingepreist. Wenn sich der Umweltminister endlich nicht mehr gegen den geballten
Sachverstand sperrt, dann könnte man sagen: Die Einsicht kam - besser spät als nie!
({6})
Aber welche Konsequenz zieht das Kabinett? Herr
Gabriel hat im Kabinett Hand in Hand mit dem Wirtschaftsminister Glos einen Plan verabschiedet, der kostenlose Zertifikate, also Geschenke für die Industrie,
vorsieht. Statt in der Regierung für die Position, dass
man versteigern muss, zu kämpfen, geht der Minister lieber in den Zoo, streichelt für das Klima einen kleinen
Eisbären und überlässt die Arbeit den Abgeordneten dieses Deutschen Bundestages. Das ist ein Armutszeugnis
für einen Umweltminister.
({7})
Da der Minister offensichtlich nicht in der Lage ist,
etwas zu bewegen, freue ich mich, dass Herr Kelber hier
ankündigt, dass die Kolleginnen und Kollegen der
Koalition die Angelegenheit in die Hand nehmen. Ich
hoffe, dass es nicht bei Ankündigungen bleibt. Die Bundesregierung hat einen Plan vorgelegt, der keine Versteigerungen vorsieht. Jetzt oder nie haben Sie die Chance,
Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Der Deutsche Bundestag und nicht die Bundesregierung ist der Gesetzgeber in diesem Land. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie
mit uns dafür, dass es zur Versteigerung kommt, und beenden Sie die milliardenschweren Geschenke für die
Energieversorger in diesem Land!
({8})
Bemerkenswert finde ich es aber, dass Herr Kelber
gesagt hat, das sei ein neues Instrument zur Finanzierung vieler schöner Projekte, die die SPD sich so vorstellt.
({9})
- Das haben Sie hier gerade vorgeschlagen. - Ich kann
Ihnen nur sagen: Die FDP möchte mit dem Geld, das wir
durch die Versteigerung einnehmen, die Strompreise
senken. Das ist dadurch möglich, dass wir die Stromsteuer ebenfalls senken. Mit anderen Worten: Wenn die
Stromsteuer gesenkt wird, dann werden die Strompreise
nicht steigen, wie uns Herr Gabriel monatelang erzählt
hat, sondern sinken. Das Geld gehört den Bürgerinnen
und Bürgern in diesem Land und nicht dem Finanzminister Peer Steinbrück.
Anstatt den Emissionshandel kostengünstig und gerecht zu gestalten, ist dieses Instrument mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung geprägt von
Sonderregelungen und Verteilungskämpfen. Der von der
Bundesregierung vorgelegte Nationale Allokationsplan
ist ein Paradebeispiel für eine Politik der verpassten
Chancen: zu wenig Markt, zu viel Lobbyismus.
Zu wenig Markt, zu viel Lobbyismus, das ist der Weg,
den Sie mit dem Emissionshandel in Deutschland weiter
einschlagen. Wir werden diesen Entwurf ablehnen, solange er keine Versteigerung vorsieht und solange Sie
die Braunkohle in Deutschland gegen jede ökologische
Vernunft durch die Vergabe der Zertifikate quersubventionieren.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte eingangs auf die Debatte zurückkommen, die
wir vor zwei Wochen zu der Regierungserklärung von
Herrn Minister Gabriel zum Klimaschutz geführt haben.
Ich persönlich - ich weiß, dass diese Einschätzung von
vielen in diesem Haus geteilt wurde - empfand diese Debatte als sehr wohltuend.
Insbesondere habe ich es als positiv empfunden, dass
sich ein sehr großer Konsens darüber abgezeichnet hat,
dass der Klimaschutz die globale Herausforderung in unserem Jahrhundert ist, dass wir als Europäische Union
und als Bundesrepublik eine Vorreiterrolle dabei spielen
wollen und die Bundeskanzlerin in diesem Bemühen unterstützen und dass wir diese Vorreiterrolle auch im nationalen Rahmen nicht nur in Worten, Ankündigungen
und der Übernahme von Verpflichtungen zum Ausdruck
bringen, sondern auch durch ganz konkretes Handeln.
Andreas Jung ({0})
Ich bin der Überzeugung, dass die Große Koalition sich
mit dem, was sie geleistet und schon auf den Weg gebracht hat, überhaupt nicht zu verstecken braucht.
({1})
Wir haben das Gebäudesanierungsprogramm der
rot-grünen Regierung nicht nur übernommen, nicht nur
verdoppelt oder verdreifacht, sondern mehr als vervierfacht und leisten damit einen unglaublichen Beitrag zur
Reduktion von CO2 und damit zum Klimaschutz.
({2})
Wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht infrage gestellt. Wir machen bei den regenerativen Energien nicht nur genauso viel wie die vorherige Regierung,
wir haben schon jetzt die Förderung für regenerative
Wärme aufgestockt. Wir befinden uns jetzt - darauf hat
Herr Kelber hingewiesen - in der Diskussion, wie wir
dabei noch weiter vorankommen können. Beide Koalitionspartner und alle Beteiligten haben den erklärten
Wunsch, voranzukommen und noch mehr zu tun als in
der Vergangenheit.
({3})
Deshalb, lieber Herr Kelber, rate ich zur Gelassenheit in
dieser Diskussion. Wir müssen uns nicht verstecken.
Wir verfolgen - damit bin ich bei unserem Thema auch beim Emissionshandel ambitionierte Ziele. Es ist
wahr, worauf Herr Kauch hingewiesen hat. Das Zwischenergebnis, über das wir heute diskutieren, ist das
Resultat von Diskussionen und Verhandlungen, auch mit
der Europäischen Union. Minister Gabriel hat gesagt,
alle Beteiligten - ich glaube, da kann sich keine Fraktion
ausnehmen - hätten einen Lernprozess durchgemacht.
Wenn wir uns das Ergebnis ansehen, können wir aber sagen: Wir nehmen die Herausforderung an! Ich will das
an drei konkreten Punkten belegen.
Erstens. Entscheidend ist die Menge an CO2, die in
Deutschland ausgestoßen werden darf, und die Zahl der
Zertifikate, die verteilt werden. Da gibt es eine ganz erhebliche Reduktion gegenüber der letzten Emissionshandelsperiode. Wir haben ein Ergebnis, bei dem niemand
bestreitet, dass wir damit unsere Kiotoverpflichtungen
erfüllen werden. Herr Kelber sagt sogar, wir gingen damit über unsere Kiotoverpflichtungen hinaus und leisten
mehr als die 21 Prozent Reduktion, die wir leisten müssen. Gerade das belegt doch, dass wir unserer Vorreiterrolle gerecht werden und am Ende dieser Emissionshandelsperiode im Jahre 2012 Vollzug melden können in
Bezug auf unsere Verpflichtungen.
({4})
Zweitens. In der letzten Periode gab es in dem von
Minister Trittin verantworteten Entwurf - um das auch
dazuzusagen - die Regelung, dass Neuanlagen über
14 Jahre und länger von jeglichen Reduktionspflichten
ausgenommen würden. Da kann man die Frage stellen,
ob es richtig ist, damit einen Status quo zu zementieren
bis ins Jahr 2020, für das wir uns als Koalition ambitionierte Ziele gesetzt haben. Wir haben nämlich gesagt,
dass wir bereit sind, unsere Emissionen bis dahin um bis
zu 40 Prozent zu reduzieren. Es stellt sich die Frage, ob
das gelingen kann.
In dem Entwurf findet sich jetzt eine andere Regelung. Man hat - auch nach den Diskussionen mit der Europäischen Union - daran nicht festgehalten. Wir haben
jetzt ein Benchmark-System. Das Benchmark-System
ist ein intelligentes System, weil es nicht einen Status
quo zementiert, sondern jeden Betreiber und jede Anlage
dazu zwingt, immer auf dem aktuellen Stand der besten
Technik zu sein.
Dadurch entsteht der Zwang, alte Kraftwerke durch
neue zu ersetzen. Dadurch entsteht der Zwang, mit der
Technik zu gehen. Dadurch wiederum können wir das
herbeiführen, was wir in Deutschland brauchen, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen: eine Innovationsoffensive.
Eine WWF-Studie kam zu dem Ergebnis, dass sechs
der zehn schmutzigsten Kohlekraftwerke, die es in
Europa gibt, in Deutschland stehen. Ich bin überzeugt,
der Nationale Allokationsplan wird dazu beitragen, dass
sich diese Situation ändert.
({5})
Insbesondere das Benchmarksystem hat zur Folge, dass
man darüber nachdenkt: Wie kann man besser werden?
Wie kann man mehr als bisher mit dem technischen
Fortschritt gehen? Ist es nicht richtig, alte Anlagen durch
neue zu ersetzen? Diese Entwicklung wird durch die
Einführung eines Effizienzfaktors zusätzlich verstärkt,
da dieser dazu führt, dass alte Anlagen bei der Zuteilung
schlechter als neue Anlagen ausgestattet werden. Dadurch werden Anreize für Innovationen und neue Technologien geschaffen.
({6})
Als dritten Punkt möchte ich die Möglichkeit ansprechen, die Projekte CDM und JI im Rahmen des Emissionshandels viel stärker zum Einsatz zu bringen, als es
bislang der Fall war. Wir haben in unserem Gesetzentwurf die Möglichkeit vorgesehen, dass bis zu 20 Prozent
der Reduktionsverpflichtungen eines Unternehmens
durch Maßnahmen in Entwicklungsländern erbracht
werden können. Ich finde, dieser Schritt ist richtig. Denn
dadurch leisten wir einen großen Beitrag zu effizientem
Klimaschutz. Es geht um die Frage, durch welche Maßnahmen man mit möglichst geringem Einsatz möglichst
viel für die Umwelt und das Klima tun kann. Das ist
auch ein Beitrag zur Entwicklungshilfe und zum Export
erneuerbarer Technologien sowie erneuerbarer Energien.
Damit kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, ein
weltweites Klimaschutzsystem zu errichten, einen
Schritt näher.
Ich habe drei Gründe angesprochen, weshalb ich
schon jetzt der Überzeugung bin, dass dieser Gesetzentwurf eine gute Grundlage ist. Nun möchte ich noch einen weiteren Punkt ansprechen, der mir wichtig ist. Ich
bin der Meinung, dass wir als Parlament so selbstbeAndreas Jung ({7})
wusst und mutig sein sollten, noch einen Schritt weiter
zu gehen und uns der Frage der Auktionierung nicht zu
verschließen. Es kann nicht richtig sein, dass die großen
Energieversorger einerseits die Profiteure des Emissionshandels sind, weil sie Zertifikate geschenkt bekommen,
und dass sie andererseits die potenziellen Kosten den
Verbraucherinnen und Verbrauchern und der Industrie in
Rechnung stellen. Genau das ist in der letzten Emissionshandelsperiode allerdings geschehen. Dem müssen wir
so weit wie möglich entgegenwirken. Minister Glos tut
dies mit seinen Vorschlägen zur Schaffung von mehr
Wettbewerb auf dem Energiesektor. Denn nur aufgrund
des fehlenden Wettbewerbs konnte es in Deutschland zur
Einpreisung durch die vier großen Energiekonzerne
kommen.
({8})
Im Rahmen unserer Möglichkeiten sollten wir auch
im Emissionshandel eine Auktionierung in Betracht ziehen. Von der Europäischen Union wurde die Möglichkeit geschaffen, bis zu 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Diese Chance sollten wir nutzen und in eine
Auktionierung einsteigen. Dies sollte dann in der nächsten Emissionshandelsperiode dazu führen - hier stimme
ich Herrn Kelber zu -, dass wir die Zertifikate zu
100 Prozent versteigern, was wir heute noch nicht dürfen.
Wir könnten also auch durch das Emissionshandelssystem einen Beitrag zu mehr Klimaschutz leisten, weil
die Zertifikate dadurch einen realen Wert bekommen
würden. Das könnte uns, was die Verwendung der Mittel
betrifft, die Möglichkeit eröffnen, weitere Maßnahmen
im Bereich des Klimaschutzes zu finanzieren. Diese Idee
sollten wir im Gesetzgebungsverfahren weiter verfolgen.
Das ist auch die Meinung meiner Kollegen. Ich schließe
mich Herrn Kelber an, der vorhin gesagt hat: Kein Gesetzentwurf verlässt den Bundestag so, wie er eingebracht worden ist. Meine Meinung jedenfalls ist, dass
wir diese Veränderung vornehmen sollten.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, indem ich
meinen Wunsch zum Ausdruck gebracht habe, dass die
Zertifikate in der nächsten Handelsperiode zu 100 Prozent versteigert werden, habe ich schon einen ersten
Ausblick über die gegenwärtige Handelsperiode hinaus
gegeben. Diesen Ausblick möchte ich noch etwas ausweiten. Es gibt immer noch große Bereiche, in denen
kein Emissionshandel stattfindet. Einer dieser Bereiche
muss in der nächsten Emissionshandelsperiode unbedingt integriert werden: der Flugverkehr. Auf diesem
Sektor ist ein rasanter Anstieg der CO2-Emissionen zu
verzeichnen. Wir wissen, dass CO2-Emissionen in dieser
Höhe sehr klimaschädlich sind. Außerdem ist eine Ungleichbehandlung der ökologisch sinnvollen Verkehrsmittel wie der Bahn und der ökologisch weniger sinnvollen Verkehrsmittel wie dem Flugzeug festzustellen.
Deshalb muss der Flugverkehr ab der nächsten Handelsperiode mit einbezogen werden. Das ist der erklärte
Wille unserer Fraktion und auch der Union in anderen
Parlamenten. Dieses Ziel verfolgt die Europäische
Union jetzt mit ganz konkreten Vorschlägen und Maßnahmen.
({10})
Ich will ein Weiteres und Letztes ansprechen. Wir tragen für alles, was wir hier tun, die Verantwortung. Wir
haben aber auch eine Verantwortung, die weit darüber
hinausgeht, eine globale Verantwortung. Staatssekretär
Müller hat in der Ausschusssitzung in dieser Woche von
der Sitzung des UN-Weltklimarats berichtet. Er hat gesagt, das Bemühen, andere Länder, auch Schwellenländer, in den Klimaschutzprozess einzubeziehen, würde
unter anderem an der Skepsis dieser Staaten scheitern.
Sie fragen sich: Ist das möglicherweise ein Mittel, unsere
Entwicklung zu behindern, ist es möglicherweise ein Instrument, das den Status quo zementieren wird - nämlich
dass es anderen wirtschaftlich besser geht als uns -, ist
es ein Mittel, das unser wirtschaftliches Fortkommen,
unseren wirtschaftlichen Aufschwung verhindert?
Unser Ziel hier muss sein, zu beweisen, dass wir es
schaffen, ökologisch ambitionierte Ziele umzusetzen,
dabei aber wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gefährden, sondern durch neue Technologien gerade auch Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Deshalb bin ich
der Auffassung, dass wir das Emissionshandelssystem
hier mit guten Regelungen vorleben und dafür werben
sollten.
In einem nächsten Schritt sollten wir dann dieses europäische System für alle, die mitmachen wollen, öffnen und zwar so bald wie möglich. Es gibt ja Bestrebungen
in den US-Bundesstaaten und Überlegungen in anderen
Staaten, auch in Schwellenländern, solche Emissionshandelssysteme zu etablieren. Ein Schuh wird erst dann
daraus, wirklich Sinn macht es erst dann, wenn wir die
nationalen Systeme zu einem weltumspannenden Emissionshandelssystem als dem wichtigsten Instrument des
Kiotoprotokolls zusammenführen. Ich denke, dafür sollten wir uns einsetzen und darauf sollten wir uns im Ringen um die Sache konzentrieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Emissionshandel wurde von Ihnen hier im Hause stets
als marktgerechtes Instrument gepriesen, die Klimaschutzziele preiswert und zielgenau zu erreichen. Ich
denke, wir wurden eines Besseren belehrt. Er ist als umweltpolitisches Instrument bislang gescheitert.
Die Lage wird immer absurder, je genauer die Datenlage. Einschließlich dessen, was sich der Staat über den
KfW-Mechanismus an zusätzlichen Zuteilungen aus der
Zukunft borgt, gibt die Bundesregierung in jedem Jahr
dieser Handelsperiode Zertifikate über 507 Millionen
Tonnen an die Anlagenbetreiber aus. Ursprünglich
wurde angenommen, die Emissionen der Basisperiode
2000 bis 2002 hätten im Schnitt rund 501 Millionen
Tonnen pro Jahr betragen. Schon unter Rot-Grün wurden
also von vornherein Zertifikate über 5 Millionen Tonnen
mehr zugeteilt, als damals überhaupt CO2 ausgestoßen
wurde. Heute wissen wir, dass die tatsächlichen Emissionen der Basisperiode lediglich bei 474 Millionen Tonnen
pro Jahr lagen. Daraus ergibt sich eine Überausstattung
in der ersten Handelsperiode von ganzen 7 Prozent. Das
ist das Gegenteil von ambitionierter Klimapolitik.
({0})
Unter dem Strich ist es kein Wunder, dass die Emissionen des Emissionshandelsbereichs der Bundesrepublik in 2006 im Vergleich zur Basisperiode um 3 Millionen Tonnen angestiegen sind. So lief das eben
europaweit: Die EU-Kommission berichtet von einer
Überausstattung von 118 Millionen Tonnen. Logisch,
dass der Preis für das Recht, eine Tonne CO2 auszustoßen, nach den Datenveröffentlichungen auf unter einen
Euro sank.
Ähnlich verhängnisvoll wie das zu niedrige Cap waren die vielen Sonderregelungen im Zuteilungsgesetz.
Ich erinnere nur an die Regelung, bereits gebaute Kohlekraftwerke für 14 Jahre mit der vollen Zuteilung auszustatten. Dass Rot-Grün nicht ein einziges Zertifikat zur
Versteigerung vorgesehen hatte, ist dann nur noch der
Gipfel des Versagens.
({1})
Die leistungslos erzielten Extraprofite in Milliardenhöhe, die sich die Konzerne dadurch in die Tasche stecken konnten, haben das Instrument vollständig, aber
wirklich vollständig, diskreditiert. Glauben Sie nicht,
dass sich daran wesentlich etwas ändert, wenn das Parlament nun wenigstens die Versteigerung von 10 Prozent
der Zertifikate beschließt, die nach EU-Recht möglich
wären! Immerhin 90 Prozent werden ja mindestens bis
2012 wiederum verschenkt.
({2})
In diesem Zusammenhang wundert es mich schon
sehr, dass die Abgeordneten der Linken offensichtlich
die einzigen sind, die so etwas wie eine WindfallProfit-Tax fordern.
({3})
Die Bundesregierung - das wissen wir aus Recherchen hat noch nicht einmal geprüft, wie diese Extragewinne
abzuschöpfen wären. Schade!
({4})
- Sie können ja nachher dazu etwas sagen.
({5})
Um Hartz-IV-Empfänger zu schröpfen, entwickeln Sie
mehr Fantasie. Da sind Sie wesentlich schneller. Herr
Gabriel meint, die Extragewinne würden irgendwie
schon dadurch beschnitten, dass die Emissionsgrenze
diesmal niedriger liegt als der tatsächliche Ausstoß.
({6})
Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Erstens. Die
1,5 Prozent weniger CO2 jährlich, die Sie dem emissionshandelspflichtigen Sektor abverlangen, stellen sicherlich
keine Revolution dar; zweitens ist es auch nicht logisch,
dass die Energieversorger die künftigen Zertifikatspreise
von vielleicht 20 Euro nun nicht mehr als Opportunitätskosten auf den Strompreis umlegen werden. Das widerspricht allen Theorien, die es dazu gerade auch aus konservativen Denkstuben gibt. Dieser Mechanismus hat
noch nicht einmal etwas mit der Oligopolstellung von
RWE, Eon und Vattenfall zu tun. Der Selbstbedienungsladen auf Kosten der Stromkunden kann nur durch eine
100-prozentige Versteigerung geschlossen werden. Das
wissen Sie auch alle in diesem Haus.
({7})
Blicken wir jetzt nach vorn: Wie wir wissen, musste
die Bundesregierung auf Druck der EU-Kommission
ihre Pläne für die nächste Handelsperiode zurückziehen.
Der neue Plan hat ein deutlich niedrigeres Cap. Das haben wir gefordert; wir begrüßen das. Statt des lächerlichen halben Prozents werden 2008 bis 2012 insgesamt
rund 6,5 Prozent CO2 im Vergleich zur Basisperiode einzusparen sein.
Auch dass die verhängnisvolle Neuanlagen- und
Übertragungsregel weggefallen ist, begrüßen wir.
Schließlich können wir die Signale, die von den Ursprungsplänen der Bundesregierung an die Wirtschaft
ausgesandt wurden, in den Investitionsplänen der Kraftwerksbetreiber betrachten. Über 40 geplante neue Kohlekraftwerke sind dort zu finden. Das wollen wir ändern.
({8})
- Die Pläne liegen vor, Herr Kelber.
({9})
- Gut, ich habe es registriert. Ich habe nur wenig Redezeit. Sie können später dazu Stellung nehmen. - Wir
wollen zum Beispiel, dass Vattenfall von seinem irrsinnigen Plan ablässt, mitten in Berlin ein 800-MegawattSteinkohlekraftwerk zu errichten. Wir wollen einen anderen Energiemix.
({10})
Hier gibt es intelligentere Wege. Schweden und Großbritannien haben zum Beispiel einen einheitlichen Benchmark; auch das wissen Sie. Wir wollen, dass das auch
bei uns geändert wird. Auf den 10-Prozent-Zuschlag, der
den Betreibern von Braunkohlekraftwerken gewährt
werden soll, wurde schon eingegangen. Auch hier wollen wir eine Änderung.
Zum Schluss noch zwei Anmerkungen zum Regierungsentwurf:
Erstens können sich nun die Anlagenbetreiber ein
ganzes Jahresbudget zusätzlicher Emissionen aus dem
Ausland kaufen. Das Limit haben Sie deutlich erhöht.
Sie wissen um die Problematik CDM bzw. JI. Wir müssen darüber noch einmal diskutieren. Das kann auch eine
gefährliche Sache werden; denn hier kann einiges aus
dem Ruder laufen.
Zweitens ist im neuen Zuteilungsgesetz kein Mechanismus mehr vorgesehen, der Stilllegungsprämien und
Scheinbetrieb verhindert. Wer nächstes Jahr eine Anlage
stilllegt, der erhält noch für fünf Jahre Emissionsrechte,
kassiert also gutes Geld.
Das heißt, der Entwurf muss überarbeitet werden. Wir
wollen so gut wie möglich sein. Insbesondere über die
Dreckschleudern in Form von Braunkohlekraftwerken
- darauf wurde schon verwiesen - muss diskutiert werden. Es gibt auch von Greenpeace eine Studie über die
30 größten Dreckschleudern. Bei denen sind auch deutsche Braunkohlekraftwerke vertreten. Wir sollten sehen,
dass diese in den nächsten Publikationen nicht mehr genannt werden. Deutschland sollte hier eine Vorreiterrolle
einnehmen.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Loske, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
die Bundesregierung damals den Entwurf des Nationalen
Allokationsplans beschlossen und nach Brüssel geschickt hat, hatten wir vor allen Dringen drei Kritikpunkte. Erster Punkt: Die Ziele sind zu lasch. Zweiter
Punkt: Die Regelungen sind zu kohlefreundlich. Dritter
Punkt: Von der Möglichkeit, 10 Prozent der Zertifikate
zu versteigern, wird kein Gebrauch gemacht werden.
Das waren, neben vielen kleinen Punkten, unsere Hauptkritikpunkte. An dieser Kritik möchte ich nun den heute
eingebrachten Gesetzentwurf messen.
Als Erstes kann man sagen: Die Ziele sind verschärft
worden. Allerdings muss man auch festhalten: Die Regierung musste von Brüssel zum Jagen getragen werden.
({0})
Das ist nicht aus eigener Kraft geschehen. Im Gegenteil:
Ihr Minister Glos hat der Regierung sogar empfohlen,
sie solle dagegen klagen. Von Ihrer Seite hat man das erwartet. Aber auch der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat
sich öffentlich zu der Äußerung verstiegen, man müsse
ernsthaft erwägen, gegen die Vorschläge der Europäischen Kommission vor den Europäischen Gerichtshof zu
ziehen. Da kann ich nur sagen: peinlich, peinlich, peinlich.
({1})
- Doch, das hat er gesagt. Lesen Sie die Korrespondenz
zwischen den Umweltverbänden und dem Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz nach. Dann werden
Sie feststellen, dass er das gesagt hat.
Schließen wir den ersten Punkt aber ab und stellen
wir fest: Die Ziele sind angepasst. Das ist gut so.
Zweitens zu der Kritik, die Regelungen seien zu kohlefreundlich. Gut ist, dass die vorgesehene Regelung, die
Kohlekraftwerke für 14 Jahre von jeglicher Minderungsverpflichtung zu befreien, wenn sie einmal gebaut
sind, von Brüssel kassiert worden ist. Auch das haben
Sie nicht aus eigener Kraft beschlossen, sondern das hat
die Kommission Ihnen vorgeschrieben. Ich will mich
deswegen bei der Europäischen Kommission ausdrücklich für ihre Beharrlichkeit in dieser Sache bedanken.
({2})
Jetzt kommen wir zu dem, was Sie stattdessen vorschlagen, dem Benchmarksystem. Die Kohleprivilegien bleiben, und zwar auf mehrerlei Weise. Zum einen
soll es zwei Benchmarks geben, einen für Gas und einen
für Kohle. Das heißt, durch das Benchmarksystem geben
Sie keinerlei Anreiz zum Brennstoffwechsel, weg von
kohlenstoffreichen hin zu kohlenstoffarmen oder kohlenstofffreien Energieträgern. Das ist vollkommen
falsch.
({3})
Im Gegenteil: Es ist sogar so, dass Sie der Kohle, also
derjenigen fossilen Energieform, die besonders klimaschädlich ist, zweimal so viel Emissionsrechte einräumen wie dem Erdgas. Was das mit Klimaschutz zu tun
haben soll, ist mir absolut schleierhaft.
({4})
Wir fordern deshalb den gleichen Benchmark für alle.
Strom ist Strom; deswegen muss der Benchmark gleich
sein. Durch das, was Sie jetzt machen, schalten Sie das
Preissignal praktisch aus. Das muss man ganz klar sagen.
Das ist für sich genommen schon schlimm genug. Ihr
Minister hat gesagt, er habe es geschafft, sozusagen gegen das Begehren des Wirtschaftsministers die geforderten Braunkohleprivilegien zu verhindern. Wenn man
sich aber den Gesetzestext einmal genau anschaut und
das Kleingedruckte liest, dann wird man feststellen, dass
Sie Braunkohleprivilegien durch die Hintertür einführen,
also faktisch noch einen dritten Benchmark, und zwar in
Form der Betriebsstunden, Sonderbehandlungen im Rahmen der sogenannten anteiligen Kürzung usw.; ich will
dem Publikum eine Beschreibung der Details ersparen.
Das ist noch schlimmer, da Sie auf diese Weise der klimaschädlichsten Form, nämlich der Braunkohle, sogar
einen Zuschlag geben. Wie das mit Klimaschutz zusammenpassen soll, verstehen wir nicht.
({5})
Jetzt hören wir sogar von einigen SPD-Abgeordneten
- diese sind relativ zurückhaltend -, aber vor allen Din10032
gen von Unionsabgeordneten wie zum Beispiel dem
Kollegen Vaatz, der hier in der ersten Reihe sitzt, oder
von der Kollegin Reiche aus Brandenburg, das wolle
man so nicht akzeptieren, man wolle für die Braunkohle
noch ein bisschen mehr herausholen. Das ist mir wirklich vollkommen schleierhaft. Wir machen hier einen
Klimaschutzplan und nicht einen Förderplan zum Neubau von Braunkohlekraftwerken. Das müssen Sie endlich begreifen; das halte ich für sehr wichtig.
({6})
Laut Liste der Bundesnetzagentur sind über 40 neue
Kraftwerke geplant, für Braunkohle, Steinkohle und
Erdgas. Ein kleines Gedankenexperiment: Wenn diese
Kraftwerke alle gebaut würden, dann hätten wir allein
durch diesen Kraftwerkspark im Jahr 2050 einen CO2Ausstoß von 170 Millionen Tonnen. Wir haben uns aber
vorgenommen - im Wesentlichen alle gemeinsam -, den
CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2050 von der 1 Milliarde
Tonnen, die wir 1990 hatten, auf 200 Millionen Tonnen
zu senken. Das heißt: Fast 90 Prozent des gesamten
Emissionsvolumens, das im Jahre 2050 noch verfügbar
wäre, würde durch Kraftwerke absorbiert. Auf den Bereich Verkehr, Haushalte und Dienstleistungen würde
der kleine Rest entfallen. Das ist doch absolut unverständlich. Das müssen Sie selber einsehen.
({7})
Herr Kelber, bei Ihnen finde ich eines ein bisschen
problematisch: Mit einem Augenzwinkern geben Sie zu,
dass es diese Kraftwerksplanung bei der Bundesnetzagentur gibt. Aber Sie fügen hinzu, dass diese Kraftwerke sowieso nicht gebaut werden.
({8})
Ich halte mich an das, was vorliegt. Ich weiß, was auf
der RWE-Aktionärsversammlung besprochen worden
ist. Diese Investmentpläne liegen tatsächlich vor; es handelt sich nicht um Fiktion.
({9})
Sie müssen sich schon entscheiden, Herr Kelber. Auf
der einen Seite treten Sie für den Klimaschutz ein, und
auf der anderen Seite machen Sie bei der Kohle die Türen ganz weit auf. Das passt nicht zusammen.
({10})
Ich möchte noch auf folgende Ungereimtheit eingehen; leider haben wir heute nicht die Zeit, darüber ausführlich zu diskutieren. Es geht um CO2-freie Kohlekraftwerke und die CCS-Technologie. Viele glauben,
diese Technologie sei vielversprechend. Ich gebe zu,
dass ich da skeptisch bin; denn ich glaube, dass wir bessere Technologien haben. Wenn aber diese Technologie
angeblich so vielversprechend ist, dann sollten keine
neuen Kohlekraftwerke ohne diese Technologie gebaut
werden. Das halten wir für einen vernünftigen Vorschlag.
({11})
Man kann aber nicht so vorgehen, dass man erst einmal die neuen Kohlekraftwerke baut und sie dann später
nachrüstet, einmal ganz abgesehen davon, dass das sehr
teuer und volkswirtschaftlich die schlechteste Lösung
wäre. Ich möchte den sehen, der dann sagt: Wir schalten
diese Kraftwerke ab. Die Konzerne müssen wissen, dass
wir mit dem Klimaschutz ernst machen und dass sie
richtig viel Geld in den Sand setzen, wenn sie in Kohlekraftwerke massiv investieren. Das kann nicht in deren
Interesse liegen.
({12})
Ich komme zum letzten Punkt. Alle sind einvernehmlich dafür, 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Das
ist sehr gut; wir sind hundertprozentig dafür. Sie, lieber
Kollege Kauch, haben in Richtung SPD gesagt, sie wolle
das Geld für die Finanzierung vielerlei Dinge ausgeben.
Aber Ihr Vorschlag, die Einnahmen aus der Versteigerung von 10 Prozent der Zertifikate für die Senkung der
Stromsteuer für die Industrie aufzuwenden, bringt überhaupt nichts. Es wäre zum einen eine sehr geringe Senkung, und zum anderen ist die Industrie bei der Ökosteuer schon massiv entlastet worden. Sie braucht nicht
noch zusätzliches Geld aus dieser Versteigerung. Das ist
einfach nicht notwendig.
({13})
Wofür wir aber sehr viel Geld brauchen, ist die Investition in Energieeinsparung und Stromeinsparung. Ich
erinnere mich noch sehr gut, wie Minister Gabriel mich
in der Vergangenheit durch den Kakao gezogen hat. Er
sagte, die Grünen wollten nur zusätzliches Geld eintreiben. Ich sehe mit einer gewissen Freude, dass er das jetzt
selber vorschlägt. Dazu kann ich nur sagen: Gut so!
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Erstens. Wir müssen klare Ziele haben: bis zum Jahr 2020
minus 40 Prozent. Zweitens. Wir wollen, dass die Kohleprivilegien verschwinden und werden entsprechende
Vorschläge machen. Drittens. Lassen Sie uns gemeinsam
die Versteigerung von 10 Prozent der Zertifikate durchführen, damit wir 2013 Richtung 100 Prozent gehen
können.
Danke schön.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Arnold Vaatz.
Herr Kollege Loske, ich möchte mich kurz zu Ihrer
Bemerkung äußern, wonach ich bestrebt sei, für die
Braunkohle noch etwas mehr herauszuholen.
Die CO2-Einsparungen, die es zwischen 1990 und
heute gab, entfielen zu etwa 80 bis 90 Prozent auf Ostdeutschland.
({0})
Die Zahl der ehemals 135 000 Beschäftigten im Bereich
der Braunkohle und der Energieversorgung wurde innerhalb von fünf Jahren um rund 90 Prozent reduziert. Das
ist die Realität. Es gibt in diesem Bereich jetzt noch
15 000 Beschäftigte.
Gegenüber diesem Personalabbau hält, was die Geschwindigkeit angeht, der Personalabbau in den Steinkohleregionen Westdeutschlands keinem Vergleich
stand. Ich weigere mich daher, zuzustimmen, dass die
letzten Braunkohleregionen in Ostdeutschland - der
Großraum Leipzig und die Oberlausitz -, die teilweise
mit nagelneuen Kraftwerken ausgerüstet sind bzw. mit
Kraftwerken, die Mitte der 90er-Jahre mit enormen Mitteln durch Rauchgasentschwefelungsanlagen nachgerüstet worden sind, mittelfristig keine Perspektive mehr haben sollen.
({1})
Allein darum geht es mir.
Weiterhin halte ich Ihre Vorstellung, man könne aus
der CO2-erzeugenden Energieherstellung ganz und gar
aussteigen, für Demagogie. Ich halte diese Auffassung
für nicht ehrlich, weil Sie die Hauptschrittmacher beim
Ausstieg aus der Kernenergie waren.
Vielen Dank.
({2})
Bitte, Kollege Loske.
Danke, Herr Präsident. - Meine Erwiderung bezieht
sich auf zwei Punkte. Es ist richtig, dass der Erfolg bei
der deutschen CO2-Minderungspolitik im Wesentlichen
auf CO2-Einsparungen in den neuen Bundesländern
zurückzuführen ist, und zwar vor allem aufgrund der
Modernisierung der Gebäude und des Zusammenbruchs
der Industrie.
({0})
- Moment, jetzt bin ich an der Reihe.
Im Jahre 1990 wurden - das weiß ich zufällig, weil
ich diese Zahlen schon einmal herausgesucht habe - in
den neuen Bundesländern ungefähr 300 Millionen Tonnen Rohbraunkohle gefördert. Sie wurden zu einem
Drittel in den Kraftwerken und zu zwei Dritteln für den
Hausbrand eingesetzt. Der Löwenanteil der Reduktion
der CO2-Emissionen ist durch die Substitution des Hausbrandes in Form von Braunkohle durch andere Energieträger, nämlich Öl und Gas, erreicht worden. Das heißt,
da ist am meisten eingespart worden. Die zweitgrößte
Menge ist durch den Kollaps der Industrie zusammengekommen und die drittgrößte Menge durch die Erneuerung des Kraftwerkparks. - Das sind die Zahlen. Da sollten Sie schon sauber bleiben.
Ich erkenne ausdrücklich an, dass im Osten eine
Menge gemacht worden ist. Wir alle in diesem Haus waren daran beteiligt; denn wir haben die Mittel bewilligt.
Aber diese Einsparungen sind nicht auf die Sonderleistungen der Elektrizitätswirtschaft zurückzuführen. Das
muss man als Erstes festhalten.
({1})
Mein zweiter Punkt betrifft die Braunkohle. Wir
müssen den Realitäten ins Auge schauen. Wenn wir den
Klimaschutz ernst nehmen, dann müssen wir festhalten,
dass die Braunkohle der CO2-intensivste Energieträger
ist; das wissen auch Sie. Pro erzeugte Kilowattstunde
stößt Gas 365, Steinkohle 750 und Braunkohle ungefähr
950 Gramm CO2 aus.
({2})
Letzteres ist praktisch zweieinhalbmal so viel wie beim
Erdgas. Sollen wir da die Braunkohle privilegieren? Es
geht hier darum, ob sie privilegiert werden soll oder
nicht. Wir sagen, es soll eine Gleichbehandlung geben.
Lieber Herr Vaatz, wenn ich für eines nicht bekannt
bin, dann dafür, dass ich Demagogie betreiben würde.
Ich argumentiere Ihnen gegenüber gern und akzeptiere
Ihre Argumente. Aber wenn ich mir vorstelle, dass wir
bis Mitte des Jahrhunderts eine CO2-freie Energiewirtschaft hinbekommen können, dann hat das nichts mit
Demagogie zu tun, sondern mit der Überzeugung, dass
das möglich ist. Ich lege allergrößten Wert darauf, dass
das mit Demagogie wirklich nichts zu tun hat.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Marco Bülow, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! In der letzten Woche gab es eine sehr gute Nachricht vom Weltklimarat, der uns bestätigt hat: Wir können den Klimawandel begrenzen. Die zweite gute Nachricht ist: Wir
können dies mit den heutigen Technologien und zu akzeptablen Kosten tun, aber natürlich nur dann - auch
dieses Aber steht in dem entsprechenden Bericht; dies
muss man auf jeden Fall hinzufügen -, wenn wir uns än10034
dern, wenn wir ambitionierter vorgehen und unsere Instrumente geschärft werden und wirksamer sind.
({0})
Der Emissionshandel, so wie er bisher funktioniert,
trägt nicht dazu bei - so ehrlich und selbstkritisch muss
man sein -, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen.
Er wird auch nicht dazu beitragen, den Klimawandel zu
begrenzen. Deswegen ist das, was wir jetzt vorgelegt haben, deutlich ambitionierter. Ich glaube, wir sind auf
dem richtigen Weg, wenn wir unsere Ziele ernst nehmen.
Herr Kauch, Sie haben es als scheinheilig bezeichnet,
dass die SPD Fehler in Bezug auf den Emissionshandel
in der vergangen Zuteilungsperiode zugegeben hat. Ich
nenne das einen Lernprozess; Sie bezeichnen es als
Scheinheiligkeit. Es wäre eher fair, zu sagen, dass wir
dazulernen und uns verbessern.
Aber nun zur FDP. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die FDP in Nordrhein-Westfalen - aus diesem schönen Land stammen ja auch Sie - große Pläne
hat, den Kohleeinsatz zu begrenzen bzw. zu beenden.
Dazu kenne ich keinen Antrag der FDP, nur dazu, was
die heimische Steinkohle angeht. Ich freue mich schon
darauf - Sie sind ja Chef der Dortmunder FDP -, dass
die Dortmunder FDP demnächst im Landtag NordrheinWestfalen einen Antrag einbringt, in dem sie fordert, den
Kohleeinsatz zu begrenzen, um dem Klimawandel zu
begegnen.
({1})
Das noch einmal zur Scheinheiligkeit.
Wir müssen zusehen, dass wir die ambitionierten
Pläne, die wir vorgelegt haben, auch wirklich durchziehen und nichts mehr verwässert wird und auch nichts
hinzukommt. Es gibt Sonderregelungen - viele sind angesprochen worden -, bei denen auch ich der Meinung
bin, dass sie nicht unbedingt notwendig sind. Ich glaube
jedoch, dass sich das Gesamtwerk sehen lassen kann.
Aber das ist das Ende der Fahnenstange; das muss man
sagen. Ansonsten werden wir die Ziele, die wir uns gesteckt haben, nicht erreichen.
Zur Versteigerung ist schon vieles gesagt worden.
Ich will nur noch eines ergänzen: Ich glaube, dass es
richtig ist, jetzt eine Versteigerung auf kleinem Niveau,
also 10 Prozent, einzuführen, um Erkenntnisse für die
nächste Handelsperiode - für diese zeichnet sich schon
eine Einigkeit ab, 100 Prozent zu versteigern - zu sammeln, um zu üben und um Kinderkrankheiten auszuräumen. Dann können wir bei der nächsten Versteigerung
zielgenau sein. Auch deswegen ist es wichtig, jetzt damit
zu beginnen und ein Signal an die Europäer zu geben,
dass dies möglichst überall passiert.
Bei allem Ehrgeiz und allen Ambitionen, die wir haben, muss man, weil es leider immer wieder konterkariert wird, immer wieder betonen, dass das Klima alleine
durch den Emissionshandel nicht gerettet werden kann.
Wir brauchen eine weitere Förderung der erneuerbaren
Energien.
({2})
Wir brauchen eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz. Wir müssen darauf achten, dass die vorhandenen
Wälder nicht weiter abgeholzt werden, sondern dass es
einen verträglichen, nachhaltigen Umgang mit diesen
Wäldern gibt. Ansonsten werden wir unsere Ziele nicht
erreichen. Man sollte diese Instrumente nicht gegeneinander aufrechnen. Wir brauchen alle Instrumente, um
die Klimaschutzziele zu erreichen.
({3})
Sowohl die Politik und die Verbraucher als auch die
Wirtschaft müssen mithelfen, dies zu erreichen.
Ich glaube, dass schon eine Menge geschafft wurde.
Herr Kelber hat recht, wenn er sagt, dass wir jetzt einen
Wettbewerb der Instrumente gestalten müssen. Ich
möchte auf nur einen Punkt eingehen. Ich bin froh, dass
es in der Union immer mehr Kolleginnen und Kollegen
gibt, die den Klimaschutz ernst nehmen und voranbringen wollen. Ich bitte diese Kolleginnen und Kollegen in
der Union noch einmal eindringlich, auf das Wirtschaftsministerium zuzugehen. Denn zu den Vorschlägen, wie
das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz geändert werden soll
- die habe ich gestern gehört -, kann ich nur sagen: Das
ist eine Lachnummer. Dann ändert sich leider nichts.
Kraft-Wärme-Kopplung ist die beste und wichtigste
Effizienztechnologie, die wir haben. Wir werden sie
brauchen, um unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen.
Deswegen appelliere ich noch einmal: Sprechen Sie mit
Ihrem Ministerium, damit sich dort etwas tut.
({4})
Ich glaube, dann kommen wir einen großen Schritt weiter. Dann wird auch die Opposition anerkennen, dass wir
unsere Ziele ernst meinen und die Instrumente besitzen,
um sie zu erreichen.
Ich möchte noch einmal auf unsere Verantwortung
eingehen. Denn ab und zu wird gefragt, ob wir überhaupt
eine Verantwortung haben, wie wir sie wahrnehmen
können und warum wir überhaupt noch etwas tun sollen,
wenn die Schwellenländer aufholen. Ich möchte noch
einmal deutlich machen: In Deutschland haben wir ungefähr einen Pro-Kopf-Ausstoß in Höhe von über
10 Tonnen CO2; manche gehen sogar schon von
12 Tonnen pro Kopf aus. In Afrika liegt der CO2-Ausstoß bei ungefähr 0,5 Tonnen pro Kopf pro Jahr.
Deutschland - Herr Kelber hat die Zahl schon einmal genannt - stößt mehr CO2 aus als alle Afrikaner zusammen. Da soll mir noch einer sagen, wir hätten keine besondere Verantwortung.
Die Afrikaner sagen natürlich zu recht: Wir wollen
euren Standard. Keiner von uns kann guten Gewissens
sagen, dass sie ihn nicht haben dürfen. Das Einzige, was
wir machen können, ist, mit gutem Beispiel voranzugehen, damit wir ihnen sagen können, dass es bei ihnen gar
nicht so weit kommen darf. Ich meine jetzt natürlich
nicht nur Afrika, sondern auch China und alle anderen
Länder, gerade diejenigen mit hohen Wachstumsraten.
Aber um dies zu verhindern, müssen wir Vorbild sein
und ihnen neue Technologien anbieten.
({5})
Ich möchte noch einmal erläutern, wie dramatisch die
Situation gerade in Afrika ist. Gerade die Afrikaner
werden nämlich die Leidtragenden sein. Hinsichtlich unseres 2-Grad-Zieles hat man manchmal das Gefühl, dass
eine Erwärmung um 2 Grad nicht viel ausmacht. Das
stimmt aber nicht. Schon das wird dramatische Veränderungen mit sich bringen. Das betrifft nicht nur den Kilimandscharo, auf dem dann kein Eis mehr sein wird. Das
wäre vom Aussehen des Berges her vielleicht noch zu
ertragen, aber das Eis und das Schmelzwasser werden
den Menschen in der Gegend, die davon leben, fehlen.
Aber es geht noch weiter: Die Menschen in Afrika
werden große Ernährungsprobleme bekommen. Im letzten Klimabericht wird noch einmal deutlich gemacht,
dass eine Erwärmung um 2 Grad dazu führen kann, dass
die landwirtschaftliche Produktion um 50 Prozent zurückgehen und die Ernährungsproblematik in Afrika zunehmen wird. Das ist eine große Herausforderung. Deshalb haben wir als Europäer und auch als Deutsche die
Verantwortung voranzugehen. Deswegen ist der Emissionshandel dringend notwendig und als wichtiges und
scharfes Instrument unabdingbar für den Klimaschutz.
Als Letztes lassen Sie mich auf etwas eingehen, über
das ich mich in dieser Woche sehr geärgert habe. Ich
meine den unsäglichen „Spiegel“-Bericht, in dem versucht wird, die letzten Menschen, die den Klimawandel
noch anzweifeln, hervorzuholen. Da erdreistet sich ein
Biologe, zu sagen: „Je wärmer ein Lebensraum ist, desto
artenreicher ist er“, und der Spiegel greift das auch noch
auf. Komisch ist nur, dass dieser Biologe es versäumt
hat, zu erwähnen, dass die Sahara um ein Vielfaches heißer als die Regenwälder ist. Komisch, dass es dort viel
weniger Arten gibt. Nein, der Artenreichtum hat zwar
auch mit der Temperatur zu tun, er hat aber vor allen
Dingen mit Niederschlag zu tun. Und der Niederschlag
wird im Zuge des Klimawandels zurückgehen, gerade in
Regionen wie dem Regenwald. Deswegen möchte ich
diese Verballhornung in den Medien nicht mehr hören
und lesen. Die Medien haben ebenso wie wir Politiker
eine Verantwortung dafür, die Wahrheit zu sagen und
nicht alles kleinzureden.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es
ist in der Tat so, dass wir uns in den vergangenen Wochen und Monaten auf die Ziele geeinigt haben, und
zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch - das halte
ich für besonders wichtig - auf europäischer Ebene.
Herr Kelber, wir begeben uns gerne in einen Wettstreit um die besten Instrumente, weil wir wissen, dass
den Worten nun auch Taten folgen müssen. In vielen Bereichen befinden wir uns, wie ich meine, auf einem sehr
guten Weg. Der Kollege Jung hat es bereits skizziert.
Das gilt im Übrigen auch für das lange umstrittene
Thema Wärmegesetz. Ich persönlich freue mich sehr
darüber.
({0})
- Das ist nicht der Platz, um Termine auszumachen, Herr
Kollege.
({1})
Herr Kelber, da Sie die Diskussion so offensiv eröffnet haben, kann ich mir eine Bemerkung leider nicht verkneifen: Wenn Sie so ideologiefrei mit uns über das
Thema Kernenergie reden würden, wie man bei uns in
der Mehrheit mittlerweile über das Thema erneuerbare
Energien diskutiert,
({2})
dann würden wir in Sachen Klimaschutz einen ganz entscheidenden Schritt vorankommen und könnten im Ergebnis sehr viel mehr bewegen.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle keine Kernenergiedebatte
führen, sondern mit Ihnen über den europäischen Emissionshandel reden. Ich meine, dass das ein sehr wichtiges Instrument ist, weil es im Unterschied zu dem, was
heute schon mehrfach angesprochen worden ist, das einzige internationale Instrument ist. Wir brauchen ein solches internationales Instrument aus folgendem Grund:
Deutschland hat im Jahr 2004 848,6 Millionen Tonnen
CO2 emittiert. Von 2003 bis 2004 sind die Emissionen in
China um 1 Milliarde Tonnen gewachsen. Der Anstieg
war also höher als die gesamten Emissionen in Deutschland.
({4})
- Ja. - Deshalb ist dieses Problem nicht auf nationaler
Ebene zu lösen, im Übrigen auch nicht auf europäischer
Ebene. Der Anteil Europas an den Gesamtemissionen
aus fossilen Brennstoffen beträgt nämlich nur
15,2 Prozent.
Die Frage wird sein, wie wir die Schwellenländer mit
ins Boot bekommen. Das geht meiner festen Überzeugung nach nur, wenn wir zeigen können, dass Wohlstand
und Wachstum vorangebracht werden können und
gleichzeitig Klimaschutz möglich ist.
({5})
Deshalb sind die Erwägungen und Abwägungen der
Union in diesem Zusammenhang richtig. Wir müssen
zeigen, dass Ökonomie und Ökologie in Zukunft keine
Gegensätze mehr sein werden, dass wir die Dinge zueinander bringen. Auf diese Art und Weise können wir andere Länder auf unsere Seite ziehen.
({6})
Wir werden damit aber nur Erfolg haben, wenn
Wachstum möglich ist und der Emissionshandel sinnvoll
gestaltet wird. Weil der Emissionshandel ein komplexes
Instrument ist, ist das gar nicht so einfach. Eine zentrale
Voraussetzung dafür ist, dass wir das Energieoligopol in
diesem Land aufbrechen, an dieser Stelle Wettbewerb
schaffen. Sonst wird weiter eingepreist.
({7})
Deshalb sind die Bemühungen von Michel Glos so entscheidend.
Lassen Sie mich etwas zu einem Thema sagen, das
wir in diesem Gesetz noch nicht wiederfinden: zu den
Auktionen. Ich meine, die kostenlose Zuteilung der
Emissionsrechte war ein Sündenfall: Wir implementieren ein marktorientiertes System, sind aber nicht willens,
uns in Richtung Auktion zu bewegen. Das ist systemwidrig.
({8})
Wir müssen dem Beispiel anderer Länder folgen - wir
stehen da nicht an der Spitze der Bewegung -: In Ungarn
und Irland gibt es bereits Auktionen, in Litauen und Dänemark hat man sich immerhin bereit erklärt, solche
durchzuführen. Ich sage, gerichtet an die Kolleginnen
und Kollegen, die an dieser Stelle noch skeptisch sind,
die fürchten, dass bei uns die Preise steigen: Die Internalisierung externer Kosten bewirkt natürlich einen Preisdruck; aber unsere großen Vier haben bereits eingepreist.
Deshalb finde ich es provokant, wenn die jetzt drohen,
diese Opportunitätskosten ein zweites Mal einzupreisen.
Wenn dem so wäre, dann wäre es vollkommen wurscht,
ob wir auktionieren oder nicht:
({9})
Die werden die Preise erhöhen, solange das geht. Auf
diese Herrschaften sollte man deshalb nicht hören.
({10})
Einige sagen, eine Auktionierung könnte wieder die
Falschen treffen. Doch erstens berücksichtigen wir die
Klein-Emittenten bei der Zuteilung schon jetzt: Ihnen
wird ohne Minderung zugeteilt. Das heißt, man kann sie
ohne Probleme außen vor halten. Zweitens können wir
darüber diskutieren, wie man die KWK bei der Auktionierung berücksichtigt, Herr Bülow. Deshalb macht es
durchaus Sinn, wie wir das tun wollen, die ganzen Maßnahmen integriert zu sehen. Drittens möchten wir alles
tun, um Dezentralität und erneuerbare Energien zu fördern. Deshalb sollte man insbesondere den Mittelstand
und die Stadtwerke in diese Richtung bewegen.
Nun gibt es eine Diskussion über die Verwendung der
Erlöse. - Es ist bei uns üblich, dass das Fell des Bären
verteilt wird, bevor er erlegt ist. - Dazu möchte ich nur
sagen: Wenn man optimistisch ist und bei einer Versteigerung von 10 Prozent der Emissionsrechte von einem
Erlös von 600 Millionen Euro ausgeht, dann kommt man
- wir haben einen Verbrauch von 547 Milliarden Kilowattstunden im Jahr - auf einen tausendstel Euro pro Kilowattstunde, den manche von uns an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückgeben wollen. Für den
Dreipersonenmusterhaushalt, der 3 500 Kilowattstunden
im Jahr verbraucht, sind das 3,50 Euro pro Jahr. Ich sage
das in dieser Deutlichkeit, um zu zeigen, wie scheinheilig diese Forderungen sind.
({11})
Die Stromsteuer und die Mehrwertsteuer machen dagegen 15,45 Euro aus; wenn man die Konzessionsabgabe
hinzunimmt, kommt man auf 20,70 Euro. Wer für den
Standort Deutschland etwas tun will, muss an dieser
Stelle ansetzen und nicht immer bei den erneuerbaren
Energien, bei KWK oder beim Emissionshandel.
({12})
Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie
man dieses Geld so verwendet, dass man damit unser gemeinsames Ziel, den Klimaschutz, fördert und dem Verbraucher vielleicht durch Energieeffizienz etwas zurückgibt. Wir haben in den nächsten Wochen noch Zeit, diese
Diskussion miteinander zu führen.
({13})
Wir sollten nicht so tun, als ob die eine Seite wolle und
die andere Seite nicht - sonst kommt die Replik beim
Thema Kernkraftwerke.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Rolf Hempelmann, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das waren
doch ermutigende Worte am Schluss. Insofern war es
vielleicht nicht ganz verkehrt, dass einige Kollegen der
SPD-Fraktion neben vielen Zeichen der Gemeinsamkeit
einmal deutlich gemacht haben, dass wir, was das Erreichen der Ziele durch entsprechende Instrumente angeht,
ein bisschen ungeduldiger als manche beim Koalitionspartner sind.
Ich habe zumindest in dieser Debatte über das Zuteilungsgesetz im Emissionshandel sozusagen das letzte
Wort - endlich einmal.
Wir haben in den letzten Jahren viele Instrumente geschaffen - schon unter Rot-Grün, aber auch in der Großen Koalition -, um Klimaeffekte zu erzielen und insbesondere CO2 einzusparen. Einige haben großen Erfolg,
wie das EEG. Mit dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz
hatten wir immerhin Teilerfolge. Daneben sind auch verschiedene Marktanreizprogramme - zuletzt das Gebäudesanierungsprogramm - und die Entscheidungen zu
den Biokraftstoffen zu nennen.
Das Instrument, das bisher nicht so erfolgreich war
- auch das ist deutlich geworden -, ist der Emissionshandel. Nun lassen wir die Kirche aber im Dorf: Das
darf eigentlich auch niemanden wirklich wundern. Wir
haben damit etwas völlig Neues angepackt.
In der ersten Handelsperiode haben wir, bezogen auf
Gesamteuropa, sehr bewusst gesagt, dass wir kostenlos
zuteilen müssen, weil man ansonsten ein solch neues Instrument überhaupt nicht durchsetzen kann. Es war auch
klar, dass dies sozusagen eine Übungs- und Lernphase
sein würde.
Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir mit der zweiten
Handelsperiode sehr viel erfolgreicher sein werden. Dabei ist mir ehrlich gesagt ziemlich gleichgültig, wer
mehr dazu beigetragen hat, dass wir jetzt einen sehr ambitionierten Cap von 453 Millionen Tonnen haben. Es
gibt erhebliche Vereinfachungen und weniger Ausnahmeregelungen in diesem neuen System. Daneben wurde
in der Tat eine Umstellung von Übertragungsregelungen
auf ein Benchmarksystem vorgenommen; das ist angesprochen worden.
Man muss sagen, dass sich die Kritik der Europäischen Union nicht darauf bezog, dass durch diese Übertragungsregelungen etwa ein Energieträger bevorzugt
wird. Das war überhaupt nicht der Kritikpunkt. Die Kritik lautete, dass hier Regelungen getroffen wurden, deren Bindungswirkung viele Jahre über eine Handelsperiode des Emissionshandels hinausreicht. Deswegen
mussten hier Veränderungen vorgenommen werden.
Ich stehe ausdrücklich dazu und habe auch Sympathien für das, was der Herr Kollege Vaatz hier vorgetragen hat,
({0})
dass wir nämlich immer mehreren Zielen verpflichtet
sind. Ein wichtiges Ziel ist der Klimaschutz bzw. die Reduzierung von CO2-Emissionen. Wir müssen aber auch
andere Ziele im Auge behalten. Wir wollen mit dem
Emissionshandel kein Deindustrialisierungsprogramm in
Deutschland,
({1})
und wir wollen in Deutschland auch keinen Vollausstieg
aus der Nutzung von fossilen Energieträgern.
Das hat einen ganz simplen Grund, der nicht allein
Deutschland betrifft; vielmehr ist er global. Wir in
Deutschland müssen zum globalen Klimaschutz einen
anderen Beitrag leisten als zum Beispiel Frankreich.
Deswegen müssen wir beweisen, dass man auch in Industrieländern Klimaschutz so betreiben kann, dass das
Ganze ökonomisch interessant ist. Ich glaube, mit dem,
was wir auf den Tisch gelegt haben, gelingt uns das.
Wir werden nachweisen, dass wir in den nächsten
Jahren ganz alte „Mühlen“ vom Netz nehmen können.
Wir werden ja keine neuen bauen, um die alten am Netz
zu lassen, sondern mit dem von uns vorgelegten System
wird es uns gelingen, neue Braunkohle-, Steinkohle- und
Gaskraftwerke zu installieren und gleichzeitig alte vom
Netz zu nehmen, wodurch unsere Klimabilanz verbessert wird. Deswegen ist das, was hier auf den Tisch gelegt worden ist, ein guter Weg.
Damit werden wir auch die Chinesen und Inder motivieren, bei diesem System des Emissionshandels mitzumachen - das ist doch unser eigentliches Ziel -, und
auch dafür sorgen, dass sie, wenn sie fossile Energieträger verstromen, dies mit der neuesten und effizientesten
Technik tun.
({2})
Unser Ziel ist natürlich, dass diese Technik so bald
wie möglich CO2-frei sein wird. Wir wissen nicht hundertprozentig, wie schnell wir das erreichen werden.
({3})
Es gibt da noch einige technische und rechtliche Restriktionen. Daneben müssen wir sicherlich auch das Problem der Lagerung gemeinsam lösen. Eines ist klar: Wir
müssen diese Option ernsthaft verfolgen, gleichzeitig
dürfen wir aber andere Pfade nicht aus den Augen verlieren.
KWK ist hier genannt worden. Gerade deswegen ist
es so wichtig, dass wir sehr bald zusammenkommen und
noch einmal prüfen, ob wir innerhalb des Emissionshandels alles ausreizen. Außerhalb des Emissionshandels
müssen wir mit einem vernünftigen Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz versuchen, das für die Kraft-Wärme-Kopplung zu tun, was möglich ist.
({4})
Wenn wir diesen Weg gehen, dann ist viel gewonnen.
Dann schaffen wir in ökonomischer und ökologischer
Hinsicht ein Modell, das auch exportfähig ist. Nichts anderes wird von Deutschland erwartet.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5240 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Hans-Michael Goldmann, Michael
Link ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Europäische Transparenzinitiative aktiv unterstützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Rainder Steenblock, Matthias
Berninger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderung der EU nach Transparenz bei
Subventionen im Agrarbereich vollständig
umsetzen und die Neuausrichtung der Förderung vorbereiten
- Drucksachen 16/2203, 16/2518, 16/5287 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({2})
Dr. Diether Dehm
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,
Ulrike Höfken, Rainder Steenblock, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderung der EU nach Transparenz bei Subventionen für die Wirtschaft vollständig umsetzen und die Neuausrichtung der Förderung
vorbereiten
- Drucksachen 16/2517, 16/5288 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({4})
Dr. Diether Dehm
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan
Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Agrarbeihilfeempfänger offenlegen
- Drucksachen 16/1962, 16/3039 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Dr. Sascha Raabe
Hellmut Königshaus
Ute Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Guten Tag, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Denjenigen, die jetzt den Raum verlassen,
wünsche ich ein wunderbares Wochenende. Bei denjenigen, die hierbleiben, bedanke ich mich ganz besonders.
Es gibt sicherlich viel anderes zu tun, aber die Transparenzinitiative der Europäischen Union hat es durchaus
verdient, dass wir uns noch 30 Minuten im Plenarsaal
aufhalten; denn wir haben eine ganze Menge erreicht.
({0})
- Einige Kolleginnen und Kollegen müssen aus gutem,
nachvollziehbarem Grunde nachsitzen. Aber sehen Sie
es den Europapolitikerinnen und -politikern und den
Landwirtschaftspolitikern unter uns nach, wenn wir uns
nach diesem Tagesordnungspunkt von dannen machen,
weil es im Wahlkreis noch einiges zu erledigen gibt.
Wir haben als Parlament in den vergangenen Wochen
und Monaten für die Bürgerinnen und Bürger und die
Europäische Union eine ganze Menge erreicht; denn
Transparenz schafft Vertrauen. Auf Vertrauen sind wir
alle angewiesen, vor allem die Europäische Union. Niemand muss sich schämen, wenn er für sinnvolle Projekte
Fördermittel der Europäischen Union erhält.
({1})
In der vergangenen Woche hatte ich die Gelegenheit,
mit unserem Staatsminister für Europa meinen Wahlkreis zu besuchen. Wir haben sogenannte Mikroprojekte
besichtigt. Dabei handelt es sich um kleine Projekte im
Umweltsektor, im Tourismusbereich oder in der Landwirtschaft, die nicht unbedingt viel Geld kosten, aber mit
denen mit LEADER- und LEADER-plus-Mitteln der
Europäischen Union sehr viel für einen eher strukturschwachen Raum erreicht wurde. Das kann man den
Bürgerinnen und Bürgern gegenüber auch durchaus offensiv und selbstbewusst vertreten.
Michael Roth ({2})
Transparenz schafft auch den notwendigen Raum für
Reformen. Denn wir alle wissen, dass es gerade im
Agrarbereich noch viel zu tun gibt. Es kann nicht in unserem Sinn sein, dass viele Subventionen zu den großen,
multinational agierenden Agrokonzernen fließen. Wir
sollten darauf achten, dass vor allem die mittelständisch
geprägte, familienorientierte Landwirtschaft in Deutschland und in den Mitgliedstaaten von der EU-Förderung
profitiert.
({3})
Vor diesem Hintergrund war die Debatte um die Transparenz sicherlich hilfreich.
Es gab Bedenken, vor allem vonseiten der Bundesregierung. Es gab im Landwirtschaftsministerium Bedenken,
({4})
aber auch im Wirtschaftsministerium. Ich freue mich,
dass unsere Überzeugungsarbeit Früchte trägt. Zwischenzeitlich sind wir alle auf einem guten Weg. Ein besonderes Dankeschön spreche ich dem Auswärtigen Amt
aus, das sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat.
({5})
Denn auf europäischer Ebene haben wir im Sinne des
Deutschen Bundestages die Haushaltsverordnung und
Strukturfondsverordnung geändert. Meines Wissens
wird auch die Agrarfinanzordnung in unserem Sinne geregelt,
({6})
sodass es keinen Anlass mehr gibt, Kritik zu üben. Insofern verstehe ich nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen der Opposition an ihren Anträgen festhalten. Denn
wir haben das erreicht, was wir von Beginn an wollten.
Lassen Sie mich noch einige Erwartungen formulieren. Erstens. Wir müssen darauf achten, dass sich die
Länder kooperativ verhalten. Denn ein Großteil vor allem der Strukturfondsmittel wird nicht vom Bund, sondern von den Ländern verwaltet. Wir erwarten, dass die
Länder umgehend und den Vereinbarungen auf EUEbene gemäß die entsprechenden Informationen der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Ich bedaure, dass die Agrarfördermittel offensichtlich
erst im Jahr 2009 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
werden können. Ich erwarte für meine Fraktion auch einheitliche und nutzerfreundliche Standards für die Veröffentlichung. Daher unterstütze ich ausdrücklich die Bundesregierung, die fordert, dass die Informationen bei der
EU-Kommission gesammelt werden; denn aus meiner
Sicht liegt es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger,
dass es ein Angebot im Internet gibt, bei dem man entsprechende Informationen gebündelt erhalten kann.
Ich bedaure - das sage ich in aller Offenheit -, dass es
neben den vielen Anträgen der Opposition keinen Koalitionsantrag gibt. Wir haben uns seitens der SPD-Fraktion
sehr darum bemüht. Aber die Debatten haben uns geholfen, alle unsere Ziele zu erreichen. Deswegen haben wir
kein Problem damit, die Anträge der Opposition abzulehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es
nicht so kurz vor dem Wochenende wäre! Das ist an Zynismus kaum zu überbieten, lieber Kollege Roth, was
Sie gerade gesagt haben: Alles ist richtig, was die Opposition fordert. Deswegen müssen wir es ablehnen.
({0})
Eines will ich klarstellen: Hier wird die Autorenschaft
des Parlamentes reklamiert und gesagt, wir, das Parlament, hätten sehr viel erreicht. Nein, es ist der liberale
Vizepräsident Siim Kallas, der etwas erreicht hat, weil er
diese Transparenzinitiative auf den Weg gebracht hat. Es
ist die FDP gewesen, die dieses Thema auf die Tagesordnung dieses Hauses gesetzt hat.
({1})
Lieber Michael Roth, ihr hättet euch weiter hinter eurem
Koalitionspartner versteckt. Du hast es nicht ausgesprochen, aber es war die CSU, die das blockiert hat und
weiterhin versucht, es zu blockieren.
({2})
Es wurde gesagt, es könne erst 2009 veröffentlicht
werden. Das ist doch eine Lachnummer. Wenn die Verwaltungen in der Lage sind, Geld auszuzahlen, dann wissen sie, wer das Geld bekommt und wie viel der Betreffende bekommt. Dann zu sagen: „Aus technischen
Gründen ist es nicht möglich, vor 2009 diese Zahlen und
diese Listen zu veröffentlichen“, ist, mit Verlaub, eine
Verarschung der deutschen Öffentlichkeit und des Parlamentes.
({3})
Diese Rede wird mitgeschrieben, abgeschrieben und
Korrektur gelesen. Sie steht morgen früh im Netz, genauso wie die anderen Reden, inklusive Video. Da soll
mir einer erzählen, es sei nicht möglich, existierende
Listen vor 2009 zu veröffentlichen! Das ist schlichtweg
eine Lachnummer. Der Bundesregierung geht es offensichtlich darum, eine vernünftige und fundierte Debatte
über das Thema Revision der Finanzen der EU zu verhindern, die wir im nächsten Jahr zu führen haben. Das
ist der wahre Grund, warum versucht wird, die Veröffentlichung zu verschieben.
({4})
Ich will sagen, worum es bei dieser Transparenzinitiative geht. Gerade wir Liberale setzen uns immer sehr dafür ein, dass Betriebsgeheimnisse und die Privatsphäre
geschützt werden. Aber man muss eines sehr klar sehen:
In den letzten Jahren hat sich der Anspruch der Bürger
an die Transparenz staatlichen Handelns deutlich verändert, genauso wie die Einstellung der Bürger zum Staat
und speziell zur EU. Dem müssen wir nachkommen, indem wir unser Handeln transparenter gestalten. Zu oft
beklagen wir, dass die Öffentlichkeit zu viel Misstrauen
gegenüber dem Handeln der EU hat. Diese Initiative will
dem Misstrauen dadurch entgegenwirken, dass sie EUHandeln öffentlich und nachvollziehbar macht. Es geht
nicht nur um die Zahlung von Subventionen, sondern
auch darum, nachvollziehbar zu machen, welche Organisationen und welche Lobbyorganisationen in Verbindung zur Kommission stehen und welchen Einfluss ausüben. Wir sind der Meinung, dass es außerordentlich
unterstützenswert ist, was die Kommission vorgeschlagen hat. Ich halte es für nicht richtig und für Feigheit der
Regierungsfraktionen, dass sie die Anträge der Opposition ablehnen. Das ist Heuchelei. Anders kann man das
nicht nennen.
({5})
Gerade angesichts der Agrarzahlungen, die - das wird
oft beklagt - einen Großteil der Zahlungen des EUHaushaltes ausmachen, ist es für uns als politische Entscheider, aber auch für die Öffentlichkeit außerordentlich wichtig, nachzuvollziehen, wer wie viel Geld bekommt und in welche Strukturen es fließt. Hier wurde
geäußert, die Mittel flössen nur in großindustrielle
Strukturen. Darauf kommt es nicht an. Vielmehr kommt
es darauf an, dass wir nachvollziehen können: Wer bekommt das Geld? Wie hoch sind die Summen? Erhalten
die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe die Mittel oder
die mittleren und großen Betriebe? Wie können wir die
Mittelvergabe reformieren?
Wir können den Bereich der Agrarunterstützung nur
dann sinnvoll reformieren, wenn wir wissen, wie die
Ausgaben genau strukturiert sind. Deswegen ist es so
wichtig, dass die Zahlen veröffentlicht werden, und zwar
pronto. Es darf nicht weiter versucht werden, der deutschen Öffentlichkeit und dem Parlament vorzugaukeln,
es gäbe da technische Probleme. Im Übrigen haben die
Landwirtschaftsminister der Länder einen Bericht angefordert. Sie sagen, es sei technisch kein Problem, ihn zu
erstellen. Woran es fehlt, ist nicht Technik, sondern politischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregierung
den politischen Willen. Die Zahlen müssen auf den
Tisch des Hauses.
Vielen Dank.
({6})
Kollege Löning, Sie haben darauf hingewiesen, dass
die Reden, die hier gehalten werden, sehr schnell publiziert werden, also auch Ihr unparlamentarischer Ausdruck, für den ich Sie ausdrücklich kritisiere.
Ich erteile das Wort Kollegin Veronika Bellmann,
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Löning, ich bin schon etwas
über die unnötige Schärfe verwundert, die Sie in die Debatte gebracht haben, vor allem vor dem Hintergrund,
dass es bei diesem Thema im Grunde genommen eine inhaltliche Übereinkunft gibt. Wir sind der Meinung:
Wenn die inhaltlichen Forderungen der Opposition
schon in die Stellungnahme der Bundesregierung eingeflossen sind, kann man die entsprechenden Anträge aus
dem Vorjahr, die hier vorliegen, getrost ablehnen.
Der Deutsche Bundestag befasst sich heute mit dem
Thema Transparenzinitiative. Vor fast einem Jahr hat die
Europäische Kommission ein Grünbuch veröffentlicht,
um die europäische Transparenzinitiative vom November 2005 voranzubringen. Es wird eine umfassende Information über die Verwaltung und Verwendung von
EU-Geldern angestrebt. Dabei geht es um berufsethische
Regeln bzw. um die Festlegung eines Rahmens für die
Tätigkeit von Interessenvertretern und den viel gerühmten europäischen Lobbyisten, aber auch um das Thema
Agrarbeihilfen und das Thema der Offenlegung der Vergabe von Strukturmitteln. Transparenz ist wichtig, gerade im Hinblick darauf, dass die Bürger unseres Landes
wenig bis gar kein Vertrauen in die Europäische Union
haben und dass es beim Verständnis in Sachen EU
durchaus noch Nachholbedarf gibt.
Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, sehe
ich viele Bauvorhaben, vor denen große Schilder mit der
europäischen Flagge mit den zwölf Sternen stehen. Aber
wer weiß schon, was dahintersteckt? Insofern ist Transparenz auch ein Mittel zur Stärkung der Akzeptanz der
EU. Sie ist auch eine Garantie für den verantwortlichen
Umgang mit dem Geld der Steuerzahler aus den Mitgliedstaaten. Transparenz ist ein wirksames Mittel der
Kontrolle sowohl der Fördermittelgeber als auch der
Fördermittelverwalter und -empfänger. Natürlich ist sie
auch eine effektive Barriere gegen Missbrauch.
Von den gesamten Mitteln der Europäischen Union
werden 20 Prozent von der Europäischen Kommission
direkt verwaltet; diese 20 Prozent unterstehen bisher
schon einer Publizitätspflicht. Doch für jene 80 Prozent,
die von Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten ausgezahlt werden, besteht bisher noch keine Publizitätspflicht. Nach den Darstellungen der Kommission legen
bereits jetzt elf Mitgliedstaaten die notwendigen Informationen offen. Nicht immer wird aber ein vollständiger
Zugang gewährt; teilweise geschieht dies nur auf AnVeronika Bellmann
frage. Hier gibt es viele Variationen. Dieser Variantenreichtum führt zu unserer berechtigten Forderung - Herr
Roth hat es vorhin schon anklingen lassen -, hierfür einen für alle Mitgliedstaaten anwendbaren einheitlichen
Rechtsrahmen zu schaffen. Dadurch wäre auch ein einheitlicher Umgang mit allen Empfängern garantiert und
die Vergleichbarkeit hergestellt. Das ist ebenfalls ein wesentliches Element der Transparenz.
Der Sinn und Zweck des Grünbuchs der EU ist auch,
Meinungen aus den Mitgliedstaaten über die Verpflichtung zur Offenlegung und die Modalitäten einer Informationsweitergabe an die Öffentlichkeit einzuholen. Die
Bundesregierung hat ihre Meinung mit ihrer Stellungnahme kundgetan. Darin steht die Forderung, allen Mitgliedstaaten einen einheitlich anwendbaren Rechtsrahmen durch die EU-Kommission zu übertragen.
Zurück zum Thema Transparenz. Transparenz heißt
für mich, dass nicht nur die Angaben offengelegt werden, sondern dass auch klar ist, wer für die Offenlegung
der Angaben verantwortlich ist. Einzelne Mitgliedstaaten haben verschiedene Definitionen zur Ausgestaltung
einer Übersicht, verschiedene Definitionen des Zeitpunktes usw. Meines Erachtens muss die Europäische
Kommission als oberste Behörde für die Offenlegung
verantwortlich sein.
({0})
Das heißt, es muss eine Stelle geben, bei der alle Mittelempfänger der Mitgliedstaaten ihre Meldung machen,
und es muss eine Seite im Internetbereich der Europäischen Kommission geben, auf der die Daten anschließend zu finden sind, und zwar nach einem einheitlichen
Muster. Selbstverständlich muss es eine Frist geben, innerhalb welcher die Daten der bereits genehmigten Projekte vorgelegt werden müssen. Es darf also kein zwischenstaatliches Hickhack geben, sondern es muss ein
Ansprechpartner vorhanden sein. Nur dann kann eine
wirkliche Transparenz gewährleistet sein. Die Übersichten sollten auch keine sprachlichen Barrieren aufweisen.
Auch diese sind hin und wieder ein Hinderungsgrund für
echte Transparenz.
Eine Frage, die mich in diesem Zusammenhang beschäftigt, ist das Problem der Folgen und der Haftung.
Ich spreche hier nicht von Datenschutzbedenken. Das ist
im Übrigen auch in Ihrem Antrag angeklungen, Herr
Löning, wo Sie von verantwortlicher Abwägung des öffentlichen Interesses gegenüber dem Schutz von personenbezogenen Daten und Geschäftsgeheimnissen sprechen. Das können wir eins zu eins mittragen.
({1})
- Das ist in der Stellungnahme der Bundesregierung
schon enthalten. Deswegen brauchen wir über die Anträge nicht abzustimmen. Das ist doch vollkommen klar.
({2})
Ich spreche nicht von Datenschutzbedenken, sondern
schlichtweg davon, dass es im Zusammenhang mit der
Offenlegung dieser Informationen durchaus zu einer gewissen Neiddiskussion und zu Konkurrenzdenken kommen kann. Man muss bedenken, dass bei der Auswertung der veröffentlichten Daten nicht nur der Erfolg und
die Effektivität der Gemeinsamen Agrarpolitik - auf die
stelle ich hier hauptsächlich ab - geprüft werden, sondern dass die Kritiker der Gemeinsamen Agrarpolitik,
die bemängeln, dass 40 Prozent des EU-Haushalts in die
Agrarsubventionen gehen,
({3})
diese Informationen gegen Agrarsubventionen instrumentalisieren könnten. Da müssen wir sehr vorsichtig
sein. Auch das ist eine Begründung für die Forderung eines einheitlichen Rechtsrahmens.
({4})
Die Fördermittelempfänger können auch fragen, wen
man dafür haftbar machen kann, wenn der Nachbar für
ein ähnliches Projekt unter gleichen Voraussetzungen
mehr Fördermittel bekommen hat. Wer ist der Ansprechpartner bei diesen Beschwerden und der Adressat
solcher Anfragen? Welche Auswirkungen hat eine vollkommene Transparenz auf Ermessensspielräume der
Verwaltung? Das sind alles Fragen, die noch geklärt
werden müssen.
Die Verfahren müssen allerdings so ausgeprägt sein,
dass sie nicht mehr Bürokratie bedeuten.
({5})
Es ist ja zu befürchten, dass immer dann, wenn die EU
eine neue Aufgabe übernimmt, eine zusätzliche Agentur
eingerichtet wird.
({6})
Ich möchte nicht, dass anschließend eine „Transparenzagentur“ ins Leben gerufen wird.
({7})
Ich möchte noch die Bagatellgrenze erwähnen, zu
der es Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung gegeben hat. Deshalb ist es auch zu den Verzögerungen gekommen, die wir hier beklagen. Ich glaube,
wir sind uns einig: Wenn wir veröffentlichen, veröffentlichen wir alles. Dann brauchen wir auch keine Bagatellgrenze. Wenn wir Transparenz wollen,
({8})
dann muss sie vom ersten Euro bis zum millionsten Euro
gelten.
({9})
Ich fasse zusammen: Wir plädieren für eine Offenlegung aller Fonds, auch im Bereich der Agrarsubventionen. Wir sind gegen die Einführung von Bagatellgrenzen. Wir plädieren dafür, dass die Veröffentlichung nicht
nach individuellen Festlegungen der Mitgliedstaaten im
Einzelnen, sondern nach einheitlichen, allgemeingültigen Kriterien und Maßstäben der EU-Kommission zu erfolgen hat.
({10})
- Wir brauchen Ihrem Antrag nicht zuzustimmen, obwohl wir ihn inhaltlich durchaus mittragen, weil seine
Inhalte in der Stellungnahme der Bundesregierung schon
enthalten sind.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Besitzer von Aldi und Lidl gehören zu den reichsten
Menschen in Deutschland. Sie haben ihr Vermögen auf
dem Rücken der Beschäftigten gemacht. Sie sind auch
deshalb so reich, weil sie die bäuerlichen Betriebe immer mehr an die Wand drücken. Die Einzelhandelsketten
zahlen für 1 Liter Milch nicht mehr als vor 20 Jahren.
Ein Milchbauer mit 50 Kühen verdient heute deshalb so
wenig, dass er seine Familie davon nicht mehr ernähren
kann. Ich betone: Es ist absolut berechtigt, dass die
Milchbauern vom Staat unterstützt werden. Nur: Wir
von der Linken wollen Transparenz; denn bei den großen Beihilfeempfängern handelt es sich nicht allein um
die kleinen Bauern. Es geht um Konzerne, es geht um
Minister, und es geht sogar um Königshäuser.
Ich nenne Ihnen Beispiele: 2005 kam heraus, dass in
Holland die Nahrungsmittelkonzerne Nestlé und Campina
in fünf Jahren 900 Millionen Euro an EU-Ausfuhrbeihilfen geschenkt bekamen. Landwirtschaftsminister Veerman
selbst strich 150 000 Euro an Beihilfen ein. Königin
Elisabeth und Prinz Charles von England erhalten pro
Jahr 1,5 Millionen Euro aus Brüssel. Wir wissen das,
weil in 13 europäischen Ländern Namen und Zahlen offengelegt wurden.
Doch was ist mit Deutschland? Allein zur Unterstützung des Agrarexports werden bei uns jährlich über
500 Millionen Euro ausgezahlt. Wer erhält dieses Geld?
Sind es Bauern? Sind es Minister? Sind es Konzerne?
Sind es Abgeordnete? Das habe ich im Februar 2006 von
der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage wissen
wollen. Doch in der Antwort wurde jede konkrete Auskunft verweigert. Wenn eine Regierung in der Dritten
Welt vertuscht, wohin EU-Entwicklungshilfegelder fließen, dann nennt die Bundesregierung das „schlechte Regierungsführung“. Aber wenn sie selbst die Namen der
EU-Subventionsmillionäre offenlegen soll, dann beruft
sie sich auf den Datenschutz. Ich sage Ihnen: Das ist
eine Heuchelei.
({0})
Die Wahrheit muss der Bundesregierung regelrecht
abgerungen werden. Das ganze letzte Jahr hindurch haben Nichtregierungsorganisationen und Opposition für
mehr Transparenz bei den Agrarsubventionen gekämpft.
Im November einigten sich die EU-Kommission und das
EU-Parlament endlich darauf, alle Länder auf die Veröffentlichung der Daten zu verpflichten. Das ist ein großer
Erfolg. Doch seitdem versucht Wirtschaftsminister Glos
mit immer neuen Tricks, die Transparenzpflicht hintenherum zu verwässern. Wir von der Linken sagen: Hören
Sie endlich auf mit dieser Trickserei!
Subvention ist nicht gleich Subvention. Stützungszahlungen für bäuerliche Familien sind eine soziale Maßnahme. Ausfuhrbeihilfen an Nahrungsmittelkonzerne
aber zerstören die Grundlage der Landwirtschaft in den
Entwicklungsländern. Wir von der Linken sind dagegen,
dass EU-Milchpulver zu Dumpingpreisen die Viehzüchter in Schwarzafrika ruiniert. Die Offenlegung der
Agrarsubventionen ist deshalb überfällig. Sie muss
schnellstmöglich auf europäischer Ebene geregelt werden.
Die Veröffentlichung muss sich an den realen gesellschaftlichen und ökologischen Leistungen der landwirtschaftlichen Betriebe orientieren. Es muss klar sein, ob
die Gelder in die Massentierhaltung, in den Öko-Landbau oder in den Vorruhestand fließen. Es muss klar sein,
ob der Konzern Südzucker Geld für den Export erhält
oder für den Anbau von Pflanzen, aus denen man Energie erzeugen kann. Die Menschen im Lande haben ein
Recht darauf, zu wissen, wohin ihre Steuergelder fließen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Bärbel Höhn, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass diese Debatte durch die Redebeiträge
sowohl der FDP als auch der Linken konkretisiert worden ist. Denn wir reden nicht nur abstrakt über eine
Transparenzrichtlinie, sondern wir reden ganz konkret
darüber, was das für die Menschen bedeutet.
Es geht darum, dass wir wissen wollen, wohin
45 Prozent des EU-Haushalts fließen. Sind die Gelder
gut angelegt, sind sie effizient angelegt? Bekommen sie
wirklich die Kleinbauern, die dafür jeden Tag harte Arbeit leisten, oder bekommen sie solche, bei denen wir
uns fragen, ob das wirklich angebracht ist? Ich würde
zum Beispiel gern wissen wollen, wie viel Geld RWE in
Deutschland für die Rheinbraun-Abbaugebiete, also die
Gebiete, in denen die Braunkohle abgebaut wird, aus
dem Agrarhaushalt bekommt. Das würde mich interessieren. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, RWE dafür Geld
zu geben, oder ob dieses Geld nicht besser an die Bauern
fließen sollte, die mit harter Arbeit die landwirtschaftlichen Produkte erzeugen. Genau um diese Fragen geht es.
Die Bürgerinnen und Bürger von Großbritannien
können im Internet nachsehen, was das Königshaus an
Subventionen bekommt. Da, liebe Kollegen von der
CDU und der CSU, gibt es keine Neiddebatte. Warum
nicht? - Weil das transparent ist. Eine Neiddebatte gibt
es nur dort, wo die Daten nicht veröffentlicht werden
und die Leute deshalb anfangen zu spekulieren, wer was
bekommen könnte. Das ist doch der Ausgangspunkt für
eine Neiddebatte.
({0})
Wir wissen, dass 20 Prozent der Betriebe 80 Prozent
der Subventionen bekommen. Darüber wollen wir mehr
erfahren: Woran liegt das? Ist das immer gerechtfertigt? - Jedes Programm der Bundesregierung und jedes
Programm der Landesregierungen wird evaluiert, indem
geprüft wird, ob das Geld wirklich sinnvoll eingesetzt
ist. Wir haben doch nicht so viel Geld, dass wir es, egal
was damit passiert, einfach so ausgeben können. Wir
müssen das doch überprüfen; das sagen auch die Bürgerinnen und Bürger. Es sind doch Steuergelder, die da verwendet werden, und zwar nicht zu knapp.
({1})
Gerade deshalb ist es wichtig, zu sagen, an wen die Subventionen gehen und für was sie gezahlt werden. Gerade
dann, wenn man die Öffentlichkeit scheut, werden
Agrarsubventionen infrage gestellt. So erreichen Sie das
Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollen. Deshalb
ist es wichtig, auf Transparenz zu bestehen.
({2})
Wie sehr die Bundesregierung in diesem Punkt mauert, habe ich in einer Fragestunde vor gut einem Jahr,
nämlich am 5. April 2006, gemerkt. Da habe ich Staatssekretär Paziorek nämlich danach gefragt. Er hat sich damals zu der Auffassung verstiegen, die Bundesregierung
sei der Meinung, diese Subventionen seien Betriebsgeheimnisse und dürften deshalb nach deutschem Recht
nicht veröffentlicht werden.
({3})
Ich habe ihn gefragt, wie das politisch zu bewerten sei.
Darauf hat er gesagt, die Veröffentlichung sei nicht sinnvoll. - Das ist das eigentliche Motiv, das dahintersteckt.
Nun müssen Sie dem Druck der Öffentlichkeit nachgeben und peu à peu veröffentlichen. Aber was tun Sie?
Sie versuchen nicht, die Veröffentlichung aktiv zu befördern, wie dies in Großbritannien und 13 anderen Ländern schon vor längerer Zeit geschehen ist. Nein, Sie
wollen das erst im Jahr 2009 machen. Das ist wieder ein
großer Fehler; denn wir brauchen die Daten doch schon
im Jahr 2008, weil wir dann darüber diskutieren, was wir
in der nächsten Förderperiode der Landwirtschaft machen.
({4})
Die Verschleppung der Veröffentlichung führt dazu,
dass wir in Deutschland keine Vorschläge machen können, wie wir die Agrarsubventionen in der nächsten Periode effizient einsetzen. Das ist nicht in Ordnung. Das
müssen wir Ihnen als Vorwurf entgegenhalten.
({5})
Setzen Sie sich an die Spitze der Bewegung in der
Bundesregierung. Es wäre sinnvoll, das zu tun. Lassen
Sie die Verzögerungstaktik. Legen Sie die Zahlen auf
den Tisch. Ich bin sicher, dass ein hart arbeitender Bauer
sehr gut erklären kann, warum er welche Subventionen
bekommt.
Danke schön.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Waltraud Wolff, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An dieser Debatte wird deutlich, dass sich alles um
eine zentrale Frage dreht: Wollen wir wirklich, dass die
Menschen in Europa nachvollziehen können, welche
Wirkungen die gemeinsame Politik entfaltet? Diese
Frage ist in dieser Debatte entscheidend.
Sicherlich ist richtig, dass Transparenz ihre Grenzen
hat. Persönlichkeitsrechte und Geschäftsgeheimnisse
müssen geschützt werden. Klar ist aber, dass wir diese
Rechte nicht missbrauchen und berechtigte Bedürfnisse
nach Information nicht verweigern dürfen. Das schadet
letztlich allen: denjenigen, die ein Recht auf den Schutz
haben, vor allem aber den Bürgerinnen und Bürgern, von
denen wir wollen, dass sie der Politik vertrauen, was sie
hoffentlich auch tun.
Die Diskussion über Transparenz ist für uns Politiker
nicht einfach; das wird auch an der heutigen Debatte
deutlich. In den Medien wird es zu großen Schlagzeilen
kommen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Wir müssen erklären, warum bestimmte Unternehmen
Subventionen erhalten. Da die EU-Agrarkommissarin
Fischer Boel die Transparenzinitiative explizit mit der
Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik verbunden
hat, spreche ich als Landwirtschaftspolitikerin zu diesem
Thema.
Warum hat die EU-Kommissarin das getan? Insbesondere in der Agrarpolitik lässt sich beobachten, welche Folgen mangelnde Offenheit hat. Für die meisten
Menschen bedeutet die EU-Agrarpolitik noch immer die
superteure Förderung von Überproduktion. Wir Fachpolitiker wissen, dass das schon lange nicht mehr der Fall
ist.
({0})
Waltraud Wolff ({1})
Aber die Logik der Menschen ist: Wer nicht bereit ist, etwas offenzulegen, hat etwas zu verbergen.
({2})
Genau dieser Auffassung müssen wir offensiv entgegentreten.
Natürlich wird die Diskussion aufkommen, welche Wirkungen unsere Agrarexportsubventionen haben. Wir
werden uns die Frage stellen lassen müssen, warum die
Industrieländer 349 Milliarden Dollar für Produktionsund Exportsubventionen ausgeben. Wir werden uns auch
fragen lassen müssen, warum wir damit niedrige Exportpreise fördern und so die lokale Produktion in den Entwicklungsländern verhindern.
Mit den Vorschlägen, die wir im Rahmen der Doharunde gemacht haben, haben wir diese Fragen bereits
aufgegriffen. Nun müssen wir deutlich machen, dass wir
diese Politik ernsthaft fortführen werden. Die Transparenzrichtlinie bietet uns die große Chance, zu erklären,
warum landwirtschaftliche Betriebe finanzielle Unterstützung brauchen. Das Ziel der Agrarpolitik ist, Leistungen in der Landwirtschaft für besonders hohe Qualität,
für die Umwelt und für die Gesellschaft zu honorieren.
Fest steht: Diese Leistungen werden am Markt nicht bezahlt, jedenfalls nicht mit der deutschen Geiz-ist-geilMentalität.
Für mich als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern ist es besonders wichtig, aufzuzeigen, warum große
Betriebe Ausgleichszahlungen bekommen und warum
sie notwendig sind. Wenn wir zum Beispiel die durch die
Extensivierung entstehenden höheren Kosten ausgleichen, dann fallen diese Kosten für alle an: für die kleinen
Betriebe genauso wie für die großen Betriebe. Wenn
man sich dann noch vor Augen führt, wie viele Arbeitnehmer in den großen Betrieben in Ostdeutschland beschäftigt sind, und zwar sozialversicherungspflichtig,
({3})
und dass das Dorfleben sehr oft von einer einzigen
Agrargenossenschaft am Ort abhängig ist, dann ist es
folgerichtig, dass Obergrenzen für Direktzahlungen aus
deutscher Sicht abzulehnen sind.
({4})
Über eine lineare Degression kann man reden. Aber
Obergrenzen sind abzulehnen. An dieser Stelle danke ich
der Bundesregierung, die dazu eindeutig Stellung genommen hat.
({5})
Die Offenlegung der Fördersummen muss aber - auch
das sage ich in Richtung Bundesregierung - mit Betriebsdaten wie der Anzahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer unterlegt werden.
Die Zahlen allein dokumentieren überhaupt nichts. Was
für die Agrarförderung gilt, gilt natürlich auch für die
Strukturfonds.
Ich sage Ihnen eines: Lassen Sie uns alle gemeinsam
endlich etwas mutiger werden. Das hilft den Menschen,
Politik zu verstehen, und es hilft auch, Schwachstellen,
die vielleicht gerade nicht in der Landwirtschaft liegen,
aufzuzeigen.
Zwei Bitten habe ich zum Schluss. Erstens. Es ist hier
schon angesprochen worden: Die Bundesregierung sollte
im Interesse der Betriebe und auch einer sachlichen Diskussion ihren Zeitplan überdenken und in 2008 alle Daten veröffentlichen - und sie sollte sie selbst veröffentlichen und dies nicht an die Kommission abgeben. Wir
selbst haben es in der Hand. Wir können einen gemeinsamen Rahmen beschließen, aber die Mitgliedstaaten
sollten selber veröffentlichen.
({6})
Die zweite Bitte - das ist hier heute überhaupt noch
nicht angesprochen worden - richte ich an die Landesparlamente. Ich fordere die Landesparlamente von hier
aus auf, sich zu positionieren und konstruktiv an der Datenerfassung mitzuarbeiten. Das ist gar nicht so schwierig, aber die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen
müssen sich damit auseinandersetzen.
Ich bitte Sie, lassen Sie uns gemeinsam die knappe
Zeit und auch die inhaltlichen Chancen, die in diesem
Thema stecken, nutzen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Europäische Transparenzinitiative aktiv unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5287, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2203 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
bei Enthaltung von Linken und Grünen und Ablehnung
der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5287 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/2518 mit dem Titel „Forderung der
EU nach Transparenz bei Subventionen im Agrarbereich
vollständig umsetzen und die Neuausrichtung der Förderung vorbereiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Linken und Ablehnung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Forderung der EU nach Transparenz bei Subventionen
für die Wirtschaft vollständig umsetzen und die Neuausrichtung der Förderung vorbereiten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5288, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2517 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Agrarbeihilfeempfänger offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3039, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1962 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP bei Enthaltung der Grünen und Ablehnung
der Linken angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Zeil, Paul K. Friedhoff, Frank Schäffler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eigenkapitalbildung fördern - Deutschlands
Mittelstand fit machen
- Drucksache 16/3841 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Martin Zeil, FDP, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
italienische Politiker Pella hat einmal den schönen Satz
geprägt:
Das Kapital hat das Herz eines Hasen, die Beine eines Rennpferdes und das Gedächtnis eines Elefanten.
Man könnte in Versuchung kommen, dieses Bild auf die
Regierungkoalition zu übertragen: Der Mut bei Reformen entspricht dem eines Hasen, und das Weglaufen vor
den Problemen des Landes geschieht mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes.
({0})
Nur das Gedächtnis eines Elefanten kann man bei der
Regierung nun überhaupt nicht erkennen; denn da werden Reformversprechen vergessen: An die versprochene
Steuervereinfachung und auch an die Vorschläge von
Professor Kirchhof will sich niemand mehr so recht erinnern.
({1})
Ganz im Gegenteil: Man feiert fette Steuererhöhungen,
greift bei der Unternehmensteuerreform erneut auf die
Substanzbesteuerung zurück und entzieht so gerade dem
Mittelstand das dringend benötigte Kapital.
Hohe Bürokratiedichte, ungünstige steuerliche Rahmenbedingungen, schleppende Genehmigungs- und Zulassungsverfahren, ein überregulierter Arbeitsmarkt und
auch der Fachkräftemangel behindern die Umsetzung
von neuen Ideen und ihre wirtschaftliche Verwertung in
Deutschland. Viele kreative Menschen - das muss uns
besorgt machen - verlassen unser Land.
Eines der Haupthemmnisse für Innovationen und Expansionen - deshalb haben wir Ihnen diesen Antrag vorgelegt - ist die Knappheit von Kapital, insbesondere von
Eigenkapital beim Mittelstand. Gute Ideen brauchen Zeit
und Geld zur Reife. Auf der einen Seite ist die Finanzierung junger, risikoanfälliger Technologieunternehmen
wegen der langen und kostenintensiven Forschungs- und
Entwicklungszeiten besonders in der Anfangszeit schwierig. Wegen fehlender Sicherheiten und angesichts der
dünnen Eigenkapitaldecke scheidet eine Fremdfinanzierung durch Bankkredite oft aus. Auf der anderen Seite haben auch etablierte kleine und mittelständische Betriebe
im internationalen Vergleich eine zu geringe Eigenkapitalausstattung.
Nur mit einer gesunden Eigenkapitalquote können
sich die kleinen und mittelständischen Unternehmen in
Deutschland im globalen Wettbewerb behaupten und
auch zukünftig einen wesentlichen Motor für Wachstum
und Beschäftigung darstellen.
({2})
Der Vergleich der Eigenkapitalausstattung des industriellen Mittelstandes in Deutschland mit der von vergleichbaren Unternehmen in anderen Ländern zeigt die
Schwächen deutlich. So wiesen deutsche Unternehmen
2005 einen durchschnittlichen EK-Anteil von circa
17 Prozent der Bilanzsumme auf, während Unternehmen
in fast allen anderen Industrieländern deutlich höhere
Werte aufweisen, vielfach sogar Werte von 30 bis
40 Prozent.
Nicht unproblematisch für den Mittelstand sind in diesem Zusammenhang auch die neuen Basel-II-Regelungen, die die Banken zur Neubewertung ihrer Kreditrisiken
zwingen. Dadurch wird die traditionelle Kreditfinanzierung stärker limitiert als bisher. Der Sachverständigenrat
stellt fest, dass sich das wandelnde Finanzierungsumfeld
vor allem von mittelständischen Unternehmen als Bedrohung empfunden wird, da die geänderte Geschäftspolitik der Banken den traditionellen Zugang zu Finanzierungsmitteln in Form von Bankkrediten tendenziell
verschlechtert hat.
Neben der Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen zur Erhöhung des Wachstums und damit der
Gewinnthesaurierungsmöglichkeiten sollte sich eine gezielte und marktkonforme Förderung vor allem auf eine
Verbesserung der Möglichkeiten für kleine und mittelständische Unternehmen konzentrieren, an Beteiligungskapital zu kommen. Umfragen unter Unternehmen haben zudem ergeben, dass es nicht unbedingt an
Informationen über alternative Finanzierungsinstrumente mangelt. Viele Unternehmer fürchten vielmehr
den Einfluss von fremdem Eigenkapital auf die eigene
Entscheidungsfreiheit. Deswegen reichen die staatlichen Maßnahmen zur Gründer- und Frühphasenförderung und andere erfolgreiche Fördermaßnahmen nicht
aus. Ich erwähne hier ausdrücklich die ERP-Förderung,
die Sie leider mit Ihrem Neuordnungsgesetz kannabilisieren wollen.
({3})
- Kannibalisieren, habe ich doch gesagt.
({4})
Ich habe vielleicht, Herr Kollege, für einen Oberpfälzer
ein bisschen zu schnell gesprochen.
({5})
Sie betreiben hiermit auch Raubbau an den Geldern
des Mittelstandes. Die Politik muss ihr Augenmerk vor
allen Dingen auf die Mobilisierung privaten Kapitals für
die Stärkung des Eigenkapitals richten. Die Bedingungen für Beteiligungskapitalgeber, aber auch für die Mitarbeiterbeteiligung müssen endlich auf einen internationalen Standard gebracht werden.
({6})
Die Kommunikation zwischen Kreditinstituten und
kleinen Unternehmen zum Thema Rating muss durch
geeignete Maßnahmen aktiv belebt werden. Wir haben
in unserem Antrag weitere Vorschläge zu diesem Thema
gemacht.
Entscheidend ist - da möchte ich die Große Koalition
an ihre Koalitionsvereinbarung erinnern, in der Sie sehr
schöne Ankündigungen zu dem Thema gemacht haben -,
dass die Ankündigungen jetzt mit Inhalt gefüllt werden
und ihnen auch wirklich Taten folgen, Herr Kollege
Stiegler.
({7})
- Sie regieren ja nun schon eine Weile, möglicherweise
länger, als Sie von jetzt ab noch regieren werden.
({8})
Jetzt ist Zeit zum Handeln.
Ich möchte mit einem Zitat von Henry Ford schließen:
Der oberste Zweck des Kapitals ist nicht, mehr
Geld zu schaffen, sondern zu bewirken, dass das
Geld sich in den Dienst der Verbesserung des Lebens stellt.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Kai Wegner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Zeil, die Bilder, die Sie zu Beginn Ihrer Rede gezeichnet
haben, fand ich interessant. Ich habe mich nur gefragt,
welche Bundesregierung Sie da meinen.
({0})
Denn spätestens mit der gestrigen Debatte in der Aktuellen Stunde muss selbst Ihnen bewusst geworden sein,
dass die Bilanz dieser Großen Koalition sehr positiv ist.
({1})
Dass wir gestern im Rahmen der Aktuellen Stunde
die gute wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land
mit den daraus resultierenden positiven Folgen am Arbeitsmarkt debattieren konnten, lieber Herr Zeil, liegt
vor allem an den kleinen und mittleren Unternehmen
in Deutschland. Mit 99,7 Prozent aller Unternehmen und
70,5 Prozent aller Arbeitsplätze bildet der Mittelstand
weiterhin das Rückgrat unserer Wirtschaft.
Nicht nur die sogenannten Global Player haben es
verstanden, erfolgreich die dynamische Entwicklung des
europäischen Binnenmarkts und die Chancen der Globalisierung für sich zu nutzen. Zahlreiche Unternehmen
aus den Reihen des Mittelstands, die sich teilweise sogar
als Europa- oder Weltmarktführer behaupten, beweisen
die herausragende Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen für unser Land.
Diese beeindruckende Bilanz ist allerdings nicht naturgegeben. Dass sie fortgeführt werden kann, setzt voraus, dass den mittelständischen Unternehmen auch in
Zukunft das notwendige Kapital für die Umsetzung ihrer Ziele zur Verfügung gestellt wird. Bis heute finanziert die überwiegende Zahl der kleinen und mittleren
Unternehmen ihren Kapitalbedarf mit traditionellen
Bankkrediten. Den Ausschlag zugunsten von Fremdfinanzierung gegenüber Eigenkapitalbildung geben vor
allem die Spezifika des deutschen Steuersystems und die
hiesigen günstigen Kreditbedingungen. Es ist deshalb
nicht verwunderlich, dass die Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen im internationalen Vergleich geringer ist.
Im Zuge der Umsetzung des Basel-II-Abkommens
wird es den Banken wieder ermöglicht, Kredite von weniger als 1 Million Euro mit weitaus geringeren Eigenkapitalanforderungen als bisher zu vergeben. Das betrifft
etwa 90 Prozent aller vergebenen Kredite zurzeit, und
auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
ist ein Verdienst und ein großer Erfolg von unserem
Wirtschaftsminister Michael Glos und der Großen Koalition.
({2})
Es wäre aber falsch, von einer generellen Eigenkapitallücke des deutschen Mittelstandes zu sprechen. Trotzdem bin auch ich der Meinung, dass der deutsche Mittelstand langfristig mehr Eigenkapital benötigt, um zum
Beispiel die Chancen, die sich im Zuge der Globalisierung bieten, so erfolgreich wie bisher zu nutzen.
Bereits seit vielen Jahren sind Private-Equity-Investoren in Deutschland sehr aktiv. Mittlerweile werden
über 800 000 Arbeitsplätze in Deutschland mit ihrer
Hilfe gesichert. Diese Unternehmen tragen rund 7 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Durch dieses Engagement wird den Unternehmen ermöglicht, ihre Ziele
- sei es die Entwicklung eines neuen Produktes oder gar
der Börsengang - auch mit geringerer Eigenkapitalquote
zu verwirklichen.
Insbesondere junge und technologieorientierte Unternehmen profitieren von dieser Finanzierungsform. Mit
ihnen steht und fällt die technologische Leistungsfähigkeit unseres Landes. Deshalb freut es mich ganz besonders, lieber Herr Zeil, dass sich auch die FDP dieses
Themas annimmt
({3})
und die Bundesregierung in ihrem Bestreben unterstützen will, damit Deutschland wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für Beteiligungskapital erhält.
({4})
- Ich sagte doch, dass ich mich über Ihre Unterstützung
dabei freue.
Die Fortentwicklung der bestehenden Rechtslage in
ein Private-Equity-Gesetz wird ein wichtiger Baustein
sein, dieses Ziel zu erreichen. Meine Fraktion, die
Union, hat hierzu bereits einen detaillierten Katalog zur
steuerlichen Förderung vorgelegt. Vor allem über eine
transparentere und erleichterte Besteuerung der Anleger
sowie Eigenkapitalnehmer wird hierbei zu reden sein.
({5})
Neben den Hightechgründern und jungen Technologieunternehmen dürfen wir aber nicht den klassischen
Mittelständler der sogenannten Old Economy aus den
Augen verlieren.
({6})
Die Aufnahme von Beteiligungskapital bleibt für viele
von ihnen nur schwer realisierbar. Das liegt primär aber
nicht am geringen Bekanntheitsgrad dieser Finanzierungsform, sondern am Markt für Beteiligungskapital.
Bisher konzentrierten sich Private-Equity-Gesellschaften eher auf ausgewählte Unternehmen sowie auf das
angesprochene Segment der innovativen Jungunternehmen. Aber am breiten Mittelstand geht das Beteiligungskapital immer noch vorbei. Die Bundesregierung tut
deshalb gut daran, Herr Zeil, gemeinsam mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau unter anderem durch das Deutsche Eigenkapitalforum und durch ERP-Beteiligungsprogramme diese Startschwierigkeiten für interessierte
Mittelständler zu überwinden.
({7})
Der Mittelstand ist und bleibt das Rückgrat unserer
Wirtschaft und globaler Akteur.
({8})
Um sein Potenzial auch in Zukunft voll auszuschöpfen,
bedarf es neuer Finanzierungsinstrumente. Die Große
Koalition hat bereits in ihrem Koalitionsvertrag die Weichen für bessere Rahmenbedingungen für Beteiligungskapital gestellt. Im Sinne der deutschen Wettbewerbsfähigkeit gilt es, mit dem geplanten Private-Equity-Gesetz
gezielt Anreize zu setzen, damit zukünftig die Unternehmerinnen und Unternehmer aufgrund ihrer Bedürfnisse
und nicht aufgrund der Empfehlung ihrer Steuerberater
zwischen Fremdfinanzierung und Beteiligungskapital
entscheiden können.
({9})
In diesem Sinne freue ich mich auf eine lebhafte Diskussion. Ich freue mich auch, dass die FDP-Fraktion die
Bemühungen der Großen Koalition, die wir auch in diesem Punkt zum Erfolg führen werden, unterstützt.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, der
Kollege Zeil und der Kollege Wegner haben sich nicht
richtig verstanden. Falls Bedarf besteht, würde ich ganz
gern vermitteln und dafür sorgen, dass sie sich verstehen.
({0})
- Herr Tauss, rufen Sie nicht immer dazwischen. Hören
Sie doch einfach mal zu!
({1})
Geld regiert die Welt. Das wusste schon Herzog
Friedrich von Sachsen im 17. Jahrhundert. Bis heute ist
dieser Spruch für zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen bittere Realität. Viele leiden an einer zu geringen Eigenkapitalbasis und sind deswegen auf einen einfachen Zugang zu langfristigen Krediten angewiesen.
Hier aber beginnt das Problem. Die FDP macht heute
zu Recht auf diese Frage aufmerksam; allerdings haben
wir - so muss ich sagen, Herr Zeil - einen etwas anderen
Ansatz.
({2})
Kleinstunternehmen werden von den Banken Kredite
verweigert. Größere, gewinnträchtige Mittelständler geraten nicht selten in die Fänge windiger Finanzinvestoren.
Sicher, die Eigenkapitalquote des Mittelstandes hat
sich etwas verbessert. Der Druck internationaler Finanzabkommen wie Basel II hat dazu gezwungen. Haben
Firmen nicht genügend Eigenkapital, erhalten sie Kredite allenfalls zu horrenden Zinsen. Für zahlreiche
Kleinstunternehmen stellt sich dieses Problem oft gar
nicht. Ihnen verweigern Banken oftmals notwendige
Kredite; Herr Zeil, Sie haben dies betont. Jedes dritte
Unternehmen mit weniger als fünf Beschäftigten erhält
von seiner Bank einen Ablehnungsbescheid.
Es geht hier nicht nur um mögliche verschenkte Arbeitsplätze. Die Bundesregierung hat auf eine Anfrage
der Linken eingeräumt - ich zitiere -:
Als Folge unterbliebener Investitionen könnte die
Schaffung von bis zu 44 000 Arbeitsplätzen verhindert worden sein.
Nein, es geht hier auch um eine systematische Benachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen.
({3})
Das Risiko eines kleinen Unternehmens mit einem
Jahresumsatz von weniger als 1 Million Euro, von seinem Kreditberater ein Nein zu hören, ist fünfmal größer
als bei einem Unternehmen mit einem Umsatz von mehr
als 50 Millionen Euro. Manager großer Konzerne setzen
Millionenbeträge in den Sand. Aber dem kleinen Handwerker oder Dienstleister vor Ort wird der Kredit einfach
verweigert.
Stichwort „Zahlungsmoral“. Viele mittelständische
Unternehmen leiden darunter, dass sie ihre Aufträge zu
spät oder teilweise gar nicht bezahlt bekommen. In meinem Wahlkreis gibt es eine große Klinik, die im Wert
von 56 000 Euro bauen lässt und dem kleinen Handwerker nur 31 000 Euro zahlt. Ich frage Sie: Ist das gerecht?
Sie nutzt die Räume, und im Endeffekt hat der kleine
Handwerker gar nicht die Möglichkeit zu klagen.
Stichwort „ERP-Programm“. Hier ist die Bundesregierung dabei, ein originär mittelstandspolitisches Fördermittel für die Haushaltslöcher des Finanzministers zu
verscherbeln.
({4})
Da sind wir mit der FDP einer Meinung. Diese Regierung verfolgt eine fatale Wirtschaftspolitik gegen den
kleinen Mittelstand. Aber so ist es eben mit dieser Großen Koalition; wir sind da schon einiges gewöhnt. Ihre
Politik für mehr Markt und weniger Staat ist Gift und
führt zum Sterben von kleinen und mittleren Unternehmen.
Ich komme zum Schluss. Mittelständische Unternehmen empfinden das sich wandelnde Finanzierungsumfeld als Bedrohung und fürchten den Einfluss fremden Eigenkapitals auf die eigene Entscheidungsfreiheit;
Herr Zeil, Sie sagten es bereits. Dies empfinden sie zu
Recht, wie die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben. Die Regierung muss auf solche Finanzierungsinstrumente, mit denen man nur darauf aus ist, hohe Renditen zu erzielen und die Unternehmen mit horrenden
Zinsen zu belasten, verzichten, statt sie zu fördern.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Christian Lange ({0}) hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1)
({1})
Damit kann ich dem Kollegen Gerhard Schick, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! In einer Phase guter Konjunktur besteht nicht nur
für den öffentlichen Bereich die Gefahr, dass man ver-
gisst, welche Schwierigkeiten es im nächsten Ab-
schwung wieder geben wird. Dies gilt genauso für die
Unternehmensfinanzierung.
Ich finde es deswegen richtig, dass wir uns jetzt, in ei-
nem Moment, in dem die meisten Unternehmen im Hin-
blick auf den Kapitalzugang eigentlich nicht massiv kla-
gen, trotzdem mit diesem Thema beschäftigen. Denn
1) Anlage 2
zum einen gibt es ganz spezifische Bereiche - Herr Zeil,
Sie haben ein paar angesprochen -, in denen es immer
noch Zugangsschwierigkeiten gibt. Das gilt insbesondere für den Bereich sehr innovativer und forschungsintensiver Unternehmen. Zum anderen geht es um eine
Art Vorsorge, also darum, was mit kleinen und mittleren
Unternehmen passiert, wenn die Innenfinanzierung nicht
so gut abläuft wie jetzt in einem konjunkturellen Aufschwung.
Wir können vielem, was Sie in der Analyse feststellen, auf jeden Fall zustimmen. Gerade für uns Grüne ist
die Finanzierung von Innovationen vor dem Hintergrund
der großen Herausforderungen, vor denen wir angesichts
des ökologischen Umbaus unserer Wirtschaft stehen, ein
extrem wichtiges Thema.
Ich fand vor allem den Punkt Rating interessant. Es ist
gut, sich genauer anzuschauen, was aus Basel II folgte.
Da besteht, glaube ich, großer Beratungsbedarf bei den
Unternehmen; die Kommunikation müsste anders laufen. Da stimme ich Ihnen auf jeden Fall zu. Ihre Forderungen beziehen sich in einer Reihe von Punkten im Wesentlichen auf steuerliche Förderungsmöglichkeiten.
Man hat ein wenig den Eindruck, dass Sie es wie folgt
sehen: Da ist ein Problem, also müssen wir die Steuern
senken. - Ich glaube, so allgemein können wir das nicht
sehen.
({0})
Gerade bei der Abgeltungsteuer, die Sie ansprechen,
merken wir im Moment, dass es, wenn man eine Steuersenkung im Bereich Kapital nicht richtig justiert, nach
hinten losgehen kann.
Ich möchte diese Debatte nutzen, um noch einmal zu
schauen, was im Moment passiert. Herr Wegner, Sie sagen, die Weichen seien im Koalitionsvertrag gestellt.
Dazu muss ich sagen: Ein Unternehmer hat von dem,
was im Koalitionsvertrag steht, erst einmal gar nichts.
({1})
Er hat etwas davon, wenn Geld fließt und wenn Gesetze
verändert werden.
({2})
Sie sollten sich nicht auf ein paar Phrasen im Koalitionsvertrag ausruhen.
({3})
Es kommt darauf an - ich hoffe, dass die Wirtschaftspolitiker in der Unionsfraktion und in der SPD-Fraktion
unser Ansinnen unterstützen -, zwei wichtige Korrekturen bei der Unternehmensteuerreform vorzunehmen.
Die eine Korrektur betrifft die Frage: Was passiert denn
durch die Kombination aus Unternehmensteuerreform
und Abgeltungsteuer hinsichtlich der Fremdkapital- und
Eigenkapitalfinanzierung? Finanzierungsneutralität wird
nicht erreicht. Vielmehr begünstigen wir die Fremdfinanzierung. Das heißt, dass das Ganze nicht genau
aufeinander abgestimmt ist. Wir haben Sie deswegen in
unserem Antrag zum Wagniskapital aufgefordert, Justierungen vorzunehmen. Sie wissen, dass es da auch um die
Beibehaltung des Halbeinkünfteverfahrens geht. Aus
wirtschaftspolitischer Perspektive muss man, wenn man
Ihre Analyse ernst nimmt, da noch etwas tun.
({4})
Der zweite Punkt - auch das haben wir in unserem
Antrag zum Wagniskapital geschrieben - betrifft folgende Frage: Wie schaffen wir es, dass innovative Investitionen gefördert werden? Mit den jetzigen Regelungen
beim Mantelkauf sind wir nicht zufrieden. Ich weiß, dass
bei Ihnen allgemein darüber diskutiert wird. Sorgen Sie
jetzt dafür, dass es nicht bei Reden und Weichenstellungen des Koalitionsvertrages bleibt, sondern dass Sie bei
dieser Unternehmensteuerreform etwas Konkretes für
eine bessere Finanzierung der Innovationen in Deutschland tun.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3841 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 28 a und
28 b sowie Zusatzpunkt 8 auf:
28 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Bologna-Prozess voranbringen - Qualität
verbessern, Mobilität erleichtern und soziale
Hürden abbauen
- Drucksache 16/5256 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Für einen sozialen Europäischen Hochschulraum
- Drucksache 16/5246 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht zur Realisierung der Ziele des
Bologna-Prozesses
- Drucksache 16/5252 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Kollegin
Krista Sager, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wissenschaftspolitiker sind sich sicher einig, dass wir die
Ziele des Bolognaprozesses unterstützen. Förderung der
Mobilität, internationale Vergleichbarkeit und Anerkennung von Abschlüssen - das sind gute Ziele. Diese unterstützen wir alle.
({0})
Die Ministerkonferenz, die nächste Woche in London
stattfindet, ist aus unserer Sicht ein guter Ansatz, um
auch die Probleme ins Visier zu nehmen und zu schauen,
wo es stockt und nicht gut funktioniert. Denn die
Umstellung der Studienstruktur ist ein riesiges Reformprojekt. Wir müssen aufpassen, dass wir die Akzeptanz für dieses große Reformprojekt nicht verlieren. Bei
den Zeitzielen und den quantitativen Zielen ist Deutschland sicher gut dabei; das kann man nicht anders sagen.
Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass die Qualität des
Studiums und die Lernprozesse im Studium diesen ehrgeizigen Zeitzielen nicht zum Opfer fallen.
({1})
In den Ländern besteht durchaus Anlass zur Sorge.
Wir können feststellen, dass die Qualität des Studiums
bei der Reform nicht überall gewahrt worden ist und
dass es nicht überall gelungen ist, Qualitätssicherung
und Akkreditierung zusammenzuführen. Bei der Akkreditierung gibt es einen Stau, und Sammelakkreditierungen sind keine Qualitätslösung. Oft sind Zwischenprüfungen einfach in Bachelorabschlüsse umgewandelt
worden. Oft hat eine Verschulung stattgefunden, und die
Spezialisierung erfolgte zu früh. Das darf so nicht weitergehen.
({2})
Ich sehe mit großer Sorge, dass der erhöhte Betreuungsaufwand im Bachelorstudium oft dazu führt, dass
Studienanfängerplätze abgebaut werden. Auch damit gefährden wir die Akzeptanz dieser großen Reform. Wenn
die Betreuung in den Studiengängen, die noch nicht umgestellt sind, verschlechtert wird, dann gefährdet auch
das die Akzeptanz dieser Reform.
Wenn Landesregierungen im Windschatten dieser Reform eine Sparpolitik betreiben, die dazu beiträgt, dass
die Möglichkeit zum Übergang vom Bachelor zum
Master zum Teil nur noch bei 30 Prozent liegt,
({3})
dann ist das sicher nicht im Sinne des Erfinders und der
Erfinderin. Da können wir nicht ruhig zuschauen.
({4})
Diese Sparpolitik untergräbt die Reform. Deswegen
muss gegengesteuert werden.
Genauso problematisch ist es, dass viele Studierende
immer noch keine Klarheit darüber haben, wie es mit der
Akzeptanz der neuen Abschlüsse in der Wirtschaft
aussieht. Es gab durchaus entsprechende Kampagnen:
„Bachelor welcome“, „More Bachelors welcome“. Aber
das reicht nicht. Wir müssen auch von den Sozialpartnern fordern, dass sie Klarheit darüber schaffen, was die
Studierenden mit diesen Abschlüssen von der Wirtschaft
erwarten können. Wir brauchen mehr Daten und mehr
Informationen. Die Londoner Konferenz muss einen
Beitrag dazu leisten.
Besonders schwierig wird es aber, wenn das eigentliche Hauptziel, Mobilität, geradezu konterkariert wird.
Wenn zum Beispiel die Leistungspunktsysteme, die
neu eingeführt worden sind, am Ende gar nicht ECTSkompatibel sind oder deutsche Hochschulen dazu übergehen, bilaterale Verträge zur Anerkennung deutscher
Abschlüsse abzuschließen, dann sind das Indikatoren für
Umstellungsdefizite. Diese Umstellungsdefizite müssen
angegangen werden. Wir dürfen nicht länger abwarten.
({5})
Die Mobilität wird auch eingeschränkt, wenn Probleme in der sozialen Dimension hinzukommen, wenn
man sich aufgrund der Verengung und Verschulung des
Bachelorstudiums nicht für Mobilität entscheidet, sondern dafür, zu Hause zu bleiben. Auch das entspricht
nicht der Intention dieser Reform.
({6})
Ein wichtiges Thema in London wird die Promotion
sein. Wir begrüßen grundsätzlich, dass die Promotion in
den Bolognaprozess einbezogen wird. Wir erwarten aber
auch, dass Sie, Frau Ministerin, sich dafür einsetzen,
dass der Zugang zur Promotion vielfältig bleibt, dass es
ein freier Weg bleibt und der Weg nicht verschult wird.
Ich glaube, auch darin sind wir uns einig.
({7})
Ich appelliere weiter an Sie: Sorgen Sie dafür, dass
das Bolognakompetenzzentrum bei der Hochschulrektorenkonferenz erhalten bleibt. Ich appelliere ausdrücklich
an alle nationalen Bolognaakteure, an die Teilnehmer
der nationalen AG: Gehen Sie die Defizite gemeinsam,
koordinierter und sehr viel entschiedener an. Die Akzeptanz dieses großen Reformvorhabens darf an den Hochschulen nicht verloren gehen. Das wäre ein großer Schaden.
({8})
Für die Bundesregierung hat die Bundesministerin
Dr. Annette Schavan das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In der Tat ist die Konferenz,
die in der nächsten Woche in London stattfindet, eine
gute Gelegenheit für eine Zwischenbilanz. Denn der
Zeithorizont, der vor einigen Jahren beschlossen worden
ist, ist ungewöhnlich ehrgeizig. Deshalb stimme ich allen zu, die sagen, in London kann es nicht darum gehen,
den Bolognaprozess zu feiern, sondern wir müssen
selbstkritisch fragen, wo man angesichts der Erfahrungen der mittlerweile 45 beteiligten Länder von Problempunkten sprechen muss.
Dabei muss klar sein: Der Bolognaprozess bedeutet
nicht die Harmonisierung von Studiengängen. Er bedeutet vielmehr Transparenz und damit verbunden Übersetzung, um in den 45 Ländern zu einer wechselseitigen
Anerkennung der erbrachten Studienleistungen zu kommen. Dieses wiederum ist die Voraussetzung für Mobilität.
Das Kabinett hat Anfang Mai den Zweiten Bericht
zur Realisierung der Ziele des Bolognaprozesses vorgelegt bekommen und hat ihm zugestimmt. Es gibt die positive Nachricht, dass 48 Prozent der Studiengänge in
Deutschland umgestellt sind. Allerdings sind davon erst
12 000 Studierende betroffen. Das hat damit zu tun, dass
wir in den großen Fachbereichen - Jura und den Heilberufen - noch nicht so weit sind. Bei den Juristen gibt es
klare Schulen und klare Fronten.
({0})
Die Frau Kollegin Justizministerin ist ganz anderer Meinung als diejenigen, die diesen Prozess vorantreiben
wollen. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Die Schweiz beispielsweise hat umgestellt.
({1})
Sie haben die Mobilität angesprochen. Da muss man
ganz realistisch fragen: Welches werden künftig die
klassischen Zeitpunkte für Mobilität sein? Das wird sich
immer mehr in die Zeit zwischen Bachelor und Master
verlagern. Um hier mehr Internationalisierung zu ermöglichen, muss in Gesprächen unter den Mitgliedsländern im Hinblick auf die Struktur Klarheit geschaffen
werden. Meine Prognose ist: Die Mobilität wird allein
mit den bisherigen Schritten nicht erreicht werden. Das
wird nur gehen, wenn mehr Hochschulen an diesem Prozess beteiligt sind und wenn es konkrete Vereinbarungen
gibt - europäische Angebote oder sogar internationale
Angebote für Studierende -, damit man zwischen den
drei Jahren dieses Bachelorstudiums unterscheiden kann.
Zu Ihrer konkreten Frage nach dem Servicezentrum
für diesen Prozess: Es steht fest, dass es ab 1. Juli dieses
Jahres ein Nachfolgeprojekt für dieses Servicezentrum
geben wird, das wie bislang der Hochschulrektorenkonferenz angegliedert und bis 2010 weiter vom Bund gefördert wird.
({2})
Das halte ich für notwendig; denn wir sind mitten im
Prozess.
Natürlich werden Fragen nach der Weiterentwicklung
des Akkreditierungssystems gestellt. Es gibt große
Universitäten, die sagen: Das könnten wir eigentlich
selbst machen. Ferner gibt es die Frage der Systemakkreditierung. Um all dies wird es in London gehen.
Schließlich werden wir auch in Deutschland Fragen
klären müssen. Wir müssen zum Beispiel wegkommen
von der rigiden Festlegung, dass ein Bachelorstudium
drei Jahre umfasst. Hier braucht es Spielraum; darüber
werde ich mit den Ländern sprechen.
({3})
Nur „Drei Jahre plus zwei Jahre“ ist falsch.
({4})
Auch das muss unter den 16 Ländern rasch geklärt werden, damit man nicht Probleme bei der Anerkennung bekommt.
({5})
Zum Thema Betreuung kann ich nur sagen: Wir brauchen nicht weniger Studienplätze in Deutschland, wir
brauchen mehr Studienplätze in Deutschland.
({6})
Dafür tut der Bund mit Ihrer aller Unterstützung viel.
Man muss aber auch sagen: Der Wettbewerb der
Universitäten wird auch ein Wettbewerb um Qualität
sein.
({7})
Wer die schlechtere Qualität hat, fällt irgendwann hinten
herunter.
So gehe ich auf die Konferenz nach London. Ich bin
gerne bereit, das Parlament im Anschluss an die Konferenz über die Ergebnisse zu unterrichten.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Cornelia
Pieper das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen ganz besonders an Herrn Tauss gerichtet!
({0})
Frau Ministerin, ich gebe Ihnen recht: Die Kriterien für
den Bolognaprozess sind Qualität, Wettbewerb und Mobilität.
Wenn ich den Antrag der Linken „Für einen sozialen
Europäischen Hochschulraum“ lese, dann bekomme ich
Bedenken, ob sie unsere Meinung hinsichtlich dieser
Kriterien für den Bolognaprozess mit uns teilen; denn sie
wollen verhindern, dass die Universitäten, die Hochschulen zukünftig aus eigenem Willen - wenn sie denn
autonom gestellt sind - Studiengebühren bzw. Studienentgelte erheben können.
({1})
Ich sage ganz klar: Das wollen wir Liberale nicht. Für
uns ist das ein Kriterium des Wettbewerbs. Um das klarzustellen: Die Universitäten, die Hochschulen können
die Studienentgelte selbst einfordern, müssen das aber
nicht. Wenn sie das tun, dann geschieht das natürlich,
um die Qualität der Lehre und insbesondere auch die
Studienbedingungen für die Studierenden zu verbessern.
Deswegen lehnen wir den Antrag der Linken ab, mit
dem sie eben nicht auf Wettbewerb zwischen autonomen Hochschulen in Europa setzen.
({2})
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche
hat sich das Bundeskabinett mit den Ergebnissen des Bolognaprozesses auf der Grundlage des Nationalen
Berichts 2005 bis 2007 für Deutschland befasst. Es zeigt
sich beim genauen Hinsehen, dass wir die eigenen Interessen gegenüber einer scheinbar unausweichlichen Globalisierung der Hochschullandschaft über Jahre hinweg
hintangestellt haben.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Das Ziel, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu
schaffen, teile ich. Ein erster Schritt war die im
Mai 1998 in Paris unterzeichnete sogenannte SorbonneErklärung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens
für die europäischen Bildungssysteme. Es war der gemeinsame Wille, bestehende Schranken abzubauen und
allgemeine Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Absicht, ein gemeinsames System der gegenseitigen Anerkennung von akademischen Abschlüssen und Leistungen zu schaffen, war und ist richtig.
Konkret wurde es, als die europäischen Bildungsminister im Juni 1999 die Bolognaerklärung zur Schaffung
eines Europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010
und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas als
Bildungsstandort unterzeichneten. Jetzt, im Jahre 2007,
müssen wir darüber nachdenken, wie weit wir von der
Ziellinie entfernt sind und ob wir das Kernanliegen von
Bologna wirklich umgesetzt haben.
Rufen wir uns die zentralen Punkte noch einmal ins
Bewusstsein. Es ging um die Schaffung eines Systems
leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse. Das
sollte uns leiten. Darin eingebunden war die Absicht, ein
zweistufiges System von Studienabschlüssen zu entwickeln, ein Leistungspunktesystem einzuführen, die Mobilität durch die Beseitigung von Mobilitätshemmnissen
zu fördern und Qualitätssicherungssysteme zu schaffen.
Im sogenannten Prager Kommuniqué wurde 1999 die
Prioritätenliste für die kommenden Jahre festgelegt. Nun
fanden auch Überlegungen zum lebenslangen Lernen
und zur Steigerung der Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulraums Aufnahme.
Deutschland muss jetzt im Rahmen seiner europäischen Ratspräsidentschaft Zeichen setzen. Das wird
nicht leicht sein. Gemeinsam mit Großbritannien werden
wir in der nächsten Woche den Vorsitz der Ministerkonferenz in London, einer entscheidenden Bolognanachfolgekonferenz, innehaben.
Meine Vorrednerinnen haben schon gesagt, dass aus
London Ungemach droht. Der Bildungsausschuss des
britischen Unterhauses hat grundlegende Veränderungen
der Bolognavereinbarungen gefordert. Kernpunkte der
Kritik waren eben jene Prozesse, die zu einer nicht gewollten Uniformierung des europäischen Hochschulraums und zu einer bürokratischen Überregulierung führen werden.
Wir müssen die Kritik aus London durchaus ernst nehmen; denn auch wir verfolgen das Ziel, die Selbstständigkeit oder auch Autonomie der einzelnen Hochschule zu
stärken, so, wie wir das im Hochschulfreiheitsgesetz in
Nordrhein-Westfalen zum Ausdruck bringen.
({3})
- Herr Tauss, die Botschaft, die auch wir teilen, lautet:
kein Bologna von oben. - Ich möchte noch einmal betonen: Niemals war die Rede von Vereinheitlichung des
Systems, sondern immer von Vergleichbarkeit und
Vereinbarkeit.
({4})
Was spricht eigentlich gegen traditionelle und regional
geprägte Ausbildungswege, wenn die Vereinbarkeit der
Abschlüsse gesichert ist?
({5})
Ist das europäische Kreditpunktesystem wirklich der
Schlüssel zur Vergleichbarkeit von Studienleistungen,
oder wird dadurch nicht eher nur die Anwesenheit in
Vorlesungen und Seminaren ausgedrückt? Die Europäische Kommission hat offensichtlich auch Zweifel; denn
sie hat zugestimmt, das Kreditpunktesystem zu bearbeiten. Ob und inwieweit das System des nationalen
Qualifikationsrahmens, der sich an den Lernergebnissen vergleichbarer Hochschulabschlüsse orientiert, das
Wohlwollen der anderen Europäer findet, wird sich zeigen.
Eine Position der Briten sollten wir in London aber
unbedingt unterstützen: Die Promotionsphase darf keinesfalls - darin gebe ich Ihnen recht, Frau Sager - durch
die Anwendung des Kreditpunktesystems verschult werden. Das würde dem Sinn der Promotionsphase als eines
wichtigen Schritts in eine Wissenschaftslaufbahn zuwiderlaufen.
({6})
An einem Doktorandenstudium kann wirklich niemand
in Europa interessiert sein. Wir sollten die mahnenden
Worte aus den Technik- und Ingenieurwissenschaften
ernst nehmen.
Überzeugungsarbeit muss aus meiner Sicht in London
auch geleistet werden, wenn es darum geht, die Forderung der deutschen Hochschulrektorenkonferenz zu unterstützen, ein europäisches Register für Akkreditierungsagenturen einzuführen.
Kollegin Pieper, wir schließen die Debatte heute nicht
ab. Ich bitte Sie deshalb, zum Schluss zu kommen.
Gut, Frau Präsidentin. - Das unterstützen wir, und wir
wünschen der Ministerin bei den Verhandlungen in London viel Glück.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Präsidentin, Sie haben eben darauf hingewiesen, dass
wir die Debatte heute nicht abschließen. Wir haben sie
heute aber auch nicht begonnen. Der Bolognaprozess
läuft seit 1999. Wir haben schon 2003 und 2005 Debatten geführt. 2007 debattieren wir jetzt erneut, und zwar
endlich wieder vor der Konferenz statt hinterher. Das
lässt darauf hoffen, dass wir noch Einfluss nehmen können, wenn Frau Schavan und Frau Erdsiek-Rave
Deutschland auf der Konferenz vertreten.
({0})
Im Übrigen ist festzustellen, dass diese Debatten immer stärker konsensorientiert verlaufen. Ich will nicht
kleinlich sein; man soll schließlich mit einem Lob
schließen. Wenn man bedenkt, dass es bei der ersten Diskussion zum Hochschulrahmengesetz eine große Kraft
gab, die nicht einmal die Verpflichtung zur BachelorMaster-Struktur im Hochschulrahmengesetz verankern
wollte, sind wir inzwischen sehr weit gekommen. Denn
jetzt geht es schon manchen nicht mehr schnell genug.
Die Oberkritiker von damals - Baden-Württemberg und
Bayern - wollen jetzt die Weiterentwicklung als besonders dringlich schnell und zwingend vorantreiben.
Ich erinnere mich auch an Debatten, in denen ein Ministerpräsident aus Hessen gegen das, was wir alle heute
begrüßen - nämlich dass der Bund ein solches Servicekompetenzzentrum fördert -, beim Bundesverfassungsgericht geklagt hat.
({1})
Wir haben hier eine Debatte geführt, in der Herr Rachel,
der jetzt als Staatssekretär neben unserer Ministerin sitzt,
vehement in die Tonlage des hessischen Ministerpräsidenten mit eingestimmt hat. Inzwischen ist wieder alles
gut, weil jetzt auf der Regierungsbank das Sein das Bewusstsein bestimmt und neue Einsicht gedeiht.
({2})
Ich erinnere mich auch daran, dass es seinerzeit beinahe infrage gestellt worden wäre, dass eine Bundesministerin Deutschland auf der Konferenz in Bergen mit
vertreten könnte. Daran haben wir nie gezweifelt. Deswegen freuen wir uns auch, Frau Schavan, dass Sie jetzt
zusammen mit Frau Erdsiek-Rave Deutschland vertreten.
({3})
Insoweit sind wir auf einem guten Weg zum Konsens.
Wir sind gleichzeitig auf dem Weg zur Normalität. Ich
erinnere an die Feststellung von Frau Selg in einer früheren Debatte, je mehr Länder beteiligt seien, desto
schwieriger werde es, den Prozess konsequent fortzusetzen. Sie dachte vor allem daran, dass Länder wie Armenien und Aserbeidschan diesen Prozess stören könnten,
was die Gemeinsamkeit angeht.
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wird über
das berichtet, was im englischen Bildungsausschuss aktuell dazu beschlossen wurde. Die Gegensätze zwischen
England und Armenien - das eine ist ein Kernland; das
andere wird eher abschätzig betrachtet - zeigen, dass der
Bolognaprozess an Flexibilität gewinnen kann. Wir unterstützen deshalb ausdrücklich Ihre Absicht, Frau Ministerin, die strenge Regelung, den Bachelor nach drei
Jahren und den Master nach einem weiteren Jahr oder
spätestens nach zwei weiteren Jahren vorzusehen, auch
im Interesse der Unterschiede zwischen den Ländern zu
lockern. Wir meinen, das ist eine gute Weiterentwicklung,
({4})
weil sie auch berücksichtigt, dass mit dem Bolognaabkommen von Anfang an ein Prozess verabredet worden
war, der zu einer Verbesserung der Strukturen, der
Lehre, zu mehr Berufsorientierung, Kooperation und Internationalität führen sollte.
Sie haben in dem vorgelegten Bericht vier Schwerpunkte für Ihre Einwirkung in diesen Prozess, der in
London fortgesetzt wird, genannt: die Struktur, die
Qualität, die Doktorandenausbildung und die soziale Dimension. Aus sozialdemokratischer Sicht will ich gerne
anmerken, dass die Fraktion der Grünen dankenswerterweise einen sehr profunden Antrag eingebracht hat. Von
der Analyse bis zur Vielfalt der Ideen schließen wir uns
dem im Grundsatz gerne an. Das sage ich ausdrücklich
an die Adresse dieser Fraktion, die in diesem Fall eigentlich gar nicht Opposition ist.
Frau Ministerin, Sie möchten gerne an einer Vertiefung der Strukturdebatte mitwirken und haben selber
die Frage aufgeworfen, wie es in Deutschland um die
Studiengänge bestellt ist, die mit dem Staatsexamen abgeschlossen werden. Wir stimmen Ihrer mutigen Ankündigung zu, dass man auch an die Juristenausbildung
- diese ist im Koalitionsvertrag noch ausdrücklich ausgeschlossen - denken müsse. Wir freuen uns, dass wir
hier mit Ihnen über den Koalitionsvertrag - er ist ja nicht
sakrosankt - hinausgehen können. Aber ist das eigentliche Problem nicht die Lehrerausbildung in Deutschland? In Deutschland gibt es 90 000 Jurastudenten, aber
200 000 Lehramtsstudenten. Eine konzertierte, abgestimmte Gestaltung des Lehramtes hätte eine gewaltige
Signalwirkung, gerade was die Attraktivität dieses Berufes angeht. Wenn Sie zusammen mit uns in der Kultusministerkonferenz das hinbekämen, dann wäre das eine
Großtat für über 200 000 junge Menschen, die auf ein
solch schönes Ausbildungsziel hinstudieren.
({5})
Sie haben des Weiteren mehr Akzeptanz in der Wirtschaft gefordert. Die Akzeptanz in der Wirtschaft
wächst, wenn wir dokumentieren können, dass die
Akzeptanz im öffentlichen Dienst zunimmt.
({6})
Meine Bitte ist: Lassen Sie Bund und Länder dokumentieren, welches positive Einstellungsverhalten die öffentliche Hand in Bezug auf Bachelor- und Masterabschlüsse hat. Mit einer solchen positiven Dokumentation
können wir der Wirtschaft zeigen, was wir von einem
guten Bachelor- und Masterabschluss halten.
({7})
Sie haben zudem die Qualitätssicherung angesprochen. Es kursieren mehrere Begriffe wie Programmakkreditierung, institutionelle Akkreditierung und - neuerdings - Prozessakkreditierung. Wir sollten eines
festhalten: Entscheidend muss bleiben, dass es sich um
eine neue Qualität und nicht nur um einen Wechsel der
Leitbegriffe handelt. Der Grundsatz „Qualität geht vor
Schnelligkeit“ bedeutet in einer Politik, in der sich konservative und fortschrittliche Elemente auf ein gemeinsames Ziel einigen, einen gemeinsamen Rückhalt. Diese
Orientierung mag sich - genauso wie es die Hochschulrektorenkonferenz angeregt hat - auf die Qualität einer
Hochschule in den verschiedenen Evaluationen und Vergleichbarkeiten beziehen. Aber Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der Fraktion der Grünen, dass das
vor allem fachbereichsbezogen ernst genommen werden
müsse, ist bedenkenswert. Eine Hochschule ist gewaltig
groß. Daher wäre etwas gewonnen, wenn sich der Prozess auf Fachbereiche bezöge.
Sie haben des Weiteren die Intensivierung der internationalen Vernetzung angesprochen. Wir von der SPD
möchten hier auf einen Vorschlag zurückkommen, den
wir 2005 zusammen mit den Grünen in die Debatte eingebracht hatten. Kann eine Verbesserung der Akkreditierung nicht auch durch einen Austausch internationaler
Akkreditierungsexperten erreicht werden, um über den
personellen Austausch Homogenität bzw. Annäherung
im Verständnis zu erzielen? Frau Ministerin, diese Idee
möchten wir Ihnen gerne auf den Weg mitgeben. Der
Pool, den der Zusammenschluss der Studierenden geschaffen hat, die sich am Akkreditierungsprozess beteiligen, mag dafür ein kleines deutsches Vorbild sein.
({8})
Eine weitere Zielrichtung, die die Bundesregierung
für London vorgibt, ist die Strukturierung der Doktorandenausbildung. Wir teilen das voll und ganz, und zwar
auch unter dem Gesichtspunkt, dass der Lissabonprozess
mit dem großen Ziel, den wissensbasierten Wirtschaftsraum in Europa zum Blühen zu bringen, daran scheitern
könnte, dass uns 500 000 Wissenschaftler - das steckt
eigentlich hinter dem Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben fehlen. So viele Wissenschaftler kann man allerdings nur
gewinnen, wenn man nicht nur Bachelor- und Masterstudiengänge einrichtet, sondern auch die Exzellenz und die
Doktorandenausbildung weiterentwickelt. Es ist extrem
wichtig, dass das miteinander verbunden wird.
Sie kennen es schon: Die soziale Dimension kommt
bei uns Sozialdemokraten immer zum Schluss, weil sie
von zentraler Bedeutung ist. Sie kommt freudvoll, wenn
es um die Perspektiven geht, die wir in Sachen BAföG
schaffen konnten. Sie grenzt uns an einer Stelle allerdings von der Fraktion Die Linke ab. Wir sind genau wie
Sie gegen Studiengebühren; aber wir würden Studiengebühren nicht zum Ausschlusskriterium machen, wenn
es um die Teilhabe am Bolognaprozess geht.
({9})
Deshalb ist Ihr Antrag an der Stelle zu kurz gedacht,
oberflächlich und in der Sache nicht zu akzeptieren.
Ich komme abschließend zu zwei Punkten aus dem
Konzept der Grünen, die wir gerne aufnehmen.
Erstens. Wir finden es gut, dass Sie die Frauenförderung - vom Bachelor bis zum Doktoranden- und Habilitationsstadium - noch einmal thematisiert haben. Können wir nicht das Versprechen, einen großen Schritt in
Sachen Krippen - Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu machen, als Erstes ganz konkret im Hinblick auf die
Vereinbarkeit von Studium und Familie einlösen?
Kann auch das Teil eines Bund-Länder-Programmes
sein? Wir wollen nicht allein ein Frauenförderprogramm
in Bezug auf Professorinnen auflegen - wir haben zur
Kenntnis genommen, dass Sie an einem solchen Programm arbeiten -, sondern wir wollen auch ein gezieltes
Ausbauprogramm mit dem Ziel der Vereinbarkeit von
Studium und Kindern entwickeln. Unseres Erachtens ist
die Umsetzung Ihrer Idee wünschenswert.
Zweitens. Unter Ziffer 18 sprechen Sie die „europäische Dimension“ an. Vielleicht knüpfen Sie damit an die
Frage an, über die etwa an der Reformuniversität Lüneburg oder anderswo nachgedacht wird: Könnte es so etwas wie eine Einstiegsphase, eine Kollegphase geben?
Darüber muss man nachdenken. Wir finden es aber auch
wichtig, die europäische Dimension inhaltlich zu beschreiben, weil Bologna nicht zu einem Synonym für ein
System verkommen darf; Bologna muss als Synonym
für eine positive Haltung zu einem europäischen und internationalen Hochschullebensweg stehen.
({10})
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Konferenz in London, bei der Sie Ihre Anliegen voranbringen.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Hirsch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben es gehört: Das zentrale Ziel im Bolognaprozess war und ist europaweite Vergleichbarkeit im Studium. Das Ganze ist natürlich nicht als Selbstzweck verfolgt worden, sondern war mit dem Versprechen an
Studierende, an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verbunden, europaweite Mobilität zu ermöglichen.
Wir können uns jetzt anschauen, was einige Jahre
nachdem der erste Anstoß gegeben wurde, daraus geworden ist. Frau Sager hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass das mit der Mobilität noch nicht ganz so
funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. Ganz im
Gegenteil!
Man hat den Studierenden versprochen: Wenn du beispielsweise in Berlin angefangen hast, zu studieren, kann
es klappen, dass du ein Auslandssemester in Warschau
machst und danach vielleicht dein Studium in London,
Mailand oder anderswo beendest. Mittlerweile ist es so
weit gekommen, dass die Studierenden feststellen: Ich
kann nicht einmal mehr zwischen Berlin und Konstanz
oder zwischen Berlin und Rostock oder zwischen Hamburg und Tübingen wechseln, weil die Studiengänge in
keiner Form mehr zusammenpassen.
Das Studium ist nicht nur unübersichtlicher geworden
- es gibt einfach in jedem Bundesland und fast an jeder
Hochschule unterschiedliche Konzepte -, sondern die
Studienverläufe sind auch extrem unflexibel geworden.
Wenn Studierende beispielsweise in Jena anfangen, Politikwissenschaft zu studieren, und dann versuchen, auf
eine andere Hochschule zu wechseln und dort wieder
reinzukommen, dann passiert es unglaublich oft, dass ihnen gesagt wird: Im zweiten Semester fehlt dir aber irgendein Modul XY. Obwohl du im sechsten Semester
bist, kannst du dann im Prinzip wieder ganz von vorne
anfangen.
Das halten wir für komplett verkehrt. Frau Ministerin
Schavan, wir sehen aber nicht, dass Sie an dieser Logik
in irgendeiner Form etwas ändern wollen. Ganz im Gegenteil: Wir haben am Mittwoch von Ihnen gehört, dass
das Bundeskabinett beschlossen hat, den Entwurf eines
Gesetzes zur Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes vorzulegen. Wir haben auch festgestellt, dass es
dann einzelnen Bundesländern möglich ist, aus dem jetzt
existierenden System der Qualitätssicherung auszusteigen, wenn sie das wollen. Es hat mit Mobilität, die man
europaweit erreichen will, wirklich überhaupt nichts
mehr zu tun, wenn man dieses Ziel schon im eigenen
Land über den Haufen wirft.
Wir können also feststellen: Das zentrale Versprechen
in Verbindung mit dem Bolognaprozess ist gebrochen;
das Gegenteil des Versprechens ist eingetreten. Das halten wir für falsch.
({0})
Der zentrale Grund dafür, dass wir, Die Linke, heute
den Antrag vorgelegt haben, den Bolognaprozess auf
eine neue Grundlage zu stellen und einen neuen Aufschlag zu machen, ist aber nicht, dass die europaweite
Mobilität offensichtlich nicht funktioniert. Aus unserer
Sicht fehlt bei dieser ganzen Thematik bisher die soziale
Frage. Frau Sager und Herr Rossmann haben zwar darauf hingewiesen, dass dieser Prozess durchaus eine soziale Dimension beinhalte, aber was steht dort dahinter?
Frau Sager, ich kann an Ihrem Antrag konkret deutlich machen, was uns fehlt. Sie führen in einem von
19 Punkten aus, dass Sie ein bisschen mehr Wohnheime,
ein bisschen mehr Beratung wollen. Sie freuen sich über
die Verbesserung bei der Mitnahme von AuslandsBAföG. Ganz davon abgesehen, dass sich das AuslandsBAföG nach dem, was die Bundesregierung gerade vorgelegt hat, verschlechtert, ist der zentrale Fehler, dass
Sie in Ihrem Antrag gleichzeitig den Bolognaprozess als
einen wesentlichen Bestandteil der Lissabonstrategie se10056
hen. Zur Lissabonstrategie gehören aber auch die Empfehlungen der EU-Kommission zur Einführung von Studiengebühren
({1})
und zu mehr Public Private Partnership im Hochschulbereich. Das hat mit einer sozialen Grundlage für einen
solchen Prozess überhaupt nichts mehr zu tun. Das ist
nur soziales Beiwerk, das hinzugefügt wurde.
({2})
Ich frage Sie nun: Was bringt es den Studierenden
oder den an einem Studium Interessierten, wenn so etwas gemacht wird? Man sagt ihnen: Ihr dürft jetzt Studiengebühren bezahlen, und wir versuchen es irgendwie
hinzukriegen, dass das Geld tatsächlich in die Hochschulen fließt, was wahrscheinlich nicht eintreten wird. Dafür
habt ihr eine tolle Studienberatung.
Soziale Ungleichheit werden Sie auf diese Weise
nicht abbauen können.
({3})
Deshalb sagen wir als Linke: Dieser Prozess braucht
eine neue Grundlage. Das könnte der UN-Sozialpakt
sein, in dem unter anderem Gebührenfreiheit festgelegt
wird. Das ist dann kein Ausschlusskriterium, sondern ein
Versuch, gerade im Hochschulbereich einen sozialen
Raum zu schaffen. Das könnte der Anstoß sein, um insgesamt für ein soziales Europa zu streiten. Darum
müsste es uns allen gemeinsam gehen. Die Frau Ministerin hätte die Möglichkeit, das in London einzubringen
und darauf hinzuwirken. Wir wünschen uns stark, dass
Sie das tun. Dazu hätten Sie unsere volle Unterstützung.
Danke schön.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anette
Hübinger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich den voranschreitenden Bolognaprozess, der
sich, wie im vorgelegten Bericht nachzulesen ist, auf einem guten Weg befindet. Der Bericht zeigt, dass wir uns
im europäischen Vergleich nicht zu verstecken brauchen.
Der Bolognaprozess bedeutet tiefgreifende Veränderungen und große Herausforderungen für das deutsche
Hochschulsystem. Darauf wurde heute schon mehrfach
hingewiesen. Er bedeutet aber auch - das ist das Wichtige für mich - große Chancen. An diesen Chancen sollten wir uns orientieren.
Die Probleme, die sich bei der Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes ergeben,
sind erkannt und werden im vorgelegten Bericht benannt. Die an diesem Prozess beteiligten Akteure werden ihn auch in der Zukunft kritisch begleiten; denn wir
wissen, wie wichtig für die Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes eine vielseitige, qualitativ hochwertige und auch berufsorientierte Ausbildung
unserer jungen Menschen ist. Die globalisierte Welt fordert eine verstärkte Mobilität und die Bereitschaft dazu.
Hier eröffnen die Bachelor- und Masterstudiengänge
im europäischen Hochschulraum Chancen, die noch
mehr gefördert werden müssen.
({0})
Der vorgelegte Bericht zeigt Wege hierfür auf, wie die
Einbindung von Auslandsaufenthalten in die Curricula.
Weitere Wege hat Frau Ministerin heute angesprochen.
Verehrte Kollegen der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen, Sie benennen in Ihrem Antrag bestehende
Probleme bei der Umsetzung des Bolognaprozesses und
wiederholen damit lediglich die bereits im vorgelegten
Bericht dargestellten Herausforderungen. Ferner sprechen Sie von einer verschlechterten Ausgangsbedingung
durch die Föderalismusreform I. Sie verkennen meines
Erachtens damit die Chancen, die sich aus der Kompetenzverlagerung auf die einzelnen Bundesländer ergeben.
({1})
Durch den Bolognaprozess soll das Hochschulstudium
internationalisiert werden. Die Internationalisierung soll
gerade nicht mit einer Uniformität der neuen Studiengänge einhergehen. Vielfalt an neuen und unterschiedlichen Studiengängen ist gewollt.
({2})
Wettbewerb der Hochschulen, national wie auch international, bringt uns nach vorne.
({3})
Die Bundesregierung nimmt mit dem Hochschulpakt
zwischen Bund und Ländern und der anstehenden Novelle des BAföGs Verantwortung im Rahmen ihrer
Kompetenzen wahr und leistet einen wichtigen Beitrag
zur erfolgreichen Umsetzung dieses Prozesses. Die Akzeptanz der Bachelor- und Masterabschlüsse in der
Gesellschaft und in der Wirtschaft muss jedoch weiter
zunehmen; auch das wurde heute schon festgestellt. Dieses Ziel wird in dem vorgelegten Bericht klar zum Ausdruck gebracht. Die Erklärungen führender deutscher
Unternehmen unter dem Motto „Bachelor welcome!“
und „More Bachelors and Masters welcome!“ sind
- Frau Sager hat darauf hingewiesen - daher zwar erste,
aber keine ausreichenden Schritte.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, Sie verkennen in Ihrem Antrag, dass der gleichberechtigte Zugang zu den Hochschulen in unserem
Land gesetzlich garantiert ist.
({4})
Ferner wird den sozialen Bedürfnissen der Studierenden
durch unterschiedliche finanzielle Unterstützungen
heute weitgehend Rechnung getragen: sei es das BAföG,
das durch die anstehende Novelle den neuen HerausforAnette Hübinger
derungen angepasst wird, sei es die indirekte Studienfinanzierung durch die Studentenwerke oder seien es die
unterschiedlichen Stipendien, die an die Studierenden
vergeben werden.
Die Mobilität, die ein zentrales Ziel des Bolognaprozesses ist, wird zum Beispiel durch Stipendien des Deutschen Akademischen Austausch-Dienstes und das Erasmus-Programm gefördert.
({5})
Weiterhin verkennen Sie, Kollegen der Fraktion
Die Linke, dass weite Bereiche der Hochschulpolitik - so
auch die Studienfinanzbeiträge von Studierenden - heute
in die Kompetenz der Länder fallen.
Abschließend ist zu sagen: Die Verwirklichung der
Ziele des Bolognaprozesses ist nicht durch staatliche Regulierung, sondern nur durch eine Erweiterung der Autonomie der einzelnen Hochschulen zu erreichen.
({6})
Diesen Weg wird die CDU/CSU-Fraktion gemeinsam
mit unserer Ministerin auch in der Zukunft verfolgen.
Wir wünschen der Ministerin in London viel Erfolg.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5256, 16/5246 und 16/5252 zu
überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss,
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales, an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der FDP und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des geplanten Ausbaus von Kinderkrippen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
19. März las ich in der „FAZ“ die Überschrift: „Von der
Leyen kündigt eigene Finanzierungsvorschläge für Krippen an“. Zwei Monate später liegt immer noch kein
Krippenkonzept vor. Als die Opposition dieses Thema in
der letzten Sitzungswoche auf die Tagesordnung des
Bundestages setzte, fehlte die Ministerin und schwieg
der Staatssekretär. Jeden Tag ein neues Interview, und jedes Mal macht die Ministerin einen neuen Finanzierungsvorschlag für die Betreuung von Kindern unter drei
Jahren.
Von der Leyen versprach zuerst Zuschüsse des Bundes in Höhe von 3 Milliarden Euro. Dann sollten es
600 Millionen Euro nur für Investitionen sein. Nebenbei
gefragt: Was ist eigentlich mit den Tagesmüttern und Tageseltern? Danach war die Rede von 4 Milliarden Euro
aus dem Bundeshaushalt. Gestern kündigte die Ministerin beim Deutschen Landkreistag an, der Bund werde
sich nicht nur an den Investitionen beteiligen, sondern
auch an den Betriebskosten für Krippen.
({0})
- Frau Kressl, ich finde es sehr schön, dass Sie mit dem,
was die Ministerin macht, einverstanden sind.
Von Tagesmüttern, die in die Planung bereits zu einem Drittel eingebunden sind, ist nicht die Rede. Investitionen in Krippenplätze helfen Tagesmüttern und -vätern
überhaupt nicht.
({1})
So ein Chaos wie in dieser Großen Koalition habe ich
in meiner Zeit im Deutschen Bundestag seit 1998 bisher
noch nie erlebt.
({2})
- Herr Tauss, wir beide kennen uns ja. Hören Sie lieber
zu, dann können Sie noch etwas lernen.
({3})
- Das war nicht ernst gemeint.
Der Gipfel ist der Vorschlag, eine Krippenstiftung zu
gründen. Sollen es künftig Stiftungsbeiräte oder andere
Gremien in dieser Stiftung sein, die entscheiden, wie das
Geld ausgegeben wird? Die Kommunen sollen auch
Geld in diese Stiftung geben. Damit entmündigt man die
verantwortlichen Kommunalpolitiker, die vor Ort individuelle Lösungen finden sollen.
({4})
Unserer Meinung ist auch der Deutsche Landkreistag.
Dieser hat sich - genau wie die FDP - für eine Finanzierung der Krippenplätze über die Mehrwertsteuer ausgesprochen, denn das ist verfassungsrechtlich einwandfrei
und kollidiert nicht mit der Föderalismusreform. Heute
erwarten wir - insbesondere die Opposition - eine Aus10058
sage der Bundesregierung dazu, wie sie die Finanzierung
der Krippenplätze, der Tagesmütter usw. handhaben
wird.
Die Menschen sind es leid - ich habe das wirklich
selbst gehört -, dass sich die Große Koalition Tag für
Tag unproduktiv streitet und auf dem Rücken von Eltern
und Alleinerziehenden parteipolitische Süppchen gekocht werden.
({5})
- Das ist so; seit Wochen geht das so.
({6})
Das FDP-Konzept für eine bessere Betreuung für
Kinder unter drei Jahren will mehr Wahlfreiheit und Flexibilität für Eltern. Dringend benötigen wir mehr gewerbliche Anbieter, Elterninitiativen und Betriebskitas.
Meinen Kollegen aus den neuen Bundesländern, in denen ich auch oft bin, möchte ich sagen: Es gibt dort immer weniger kommunale Kitas, denn diese werden immer öfter auch von anderen Anbietern übernommen.
({7})
Ein Blick in das Sozialgesetzbuch VIII zeigt, dass der
Gesetzgeber gar keine Wahl mehr hat, Frau Marks. Der
Gesetzgeber hat die Pluralität der Einrichtungen gefordert und sichergestellt.
({8})
Die SPD zeigt gerade im Ausschuss - aus den Ausschusssitzungen darf ich ja nicht zitieren -, dass sie diese
gesetzliche Bestimmung ignoriert und allem misstraut,
was der Staat nicht selbst organisiert. Unser Finanzierungskonzept ist einfach und klar. Mit unserem Sofortprogramm wollen wir den Kommunen vorab aus dem
Mehrwertsteuertopf 1 Prozent mehr geben; das sind
jährlich 1,5 Milliarden Euro.
Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert
Walter, warnt Sie vor Fehlinvestitionen. Auf Effizienz
müsse geachtet werden. Ich zitiere Herrn Walter:
Hier sollte der Staat auf Privatisierung setzen.
Das ist ein Teil unseres Lösungsvorschlags. Das bestehende Organisationssystem der Kinderbetreuung vor
Ort hat derzeit ein Übermaß an staatlicher Versorgungsmentalität und grenzt kommerzielle Anbieter aus. Es
fehlt an echtem Wettbewerb.
Zum Finanzierungskonzept der FDP gehören auch
Bildungsgutscheine: Jedes Kind nimmt sozusagen im
Rucksack die staatliche Subvention für eine Tagesmutter, eine kommunale Einrichtung usw. mit. Die Betriebserlaubnis, durch die geprüft wird, ob das Personal ausgebildet ist und ausreichend Räumlichkeiten vorhanden
sind, wird erst erteilt, wenn alles stimmt.
Kinder und junge Familien erfordern Investitionen,
und zwar in unser aller Zukunft. Konsolidierung des
Bundeshaushalts, notwendige Investitionen für Bildung
und Betreuung und Steuerentlastung der Bürger, das ist
ein notwendiger Dreiklang. Das hat diese Regierung zu
leisten, und zwar jetzt bald.
({9})
Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr.
Ursula von der Leyen, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
wollen den Ausbau der Kinderbetreuung. Egal welches
Umfrageergebnis der letzten Monate man sich ansieht:
Der Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren findet in der Bevölkerung breite Zustimmung. Sie
liegt immer bei mehr als 70 Prozent.
({0})
Das gibt uns Rückenwind. Aus diesem Grunde wird die
Bundesregierung den Weg, den sie seit Jahresanfang beschritten hat, beharrlich und zielorientiert weitergehen.
({1})
Am 2. April dieses Jahres ist es zum allerersten Mal
gelungen - das hat es vorher noch nie gegeben -, dass
sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände
darauf verständigt haben, die Betreuungsangebote bis
2013 auf 750 000 Plätze zu erhöhen.
({2})
Das entspricht einem Betreuungsangebot für jedes dritte
Kind. Dies umfasst Tagesmütternetze, altersgemischte
Gruppen und reine Krippenplätze.
({3})
Die Betriebs- und Investitionskosten betragen bis zum
Jahr 2013 zusammen 12 Milliarden Euro. Das ist eine
gewaltige Summe, die wir in den nächsten sechs Jahren
stemmen müssen. Aber wir wollen sie stemmen.
({4})
Wenn sich drei Partner auf ein gemeinsames Ziel verständigt haben, dann muss es fair zugehen: Jeder muss
ein Drittel der Last tragen, nicht weniger, aber auch nicht
mehr.
Ich möchte außerdem, dass das Geld vor Ort ankommt und dass es für die Kinderbetreuung eingesetzt
wird.
({5})
Wir wollen nicht noch einmal eine so verschlungene Finanzierung, dass das Geld beim Bund abgebucht wird,
dass aber vor Ort nichts ankommt und niemand mehr
überprüfen kann, in welchem Haushaltstitel es aufgegangen ist.
Der sauberste, direkteste und verfassungskonformste
Weg ist die Investitionskostenhilfe des Bundes. Wenn
aber Länder und Kommunen sagen, dass sie weniger
durch die Investitionskosten als vielmehr durch die Betriebskosten belastet werden, dann suchen wir auch hierfür einen Weg.
({6})
Mir ist die Drittelfinanzierung wichtig.
Wir denken über eine Stiftungslösung nach; das war
zu lesen.
({7})
Bedingung ist: Eine solche Lösung muss praktikabel und
zielgerichtet sein.
Woher soll das Geld kommen? Erstens kommt es aus
der demografischen Ersparnis. Für Kinder, die in den
vergangenen 25 Jahren nicht geboren wurden, wird der
Finanzminister in den kommenden 25 Jahren bzw. Kindergeldjahrgängen kein Geld ausgeben müssen. Dass es
weniger Kinder gibt, ist zu beklagen. Aber das ist eine
Tatsache, die sich ganz solide vorausberechnen lässt.
Das entspricht bis zum Jahre 2013 3,2 Milliarden Euro.
Das wird übrigens auch vom Bundesfinanzministerium,
vom Fraunhofer-Institut und vom Bundesamt für Statistik so gesehen.
Selbst wenn jetzt wieder mehr Kinder geboren werden sollten, was wir uns erhoffen und begrüßen würden,
dann betrifft das in den nächsten sechs Jahren bis 2013
gerade einmal sechs Jahrgänge. Es bleiben also nach
Adam Riese 19 Jahrgänge darüber, von denen wir wissen, wie klein sie sind.
Diese 3,2 Milliarden Euro sollen nicht in die allgemeinen Haushalte fließen, sondern zielgerichtet in die
Kinderbetreuung investiert werden, damit sie den Familien und den Kindern zugute kommen können. Ich bin
der festen Überzeugung: Der Bund soll nicht an den Kindern sparen.
({8})
Zur zweiten Finanzierungssäule. Derzeit gibt es
75 000 Alleinerziehende, die Kinder unter drei Jahren
haben und Hartz IV beziehen. Diejenigen von ihnen, die
arbeiten wollen und eine Arbeitsstelle angeboten bekommen, sodass sie aus dem Bezug von Hartz IV herauskämen, haben aber keine Chance auf Arbeit, wenn sie
keine Betreuung für ihre Kinder haben. Auch das soll
sich ändern. Wenn wir vorsichtig rechnen und davon
ausgehen, dass lediglich ein Drittel der Alleinerziehenden wieder in Arbeit kommt, weil die Kinder betreut
werden, dann könnten dadurch bis zum Jahre 2013
900 Millionen Euro gespart werden.
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit - immerhin
der größte Experte, wenn es um dieses Thema geht - hat
am Wochenende bestätigt, dass viele Alleinerziehende
vor allem deshalb arbeitslos sind, weil die Kinderbetreuung vor Ort nicht gesichert ist.
({9})
Herr Weise geht übrigens nicht, wie wir es tun, davon
aus, dass ein Drittel der Alleinerziehenden arbeiten
möchte und eine Arbeitsstelle finden könnte, wenn sie
ein Betreuungsangebot für ihr Kind hätten. Er spricht sogar von 50 000 bis 60 000 Alleinerziehenden. Deshalb
sage ich auch ganz deutlich: Das Geld für diese Familien
ist besser investiert in Kinderbetreuung und selbstständige Arbeit als in Hartz IV.
({10})
- Dies sind ganz klare Finanzierungsvorschläge für exakt die Summe, liebe Frau Lenke, die wir brauchen: für
4 Milliarden Euro bis 2013.
({11})
- Falls Sie den Plan des Bundestages nicht kennen: Wir
stellen zurzeit den Haushalt auf.
({12})
- Mit Herrn Steinbrück haben wir genau darüber gesprochen.
Zu guter Letzt. Wenn wir dieses Fundament bis 2013
geschaffen haben, dann ist ein Rechtsanspruch danach
denkbar, weil unschädlich. Unser Ziel ist es doch, dass
ein Rechtsanspruch gar nicht greifen muss, weil Kinderbetreuung dem Bedarf entsprechend da ist. Unser Ziel ist
es doch, dass die Eltern nicht vor Gericht ziehen müssen,
weil sie gute, kindgerechte Angebote finden, wenn sie
sie brauchen. Unser Ziel ist nicht zu sagen, was nicht
geht, sondern unser Ziel ist - daran arbeiten wir mit
Hochdruck und in einer Geschwindigkeit, die Sie wahrscheinlich verwirrt, aber die bei diesem Thema notwendig ist 10060
({13})
zu sagen, wie wir die Eltern mit ihren berechtigten Hoffnungen und Erwartungen in ihrem Alltag mit Kindern
unterstützen können.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, die Art und Weise, wie Sie in Sachen Kinderbetreuung den Ewiggestrigen - nicht nur in
den eigenen Reihen, sondern auch anderswo - Paroli geboten haben, hat sehr vielen Menschen sehr gut gefallen.
Ich glaube, dass vor allen Dingen sehr viele Frauen daran ihren Spaß hatten.
({0})
Aber die Art und Weise, wie bei diesem Thema jetzt wochenlang ergebnislos rumgewurstelt wird, ist nicht mehr
besonders spaßig.
({1})
Da muss ich Ihnen leider sagen: Gut gemeint ist auf die
Dauer kein Ersatz für gut gemacht - das ist einfach so.
({2})
Kinder sind ziemlich real. Sie brauchen ganz reale
Plätze. Da ist es mit gutem Willen nicht getan, da geht es
um die Wirklichkeit.
Die Fragen, ob es einen Rechtsanspruch gibt, ob es
eine solide, dauerhafte, zuverlässige Finanzierung gibt
und ob der Bund auch Betriebskosten mitfinanziert, sind
nicht die Randthemen bei diesem Problem, sind nicht die
Fransen am Teppich, sondern daran entscheidet sich
letztlich, ob der Ausbau tatsächlich kommt oder ob er
tatsächlich nicht kommt.
({3})
Wir brauchen den Rechtsanspruch. Warum? - Weil in
Zukunft die Eltern in diesem Land darüber entscheiden,
wie viele Plätze es letztlich gibt. Es darf nicht so weitergehen, dass je nach Bundesland und je nach Kommune
Politiker die Mangelverwaltung bei der Kinderbetreuung
sozusagen als ideologisches Volkserziehungsmittel einsetzen. Damit muss Schluss sein. Das geht nur mit dem
Rechtsanspruch.
({4})
Wir brauchen eine solide, dauerhafte, konjunkturunabhängige Finanzierung, und wir brauchen keine Luftnummern. Wir haben vorgeschlagen, 5 Milliarden Euro
aus dem Ehegattensplitting zu verwenden.
({5})
Das ist gerechtfertigt. Das ist auch solide.
({6})
Frau Ministerin, es ist doch einfach peinlich, wenn
Sie uns ständig erklären, welche Erwartungen Sie haben,
was man beim Kindergeld einsparen kann, Ihre eigene
Bundesregierung dann aber auf unsere Fragen antwortet,
dass sie Ihre Erwartungen schlichtweg nicht bestätigen
kann, weil sie glaubt, dass bei den über 18-Jährigen
mehr Kindergeld gezahlt wird. Das ist doch nicht solide.
({7})
Wir brauchen eine verfassungskonforme, zuverlässige
Beteiligung des Bundes auch bei den Betriebskosten,
nicht nur bei den Investitionen; denn es geht nicht um
die Unterbringung von Kindern in Gebäuden. Es geht
um gute Startchancen, es geht um gute Förderung. Das
geht nur mit gutem, ausreichendem Personal.
({8})
Das können die Kommunen nicht alleine stemmen. Da
muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie als Familienministerin die erste gewesen sind, die das Thema „ausschließlich Investitionen“ in die Debatte gebracht hat. Das war
nicht gerade ein Heldinnenstück, auch wenn Sie jetzt davon Abstand nehmen.
({9})
Es wäre auch nicht richtig, wenn ausgerechnet die
Länder hauptsächlich davon profitieren würden, die ihr
Krippenplatzangebot bisher am wenigsten ausgebaut haben. Das liegt ja nicht daran, dass sie die ärmsten Länder
waren, sondern daran, dass sie sich besonders lange der
Realität verweigert haben.
({10})
Wir brauchen eine verfassungskonforme Lösung. Wir
haben einen Vorschlag gemacht, wie man die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Platz und die Förderung der Kinderbetreuung so miteinander kombiniert,
dass das Geld auch tatsächlich bei den Kinderbetreuungseinrichtungen in den Kommunen ankommt. Ich behaupte gar nicht, dass das verfassungskonform nur so
geht, aber es geht verfassungskonform, wenn man will.
Deswegen sollte man aufhören, das Gegenteil zu behaupten.
({11})
Jetzt fragen sich doch die Menschen in diesem Lande:
Wenn man sich über den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten einig ist, warum wird da so lange herumKrista Sager
gewurschtelt, und warum macht man nicht endlich Nägel mit Köpfen?
({12})
Langsam fragen sich die Menschen in diesem Lande
doch auch: Wo bleibt eigentlich die Bundeskanzlerin?
Wenn die Koalitionsfraktionen nicht zusammenfinden,
wenn jeden Tag ein neuer Vorschlag auf den Tisch
kommt,
({13})
und jeder eine andere Idee in die Welt setzt, warum gibt
es dann keine Führung, die aus der Einsicht, dass man
das den Leuten in diesem Lande langsam nicht mehr zumuten kann, auf den Tisch haut?
({14})
Wir müssen endlich einmal den Knoten durchschlagen
und Nägel mit Köpfen machen.
Ich lese immer in der Zeitung, Sie, Frau Ministerin,
hätten ein besonders gutes Verhältnis zur Bundeskanzlerin. Ich schlage vor: Setzen Sie sich mit Frau Merkel in
Verbindung, und zwar schnell, verwirklichen Sie den
Rechtsanspruch, sorgen Sie für eine solide Gegenfinanzierung, und stellen Sie eine dauerhafte zuverlässige Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten sicher. Aber
vor allen Dingen: Machen Sie es jetzt ganz schnell,
({15})
damit dieses Theater endlich einen guten Abschluss findet. Wenn das hier nicht bald zu einem guten Ende gebracht wird, wird es heißen: Sie sind tapfer gestartet, als
Tigerin aufgesprungen und am Ende als Bettvorlegerin
gelandet.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, vor allen Finanzierungsfragen
sollte man zunächst einmal festhalten: Die Koalitionsfraktionen haben, und zwar just in dieser Woche, ein gemeinsames Ziel formuliert.
({0})
Das ist deshalb nicht unwichtig, weil der Umgang mit
diesem Thema in unseren Reihen ja nicht unumstritten
war. Das sollten wir hier nicht vergessen.
Dass wir ein gemeinsames Ziel formuliert haben, ist,
wie ich glaube, erstens ein ganz wichtiges Signal für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein zweiter wichtiger Punkt, der nicht unterschlagen werden darf: Das ist
auch ganz wichtig für die Förderung von Kleinkindern.
Im Zusammenhang mit diesem zweiseitigen Papier
möchte ich noch eine Bemerkung zu der manchmal aufkommenden Forderung nach Betreuungsgeld machen.
Diese Forderungen stehen ja unter dem Motto: Wir bezahlen die Frauen dafür, wenn sie ihre Kinder nicht in
die Förderung geben, sondern zu Hause behalten. Das ist
kontraproduktiv für die beiden genannten Ziele, nämlich
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für die
Förderung von Kindern. Das wird ja manchmal von denselben gefordert, die sich fünf Minuten später über mangelnde Sprachkenntnisse von Kindern beim Eintritt in
die Grundschule beklagen. Beides geht nun wirklich
nicht zusammen.
({1})
Bei der Umsetzung dieser gesamtgesellschaftlichen
Aufgabe sind Gesetzgebungskompetenzen auf allen drei
föderalen Ebenen zu berücksichtigen. Deshalb müssen
auch alle drei föderalen Ebenen beteiligt werden. Da
sind wir ja auch schon ein Stück weitergekommen; das
bitte ich nicht zu vergessen. Es ist nämlich inzwischen
klar - das haben wir gemeinsam so formuliert -, dass
sich der Bund an dieser Aufgabe beteiligen wird. Als
SPD-Fraktion sagen wir aber ganz eindeutig: Diese Beteiligung darf sich nicht allein auf die Investitionskosten
erstrecken. Das wäre keine flexible Regelung. Davon
würden viele Kommunen, die bei dieser Aufgabe schon
weit vorangekommen sind, nichts haben. Diese brauchen
eine Unterstützung bei den Betriebskosten; dass diese
gewährt werden muss, daran halten wir fest. Das ist für
uns eine der entscheidenden Bedingungen bei der Frage
der Finanzierung.
({2})
Weil wir für eine Beteiligung an den Betriebskosten
sind, ist für uns - das haben wir lange und gut durchdacht - ein Rechtsanspruch die logische Schlussfolgerung. Der Rechtsanspruch ist keine Frage von höher,
weiter, schneller, sondern eine gute Möglichkeit, eine
Betriebskostenbeteiligung des Bundes ohne verfassungsrechtliche Schwierigkeiten sicherzustellen.
Das will ich heute mit einem Appell verbinden. Ich
appelliere, dass beim Thema Rechtsanspruch nicht
reflexartig Ablehnung signalisiert wird. Die Länder
- das haben wir in den letzten Tagen gelesen - wollen
alle eine Betriebskostenbeteiligung des Bundes. Dann
müssen sie aber auch über einen Rechtsanspruch nachdenken, statt diesen reflexartig abzulehnen. Die Kommunen - das habe ich ebenfalls gelesen - wollen Flexibilität; sie wollen so viel anbieten, wie vor Ort gebraucht
wird. Dann dürfen aber auch sie nicht reflexartig den
Rechtsanspruch ablehnen. Außerdem wollen die Kommunen weitergeleitetes Geld - von den Ländern. Auch
dann dürfen sie den Rechtsanspruch nicht reflexartig ablehnen; denn inzwischen ist in den Länderverfassungen
geregelt, dass das Geld, wenn es eine rechtliche Verpflichtung gibt, aufgrund des Konnexitätsprinzips weitergeleitet werden muss. Insofern tun sich die Kommu10062
nen mittel- und langfristig einen Gefallen, wenn sie den
Rechtsanspruch mit uns gemeinsam mittragen.
({3})
Zwischen den Koalitionsfraktionen gab es in dieser
Woche - damit verrate ich ja kein Geheimnis - ein paar
unterschiedliche Vorstellungen
({4})
in Bezug darauf, wo wir hinwollen, wie schnell wir dahin wollen und wie wir dahin kommen. Aber wir haben
uns ein Hausaufgabenpaket vorgenommen. Wir haben
- ich habe es vorhin beschrieben - fest vereinbart, wo
wir hinwollen. Es ist so, wie es bei solchen Aufgaben
immer ist: Wenn sie gut strukturiert sind, wenn klar ist,
was zu tun ist, dann ist es einfacher, die Aufgaben zu erledigen.
({5})
Da haben wir diese Woche einiges erreicht. Deshalb bin
ich sicher, dass wir das hinbekommen. Ich weiß, es muss
schnell gehen. Aber ich glaube, wir haben gute Voraussetzungen dafür geschaffen, unsere Vorhaben beschleunigt auf den Weg bringen können.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Diana Golze das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Kinder sind Zukunft“, so hieß die
Themenwoche der ARD, die vor kurzem im Hauptstadtstudio mit einer Talkrunde zu Kinderbetreuung in der
Bundesrepublik beendet wurde. In den letzten Wochen
schien es, als wäre die Debatte um Kindertagesbetreuung im Jahr 2007 etwas effektiver als in der Vergangenheit. Es ist inzwischen allgemein anerkannte Tatsache,
dass wir es der fehlenden Weitsicht der Politik in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu verdanken haben, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu ihren
westeuropäischen Nachbarn ein Kinderbetreuungsentwicklungsland ist.
Es wird deutlich, dass es eine Erwartungshaltung gegenüber der Politik gibt. Die Mehrheit der Eltern
wünscht sich eine Kinderbetreuung, die quantitativ ausreichend, weil flächendeckend ausgebaut, und vor allem
qualitativ hochwertig ist.
Unsere Ankündigungsministerin - Entschuldigung:
Familienministerin ({0})
- ich verstehe die Aufregung gar nicht - trägt den erklärten Willen dazu auch erfolgreich durch jede sich bietende Talkshow unserer Fernsehprogramme. Doch allein
von einer Gesprächsrunde in der ARD, im ZDF oder in
einem der privaten Programme wird wohl kein Kitanetz
entstehen.
Nun wird in beiden Koalitionsfraktionen über einen
Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung diskutiert.
Doch die kurz aufkeimende Freude darüber vergeht ganz
schnell wieder, wenn die CDU von einem unschädlichen
Rechtsanspruch spricht und die SPD sich nur so weit
über eine Ausgestaltung auslässt, als es für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig ist. Ich frage Sie:
Wird das wieder nur ein Rechtsanspruch für Kinder erwerbstätiger Eltern? Dann würde er am eigentlichen und
erklärten politischen Ziel vorbeigehen.
({1})
Betreuung, Bildung und Erziehung sind wichtig für
die psychosoziale, emotionale Entwicklung und die kognitive Förderung von Kindern. Dieses Ziel sollte im Mittelpunkt stehen. Wenn das das Ziel ist, muss der Rechtsanspruch ein Anspruch des Kindes sein. Er muss klar
definiert sein und in Abstimmung mit den Ländern verbindlich ausgearbeitet werden, inklusive eines gemeinsamen Finanzkonzeptes aller beteiligten politischen Ebenen.
Frau Ministerin, schaffen Sie eine Betreuungslandschaft, die auch für die Kinder da ist, die auf der - wie
Sie es immer sagen - Schattenseite des Lebens stehen!
Mit einem Rechtsanspruch des Kindes wäre dies möglich.
Herr Steinbrück - ich hoffe, er hört uns zu -, bleiben
Sie bei Ihrem Angebot, sich dauerhaft an der Finanzierung der Kitas zu beteiligen! Lassen Sie Länder und
Kommunen dabei nicht im Stich!
Wir reden über die Zukunft von Kindern und darüber,
wie wir als Politikerinnen und Politiker es schaffen, jedem Kind die gleichen Startchancen zu geben. Die
PISA- und OECD-Studien, die Studien des Deutschen
Jugendinstituts, der Bericht des UN-Beauftragten
Muñoz haben einen gemeinsamen Nenner: In keinem
anderen westeuropäischen Land entscheidet die soziale
Herkunft von Kindern so sehr über den weiteren Lebensweg wie in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser
Weg könnte mit einer für alle Kinder zugänglichen
- hoffentlich bald beitragsfreien - Kinderbetreuung beginnen und einigen den schweren Start leichter machen:
durch gute frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Deshalb sollte endlich ein Schlusspunkt in der Debatte um die Finanzierung der Kindertagesbetreuung
oder, besser gesagt, um die Verschiebung von einer familienpolitischen Leistung zu einer anderen familienpolitischen Leistung gesetzt werden.
({2})
Ich bin sehr gespannt, ob Herr Steinbrück und Frau
von der Leyen bei ihrer bunten Zusammenstellung bleiDiana Golze
ben, die sie herangezogen haben, um den Bürgerinnen
und Bürgern vorzugaukeln, dass man für Familien ohnehin schon zu viel Geld ausgebe. Von den immer wieder
genannten 184 Milliarden Euro für Familienleistungen
bleiben nämlich nach einer Expertise des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes gerade einmal 38,6 Milliarden
Euro übrig, die wirklich in familienfördernde Maßnahmen fließen.
({3})
Ich bin auch gespannt, wie die Kinderbetreuung aussieht, mit der die Familienministerin die Bundesrepublik
endlich an europäische Standards angleichen will. Es
bleibt zu hoffen, dass hier bestimmte qualitative Ansprüche geltend gemacht werden. Das hieße nämlich, man
macht Kitas allen Kindern zugänglich und nicht nur denen, deren Eltern eine Erwerbstätigkeit vorweisen können.
({4})
Das hieße weiterhin, dass man dafür sorgt, dass der
Erzieherinnen- und Erzieherberuf endlich auf die Basis
eines Hochschulabschlusses gestellt wird und dass man
gewährleistet, dass Erzieherinnen und Erzieher von dem
Gehalt, das sie für ihre Arbeit bekommen, auch leben
können. Das hieße schließlich, man sorgt dafür, dass die
Arbeit von Tagesmüttern und Tagesvätern auf einer qualitativ hochwertigen Aus- und Weiterbildungsgrundlage
steht und nicht zum Billiglohnkinderbetreuungssektor
mutiert.
Frau von der Leyen und Herr Steinbrück, ich hoffe,
dass bei Ihren laufenden Verhandlungen trotz der anscheinend schwierigen Geburt schnell eine Kindertagesbetreuung herauskommt, die diese Ansprüche erfüllt. Ich
hoffe auch, dass Sie Ihrem gemeinsamen Spross dann
nicht nur die Erstausstattung finanzieren, sondern sich
im Interesse aller Kinder langfristig an den Unterhaltsverpflichtungen beteiligen.
Vielen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Johannes
Singhammer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Schnellzugtempo werden 750 000 Plätze für
unsere Kleinsten in Deutschland geschaffen.
({0})
Vor fast exakt drei Monaten, am 9. Februar, haben
Sie, Frau Ministerin, erstmals den Ausbauplan vorgestellt. Bereits am 2. April haben Sie sich mit den Ländern, mit den Städten und Gemeinden über den Bedarf
an Kinderbetreuung, über den Zeitplan und über den
Finanzrahmen geeinigt.
Heute liegen die neuesten Ergebnisse der Steuerschätzung vor. Hier und heute haben Sie einen Überblick über
die Finanzierung gegeben. Am kommenden Montag
wird der Koalitionsausschuss über die Richtung und die
Einzelheiten entscheiden.
({1})
Es gab in den letzten Jahren kein vergleichbar großes
Vorhaben, das so rasch auf den Weg gebracht worden ist.
({2})
Dafür möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, danken.
({3})
Frau Scheel, ich kann verstehen, dass der grünen
Schneckenpost angesichts des Jettempos der Ministerin
etwas schwindlig wird.
({4})
Aber das ist noch lange kein Grund, eine Aktuelle
Stunde mit dem Hintergedanken zu beantragen, Unsicherheit dahin gehend zu schüren,
({5})
dass das, was in Aussicht gestellt worden ist, nicht eingelöst wird. Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Die Eltern
können sich darauf verlassen,
({6})
dass das Konzept, das vorgelegt worden ist, umgesetzt
und dessen Finanzierung auch geregelt wird.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Sorgfältige Finanzberatungen
helfen den Eltern mehr als panikartige Überholmanöver,
wie Sie sie jetzt starten. Die Grünen haben im Zusammenhang mit der Finanzierung des Ausbaus der Kinderkrippen vorgeschlagen - das muss hier noch einmal gesagt werden, Frau Sager -, an das Ehegattensplitting mit
der Abrissbirne heranzugehen. Damit schädigen Sie
90 Prozent der Ehen mit Kindern. Ich sage Ihnen ganz
klar: Wir werden es nicht zulassen, dass die grünen Abrissbagger das Fundament des Ehegattensplittings beschädigen.
({8})
Es macht keinen Sinn, Ehe und Familie finanziell auszutrocknen, um Kinder angeblich besser zu fördern. In der
Konsequenz ist die Umschichtung, die Sie vornehmen
wollen, ein Kinderschädigungs- und kein Förderprogramm.
({9})
Wir sind entschieden gegen jede Art der Selbstfinanzierung des Ausbaus der Kinderkrippen durch die Familien, egal mit welcher Konzeption.
({10})
Wir sind auch dagegen, dass die älteren Geschwister
durch Verzicht auf Kindergeld die Kinderkrippenplätze
ihrer jüngeren Geschwister finanzieren.
({11})
Richtig ist, dass ein Kinderkrippenausbau zum Nulltarif nicht möglich ist; eine Summe von 12 Milliarden
Euro ist genannt worden. Die Ministerin hat eben ein
Konzept vorgestellt. Es gibt eine Möglichkeit der Gegenfinanzierung dadurch, dass bei uns leider immer weniger Babys geboren werden. Das Deutsche Jugendinstitut hat Zahlen genannt: In allen öffentlichen Haushalten
werden bis zum Jahr 2010 allein im Bereich der Nullbis Sechsjährigen 3,6 Milliarden Euro eingespart - und
dies deshalb, weil es immer weniger Kinder gibt und
deshalb leider auch weniger Aufwand nötig ist.
({12})
An dieser Stelle sage ich Ihnen aber auch: Wir sind
zwar für mehr Kinderkrippen, wollen aber auch den
Grundsatz der Wahlfreiheit immer realisiert haben.
({13})
Wenn ich die Linken höre
({14})
- in diesem Fall die Linken -, dann fällt mir auf, dass in
diesem Zusammenhang bei Ihnen logischerweise ein
Wort nie auftaucht: Das ist der Begriff der Wahlfreiheit.
Sie sind immer noch Vertreter dessen, was ich einmal als
Lufthoheit über die Kinderbetten bezeichnen würde.
({15})
Diese streben Sie in Form einer Rundumversorgung an,
wobei ich zu der Überlegung, ob eher Oskar Lafontaine
oder seine Frau Christa Müller für die Koordinierung der
Lufthoheit zuständig sein sollte, sagen muss: Aufgrund
ihrer letzten Äußerungen neige ich dazu, dass die Ehefrau Christa Müller besser dazu geeignet ist.
({16})
Für uns stehen Elternrecht und Kindeswohl als untrennbare Einheit an erster Stelle. Wir wollen keinen
Staat in Allzuständigkeit, der die Eltern ersetzt. Wir wollen auch nicht, dass mit finanziellen Leistungen ein Gängelband, eine Schubserei und ein Drängen in eine bestimmte Richtung verbunden werden.
({17})
Wir wollen nicht, dass diejenigen Mütter und Väter,
die sich entscheiden, zu Hause zu bleiben, um ihre Kinder zu betreuen und zu erziehen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und als die letzten Trottel dargestellt
werden. Ich sage aber auch: Anerkennung und Respekt
genügen nicht; Schulterklopfen allein reicht nicht. Auch
da bedarf es finanzieller Gerechtigkeit. Wir müssen sehr
genau darauf achten, dass für diejenigen, die auf ein
Erwerbseinkommen verzichten, weil nur ein Partner erwerbstätig ist und der andere Partner für die Kinderbetreuung zu Hause bleibt, nicht eine neue finanzielle Ungerechtigkeit entsteht.
({18})
Deshalb brauchen wir Symmetrie und Balance auch
bei der finanziellen Ausgestaltung.
({19})
Sie können sicher sein: Wir werden das erreichen.
({20})
Bevor wir in der Rednerliste fortfahren, der Hinweis
an den Kollegen Küster: Es gibt vom Architekten vorgesehene Einrichtungen, die es mir nicht ermöglichen, zu
sehen, dass Sie im Plenarsaal mit dem Handy telefonieren. Ansonsten haben Sie, soweit ich das überblicke, alle
Möglichkeiten, mit den Telefonen, die der parlamentarischen Geschäftsführung Ihrer Fraktion zur Verfügung
stehen, die notwendigen Dinge zu regeln.
({0})
Vielleicht kann die Kollegin Kressl oder jemand anders ihm das ausrichten. Er kann mich offensichtlich
nicht hören.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß für die
FDP-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ein bisschen komme ich mir heute schon
vor wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Es ist wieder einmal Freitag,
({0})
und wieder einmal haben wir uns vorgenommen, über
das Thema Kinderbetreuung zu sprechen.
({1})
Wieder einmal wurde dieses Thema an den Rand des
Zeitplans gedrängt, und das, obwohl neben der Wahl in
Frankreich kaum ein Thema diese Woche so sehr bestimmte und die Politikteile der Zeitungen so gefüllt hat
wie die Finanzierung der Kinderbetreuung.
Apropos Frankreich: Sie alle haben in den vergangenen Wochen von der Allensbachstudie gehört. Es ist ein
deutsch-französischer Vergleich über die Einflussfaktoren auf die Geburtenrate angestellt worden. Deutschland
schneidet dabei zum Beispiel in puncto Kinderfreundlichkeit schlecht ab. Nur 25 Prozent der Deutschen glauben, in einem kinderfreundlichen Land zu leben. In
Frankreich glauben dies 80 Prozent der Bevölkerung.
Ähnlich stark ist die Diskrepanz bei der Einschätzung
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nur 22 Prozent
der deutschen Frauen und Männer glauben, dass sich Familie und Beruf gut kombinieren lassen. In Frankreich
meinen dies fast 62 Prozent. Damit sind wir genau bei
dem Thema, dessentwegen wir hier heute sitzen: der
Kinderbetreuung. In Frankreich ist beinahe die Hälfte
der Eltern davon überzeugt, dass sowohl Mutter als auch
Vater arbeiten und sich die Hausarbeit teilen sollten. In
Deutschland glauben dies nur 15 Prozent.
Wie sich eine Familie intern organisiert, wollen wir
Liberale den Familien selbst überlassen. Wir erkennen
jedes Modell an und wollen Eltern und Kinder dort unterstützen, wo sie Hilfe benötigen. Das haben wir von
den Franzosen gelernt.
Über eines besteht unter uns Fachpolitikern Konsens:
dass wir mehr Kinderbetreuungsplätze brauchen, um
Deutschland familienfreundlicher zu machen. Die Frage
scheint lediglich zu sein, wie dieser Ausbau finanziert
werden soll. Dazu hat die FDP-Fraktion als erste Fraktion im Deutschen Bundestag ein fundiertes Konzept
vorgelegt, welches Ihnen meine Kollegin Ina Lenke bereits vorgestellt hat.
({2})
Mir ist darüber hinaus noch ein Punkt besonders
wichtig. Wir müssen nicht nur in den Ausbau investieren, sondern auch in die Qualität der Kinderbetreuung
und damit in die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass es eine
entsprechende Personalstärke in den Kindertagesstätten
gibt. Dazu noch eine letzte Zahl aus der Allensbachstudie: 62 Prozent der französischen Frauen, aber nur
7 Prozent der deutschen Frauen halten es ohne Probleme
für möglich, Kinder unter einem Jahr - auch nur stundenweise - extern betreuen zu lassen. Sie sehen, welche
Skepsis hierzulande gegenüber Krippen oder Tagesmüttern besteht. Dies können wir nur ändern, indem wir
massiv in die Qualität der Einrichtungen und der Betreuung investieren. Nur so können Eltern beruhigt sein, dass
ihre Kinder gut aufgehoben sind.
Gleichzeitig müssen wir auf die Bindungs- und Bildungsforschung hören und sie besser vorantreiben, damit wir in Deutschland mehr darüber erfahren, wie Kinder sich entwickeln und was sie dafür benötigen.
Kinderkrippen und Kindertagesstätten müssen Orte der
Bildung und des Wohlfühlens für unsere Kinder sein.
Wir brauchen verbindliche Bildungsprogramme für Kindergärten. Wir brauchen auch einheitliche Qualitätsstandards oder Gütesiegel. Wir müssen das Niveau der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung anheben. Wir
benötigen pädagogische Konzepte, die die Kinder bereits
in den ersten Lebensjahren - natürlich altersgemäß - fördern und fordern. Wir brauchen auch - das ist ganz
wichtig; das hat hier im Plenum noch niemand gesagt mehr männliche Erzieherinnen
({3})
- mehr männliche Erzieher - in den Betreuungseinrichtungen. Denn Kinder brauchen beides: weibliche und
männliche Erzieher.
Ich meine, dass uns das Wohl unserer Kinder - das ist
das Leitbild - mehr wert sein sollte als eine Aktuelle
Stunde am Ende einer Sitzungswoche. Dass dies bereits
zum zweiten Mal der Fall ist und die Debatte beim ersten Mal noch nicht einmal zu Ende geführt wurde, ist
meiner Ansicht nach ein Armutszeugnis für die Familienpolitik in Deutschland. Uns Liberalen sind Familien
wichtiger als ein freier Freitagnachmittag. Wir wollen
den Familien in unserem Land etwas anderes signalisieren, nämlich Verlässlichkeit, Qualität und Zukunftsperspektiven.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Zuerst einmal möchte
ich sagen, dass ich mich darüber freue, dass die Ministerin bei der heutigen Debatte anwesend ist.
({0})
Die Debatte über den Ausbau und die Finanzierung
der frühkindlichen Betreuung unterstreicht den akuten
Handlungsbedarf. Auch die aktuelle Bertelsmann-Studie
bestätigt die Notwendigkeit des Betreuungsausbaus und
konstatiert die Rückständigkeit Deutschlands in puncto
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({1})
Die Studie untermauert im Übrigen das Familienkonzept der SPD. So fordern die Autoren den Ausbau der
Betreuungsangebote, mehr Erwerbsanreize für Mütter
sowie, Herr Singhammer, eine Abschmelzung des Ehegattensplittings. Eine Absage erteilt die Studie den diversen Vorschlägen der Union. Die Autoren sprechen
sich gegen das sozial ungerechte Familiensplitting aus.
Sie fordern Zurückhaltung beim Ausbau von direkten
Geldleistungen für Familien. Damit wird der von der
CSU geforderten Herdprämie - das war gestern nachzulesen -, einem Betreuungsgeld für die häusliche Erziehung, eine ganz klare Absage erteilt.
({2})
Die SPD steht für eine moderne Familienpolitik. Das
2004 von Rot-Grün verabschiedete Tagesbetreuungsausbaugesetz war die entscheidende Weichenstellung für
eine bessere Betreuung und frühkindliche Bildung.
({3})
Das Gesetz hat den Familien Mut gemacht, ihren Betreuungsbedarf zu artikulieren. Die regional unterschiedlich
starke Zunahme der Zahl der Krippenplätze erfolgt jedoch viel zu zögerlich. Der Ausbau hinkt dem wachsenden Bedarf deutlich hinterher. Nur mit einem gesetzlich
verankerten Rechtsanspruch vom ersten Geburtstag an
können wir den notwendigen Durchbruch beim Ausbau
der Kinderbetreuung erzielen. Nur der Rechtsanspruch
sichert, dass der Bund die laufenden Betriebskosten, den
Löwenanteil beim Betreuungsausbau, mitfinanzieren
kann.
Mit den bisherigen Ankündigungen der Familienministerin, sich lediglich an den Bau- und Umbaukosten zu
beteiligen, wäre der zu Recht geforderte Betreuungsausbau nicht mehr als eine PR-Kampagne. Bei einer ausschließlichen Beteiligung an den Investitionskosten blieben die Länder und Kommunen auf dem größten Anteil
der Kosten sitzen. Der finanzielle Engpass besteht bei
den Betriebs-, vor allem den Personalkosten. Das haben
auch die Länder und Kommunen deutlich gemacht.
Ich begrüße das erste Einlenken der Ministerin bezüglich der Beteiligung an den Betriebskosten sowie der
Ausweitung des Rechtsanspruchs. Entgegen vieler Behauptungen gibt es diesbezüglich keinerlei verfassungsrechtliche Probleme.
Für uns wird es keinen anderen Weg als den Rechtsanspruch geben. Der Rechtsanspruch gibt den Kommunen erst die Möglichkeit, auf den unterschiedlichen Betreuungsbedarf flexibel zu reagieren. Vor allem aber
bietet er den Eltern die notwendige Sicherheit, einen Betreuungsplatz für ihr Kind zu erhalten. Der Rechtsanspruch ist für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf unabdingbar. Er trägt den Lebenswünschen der Eltern Rechnung. Betreuungsplätze ermöglichen Erwerbstätigkeit. Das senkt das Armutsrisiko von Familien.
Ein Rechtsanspruch auf frühkindliche Betreuung
heißt aber auch, dass Kinder in dieser wichtigen Entwicklungsphase ein hochwertiges Bildungsangebot erhalten müssen. Kinder sind gern mit Kindern zusammen.
Andere Kinder sind Vorbilder und gleichzeitig Freunde.
Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, lernen
Deutsch in der Krippe im wahrsten Sinne des Wortes
spielend.
Wem es mit dem zügigen Ausbau der Kinderbetreuung ernst ist, muss Worten Taten folgen lassen. Wir, die
SPD, haben vor gut zwei Monaten ein solides Finanzierungskonzept vorgelegt, mit dem wir den Rechtsanspruch auf einen ganztägigen, hochwertigen Platz vom
ersten Geburtstag des Kindes an realisieren wollen. Die
bisher kursierenden Vorschläge der Ministerin enthalten
kein ausreichendes Finanzierungskonzept.
Die Familien - das ist heute mehrfach gesagt worden erwarten zu Recht einen beschleunigten und sichtbaren
Ausbau der Betreuungsplätze. Für die SPD steht die
Kinderbetreuung familienpolitisch an erster Stelle. Lassen Sie uns diese Aufgabe gemeinsam bewältigen!
Grundlage dafür ist ein gesetzlich verankerter Rechtsanspruch und eine solide, verlässliche finanzielle Beteiligung des Bundes. An der SPD wird es jedenfalls nicht
scheitern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
nun die Kollege Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der hessische Ministerpräsident hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Ursula von der Leyen für die CDU ein
riesiges Glück sei.
({0})
Ich finde das auch, weil Sie, Frau Ministerin, die Debatte
angestoßen haben. Er hat aber weiter ausgeführt: „Was
sie will, steht seit langem im CDU-Programm; aber mit
ihr an der Spitze wird es gelebt und wahrgenommen.“
Viele Mütter und Väter können das nicht so sehen,
weil sie den Krippenplatz für ihr Kind, den sie dringend
brauchen, nicht bekommen. Sie haben das Gezerre, das
innerhalb der Union, aber auch zwischen den Koalitionspartnern sowie in den Ländern stattfindet, satt. Es hilft
ihnen nämlich keinen Schritt weiter.
({1})
Es wird darauf hingewiesen, dass es in der Familienpolitik der CDU/CSU „tektonische Verschiebungen“
gebe. Als ich Herrn Singhammer gehört habe, musste ich
feststellen, dass es in Teilen der Union noch nicht angekommen ist, dass es notwendig ist, jetzt schnell die
Finanzierung sicherzustellen. Wenn Sie sich hier als
Chefideologe hinstellen, Herr Singhammer, und die
These vertreten, die Mütter sollten zu Hause bleiben,
kann man nur den Kopf schütteln.
({2})
Die CSU ist anscheinend noch nicht angekommen, wo
Frau von der Leyen schon eine ganze Weile ist.
({3})
Wir wissen, dass die Auseinandersetzung darüber, ob
wir einen Rechtsanspruch brauchen, richtig ist. Selbstverständlich hat sie etwas mit der Verfassung zu tun. Der
Verweis darauf, wir bräuchten keinen Rechtsanspruch,
weil wir den Leuten nicht den Weg zum Gericht bereiten
sollten, geht von einem falschen Verständnis aus. Der
Rechtsanspruch ist notwendig, damit Dampf in die Debatte kommt, damit gehandelt werden kann, damit wir
eine gemeinsame Finanzierung auf den Weg bringen
können. Es geht nicht um gerichtliche Auseinandersetzungen, Frau von der Leyen.
({4})
Die nachhaltige Finanzierung muss sichergestellt
werden; da müssen wir die Bedenken der Kommunen
ernst nehmen. Die Grünen haben hierfür mit dem Modell
der Kinderkarte ein Finanzierungskonzept vorgestellt,
das auf soliden Füßen steht. Dieses Konzept ist durchfinanziert, dieses Konzept ist verfassungskonform, und
dieses Konzept hilft von Anfang an - nicht erst in einigen Jahren, wie es bei Ihren Vorschlägen der Fall wäre.
({5})
Um es deutlich zu sagen, Herr Singhammer: Wir haben nicht vor, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Wir
wissen, dass das aus verfassungsrechtlichen Gründen
nicht geht.
({6})
Wir wissen, dass auch die gegenseitigen Unterhaltsansprüche der in Ehe lebenden Partner und Partnerinnen
berücksichtigt werden müssen. Deswegen haben wir ein
Modell vorgeschlagen, bei dem der steuerliche Vorteil
von heute, der in der Größenordnung von 20 Milliarden Euro liegt, um 5 Milliarden Euro reduziert wird.
Das heißt, das Ehegattensplitting, der Vorteil, der damit
- übrigens auch kinderlosen Ehen - gewährt wird, bleibt
im Umfang von 15 Milliarden Euro erhalten. Deswegen
ist Ihr Vorwurf, die Grünen hätten für die Finanzierung
des Ausbaus der Krippenplätze einen Vorschlag vorgelegt, mit dem den Familien letztendlich das Geld aus der
Tasche gezogen würde, falsch. Wir begrenzen einen
Steuervorteil für die Bezieher oberer Einkommen. Ich
denke, das ist auch legitim so.
({7})
Dies hätte auch den Charme, dass alle, die hohe Einkommen erzielen, zur Finanzierung der Kinderbetreuung
beitrügen und dass, wie gesagt, sowohl der Bund als
auch die Länder und die Kommunen aufgrund des Verteilungsschlüssels etwas von der Abschmelzung dieses
Steuervorteils - der Begrenzung eines, wie man wirklich
sagen muss, ziemlich überholten Steuervorteils, der immer noch im Gesetz steht - hätten. Deswegen würde bei
der Finanzverteilung ein positiver Effekt erzielt, der höher als bei der Umsatzsteuer wäre, über die jetzt nachgedacht wird.
Ich denke, es wäre gut, wenn Sie sich noch einmal
Gedanken darüber machen würden, ob man die Finanzierung nicht an die Einkommensteuer koppelt, weil sie
eben nicht so konjunkturabhängig ist, wie das bei der
Umsatzsteuer der Fall ist. Wir können die nachhaltige
Finanzierung der Kosten für Personal und Infrastruktur
nicht an konjunkturelle Entwicklungen koppeln nach
dem Motto: Ist die Konjunktur gut, dann gibt es viele
Leute, die in diesem Bereich arbeiten und die Betreuungsmöglichkeiten wahrnehmen können; ist die Konjunktur schlecht, dann muss am Personal gespart werden.
Das darf es nicht geben. Vielmehr brauchen wir eine
solide Finanzierung. Der Vorschlag der Grünen enthält
eine solche.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sitze hier, höre zu und habe das große Vergnügen, das nicht erst seit einem Jahr, sondern seit 1998 zu
tun.
({0})
Ich muss feststellen, dass 1998 andere die Regierungsverantwortung hatten. Heute haben sie Gott sei Dank
wieder andere.
({1})
Deshalb habe ich mit besonderer Freude zugehört,
was die beiden Kolleginnen der Grünen zum Besten gegeben haben. Als Erstes ist hängen geblieben: Frau Ministerin, machen Sie mal, machen Sie jetzt! Ich sage Ihnen einmal, was wir jetzt getan haben - die Frau
Ministerin hat es deutlich gemacht -: In eineinhalb Jahren Regierungszeit haben wir die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten durchgesetzt. Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, und es ist nichts passiert.
Das TAG ist weiterentwickelt worden. Das haben Sie
ganz zum Schluss noch eingeräumt.
({2})
- Wer das erfunden hat? Sie. Passen Sie auf, warum wir
das verhindern wollten - das ist genau der Punkt; Sie geben mir die Stichworte besser, als ich sie mir selbst geben kann -: Wir haben damals gesagt, dass es bei dem
TAG, dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, und bei der
Ganztagsschule und der Ganztagsbetreuung nur um
reine Investitionskosten geht. Sie haben hier lamentiert,
die Länder würden die Mittel nicht abrufen. Dies taten
sie nicht, weil die Mittel für die Betriebskosten fehlten.
({3})
Das war immer unser Argument.
({4})
- Nein, gucken wir einmal zusammen: Das eine geht
in das andere über. Sie hatten die Verantwortung und haben nur auf Investitionen gesetzt, weil das für die Regierung preiswerter war.
({5})
Was passiert? Wir tätigen jetzt Investitionen, an denen
drei Ebenen beteiligt sind. Zum ersten Mal, seit es diese
Möglichkeit gibt, sitzen diese drei Beteiligten an einem
Tisch und reden. Sie können sich vorstellen, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt und jeder etwas einsparen möchte, wenn es um Milliardenbeträge geht. Deswegen wird der eine dies sagen und der andere jenes. Das
ist wie in der Familie.
Ich halte es für richtig und klug von der Ministerin, zu
sagen, dass wir uns intern zusammensetzen. Wenn wir
dann Möglichkeiten sehen, wie alle drei ihren Beitrag
leisten können - das ist nämlich keine reine Bundes-,
sondern auch eine Landes- und kommunale Aufgabe -,
dann kommen wir wieder ins Plenum und berichten.
Dies ist richtig und vernünftig und kein Schnellschuss.
({6})
Ich möchte jetzt einmal etwas zu Schnellschüssen sagen. Sie sagen: Machen Sie jetzt, machen Sie einmal!
Sie waren in Nordrhein-Westfalen ja zehn Jahre lang in
der Regierungsverantwortung - fast parallel zur Bundesverantwortung. Ich habe einmal gedacht: Wenn die Kinderbetreuungsangebote so wichtig sind, dann werden die
Grünen diese Angebote im Eilverfahren ausgebaut haben, zumal eine Parallelität hinsichtlich der Verantwortung für die Landes- und die Bundespolitik gegeben war;
das war eine Linie.
Jetzt gucken wir einmal, was Sie erreicht haben. 1995
hatten Sie knapp 8 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige.
({7})
2002, also sieben Jahre später - jetzt überlegen Sie einmal, was die Ministerin in eineinhalb Jahren getan hat -,
kamen Sie auf ein Plus von 2 500 Plätzen.
({8})
Wenn das Ihr Eiltempo ist, dann ist es gut, dass wir inzwischen Ihre Regierung abgelöst haben, damit es etwas
schneller vorangeht und wir Änderungen vornehmen
können.
({9})
Wir haben allein in Nordrhein-Westfalen das institutionelle Angebot für unter Dreijährige von 11 000 Plätzen im Mai 2005 bis zum Februar 2007 auf 16 000 erweitert. Das zeigt, dass wir dort, wo wir in der Regierung sind, handeln.
({10})
Wir verändern etwas, und zwar im Gegensatz zu Ihnen
im Eiltempo.
({11})
- Sie müssen uns nicht immer sagen, wo wir was gemacht haben. Es kommt auf die Zahlen an, Frau Sager.
Warum erwähnen Sie nicht Bayern? Sie kommen
schließlich aus Bayern.
({12})
- Entschuldigung, Frau Scheel kommt aus Bayern. Sie
kommen aus Hamburg. Sie könnten aber auch ausführen, welche positive Entwicklung in Hamburg zu verzeichnen ist, seitdem die CDU dort regiert.
Es gibt sehr gute Entwicklungen beim Bund. Darüber
lasse ich nicht mit mir diskutieren, weil unsere Zahlen
eindeutig sind. Sie können das nicht vom Tisch wischen.
Ich möchte noch auf die Linken eingehen, die auch
immer wieder vehement Verbesserungen fordern. Sie haben sich in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, auch nicht mit den Forderungen hervorgetan, die Sie jetzt erheben, beispielsweise zur
Kostenfreiheit eines Kindergartenplatzes.
({13})
- Was ist denn mit Brandenburg?
({14})
- In Berlin sind Sie aber an der Regierung beteiligt.
({15})
Weder die Linken noch die Grünen haben sich mit
Ruhm bekleckert, wenn es darum geht, ihre Forderungen, die sie hier erheben, umzusetzen. Sie fordern viel
und schaffen wenig.
Die Bundesregierung ist mit unserer Ministerin auf
dem richtigen Weg. Die Familienministerin der vergangenen Legislaturperiode hat den Anfang gemacht.
({16})
Frau von der Leyen macht jetzt weiter, und zwar mit
dem richtigen Tempo. Ich bin froh, dass wir sie haben.
Ich bin sicher, dass das Ganze nicht an der SPD scheitern
wird; schließlich ist die CDU/CSU-Fraktion beteiligt,
die nicht nur redet, sondern handelt.
({17})
Uns ist es lieber, Zahlen vorzuweisen, als uns auf
laute Forderungen zu beschränken. Insofern bin ich froh
und dankbar; denn wir sind auf dem richtigen Weg. Wir
lassen uns von Ihnen nicht beirren. Denn wir wissen,
dass nicht nur die Familien wichtig sind; im Vordergrund
steht das Wohl der Kinder. Deshalb ist die Wahlfreiheit
das oberste Gebot.
({18})
- Aber nur, wenn er finanzierbar und sinnvoll ist. Daran
werden wir arbeiten. Darauf können Sie Gift nehmen.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Als Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen reizt
es mich, auf die letzten Bemerkungen unserer Kollegin
einzugehen. Es gab zwar in NRW bisher in der Tat wenig Krippenplätze - das ist richtig -, aber ich denke, die
Darstellung, SPD und Grüne hätten es verschlafen, jetzt
starte die CDU durch, ist nicht ganz zutreffend. Denn
auch Sie brauchten sehr viel gesellschaftlichen Druck,
um sich so weit zu bewegen, wie Sie es bisher getan haben. Sie brauchten eine mutige Ministerin, die auch gelegentlich vorgeprescht ist. Das alles ist richtig.
Ich denke, in NRW sieht es deshalb noch ziemlich
traurig aus, weil wir dort zu wenig Druck und keinen so
mutigen Minister haben. Insofern bin ich nicht sehr optimistisch.
({0})
Ansonsten freue ich mich als Finanzpolitikerin besonders darüber, dass noch keiner gefordert hat, einen Teil
der sprudelnden Steuereinnahmen zur Finanzierung von
Kinderkrippen zu verwenden. Denn es ist sicherlich uns
allen klar, dass die Finanzierung nicht durch Verschuldung erfolgen kann. Die sprudelnden Steuereinnahmen
bedeuten nämlich im Grunde nur, dass wir weniger
Schulden machen müssen.
({1})
Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet insofern, dass wir
uns an anderer Stelle um das notwendige Geld bemühen
müssen.
({2})
Es ist richtig, dass alle drei Ebenen - Kommunen,
Länder und der Bund - beteiligt werden müssen. Ob es
exakt eine Drittelbeteiligung sein muss, kann noch diskutiert werden. Grundsätzlich sind aber alle drei Ebenen
in der Verantwortung. Ich nehme die Länder ausdrücklich nicht aus; denn über sie ärgere ich mich am meisten.
Ich habe im Zusammenhang mit der Föderalismusreform I die Länderchefs erlebt. Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass wir ihnen bloß mit irgendwelchen
Ideen wegbleiben sollten; sie bräuchten auch kein Geld
für Ganztagsschulen. Sie haben das Geld dann aber genommen und das Programm mit Mühe und Not - in einigen Ländern auch sehr gemächlich - umgesetzt. Der thüringische Ministerpräsident beispielsweise sagt nun: Wir
brauchen keinen Rechtsanspruch. - Man braucht in Thüringen keinen Rechtsanspruch, weil es dort ein flächendeckendes Angebot gibt. Wenn wir überall flächendeckende Angebote hätten, bräuchten wir keinen
Rechtsanspruch. Wir brauchen einen Rechtsanspruch
aber, um denjenigen ein Druckmittel zu geben, bei denen
es eine Nachfrage nach Betreuungsangeboten gibt. Diese
können nur dann Druck ausüben, wenn sie sagen können: Hier ist mein Rechtsanspruch. Wo ist mein Betreuungsplatz? - Wir müssen aber den Rechtsanspruch so
definieren, dass man einen Anspruch auf eine zeitlich
und qualitativ ausreichende Betreuung hat. Ich hatte einmal einen Betreuungsanspruch auf einen Kindergartenplatz in Bayern. Das waren drei Stunden Nachmittagbetreuung. Das hat weder meinem Kind noch mir geholfen.
So etwas darf es nicht geben.
Berlin ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es - genauso
wie in Hamburg - etwas Innovatives; darüber sollte man
einmal nachdenken. Ich meine die Betreuungsgutscheine. Ich bin mir nicht sicher, ob die von den Grünen
vorgeschlagene Kinderkarte etwas Ähnliches ist. Aber
Betreuungsgutscheine führten dazu, dass man den Menschen das Geld vom Bund geben könnte, ähnlich wie
eine BAföG-Leistung.
({3})
- Das ist nicht Ihre Idee. Die Idee des Betreuungsgutscheins kommt aus dem wissenschaftlichen Bereich.
Solche Gutscheine gibt es in den USA schon seit
20 Jahren. Sie können die Idee gerne aufgreifen. Ich
halte sie jedenfalls für bedenkenswert.
Über einen finanziellen Ausgleich für Eltern, die ihre
Kinder zu Hause betreuen, müssen wir nicht ernsthaft
nachdenken; denn Sie unterstellen damit - das finde ich
ganz schrecklich -, dass Eltern, die ihre Kinder in die
Krippe oder zu einer Tagesmutter geben, gar keine Be10070
treuung mehr leisten. Sie tun so, als ob diese ihre Kinder
abholten und sie gleich ins Bett legten, um sie am nächsten Morgen aus dem Bett zu nehmen und sie wieder
wegzubringen. Das ist doch völliger Blödsinn.
({4})
- Das stimmt. Aber Sie haben hier mit aller Kraft das
Ehegattensplitting verteidigt. Solange Sie das tun, müssen Sie sich um das Einkommen dieser Familien keine
Gedanken machen; denn diese profitieren vom Splittingvorteil. Sie sollten sich schon für eine Argumentationslinie entscheiden.
({5})
Wenn Sie das geschafft haben, gibt es Finanzierungsmöglichkeiten. Dann können wir mit Ihnen über andere
Sachen reden.
Ich habe schon vor ein paar Wochen gesagt, dass ich
die Vorschläge der SPD nicht unbedingt toll finde. Aber
das sind zumindest belastbare Vorschläge. Darüber sollten wir noch einmal nachdenken. Ich habe ein paar
Bauchschmerzen, wenn ich an die Finanzierung über
Hartz IV denke; denn ich weiß nicht, ob sie gleich greift,
ob die Eltern gleich Arbeit bekommen. Die alleinerziehenden Mütter, von denen Sie gesprochen haben, waren
schließlich eine Zeit lang zu Hause. Ich weiß nicht, ob
das gleich funktioniert und 900 Millionen Euro bringt.
Deswegen bin ich ein bisschen skeptisch. Die demografische Reserve ist sicherlich ein Finanzierungsaspekt.
Wir dürfen aber nicht vergessen: Unsere guten Maßnahmen, die meine Vorrednerin teilweise angedeutet hat,
führen natürlich dazu, dass wir in Zukunft wesentlich
mehr Kinder haben. Dann brauchen wir erheblich mehr
Geld. Ich denke, dann sind alle dabei, das aufzutreiben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Möllring für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist offenbar eine unerlässliche deutsche
Übung, dass alle, kaum dass eine gute Idee ausgesprochen wurde, nach Kräften darüber herfallen, sie zerreißen und zerreden, bis kaum noch jemand die gute Absicht und die Fortschritte, die man gemacht hat,
erkennen kann. Der Kollege Singhammer hat eben sehr
eindrucksvoll darauf hingewiesen, in welch kurzen Zeitabläufen hier eine Planung eingesetzt hat, die nicht einfach gewesen ist. Niemand wird bestreiten, dass wir nun
gemeinsam mit allen Akteuren auf Landesebene und in
den Kommunen einen guten Schritt vorangekommen
sind.
({0})
So viel Einigkeit und Erfolg ist mittelfristig nur
schwer zu ertragen. Die deutsche politische Seele wittert
die Chance, sich in einen zermürbenden Kleinkrieg zu
stürzen.
({1})
Sehr verehrter Koalitionspartner, lassen Sie uns doch
einfach gemeinsam unseren Job machen! Fangen Sie
bitte die Mitglieder Ihrer Partei ein, die sagen, wir würden Geld verplanen, das wir noch gar nicht hätten! Fangen Sie auch die ein, die sagen, wir müssten noch viel
mehr Geld einsetzen, um einen Rechtsanspruch zu ermöglichen!
({2})
Sie haben doch selber mit Ihrem Finanzminister den
Daumen drauf. Sie brauchen also solche Leuchtraketen
gar nicht abzuschießen.
Inzwischen ist die Dringlichkeit des Themas offensichtlich bei allen, auch bei diesem Finanzpolitiker, angekommen.
({3})
Wir wollen Familien helfen, ihren Alltag mit Kindern
und Beruf so zu organisieren, wie es für sie am besten
passt. Ich habe hier schon das letzte Mal in meiner Rede
deutlich ausgeführt, dass die Bedürfnisse hier so unterschiedlich sind, dass wir sie nicht mit einer holzschnittartigen Antwort befriedigen können.
({4})
Deswegen finde ich es nicht okay, wenn Sie hier - das
gilt auch für die Damen von den Grünen - gebetsmühlenartig das Wort „Rechtsanspruch“ wiederholen; denn
mit der Einführung eines Rechtsanspruchs allein ist das
Problem noch nicht gelöst. Frau Arndt-Brauer hat dankenswerterweise eben selber darauf hingewiesen.
Was soll denn die Mutter machen, die im Schichtdienst arbeitet, zum Beispiel als Krankenschwester, und
einen Betriebskindergarten braucht, der andere Öffnungszeiten hat? Was soll denn die Frau machen, die
eine flexible Kinderbetreuung braucht, zum Beispiel für
drei Stunden am Nachmittag? Was ist mit der Angestellten am Flughafen, die wiederum völlig andere Dienstzeiten hat? Welchen Rechtsanspruch wollen Sie denn für
diese Familien statuieren?
Die Familien brauchen konkret einen Platz; sie brauchen ein vielschichtiges Angebot.
({5})
Sie haben in der letzten Wahlperiode versucht, solch ein
Angebot durchzusetzen; das hat aber leider nicht geklappt, weil Sie es mit ALG-II-Leistungen gekoppelt haben. Wir alle haben erlebt, welche Auswirkungen das für
die Kommunen hatte. Ich habe in einer Kommune Verantwortung getragen und musste immer auf das Geld
warten, das Sie uns versprochen haben.
({6})
- Wenn Sie einen Termin mit meinem Mann haben wollen, werde ich ihn sofort ausmachen; dann können Sie
sich gern mit ihm über das Thema unterhalten. Das mache ich am allerliebsten.
({7})
Liebe Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker,
wenn wir mit einem vernünftigen Kinderbetreuungssystem, das auf die Bedürfnisse dieser Familien Rücksicht
nimmt, erreichen könnten, dass die Mütter und auch die
Väter nicht mehr auf ALG II angewiesen sind, dann wären wir doch mit dem Klammeraffen gepudert, wenn wir
dieses Geld im großen Topf ließen und nicht sagten, es
müsse für genau diesen Zweck eingesetzt werden. Das
Gleiche gilt für die Kindergeldzahlungen.
Herr Beck, ich kann nicht verstehen, dass Sie diese
Mittel einfach locker in den Raum werfen wollen. Nein,
diese Zahlungen müssen weiter den Familien zugute
kommen, und zwar in Form von konkreten Angeboten
vor Ort. Ich will Ihnen sagen: Die Bevölkerung hat dieses Gezerre und Gezeter um die einzelnen Vorschläge
längst satt.
Die Familien erwarten eine Lösung für ihren Alltag.
Ich bin froh über jeden vernünftigen Vorschlag, der hier
gemacht wird, damit wir ein abgestimmtes System aus
dem Boden stampfen können. Das wird sicherlich nicht
von heute auf morgen gehen; aber in den nächsten Jahren können wir Schritt für Schritt vernünftige Angebote
einführen, die den Familien vor Ort helfen, ihre Probleme zu lösen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Clemens Bollen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich herrscht hier im
Hause große Einigkeit - das ist ein Riesenfortschritt über die Notwendigkeit des Ausbaus der Kinderbetreuung; es geht hier eigentlich nicht um das Ob, sondern nur
um das Wie. Wir alle wissen, dass Deutschland im europäischen Vergleich weit zurückliegt. Ich erinnere an die
Worte der früheren Familienministerin Renate Schmidt,
die einmal gesagt hat, Westdeutschland sei in Sachen
Kinderbetreuung ein Entwicklungsland.
Sie hat dabei eine Rechnung aufgemacht, die ich sehr
interessant fand. Von 1994 bis 2002, also in einem Zeitraum von acht Jahren, hat sich die Versorgung mit Krippenplätzen nur um 1,5 Prozent verbessert. Wenn es in
diesem Tempo weitergegangen wäre, hätte es 120 Jahre
gedauert, um die französische Betreuungsquote zu erreichen, 160 Jahre, um die Betreuungsquote Ostdeutschlands zu erreichen, und über 200 Jahre, um Dänemark
einzuholen. Dass hier großer Reformbedarf bestand, ist
nun wirklich deutlich. Deshalb haben wir in der Großen
Koalition eine neue Dynamik angestoßen. Ich glaube,
500 000 zusätzliche Betreuungsplätze für ein- bis dreijährige Kinder sind eine völlig neue Qualität in der
Familienpolitik. Deshalb werden wir das Versprechen
einlösen, dass alle, die für ihre Kinder einen Betreuungsplatz wünschen, diesen auch bekommen.
Derzeit ist jede zweite Mutter in Deutschland nicht erwerbstätig, meist unfreiwillig. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit - Frau Ministerin hat die Zahl eben
zitiert - könnten 50 000 Alleinerziehende sofort Arbeit
aufnehmen, wenn die Kinderbetreuung geklärt wäre. Das
zeigt die Notwendigkeit, schnellstens zu handeln. Mütter
und Väter wollen heute beides, Familie und Beruf. Auf
dieses veränderte Familienbild muss reagiert werden,
und es wird reagiert. Alle Versuche, Frauen an Heim und
Herd zu halten, was in der Diskussion ist, gehen eindeutig an der Realität vorbei. Elternpaare und Alleinerziehende brauchen verlässliche Rahmenbedingungen.
({0})
Dazu brauchen wir - das müssen wir mit aller Deutlichkeit sagen - den gesetzlich verankerten Rechtsanspruch. Gerade in dem Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung ab dem ersten Geburtstag liegt der
Schlüssel zu einem flächendeckenden und bedarfsgerechten Betreuungsangebot. Besonders wichtig erscheint
mir aber, dass wir bei der Debatte über die Krippenplätze
die Kinder selbst in den Mittelpunkt stellen. Eine Förderung der frühkindlichen Entwicklung ist von zentraler
Bedeutung. Wichtige Stichworte sind hier die Unterstützung beim Spracherwerb, die Begleitung beim Entdecken der Umwelt, die Förderung der frühkindlichen Bildung und die Entwicklung von sozialer Kompetenz.
Studien belegen die Vorteile der frühkindlichen Betreuung. Dies gilt nicht nur für Kinder aus benachteiligten
Familien, sondern für alle Kinder.
({1})
Ein- und Zweijährige brauchen eine spezielle Betreuung und intensive Zuwendung. Dafür brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher, die eine besondere Ausbildung haben. Dies gilt natürlich entsprechend auch für
die Tagesmütter und -väter, die eine wichtige Rolle im
Konzept der Kinderbetreuung spielen; denn was in diesem frühen Alter der Kinder falsch gemacht wird, lässt
sich später schwer korrigieren.
({2})
Die lebhafte gesellschaftliche Debatte, die in den letzten Monaten über die Krippenplätze geführt wurde,
zeigt, wie sich das Familienbild in unserem Land verändert hat. Ein Zitat, Frau Ministerin, lautet: Kinder sind
nicht nur eine Privatangelegenheit. - Das ist ein Satz, der
so vor einigen Jahren noch nicht gefallen wäre. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb war es ein wichtiger Schritt, dass
sich Bund, Länder und Kommunen verpflichtet haben,
bis 2013 750 000 Betreuungsplätze bereitzustellen. Jetzt
müssen wir zu einer gerechten Aufteilung der Kosten
zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen. Die
Kommunen brauchen Planungssicherheit. Der Bund
kann sich hierbei nicht auf eine Beteiligung allein an den
Investitionskosten zurückziehen.
({3})
Wenn wir wirklich mehr und bessere Kinderbetreuung
wollen, dann müssen wir für eine dauerhafte und ausreichend hohe Beteiligung des Bundes sorgen.
Für die SPD geht der Weg über die gesetzliche Verankerung des Rechtsanspruchs auf eine ganztägige Betreuung ab dem ersten Geburtstag. Deshalb sind Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen in der Pflicht. Hier
darf es keine Blockaden der Länder geben. Die SPD hat
einen Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Ich bin sicher,
dass in den nächsten Tagen konkrete, tragfähige Ergebnisse für die Finanzierung der zusätzlichen Krippenplätze vorliegen werden. Kinder sind unsere Zukunft.
Deshalb muss jetzt gehandelt werden.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich danke Ihnen, Frau Ministerin, dafür, dass Sie
es geschafft haben, das Thema Kinderbetreuung in das
Zentrum der Diskussion zu rücken. Sie haben es geschafft, Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch zu
bringen und ein gemeinsames Ziel festzulegen. Das war
noch nie da.
({0})
Im Mittelpunkt steht der Ausbau der Kinderbetreuung
auf 750 000 Plätze. Trotz der vielstimmigen Diskussion,
insbesondere um die Finanzierung dieses Ziels, sind wir
uns fraktionsübergreifend einig: Eltern, die dies wünschen, sollen eine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind
ab dem ersten Lebensjahr erhalten. Wir sind uns auch einig darüber, dass die Qualität der Kinderbetreuung in
Deutschland verbessert werden kann und in vielen Bereichen verbessert werden muss.
Für die weitere Konzeption möchte ich als Haushaltspolitiker auf drei Dinge hinweisen:
Erstens. Neben der wichtigen Aufgabe, die Kinderbetreuung auszubauen, dürfen wir nicht das Ziel aus den
Augen verlieren, die über 50 unterschiedlichen familienpolitischen Leistungen zu bündeln. Hieran arbeiten zurzeit Kommissionen im Familienministerium und innerhalb der CDU/CSU-Fraktion.
In diesem Zusammenhang ist an Folgendes zu erinnern: Für die Finanzierung der Kinderbetreuung ist der
Bund eigentlich nicht zuständig.
({1})
Die Föderalismusreform hat noch einmal deutlich gemacht, dass die Kinderbetreuung vor allen Dingen von
den Ländern und den Kommunen zu organisieren ist. Ich
meine, dass diese Aufgabe dort, insbesondere bei den
Kommunen, zu Recht angesiedelt ist. Kinderbetreuung
in ländlichen Räumen ist natürlich anders als in urban
geprägten Räumen zu organisieren. Kinderbetreuung
muss dort organisiert werden, wo die Eltern Mitsprachemöglichkeiten haben, wo sie sich einbringen und beeinflussen können, wie die Kinderbetreuung vor Ort organisiert wird. Entscheidend ist also, dass die Kommunen
ausreichende finanzielle Möglichkeiten hierzu erhalten.
Ebenso richtig ist, dass es ein nationales Ziel ist, die
Geburtenrate zu erhöhen. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wesentliches Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Ich stimme der Familienministerin ausdrücklich
zu, dass der Bund sich hier engagieren muss. Frau von
der Leyen hat diese notwendige Impulsfunktion - so will
ich das nennen - erkannt und entsprechend ausgefüllt.
Ich möchte zweitens auf einen weiteren in der Diskussion über Kinderbetreuung wichtigen Punkt hinweisen. Wir sollten bei der Erfüllung der notwendigen Aufgabe, Kinderbetreuung zu organisieren, nicht den Fehler
machen, die Haushaltskonsolidierung aus den Augen zu
verlieren. Haushaltskonsolidierung ist genauso wie der
Ausbau der Kinderbetreuung im Interesse unserer Kinder. Der Bund ist von den Gebietskörperschaften am
höchsten verschuldet. Trotz der Mehreinnahmen, die
jetzt geschätzt werden, haben wir keine Überschüsse,
sondern weiterhin ein deutliches Haushaltsdefizit zu verzeichnen.
Wir müssen begreifen, dass wir nicht dauerhaft mehr
Geld ausgeben dürfen, als wir einnehmen. Die gegenüber den bisherigen Prognosen erfreulichen Steuereinnahmen dürfen nicht zu dauerhaften Ausgabensteigerungen führen. Denn: Keiner weiß, wie lange die gute
konjunkturelle Lage anhält und wie lange wir mit den
Mehreinnahmen rechnen können. Eventuelle Mehrausgaben für Kinderbetreuung sollten daher woanders eingespart werden. Ein konsequenter Sparkurs ist im Interesse der nachfolgenden Generationen.
({2})
Ich möchte auf einen dritten Punkt hinweisen, der mir
in dieser Debatte wichtig ist: die Wahlfreiheit. Wir dürfen diejenigen Eltern nicht vergessen, die ihr Kind selbst
betreuen und dafür vorübergehend auf eine Berufstätigkeit verzichten wollen.
({3})
Die Familienpolitik hat wie bisher die Aufgabe, diese
Eltern zu fördern. Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass wir
den Eltern keine bestimmte Betreuungsform vorschreiben dürfen.
({4})
Die Diskussion der letzten Wochen war aus meiner
Sicht zu sehr auf staatliche Angebote fixiert. Statt uns
nur auf eine Objektförderung zu konzentrieren, sollten
wir auch andere Förderungsarten - vielleicht eine stärkere Subjektförderung - ins Auge fassen. Ich denke an
eine bessere finanzielle Förderung der Familien. Ob die
Eltern eine Tagesmutter, eine private, eine staatliche Kita
oder eine private Elterninitiative in Anspruch nehmen,
sollte ihnen überlassen bleiben.
({5})
Wir müssen die Familienpolitik effektiver und unbürokratischer organisieren. Wichtig ist, dass das Geld am
Ende bei den Eltern und Kindern ankommt und nicht in
der Förderbürokratie versickert. Das gilt erst recht für
die Kinderbetreuung.
Im Rahmen der Aufstellung des nächsten Haushaltsund Finanzplanes werden wir entscheiden, wie wir die
konkrete finanzielle Beteiligung des Bundes gestalten
werden. Ich bin mir sicher, dass wir zu einer überzeugenden Lösung kommen werden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde
ist beendet. Wir hier im Präsidium haben neben dem lebhaften Austausch der Argumente zur Kinderbetreuung
und zur Finanzierung der Kinderbetreuung mindestens
drei sprachliche Innovationen gezählt: Der Bettvorleger
hat eine Partnerin, die Bettvorlegerin, bekommen. Es
wird nicht mehr mit dem Klammerbeutel, sondern mit
dem Klammeraffen gepudert. Und es gibt die männliche
Erzieherin. Man muss am Ende eines solchen Tages ja
auch einmal seinen Erkenntnisfortschritt resümieren.
({0})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 23. Mai 2007, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute!