Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/10/2007

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen fröhlichen Morgen und einen erfolgreichen Tag. Die Kollegin Angelika Graf ({0}) und der Kollege Rainer Fornahl feiern heute ihren 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich herzlich und wünsche alles Gute. ({1}) Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass die Kollegin Ute Berg aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Rainer Wend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so. Dann ist der Kollege Dr. Rainer Wend zum Mitglied dieses Gremiums nach dem Zollfahndungsdienstgesetz gewählt. Die Kollegin Caren Marks hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der SPD den Kollegen Dr. Gerhard Botz vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Es hat hier schon stärkere Auseinandersetzungen gegeben. - Das ist offenkundig auch der Fall. Dann haben wir das so vereinbart. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf dem Arbeitsmarkt ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: zu der Antwort der Bundesregierung auf die dringliche Frage Nr. 3 auf Drucksache 16/5236 ({2}) ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen - Drucksache 16/5271 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) Sportausschuss Ausschuss für Gesundheit ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({6}) - Drucksache 16/5172 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Landes Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommission - Drucksache 16/4607 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen - In Deutschland lebende Iraker und Irakerinnen vor Abschiebung schützen - Drucksache 16/5248 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken - Drucksache 16/5249 Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schieneninfrastruktur ist öffentliche Aufgabe - Moratorium für die Privatisierung der Deutsche Bahn AG - Drucksache 16/5270 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({12}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts abwenden - Bestehende europäische Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln - Drucksache 16/5254 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({14}) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Grünbuch Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz KOM ({16}) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07 - Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 Berichterstattung: Abgeordnete Julia Klöckner Marianne Schieder Karin Binder ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Strategien für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika erarbeiten und durchsetzen - Drucksache 16/5243 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({17}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 - Drucksache 16/5240 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Bericht zur Realisierung der Ziele des BolognaProzesses - Drucksache 16/5252 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des geplanten Ausbaus von Kinderkrippen Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) zur Mitberatung überwiesen werden: Entwurf eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität ({21}) - Drucksache 16/3656 überwiesen: Rechtsausschuss ({22}) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel Bahr ({24}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nichtraucherschutz praktikabel und mit Augenmaß umsetzen - Drucksache 16/5118 überwiesen: Ausschuss für Gesundheit ({25}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Präsident Dr. Norbert Lammert Der Tagesordnungspunkt 24 - hier handelt es sich um den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Passgeset- zes und weiterer Vorschriften - und der Tagesordnungs- punkt 25 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze - wer- den abgesetzt. Ich vermute, dass Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden sind. - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 3 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung Gesunde Ernährung und Bewegung - Schlüssel für mehr Lebensqualität ({26}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Bleser, Julia Klöckner, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Volker Blumentritt, Mechthild Rawert, Waltraud Wolff ({27}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung gesundheitsrelevanten Verhaltens zur Prävention von Fehl- und Mangelernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel insbesondere bei Kindern und Jugendlichen - Drucksache 16/5258 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({28}) Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Volker Beck ({29}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen - Drucksache 16/5271 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({30}) Sportausschuss Ausschuss für Gesundheit - Die Bewegung entsteht schon vor Beginn der Regierungserklärung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch das können wir offensichtlich so vereinbaren. Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Prävention ist bekanntlich noch immer die beste Medizin. Sie ist notwendig; denn in Deutschland - wie auch in allen anderen Industrienationen - nimmt die Zahl der Krankheiten zu, die durch frühzeitige Prävention vermieden werden könnten. Das gilt für Fehlernährung, das gilt für Übergewicht, das gilt für Bewegungsmangel. All dies beeinträchtigt die Lebensqualität vieler Menschen, und diese Krankheiten können die Lebenserwartung verkürzen und bewirken hohe Kosten für Gesundheits- und Sozialsysteme. Die Bundesregierung hat deshalb gestern ein Eckpunktepapier beschlossen, das die Grundlage für einen nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und den damit zusammenhängenden Krankheiten sein soll. Denn dies ist eine der größten gesundheits- und ernährungspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre. Übergewicht und Adipositas, also Fettleibigkeit, sind maßgeblich beteiligt an der Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II sowie Rücken- und Gelenkbeschwerden. Eine bedarfsgerechte Versorgung mit Nährstoffen und ausreichend Bewegung bilden die Grundlagen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit in allen Altersgruppen. Es gibt schon vielfältige Aktivitäten auf nationaler und europäischer Ebene sowie durch die Weltgesundheitsorganisation. Durch all diese Aktivitäten wurde bisher aber keine Trendwende herbeigeführt. Mit unserem Aktionsplan verfolgen wir daher die Ziele, die zum Teil durchaus erfolgreichen Projekte im staatlichen und im nichtstaatlichen Bereich zu identifizieren, zu vernetzen, besser aufeinander abzustimmen und als Qualitätsstandards für künftige Aktivitäten zu implementieren sowie eine Verständigung über verstärkt zu bearbeitende Schwerpunkte herbeizuführen. In diesem Aktionsplan werden konkrete Ziele, Handlungsfelder und Maßnahmen festgelegt, um die Menschen in Deutschland in ihrem Bemühen um einen gesunden Lebensstil mit ausgewogener Ernährung und ausreichender Bewegung zu unterstützen und damit auch ihre Lebensfreude zu erhöhen. Bevor ich auf Einzelheiten dieses Aktionsplans zu sprechen komme, möchte ich eine Grundbotschaft voranstellen: Es geht der Bundesregierung nicht darum, dass der Staat wieder einmal vorschreibt, wie die Bürgerinnen und Bürger zu leben haben. Wir wollen keinen Staatsdirigismus, keine von oben verordnete Moral der Lebensführung und keinen Feldzug gegen die Menschen oder einzelne Produkte. Wir wollen die Menschen in ihrem Bemühen um einen gesunden Lebensstil unterstützen. Beratung statt Bevormundung ist deshalb die Generallinie dieses Projekts. ({0}) Ich möchte das auch von vielen anderen Dingen sauber abgrenzen, die uns hier beschäftigen. Vor wenigen Tagen haben wir hier über den Nichtraucherschutz debattiert. Wenn es um einen potenziell gesundheitsgefährdenden Stoff geht, dann haben wir die Verpflichtung, diesen gefährlichen Stoff von den Menschen fernzuhalten. Genauso ist es in der Lebensmittelpolitik selbstverständlich, Lebensmittel aus dem Verkehr zu ziehen, die für die Menschen ohne Zweifel gesundheitsschädlich sind. ({1}) Wenn es aber darum geht, den richtigen Gebrauch von Lebensmitteln zu erwirken, dann sind Verbote nicht die richtige Antwort. Vor zwei Wochen bin ich Botschafter des Bieres geworden. ({2}) Niemand wird bestreiten, dass durch den bestimmungsgemäßen Gebrauch, also den mäßigen Gebrauch, von Bier keinerlei Gesundheitsgefahren hervorrufen werden. Der Missbrauch von Alkohol kann aber sehr wohl gesundheitsschädlich sein. ({3}) Darum geht es: Die Menschen müssen über den richtigen Gebrauch von Lebensmitteln informiert und aufgeklärt werden. Wir alle miteinander können hier immer wieder dazulernen. ({4}) Falsches Essen und zu wenig Bewegung führen bei immer mehr Menschen zur Einschränkung ihrer Lebensqualität. Ich sage noch einmal: Das betrifft nicht nur uns Deutsche, sondern alle Industrienationen. Rund 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation übergewichtig. Besonders betrüblich ist, dass darunter 20 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind. In Europa sterben jährlich mehr als eine Million Menschen an durch Fettleibigkeit bedingten Krankheiten. Heute gibt es bereits 14 Millionen Kinder in Europa mit Übergewicht. Die Folgen, die deshalb auf uns zukommen, sind offenkundig. Die Kosten für die Behandlung von Krankheiten, die durch Fehlernährung und Übergewicht mitbedingt sind, werden allein in Deutschland mit 30 Prozent, also mit fast einem Drittel aller Gesundheitskosten kalkuliert. Das sind mehr als 70 Milliarden Euro. Alleine die Kosten für die Behandlung von Diabetes belaufen sich auf 30 Milliarden Euro. Erschreckend ist, dass 6 000 Kinder jährlich neu an Altersdiabetes erkranken. Es ist eine der ganz großen Herausforderungen in der Gesundheitspolitik, dass Altersdiabetes mittlerweile epidemische Auswirkungen im Kindheitsalter hat und dass wir hier nach allen Prognosen in den nächsten Jahren noch drastische Erhöhungen erleben werden. Neben dem individuellen Leid wird das auch Unsummen an Behandlungskosten verursachen; denn kaum eine Behandlung ist wegen der vielfältigen Folgeerkrankungen so teuer wie die Behandlung von Diabetes. Dabei ist die Hauptursache von Diabetes längst bekannt: falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Wir wissen alle, dass es dafür persönliche, soziale und historische Ursachen gibt. Für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg und die nachfolgenden Jahre mit Entbehrungen und Hunger erlebt hat, war es eine Wohltat, als es wieder Butter, Zucker, Nudeln und Fleisch gab. Diese Erfahrung aus der Notzeit wurde in vielen Familien weitergegeben und war auch eine Ursache für die Entwicklung der Folgezeit. In diesen Nachkriegsjahren gab es zu wenig zu essen und genug Bewegung. Heute gibt es - jedenfalls in den Industrienationen - in den allermeisten Fällen genug zu essen, aber zu wenig Bewegung. ({5}) Wir wissen heute auch um die genetischen Strukturen, die die körperliche Konstitution festlegen. ({6}) Dazu gehört auch, wie Studien ergaben, dass Menschen je nach genetischer Disposition ganz unterschiedliche Essensverwerter sind. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten im frühkindlichen Alter bis in die genetischen Strukturen niederschlagen und später nur schwer wieder verändert werden können. Alle diese Erkenntnisse zeigen, wie falsch es wäre, allen Menschen eine bestimmte Ernährung aufzuzwingen oder eine einheitliche Regel für ein ganzes Volk aufzustellen. Die Untersuchungen haben aber auch gezeigt, dass über die genetische oder historisch-soziale Vererbung hinaus jeder Mensch hinsichtlich der Ernährung einen eigenen disponiblen Handlungsbereich besitzt. Geschichte oder Gene können jedenfalls nicht mehr erklären, warum sich die Zahl der übergewichtigen und fettleibigen Kinder in der Zeit von 1985 bis 1999 verdoppelt hat. Man kann den Menschen als Ganzes nicht verändern, aber es gibt auch immer Möglichkeiten zu neuen Einsichten und Verhaltensweisen. ({7}) Wenn einseitige Ernährung und Bewegungsmangel Hauptursachen für Übergewicht sind, dann muss man hier ansetzen und versuchen, Verbesserungen zu erreichen. Wir alle - mich eingeschlossen - kämpfen heute mit manchen negativen Folgen unseres modernen Lebensstils. In unserer hochindustrialisierten und technisierten Welt verbrauchen wir in unserer Arbeit nur noch einen Bruchteil der Energie von früher. Es gibt immer weniger Schwerarbeiter. Das ist auf der einen Seite ein Segen und auf der anderen Seite eine Herausforderung. Moderne Maschinen ersetzen unsere Körperkraft. Autos und Aufzüge nehmen uns unsere täglichen Schritte ab. In den letzten 40 Jahren ist der notwendige Kalorienverbrauch bei Männern um 40 Prozent, bei Frauen um 30 Prozent zurückgegangen. Unsere Ernährung hat sich diesen reduzierten Anforderungen jedoch nicht angepasst. Hinzu kommt die Veränderung unserer Nahrungsmittel insgesamt. Mit Blick auf Fastfood, Fertigprodukte und funktionelle Lebensmittel kommt es einem so vor, als hätte sich das, was wir essen, in den letzten 30 Jahren stärker verändert als in den 30 000 Jahren davor. Es ist heute wichtiger denn je, dass wir wieder einen kenntnisreichen, verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln pflegen. In gleicher Weise haben sich die Lebensumstände der Kinder in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir viel auf der Straße, im Wald oder im Park gespielt haben. Diese Straßenkindheit im positiven Sinne ist weitgehend verlorengegangen. Jetzt sitzt ein Kind im Durchschnitt fünf Stunden vor dem Computer, dem Fernsehgerät oder der Spielkonsole. Diese Zeit geht für das Herumtollen, Fußballspielen oder Fahrradfahren verloren. Bewegung, die früher selbstverständlich war, muss wieder künstlich erlernt werden. Das gilt auch für uns Erwachsene. Sportliche Betätigung bleibt in unserem modernen und hektischen Alltag oft auf der Strecke. Wir Deutschen sollen sogar ganz besondere Bewegungsmuffel sein, wie internationale Studien zeigen. Laut der jüngsten Umfrage treiben nur 21 Prozent der Deutschen regelmäßig Sport. In anderen europäischen Ländern ist dieser Wert doppelt so hoch. Die Bundesregierung gibt deshalb mit dem Aktionsplan einen Startschuss zur Prävention von Fehlernährung, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten. Erstens brauchen wir mehr Forschung im Bereich Ernährung und Gesundheit. Ich erinnere beispielsweise an die weit verbreiteten Ernährungsirrtümer. Bis vor kurzem standen zum Beispiel Eier als gefährliche Cholesterinbomben oder Nüsse als fette Dickmacher auf dem Index. Mittlerweile gibt es hier völlig neue Erkenntnisse. Heute darf und soll man wieder sein Frühstücksei essen, und Nüsse sind wegen ihrer ungesättigten Fettsäuren wieder wertvoll. Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang sagen: Wir haben die Ressortforschung in meinem Verantwortungsbereich reformiert. Die Ernährung wird in diesem reformierten Forschungskonzept einen ganz wichtigen Platz einnehmen. ({8}) Zweitens. Wir müssen mehr Aufklärung über gesunde Lebensmittel leisten. Wir sollten keinen Kampf gegen Lebensmittelprodukte oder die Lebensmittelwirtschaft führen, sondern in erster Linie für einen vernünftigen Gebrauch von Lebensmitteln tätig sein. ({9}) Ich sage hier als der für Ernährung zuständige Minister: Wir können heute trotz aller Skandale, die gelegentlich als Einzelfälle auftreten, auf die hohe Qualität unserer Lebensmittel zu Recht stolz sein. Ich sage auch hier den Satz: Die Qualität der Lebensmittel ist heute so hoch wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Es kommt auf den richtigen Gebrauch der Lebensmittel an. ({10}) Deshalb wäre eine Olympiade der Verbote völlig falsch. Wir setzen auf Vernunft statt auf Vorschriften. ({11}) Die Zeiten, in denen gutes Essen alleine einer gehobenen Gesellschaftsschicht vorbehalten war, sind glücklicherweise vorbei. Heute haben alle Menschen in unserem Lande genügend Möglichkeiten, gute und gesunde Lebensmittel zu kaufen. Leider sind besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien und solche mit Migrationshintergrund von Fehlernährung und mitunter von Unterernährung betroffen. Dabei ist gesundes Essen längst keine Frage des Geldbeutels mehr. Wir müssen uns an alle Bevölkerungsschichten wenden und konsequent über richtiges Ernährungsverhalten aufklären. Ich bin weiten Teilen der deutschen Lebensmittelwirtschaft dankbar, dass sie ihrerseits in Eigenverantwortung eine nicht irreführende, sondern eine hilfreiche Aufklärung und Information der Verbraucher betreibt. ({12}) Wichtig ist, dass die Aufklärung auch in verändertes Verhalten mündet. Oft haben wir das Problem, dass sich die besten Empfehlungen über gesunde Ernährung und Bewegung nur schwer mit unseren beruflichen Anforderungen und dem individuellen Tagesablauf vereinbaren lassen. Mit Vorsätzen verhält es sich wie mit Aalen: Manches ist leichter zu fassen als zu halten. Deshalb müssen wir die Menschen durch eine gute Infrastruktur stärken und ihnen aufzeigen, wie man ungesunde Ernährungsgewohnheiten ablegen und Bewegungsarmut überwinden kann. Drittens. Wir wollen den Schwerpunkt auf die Prävention legen. Ich verweise auf die jüngste Gesundheitsreform - oft kritisiert, aber in diesem Punkt völlig unterschätzt -, durch die die Prävention zu einem zentralen Element gemacht wurde und die Unterstützung der ärztlichen Vorsorgeleistungen massiv nach vorne getrieben wird, zum Beispiel durch einen konsequenten Gesundheitscheck zur Früherkennung von Herz-KreislaufErkrankungen für Menschen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Wir brauchen individuellere Programme der Krankenkassen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass man, wenn man für alle das Gleiche tut, für einige zu viel und für andere zu wenig macht. Das geschah oft mehr unter Werbegesichtspunkten der Sozialversicherung und weniger mit dem Ziel, den Menschen mit ihren individuellen Anliegen zu helfen. Die ersten Jahre der Kindheit haben entscheidenden Einfluss auf das künftige Körpergewicht; das wissen wir alle. Deshalb ist es besonders wichtig, bereits bei Kleinkindern ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und mehr Bewegung zu wecken. Das geht in erster Linie in der Familie. Das ist aber auch in den Kitas und den Schulen notwendig. Ich bemühe mich nachhaltig, die Kultusminister zu gewinnen, für das Thema Ernährung wieder als wichtigen und regelmäßigen Bestandteil unseres Schulunterrichts zu werben. ({13}) Dabei geht es nicht nur um graue Theorie, sondern auch um die konkrete Praxis. Wir haben gemeinsam mit den deutschen Landfrauen und der Plattform „Ernährung und Bewegung“ einen Ernährungsführerschein entwickelt. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es angesichts der zum Teil schwierigen motorischen Entwicklungen bei Kindern nachhaltig wünschenswert wäre, dass der Schulsport für Kinder und Jugendliche wieder einen deutlich höheren Stellenwert in Deutschland bekommt. ({14}) Wir brauchen viertens eine Veränderung der Strukturen im Alltag. Denken Sie nur an unsere Esskultur. Das betrifft uns auch persönlich sehr stark. Jede dritte Mahlzeit wird außer Haus konsumiert. Wir sind deshalb mit Krankenhäusern, Kitas, Seniorenheimen und Betriebskantinen in Kontakt, um diese Verpflegung bedarfsgerecht und gesund zu gestalten. Wir wollen bundesweite Qualitätsstandards - nicht durch Paragrafen, sondern eigenverantwortliche, von der Politik unterstützte Qualitätsstandards - und vor allem auch die Möglichkeit, gutes Essen zu einem fairen Preis in Kantinen und ähnlichen Einrichtungen, vor allem in Schulen, anzubieten. Wir haben uns deshalb entschlossen, in NordrheinWestfalen ab dem 1. Januar des nächsten Jahres kostenfrei bzw. deutlich kostenreduziert in den Schulen Milch oder Milchprodukte anstelle von Cola Light und anderen Softgetränken anzubieten. Das wird die Bundesregierung unterstützen. ({15}) Ich möchte auch ein Wort zur Lebensmittelkennzeichnung sagen. Wenn wir vom aufgeklärten, informierten Bürger sprechen, sind Transparenz und auch die Kennzeichnung ein ganz wichtiges Mittel. Ich habe dabei gewisse Vorbehalte, nämlich dass die Kennzeichnung in einem Umfang gestaltet ist, dass sie fast an die Medikamentenbeipackzettel heranreicht, mit der Folge, dass die abschreckende Wirkung bzw. die Desinformation oft größer ist als die Hilfe für die Leser des Beipackzettels. Die Informationen dürfen nicht irreführend sein. Es kommt immer der Vorschlag, mit dem ich mich schon seit Monaten beschäftige: Wir machen einen roten Punkt, einen gelben Punkt, einen grünen Punkt. Dann hat die Bevölkerung eine Information, was wegzulassen und was zu konsumieren ist. Das Problem dabei ist, dass auch viele Lebensmittel, die mit einem roten Punkt versehen würden - denken Sie an Fettprodukte -, sehr wohl wichtige Nährwertstoffe für die Menschen beinhalten und dass es hierbei auch wieder darauf ankommt, sie in richtigem Maß zu gebrauchen und nicht im Übermaß. Ein reiner roter Punkt könnte sehr schnell dazu führen, dass die Menschen die Finger von etwas lassen, das, in richtigem Maße verwendet, sehr wohl als Nährstoff für den menschlichen Körper notwendig ist. Lassen Sie uns darüber weiter nachdenken. Dabei lohnt es sich auch, streitig zu diskutieren. Aber, Frau Künast, wenn Sie das jetzt als das Allheilmittel ansehen, wie ich es in den letzten Tagen lesen durfte, dann frage ich mich, warum Sie in den vielen Jahren, in denen Sie vor mir Verantwortung trugen, dieses Punktesystem nicht realisiert haben. ({16}) Ich möchte auch die Plattform Ernährung und Bewegung in Deutschland nicht unerwähnt lassen. Das ist ein Zusammenschluss von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Eltern und Ärzten. Da gab es zahlreiche Initiativen und Projekte. Ich würde mir wünschen, dass wir das Potenzial dieser Plattform künftig noch besser ausschöpfen. Dazu würde gehören, dass sich noch mehr Bundesländer dieser Plattform freiwillig anschließen. ({17}) Der Beitrag dafür ist geringer, als es oft bei einem Sportverein der Fall ist. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Plattform so in das Bewusstsein der Bevölkerung bringen, dass diese sehr segensreiche Arbeit gerade in den Schulen noch stärker angenommen wird. Wir haben vor kurzem gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium und der EU eine Konferenz zu dem Thema „Gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ durchgeführt. Alle Mitgliedstaaten in Europa waren sich unter unserer Präsidentschaft über zwei Ziele einig: Bis zum Jahr 2020 wollen wir die Zunahme des Übergewichts bei Kindern stoppen und die Zahl übergewichtiger Menschen in Europa verringern. Ich bin froh über einen solchen Zeitraum; denn unser Aktionsplan soll kein Aktionismus sein. Wir verstehen ihn vielmehr als einen Dauerprozess, der in der Realität etwas nachhaltig verändert. Auf diese Nachhaltigkeit kommt es ganz entscheidend an. Wir dürfen uns nicht mit einer Bundestagsdebatte oder mit einer politischen Diskussion begnügen. All dies, was jetzt an Vorschlägen auf dem Tisch liegt oder im Rahmen der Debatte über den Aktionsplan noch eingeführt wird, muss realisiert werden. Wir werden hierbei nur nachhaltig und nicht mit Aktionismen vorwärts kommen. ({18}) Ich bitte, dass wir diese Diskussion auf der einen Seite natürlich mit dem nötigen Ernst und mit Elan, auf der anderen Seite aber auch mit Spaß und Freude führen, nicht verbiestert. Mir ist manches in den letzten Tagen schon wieder zu verbissen und zu verbiestert vorgekommen. Ich glaube, dass man nur mit einer gesunden, zuversichtlichen und freudigen Grundeinstellung, die die Quelle jeder Veränderung ist, die Menschen mitnimmt und in der Realität etwas in Richtung mehr Lebensqualität für die Menschen verändert. Vielen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass ich mich durchaus mit der Antwort auf das, was Sie, Herr Minister, eben hier vorgetragen haben, schwer tue, ({0}) weil sehr viele schöne Worte aneinandergereiht und sehr viele Botschaften ins Land geschickt wurden, über die hier im Haus absoluter Konsens besteht und die wir, die wir im Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz tätig sind, die wir zum Teil Mitglied der Plattform Ernährung und Bewegung sind, eigentlich alle kennen. Wir bemühen uns intensiv darum, sie durch Information und Bildung an den mündigen Bürger heranzutragen, sodass er sein eigenes Verhalten daran orientieren kann, ob die Ernährungsaufnahme mit seinem Bewegungsverhalten im Einklang ist. Das ist die entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Man soll so fit sein, dass man den Herausforderungen, vor denen man steht, gerecht wird. ({1}) Ich frage mich schon, warum Sie eigentlich erst eineinhalb Jahre nach Regierungsübernahme diese doch im Kern sehr dünne Botschaft verkünden. Wenn man Ihr Eckpunktepapier betrachtet, dann stellt man fest, dass darin außerordentlich wenig Substanzielles steht. ({2}) Sie tun sich selbst damit keinen Gefallen; denn Sie haben einen gewissen Ruf als Ankündigungsminister und als Aktionsminister. ({3}) Sie haben ein Aktionsprogramm zur Bekämpfung des Gammelfleischs aufgelegt. Damals waren es zehn Punkte. Heute hat Ihr Programm fünf Punkte. Sie haben ein Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem Sie gescheitert sind. Insofern ist zwischen dem, was Sie wollen, und dem, was dann wirklich politisch erreicht wird, eine Riesenkluft. Unter dieser Kluft leidet die Politik in Deutschland und die Politik, die aus Ihrem Haus kommt. Das ist schlecht für die Verbraucher und für die Menschen in Deutschland. ({4}) Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen, weil meiner Meinung nach zwischen dem, was Sie sagen, und dem, was dann passiert, der rote Faden fehlt, auch der rote Faden der Gemeinsamkeit dieser Regierung. ({5}) Sie haben die Versorgung der jungen Menschen in der Schule mit Schulspeisung angesprochen. Sie erklären, die Mehrwertsteuer auf die Weitergabe dieser Produkte in den Schulen solle wegfallen. Die zuständige Staatssekretärin erklärt jedoch im Finanzausschuss, davon könne überhaupt keine Rede sein, die Bundesregierung gehe an die Mehrwertsteuerdiskussion nicht heran, das sei in der Koalitionsvereinbarung so vereinbart. Was gilt also? Warum diese Überschrift, Herr Seehofer, und der Mangel an Inhalt? ({6}) Sie sagten, dass Sie die Ressortforschung verstärken. Sie hätten gestern an der Anhörung des Ausschusses teilnehmen sollen. Sie reduzieren die Institute im Ernährungsbereich von 17 auf acht. ({7}) Nennen Sie das Verstärkung im Bereich der Ressortforschung? Nennen Sie die permanente Reduzierung des Personals in diesem Bereich Verstärkung der Ressortforschung? ({8}) Nehmen wir einen anderen Punkt: die Ampelkennzeichnung. Ich bin hundertprozentig auf Ihrer Seite und finde, dass man endlich einmal lernen soll. Die Engländer, die dieses Modell zu verwirklichen versucht haben, sind damit gescheitert. Es ist dumme Politik, wenn man ein bestimmtes Nahrungsmittel mit einem roten Punkt und ein anderes mit einem grünen Punkt kennzeichnet. Sie haben das an einem Beispiel belegt. Butter ist bei vernünftigem Konsum ein gutes Produkt. Wer natürlich jede Menge Butter auf seine Brötchen schmiert und sich davon morgens vier Stück hereinzieht, der liegt natürlich völlig falsch. Das brauchen Sie aber nicht uns zu erklären, das müssen Sie Ihrer Ministerkollegin erklären. Frau Schmidt hat doch gesagt, wie wunderbar die Ampelkennzeichnung ist. Bei Ihnen sind die Dinge ungeordnet. Deswegen kann ich aus meiner Sicht nur sagen, dass zwischen Ihren Worten hier und dem Inhalt, den Sie in Ihrem Eckpunktepapier transportieren, Welten klaffen. ({9}) Ich habe heute Morgen mit meiner Mitarbeiterin gesprochen. Deren kleine Tochter von acht Jahren hat sie gefragt: Mama, bin ich zu dick? - Ich finde es sehr gut, was Sie in puncto Vorsicht und Stigmatisierung gesagt haben. Allerdings steht diese Kampagne doch unter dem Motto „Fit statt fett“. Ich halte das für außerordentlich problematisch. Lassen Sie uns an diese Dinge mit Vorsicht, mit Nachsicht und auch mit Toleranz herangehen! Manch einer bleibt dick, obwohl er sich Mühe gibt, abzunehmen. ({10}) Wir müssen alle Menschen in unsere Gesellschaft einbinden, und wir müssen auch dicke Menschen als gleichwertige Geschöpfe betrachten. Auf Stigmatisierungen müssen wir mit äußerster Vorsicht reagieren. ({11}) Sie haben sich vorhin sehr klug und sehr clever als Botschafter des Bieres dargestellt. Ich verstehe das. Von Ernährungsverhalten habe ich Kenntnisse; ich habe das Fach Ernährung schließlich einmal studiert und im Grunde genommen auch gelehrt. Sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis. Ich glaube, unsere Vorbildrolle muss noch deutlicher werden. Wir müssen uns diejenigen zum Vorbild nehmen, die versuchen, einen Einklang zwischen vernünftiger Ernährung und Bewegung herzustellen. Diese Vorbilder müssen wir dann auch besser herausstellen, damit Menschen Ernährungskompetenz erwerben. Mit dieser Kompetenz können sie dann mündige Mitglieder der Gesellschaft werden. Ich finde es gut, dass Sie die Rolle der Wirtschaft und die großartige Leistung der deutschen Ernährungswirtschaft insgesamt angesprochen haben. Aber nehmen Sie doch auch ein bisschen mehr Rücksicht auf die Selbstverpflichtungsbemühungen der Wirtschaft. Zum Beispiel gab es eine Vereinbarung mit dem Hotel- und Gaststättengewerbe, die vorsah, zahlreiche Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Nichtraucher in den Gaststätten zu verbessern. Warum streben Sie gesetzliche Regelungen an, bevor das Hotel- und Gaststättengewerbe überhaupt die Möglichkeit hatte, diese Selbstverpflichtung zu erfüllen? ({12}) Ich bin nicht mit allen Anstrengungen der Wirtschaft einverstanden. Wenn Sie aber verfolgen, was Ihnen gerade in den letzten Tagen an Informationen aus der Wirtschaft auf den Tisch gekommen ist, dann werden Sie ganz klar erkennen, dass der gesamte ernst zu nehmende Wirtschaftsbereich eindeutig für eine Nährwertkennzeichnung ist. ({13}) Sie wissen sicherlich sehr genau, dass weite Teile der Wirtschaft sehr wohl wissen, dass dieser Bereich nur im Einklang mit dem Verbraucher auf einen guten Weg gebracht werden kann. Allerdings müssen wir das Gespräch mit der Wirtschaft dann auch suchen. ({14}) Herr Seehofer, ich habe sehr viele Veranstaltungen zum Thema Plattform Ernährung und Bewegung durchgeführt und an sehr vielen parlamentarischen Abenden und Begegnungen mit Wirtschaftsvertretern teilgenommen. Sie habe ich dort nie gesehen. Warum sprechen Sie mit der Wirtschaft so wenig, um zu guten Lösungen zu kommen? Warum gehen Sie nicht auf die Wirtschaft zu, um klarzustellen, dass die Politik im Einklang mit der Wirtschaft für mehr Wettbewerb, für mehr Marktöffnung - und zwar nicht nur im nationalen, sondern im globalen Bereich - sorgen will? Sehr geehrter Herr Minister, was ist die Aufgabe der Politik? Wir müssen uns Wege überlegen, wie wir an die Menschen herankommen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Gehen Sie gemeinsam mit allen Fraktionen des Deutschen Bundestages vor! Warum scheitern so viele Appelle, Kampagnen? Warum besteht die Gefahr, dass Ihr inhaltsloser Aktionsplan ebenfalls scheitern wird? Weil Sie keine moderne Ernährungskommunikation praktizieren! Herr Minister, es geht darum, zu motivieren, statt zu belehren, zu reflektieren, statt zu bekehren, mitzumachen, statt zu erklären, zu erleben, statt zuzuschauen. Wenn Sie diesen Weg gemeinsam mit uns beschreiten, dann können wir mit dieser außerordentlich notwendigen Aktion, die Sie hier auf den Weg gebracht haben, mit diesem außerordentlich notwendigen Anliegen gemeinsam Erfolg haben, und das wird den Menschen in Deutschland guttun. Herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Volker Blumentritt, SPD-Fraktion.

Volker Blumentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003741, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da es heute um Ernährung und Bewegung geht, hatte ich eigentlich vor, jeden aufzufordern, eine Liegestütze oder eine Kniebeuge zu machen. ({0}) Herr Goldmann, dieses Thema ist sehr wichtig. Man sollte es wirklich mit allem Ernst betrachten. Ernährung und Bewegung können in dieser Welt viel Freude machen. ({1}) Sehr geehrter Herr Minister, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Ausführungen. Mit dem heutigen Tag haben Sie wieder ein Thema in den Fokus gerückt, das nicht nur Gesundheit und Bewegung, sondern auch Lebensfreude zum Inhalt hat. Ich wiederhole: Dafür beVolker Blumentritt danke ich mich ausdrücklich. Wir alle haben unseren Anteil daran gehabt. Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass Sie der Aufforderung der Europäischen Kommission gefolgt sind und nun einen nationalen Aktionsplan vorgelegt haben. Mit der Verabschiedung des Grünbuches der Europäischen Kommission zur Förderung gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung wurden die Mitgliedstaaten im Jahre 2005 angehalten, nationale Strategien zur Verhinderung von Übergewicht und chronischen Krankheiten zu entwickeln. Es ist gut, dass hier bereits die Vorgängerregierung wertvolle Weichen gestellt hat. Auch das sollte man an dieser Stelle einmal erwähnen. Deutschland wird in Europa häufig als Vorreiter bezeichnet, wenn es um die Entwicklung von Maßnahmen zur Reduzierung von Übergewicht geht. So wird die Initiative der nationalen Plattform Ernährung und Bewegung stets als Vorbild für die Gründung der europäischen Plattform angeführt, die im März 2004 ins Leben gerufen wurde. Doch in jüngster Zeit wurde durch die Veröffentlichung der Ergebnisse neuester Studien nur allzu deutlich, dass wir dieses Engagement leider bitter nötig haben. Die Deutschen belegen aktuell einen der vordersten Plätze auf der Liste der - ich sage es vorsichtig - etwas korpulenten Menschen, um nicht andere Ausdrücke zu gebrauchen. Das Thema Übergewichtsprävention ist nicht neu, sondern schon lange ein Dauerbrenner; seit Jahren wird die Öffentlichkeit mit Berichten und Zahlen zur Verfettung der Gesellschaft in Alarmbereitschaft versetzt. Deswegen freut es mich, dass dieses Thema heute im Fokus steht. Das Problem wurde ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Aber allen Informationen und aller Aufklärung zum Trotz hat sich an den Bäuchen und Speckrollen der Menschen nicht allzu viel geändert. Im Gegenteil, die Zahl der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen steigt stetig. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Erklärtes Ziel ist zurzeit nicht etwa, die Anzahl der Übergewichtigen zu reduzieren. Vielmehr müsste bereits ein Stagnieren dieser Zahl als Erfolg gewertet werden. Zielsetzung unseres Antrags muss sein, ein neues Ernährungs- und Bewegungsbewusstsein zu schaffen. Wir wollen neue Impulse auf dem Weg zur Trendwende setzen. In der im September 2006 vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie konnten mehrere Hauptrisikofaktoren auf dem Weg zum Übergewicht ermittelt werden. ({2}) - Herr Goldmann, vorrangig wurde ein niedriger sozialer Status genannt. ({3}) Außerdem belegt die Studie, dass aus 80 Prozent der dicken Kinder im Laufe des Lebens übergewichtige Erwachsene werden. Prävention muss aus diesem Grunde zwangsläufig vor Intervention stehen; Herr Minister, Sie hatten das gesagt. Eine Therapie zur Reduzierung von Übergewicht, ob im Kindes- oder im Erwachsenenalter, führt sehr selten nachhaltig zum Erfolg und ist mit enormen Aufwendungen verbunden, die in der Regel gesamtgesellschaftlich getragen werden müssen. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Aufgrund dieser Erkenntnis müssen wir Hans und Gretel bereits in ihrer frühesten Kindheit erreichen. ({4}) Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sind unserer Meinung nach geeignete Orte, an denen Kinder und Jugendliche etwas über ausgewogene Ernährung und gesunde Lebensweise lernen können. ({5}) An diesen Orten - dieser Punkt ist für eine Einflussnahme wahrscheinlich noch viel wichtiger - können Heranwachsende darüber hinaus gesunde Verhaltensweisen leben lernen, und dies unabhängig von ihrem sozialen Status. Schulen und Kindergärten müssen als Lebenswelten verstanden werden. Wenn wir diese Erkenntnis verinnerlichen, müssen wir diese Einrichtungen mit anderen Augen sehen und im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung, der Umfeldgestaltung, aber auch bei der Gestaltung von Zeitabläufen, zum Beispiel bei der Einplanung geregelter und ausreichender Essenszeiten, andere Prioritäten setzen. Meine Damen und Herren, das gemeinsame Einnehmen von Mahlzeiten ist mehr als nur Nahrungsaufnahme. Da Kinder einen Großteil des Tages in einer Kita oder Schule verbringen, müssen wir ihnen dort auch Esskultur nahebringen. Dazu gehört die Atmosphäre in den Speisesälen der Schulen und Kindergärten ebenso wie ein appetitlicher Eindruck der Speisen, die schmackhaft und gesund sein sollen. Dieser Punkt liegt mir als gelerntem Koch besonders am Herzen, und es tut mir manchmal weh, wenn ich sehe, was manchmal produziert wird. ({6}) In Zusammenarbeit mit den Ländern, denen im Bildungsbereich die Verantwortung zukommt, müssen wir Konzepte erarbeiten, die umsetzbar sind und flächendeckend Verbreitung finden. Der Bund kann und soll sich an dieser Stelle nicht mit dem Hinweis auf fehlende Kompetenz aus der Verantwortung ziehen. In diesem Punkt gebe ich Ihnen recht; ich denke, dass ich diese Einschätzung auch bei Ihnen herausgehört habe. Hier gilt es, eigene und neue Instrumente, die einen ausreichenden Handlungsspielraum bieten, zu entwickeln. ({7}) Ein hervorragend geeignetes Mittel zur Ansprache sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen stellt das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ dar. An dieser Stelle ist ein großer Dank an Herrn Minister Tiefensee auszusprechen. Durch dieses Programm konnten völlig neue Maßstäbe gesetzt werden; zu dieser Entwicklung hat auch unsere Vorgängerregierung ihren Beitrag geleistet. Durch dieses Programm konnten seit seinem Start im Jahre 1999 die Lebensbedingungen der Menschen in benachteiligten Stadtteilen bundesweit stabilisiert und verbessert werden. Als Ortsbürgermeister eines 25 000 Einwohner umfassenden Stadtteils, einer Großwohnsiedlung, weiß ich, wovon ich spreche. Wir haben Erfolge gehabt. Ich denke, das kann man deutschlandweit vermitteln. ({8}) - Jawohl. ({9}) Im Rahmen des Programms konnten bis heute in zahlreichen Orten wertvolle Strukturen aufgebaut werden, die wir intensiv nutzen sollten. Bis heute führt der Bereich der Gesundheitsförderung im Programm „Soziale Stadt“ vor allem aufgrund mangelnder Kapazitäten eher ein Schattendasein. ({10}) Die Notwendigkeit einer Einbindung dieses Bereichs liegt jedoch auf der Hand. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass wir beispielsweise im vergangenen Jahr auf einem Workshop Vertreter der Plattform Ernährung und Bewegung und des Deutschen Instituts für Urbanistik bei uns in der Stadt begrüßen konnten, wo Experten mögliche Ansatzpunkte zur Gesundheitsförderung und Übergewichtsprävention in der Stadtentwicklung aufzeigten. Zahlreiche Möglichkeiten der Umsetzung konnten ermittelt werden. Gesundheitsförderung als fester Bestandteil in der Stadtteilarbeit bietet große Chancen. Nur dort, in den Städten, in den Stadtteilen, in den Quartieren, ist das Leben erlebbar. Dort kann man vieles vermitteln. Dort bringt man viel von dem herüber, was man will. Nicht nur Kindergärten, Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportvereine, Ärzte oder Städteplaner würden mit Bezug zu ihrem Tätigkeitsumfeld angesprochen und zu Kooperationen angeregt, sondern wir würden die Menschen und hier vor allem auch die Eltern innerhalb ihres Wohnumfeldes erreichen. Niedrigschwellige Ansätze, wie sie insbesondere in der Ansprache von sozial benachteiligten Gruppen oder Migranten gefordert sind, wären so relativ leicht umsetzbar. Mit der Anknüpfung an das Bundesprogramm könnten bereits vorhandene Synergieeffekte optimal genutzt werden. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, geeignete Partnerprogramme zu entwickeln, die den Bereich der Gesundheitsförderung aufgreifen und an das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ angebunden werden. Wir müssen uns alle darüber klar werden, dass diese Entwicklung zur übergewichtigen Gesellschaft keine Frage der reinen Ästhetik mehr ist. Es ist auch längst keine Frage des persönlichen Schicksals mehr. Die Zahlen machen deutlich, dass wir hier von einem gesamtgesellschaftlichen Problem mit verheerenden Auswirkungen, auch in ökonomischer Hinsicht, sprechen. Gesundheit nimmt in einem hohen Maß Einfluss auf den Lebenslauf und auf den Erfolg oder Misserfolg von Biografien - insbesondere unserer Kinder. Übergewicht hat gesundheitliche Folgen sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Hinzu kommt häufig eine allgemeine Lern- und Leistungsschwäche. Wenn Kinder schon in der dritten Unterrichtsstunde keine Nährstoffe, keine Kohlenhydrate, keine Eiweißstoffe mehr haben, sind sie nicht in der Lage, dem Unterricht in der fünften Stunde ordentlich zu folgen. ({11}) Wir reden also vor allem über gerechte Startchancen für unsere Kinder und Enkelkinder, der ersten Generation des 21. Jahrhunderts. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Binder, Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten 30 Jahren haben sich unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen enorm verändert. Wir sitzen heute mehr als sieben Stunden täglich und gehen kaum noch zu Fuß. Wir haben immer mehr Stress und arbeiten unter enormem Termindruck. Wir haben nicht mehr drei, sondern 30 Fernsehkanäle zur Auswahl und konsumieren nebenbei Fertigpizzen, Chips, Süßigkeiten, Softdrinks und andere Kalorienbomben. Viele Kinder und Jugendliche bewegen ihre virtuellen PC-Helden mehr als sich selbst. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Übergewicht und Bewegungsmangel nicht nur im Fehlverhalten Einzelner begründet, sondern ein strukturelles Problem in Industriestaaten sind. ({0}) Abspeckappelle und Bewegungstipps allein helfen daher auch nicht weiter, solange die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind: kontraproduktiv für gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung. Wenn es Ihnen, Herr Minister Seehofer, wirklich ernst ist mit dem „gesamtgesellschaftlichen Fettabbau“, dann wird es Zeit, dass Sie in Ihren nationalen Aktionsplan Bewegung hineinbringen und ihn um die eine oder andere konkrete Initiative ergänzen. ({1}) Bloße Appelle reichen nicht. Eine Möglichkeit wäre da zum Beispiel eine einheitliche gesetzliche Kennzeichnung von Lebensmitteln, damit Verbraucherinnen und Verbraucher sich schnell, einfach und verlässlich über Qualität und Nährwert ihrer Lebensmittel informieren können. Dazu bringen Sie in Ihrem Eckpunktepapier keinen konkreten Vorschlag. Dabei wäre es so einfach. Wir bräuchten nur einmal nach Großbritannien zu schauen. Über die sogenannte Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln kann man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein. Aber es ist ein einheitliches und vor allem leicht verständliches System, das Verbraucherinnen und Verbraucher schnell und übersichtlich über den Gehalt an Zucker, Salz, Fett und ungesättigten Fettsäuren informiert. Die Ampelfarben Rot, Gelb und Grün zeigen die Dickmacher in den Lebensmitteln schnell an. Natürlich ist die englische Lebensmittelindustrie nicht amüsiert über Absatzeinbußen bei ihren rot gekennzeichneten Fertigprodukten. Aber bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern scheint die Kennzeichnung ganz gut anzukommen. ({2}) Obwohl die Regierung in Deutschland noch nicht einmal im Traum daran denkt, laufen die Interessenvertreter der Lebensmittelindustrie hier schon Sturm gegen solche Modelle. Süßigkeiten, Limonaden und Softdrinks, Frühstücksflocken und auch Fertiggerichte bedeuten in unserer Singlegesellschaft ein Milliardengeschäft. ({3}) Deshalb wird seit Jahren getrickst und verschleiert mit Begriffen wie „kalorienarm“ oder „light“. Zuckerbomben werden mit den Slogan „0 Prozent Fett“ angepriesen. Zur Erhaltung ihres Profits will die Lebensmittelindustrie unbedingt vermeiden, dass ihre Produkte deutlich sichtbar in „gesund“ oder „ungesund“ unterteilt werden. ({4}) Sie hat dafür die volle Rückendeckung vom Verbraucherministerium. ({5}) Viele Vorschläge prallen bisher an der Bundesregierung ab, zum Beispiel das Verbot von Süßigkeiten- oder Cola-Automaten an Schulen, ({6}) die Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für Süßigkeiten und ein Verbot von Werbefilmen für solche Produkte vor 21 Uhr. Herr Staatssekretär Lindemann vom Verbraucherministerium hat sich dazu vor der Lebensmittellobby eindeutig positioniert. Er hat den Anwesenden beim letzten Neujahrsempfang versichert - ich zitiere -: Ich weiß, dass viele von Ihnen an diesem Punkt sehr sensibel sind. Auch die Bundesregierung hält nichts von rechtlichen Regelungen in derartigen Fragen. Wo er schon einmal dabei war, hat er auch gleich versichert, dass die von der WHO in ihrer „Charta zur Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas“ geforderten fiskalpolitischen Maßnahmen abgelehnt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nicht alles umsetzen, was uns renommierte internationale Organisationen empfehlen, und wir müssen auch nicht alles nachmachen, was uns andere Länder vormachen. Aber dann sollten wir doch wenigstens selber aktiv werden und nicht nur heiße Luft produzieren. Heiße Luft ist nur in der Sauna gesund. ({7}) Wir alle wissen, dass Essstörungen in einkommensschwachen und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich auftreten. Das ist aber nicht nur eine Frage der Bildung und des Wissens um gesunde Ernährung. Gesunde Ernährung ist nicht zuletzt eine Frage des Geldbeutels, Herr Minister. Wer von einem Niedriglohn oder von Hartz IV leben muss, hat kaum 5 Euro täglich für Lebensmittel zur Verfügung. Das reicht nicht für Bioprodukte. Das reicht noch nicht einmal für konventionelles gesundes Essen. Wer beim Einkaufen mit dem Cent rechnen muss, schaut mehr auf die Zahlen auf dem Kassenbon als auf die in der Nährwerttabelle. Dann wird eben nicht frisches Obst und Gemüse gekauft, sondern Konserven und billige Fertigprodukte die mit dem besonders hohen versteckten Fettgehalt. Der direkte Produktvergleich belegt, dass billigere Produkte meist mehr Fett, Salz oder Zucker enthalten als teurere. Nach meiner Auffassung sollten jedoch alle Verbraucherinnen und Verbraucher - unabhängig von ihrer Kaufkraft - die Möglichkeit haben, sich gesund und vitaminreich zu ernähren. ({8}) Dazu gehört dann auch, dass die Gemeinschaftsverpflegung verbessert wird, insbesondere an Schulen und in Kindertagesstätten, und dieses von der Gesellschaft finanziert wird. Statt Milchschnitte und Schokoriegel brauchen wir ein gesundes Frühstücksbuffet in Kitas und Kindergärten - natürlich von Vater Staat finanziert. ({9}) Wir brauchen natürlich gemeinsames Kochen und Ernährungserziehung. Wir brauchen mehr Schulsport, zum Beispiel eine dritte Sportstunde in der Woche. ({10}) Wir brauchen natürlich mehr Förderung für die Betreuerinnen und Betreuer sowie die Jugendleiterinnen und Jugendleiter in Sportvereinen. Natürlich kostet das alles Geld. Aber sind Ihnen das unsere Kinder nicht wert? Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ursula Heinen ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zunächst einmal kurz auf meine Vorredner einzugehen und das eine oder andere, was hier falsch behauptet worden ist, richtigzustellen. Wir beginnen einmal mit dem Thema Selbstverpflichtung, die angeblich in Form der Vereinbarung mit der DEHOGA bezüglich des Rauchens hätte funktionieren können, Michael Goldmann. Das ist genau das falsche Beispiel. In dem Bereich hat die Selbstverpflichtung nämlich eben nicht funktioniert. Es gab freiwillige Vereinbarungen, ({0}) die aber in den Restaurants und Gaststätten nicht umgesetzt worden sind, sodass rechtliche Rahmenregelungen erforderlich wurden, die jetzt endlich sukzessive umgesetzt werden. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt richtet sich an die Kollegin, die von der Ampelkennzeichnung gesprochen hat. Diese einfache Kennzeichnung mit Rot, Gelb oder Grün hat aber wenig beispielsweise mit der Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu tun, in der klar zum Ausdruck kommt, wie ausgewogenes Essen tatsächlich aussieht und dass man Lebensmittel nicht einfach mit Punkten versehen kann. In Großbritannien nimmt man diese Ampelkennzeichnung jetzt wieder zurück, weil sie bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht angekommen ist. Stattdessen soll ein anderes System eingeführt werden, das die Fragen der gesunden Ernährung deutlicher aufgreift. Großbritannien schlägt die Richtung ein, in die auch wir gehen möchten, indem es die Einheiten der sogenannten großen Vier - Energie, Eiweiß, Fett, Kohlehydrate - auf der Verpackung kennzeichnet, sodass man einen vernünftigen Überblick erhält, was gesund ist und was wie der Ernährung dient. ({1}) Ich bin froh, dass es mittlerweile in Deutschland Lebensmittelhandelsbetriebe gibt, die diese Angaben von sich aus auf die Vorderseiten der Verpackungen schreiben, sodass man die verschiedenen Gehalte direkt, wenn man die Packung aus dem Regal nimmt, erkennen kann. Das ist meines Erachtens der richtige Weg. ({2}) Auch in Deutschland gibt es Selbstverpflichtungen, die sehr gut funktionieren. Coca-Cola ist hier eben angesprochen worden. Dort gibt es immerhin die Selbstverpflichtung, keine Getränkeautomaten in Schulen aufzustellen, in denen Kinder unter zwölf Jahren sind, und auf Werbung in Sendungen zu verzichten, die vorzugsweise von kleinen Kindern gesehen werden. Ich finde, das ist genau der richtige Weg; so müssen wir damit umgehen. Damit komme ich zum eigentlichen Thema: dass wir uns auf die Kinder konzentrieren müssen. Ein Erwachsener, der Übergewicht hat, ist letztendlich selbst dafür verantwortlich. Ein übergewichtiges Kind aber kann letztlich nichts dafür; es ist auch durch das Elternhaus geprägt. Auch darauf muss deutlich hingewiesen werden: Wer trägt denn die Verantwortung? Das sind nicht nur der Staat und die gesamte Gesellschaft, sondern auch das Elternhaus und die Familie, in der Ernährung usw. gelebt werden. Also müssen wir uns um die Kinder und die Familien kümmern und ihnen das Thema der gesunden Ernährung nahebringen. Der Minister hat vorhin ausgeführt, dass er das Übergewicht bei Kindern bis zum Jahr 2020 stoppen bzw. den Trend umdrehen möchte. In Deutschland sind heute 2 Millionen Kinder übergewichtig; sie sollten im Fokus unserer Politik stehen. Was sind die Ursachen? Eben wurden schon Computer und Fernsehen genannt. Ich war völlig überrascht, als ich im Rahmen einer Sitzung der Plattform Ernährung und Bewegung gelernt habe, dass die Primetime im Kinderfernsehen zwischen 7 und 8 Uhr morgens ist. Frau Drobinski-Weiß war ebenfalls bei dieser Sitzung. Wir wussten überhaupt nicht, wie uns geschah, als wir erfuhren, dass Eltern ihre Kinder, um sie zu beschäftigen, morgens, bevor der Kindergarten öffnet, vor den Fernseher setzen und dass die Werbezeiten im Kinderkanal zu dieser Zeit am teuersten sind. Fernsehen, Computerspiele etc. spielen also sicherlich eine wichtige Rolle. Auch die neue Organisation des Alltags von Kindern ist sicherlich von Bedeutung. Wie sieht die organisierte Freizeit aus? Wie wird in den Ganztagsschulen mit dem Thema Bewegung umgegangen? Wie sind die Sportangebote? In Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt Offene Ganztagsschulen. Wie läuft da die Kooperation mit den Sportvereinen? Oder werden die Kinder nur verwahrt? Wie also ist die Qualität dieses Ganztagsschulangebots? Was wird dort an Sport und Bewegung geboten? Schulsport ist sicherlich eine ganz entscheidende Sache. Das haben wir auch in unserem Antrag erwähnt. ({3}) In Baden-Württemberg beispielsweise gibt es eine Schulsportoffensive für 200 Minuten Sportunterricht pro Woche, an der sich über 300 Schulen im gesamten Land beteiligen. In Marzahn gibt es eine Grundschule, die ihr Sportangebot verdoppelt hat mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass die Konzentrationsfähigkeit der Kinder sich deutlich erhöht, weil sie sich durch die Bewegung austoben können. Kinder, die aus sozial schwierigen Verhältnissen kommen und vielleicht viel vor dem Fernseher und Computer hängen, werden über die Schule zu Bewegung geführt und können sich dort einmal auspowern. So wird - darum geht es ja schließlich auch die Konzentrationsfähigkeit dieser Kinder wesentlich verbessert. Deshalb lautet unser Appell an die Bundesländer: Kümmert euch um das Schulsportangebot und darum, tatsächlich auch mehr Schulsport anzubieten! Vielleicht kann man die Lehrpläne auch einmal entsprechend durchforsten. ({4}) Ein anderes Thema ist die Verpflegung in Schulen und Kindertageseinrichtungen. Natürlich gibt es schon in vielen Schulen ein gemeinsames Schulfrühstück. Es ist ja nicht so, dass wir in Bezug auf das Schulfrühstück in einem Niemandsland leben. An vielen Grundschulen wird morgens gemeinsam gefrühstückt. ({5}) An vielen Grundschulen erklären die Lehrer ihren Kindern auch, wie vernünftige Ernährung aussieht. Das müssen wir auch einmal ehrlich sagen. Wir wollen aber, dass das flächendeckend erreicht wird. Deshalb versuchen wir jetzt, in Nordrhein-Westfalen ein Schulmilchprogramm zu starten. ({6}) Jedes Kind soll wieder - wie es in meiner Generation der Fall gewesen ist - jeden Tag seine Schulmilch - und damit immerhin einen wesentlichen Baustein für eine gesunde Ernährung - in der Schule bekommen. ({7}) Jetzt möchte ich aber noch einmal etwas anderes, nämlich die Mehrwertsteuergeschichte, ganz besonders deutlich erwähnen. Ich halte es für eine Ungerechtigkeit und Schwachsinn, dass in den Studentenwerken - in den Mensen - der halbe Mehrwertsteuersatz auf die Verpflegung fällig ist, in einer Ganztagsschule aber der volle. Das ist Schwachsinn! - Wir können das nicht anders nennen. ({8}) Wir haben das in unserem Antrag auch ganz deutlich formuliert. Mein Kollege Peter Bleser hat, Michael Goldmann, mit den Finanzpolitikern intensive Verhandlungen geführt, damit auch sie das unterstützen und sagen, dass wir zu einer Veränderung kommen müssen. ({9}) Es kann nicht sein, dass Studentenwerke Mahlzeiten zu anderen Preisen anbieten können als Schulen. Die Verpflegung von Kindern ist wichtiger als die von erwachsenen Studierenden, die selbst entscheiden können, wie sie sich ernähren! ({10}) Ein ganz wichtiger Punkt ist in der Tat, wie wir hier in Berlin mit dem Thema weiter umgehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Herr Kollege Goldmann möchte das noch einmal in einer Zwischenfrage verdeutlichen.

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich unterhalte mich immer gerne mit ihm.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Auf Unterhaltung kommt es jetzt eigentlich nicht in erster Linie an. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, Sie haben wie immer recht. - Frau Heinen, Sie haben das eben so schön dargestellt. Aber ich habe es nicht verstanden. ({0}) Ich habe da nämlich ein Problem: Mein Kollege Wissing hat mir eben berichtet, dass gestern im Finanzausschuss thematisiert worden ist, ob es eine abgesenkte oder gar keine Mehrwertsteuer auf die Schulspeisung geben soll, wie es der Minister angekündigt hat. Meine Frage lautet: Gibt es eine Absprache zwischen Herrn Minister Seehofer und dem Finanzminister - gibt es also eine Absprache in der Großen Koalition -, die die Chance bietet, dass der Mehrwertsteuersatz auf Produkte, die bei der Schulspeisung verwendet werden, so abgesenkt wird, wie es der Minister in einer Pressemitteilung angekündigt hat?

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Goldmann, wenn Sie unseren Antrag und damit den Willen des Parlaments in dieser Frage lesen würden, dann würden Sie klar erkennen, dass es nach dem Willen von CDU/CSU und SPD - das sind diejenigen, die hier die Gesetze beschließen - keine Unterschiede bei den Mehrwertsteuersätzen für die Studierendenverpflegung und bei den Mehrwertsteuersätzen für die Schulverpflegung geben soll. ({0}) Aus dem Grund gibt es eine starke Übereinkunft hier im Parlament, und auf diese stützt sich der Bundesminister, wenn er sagt, dass wir in Zukunft mit diesem Mehrwertsteuersatz entsprechend umgehen werden. Es freut mich - das schließe ich aus Ihrer Frage -, dass die FDP diesen Vorstoß von uns unterstützen wird. Wir können also davon ausgehen, dass das Parlament diesen Vor9816 schlag mit breiter Mehrheit trägt und damit dem Finanzminister vielleicht noch einmal klar macht, um welch ein wichtiges Thema es sich handelt. - Ich bedanke mich für Ihre Frage, Herr Goldmann. ({1}) Gestatten Sie mir, noch ein letztes Thema anzusprechen, das wir der Ehrlichkeit halber ebenfalls betrachten müssen. Es gibt sehr viele Projekte, die zurzeit schon laufen. Vier Bundesministerien sind im Bereich Ernährung aktiv: das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, das Bildungs- und Forschungsministerium und das Familienministerium. Es werden Projekte mit über 200 Millionen Euro gefördert. Wir von der Koalition wollen all diese Projekte evaluieren. Es ist nämlich dringend notwendig, zu schauen, wie sie tatsächlich wirken. Dann müssen wir uns überlegen, ob wir diese Projekte nicht stärker bündeln und konzentrieren. Denn es darf nicht passieren, dass wir uns angesichts dieser gut gemeinten Ideen, Projekte, Modellvorhaben verzetteln und das große Ziel aus den Augen verlieren. Deshalb stellen wir uns vor, dass die Plattform Ernährung und Bewegung, die vom Bund und von einigen Bundesländern - leider, muss man sagen, noch nicht von allen - getragen wird und von großen Organisationen sowie von den Kinder- und Jugendärzten unterstützt wird, wesentlich gestärkt wird und eine koordinierende Funktion im Hinblick auf diese Projekte erhalten soll. Denn wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren, bis zum Jahr 2010 zu einer Trendumkehr in Deutschland zu kommen, unsere Kinder fit zu machen und ihnen viel Freude an Bewegung und Sport zu vermitteln. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Übergewicht und Fettleibigkeit ist kein so einfaches Thema. Ich glaube, dass es richtig ist, dass nicht nur das Parlament versuchen sollte, mit diesem Thema verantwortungsbewusst umzugehen und niemanden zu diskriminieren. Auch die Medien sollten sich ihrer Verantwortung hin und wieder bewusst werden. Lassen Sie mich vorab auf eine Zeitungsmeldung vom heutigen Tage eingehen. Die „Bild“-Zeitung fragt bei einer Fotogalerie: „Ob diese Politiker auch mitmachen?“ Der Fraktionsvorsitzende der FDP philosophiert, wenn auch im Spaß, darüber, ob es Auftrittsverbote geben sollte. Wir sollten der „Bild“-Zeitung sagen, dass dieses Verhalten diskriminierend und falsch ist. Es richtet sich nicht nur gegen Politiker, sondern diskriminiert auch dicke Menschen. Diese Art der Behandlung des Themas droht sich auszubreiten. So werden wir des Fetts nicht Herr werden. ({0}) - Der stammt nicht von mir, sondern von der Nachfolgerregierung. Trotzdem redet niemand über Auftrittsverbote und Ähnliches. Wir wissen alle um die Probleme. Wir wissen im Übrigen auch, dass es dabei nicht nur um individuelles Verhalten geht. Herr Seehofer, ich habe mich gefreut, dass Sie all die entsprechenden Maßnahmen, die in den letzten Jahren begonnen worden sind, fortgesetzt haben. Dazu gehört auch die Ernährungsplattform, die wir damals nach Europa gebracht haben. Ich fand es aber schade, dass Sie am Ende doch wieder Ihren Hang zum Populismus ein wenig ausgelebt haben. ({1}) - Lassen Sie sich doch Redezeit geben! Dann können Sie Ihre Ausführungen machen. Angesichts dieses ernsten Themas - viele Menschen leiden aufgrund ihres Übergewichts, die Anzahl der Fälle von Diabetes Typ II steigt schon bei den 13-Jährigen rapide an und nicht erst ab einem Alter von 40 bis 45 Jahren - finde ich es wirklich falsch, dass mit solchen Begriffen wie „Olympiade der Verbote“ operiert wird. Herr Seehofer, wir reden hier nicht nur über Erwachsene. Der informierte Verbraucher kann das Kleingedruckte und das Fachchinesisch auf der Packung lesen und sich entsprechend verhalten. Ich glaube allerdings auch nicht daran, dass das in den bildungsfernen Schichten passiert; auch wir sehen dieses Problem. Nein, wir reden über etwas anderes. Deshalb kann man hier nicht den klassischen Verbotsdiskurs führen. Wir reden über drei-, vier-, fünf- und sechsjährige Kinder. Bei diesen können Sie nicht von mündigen, informierten Verbrauchern sprechen. Die kleinen Kinder brauchen den Schutz dieser Gesellschaft ({2}) und auch den Schutz vor der Werbewirtschaft, vor Produkten, mit denen uns die Lebensmittelwirtschaft versucht einzulullen; so einfach ist das. ({3}) Wir müssen dafür Sorge tragen, Herr Seehofer, dass nicht noch mehr Papier zu diesem Thema vorgelegt wird. Seit Jahren wurde viel Papier hierzu produziert. Wir müssen vielmehr die Kernpunkte identifizieren. Am letzten Sonntag hatte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ auf dem Titelblatt folgende Klage der Lehrer festgehalten: Wir werden mit Werbematerial überschüttet. - Die Lebensmittelwirtschaft macht es mittlerweile so: Hinten und auf der Seite dieses Materials steht: Dies ist von Kellogg’s, von Ferrero oder wem auch immer gesponsert. Vorne steht dann: Dies ist eine anbieterunabhängige, eine - angeblich - ganz seriöse Information. ({4}) Was sollen denn die Schulen damit anfangen? Diese sagen, sie hätten keine hinreichenden Curricula, keine Lehrer für bestimmte Unterrichtsfächer, bekämen aber Massen an Papier. Auch da muss man einschränken: Mit der Werbung kann es so nicht mehr weitergehen, zumindest nicht im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen. ({5}) - Ich wusste schon immer, dass Sie es mit der Ökologie nicht haben. Wegschmeißen von Material ist auch keine Lösung. ({6}) - Das ist nun wieder typisch FDP. Vorne immer rein, und dann sollen sie nachher filtern. - Noch besser wäre es, wir würden die Lebensmittelwirtschaft dazu bewegen, das zu bezahlen, was Sinn macht, und nicht das, was die Lehrer nachher wegschmeißen. Das ist doch Unsinn. ({7}) Hinsichtlich des Konzepts, das uns hier vorgelegt wurde, muss ich Ihnen sagen: Mir ist es zu wenig, auch weil es solche Konzepte schon gegeben hat. Im April 2005 wurde das Konzept der Gesundheitsministerin „Gesund in die Zukunft - Auf dem Weg zu einem Gesamtkonzept zur gesundheitlichen Prävention“ vorgelegt. Auch darin geht es um Ernährung und Bewegung. Es wurde gefragt, was eigentlich in den letzten Jahren passiert ist. Dieser Frage schließe ich mich an dieser Stelle an. Eines brauchen wir ganz klar - andere Länder machen dies schon, Großbritannien zum Beispiel -: Wir brauchen, auf die Zielgruppe der Kinder ausgerichtet, ein Werbeverbot ({8}) in der Zeit vom Frühstücksfernsehen bis 21 Uhr, wenn es um Lebensmittel geht. Denn Lebensmittel sind keine Produkte, für die man, auf die Zielgruppe der Kinder ausgerichtet, Werbung machen sollte. Wenn die Lebensmittelwirtschaft dies nicht von sich aus tut, dann müssen wir dies regeln. ({9}) Ich sage Ihnen noch etwas: Wir können die Eltern nicht alleinlassen. Ich gebe gerne zu: Die Eltern müssen sich bewegen. Aber Sie können die Eltern angesichts der Milliardeninvestitionen in neue Produktentwicklungen und in Werbung - nicht nur im Fernsehen - nicht alleinlassen. Ich sage Ihnen auch: Wir müssen an das heran, was im Internet passiert. Klicken Sie einmal eine Seite dieser Kinderlebensmittelfirmen an. Ich habe es in den letzten Tagen wieder einmal gemacht. ({10}) - Zum Beispiel Kellogg’s. ({11}) Sie glauben, Sie seien auf der Seite einer Hollywoodfilmwerbung. Alle möglichen Figuren tauchen da auf. ({12}) Da geht es nicht um Information, sondern um Figuren. Da geht es darum, die Kinder mit Puzzlespielen und Gewinnen zu binden. Da werden Entwicklungspsychologen engagiert, um die Kinder entsprechend ihrer Entwicklung zu fangen. Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist der Staat in seiner Schutzfunktion gefordert. ({13}) - Gerade die FDP behauptet immer, sie sei eine Partei, die für den Datenschutz sei und dies auch auf die modernen Medien erstrecken wolle. ({14}) Wenn Sie sagen, man solle das Internet abschalten, dann sage ich dazu: Sie sollten sich lieber einmal einen Tag Zeit für eine Klausur zu diesem Thema nehmen angesichts dessen, dass Sie nicht sehen, was man im Rahmen des Internet tun kann, um die Schwachen dieser Gesellschaft zu schützen. Aber diese waren noch nie Ihr Adressat. ({15}) Ich stelle fest: Wir brauchen eine Ampelkennzeichnung; ich habe Ihnen ein Produkt mitgebracht. ({16}) - Ich weiß, Sie haben ein Problem mit der Ampel, aber aus anderen Gründen. ({17}) Es geht dabei auch um bildungsferne Schichten, die nicht das ganze Kleingedruckte auf Produkten lesen. Es geht nicht nur um die Kennzeichnung von Eiweißen, sondern auch um die von gesättigten Fetten und Zucker. Genau dies können Sie mit einem einfachen Zeichen ganz simpel tun. Herr Seehofer, wenn Sie diese beiden Schritte anpacken und den Mut haben, an dieser Stelle anzusetzen, dann verändern Sie den gesellschaftlichen Diskurs, ({18}) und dann werden auch die Landesminister ihrer Verantwortung stärker nachkommen, als sie es jetzt tun. Aber als Erstes muss der Bund selber seine Hausaufgaben machen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Mechthild Rawert ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat gezeigt: Wir wissen viel über gesunde Ernährung, nur am Verhalten hapert es. Es hapert letztendlich auch - hier gehe ich als Mitglied einer Regierungspartei weiter -, weil klare Rahmenbedingungen fehlen. Die Bundesregierung hat es gesagt: Prävention ist eine Investition in die Zukunft. Das ist auch im Memorandum, das in Badenweiler verabschiedet wurde, ausgeführt worden. In unserem Antrag steht: ({0}) Prävention fängt bei der Eigenverantwortung an, bedarf aber auch der Unterstützung des Staates und der gesellschaftlichen Akteure. Weiter heißt es: Das geplante Präventionsgesetz soll die Kooperation und Koordination der Prävention sowie die Qualität der Maßnahmen … verbessern. Es geht hier nicht darum, ausschließlich über Ge- und Verbote zu sprechen. Es geht auch um klare Zielsetzungen und klare Rahmenbedingungen. Daher danke ich für den nationalen Aktionsplan. Ich bin als Mitglied zweier Ausschüsse, des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und des Ausschusses für Gesundheit, der Meinung, dass wir ein Präventionsgesetz dringend brauchen. Denn damit schaffen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass wir in viele Lebenswelten hineinkommen und der nationale Aktionsplan greifen kann. ({1}) Über Ernährung ist viel gesprochen worden. Einer der Hauptfaktoren zur Entstehung von Übergewicht ist allerdings auch Bewegungsmangel. Es ist schon erwähnt worden: Nicht jede Art der Ernährung an sich ist falsch. Wir haben eine moderne Welt, ein Lebensumfeld für Kinder geschaffen, das in vielen Bereichen mittlerweile ungesund ist, vielleicht auch auf neue Art und Weise krank macht. Wir tragen dafür die Verantwortung und nicht die Kinder. Wir sind diejenigen, die dieses ändern können. Wir brauchen mehr Spiel- und Bewegungsräume. Daher fordern wir in unserem Antrag, dass bei politischen Entscheidungen, die das Wohn- und Bewegungsumfeld der Kinder betreffen, dem Bewegungsdrang Raum zu verschaffen ist. Ich erhalte Bürgerbriefe von Eltern, die ganz verzweifelt sind, weil sie ihre Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen können, weil sich die Nachbarn dann über Ruhestörung beschweren. Die Anrainer von Sportplätzen klagen ebenfalls über Ruhestörung. Ich frage mich: Wieso ziehen Menschen, die früher schon dort gewohnt haben und die ihre eigenen Kinder zum Spielen dorthin geschickt haben, jetzt vor Gericht, wenn anderer Leute Kinder dort spielen? Das ist doch ein Unding. Das kann doch wohl nicht sein. ({2}) Wir dürfen unsere Städte nicht zu Bewegungswüsten verkommen lassen. Hier haben Sportvereine eine große Verantwortung. Wir wissen, dass Sportvereine gehalten sind, Mitgliedsbeiträge zu erheben. Dies berührt die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Denn nicht jede Familie, die finanziell schwächer gestellt ist, kann sich dies leisten. Wir fordern daher auch hier Unterstützung, damit das Gleichheitsgebot umgesetzt werden kann. Ich freue mich, dass die Kampagne des Gesundheitsministeriums vorhin schon erwähnt worden ist. Denn die Kampagne unter dem Motto „Deutschland wird fit. Gehen Sie mit.“ ist eines der positiven Zeichen, die zeigen, wie wir versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren. ({3}) Eines ist sicher: Wir alle haben mittlerweile einen relativ zeitintensiven Alltag. Das fängt schon bei den kleinen Kindern an, deren Zeitplan sehr viele zusätzliche Angebote umfasst. So haben sie nicht mehr genug Zeit für Sport. Wir müssen versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Gehen Sie mit bei den vielen Aktionen, die im Rahmen der Kampagne des Gesundheitsministeriums angeboten werden! ({4}) Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen durch Ernährungs- und Bewegungskampagnen bislang nicht zufriedenstellend erreicht worden sind. Das heißt, wir machen unsere Angebote nicht zielgruppenorientiert genug, ({5}) obgleich die Krankenkassen bereits seit 2000 gehalten sind, ihre Angebote in diesem Bereich zu verbessern. Vielfach kommen sie dieser Aufforderung auch sehr gut und erfolgreich nach. Ich sage das, damit Sie nicht den Eindruck gewinnen, ich würde die Krankenkassen kritisieren wollen. Wir müssen das Angebot nichtsdestotrotz ausbauen und systematisieren. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das in dieser Legislaturperiode dringend umzusetzende Präventionsgesetz. Der Sozialraumbezug in der Gesundheitsförderung wurde bereits erwähnt. Mein Kollege Volker Blumentritt hat das Programm „Soziale Stadt“ angesprochen. Wir stehen hierüber bereits mit dem Gesundheitsministerium im Gespräch, um innerhalb der einzelnen Altersstrukturen und Lebenswelten zu Verbesserungen zu kommen. Ich will auf die Verantwortung der Wirtschaft zu sprechen kommen. Die Lebensmittelindustrie, die das Verhalten von Kindern und Familien durch Produktverkauf und Werbung prägt, steht selbstverständlich mit in der Verantwortung. ({6}) Richtig ist auch, dass Internet und Handy neben der klassischen Fernsehwerbung verstärkt für gezielte Produktwerbung genutzt werden. Es gibt mittlerweile kaum noch eine Verpackung, auf der nicht extra auf Kinderwebsites der Hersteller verwiesen wird. Kinder und Jugendliche sind eine sehr geschickt umworbene Zielgruppe. Hier beginnt der Kreislauf, über den wir sprechen: Wir können doch nicht einerseits über ungesunde Ernährung reden, über Kinder, die, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, vor dem PC oder dem Fernseher sitzen, und andererseits nichts tun, um sie vom Fernseher oder vom PC wegzuholen. Wir brauchen auch Werbeverbote. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir jetzt zustimmen würden, dass die Kollegin Gruß Gelegenheit zu einer Zwischenfrage erhält, nachdem vorhin aus objektiv unvermeidlichen Gründen dazu keine Gelegenheit mehr war.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Die ganze Zeit über ist hier die Rede von Kindern und Jugendlichen, davon, wie wichtig es ist, bei den Kleinsten anzufangen. Ich möchte dem Parlament eine Institution in Erinnerung rufen, die sich schon in den vergangenen Legislaturperioden ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat - in der vergangenen Legislaturperiode unter dem Vorsitz von Frau Noll und in dieser unter dem Vorsitz Ihrer Kollegin Frau Rupprecht -: die Kinderkommission. Ich möchte Sie fragen, inwiefern die Erkenntnisse der Kinderkommission, die sich bereits seit Jahren - in den letzten Monaten sehr intensiv - mit dem Thema beschäftigt hat, Eingang in Ihre Pläne gefunden haben. Sie sagen immer wieder: Wir müssen Aktionen starten. Die Kinderkommission hat konkrete Forderungen gestellt. Wir haben alle Ministerien und Länder angeschrieben. Heraus kam lediglich eine Auflistung der Projekte. Ich frage Sie: Wie haben Sie die Arbeit der Kinderkommission integriert, oder wie planen Sie, diese Arbeit zu integrieren?

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir erachten die Kinderkommission für so wichtig, dass wir der Kinderkommission selbstverständlich einen sachgerechten Bericht geben wollten. Daher die Auflistung der Projekte. Das Gespräch wird fortgeführt. ({0}) Zurück zu den Werbebotschaften. Ich habe gesagt, dass Kinder und Jugendliche bei den Firmen eine heiß umworbene Zielgruppe sind; denn im Alter von drei bis fünf Jahren wird heute schon das Markenbewusstsein geprägt. Das heißt, die Werbung zielt auf die Neugierde der Kinder, ihre Vorliebe für Buntes und Süßes, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und ihr Freizeitverhalten. Um die Eltern zu überzeugen, das Produkt XY - ich will keines benennen - zu kaufen, wird gesagt: Hier ist zum Beispiel Milch drin. Suggeriert wird: Daher ist diese Süßigkeit gesund. - Das ist zum großen Teil Quatsch; denn häufig ist nur wenig Milch oder gar nur Milchextrakt enthalten. Das, was die Kinder zu sich nehmen, sind viele leere Kalorien und nicht ein gesundes Lebensmittel. Aus diesem Grunde sind auch wir für die Kennzeichnungspflicht bei Lebensmitteln. Darüber müssen wir uns unterhalten. Immerhin sind wir im Rahmen der Umsetzung einer EU-Verordnung verpflichtet, eine nährwert- und gesundheitsbezogene Lebensmittelkennzeichnung vorzunehmen. Es geht um die Festlegung von Nährwertprofilen. In diesem Zusammenhang wollen wir die von Forschungsinstituten zusammengestellte Positivliste vorantreiben, sodass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit haben, sachgerecht abzugleichen: Glauben wir der Werbung, oder glauben wir der Wirklichkeit, dem, was wissenschaftlich geprüft ist, wenn wir unseren Kindern sagen, dass ein Lebensmittel gesund ist? Ich hoffe, wir vertrauen dem Sein und nicht dem Schein. Ich möchte noch einmal zum Thema Prävention kommen; denn Prävention ist wichtig. Wir brauchen eine Präventionskultur. Prävention muss fest in Erziehung und Bildung verankert werden. Wir brauchen hierfür Strukturen, die Gesundheitsförderung und Prävention in den Bildungskanon aufnehmen. Wir brauchen ein Gegengewicht zu einer nicht in jedem Falle gesunden Umwelt. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesund9820 heitlichen Versorgung ausgebaut werden soll. Das ist eigentlich eine logische Konsequenz des Memorandums von Badenweiler und unserer Eckpunkte und Erklärungen. Wir machen jetzt den nationalen Aktionsplan. Ich wiederhole: Ich persönlich bin der Meinung, wir sollten zeitgleich das Präventionsgesetz verabschieden. Denn es ist wahr: Viele kleine Schritte ergeben auch ein Großes; nichtsdestotrotz ist nach vielen kleinen Schritten natürlich auch ein großer gefragt. Wir wollen auch die Präventionsforschung ausbauen. Denn diese ist für Erkenntnisse über den Zustand und die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung unerlässliche Voraussetzung. Wir müssen herausfinden, warum es so ist, dass wir so viel über Gesundheit und gesundheitsförderndes Verhalten wissen, aber in vielen Bereichen nicht danach handeln. ({1}) Da kann jede und jeder, so wie wir hier im Saale sind, damit beginnen, sich an die eigene Nase zu fassen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Detlef Parr, FDP-Fraktion. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Offensive der Regierung für Gesundheit - Kampf gegen Fettsucht“, hat die „Welt am Sonntag“ aufgemacht - aber nicht am vergangenen Sonntag, sondern - man höre und staune! - am 23. Januar 2005. Vor über zwei Jahren also alarmierte die Bundesregierung die Öffentlichkeit mit der Meldung, dass die Krankenkassen mehr als 70 Milliarden Euro für die Behandlung ernährungsbedingter Erkrankungen aufbringen müssten; vor allem Kinder und Jugendliche bewegten sich zu wenig und äßen zu viel Fett und kohlenhydrathaltige Produkte; mit einem Präventionsgesetz wolle Ulla Schmidt dazu beitragen, den Lebensstil der Deutschen ihrem gesundheitlichen Wohl anzupassen. In der Zwischenzeit hat das groß angekündigte Präventionsgesetz im Bundesrat Schiffbruch erlitten. Der Bundesregierung ist es, wenn man den Worten des SPDKollegen Blumentritt und der CDU-Kollegin Klöckner Glauben schenken darf, wohl so gut ergangen, dass sie all ihre Vorsätze vergessen hat und in Tiefschlaf verfallen ist; denn die beiden sprechen bezeichnenderweise von einem Wachrütteln. Wohl wahr! Wir haben bereits im Januar 2005 mit 13 Forderungen, Prävention und Gesundheitsförderung als individuelle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe voranzutreiben, versucht, die Bundesregierung aufzurütteln. ({0}) Sie haben das abgelehnt. Zwei Monate später musste die Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Förderung von Ernährung und Bewegung Farbe bekennen. Die Antwort war dürftig. ({1}) Im Januar 2006 nahm die FDP-Fraktion die desaströsen Ergebnisse einer Schulsportstudie des Deutschen Sportbundes zum Anlass, bundesweit eine Wende an den deutschen Schulen zu fordern. Es gab also Anstöße genug, zu handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. Doch mehr als zwei Jahre lang Fehlanzeige; das ist ein Armutszeugnis. ({2}) Plötzlich soll es ein nationaler Aktionsplan richten. Doch in dem Antrag der Koalitionsfraktionen wimmelt es nur so von Allgemeinplätzen. Nach den Erfahrungen der letzten Monate befürchten wir: Diese Koalition bleibt auch in diesen Fragen eine Koalition der Lippenbekenntnisse. ({3}) Herr Minister Seehofer, da hilft auch Ihr Plädoyer gegen Bevormundung des Einzelnen und gegen den Zwang des erhobenen Zeigefingers wenig. Solange Ihre Kollegin Ulla Schmidt an ihren Vorstellungen eines Präventionsgesetzes festhält und die Koalitionsfraktionen dies in ihrem Antrag sogar noch bekräftigen, werden Sie Ihr Ziel wieder nicht erreichen. ({4}) Dabei haben Sie richtig erkannt: Aktive Gesundheitsvorsorge ist primär eine individuelle Herausforderung, und die Stärkung der Kompetenzen des Einzelnen in Fragen seiner Ernährung und seiner Bewegung muss von Kindesbeinen an im Mittelpunkt aller Bemühungen von Bund, Ländern, Kommunen, Sozialversicherungen und Heilberufen stehen. Aufklärung statt Gesetze, Anreize statt bürokratische Gängelung, Erziehung und Bildung statt Gebote und Verbote - über diese Wege können wir uns schnell verständigen. Ich fürchte nur, die Regulierer und Volksbeglücker in Ihren Reihen behalten weiter die Oberhand. ({5}) Sie sprechen zu Recht von der Notwendigkeit einer Balance zwischen Ernährung und Bewegung. Schade, dass die Bundesregierung auf unsere Frage nach einer Fortsetzung der Beteiligung an der Kampagne „Sport tut Deutschland gut“ keine konkrete Planung vorlegen konnte. Schade auch, dass die Bundesregierung keine Initiativen zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur im Bereich der Sportanlagen im Köcher hat. Das wäre eine Grundvoraussetzung für mehr Bewegung in unserer Gesellschaft. Wer Bedarfe weckt, muss auch dafür sorgen, dass diese Bedarfe gedeckt werden. Ein goldener Plan für Gesamtdeutschland wäre die richtige Antwort darauf. An dieser Stelle ein Lob an den Deutschen FußballBund: Er steckt 12 Millionen Euro aus dem WM-Überschuss in den Bau von 1 000 Minispielfeldern gerade auch an Schulen in sozialen Brennpunkten mit einer hohen Zahl an Migranten. ({6}) Wir alle sind uns ja darin einig, dass wir uns zielgerichteter um die sozial Benachteiligten kümmern müssen. Sie sind durch bisherige Aufklärungskampagnen zu wenig oder gar nicht erreicht worden. Wir kennen die spezifischen Risikogruppen, aber wir wissen viel zu wenig über die Ursachen besonders von kindlichem Übergewicht. Neben falscher Ernährung und Bewegungsmangel bedingen sich Faktoren wie Medienkonsum, niedriger sozioökonomischer Status oder Migrationshintergrund gegenseitig. Auch genetische und stoffwechselbedingte Faktoren sollten nicht außer Acht gelassen werden. Ein offensichtlich multikausales Problem kann nicht durch Einzelmaßnahmen gelöst werden. ({7}) Es bedarf dringend weiterer Forschung und der sorgfältigen Evaluierung bereits bestehender Angebote, um ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln und auf den Einzelnen dann auch anwendbar zu machen. Ein nationaler Aktionsplan - das ist ein großes Wort. Herr Minister, es darf aber nicht wieder nur planmäßigen Aktionismus geben, wie Sie es bezogen auf die vergangenen Initiativen im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ freimütig zugegeben haben. Die Probleme sind zu ernst, als dass man sie zu einem kurzfristigen politischen Spiel missbrauchen kann. Der Deutsche Olympische Sportbund begrüßt die Initiative der Bundesregierung als klares Signal. Die FDP erwartet aber, dass diesmal mehr als nur kräftige Trompetenstöße als Ergebnis herauskommen. Das wird Ihnen gelingen, wenn Sie sich lieber spät als gar nicht an den Vorschlägen der FDP-Fraktion orientieren. ({8}) Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen Satz an die Kollegin Heinen anfügen. Sie haben mit Vehemenz deutlich gemacht, dass die Mehrheit dieses Hauses, die Koalitionsfraktionen, die Steuerbefreiung für die Schulspeisungen durchsetzen will. Kollegin Heinen, in Ihrem Antrag ist lediglich von einem Prüfauftrag die Rede. ({9}) Es soll geprüft werden, ob das zu einem attraktiven Preis realisiert werden kann. ({10}) Bleiben Sie in der Diskussion also bitte bei den Tatsachen, die Sie in Ihrem eigenen Antrag niedergeschrieben haben! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines sollten wir hier an dieser Stelle auch einmal festhalten: Es geht nicht um eine Stigmatisierung oder um eine Hetzjagd auf dicke Menschen, auf Menschen, die übergewichtig und adipös sind. Es geht nicht um ein Schönheitsideal, also nicht darum, dass der Staat vorschreiben sollte, welchen Körperumfang und welche Körpermaße wir brauchen. Es geht auch nicht darum, irgendeinem Wahn hinterherzulaufen. Uns geht es letztendlich um Hilfe. Dort, wo der Staat Einfluss hat, muss er auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Menschen die Hilfe bekommen, um in höherer Lebensqualität leben zu können und weiterhin Spaß am Essen zu haben; denn Essen und Bewegung können auch Freude bereiten. Ich schaue mir die Opposition an ({0}) - sie ist voller Freude - und stelle fest, dass das, was gesagt wurde, nicht gerade von Freude getragen wurde. Man bekommt fast Angst und Beklemmungen - dabei schaue ich auch zu den Grünen -, ({1}) wenn man anspruchsvoll über Essen und Genuss redet, was uns sehr wichtig ist. Liebe Frau Künast, zum Thema Diskriminierung: Sie haben davon gesprochen, dass wir Menschen diskriminieren würden, und haben uns die „Bild“-Zeitung gezeigt. ({2}) - Darin haben wir Ihnen auch zugestimmt. Was die Diskriminierung angeht, erinnere ich mich an ein Buch mit dem Titel „Die dicken Kinder“ aus Ihrer Regierungszeit. ({3}) - Ja, das war der Untertitel. ({4}) Das Buch hieß „Die dicken Kinder“, und Ihr Konterfei zierte das Titelblatt. Wie passt das zusammen? Das war eine Imagegeschichte Ihrerseits. Sie galten als Mutter Teresa der dicken Kinder. Das war eindeutig eine Stigmatisierung dicker Menschen bzw. Kinder. ({5}) Damals hat die Mutter einer magersüchtigen Tochter wegen dieser Kampagne meine Sprechstunde besucht. Wenn die Diskussion nur in die Richtung verläuft, gegen Dicke vorzugehen, dann tun wir den Menschen nichts Gutes. Es geht vielmehr um Einsicht, Wohlgefühl und Gesundheit. Das ist für uns entscheidend. ({6}) Gesundheitsprobleme übergewichtiger Kinder sind auch kein statistisches Problem. Ob wir bei 42 Prozent, 30 Prozent oder 20 Prozent liegen, ist nicht entscheidend; selbst 15 Prozent sind zu viel. Es geht letztlich darum, wie wir Prävention betreiben können; das hat Minister Seehofer zu Recht festgestellt. Wir sollten uns nicht an irgendwelche Zahlen klammern; denn letztlich erreicht die individuelle Betroffenheit ein riesiges Ausmaß, und die ernährungsbedingten Krankheiten und Folgekosten - auch das wurde bereits angesprochen - betreffen uns alle. Eines gilt es zu verhindern - ich war sehr erschrocken, als ich davon erfahren habe -: In Großbritannien haben die Ärztekammer und die Gesundheitsbehörde erstmals den Ärzten geraten, bei übergewichtigen Kindern - nicht bei Erwachsenen - eine Magenverkleinerung vorzunehmen. Das kann nicht die Antwort sein. Unsere Antwort in Deutschland lautet nicht: Ampelkennzeichnung und, wenn diese nicht funktioniert, Magenverkleinerung. Wir - der Minister wie auch die CDU/ CSU-Fraktion - setzen vielmehr auf Einsicht und auf Orientierung statt Regulierung. Es geht darum, die Menschen dort abholen, wo sie sind, und letztlich auch um ein Bekenntnis zu dem, was unsere Felder und Produkte zu den Nahrungsmitteln beitragen. Sie sind nämlich nicht per se schlecht. ({7}) Wir möchten als CDU/CSU-Fraktion auf etwas hinweisen, was Sie in Ihrer Regierungszeit leider verpasst haben, Frau Künast. Erstens ist Fehlernährung ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht nur etwas mit Kindern, sondern auch mit Erwachsenen zu tun hat. Kinder werden nämlich bei Erwachsenen groß und lernen in diesem Umfeld. Zweitens hat Fehlernährung nicht nur etwas mit Übergewichtigen zu tun, sondern auch mit Mangelernährten; denn ein Snickers und eine Cola sind auch für diejenigen, die nicht übergewichtig sind, kein ausgewogenes Frühstück. Drittens stellen Mädchen im Alter zwischen neun und 14 Jahren die Altersgruppe dar, in der Diäten am häufigsten sind. In diesem Alter haben Kinder ihre Entwicklung aber noch nicht abgeschlossen. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass Hochglanzmagazine und Modelshows das Verfolgen von Schönheitsidealen durch Heranwachsende, die selbst noch nicht richtig gefestigt sind, fördern. Die Schere zwischen den Übergewichtigen und den Magersüchtigen öffnet sich. Wenn wir den Fehler machen, uns nur auf dicke Kinder zu konzentrieren, dann verlieren wir diejenigen aus den Augen, die auch unter Problemen leiden und ein gestörtes Verhältnis zum Essen haben. Wir aus der CDU/CSU-Fraktion streben wieder einen ordentlichen Umgang mit Ernährung und Lebensmitteln an, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Frau Künast, Sie haben damals mit Ihrer Imagekampagne sehr viel Wind gemacht. ({8}) Respekt, das hat damals gut geklappt, auch wenn das Buch - das ist nicht verwunderlich - kein Bestseller war. Die Kinder wurden aber dadurch nicht dünner. Ich möchte noch etwas festhalten. Liebe Frau Künast, Sie haben eben ein Werbeverbot und eine Ampelkennzeichnung gefordert; außerdem soll die Industrie mit ins Boot genommen werden. Sie waren vor nicht allzu langer Zeit Ernährungsministerin - wir sind erleichtert, dass sich das inzwischen geändert hat - und hätten in diesem Amt all das tun können, was Sie heute gefordert haben. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass ein entsprechender Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt wurde. Jetzt stellen Sie diese Forderungen aus der Opposition heraus und führen das Argument an, dass der Bundesrat Ihnen seinerzeit nicht folgen wollte. Dabei haben Sie es nicht einmal versucht. Frau Künast möchte nachfragen und etwas klarstellen?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Offenkundig wollen Sie das auch zulassen. Damit haben wir eine übersichtliche Gefechtslage. Bitte schön, Frau Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Klöckner, da Sie mich immer wieder so liebevoll angesprochen und darauf hingewiesen haben, was ich Ihres Erachtens versäumt habe, muss ich eine Frage stellen. Wissen Sie, dass es Ihre Fraktion war, die gegen unsere Aktivitäten im Zusammenhang mit der HealthClaims-Verordnung in Brüssel, bei der es um gesundheitsbezogene Werbung geht und die eine Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln vorsieht - das wäre auf nationaler Ebene nicht zu machen -, massiv gekämpft hat? Können Sie mir nachsehen, wenn ich sage, dass wir es, wenn Sie es nicht bekämpft hätten, früher durchgesetzt und in Europa eine Rechtsgrundlage gehabt hätten? So wurde erst nach meiner Amtszeit die Rechtsgrundlage in der Amtszeit des Bundesministers Seehofer geschaffen. Frau Klöckner, Sie haben nun die Möglichkeit, zusammen mit Ihrem Minister Seehofer diese wunderbare Idee umzusetzen. Ich muss Ihnen das sagen, da Sie sich offensichtlich nicht mehr daran erinnern können, gegen welche meiner Aktivitäten Sie damals mit Verve gekämpft haben. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Künast, ich möchte die Gegenfrage stellen, ob Sie mitbekommen haben, dass wir, die CDU/ CSU-Fraktion, gegen eine Ampelkennzeichnung sind, und zwar zu Recht. ({0}) Denn dieses Schwarz-Weiß-Denken - Grün ist gut, Rot ist schlecht; das meine ich nicht politisch - bedeutete, dass der Bürger gar nicht mehr denken müsste. Wer glaubt, dass er sich ausgewogen ernährt, wenn er nur noch Produkte mit grünen Punkten, zum Beispiel Äpfel, in seinem Warenkorb hat, liegt falsch. ({1}) Eine solche Kennzeichnung ist doch total verwirrend. Warum fährt denn die Lebensmittelkette Tesco in Großbritannien - Frau Heinen hat es vorhin angesprochen just dieses Prinzip wieder zurück? Sie hat erkannt, dass es die Menschen verwirrt; denn Butter wird immer einen roten Punkt haben. Verderben Sie den Menschen doch nicht die Lust an der Vielfalt, sondern befähigen Sie sie dazu, einen ordentlichen Lebensstil zu erlernen und auszuprägen! ({2}) Liebe Frau Künast, wir sind nicht für Ernährungsdiktate, Gängeln und Verbieten, sondern setzen auf Einsicht. Wir müssen die Eltern befähigen. Die Familien sind wichtig. Es kann nicht sein, dass nun nach dem Staat und Herrn Seehofer gerufen wird, wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht nachkommen und ihre Kinder ohne Frühstück oder mit einem Schokoriegel in die Schule schicken. Wir brauchen hier als Unterstützung Ernährungslehrer. Deshalb unterstützt die CDU/CSUFraktion einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der auf Einsicht, aber auch auf das spielerische Erlernen setzt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Rahmenbedingungen an den Schulen. Wir sind uns mit unserem Koalitionspartner absolut einig, dass die Rahmenbedingungen an den Schulen, insbesondere die Qualität der Mittagsverpflegung, verbessert werden müssen. Was können denn die Kinder dafür, wenn ihnen in Kiosken nur Schokoriegel und süße Brause angeboten werden? Hier müssen wir beginnen. Wir dürfen nicht mit irgendwelchen Kennzeichnungen Menschen reglementieren, sondern müssen auf Einsicht setzen. ({3}) Zu einem Werbeverbot im Fernsehen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wenn wissenschaftlich erwiesen wäre, dass ein Werbeverbot im Fernsehen dazu führte, dass die Kinder nicht dicker würden, sondern abnähmen, dann wäre ich auf Ihrer Seite. ({4}) Aber in Schweden, wo die Werbung komplett verboten ist, hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder in den letzten Jahren im Schnitt verdreifacht. In Kanada haben wir das gleiche Phänomen. Die Kinder haben dort, wo es Werbeverbote gibt, nicht abgenommen, sondern weiter zugenommen. Es ist falsch, eine Placebopolitik zu betreiben. Uns ist es ein ernsthaftes Anliegen, das von uns definierte Ziel zu erreichen, dass Menschen gesünder und ausgewogener leben. Es wäre sicherlich eine Schlagzeile wert, wenn wir heute auf Initiative von Herrn Seehofer eine Ampelkennzeichnung und ein Werbeverbot beschließen würden. Aber wir stünden in vier Jahren wieder hier und stellten fest: Wir haben die Menschen nicht erreicht, weil es nicht in den Köpfen angekommen ist. ({5}) Das ist unsere verantwortungsvolle Aufgabe. Die CDU/CSU-Fraktion hat einen ganz anderen Ansatz. Sie setzt auf eine Stärkung bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, seien es die Landfrauen oder seien es andere Organisationen wie Elterninitiativen in meinem Wahlkreis Bad Kreuznach. Sie bieten Kurse an, in denen man spielerisch das Kochen erlernen kann. Herr Lafer, ein Koch, der sicherlich allen bekannt ist, hat mir Folgendes erzählt: Er kocht mittags an Schulen in meinem Wahlkreis und bietet ein Essen an. Die Hälfte der Kinder hat die Tomatensoße zurückgehen lassen, weil sie nicht schmeckte und weil dort Stückchen drin seien. Es waren Tomatenstückchen. Dass eine Tomatensoße aus Tomaten gemacht wird, ist für uns sicherlich einsehbar und eine ganz normale Erkenntnis. Das Ernährungswissen in Deutschland, auch der Bezug zu Nahrungsmitteln, den Mitteln, von denen wir leben, ist sehr schlecht ausgeprägt. Es darf uns nicht wundern, dass Menschen eher den Preis einer Musik-CD kennen, aber nicht wissen, dass es Fleisch unter einem Euro eigentlich gar nicht geben könnte. Die Wertschätzung der Produktion in Deutschland, der regionalen Produktion, auch der Landwirtinnen und Landwirte gehört ebenfalls in diese Gesamtstrategie. Wir fordern die Regierung auf, lieber Herr Seehofer - auch Ihre Kolleginnen und Kollegen; Frau Schmidt ist ebenfalls da -, hier tätig zu werden. Ich begrüße sehr, dass Herr Seehofer - im Gegensatz zu Frau Künast Frau Schmidt mit ins Boot geholt hat und sie sich abstimmen. Ich wünsche mir auch, dass das Innenministerium, das für Sport zuständig ist, und das Bildungsministerium, das für die Bildung und die Ausbildung unserer Menschen in Deutschland zuständig ist, ({6}) sich zusammensetzen und die Projekte, für die wir Mittel zur Verfügung stellen können, bündeln. Eine weitere Aufgabe wird auch eine große Herausforderung sein - dabei schaue ich auch zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition -: Wir haben uns auf eine Anhörung demnächst in unserem Ausschuss geeinigt. ({7}) - Wir haben sie nicht verhindert. Wir haben zugestimmt. ({8}) - Lieber Herr Kollege Goldmann, für eine Anhörung zu sein, ist das eine. Aber auch darüber reden zu wollen, was der Inhalt ist und dass der Inhalt sinnvoll ist, ist das andere. Ihr seid für das Formale zuständig. Wir sind für das Inhaltliche zuständig. Das ist gut so. ({9}) Bei dieser inhaltlichen Schwerpunktsetzung geht es uns darum, die europäische Ebene, die Bundesebene, die Landesebene und die kommunale Ebene trotz föderalistischer Probleme so zusammenzubringen, dass wir wirklich nachhaltig eine Volksbewegung für bessere Ernährung und mehr Bewegung bekommen, damit wir nach Churchill sagen können: Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen. ({10}) Wir möchten den Menschen helfen und ihnen die Rahmenbedingungen geben, sie nicht gängeln, sondern ihnen Spaß und Freude am Leben vermitteln. Das ist das Ziel der CDU/CSU-Fraktion. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ein nationaler Aktionsplan steht an. Viele - wir haben es heute gehört - sind euphorisch. Ich bin eher skeptisch. Warum? Was hier vorliegt, ist eher Aktionismus denn eine Strategie; das sage ich klipp und klar. ({0}) So richtig es ist, für die Beförderung einer gesunden Lebensweise alle einzubeziehen - alle Ministerien, Bund und Länder, die Medien, die Wissenschaft, die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, den Sport, die Sozialversicherungen -: Der Knackpunkt ist, mit welcher Zielstellung miteinander verhandelt und diskutiert wird. An dem Ansatz der Regierung gibt es aus meiner Sicht drei wesentliche Kritikpunkte. Erstens. Sie wollen ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und Bewegung ausprägen. Frage: Wie ernst nehmen Sie eigentlich das, was bisher geschah? Unzählige Experten und Akteure haben seit dem Jahr 2000 über Gesundheitsziele für Deutschland beraten. Eindeutig identifiziert ist, dass die Ziele „gesunde Ernährung“, „mehr Bewegung“ und „Stressabbau“ komplex angegangen werden müssen, um chronische Krankheiten zu vermeiden und Wohlbefinden zu befördern. Die WHO hat im letzten Jahr die seelische Gesundheit als die neue Herausforderung identifiziert. Sie schätzt ein, dass die psychischen Erkrankungen im Jahr 2020 die am häufigsten auftretende Krankheit sein werden. Ja, die EU hat ein Grünbuch vorgelegt und einen Beschluss zu gesunder Ernährung und mehr Bewegung gefasst. Warum müssen wir immer hinterhertrappeln, statt eigene strategische Empfehlungen und Erkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation für einen Neuansatz abzuleiten, wenn es tatsächlich um einen nationalen Aktionsplan gehen soll? ({1}) Der zweite Kritikpunkt. Erfahrungen belegen - wir fangen weiß Gott nicht bei null an -, und wissenschaftliche Erkenntnisse besagen: Aufklärung, Information und Programme sind nicht ausreichend, um Verhalten dauerhaft zu verändern, wenn gesellschaftliche Verhältnisse nicht ebenfalls verändert, wenn nicht die Ursachen der Gesundheitsrisiken angegangen werden. Ihre Papiere strotzen nur so davon, die Eigenverantwortung in den Mittelpunkt zu schieben und staatliche Verantwortung allenfalls auf Aufklärung und die berühmt-berüchtigten Rahmenbedingungen zu reduzieren. Ich sage: Der Wille bei den Einzelnen, bei den Akteuren ist da; nur die Bedingungen sind nicht so, um ihn zu realisieren. Beispiele: Kindern, die unter den Bedingungen von Hartz IV leben, stehen pro Tag rund 98 Cent für die Ernährung am Mittag zur Verfügung. Wer kann da eine gesunde Ernährung gewährleisten? In den Schulen werden im Durchschnitt 2,40 Euro ausgegeben. Diese Forderung gilt nicht nur in einem Bundesland, sondern überall: Hier muss subventioniert werden, um eine unentgeltliche Schulspeisung zu ermöglichen. ({2}) Das Bundesland, aus dem ich komme, MecklenburgVorpommern, setzt an, Ernährung für Gesundheit in Reha- und Pflegeeinrichtungen zu organisieren, aber die Pflegekostensätze lassen nur Masseneinkäufe zu. ({3}) Mit der Novellierung der Pflegeversicherung hat die Politik seit Jahren versagt, auch so etwas zu ermöglichen. Sie fordern Konzepte und appellieren an die Sportvereine. Sie kennen die finanzielle Ausstattung. Wie soll dort etwas Neues geschehen? Es sollen Fahrradwege ausgebaut werden, aber wir kennen die finanzielle Ausstattung der Kommunen. Ich denke, hier wird viel zu kurz gegriffen. Die dritte Kritik. Es fehlt an Konkretheit. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Eckpunktepapier ist sehr unkonkret. Das Memorandum der Konferenz von Februar in Badenweiler, auf der ganz Konkretes vereinbart wurde, wäre eine gute Grundlage gewesen. Darin steht, bis 2010 sollten folgende Ziele erreicht werden: 10 Prozent mehr Menschen sollen eine halbe Stunde täglich körperlich aktiv sein, 20 Prozent mehr Menschen sollen täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen, 30 Prozent mehr Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung sollen gesunde Mahlzeiten anbieten. Dann könnte der Trend umgekehrt werden. Was findet sich im Eckpunktepapier? Ich zitiere: Zentrales Ziel ist es, bis 2020: … das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern, … „Nachhaltig“, allgemeiner geht es nicht. Die fehlende Konkretheit beziehe ich auch darauf, dass jegliche Aussage zum Präventionsgesetz fehlt. ({4}) Ich hatte gehofft, dass die Ministerin hier heute etwas ergänzt. ({5}) - Ihr Antrag ist eine löbliche Ausnahme. Aber man sieht, wie die CDU/CSU applaudiert, nämlich gar nicht. Welchen Platz soll das Präventionsgesetz in dem Aktionsplan einnehmen? Ich hoffe, dass es nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Oder soll der Aktionsplan vielleicht eine Beerdigung erster Klasse für das Präventionsgesetz werden? Fragen bleiben. Wir hören nichts von der zuständigen Ministerin. Wir müssen von dem Aktionismus wegkommen. Wir müssen uns darüber klar sein: Wenn Prävention wirklich Priorität haben soll, dann kostet das etliches an Geld. Aber wir sparen Kosten und mindern Leid. Das ist wirklich zugunsten des Wohlbefindens derer, für die wir hier eigentlich Politik machen. Ich danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Dicken sind längst als Thema in den Medien angekommen; das ist uns heute Morgen in einem Blatt gezeigt worden. Mehrfach wöchentlich flimmern sogenannte Dokusoaps über den Bildschirm, bei denen man sich zu Hause vor dem Fernseher bei Chips und Cola mit wohligem Gruseln anschauen kann, wie eine von Ernährungsnannys und Kamerateams heimgesuchte Familie ihre übergewichtigen Kinder mit falschem Essen krankfüttert. In einer Sendung namens „Liebling, wir bringen die Kinder um!“ wird das Ganze gekrönt durch eine Computersimulation aus der Kriminalistik, mit der den Eltern anhand einer Fotobearbeitung die Mutation ihrer Moppelchen zu Monstern als Horrorszenario vorgeführt wird. Eine weitere Simulation zeigt dann, dass aus denselben Moppelchen auch Models werden können, wenn sie sich an die Essenstipps der Ernährungsnannys halten. Weitere Sendungen laufen unter Titeln wie „Du bist, was du isst“, „Besser essen. Leben leicht gemacht“, „Schwer in Ordnung! - Kinder specken ab“ oder „Dicke Freundinnen. Kampf gegen Kilos“. Das sind nur ein paar Beispiele. Einige dieser Sendungen geben sicherlich wertvolle Tipps und setzen nicht auf den Sensationseffekt. Aber nicht immer wird mit den Betroffenen verantwortungsvoll umgegangen; denn: Je reißerischer aufgemacht, desto höher die Einschaltquoten. „Die Zeit“ berichtete im letzten Jahr darüber, dass Kinderärzte immer häufiger Medienanfragen erhalten, ob sie aus ihrer Praxis nicht ein paar „extrafette Exemplare“ zum Interview vermitteln könnten. Das zeigt die zwei Seiten der Medaille: So hilfreich es sein kann, wenn die Medien sich des Themas annehmen - und damit auch Kreise erreichen, die auf anderen Wegen schwer erreichbar sind -, so gefährlich ist es auch; denn im Kampf um Einschaltquoten kann die Auseinandersetzung mit einem ernsthaften Problem zur Effekthascherei auf Kosten der Betroffenen verkommen. Der Kampf gegen Übergewicht und Bewegungsmangel ist eben keine Dokusoap, sondern eine politische und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({0}) Seit September 2006 liegt uns mit der vom Robert-Koch-Insititut veröffentlichten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie, abgekürzt KiGGS, erstmals eine bundesweit repräsentative umfassende Untersuchung vor. Das erschreckende Ergebnis: 15 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, ein Drittel davon bereits krankhaft. Mit Übergewicht und Bewegungsmangel steigen die Gesundheitsrisiken. Jedes zweite stark übergewichtige Kind hat bereits eine Folgeerkrankung wie Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Vorstufen des Diabetes oder orthopädische Erkrankungen. Ohne Gegenmaßnahmen könnten aus dicken Kindern von heute die Frührentner von morgen werden. Neben den enormen Kosten, die diese Entwicklung für ein Gesundheitssystem hat, dürfen wir auch nicht vergessen, dass hinter solchen Zahlen Leidensgeschichten einzelner Menschen stehen - verschiedene Kolleginnen und Kollegen haben dazu bereits Beispiele genannt -: körperliche Beschwerden und Einschränkungen und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen Hänselei und Ausgrenzung. Neben den körperlichen sind auch die psychosozialen Belastungen groß. Hauptrisikofaktoren für Übergewicht sind unter anderem ein niedriger sozialer Status und ein niedriges Bildungsniveau. Dabei ist gesundes Essen nicht teurer als ungesundes. Hier muss die Aufklärung einsetzen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder aus sozial schwachen Strukturen in dieser Gesellschaft als „arm, dumm und dick“ keine Chance auf eine bessere Zukunft haben. Die Deutschen sind die Dicksten in Europa. Wir legen heute einen Maßnahmenkatalog vor, mit dem dieser Entwicklung gegengesteuert werden soll. Wir begrüßen den von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer vorgelegten Aktionsplan. ({1}) Diese im wahrsten Sinne des Wortes „schwerwiegende“ Aufgabe muss alle gesellschaftlichen Kräfte einbeziehen. Natürlich liegt die Verantwortung in erster Linie bei den Eltern. Aber auch die Wirtschaft muss mitziehen. Das Überangebot an Snacks, Fast Food, Süßigkeiten und Getränken, die überall und zu jeder Tageszeit verfügbar sind, häufig in XXL-Größen, verschärft die Problematik. Ich appelliere an die Lebensmittelhersteller, insbesondere bei Produkten, die häufig von Kindern gegessen und getrunken werden, also bei Säften, bei Keksen und bei Snacks, Zucker und Fett zu reduzieren und auf Geschmacksverstärker, die den Appetit anregen und Heißhungerattacken auslösen, zu verzichten. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Auch über ein Verbot von auf Kinder ausgerichteter Werbung muss nachgedacht werden dürfen, ebenso über eine Nährwertkennzeichnung, die Verbrauchern, die sich ausgewogen ernähren wollen, die Auswahl der Produkte erleichtert. Nach meiner Meinung sollte ein ungesundes Essverhalten auch in finanzieller Hinsicht unattraktiver gestaltet werden. Wie ist zu rechtfertigen, dass Süßwaren und Knabberartikel mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 Prozent besteuert werden, während Mineralwasser dem vollen Umsatzsteuersatz unterliegt? Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem zum 1. Januar 1968 entschieden, dass fast alle Nahrungsmittel - ausgenommen sind die meisten Getränke - aus sozialpolitischen Erwägungen mit dem ermäßigten Satz besteuert werden. Solche sozialpolitischen Erwägungen können heute gute Gründe dafür sein, ungesunde Nahrungsmittel in finanzieller Hinsicht unattraktiver und gesunde dafür attraktiver zu machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Aktionsplan der Bundesregierung und mit unserem Maßnahmenkatalog haben wir einen großen Schritt getan, weitere werden folgen. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ziele, die Sie formuliert haben, sind richtig. Es ist auch schön, dass das, was Rot-Grün angefangen hat, von Ihnen fortgesetzt wird. Frau Künast hat einige Punkte angesprochen: die Modellprojekte, die Informations- und Aufklärungskampagne, die HealthClaims-Verordnung der EU und die Plattform Ernährung und Bewegung. Diese Bemühungen führen Sie fort. Aber Ihr sogenannter Aktionsplan ist nichts anderes als eine Absichtserklärung und ein Vertagungsprogramm. Sie verhalten sich ähnlich wie beim Thema Ausbau der Kinderkrippenplätze. ({0}) Das ist nach anderthalb Jahren erwartungsvollen Wartens ein bisschen wenig. So können Sie sich nicht aus Ihrer Verantwortung ziehen. Immer, wenn es konkret wird, sitzen die Regierung und die Koalitionsfraktionen unter dem Tisch. ({1}) Ich finde, es ist nicht in Ordnung, wenn der Minister nur darauf hinweist, dass es in dieser Frage keine Bevormundung und keinen erhobenen Zeigefinger geben dürfe. Es handelt sich nämlich um einen sogenannten asymmetrischen Markt. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Eltern und Kinder mit Werbemitteln regelrecht beknallt werden und dass die Kinder in den Schulen vor Automaten hängen, die mit Zuckergetränken und Süßigkeiten gefüllt sind. Wir müssen gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, um das zu ändern. Die Situation ist für uns alle nicht neu: Es gibt Zehnjährige mit Altersdiabetes, Fünfjährige mit Herzinfarkt, Kinder, die bei den Schuleingangsuntersuchungen nicht mehr rückwärts gehen oder auf einem Bein stehen können, 18-Jährige, deren Muskelskeletterkrankungen schon so weit fortgeschritten sind, dass sie erwerbsunfähig sind, bevor sie überhaupt ins Berufsleben starten könnten. Hier müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Dazu bedarf es konkreter Maßnahmen, die wir in Ihrem sogenannten Aktionsprogramm allerdings vermissen. ({2}) Viel von dem, was die Wirtschaft bisher geleistet hat, ist gut. Es gibt Unternehmen, die sich sehr stark engagieren und sogar ihre Produktpalette und ihr Angebot verändert haben. Es gibt aber auch viele Unternehmen, die genau das Gegenteil tun. Daher ist eine unterstützende Rahmenpolitik des Gesetzgebers schlicht und ergreifend notwendig. Wir sind schließlich keine Unternehmensberatung. ({3}) Sie haben fünf Handlungsfelder dargestellt. Frau Bunge hat dargelegt, dass die konkrete Ausgestaltung fehlt. Wir wollen Folgendes: Erstens. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen - die Mehrheit auf allen Ebenen haben Sie da -, dass die Schulverpflegung verbindlich geregelt wird. Es kann doch wirklich nicht sein, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, die nachmittags Unterricht haben, jeden Tag acht Stunden lang kein vernünftiges Ernährungsangebot bekommen. Das ist doch regelrecht ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. ({4}) Zweitens: verbindliche Standards. Der Minister hat das erwähnt, sagt aber nicht, wie das gemacht werden soll. Richtig ist auf jeden Fall: Wir brauchen Qualitätsstandards, damit den Kindern nicht etwas angeboten wird, was sich bloß als eingeschweißte Pappe herausstellt. Drittens: die Automaten. Es kann nicht sein, dass sich Schutzbedürftige einem Angebot ausgesetzt sehen, das ihnen nur Produkte liefert, die ihnen nicht zuträglich sind. Es ist schon erwähnt worden: Gut ist zum Beispiel Mineralwasser. Gesündere Produkte gibt es also durchaus. Es muss nur dafür gesorgt werden, dass sie auch angeboten werden. Viertens: noch einmal zur Kennzeichnung. Sie sagen, Sie wollten Orientierung geben. Das sagte auch Frau Klöckner. Aber im Grunde machen Sie das Gegenteil. Ein bisschen wie beim Verbraucherinformationsgesetz betreiben Sie nämlich Informationsverschleierung. Das geht nicht. Sie haben Frau Künast wohl falsch verstanden. Ich habe die Tüte von Frau Künast mitgebracht. ({5}) Hierauf werden sehr differenziert fünf Kriterien dargestellt. Das ist eine Information, aber leicht verständlich. ({6}) Man kann doch nicht immer den Taschenrechner mitschleppen, oder man muss doch nicht Ernährungswissenschaft studiert haben, um eine Orientierung zu erhalten. Gerade für Leute, die keine Zeit haben, oder auch für Leute aus bildungsferneren Schichten ist es wichtig, ein solch einfaches Angebot zu haben. Fünftens. Wir fordern in unserem Antrag ein 20-Millionen-Programm für sozial Schwache, für die Unterstützung derjenigen, die am meisten unter diesen Fehlentwicklungen leiden, die nun schon seit einigen Jahren anhalten. Ich denke, das muss eine Zielgruppe sein. Wir müssen die, die am unteren sozialen Rand sind, wirklich unterstützen. Sechstens: Prävention. Der Antrag von CDU/CSU und SPD ist voll von dem Wort „Prävention“. Sie sagen aber gar nichts zum Thema „Präventionsgesetz“. ({7}) Das ist doch wohl die Aufgabe des Gesetzgebers. Also, bitte schön, dann nennen Sie auch wirklich die konkreten Punkte. Siebtens: der Sport. Wichtig ist es, Breitensport zu verankern und dafür zu sorgen, dass er in den Unterrichtsinhalten stärker zum Tragen kommt. Achtens: die Landwirtschaft. Wir brauchen natürlich Produkte, die eine gesunde Ernährung ermöglichen. Die Lage, gerade was die Produktion von ökologischen Lebensmitteln betrifft, ist durch das Handeln der Bundesregierung traurig. ({8}) Qualität und verbraucherorientierte Produktion: Da haben Sie den Landwirten massenweise Geld gestrichen. Der Landwirtschaft ist noch nie so viel Geld für die Qualitätsproduktion weggenommen worden wie unter dieser Regierung. Man muss wirklich sagen: Dann machen Sie auch bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte die Qualitätsoffensive mit, zu der die Landwirtschaft selber in der Lage ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Höfken, kommen Sie bitte Schluss.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch kurz zum Geschenkpaket des Deutschen Bauernverbandes: Darin war Müllermilch - ein Produkt mit Orangen, massenhaft Zusatzstoffen, süß. Wenn das das Beispiel für die deutsche Landwirtschaft sein soll, dann muss man sich über die Vertretung Gedanken machen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Wort hat die Kollegin Uda Heller, CDU/CSUFraktion. ({0})

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Was, glauben Sie, wünschen sich die Deutschen in Meinungsumfragen am häufigsten? Richtig: Gesundheit steht immer an erster Stelle. Wir beschäftigen uns heute nicht mit dem Kampf gegen Fett, sondern mit dem Thema Gesundheit. Leider legt die medizinische Wissenschaft den Schwerpunkt auf die Behandlung der Krankheiten. Die Erforschung der Krankheitsursachen tritt in den Hintergrund. Bei der Betrachtung aller Krankheitsauslöser können wir die Krankheiten im Wesentlichen in drei große Gruppen einteilen: in die ernährungsbedingten, die durch Lebensumstände bedingten sowie die umweltbedingten Krankheiten. Moderne Ernährungsforschung hat nachgewiesen, dass durch falsche Ernährung der größte Teil aller Krankheiten hervorgerufen wird. Gebissverfall, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Stoffwechselstörungen wie Fettsucht und Zuckerkrankheit, die meisten Erkrankungen der Verdauungsorgane, Herz-KreislaufErkrankungen sowie die meisten Allergien und natürlich auch die Entstehung von Krebs sind auf Fehlernährung zurückzuführen. Atem- und Schlafstörungen werden ebenfalls durch Übergewicht begünstigt. Meine Damen und Herren, gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung sind nicht nur Dauerthemen in Lifestyle-Magazinen wie „Fit For Fun“, sondern beherrschen mittlerweile die Titelserien der Nachrichtenmagazine wie „Stern“ und „Focus“. Interessant ist die Feststellung, dass mehr Zeitschriften verkauft werden, wenn das Thema Diät auf der Titelseite steht. Frauenzeitschriften werben mit Wunderdiäten und -pillen, die über Nacht das Gewicht reduzieren sollen. ({0}) Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg - das ist sicherlich der Wunsch von uns allen. Ich gebe zu, dass auch ich schon diese Erfahrung gemacht habe und meinen Kleiderschrank mit Kleidungsstücken der Größen 38 bis 42 bestücke. In der Theorie ist alles klar; während meines Studiums war Lebensmittel- und Ernährungslehre mein Lieblingsfach. Doch wie sieht es oft in der Praxis aus? Gestern Abend sah ich einen Herrn von Foodwatch im Fernsehen, der der Meinung war, die Politik mache es sich sehr einfach, indem sie an die Eigenverantwortung der Bevölkerung appelliere, statt die Schuldigen der Lebensmittelindustrie in Haftung zu nehmen. Prima, meine lieben Kollegen! Wenn ich demnächst einmal wieder zunehme, schimpfe ich auf die Werbeindustrie, welche mich ständig verführt, und auf die Zuckerindustrie, die Hunderte von leckeren Riegeln anbietet. Diese überspitzte Darstellung soll uns natürlich nicht von der Tatsache ablenken, dass in unserem Land nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung normalgewichtig sind. Nach den neuesten medizinischen Studien ist der Bauchumfang ein zuverlässigerer Risikoindikator für Herz-Kreislauf-Probleme als der bisher angewandte Body-Mass-Index, der sich am Gesamtgewicht orientiert. Je höher die Ansammlung von Körperfett in der Leibesmitte ist, umso höher ist das Gesundheitsrisiko. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die von den Medizinern ermittelten Grenzwerte nicht vorenthalten, aber bitte erschrecken Sie nicht: Bei den Damen sollte der Bauchumfang etwa 80 Zentimeter nicht übersteigen, und die „grenzwertige Schwabbelmasse“ der Männer - ein schöner Ausdruck aus dem „Focus“ 18/2007 - liegt bei 74 Zentimetern. ({1}) Ich empfehle Ihnen, meine lieben männlichen Kollegen, bei Gelegenheit den hochinteressanten „Focus“-Leitartikel „Verflixter Bauch“ zu lesen. ({2}) Aber wie immer überreagieren wir in Deutschland. Zum Menschen gehören nicht nur der Körper, sondern insbesondere auch der Geist und die Seele. Auch das sollten wir nicht vergessen. ({3}) Die Meinung unserer Großeltern, dass runde Kinder auch gesunde Kinder sind, ist medizinisch längst wiederlegt. Auch das übertriebene Schlankheitsbild unserer Zeit entspricht keiner gesunden Lebensweise. So sind bereits 20 Prozent der Kleinkinder übergewichtig und über 10 Prozent untergewichtig. Bei Schulkindern verstärkt sich diese Tendenz, wie meine Kollegin Frau Klöckner bereits ausführte. Wer als Kind dick war, bleibt es meistens ein Leben lang. Fettzellen erinnern sich immer an diesen Start. Von den psychischen Schäden durch Hänseleien ganz zu schweigen. Ernährungs- und Bewegungsverhalten werden bereits im Kindesalter erlernt. Allerdings ändern sich gerade im Kinder- und Jugendalter die Geschmacksvorlieben. Somit sind sie noch gut zu beeinflussen. Verbote sind keine Lösung; auch das wurde heute schon oft gesagt. Der richtige Umgang mit Lebens- und Genussmitteln muss erlernt werden. Essen braucht Zeit - auch das gehört heute dazu -, und Genießen muss gekonnt sein. Ein aktiver Lebensstil muss deshalb vom ersten Tag an gefördert werden, damit Übergewicht gar nicht erst entsteht. Dazu gehört auch, dass nicht Zahnpastaprodukte für Kinder schon mit Zucker versehen werden, um den Geschmacksnerv anzuregen. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Professor Klaus Vetter, berichtete, dass schon die Neugeborenen heute sehr viel größer und schwerer sind. Als vor 34 Jahren mein erster Sohn geboren wurde, waren Kinder mit 2,5 Kilogramm normalgewichtig. Schaue ich heute in die Lokalpresse, in der Neugeborene meiner Heimat vorgestellt werden, stelle ich fest, dass das Durchschnittsgewicht zwischen 3,5 und 4 Kilogramm liegt. Auch größer sind die Babys geworden. Verantwortlich dafür sind angeblich das hohe Geburtsalter der Mütter und hierdurch hervorgerufene Stoffwechselstörungen, die sich häufig in Übergewicht der Babys niederschlagen. Das spätere Gewicht eines Menschen wird bereits vor der Geburt durch das Gesundheitsverhalten der Mutter und die Gewichtsentwicklung in den ersten Lebensjahren maßgeblich mitgeprägt. Deshalb erwarte ich von den Müttern eine bewusste Ernährung während der Schwangerschaft - natürlich ohne zu rauchen; auch dieses Thema darf man hier nicht aussparen - sowie die Bereitschaft, das Neugeborene zu stillen. Für eine erfolgreiche Prävention gegen Übergewicht im Kindes- und Jugendalter müssen die Maßnahmen auf den sozialen Status und die geschlechtsspezifischen Unterschiede ausgerichtet sein. Prävention muss bedürfnisgerecht sein, sonst ist sie wirkungslos. Im Vordergrund muss das spielerische Erlernen von Handlungskompetenzen statt der alleinigen Vermittlung von Wissen stehen. Im Geiseltal im Süden von Sachsen-Anhalt gibt es die Kneipp- und Naturkindertagesstätte „Gänseblümchen“, die seit 1990 genau diesen Denkansatz in absolut vorbildlicher Weise umsetzt. In dieser Naturkindertagesstätte, umgeben von Wald, Wiesen und Feldern, haben die Kinder die optimale Voraussetzung, die Vielfalt von Naturerlebnissen zu entdecken, die Wirkprinzipien der kneippschen Lehre am eigenen Körper zu spüren, die Wirkung von Heilkräutern auf die Gesundheit zu erfahren und gemeinsam zu kochen. Die Naturkindertagesstätte hat 2002 im Rahmen der Kampagne „Fit Kid“ erfolgreich mit dem Beitrag „Unsere kunterbunte Kinderküche“ teilgenommen. Bei meinem Besuch dort war ich beeindruckt von der spielerischen und mit der Natur in Einklang stehenden Art, den Kindern ganzheitliche Bildung nahezubringen und kindliche Kompetenz zu stärken. In der vergangenen Woche überraschten die Kneipp-Kinder die benachbarten Grundschüler mit gesunden und leckeren Pausenbroten - ich denke, eine tolle Aktion. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein solcher ganzheitlicher und gleichzeitig kreativer und individueller Ansatz langfristig auch der Schlüssel zur Lösung einiger unserer Probleme ist - Ernährungserziehung in spielerischer Weise. Sachsen-Anhalt gehört zu den wenigen Ländern, die im Schulgesetz verankert haben, dass Schulträger eine warme Vollwertmahlzeit für alle Schülerinnen und Schüler anbieten müssen. Das gibt es also schon. Diese wird überwiegend durch Fernversorger gewährleistet. Hilfreiche Broschüren werden den Verantwortlichen an die Hand gegeben. Ich habe einmal zwei mitgebracht: „Schulspeisung - gesund und lecker! Handlungsanleitung für Caterer“ und „Schulessen - Wie wählen wir den richtigen Anbieter? Eine Entscheidungshilfe für Eltern und Lehrer“. Unsere Landesregierung, die übrigens die einzige in Deutschland ist, die einen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem Tag der Geburt im Gesetz festgeschrieben hat, ist bemüht, diese Betreuungsphase mit vielfältigen Arbeitsprogrammen in den Kitas zu begleiten, basierend auf der Erkenntnis, dass gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung bereits im frühen Kindesalter erlernt werden können. Auf Grundlage der Bildungsprogramme wird das Modellprojekt „Bildung durch Bewegung in Kindertagesstätten“ durchgeführt und mit Landesmitteln gefördert. Wissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg haben gemeinsam mit sechs Kindertagesstätten ein Förderprogramm entwickelt, das die Praxis in den Kitas mit zahlreichen Beispielen und methodischen Hinweisen unterstützt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Heller, kommen Sie bitte zum Schluss.

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Bewusst wurde hier ein fachpolitischer Schwerpunkt gesetzt. Ich begrüße sehr die Pläne der Bundesregierung, Ernährung und Gesundheit als Pflichtfach in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen. ({0}) Flankierend dazu sollte der Sportunterricht wieder deutlich aufgewertet werden; denn durch Stundenreduzierung wurden die vorschulkindlichen Aktivitäten zurückgeführt. Zu den Schulzeiten meiner beiden Söhne gab es das Grundfach „Schulgarten“, welches mit praktischer Tätigkeit den Anbau von Obst und Gemüse auf eigens dafür vorgesehenen Flächen ermöglichte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Heller, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Wer miterlebt, wie viel Mühe ({0}) die Aufzucht eines Pflänzchens macht, der weiß auch den Genuss eines frischen Salatkopfes mehr zu schätzen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist uns doch allen klar, dass falschem Ernährungsverhalten und Bewegungsmangel gesetzlich nicht entgegengewirkt werden kann. ({0}) Wir müssen auf Freiwilligkeit setzen und die Menschen in ihrem Alltag abholen. Genau aus diesem Grund ist dieser Aktionsplan von Herrn Bundesminister Seehofer gut und richtig! ({1}) Liebe Kollegin Ulrike Höfken, Sie sprechen von einer Absichtserklärung und leeren Worten. Wenn wir aber auf ein Mitmachen setzen, den Föderalismus als Chance begreifen und genau diese Programme von unten her begleiten, dann haben wir auch eine Chance, die Menschen zu erreichen. In Ihrem Vortrag war die Rede von acht Stunden Schulunterricht ohne Mittagessen. Da kann ich den Kindern aus Rheinland-Pfalz nur empfehlen: Kommt nach Sachsen-Anhalt. Da gibt es Mittagessen, und zwar ein gesundes. - Das hat meine Kollegin Uda Heller eben gesagt. ({2}) In den wenigsten Familien ist es heute so, dass noch regelmäßig gemeinsam gegessen wird. Dafür nimmt der Konsum von Fertiggerichten zu; das wissen wir alle. Wir haben in dieser Debatte auch festgestellt, dass veränderte Lebensstile zu verändertem Bewegungsverhalten und fehlendes Wissen um gesunde Ernährung zu Fehlernährung führen. An dieser Stelle müssen wir gegensteuern. Die Debatte zeigt, dass wir das - auch wenn wir unterschiedliche Wege suchen - alle wollen. Diese Debatte zeigt auch deutlich, dass sich gesundes Verhalten und die Prävention von Fehlernährung und Bewegungsmangel nur durch ein Bündel von Maßnahmen umsetzen lassen. Wir haben uns in unserem Antrag auf das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen konzentriert, und wir planen ein solches Bündel gemein9830 Waltraud Wolff ({3}) sam mit dem Aktionsplan der Bundesregierung. Die Maßnahmen sind notwendig, sinnvoll und ein Baustein einer vorsorgenden Politik, der - das bitte ich Sie zu bedenken - nicht allein steht. Dass es zum Gesundheitsministerium und zum Familienministerium Kontakte gibt und eine gemeinsame Aktion läuft, ist deutlich geworden. Das Öko-Institut hat gestern gemeinsam mit anderen Organisationen gefordert, dass in einen Aktionsplan Ernährung auch ökologische und ethische Werte und Aspekte aufgenommen werden müssen. Das stimmt! Es ist wichtig, bei der Produktion und dem Konsum von Lebensmitteln die Umwelt und die fairen Handelsbeziehungen im Auge zu behalten. Umgekehrt gilt natürlich, dass Lebensmittel, wenn sie nur als Sonderangebot wahrgenommen werden, an Wertschätzung verlieren. Das sage ich ganz bewusst auch als Landwirtschaftspolitikerin. Das darf nicht sein! Wir sollten aber eines nicht tun: Wir sollten diese Debatte zum Thema der Fehlernährung hier und heute nicht überladen. Wir haben in unserem Antrag den Schwerpunkt auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen gelegt, und zwar aus gutem Grund. Gesundes Verhalten muss möglichst früh gelernt werden. Wir müssen deshalb bei Kindern und Jugendlichen das Bewusstsein dafür wecken, dass gutes Essen wirklich schmeckt, dass gesundes Verhalten die Lebensqualität verbessert und dass Spaß und Freude einziehen. In der letzten Wahlperiode haben wir die Plattform Ernährung und Bewegung gegründet. Damit haben wir angefangen, alle gesellschaftlichen Gruppierungen zu vernetzen. Darauf bauen wir jetzt auf. Wir wollen die Jugendlichen in ihrem Lebensumfeld erreichen. Es gab in der letzten Legislaturperiode einen Wettbewerb, von dem ich ganz kurz berichten möchte. Es gab nämlich in meinem Wahlkreis, in Barleben, einen Wettbewerbsgewinner. Die NABU-Ortsgruppe hat mit der Einrichtung einer Vollwertküche gepunktet. Die Kinder in einer Sekundarschule bieten selber eine Pausenversorgung an, die sie aus gesunden Nahrungsmitteln herstellen. Sie bieten ihren Mitschülerinnen und Mitschülern Getränke an, die auch angenommen werden. Das ist ein Beispiel dafür, dass man auf Freiwilligkeit setzen kann und setzen soll. Wir behandeln diesen Tagesordnungspunkt in der Kernzeit, weil es sich um ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Thema handelt. Wir werden in der Zukunft mit Problemen im Gesundheitssystem zu rechnen haben, ({4}) wenn wir die Fehlernährung nicht als wichtiges Thema begreifen. Wir nehmen diese Verantwortung mit dem heute vorgestellten Gesetzentwurf genauso wie mit den anderen Bausteinen unserer Politik an. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Für uns als Abgeordnete des Deutschen Bundestages hätte ich zum Schluss eine kleine Idee. Wir sollten vielleicht einmal über eine Mittagspause nachdenken ({5}) und möglicherweise auch über Duschen in den Büroräumen, damit man zwischendurch einmal Joggen gehen kann. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5258 und 16/5271 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements - Drucksache 16/5200 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements - Drucksache 16/5245 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion das Wort.

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat hat dieser Gesetzentwurf eine lange Geschichte. Auf die Verbesserung des GemeinnützigPetra Hinz ({0}) keitsrechts arbeitet die SPD-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren hin. Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ im Dezember 1999 wurde der Grundstein gelegt. Im Juni 2002 wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ ins Leben gerufen. Jetzt reden wir über den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der vor der Sommerpause verabschiedet werden soll. Bereits jetzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Vertreterinnen und Vertreter im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements sehr großen Einfluss auf das gehabt haben, was heute vorliegt. Wir reden über eine Entlastung in der Größenordnung von 440 Millionen Euro. Damit kommen wir den Menschen entgegen, die sich ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagieren. ({1}) Ich möchte hier insbesondere diejenigen erwähnen, die vom ersten Tag an dabei waren. Für meine Fraktion sind das Michael Bürsch und Ute Kumpf. Wir haben in den vergangenen Monaten die Diskussion über die Überarbeitung der rechtlichen Rahmenbedingungen intensiv geführt und für eine weitere Stärkung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts geworben. Ehrenamtliches Engagement muss gefördert werden und darf nicht erschwert werden. Mit diesem Gesetzentwurf, den wir in den nächsten Wochen beraten werden, werden Belastungen für die Ehrenamtlichen vermieden und Anreize geschaffen. Die entscheidenden Regelungen für die Bestimmung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts finden sich in verschiedenen Gesetzen wieder. Ich erwähne hier nur einige, um deutlich zu machen, wie schwierig es ist, sich in unserer Gesellschaft ehrenamtlich zu engagieren. Das Einkommensteuergesetz gibt die steuerliche Behandlung von Zuwendungen an gemeinnützige Organisationen vor. Die Einkommensteuer-Durchführungsverordnung enthält eine Aufzählung gemeinnütziger Zwecke, nach denen Zuwendungen einkommensteuerlich geltend gemacht werden können. Schließlich definiert die Abgabenordnung gemeinnützige, mildtätige und kirchliche Zwecke, für die eine steuerliche Begünstigung vorgesehen ist. Diese Vielzahl von gesetzlichen Regelungen führt immer wieder zu Intransparenz und erhöhtem Aufwand für die Finanzbehörden, aber auch - das ist entscheidend zu einer unterschiedlichen Behandlung gleicher Tatbestände, weil die Finanzämter je nach Bundesland unterschiedlich bewerten. Die steuerliche Begünstigung von gemeinnützigen Organisationen ist sehr wichtig und wird auch in Zukunft eine herausragende Rolle spielen. Ziel der anstehenden Ausschussberatungen muss es sein, die gesetzliche Grundlage zu vereinfachen und gleichzeitig mögliche Fehlinterpretationen von vornherein zu vermeiden. Die Koalition ist sich einig - das kann ich, glaube ich, auch für die CDU/CSU sagen; denn ich beziehe mich auf den Koalitionsvertrag -, dass bürgerschaftliches Engagement in Deutschland unverzichtbar geworden ist. Wir benötigen eine gute Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auch deshalb, weil es den Staat von Aufgaben in vielen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen entlastet, ({2}) zu deren Erfüllung der Staat aufgrund seiner finanziellen Ausstattung nicht mehr in der Lage ist. Jetzt möchte ich einige Fakten nennen. Die Zahlen, die ich nennen werde, stammen nicht vom BMF. Vielmehr habe ich gestern eine Ehrenamtsagentur in Essen angerufen, die mir folgende Zahlen nannte: Es gibt in Deutschland 23 Millionen ehrenamtlich tätige Menschen. Das sind rund 36 Prozent der Gesamtbevölkerung. Nahezu jeder dritte Bundesbürger über 14 Jahre engagiert sich ehrenamtlich. Von der Sozialstruktur her sind es Schüler, Studenten, Auszubildende sowie Rentner und Arbeitslose oder Angehörige besonderer Berufsgruppen, die sich ehrenamtlichem Engagement und der Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben kostenlos stellen. Wir reden hier über Steuervergünstigungen. Ich habe am Montag ein Gespräch mit einer Kollegin aus dem ehrenamtlichen Bereich, aus dem Sportbereich, geführt. Sie sagte - dies hat mich sehr beeindruckt -, wir dürften mit dem, was wir hier zu Recht beschließen wollten, nicht zwei Klassen von Ehrenamtlichen schaffen, nämlich diejenigen, die keine Möglichkeit hätten, etwas steuerlich abzusetzen, und diejenigen, die wir jetzt zu Recht fördern wollten. Was bedeutet ehrenamtliches Engagement für den Staat in Geldleistung und Arbeitsstunden? Ehrenamtliche leisten durchschnittlich zwei Arbeitsstunden pro Woche. Dies sind somit 46 Millionen Arbeitsstunden in der Woche. Man sollte sich einmal vorstellen, wie viel gemeinnützige Arbeit durch Ehrenamtliche in den Kommunen übernommen wird. Für ganz Deutschland ergeben sich somit rund 2,4 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr. Setzt man nun den angestrebten Mindestlohn von 7 Euro an - hierbei geht es um eine zukunftsgerichtete Diskussion -, dann lässt sich aus der Tätigkeit der Ehrenamtlichen ein geldwerter Vorteil in einer Größenordnung von - ich erlaube mir, diesen Betrag zu runden 17 Milliarden Euro pro Jahr errechnen. An dieser Stelle sollte man all denjenigen ein Dankeschön sagen, die sich in diesem Bereich engagieren. ({3}) Um welche Bereiche geht es? Das sind die Bereiche Sport und Bewegung; wir haben gerade eine sehr ausführliche Diskussion zu diesem Thema geführt. Es geht um die Bereiche Schule und Kindergärten, um soziale Bereiche, um die Kultur und die Feuerwehr bzw. Rettungsdienste. Alle in diesen Bereichen Tätigen engagieren sich für den Staat, ohne zu fragen: Was bringt mir das? Bürgerschaftliches Engagement muss mit Nachdruck gefördert werden - darum geht es -, sodass die Freiwilli9832 Petra Hinz ({4}) gen bei ihrer Leistung für unsere Gesellschaft weder finanzielle Nachteile haben noch ohne Schutz des Staates sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Haftung anzusprechen. Vor dem Hintergrund der Entwicklung unserer Gesellschaft muss auch gesagt werden, dass es nicht ausreicht, Anreize für freiwilliges Engagement nur in der Jugend zu schaffen. Mit diesem Entwurf wollen wir vielmehr generationsübergreifend Anreize schaffen - auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt -, um alle Alters- und Berufsschichten sowie Generationsgruppen zu motivieren, einen Dienst für die Gesellschaft zu leisten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Entbürokratisierung Einzug hält. Ich habe gerade über die verschiedenen Steuerrechtstatbestände gesprochen, die unterschiedlichst greifen. Meine Fraktion steht dafür, in den Fachausschussberatungen das Gemeinnützigkeitsund Spendenrecht so zu verbessern und zu vereinfachen, dass die gewünschten größeren Anreize, sich ehrenamtlich zu engagieren, auch tatsächlich entstehen. Was steht jetzt im Einzelnen im Entwurf? Ich will ganz kurz die Überschriften nennen. Es geht um die Anhebung der Übungsleiterpauschale. Der Freibetrag soll von 1 848 Euro auf 2 100 Euro angehoben werden. Es geht um die Einführung einer Steuerermäßigung für die ehrenamtliche Tätigkeit zur Förderung mildtätiger Zwecke. Dies betrifft all diejenigen Menschen, die stille Arbeit leisten, wenn sie sich um ältere, kranke und behinderte Menschen kümmern und dies in einem Zeitaufwand von mindestens 20 Stunden im Monat tun. Hier ist die Einführung einer Steuerermäßigung in Höhe von 300 Euro vorgesehen. Die Anhebung der Zweckbetriebsgrenze: All diejenigen, die in Vereinen aktiv sind, kennen die Thematik. Es geht um die Vereinsgaststätte. Der Verein lebt von der Vereinsgaststätte. Hier wird darüber diskutiert, die Besteuerungsgrenzen anzuheben. Sonderausgabenabzug von Mitgliedsbeiträgen in Kulturfördervereinen: Hier geht es um die sogenannten Freikarten und alles, was damit zusammenhängt. Eigentlich wäre das steuerrechtlich als geldwerter Vorteil zu sehen. Aber in diesem Fall soll es nicht angerechnet werden. Absenkung des Haftungssatzes: Er soll von 40 auf 30 Prozent gesenkt werden. Das darf man nicht unterschätzen. Denn gerade die gemeinnützig und ehrenamtlich Tätigen müssen sich darauf verlassen können, dass die Zuwendungen, die sie in Form von Spenden erhalten, rechtlich abzusetzen sind und das einer rechtlichen Prüfung standhält. Ein anderer Bereich ist der der Stiftungen. Wir haben gestern in der Beilage einer Zeitung vieles über Stiftungen lesen können. Was wären wir ohne unsere ehrenamtlich Tätigen und auch ohne unsere Stiftungen? Alle die, die im kommunalen Bereich aktiv sind, wissen, dass sehr viele Angebote im Freizeitbereich, im Jugendbereich und im Sportbereich durch Stiftungen gefördert werden. Auch hier sind weitere Verbesserungen möglich. Zusammengefasst sage ich: Ich wünsche uns eine intensive und faire Beratung. Wir sollten hervorheben, dass wir auf Grundlage dieses Gesetzentwurfs - Herr Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist; ich komme zum Schluss - den Ehrenamtlichen über 440 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Wir sollten aber auch immer im Hinterkopf behalten, dass wir keine zwei Klassen der ehrenamtlich Aktiven schaffen. Ich freue mich auf die Beratung. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich brauche hier nicht lange zu betonen, wie wichtig uns das Ehrenamt ist. Es gibt keinen hier im Raum, dem das Thema nicht besonders am Herzen liegt. In dieser Frage unterscheiden wir uns nicht. Ich komme deshalb gleich auf das zu sprechen, was uns unterscheidet. Das ist die Beurteilung der Qualität dieses Gesetzentwurfs. Der Entwurf ist unter dem Strich gesehen schwach. Sie, Frau Kollegin Hinz, haben darauf hingewiesen, dass der Entwurf jetzt im Rahmen der Beratung verbessert werden muss. ({0}) Angeblich wollen Sie mit diesem Entwurf das bürgerschaftliche Engagement stärken. In nahezu allen Bereichen, die strukturelle Fragen betreffen, ist der Entwurf aber die Fortschreibung des Status quo. So stärken Sie das Ehrenamt letztlich nicht. Sie nennen sich Große Koalition, bringen aber nichts Großes zustande. ({1}) Schauen wir uns einmal an, was Sie uns hier präsentieren. Sie satteln bei einigen Steuervergünstigungen drauf und lassen sämtliche Strukturfragen offen. ({2}) - Ich komme noch darauf zu sprechen, Herr Kollege. Man fragt sich, ob Sie sich ein einziges Mal Gedanken über das Verhältnis des Ehrenamts zu Staat und Markt gemacht haben. ({3}) Der Entwurf ist derart obrigkeitsgeprägt, dass man nur mit dem Kopf schütteln kann. Im Mittelpunkt steht bei Ihnen nicht eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, die selbstständig über Art und Umfang ihres Engagements entscheidet, ({4}) nein, ({5}) bei Ihnen steht der Staat, der über das bürgerschaftliche Engagement urteilt, im Zentrum des Geschehens. ({6}) Sie haben das sehr schön gesagt: Es gibt Gruppen, die Ihnen mehr wert sind, und Gruppen, die Ihnen weniger wert sind. ({7}) Was dem Staat gefällt, wird finanziell unterstützt, und die restliche Zivilgesellschaft wird bestenfalls ignoriert. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie es geschafft hätten, den Staat zurückzunehmen. ({8}) Es ist doch in erster Linie Sache der Bürgerinnen und Bürger, zu entscheiden, wofür sie sich in welchem Umfang engagieren möchten. ({9}) - Ja, sie tun das freiwillig in ihrer Freizeit. Deswegen wäre es schön, wenn wir nicht einzelne Aufgaben bevorzugen und andere ausschließen würden, wie Sie es tun. ({10}) Richtig wäre es gewesen, wenn man für alle Formen des bürgerschaftlichen Engagements klare und gerechte Rahmenbedingungen geschaffen hätte. Genau das ist mit dem Entwurf bisher nicht gelungen und muss verändert werden. Die Zivilgesellschaft braucht einen Wechsel vom gewährenden hin zum ermöglichenden Staat. Genau das schaffen Sie nicht. Wir brauchen vor allen Dingen auch eine deutlich erkennbare Abgrenzung zwischen den drei Akteuren Markt, Staat und Zivilgesellschaft. ({11}) Dazu findet man in Ihrem Entwurf kein Wort. Im Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und privaten Dienstleistungsunternehmen sind eine ganze Reihe von Wettbewerbsfragen zu klären, die Sie nicht ansatzweise beantworten. Auch was die Vereinfachung angeht, kommen wir mit Ihrem Entwurf nicht weiter. Sie haben es nicht geschafft, die steuerrechtliche Behandlung gemeinnütziger Organisationen grundlegend einfacher zu gestalten. Sie haben es nicht geschafft, die für Ehrenamtliche besonders wichtigen Vorschriften in einem Gesetzbuch zusammenzufassen. Sie haben es nicht geschafft, das Akkreditierungsverfahren zu vereinfachen. ({12}) Das wäre gerade für kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen, die oft keine steuerliche Relevanz haben, ohne Kostenaufwand möglich gewesen. Von all dem findet sich in diesem Gesetzentwurf nichts. ({13}) - Herr Bürsch, ich kann die Reihe der Mängel fortsetzen. Wir bräuchten auch dringend mehr Transparenz im Bereich der Zivilgesellschaft. In Ihrem Gesetzentwurf steht darüber null. ({14}) Die Frage der Transparenz ist eine ganz wesentliche Frage; ({15}) denn wenn Sie zivilgesellschaftliche Organisationen privilegieren, dann schulden diese der Öffentlichkeit auch Informationen. Das übergehen Sie in Ihrem Entwurf einfach. Wie Sie mit dem Stiftungswesen umgehen, ({16}) das haben Sie ja hervorgehoben: ({17}) Sie haben eine Grenze von 750 000 Euro eingeführt, und lassen sich jetzt als großzügige Stiftungskulturförderer feiern. ({18}) Das ist aber kein Aufbruchssignal; das ist schwach. Das, was Sie uns hier präsentieren, sind kleine Schritte. ({19}) Dabei wäre es dringend nötig, die Stiftungskultur in Deutschland zu fördern. ({20}) Wir brauchen Stiftungen. Schauen Sie sich an, was sich in anderen Ländern vollzieht. Gerade im kulturellen Bereich haben wir viel zu erwarten. Hier liegen enorme Chancen. Diese Chancen kann man in unserem Land aber nicht wecken, wenn man es so macht wie Sie und sich auf einen Höchstbetrag von 750 000 Euro beschränkt. Sie starten angeblich durch, verwechseln aber leider das Gaspedal mit der Bremse. ({21}) Wenn man bedenkt, dass diese halbherzige Politik auch noch Millionen an Steuergeldern verschlingt, bleibt am Ende eine nüchterne Bilanz dessen, was Sie uns bisher vorgelegt haben. ({22}) Zwar wird keiner, für den Sie mit diesem Gesetzentwurf Verbesserungen schaffen, Ihr Vorhaben kritisieren, es gibt aber viele, die sich ehrenamtlich engagieren, an die Sie nicht gedacht haben, die nicht profitieren. Alle, die in einer Zivilgesellschaft aktiv sind, werden spüren, dass Ihnen hier kein großer Wurf gelungen ist. Ich denke, Sie hören selbst die Kritik aus den Verbänden. ({23}) Deswegen muss nachgearbeitet werden. Der vorliegende Entwurf ist unterm Strich armselig, nicht offenherzig und stärkt die Zivilgesellschaft in keiner Weise. Deswegen muss dieser Gesetzentwurf, der nichts anderes als eine in Gesetzesform gegossene Anspruchslosigkeit der Großen Koalition darstellt, verändert werden. Wir brauchen eine selbstständige, selbstbewusste und von Markt und Staat klar abgegrenzte Zivilgesellschaft. ({24}) Die wollen Sie offensichtlich nicht. ({25}) Zumindest sind Sie auf dem falschen Weg. ({26}) Wir werden uns an den Beratungen aktiv beteiligen, damit wir einen Schritt weiterkommen. Was Sie bisher zum Ehrenamt vorgelegt haben, ist wenig, sehr wenig. Da ist mehr drin. Die Menschen, die sich in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagieren, haben mehr verdient. Lassen Sie uns in den Beratungen mehr daraus machen als das, was die Bundesregierung vorgelegt hat! ({27}) Das ist für die deutsche Zivilgesellschaft zu wenig. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Eduard Oswald von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Volker Wissing, ich bedauere, dass Sie den Gesetzentwurf in dieser pauschalen Form ablehnen, ohne sich mit den Details überhaupt beschäftigt zu haben. Das ist sicher der falsche Weg. ({0}) Wir alle wissen: Ohne Ehrenamt ist kein Staat zu machen. Jede Gemeinschaft lebt von den Menschen, die mehr tun, als es ihre unmittelbare Pflicht ist. Deshalb ist es unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe, all diejenigen zu unterstützen, die sich in Familie, Nachbarschaft und Ehrenamt einbringen. Unser Ziel als CDU/CSU ist es, die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement zu verbessern. ({1}) Wir wollen die Mitwirkung und Beteiligung der Bürger ermöglichen. Dieses bürgerschaftliche Engagement muss der Staat nach Kräften unterstützen, und zwar sowohl in organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht. Dazu gehört die Schaffung günstiger steuerlicher Rahmenbedingungen. Dieses Vorhaben der Großen Koalition, dieser Bundesregierung, ist ein Ausdruck der gestaltenden Finanzpolitik und ist eine Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. ({2}) Die anstehenden Probleme können und dürfen aber nicht vom Staat allein gelöst werden. Es ist gesellschaftspolitisch wünschenswert, dass Bürger in Ergänzung zum Staat Gemeinwohlaufgaben übernehmen ohne dadurch zum Lückenbüßer staatlicher Politik zu werden. Wir müssen also eigenbestimmte Handlungsformen und die Übernahme von Verantwortung fördern und unterstützen. Die Förderung des Gemeinwohls kann dabei nicht allein dem notwendigerweise gewinnorientierten Markt überlassen werden. Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie die Menschen bereit sind, sich in ihr zu engagieren. Die Gemeinschaft lebt von denen, die mitspielen, nicht von denen, die zuschauen. ({3}) Wir brauchen in der Gesellschaft nicht nur Zuschauer und Schiedsrichter, sondern auch aktive Mitspieler. So gehört es zur Erziehung zu Werten, zu Bildung für das Leben, dass schon junge Menschen zu Jugendarbeit, zu ehrenamtlichem Einsatz, zu Teilnahme am Vereinsleben ermutigt und unterstützt werden. Der Staat darf den, der sich für die Gemeinschaft einsetzt, nicht alleinlassen. Wenn sich jemand ins Private zurückzieht, ist dies seine Freiheit. Wer aber bereit ist, im Ehrenamt einen Beitrag für Staat und Gesellschaft zu leisten, dem muss die Gemeinschaft mit den notwendigen Rahmenbedingungen helfen. Bürger, die sich engagieren, benötigen einen rechtlichen Handlungsrahmen, der einfach und deswegen verständlich ist und sie nicht - etwa durch strenge Haftungsregeln - überfordert. Darüber müssen wir in den Ausschussberatungen intensiv reden. Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzeswerk auf dem richtigen Weg. Es ist gut, dass der Finanzminister das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates nicht zur Grundlage seiner Vorschläge gemacht hat. ({4}) Der Finanzminister hat mit diesem Entwurf vielmehr die in der Koalitionsvereinbarung festgelegten und von der Union immer als Leitlinien geforderten Positionen umgesetzt. Dies ist heute die erste Lesung. Wir werden in den Ausschüssen und bei einer Anhörung intensiv zu überlegen haben, wie wir das, was vorliegt, qualitativ weiterentwickeln können. Für uns ist es enorm wichtig, das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht zu entbürokratisieren. Vergessen wir nicht, dass auch und gerade breite Bereiche des kulturellen Lebens auf bürgerschaftlichem Engagement beruhen. Sowohl die geplante verbesserte steuerliche Absetzbarkeit dieses Engagements als auch die Erhöhung der Spendenabzugsfähigkeit auf 20 Prozent sind ein wichtiges Signal der Ermutigung an die Bürgerinnen und Bürger, sich zugunsten des Allgemeinwohls zu engagieren. ({5}) Die Zusammenführung von spendenbegünstigten und gemeinnützigen Zwecken aus der Abgabenordnung und der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung in diesem Katalog ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu weniger Bürokratie und hat unsere volle Unterstützung. Natürlich haben wir noch Diskussionsbedarf, vor allen Dingen im Hinblick darauf, dass die Zwecke abschließend aufgezählt werden sollten. Wir möchten die Kreativität der engagierten Bürgerinnen und Bürger nicht durch abschließende Regelungen bremsen. Sehr wertvoll und wohltuend war die bayerische Initiative „10 plus 10“. Auch die Beratungen des Bundesrates müssen wir mit heranziehen. ({6}) Das Gemeinnützigkeitsrecht in unser aller Sinne soll eine Einladung zum Mitmachen aussprechen und offen für neue Impulse aus der Mitte der Gesellschaft sein. Dieser Gesetzentwurf ist eine Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dies geht nur, indem wir - Frau Kollegin Hinz hat schon darauf hingewiesen auch finanzielle Mittel einsetzen. Natürlich steht für uns Haushaltskonsolidierung an erster Stelle des politischen Handelns. Die vorgesehenen rund 400 Millionen Euro sind für uns Leitlinie. Angesichts der allgemeinen Finanzsituation ist klar, dass wir nicht jeden Wunsch erfüllen können; denn natürlich gibt es viele Wünsche. Es ist unsere Aufgabe, die Verteilung dieser Summe von 400 Millionen Euro zu optimieren. Hierfür werden in dem Gesetzentwurf zahlreiche Ansatzpunkte gegeben. Wir als CDU/CSU werben für einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Kollege Wissing, vielleicht können Sie sich das auch in den weiteren Beratungen grundsätzlich noch einmal überlegen. Als ein gutes und richtiges Signal für die Menschen im Ehrenamt wollen wir auch hier in diesem Haus einen breiten Konsens. Im Ehrenamt der Bürger sehen wir einen tragenden Pfeiler des zukunftsfähigen Sozialstaates. Das kraftvolle kulturelle Leben und das ehrenamtliche Engagement vieler Menschen für Kultur, Tradition und Brauchtum dürfen natürlich genauso wenig fehlen wie der große umfassende Bereich des Ehrenamtes im Sport. Kollege Klaus Riegert wird für unsere Fraktion darauf eingehen. Auch die aktuellen Debatten über den Zusammenhalt der Gesellschaft und über das soziale Miteinander kommen hier zum Tragen. Viele Migranten bringen ihre Fähigkeiten in die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur, die Dienstleistungen, das Ehrenamt und den Sport ein. Auch dies sollten wir hier würdigen. Wir wollen das Stiftungsrecht weiterentwickeln, um die Errichtung von Stiftungen zu erleichtern und zusätzliche Anreize für Zuwendungen zu schaffen. Kollege von Stetten wird dazu etwas sagen. Wir müssen auch darüber reden, wie wir beim Gesetzgebungsverfahren die besonderen Belange der Kultur, der Medien, der Künstler und der Kulturschaffenden berücksichtigen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen generell verdeutlichen, dass ehrenamtliches Engagement weniger eine Belastung bedeutet, als vielmehr auch eine große Chance für jeden Einzelnen ist, Fähigkeiten zu entwickeln, Qualifikationen und soziale Kompetenz zu erwerben, Erfahrungen zu sammeln und damit Sinn und Lebensqualität zu gewinnen. ({7}) Man gibt also nicht nur etwas für die Gemeinschaft, sondern man bekommt von der Gemeinschaft auch etwas zurück. Unser Ziel ist es also, in den anstehenden Beratungen alles zu tun, um die aktive Bürgergesellschaft, die wir ja haben - das breite Miteinander der Menschen in diesem Land -, weiter zu stärken. Das sollten wir insgesamt in geschlossener Form tun. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die LINKE. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgerschaftliches Engagement ist die vielfältige Gestaltung der Zivilgesellschaft. Es umfasst auch die kritische Begleitung staatlichen Handelns. Ob im Mieterverein, bei der Stiftung Warentest oder in der politischen Meinungsfindung: Zur aktiven Bürgergesellschaft, wie Herr Oswald eben sagte, gehört auch die kritische Begleitung von Gesetzgebungsverfahren und politischen Großereignissen. Eine Überschrift in den Zeitungen heute lautet: Polizei schreckt G-8-Gegner mit Großrazzia. Ich glaube, das bedeutet alles andere als die Förderung bürgerschaftlichen Engagements. ({0}) Der Sprecher der Bundesstaatsanwaltschaft erklärte gestern im „heute-journal“ - ich zitiere sinngemäß -: Es ging nicht darum, terroristische Aktionen aufzudecken. ({1}) Dafür gab es keine Anhaltspunkte. Es ging darum, Überblick über die Strukturen der G-8-Gegner zu erhalten. Es ging also darum, das gesamte Spektrum der G-8Gegner zu kriminalisieren. Das lehnen wir ab. Der Staat muss die kritische Begleitung seines Handelns aushalten. Auch das ist Sinn und Zweck bürgerschaftlichen Engagements. ({2}) Es ist zu begrüßen, dass sich gerade junge Leute aufmachen und Gerechtigkeit nicht nur im eigenen Lande, sondern weltweit wollen. ({3}) Wir unterstützen und begrüßen die Initiative, die zeitgleich in Mecklenburg-Vorpommern läuft, nämlich eine Werbekampagne für friedliche Proteste, die von prominenten Persönlichkeiten in Zusammenarbeit mit der Polizei in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt wird. ({4}) Das ist ein Versuch, zu deeskalieren. Was Sie gestern getan haben, bedeutet aber pure Eskalation. Das lehnen wir ab. ({5}) Der gestrige Vorgang zeigt sehr drastisch, dass zwischen dem in Worten geäußerten Willen, was man an bürgerschaftlichem Engagement möchte, und dem Handeln vonseiten des Staates eine Kluft besteht. Engagement der Bürgerinnen und Bürger ist gut, solange es dem Staat nützt, am besten als Ersatz für fehlendes staatliches Engagement. Daran krankt auch Ihr Gesetzentwurf. Auch wenn wir einiges in Ihrem Gesetzentwurf unterstützen, ist festzustellen, dass vieles fehlt. Deshalb haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt. ({6}) Ihr Gesetzentwurf soll zwar laut seiner Überschrift zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements führen, ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt aber, dass es darin de facto nur um die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen geht. ({7}) Das ist eindeutig zu wenig. Bereits im Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages wird die weitere Schaffung von steuerlichen Anreizen als nicht sinnvoll bezeichnet - das können Sie auf Seite 10 nachlesen -: „weil die Schaffung weiterer steuerlicher Anreize keine angemessene und wirkungsvolle Förderung des bürgerschaftlichen Engagements darstellt.“ Ich verdeutliche Ihnen das gerne am Beispiel einiger Zahlen. 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik engagieren sich ehrenamtlich, 43 Prozent in Vereinen - vor allem Sportvereine -, Schulen, Kirchen, Freizeiteinrichtungen oder bei der Feuerwehr. 40 Prozent der Ehrenamtlichen sind erwerbstätig. 27 Prozent der Arbeitslosen, 37 Prozent der Menschen, die zu Hause sind, und 28 Prozent der Seniorinnen und Senioren engagieren sich ehrenamtlich. Es gibt 14 000 Stiftungen und - das ist besonders erfreulich - inzwischen 147 Bürgerstiftungen. Trotzdem liegen wir mit diesen Zahlen im europäischen Vergleich gerade noch im Mittelfeld. Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark - die Staaten, in denen ein starker Sozialstaat existiert und wirkt - weisen ein viel höheres bürgerschaftliches Engagement auf, (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Woher kommen die Zahlen? Die kennen wir nicht! - Ute Kumpf [SPD]: Ich glaube, damit liegen Sie ein bisschen daneben! weil die Bürgerinnen und Bürger dort wissen, dass sie nicht als Lückenbüßerinnen und Lückenbüßer für fehlendes staatliches Agieren missbraucht werden. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine individuelle Entscheidung. Es wird auch stimuliert durch Tradition, Werte, die Art und Weise der Organisation der Gesellschaft, Verteilung von Verantwortung und wirtschaftliche Entwicklungen. Die Motive des Einzelnen sind sehr verschieden. Man möchte die Gesellschaft im Kleinen mitgestalten, mit anderen Menschen zusammenkommen, Verantwortung übernehmen oder die eigene Kompetenz entwickeln. Finanzielle Gründe sind nicht vorrangig. Wir müssen aber auch feststellen, dass es keine Chancengleichheit mehr beim Zugang zum bürgerschaftlichen Engagement gibt. Viele Bürgerinnen und Bürger können sich nicht mehr ehrenamtlich engagieren, ({8}) unter anderem deshalb, weil ihnen die finanzielle Ausstattung fehlt. Für viele ist vielleicht schon der Fahrschein für die Straßenbahn unerschwinglich, um zu einer Veranstaltung zu fahren. ({9}) Insofern muss man das Thema wesentlich breiter angehen. Bei einer vorrangig steuerlichen Förderung bürgerschaftlichen Engagements tauchen verteilungspolitische Risiken auf. Durch steuerliche Vergünstigungen für Stiftungen können öffentliche Güter unter den Einfluss von Individual- und Partikularinteressen geraten. Ich möchte Ihnen die Probleme auch am Beispiel der Stiftungen deutlich machen. Stiftungen werden jetzt wesentlich besser steuerlich gefördert. Das ist gut. In Leipzig gibt es ein wunderschönes Bildermuseum, und es gibt auch eine inzwischen weltbekannte Leipziger Malerschule. Ein Bild von Neo Rauch kostet derzeit etwa 350 000 Euro. Raten Sie mal, wie hoch der Etat des Bildermuseums zu Leipzig für den Neuerwerb ist! Es sind weder 50 000 noch 100 000 Euro, sondern 7 000 Euro. Davon kann man allenfalls ein gutes Farbbild kaufen. Dass der Etat so niedrig ist, liegt daran, dass die öffentlichen Einnahmen zurückgehen. ({10}) Die schon erwähnte Beilage der „Financial Times Deutschland“ bietet einen wunderbaren Ansatz: Viele Stifter lösen mit der Gründung einer Stiftung ihr ganz besonderes Finanzproblem. Wer nach einem erfolgreichen Berufs- oder Unternehmerleben so viel Geld hat, dass weder er selbst noch seine Erben es jemals ausgeben können, bringt einfach einen Teil seines Vermögens in eine Stiftung ein. ({11}) Ich finde es gut, wenn sich Menschen engagieren und auch im Kulturbereich sozusagen immer den Sahneklecks bieten. ({12}) Aber es kann nicht sein, dass das ehrenamtliche, unentgeltliche Engagement Einzelner staatliches Handeln ersetzt. Wir haben große Möglichkeiten, zum Beispiel die Erbschaftsteuer so zu gestalten, dass vielleicht auch das Bildermuseum zu Leipzig wieder mehr Geld hat, um selber Bilder zu kaufen. Wir sind dafür, bei der Übungsleiterpauschale noch einmal nachzubessern. Wir halten es zudem für überlegenswert, die Abgabenordnung zu vereinfachen - das würden wir sehr begrüßen - und einen absoluten Höchstbetrag für die Abzugsfähigkeit von Spenden einzuführen. Es gibt also Beratungsbedarf. Ihr Gesetzentwurf ist insgesamt zu einseitig und erfasst die vielfältigen Probleme nicht. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorab zu den Eingangsworten von Frau Dr. Höll sagen: Auch wir machen uns Sorgen darüber, was alles im Vorfeld des G-8-Gipfels geschieht. Aber ich halte es für falsch, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu diskutieren. ({0}) Unsere Zivilgesellschaft lebt wesentlich vom bürgerschaftlichen Engagement. Man muss klar sagen, dass jedem und jeder, der bzw. die sich in unserer Gesellschaft für unsere Gesellschaft engagiert, großer Dank gebührt. Bürgerschaftliches Engagement ist - das wissen wir alle die Hefe für zivilgesellschaftliches Handeln. Bürgerschaftliches Engagement ist ein aktiver Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft. Es ist nicht zu unterschätzen und unbezahlbar. Frau Kollegin Petra Hinz hat bereits auf die 2,4 Milliarden Arbeitsstunden jährlich im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements hingewiesen. Die Bürger sind vermehrt unentgeltlich aktiv. Das ist sehr gut und muss eine verstärkte Anerkennung durch unsere Gesellschaft erfahren, auch unter steuerlichen Gesichtspunkten und nicht nur durch das Anstecken einer Ehrennadel ans Revers. ({1}) Alle neuen steuerlichen Regelungen sind verstärkte Anreize, kontinuierlich bürgerschaftliches Engagement für gemeinnützige Zwecke zu leisten. Sie können den menschlichen Impuls natürlich nicht ersetzen, sondern nur unterstützen. Aber wir müssen mit denjenigen gerecht und fair umgehen, die dieses Engagement leisten. Die Bundesregierung hat nun zehn steuerliche Maßnahmen vorgeschlagen. Die entscheidenden Fragen sind: Sind die Maßnahmen gut begründet? Sind sie in der Abgrenzung wirklich richtig? Bringen sie eine Stärkung des Engagements in allen Zweigen der Zivilgesellschaft? Wenn wir uns die Briefe, die wir alle von ehrenamtlich tätigen Menschen bekommen, genau anschauen, dann stellen wir fest, dass es viele gibt, die sich durch den Gesetzentwurf nicht berücksichtigt fühlen. Wenn ich mir die Anträge, die vonseiten der Bundesländer im Bundesrat kommen, und den Beschluss des Bundesrates anschaue, sehe ich, dass der heute diskutierte Gesetzentwurf von Finanzminister Steinbrück und der Bundesregierung und der Beschluss des Bundesrates noch weit auseinanderliegen. Ich hoffe, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung das Parlament mit erheblichen Änderungen verlassen wird. Wir, die Grünen, wollen ebenso wie der Bundesrat, dass der Katalog der förderungswürdigen Zwecke für bürgerschaftliches Engagement im Gesetz nicht abschließend geregelt wird, sondern dass neue, zukünftige Aufgaben ausdrücklich zugelassen werden. Es ist begrüßenswert, dass als gesonderter Zweck die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements im Gesetzentwurf aufgeführt wird. ({2}) Es ist aber falsch, dass in der Begründung eine Erweiterung gemeinnütziger Zwecke für bürgerschaftliches Engagement ausgeschlossen wird. Was soll eine solche Kosmetik im Gesetz? Placebos verhelfen nicht zu einem verstärkten Einsatz. Darüber müssen wir im Ausschuss noch diskutieren. ({3}) Wir brauchen einen offenen Katalog. Wir wollen kein starres Korsett. Welchen Grund gibt es für die Bundesregierung eigentlich, dass die Übungsleiterpauschale nicht auf Aktivitäten der Umwelt- und Naturschutzverbände ausgeweitet wird? Aktivitäten im Bereich des Vogelschutzes, beispielsweise Brutplätze sichern, und vieles andere, was von der Umweltschutzbewegung, dem BUND und anderen, geleistet wird, sind Aktivitäten, die gemeinnützig sind, aber nicht pädagogisch im Sinne der Übungsleiterpauschale. Wir meinen schon, dass aktiver Umweltschutz nicht ausgeschlossen werden sollte. Wie wir damit umgehen, darüber werden wir auch noch zu diskutieren haben. ({4}) Vergleichbares gilt auch für Helfer in der Gefahrenabwehr, etwa Sanitäter und Rettungsschwimmer. Auch in diesem Fall ist zu fragen, warum bestimmte Tätigkeiten nicht einbezogen und berücksichtigt werden. Ich denke, wir schulden der Gesellschaft hierauf eine Antwort, und hoffe, dass es auch hier zu Veränderungen kommt. Zur Stiftungskultur in Deutschland muss ich an die FDP gewandt einmal sagen: Es war die rot-grüne Bundesregierung - mit starker Unterstützung der grünen Vizepräsidentin Antje Vollmer -, die dafür gesorgt hat, dass wir bei der Stiftungskultur einen Riesenschritt vorangekommen sind. Es war nicht die FDP während ihrer 29-jährigen Regierungszeit hier im Haus. ({5}) Selbstverständlich muss über den Höchstbetrag des Stiftungskapitals diskutiert werden. Wir würden uns einen Höchstbetrag von 1 Million Euro für die Ausstattung von Stiftungen mit Kapital wünschen, wie es auch der Bundesrat fordert. ({6}) Wir sehen schon, dass die Stiftungskultur in Bewegung ist. Wir wollen sie gesellschaftspolitisch insgesamt stärken. Dafür brauchen wir klare Signale, die in dem Gesetzentwurf verankert werden sollten. Wir wollen, dass bestimmte Ansätze im Zusammenhang mit dem angehobenen pauschalen Spendenabzug noch einmal angesprochen werden. Denn es ist nicht einzusehen, dass wir unentgeltlich ehrenamtlich Tätige im Bereich der Betreuung alter, kranker und behinderter Menschen unterstützen - was völlig richtig ist -, aber andere unentgeltliche ehrenamtliche Tätigkeiten im Bereich der Jugendhilfe und des Sports - den Naturschutz habe ich angesprochen - oder der Kultur nicht unterstützt werden. Es muss noch einmal überlegt werden, wie wir hier weiterkommen. Ich denke, es ist eine ganz vernünftige Vorlage. Sie ist ausbaufähig. Aber sie muss verbessert werden und sie muss auch stärker den Realitäten und den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft angepasst werden. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Bundesminister Peer Steinbrück. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) - Dann sind Sie alle offenbar etwas früher aufgestanden als ich. ({1}) Als ich ein bisschen zugehört habe, habe ich mir die Frage gestellt: Warum ist es eigentlich so schwer, zu einem Thema wie der Förderung des Ehrenamtes eine Oppositionsrede zu halten, die nicht so verkrampft und so ritualisiert ist wie die, die wir von Herrn Wissing gehört haben? ({2}) Hier stellt sich jemand hin und sagt, es sei ein armseliger Gesetzentwurf. Man muss sich einmal vorstellen, was das für eine absolute Verzeichnung dessen ist, was wir hier vorgelegt haben. ({3}) Ich will jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, dass Ihre Rede armselig gewesen ist. Das ist aber das Adjektiv, das Sie dafür verwendet haben. Man kann hinsichtlich Ihrer Bewertung allerdings schlicht und einfach sagen: Ich konfrontiere Sie mit dem Echo, das ich von den ehrenamtlich Tätigen und den Verbänden selbst bekommen habe. Dann ist diese Oppositionsrede schlicht und einfach irrelevant. ({4}) Natürlich sagen die meisten, mit denen ich spreche - glauben Sie mir, es sind sehr viele -, und auch die einschlägigen Verbände, dass es eine ganz bemerkenswerte Initiative ist, um das Ehrenamt in Deutschland zu stärken. ({5}) Wenn es Ihr erster Satz gewesen wäre, dass Sie als Oppositionspolitiker diese Einschätzung der Verbände teilen - was durchaus ein ziemliches Ausmaß an Souveränität zum Ausdruck gebracht hätte -, und Sie wären dann auf Detailpunkte gekommen, dann wäre das eine Oppositionsrede gewesen, die mich hätte neugierig machen können. ({6}) - Ja, Frau Scheel hat das schon sehr viel besser gemacht. ({7}) Aber dass Frau Höll es schafft, in sieben Minuten die Erbschaftsteuer, das G-8-Treffen, das deutsche Demonstrationsrecht und die öffentliche Einnahmesituation zum Thema Ehrenamt zusammenzufassen, ist schon eine bemerkenswerte Leistung. ({8}) Worum geht es? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihre Erfahrung mit der fantastischen Bandbreite des Ehrenamtes in Deutschland identisch ist mit meiner. Das beginnt bei den Kirchen, geht über große Stiftungen, über kleine Bürgerstiftungen, über Wohlfahrtsverbände, über Ehrenamtsbörsen, über Seniorencomputerklubs - die besten Hacker dieser Republik habe ich unter Senioren gefunden, die sich gegenseitig Computerunterricht geben -, Elternvereine, Schulen, Kindergärten, Feuerwehren, Heimatvereine, Hospizbewegungen - auch die will ich nicht außen vor lassen -, Obdachlosen- und Stadtteilinitiativen bis hin zu Tafelvereinen und Eine-Welt-Gruppen. Das ist eine Vielfalt, die wirklich fantastisch ist. Richtig ist, dass sich viele Menschen in diesem Ehrenamt engagieren. Es sind 23 Millionen Menschen. Frau Hinz hat darauf hingewiesen. Ich vermute, dass es dabei eine Reihe von Doppelzählungen gibt; aber das ändert nichts daran, dass das Ehrenamt eine Erscheinung in unserer Gesellschaft ist, die wir dringend brauchen und die große Anerkennung verdient. ({9}) So verschieden die Ehrenämter auch sind - ich selber habe unmittelbare Erfahrung sammeln dürfen, als ich in einer früheren Funktion regelmäßig über zwei, manchmal drei Tage solche Ehrenamtstouren gemacht habe -, so verschieden sind diejenigen in Bezug auf das Alter, den Beruf und die soziale Herkunft, die sie ausüben. Ich warne davor, sich das Vorurteil zu eigen zu machen, dass es vornehmlich ältere Menschen sind, die sich ehrenamtlich engagieren. Es sind auch sehr viele jüngere darunter, die nur auf eine andere Art und Weise, manchmal zeitlich begrenzt, ehrenamtlich arbeiten. Das Ziel, das diese Mensche alle gemeinsam haben, ist, sich für unsere Gesellschaft einzusetzen, und zwar sehr häufig an den Stellen, wo diese Gesellschaft schwach ist. Sie handeln bewusst oder auch unbewusst ganz nach einem alten Satz von Hermann Gmeiner, der lautet: „Alles Gute auf dieser Welt geschieht nur, wenn einer mehr tut, als er tun muss.“ ({10}) Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist von diesem Engagement wesentlich abhängig. Will sagen: Würden diese Menschen nicht mehr tun, als sie tun müssen, würden sie nur, wenn man so will, ihr persönliches Pflichtenheft abarbeiten oder ihren legitimen materiellen Interessen nachgehen, würden sie nicht Zeit, Kraft und manchmal auch Nerven in diese ehrenamtliche Tätigkeit investieren, wäre unsere Gesellschaft nach meiner Auffassung nicht nur ärmer, sondern sie würde nicht funktionieren. ({11}) Der Zusammenhalt dieser Gesellschaft wäre dann massiv gefährdet. In meinen Augen sind es insbesondere diese Menschen, die erwähnt werden müssen. Mir ist an dem Hinweis sehr gelegen, dass es nicht zum Beispiel fremdbestimmte junge Leute in Fernsehcastingshows sind, die als die Superstars - wie mein Sohn sagen würde - „hochsterilisiert“ werden, ({12}) wobei man sich wundert, welche Eintagsfliegen in den Medien zu solchen Superstars und teilweise absolut verzogenen Vorbildern hochstilisiert werden. Das bleibt ein Geheimnis medialer Inszenierung. Die wahren Helden des Alltags sind - ohne Pathos - die sich in Deutschland ehrenamtlich engagierenden Bürgerinnen und Bürger. ({13}) Ich will nicht missverstanden werden. Es geht mir nicht darum, dieses Engagement in irgendeiner Form zu idealisieren oder mich gar über einen billigen Reparaturbetrieb für einen in Teilen nicht mehr handlungsfähigen Staat zu freuen. Eine solche Sichtweise auf das ehrenamtliche Engagement in Deutschland wäre grundfalsch. Denn zum einen ist eine vitale Bürgergesellschaft viel mehr: Sie ist auch ein Ausdruck von Freiheit und auch einer von staatlichen Fürsorgeorganisationen unabhängigen Solidarität, was von einer erheblichen Bedeutung ist. Zum anderen müssen wir gerade in der heutigen Zeit auch für einen, wie ich glaube, handlungsfähigen Staat sorgen, der nicht die Hand dafür reicht, dass das Hauptamt durch das Ehrenamt ersetzt wird, was sich die ehrenamtlich engagierten Bürger auch verbitten würden. ({14}) Ich bin bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs in der glücklichen Lage gewesen, dass wir hinsichtlich der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf sehr weitreichende Vorarbeiten und einige wichtige Erfolge engagierter Mitglieder insbesondere aus den beiden Regierungsfraktionen aufbauen konnten. Bei Ihrer Rede, Herr Wissing, hatte ich manchmal den Eindruck, dass Sie sich insbesondere so über diesen Gesetzentwurf ausgelassen haben, wie Sie es getan haben, weil Sie ihn nicht mit erfunden haben und auch nie eine richtige Zuarbeit dazu geleistet haben. ({15}) Denjenigen, die bei dieser Entwicklung sehr behilflich waren, möchte ich herzlich danken. Ich möchte niemanden zurücksetzen, aber ich will insbesondere Michael Bürsch, Klaus Riegert und Ute Kumpf für ihren unermüdlichen Einsatz danken, auch für den kritischen Dialog, den wir gehabt haben, ({16}) der es mir relativ leicht gemacht hat - das Stichwort ist schon gefallen -, seinerzeit Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesfinanzministerium - Sie erinnern sich an die Aufregung im August letzten Jahres sehr schnell abzuwehren. Ich weiß, dass es das eine oder andere Missverständnis gegeben hat; aber ein Bundesfinanzminister ist gelegentlich auch in der Lage, sich wissenschaftliche Empfehlungen nicht zu eigen zu machen. ({17}) Mit diesem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements löst die Koalitionsfraktion übrigens eine wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein; Herr Riegert, Sie wissen das. Mit unseren Hilfen unterstützen und fördern wir in großem Ausmaß das bürgerschaftliche Engagement auf Bundes- und auf Landesebene entweder über Steuernachlässe oder durch andere Vorzüge, und das in einem Umfang von 440 Millionen Euro. Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass sich jene, die sich ehrenamtlich engagieren, voll darauf konzentrieren können und sich nicht mit einer unnötigen Bürokratie abplagen müssen. Ihre Hinweise, Herr Wissing, auf all das, was in diesem Gesetzentwurf steht, sind von Ignoranz gekennzeichnet. Ich wäre für eine faire Bewertung dankbar. Gleichzeitig wollen wir das Stiftungswesen in Deutschland stärken. Ich selbst empfinde es ebenfalls als einen Glücksfall, dass wir in Deutschland ziemlich genau seit der Reform des Stiftungsrechts unter der rotgrünen Koalition, seit 2002, einen wahren Boom bei den Stiftungsgründungen haben. Auch das darf Anerkennung finden. ({18}) Im Vergleich zu den 80er-Jahren hat sich 2006 die Zahl der jährlich neu gegründeten Stiftungen um rund 900 erhöht. Insgesamt gibt es in Deutschland inzwischen - ich glaube, Frau Scheel hat darauf hingewiesen ({19}) 14 400 Stiftungen des bürgerlichen Rechts plus die sehr zahlreichen, unselbstständigen Stiftungen, Stiftungsvereine und Stiftungsgesellschaften, die ich bei dieser Gelegenheit nicht ungewürdigt lassen möchte. Wir haben es also zunehmend mit einer gewissen Stiftungskultur in Deutschland zu tun. Dies wird durch das, was wir hier tun, weiter unterstützt. Von mir aus mag das aus mancher Perspektive unzureichend sein; aber es wird unterstützt. Es mag erstrebenswert sein, einen Standard an Stiftungsaktivitäten wie im angloamerikanischen Bereich, insbesondere in den USA, zu erreichen. Die Situation bei uns hat sich jedenfalls deutlich verbessert. Es ist kein Geheimnis - ich weiß das -: Zwischen den Fraktionen gibt es in einigen Punkten noch unterschiedliche Meinungen, auch über die wichtigen Initiativen im Rahmen dieses Gesetzentwurfs. ({20}) Ich nenne beispielhaft nur die sogenannte 300-Euro-Regelung, die wir auf das ehrenamtliche Engagement für ältere und behinderte Menschen begrenzen wollen. Es geht also um den Begriff der Mildtätigkeit im engeren Sinne; auch Sie haben das indirekt angesprochen. Der Grund für diese Begrenzung ist ganz einfach - das sage ich an Frau Scheel und andere gerichtet -: Eine Ausweitung ist schlicht und einfach nicht mehr bezahlbar. ({21}) Wenn wir eine solche Begrenzung nicht einführen, dann wird das Ganze absolut uferlos und man landet bei Milliardenbeträgen. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Exklusion mancher - sie werden auf anderen Wegen doch mit gefördert, insbesondere im Bereich des Sports - nicht zu rechtfertigen ist, dann sollte man nach meinem Eindruck eher auf das ganze Vorhaben verzichten. Das wäre besser, als diese Regelung in unbestimmtem Maße auszuweiten, was von den Ländern und vom Bund in der Tat nicht mehr bezahlt werden könnte. ({22}) Ich will sagen: Ich habe Verständnis für entsprechende Änderungswünsche aus den Regierungsfraktionen, die im parlamentarischen Verfahren behandelt werden. Mir selber ist an zwei Punkten gelegen - ich bitte um Verständnis -: Erstens. Die festgelegte Obergrenze von 440 Millionen Euro - diese Mittel werden von Bund und Ländern paritätisch aufgebracht - wird nicht überschritten. Zweitens. Dieser Gesetzentwurf wird ohne schuldhaftes Zögern noch vor der Sommerpause verabschiedet. ({23}) Dies wäre ein wichtiges Signal für die ehrenamtlich engagierten Menschen. Es ist vielleicht etwas merkwürdig, dass das Bundesfinanzministerium eine solche Initiative startet. Dass mein Ministerium so vorgeht, hängt damit zusammen, dass ich gerne auch auf diesem Wege mein Verständnis einer gestaltenden Finanzpolitik unterstreichen möchte. ({24}) Der Finanzminister ist nicht nur für eine solide Haushaltspolitik verantwortlich - das ist er auch, gerade in diesen Zeiten mit wachsenden Begehrlichkeiten -, sondern auch dafür - das war immer mein Verständnis -, dass das Finanzministerium in der Lage ist, Impulse für Wachstum und Beschäftigung und darüber hinaus zur Förderung der Zivilgesellschaft, die eine erhebliche Bedeutung hat, zu geben. ({25}) Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist eine sehr gute Verfassung. Auch unsere Landesverfassungen sind sehr gut. Aber die nicht geschriebene Verfassung dieses Landes, der Zustand dieser Gesellschaft, wird maßgeblich von Menschen geprägt, die sich ehrenamtlich engagieren. ({26}) Aus diesem Grunde wollen wir sie mit unserer Initiative stärken. Unser Gesetzentwurf ist vielleicht nicht perfekt, aber er ist ein sehr wichtiger Schritt, der von allen Beteiligten begrüßt wird und der es ermöglicht, dieser Wertschätzung und diesem Dank konkrete Taten folgen zu lassen. Das ist der Kern dieses Gesetzentwurfes. Herzlichen Dank. ({27})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Steinbrück, Ihren Guten-MorgenGruß kann ich so nicht erwidern, ({0}) auch wenn Sie sich ausführlich mit der FDP-Fraktion befasst haben. Mittlerweile ist es nämlich Highnoon, und ich meine, es ist höchste Zeit für die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. ({1}) Für die FDP ist die Stärkung der Zivilgesellschaft eine zentrale Aufgabe. ({2}) - Ich danke für Ihre Zustimmung. - Unser Ziel ist, Freiräume für Bürger zu schaffen, die ohne staatliche Bevormundung handeln und sich frei entfalten wollen. Staat, Markt und Zivilgesellschaft sollen als gleichrangige Akteure nebeneinanderstehen. Die rund 1 Million Organisationen, in denen sich mehr als 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger freiwillig engagieren, braucht klare Rahmenbedingungen. Es genügt nicht, nur neue Steuervorteile zu schaffen. Erforderlich ist eine grundlegende und systematische Bearbeitung des Gemeinnützigkeitsrechts. Die FDP will weg vom gewährenden und hin zum ermöglichenden Staat. ({3}) Für die FDP ist die lebendige Zivilgesellschaft die Klammer unseres Gemeinwesens. ({4}) Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements durch Finanz- oder Sachmittel ist im Handlungsradius von Ländern und Kommunen verankert und muss daher vor Ort diskutiert und festgelegt werden. In den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen neben der Schaffung der steuerlichen Rahmenbedingungen vor allem die Durchführung von Projekten und Modellprogrammen sowie die Freiwilligendienste, die ein gutes Beispiel für ausbaufähiges, freiwilliges Engagement darstellen. Wenn sich die verschiedenen Ministerien einig wären, wer Freiwilligenprogramme auflegt und Freiwilligendienste entwickelt, dann wären wir auch unter systematischen Gesichtspunkten bereits ein gutes Stück weiter. ({5}) Ich erinnere nur an die Differenz zwischen dem Bundesfamilienministerium und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Unsere Aufgabe als Bundespolitiker ist es, die öffentliche Diskussion und damit das Ansehen der bürgerschaftlich Engagierten und ihrer wichtigen Arbeit zu erhöhen. Bürgerschaftliches Engagement fördert nicht nur das soziale Kapital unserer Gesellschaft, sondern es ist auch ein Weg zur Selbstverwirklichung und Mitgestaltung, allerdings nicht - wie im Antrag der Linken formuliert - als Lückenbüßer für den Sozialstaat, sondern als ein Bereich mit eigener Qualität. ({6}) Die Förderung des Bürgerengagements lässt sich besonders gut in den Niederlanden beobachten. Die Freiwilligenarbeit gehört dort zum Alltag. Auf ein Jahr hochgerechnet schaffen die, die in ihrer Freizeit für an9842 dere da sind, einen Wert in Höhe von 14 Milliarden Euro. Ohne die Erfahrung der wirtschaftlichen Krise in den 80er-Jahren wäre dieses Engagement in den Niederlanden, was sein Ausmaß und die professionalisierte Vermittlung angeht, kaum denkbar. Damals haben Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vereinbart, die Staatsausgaben zu verringern und das Eigenengagement zu stärken. Ich meine, das ist eine Entwicklung, die wir auch in Deutschland brauchen. ({7}) Die Niederlande halten am Ziel fest, Geld investiv und damit gesellschaftlich nutzbringend zur Stärkung der Zivilgesellschaft auszugeben. Ein quantitativer und qualitativer Ausbau der Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements in den Ländern und Kommunen ist auch in Deutschland nötig. Ich erinnere an ein Beispiel, das in meiner Heimatstadt Schule gemacht hat. Dort wurde die Seniorenarbeit auf kommunaler Ebene bürgerschaftlich organisiert und innerhalb der Stadt gestaltet. So könnte die Seniorenarbeit in ganz Deutschland organisiert werden. Das gilt auch für die Integrationsarbeit, ein Thema, das uns gegenwärtig an anderer Stelle intensiv beschäftigt. Das grundlegend positive Vorhaben der Bundesregierung wird allerdings noch in vielen Detailfragen zu klären sein. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die Bundesregierung Erkenntnisse, welche durch die Expertenanhörung erbracht werden, noch in das Gesetz einfließen lässt. Die FDP nimmt beispielsweise die Hinweise des Deutschen Kulturrates zum vorliegenden Entwurf sehr ernst. Als sehr problematisch erachtet der Kulturrat, Spitzenverband der Bundeskulturverbände, dass die Bundesregierung dem Vorschlag des Bundesrates folgen will, die gemeinnützigen Zwecke im Bereich Kunst und Kultur enger zu führen. Sollte die Definition des Bundesrats Gesetzeskraft erlangen, könnten gemeinwohl- und nicht gewinnorientierte Kulturvereine, die nicht unter diese Definition fallen, nicht mehr als gemeinnützig anerkannt werden. ({8}) Dies ist im weiteren Verfahren sehr genau zu hinterfragen, Herr Minister, und gegebenenfalls auch zu ändern. ({9}) Für sehr problematisch halte ich die neue abschließende Aufzählung der gemeinnützigen Zwecke. Die FDP fordert die Prüfung eines Bestandsschutzes für Vereine, die bei Verabschiedung des Gesetzes als gemeinnützig anerkannt sind. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluss den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zitieren, der anschaulich beschreibt, warum es sich lohnt, das Steuer- und Spendenrecht zu überarbeiten: Stiften und Spenden wirken wie eine freiwillige Selbstbesteuerung. Der Staat mobilisiert durch Steueranreize mehr privates Kapital für gemeinnützige Zwecke, als er selbst durch Steuern erheben könnte. Was dem Staat an Steuern entgeht, fließt nach unseren Berechnungen in drei- bis sechsfacher Höhe in den gemeinnützigen Sektor und kommt der Gesellschaft ohne Umwege zugute. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian von Stetten von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei allen Sparmaßnahmen, die die Große Koalition aufgrund der notwendigen Haushaltssanierung in die Wege geleitet hat, haben wir immer betont, dass es neben den Familien eine Bevölkerungsgruppe gibt, die wir in Zukunft nicht nur weiter fördern wollen, sondern zu deren Unterstützung wir in Zukunft noch weiteres Geld in die Hand nehmen wollen. Das ist die große Gruppe der ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürger, der mildtätigen, sozialen und gemeinnützigen Vereine und Stiftungen. Dass eine Anpassung der Freibeträge im Steuerrecht dringend notwendig ist, das merken Sie auch daran, dass bei den gemeinnützigen Vereinen die Buchführungspflichtgrenze in Höhe von 30 678 Euro letztmalig am 9. November 1989 angepasst worden ist. ({0}) Das ist, wie Sie wissen, aus einem anderen Grund ein bedeutsames Datum für unser Vaterland. Nach der Abstimmung zum Vereinsförderungsgesetz wurde die Plenarsitzung im Deutschen Bundestag in Bonn - damals im Wasserwerk - unterbrochen, weil sich in Berlin die Mauer öffnete. Sie sehen also, es ist höchste Zeit, dass wir uns mit dem Thema wieder beschäftigen. Die kulturelle und die soziale Bedeutung der Vereine ist in den letzten Jahren noch einmal stark gestiegen. Wer sich in funktionierenden Vereinen aufhält, der spürt die Wärme, ja fast schon familiäre Atmosphäre, die in unseren Vereinen herrscht. Wir merken immer mehr: Die Vereine sind in vielen Fällen schon fast eine Art Familienersatz geworden und leisten einen enormen Beitrag insbesondere zur Integration ausländischer Jugendlicher. ({1}) Die Übungsleiter in unseren Sportvereinen sind längst mehr als nur „Vorturner“. Sie kümmern sich immer mehr auch um die persönlichen Probleme der ihnen anvertrauten Jugendlichen. Viele Kinder erfahren im Verein erstmalig, wie wichtig Pünktlichkeit, Fairness und Kameradschaft sind. Deshalb werden wir, wie angekündigt, die Übungsleiterpauschale anheben. Wir werden auch schauen, inwieweit wir andere Personenkreise einbezieChristian Freiherr von Stetten hen können. Zusätzlich erhalten die Vereine bessere Rahmenbedingungen. So haben wir es übrigens auch bei den Stiftungen vor. Wir brauchen in Deutschland eine neue Stifterkultur. Sie ist vorhin schon für die USA und andere angelsächsische Länder angesprochen worden. Wir unterstützen Unternehmen und Privatpersonen, wenn sie mit gemeinnützigen Stiftungen unser soziales und kulturelles Leben bereichern wollen. ({2}) Das ist übrigens der Unterschied, Frau Dr. Höll, zur Linksfraktion. Wer Ihre Rede genau verfolgt hat und wer vor allem Ihren Antrag genau gelesen hat, in dem Sie sich zu den Stiftungen äußern, der merkt: Das Gesellschaftsbild der Linken ist völlig verklärt. Sie verweigern sich ja nicht nur einer Besserstellung der Stiftungen heute, sondern Sie kritisieren in Ihrem Antrag - Sie gucken so ungläubig; lesen Sie Ihren Antrag! - sogar das heute gängige Verfahren der Unterstützung kultureller und sozialer Stifter in unserem Land. Sie haben ein Gesellschaftsbild, gemäß dem der Staat seinen Bürgern so viele Steuern wie möglich abnimmt und dann selbst entscheidet, was gut ist und was mit dem Geld gemacht wird. Wir dagegen wollen, dass nur die Rahmenbedingungen für die Stiftungen definiert werden, also nur festgelegt wird, was grundsätzlich förderungswürdig ist. Damit haben die Bürger die Freiheit, selber zu entscheiden, für welche Projekte sie ihr Vermögen einsetzen wollen. Das ist der Unterschied zwischen Ihrem und unserem Modell. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege von Stetten, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Barbara Höll?

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das mache ich gerne, auch wenn die Linksfraktion gleich als nächste das Wort hat. Bitte schön.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich natürlich, dass Sie unseren Antrag sehr gründlich gelesen haben. Wir haben ihn ja geschrieben, um ihn in die Debatte einzubringen. Ich glaube aber, Sie haben ihn nicht ganz richtig gelesen. Wir kritisieren nicht die Stiftungen an sich, sondern wir machen auf das verteilungspolitische Problem aufmerksam, dass durch die steuerliche Begünstigung von Stiftungen dem Gemeinwesen Steuergeld verloren geht. Das heißt, es findet auf dieser Seite eine Schwächung statt. Andererseits wird die Position des Stifters gestärkt, der als Individuum entscheiden kann, was er finanziert. ({0}) Ich glaube, wir dürfen keine Schieflage zulassen. Wir müssen für ein ausgewogenes Verhältnis sorgen. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, noch einmal richtig nachzulesen. Wir sind nicht gegen Stiftungen und Stifter. Wir sind dafür - ({1}) - Können Sie die Auffassung teilen - eine Frage -, dass mit den Stiftungen sowohl der Zweck verfolgt wird, Steuern zu sparen, als auch der Zweck verfolgt wird, Gutes zu tun

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höll, Sie sollen eine kurze Frage stellen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- das ist mein letzter Satz -, und der Zweck verfolgt wird, auf Kosten der Steuerzahler das Auskommen von Nachkommen sicherzustellen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Gelegenheit kann ich nutzen, um auf die Geschäftsordnung hinzuweisen: Die Fragen sollen kurz und präzise sein, die Antworten ebenfalls. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe zwar die Frage nicht ganz verstanden, ({0}) aber damit alle wissen, was in Ihrem Antrag steht, möchte ich nur zwei Sätze vorlesen. Nachdem Sie im Vorspann erklären, dass Stiftungen besonders unterstützt werden und auch in der Vergangenheit schon unterstützt wurden, schreiben Sie weiter: gerade vor dem Hintergrund … öffentlicher Mittel Verteilungsrisiken - ({1}) - Sie erzählen uns, dass öffentliche Mittel gekürzt werden, weil wir Stiftungen fördern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Hier kann kein Zwiegespräch stattfinden. ({0}) Sie haben eine Frage gestellt.

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, nur ein Satz: Diese liegen vor allem darin, - 9844

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr von Stetten, ich leite hier die Versammlung. Richten Sie sich bitte danach. ({0}) Eine Frage ist gestellt worden. Ich bitte jetzt um eine kurze, präzise Antwort. Dann ist das Zwiegespräch beendet. ({1})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gleichzeitig liegt die Verwendung der auf diese Weise bereitgestellten Mittel im Ermessen des Stifters bzw. der Stiftungsgemeinschaft. Damit sind diese Mittel einem demokratischen und parlamentarischen Entscheidungsprozess entzogen. Öffentliche Güter gelangen damit unter den Einfluss von Individualinteressen. ({0}) Das ist Ihre Bemerkung zu dem Thema, dass wir die Stifter in Zukunft besser fördern wollen. Daran wird der große gesellschaftliche Unterschied zwischen Ihrer Ideologie, gemäß der mehr Staat gefordert wird, und unserem Anliegen, die Stifter zu fördern, deutlich. - Ich bin mit meiner Beantwortung fertig, Herr Präsident. ({1}) Meine Damen und Herren, wir halten an unserer Forderung fest, bei der Kapitalausstattung der Stiftungen die steuerfreie Höchstgrenze von heute 307 000 Euro nicht nur, wie vom Bundesfinanzminister vorgesehen, auf 750 000 Euro, sondern auf 1 Million Euro heraufzusetzen. Dass dies im Einklang mit einer Forderung der Grünen steht, ist besonders erfreulich, weil wir so gemeinsam bei einer wichtigen Thematik an einem Strang ziehen. Gleichzeitig ist uns noch wichtig, den Zusatzhöchstbetrag von 20 450 Euro beizubehalten. Wir halten dies trotz der Kritik der Linken für eine sehr wichtige Maßnahme. Wie Sie aus den Ausführungen meines Kollegen Oswald entnehmen konnten, haben wir zu verschiedenen anderen Punkten weiteren Änderungsbedarf beim Minister angemeldet. Für die nun anstehenden Beratungen in den Ausschüssen sollten wir uns ausreichend Zeit nehmen, um mit den Betroffenen über die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen diskutieren zu können. Denn wir wollen nicht nur steuerlich etwas verbessern, sondern bei dieser Gelegenheit auch gleich die Haftung der ehrenamtlich Tätigen ansprechen und beim Bürokratieabbau weiter vorankommen. Wichtig ist für die Betroffenen, dass das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar 2007 in Kraft treten soll. Da aber die Steuererklärungen für das Jahr 2007 in der Regel erst im Jahr 2008 erstellt werden, dürfte das kein Problem sein. ({2}) Hier sollte uns Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen. Wir wollen einen ausführlichen Dialog mit dem Personenkreis, der von diesem Gesetz betroffen ist, und dann hier im Bundestag endgültig ein vernünftiges Gesetz beschließen, das den Betroffenen hilft. ({3}) Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Bürgerschaftliches Engagement ist derzeit in aller Munde und hochgeschätzt. In der Tat: Es befördert, richtig verstanden, den Zusammenhalt des Gemeinwesens und dient der sozialen Integration. Die Menschen in unserem Land wollen das öffentliche Leben aktiv mitgestalten, sei es beim Bau von Kinderspielplätzen, bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, in Erwerbsloseninitiativen oder durch die Unterstützung von Sportstrukturen. Allerdings möchte ich auch auf eine gravierende Fehlentwicklung aufmerksam machen, durch die der eigentliche Sinn des bürgerschaftlichen Engagements verwässert zu werden droht: Das Engagement Freiwilliger ist heute immer stärker Ersatz öffentlicher Leistungen und dient somit der finanziellen Entlastung von Bund, Ländern und Gemeinden. ({0}) Weil sich Bund und Länder aus der Verantwortung stehlen, sind viele Kommunen kaum noch in der Lage, ihre laufenden Ausgaben aus den Einnahmen zu bestreiten. Das führt nun dazu, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Kommune angehalten werden. Viele tun dies grundsätzlich auch gern. Aber hierbei wird oftmals übersehen, dass sich bürgerschaftliches Engagement nach und nach zum Notbehelf im Zuge des Sozialstaatabbaus entwickelt. Der Staat zieht sich aus Kostengründen immer weiter zurück. Die Privatwirtschaft folgt unmittelbar. Immer mehr reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze fallen weg. Die Ehrenamtlichen sollen nun diese Lücke schließen. Hier fordert die Linke von der Regierung, in Richtung öffentlich geförderter Beschäftigung aktiv zu werden. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen! ({1}) Bürgerschaftliches Engagement darf nicht ein Ersatz für Leistungen sein, die Kommunen, Länder und Staat nicht mehr erbringen können oder teilweise nicht erbringen wollen. Wir wollen kein dienendes und ersetzendes Engagement, sondern Partizipation und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem alltäglichen Lebensumfeld. Unterdessen werden die durch Sozialabbau freigewordenen Stellen kostensparend mit freiwillig Engagierten besetzt. Dazu ein Beispiel aus meiner Region: In Jugendklubs wird sozialpädagogisches Fachpersonal durch Ehrenamtliche und 1-Euro-Beschäftigte ersetzt - oder die Klubs werden gleich ganz geschlossen. ({2}) Ehrenamtlichkeit ist gerade im sozialen Bereich unverzichtbar; das ist keine Frage. Wenn die momentane Entwicklung jedoch weiter so verläuft, werden immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte durch engagierte, aber unentgeltlich und nicht sozialversichert arbeitende, möglicherweise unzureichend qualifizierte Bürgerinnen und Bürger ersetzt. Ähnliches ist auch schon in der Altenpflege und Altenbetreuung zu beobachten. ({3}) Ich möchte noch kurz auf einen anderen Bereich eingehen: die Tafeln. Das Ziel der Tafeln ist es, qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel, die sich nicht mehr verwenden lassen, an Bedürftige zu verteilen. Die Tafeln bemühen sich hier um sozialen Ausgleich. Vor allem seit der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Tafelneugründungen stark gestiegen. Das Projekt wird hauptsächlich von Ehrenamtlichen bewerkstelligt. Im Dezember 2006 war zu vernehmen, dass Familienministerin von der Leyen die Schirmherrschaft für Die Tafeln übernommen hat. Der Einsatz der mehr als 25 000 Helferinnen und Helfer ist wirklich bemerkenswert und nicht hoch genug zu loben. Aber stellt sich nicht gleichzeitig die Frage, wie es erst so weit kommen konnte, dass die Zahl der Tafeln so gewachsen ist? Die unsoziale, armutsverschärfende Politik dieser Koalition hat ihren Anteil daran. Es ist zugleich auffällig, dass die Anerkennung für die Freiwilligen in erster Linie von denen kommt, die den Rückbau des Sozialstaates und die Zunahme von Armut politisch zu verantworten haben. Es ist der Hohn, dass sich Frau von der Leyen auf der einen Seite als Schirmherrin der Tafeln zur Verfügung stellt und andererseits eine Politik mitverantwortet, die immer mehr Bedürftige schafft. Freiwillige Arbeit benötigt alles in allem umfangreiche materielle, finanzielle und soziale Infrastruktur, personelle Ressourcen sowie eine ausgeprägte Kultur der öffentlichen Anerkennung. Doch weiteren Sozialabbau - nun auch unter dem Deckmantel des bürgerschaftlichen Engagements - wird es mit der Fraktion Die Linke nicht geben. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Lassen Sie mich bitte kurz drei Dinge vorwegschicken, wenn wir über bürgerschaftliches Engagement sprechen. Wir sprechen über bürgerschaftliches Engagement selbstverständlich in Bezug auf die vielen Menschen, die sich im Sinne einer lebendigen Zivilgesellschaft engagieren, die etwas Emanzipatorisches, Lebendiges, Kreatives und Zusätzliches ist und selbstverständlich nicht professionelle Infrastrukturen ersetzt. ({0}) Vielmehr braucht man als unverzichtbares Element hauptamtliche Strukturen. ({1}) Das will ich einfach vorwegschicken, denn man kann mit einer Debatte, die hier über mehr als sechs Jahre geführt worden ist - ich selbst bin neu im Bundestag -, nicht immer wieder bei null anfangen. ({2}) Das ist ein kreativer, emanzipatorischer Ansatz. Dafür brauchen wir hauptamtliche Strukturen. So definieren wir Grüne bürgerschaftliches Engagement. ({3}) Punkt zwei. Bürgerschaftliches Engagement - das sage ich auch in Abgrenzung zur FDP - bedeutet gerade nicht den Rückzug des Staates aus der Verantwortung. Es bedeutet eine Neudefinition des Verhältnisses von staatlicher Verantwortung, Markt und lebendiger Zivilgesellschaft, aber gerade nicht den Rückzug des Staates aus der Verantwortung. ({4}) Drittens. Es wurde hier eben beklagt, dass die Chancen und Möglichkeiten für Engagement immer geringer werden. Das ist nicht so! Alle Berichte, Erhebungen, Statistiken und Umfragen, die uns vorliegen, zeigen deutlich, dass es eine massiv erhöhte Bereitschaft zum Engagement und auch verstärktes Engagement, und zwar bei vielen Menschen, gibt. ({5}) Das gilt sowohl für junge als auch für alte Menschen. Es gilt auch für Migrantinnen und Migranten, um die wir uns auch zu kümmern haben, indem wir fragen, welche Bedingungen wir dafür zugrunde legen, dass Menschen sich engagieren können, die Deutschland vielleicht nicht als Herkunftsland haben. Schließlich gilt es auch für Menschen, die arbeitslos sind und Interesse haben, sich auf diese Art und Weise zu engagieren und ihre Kreativität einzubringen. Das sollten wir, wenn wir darüber diskutieren, auch einmal zur Kenntnis nehmen. ({6}) Nun zum Gesetzentwurf: Herr Finanzminister, ich freue mich sehr, dass Sie zu Weihnachten doch noch die Kurve gekriegt haben. ({7}) Ich hatte am Anfang den Eindruck, dass der Wissenschaftliche Beirat und die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats auch - um das einmal so deutlich zu sagen - im Finanzministerium auf offene Ohren stoßen. Ich war irritiert über auf die eine oder andere Stellungnahme. Sowohl meine Kollegen und Kolleginnen aus der SPD als auch die aus der CDU/CSU und anderen Fraktionen wissen, über welche Stellungnahmen ich rede. ({8}) Daher bin ich umso positiver überrascht, dass diese Beiratsempfehlungen zum Zeitpunkt der Gesetzeseinbringung vom Tisch sind. ({9}) Denn es war dringend notwendig, mit dem Tenor aufzuräumen, lebendige Zivilgesellschaft, Vereinsengagement und Initiativenarbeit bedeuteten Wettbewerbsverzerrungen und Missbrauch. Ich glaube, da waren wir uns in Bezug auf die Arbeit im bürgerschaftlichen Engagement sehr einig. Meine Kollegin Christine Scheel ist auf viele der einzelnen Punkte aus den zehn Vorschlägen aus grüner Sicht eingegangen. Ich glaube, dass es in der Anhörung und in den Fachausschüssen noch eine sehr intensive Diskussion geben wird. Denn die eine oder andere Einlassung des Finanzministeriums, Herr Minister, hat nicht gerade für Klarheit gesorgt. Ich denke zum Beispiel an die Äußerung, man müsse durch die Neuregelung vielleicht bestimmten Vereinen die Gemeinnützigkeit aberkennen. Wenn ich an solche Bespiele denke, glaube ich, dass wir da noch über einige Fragen ganz intensiv diskutieren müssen. Meine Kollegin Christine Scheel hat vorhin, wie gesagt, die Punkte schon angesprochen, die aus grüner Sicht notwendig sind. Ich will an dieser Stelle betonen, dass wir zwar jetzt über den Gesetzentwurf zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und über die Fragen im Zusammenhang mit der Gemeinnützigkeit und der steuerrechtlichen Förderung diskutieren. Im Grunde genommen muss aber das gesamte Thema der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements überall und nicht nur in dieser parlamentarischen Debatte behandelt werden. Die Fragen sind: Was tun wir eigentlich, um eine lebendige Zivilgesellschaft zu fördern? Welche Bedingungen können wir schaffen, damit sich noch mehr Menschen engagieren? Es gibt im Moment fast 23 Millionen Menschen, die sich in irgendeiner Weise bürgerschaftlich engagieren, und zwar nicht nur in großen Verbänden, sondern auch in sehr vielen kleinen Initiativen vor Ort. Was tun wir eigentlich, um dieses Thema als Querschnittsaufgabe zu behandeln und entsprechende Unterstützung in allen Politikfeldern und in allen Ressorts zu leisten? Wir dürfen nicht die Tatsache überbewerten, dass wir uns nun mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen. Dass wir jetzt etwas tun, sollte uns nicht dazu veranlassen, uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Es gibt noch jede Menge konkreten Handlungsbedarf. Ich wünsche mir eine viel stärkere Debatte in allen Politikfeldern. Warum sollten nicht auch der Verbraucherschutzminister, der Umweltminister und die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend viel mehr über die Bedeutung des bürgerschaftliche Engagements in dieser Gesellschaft reden und Initiativen begleiten? ({10}) Hier besteht noch Handlungsbedarf. Wir müssen stärker dafür eintreten, Bedingungen zu schaffen, mit denen das bürgerschaftliche Engagement wirklich gefördert wird. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit Mitte der 90er-Jahre geführte Diskussion über Wert und Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements scheint sich nun endlich auszuzahlen. Zumindest ist ein Wandel in der Wahrnehmung des Engagements und seiner Bedeutung für unser Gemeinwesen festzustellen. Die CDU/ CSU begrüßt den vom zuständigen Bundesfinanzminister vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements als ersten großen Schritt in die richtige Richtung. ({0}) Dies gilt umso mehr, als der Gesetzentwurf im Wesentlichen auf Vorschlägen basiert, die auf die Enquete-Kommission und auf Handlungsempfehlungen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion zurückgehen. ({1}) Zur Erinnerung: Die CDU/CSU hat durch eine Große Anfrage im Jahr 1996 dafür gesorgt, dass wir am 5. Dezember 1997 zum ersten Mal überhaupt eine Debatte über bürgerschaftliches Engagement im Deutschen Bundestag hatten. ({2}) Dies führte zur Einsetzung der Enquete-Kommission im Jahre 1999. Das Ziel war es, politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zu erarbeiten. Ich empfehle jedem, unseren vorliegenden Abschlussbericht, der sehr aktuell ist, zu lesen. ({3}) Lassen Sie mich nun konkret auf einige Punkte eingehen. Erstens. Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung der Besteuerungs- bzw. Zwecksbetriebsgrenze bei gemeinnützigen Körperschaften und sportlichen Veranstaltungen auf 35 000 Euro vor. Wir wie auch der Bundesrat sind der Meinung, dass wir die Besteuerungsgrenze auf 40 000 Euro anheben sollten. Wir möchten mit dieser Erhöhung eine Flexibilisierung auf drei Jahre verbinden, um zum Beispiel den Vereinen eine größere Planungsfreiheit bei der Ausrichtung von Vereinsjubiläen oder besonderen Anlässen zu ermöglichen. Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht eine Anhebung der sogenannten Übungsleiterpauschale bei unverändertem Anwendungsbereich auf 2 100 Euro vor. Über die Anhebung des Übungsleiterfreibetrages hinaus halte ich eine Erweiterung des Bezugskreises auf Verantwortungsträger - zum Beispiel Vereinsvorsitzende, Schatzmeister und ehrenamtliche Geschäftsführer - für erforderlich. ({4}) Ferner sollten wir die 2 000 lizenzierten Organisationsleiter im Sport und die Helfer in der Gefahrenabwehr mit aufnehmen. ({5}) Im Übrigen profitieren die Feuerwehrleute von dieser Anhebung bisher nicht. Auch hier müssen wir eine entsprechende Anpassung vornehmen. Sie ist notwendig und sachgerecht. Dies sollte Ausdruck der Anerkennung für die gefährliche und wertvolle Arbeit der Feuerwehr sein. ({6}) Drittens. Wir unterstützen die Anhebung des Höchstbetrages für die Ausstattung von Stiftungen, sind aber wie der Bundesrat der Meinung, dass wir hier ein klares Zeichen setzen sollten, diesen auf 1 Million Euro anheben zu wollen. Das wäre für mich ein wichtiges Signal für die Gründung von Stiftungen. Dies würde den Bürgern die Möglichkeit geben, dauerhaft gemeinnützige Zwecke zu finanzieren. Viertens. Im Entwurf ist die Einführung eines Abzugs von der Steuerschuld in Höhe von 300 Euro jährlich für ehrenamtliche Tätigkeiten im mildtätigen Bereich im Umfang von 20 Stunden vorgesehen. Wir sind wie der Finanzminister der Meinung, dass diese Begrenzung auf den mildtätigen Bereich ein Ranking innerhalb des ehrenamtlichen Engagements schafft und damit Unterschiede zeitigt. Darin sehen wir ein Problem. Das kann nicht unser Ziel sein. Die Konsequenz kann nur sein, dass wir diese Abzugsfähigkeit sachgerecht auf den Naturschutz, die Hilfs- und Rettungsdienste, die Feuerwehr, kirchliches Engagement und Bereiche des Sports ausweiten. Falls dies nicht zu finanzieren ist, sollte dieser Punkt zur Disposition stehen. Eine Rangfolge des Ehrenamtes streben wir nicht an. Aus meiner Sicht sollten wir eher darüber nachdenken, ob wir nicht eine Freigrenze von 1 200 Euro für alle Ehrenamtlichen schaffen. Damit erzielen wir einen konkreten Bürokratieabbau, da die Einzelnen nicht mehr die Kosten für Porto, Telefon und gefahrene Kilometer sowie andere Aufwendungen detailliert nachweisen müssen, sondern dies pauschal über eine Freigrenze abgedeckt ist. Fünftens. Die Beiträge für Kultur sind in Zukunft von der Steuer absetzbar. Aber was, Herr Finanzminister, geschieht mit Mitgliedsbeiträgen an Sportvereine? Ihr Ministerium hat einen entsprechenden Vorschlag lapidar mit der Formulierung abgelehnt - ich zitiere -: Die Mitglieder von Sportvereinen fördern mit ihren Beiträgen in erster Linie die eigene Freizeitgestaltung. - Lieber Herr Steinbrück, Sie haben mich zwar gelobt. Aber an dieser Stelle muss ich Sie natürlich fragen: Was ist mit den Begriffen der Sozialisation, der Integration, der Gesundheitsförderung und der Lebensschule für Kinder? Dies alles sind Leistungen der Sportvereine. In Ihren Reden zu entsprechenden Anlässen findet sich das alles. Ist es jetzt vergessen? Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darüber nachdenken, ob wir die Mitgliedsbeiträge für Kinder und Jugendliche an Sportvereine als Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke anerkennen können. ({7}) Dies wäre ein erheblicher Beitrag, Eltern zu motivieren, ihre Kinder regelmäßig zum Sport anzuhalten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird im Gesetzgebungsverfahren die im Gesetzentwurf vorhandenen Unebenheiten und Ungleichheiten zum Wohle aller ehrenamtlich Tätigen beseitigen. Wir stehen weiter an der Seite des Ehrenamtes. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der SPD-Fraktion.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist richtig, Frau Dr. Höll: Viele tun es. Der Brite macht es; der Franzose macht es. Auch der Pole, der Ire, der Belgier und der Deutsche tun es. Ganz viele sind in Europa bürgerschaftlich, freiwillig, unentgeltlich, eigensinnig unterwegs. Sie sind das soziale Kapital, über das unsere Gesellschaft verfügt. Sie sind ein Kapital, das sich, wenn man es benutzt, sogar vermehrt. Dies ist auch gut so. Wir haben also im europäischen Umfeld vieles; einiges haben Sie zitiert. Wir haben aber etwas, was andere nicht haben: Die 23 Millionen Menschen in Deutschland, die sich bürgerschaftlich engagieren, und die 14 000 Stiftungen haben in Peer Steinbrück einen Finanzminister, der genau dieses Engagement wertschätzt, der mit seinem Gesetz hier unterlegt, dass Ehrenamt kein Ausfallbürge für den Sozialstaat sein soll, ({0}) der den Ehrenamtlichen nicht als potenziellen Steuerhinterzieher betrachtet, ({1}) sondern davon ausgeht, dass der Ehrenamtliche, wenn er unterwegs ist, nicht nur an sich denkt, sondern auch an die Gesellschaft und Gemeinschaft. Alle in diesem Hause sprechen hier oder in ihrem Wahlkreis zum Tag des Ehrenamtes am 5. Dezember immer von der Seele der Demokratie und vom Wärmestrom der Gesellschaft, der unsere Gesellschaft zusammenhält. ({2}) Vielleicht wäre es für die Kollegen und Kolleginnen von der Opposition einmal ganz hilfreich, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen - Kollege Riegert hat es schon gesagt -: In der rot-grünen Koalition haben wir die Enquete-Kommission und den Ausschuss ins Leben gerufen. Wir haben seit 2002 eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir haben die finanzielle Förderung der Freiwilligendienste, Unfallschutz und Haftungsfragen geregelt. Wir haben die Hospizbewegung und die Selbsthilfe unterstützt. ({3}) Wir haben über alle Elemente aus der Enquete-Kommission in diesem Hohen Hause beraten. Heute sprechen wir über das Finanzielle; das ist auch gut so. Nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates haben viele gefragt: Oh Gott, was werden wir aus dem Finanzministerium womöglich hören? Mit dem Gesetzesentwurf mit der Überschrift „Hilfen für Helfer“ - da war die grüne Seite vielleicht nicht mehr so ganz auf der Höhe der Zeit - hat sich der Finanzminister nicht auf die Seite des Beirates gestellt, sondern auf die Seite der Engagierten. ({4}) - Es hat nicht gedauert. ({5}) Vielleicht sind Sie auch da nicht auf der Höhe der Zeit. Schon lange vorher - auch das ist eine Neuheit - wurde aus dem Finanzministerium der Kontakt zur Zivilgesellschaft und zu den Verbänden gesucht, um das Gesetzeswerk tatsächlich Stück für Stück zu entwickeln und gemeinsam auf den Weg zu bringen. Deswegen ist das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements ein Zeichen der Anerkennung und der Unterstützung bürgerschaftlich Engagierter. Das Gesetz soll mehr Menschen motivieren, sich zu engagieren. Für uns als Sozialdemokraten ist beides wichtig - das sage ich vor allem an die Adresse der Linken -: Sowohl die Zivilgesellschaft als auch der Sozialstaat müssen gestärkt werden. ({6}) Nur wenn beides gestärkt wird, kann es funktionieren. Herr Kollege Riegert und andere haben es schon angeführt: Mit dem Gesetz „Hilfen für Helfer“ werden unsere Forderungen - es sind nicht nur Forderungen der CDU/CSU; da muss man etwas genauer sein -, die Forderungen der Enquete-Kommission - Kollege Riegert und Kollege Bürsch waren dabei; auch ich durfte mitarbeiten - jetzt aufgegriffen und gesetzgeberisch umgesetzt. Nach der Schrecksekunde, die im Sommer durch den Wissenschaftlichen Beirat ausgelöst wurde, war der Jubel groß, nachdem die Eckpunkte kurz vor dem Tag des Ehrenamtes am 5. Dezember vorgelegt worden sind. Jetzt seien Sie doch alle einmal ehrlich - das sage ich vor allem an die Seite der Linken gerichtet; ich glaube, in diesen Kreisen bewegen Sie sich nicht -: Es gab viel Wertschätzung und viele positive Reaktionen aus den Verbänden, weil sie dem Finanzminister dies nicht zugetraut hatten. Es gab ja früher immer die Debatte, dass es Milliarden kostet, wenn man Steuervergünstigungen für die jeweiligen Verbände gewährt. Das Finanzministerium hat mit diesem Gesetzentwurf richtig gehandelt. Lob und Anerkennung können nicht nur die Verbände, sondern auch wir an das Ministerium richten. Ich will hier einmal die Kulturseite zitieren, die gesagt hat: Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Das hört man selten über ein Vorhaben des Finanzministeriums; das überrascht. In diesem Fall kommt das, was mobilisiert werden kann, der Kultur zugute. ({7}) Diese Neuregelungen, die jetzt auf den Weg gebracht werden sollen, stehen für Bürokratieabbau und für mehr Anreize zum Stiften von Zeit und von Geld. Wir sind gut beraten, wenn wir die engagierten Bürgerinnen und Bürger nicht benutzen. Wir alle wissen: Bürgerschaftliches Engagement lässt sich nicht verordnen. Es muss eigensinnig, freiwillig und unentgeltlich sein. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, innovativ zu sein. Ich finde es gut und schön, dass dieser Gesetzentwurf nicht hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, sondern mitten im Leben steht. Uns ist besonders wichtig, dass die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in den Katalog der gemeinnützigen Zwecke des § 52 der Abgabenordnung - dieser Passus ist auf den ersten Blick unscheinbar - aufgenommen wurde. Das geschah zu Recht, das finden wir gut, und daran wollen wir festhalten. ({8}) Ich finde es immer wieder putzig, wenn die FDP dazu auffordert, zu stiften und auf andere Weise fürs Gemeinwohl tätig zu werden. Ich frage mich nur, warum Sie sich dafür nicht in der Zeit eingesetzt haben, als Sie an der Regierung waren. Wir sind seit 1998 an der Regierung, und seitdem ist die Stiftungskultur bei uns am Werden und am Wachsen. ({9}) Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen aus unserer Runde waren bei vielen Bürgerstiftungen dabei. Auch ich habe meinen Beitrag geleistet. Wir werden auch in Zukunft für Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Stiftungen sorgen. Wir werden wahrscheinlich auch den Stiftungsrahmen anheben. Wir haben schon viel getan, und wir werden auch in Zukunft noch viel tun. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kumpf, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Tauss, ich würde jetzt gern bei diesem Thema bleiben, weil es mir wichtig ist. Es ist ein heiß umkämpftes Thema und ein Lieblingskind von mir. Die einen stiften Geld, und die andern stiften Zeit. Ich glaube, auch diejenigen, die Zeit spenden, die ehrenamtlich und unentgeltlich für ältere und behinderte Menschen tätig sind, werden dadurch ermutigt, dass sie 300 Euro von ihrer Steuerschuld abziehen können. Wir tun gut daran, dieses Engagement zu unterstützen. Ich weiß, dass das sehr umstritten ist. Ich denke, dass wir hiermit einen Paradigmenwechsel vornehmen. Wir entsprechen damit auch einer Forderung der Enquete-Kommission. Es wird immer wieder behauptet, dass für die Übungsleiter nichts getan wurde. In dem Gesetzeswerk steckt auch eine Erhöhung der Übungsleiterpauschale. Mit dieser Erhöhung befindet sich Peer Steinbrück in guter Gesellschaft: In Zeiten von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder wurde die Übungsleiterpauschale erhöht. Von dieser Übungsleiterpauschale profitieren im Übrigen nicht nur Kolleginnen und Kollegen, die sich im Bereich des Sports um die Jugend kümmern, sondern auch diejenigen, die sich im Bereich der Kultur und in anderen Bereichen für die Jugend engagieren. Ich sehe, dass die Lampe leuchtet. Der Präsident sagt gleich etwas.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, sind Sie so weit?

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme gleich zum Schluss. Ich habe noch ein Anliegen. ({0}) - Ich habe zwar mehrere, ich konzentriere mich jetzt aber auf eines, Kollege Fischer. - Ich hoffe, dass die CDU/CSU, was den Terminplan anbelangt, ein wenig schwächelt. Ich finde, dass diejenigen, die sich bürgerschaftlich engagieren, es verdient haben, dass bis zur Sommerpause Klarheit über das steuerrechtliche Verfahren herrscht. ({1}) Nachdem wir alle steuerrechtlichen Fragen abgehandelt haben, wird noch genügend Zeit bleiben, um andere Fragen zu klären, zum Beispiel Haftungsfragen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kumpf, Sie bringen jetzt unseren Terminplan durcheinander.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deswegen bitte ich, dass wir unsere Beratungen zügig fortsetzen, ({0}) damit wir die Menschen Mitte des Sommers auf unserer „Ehrenamtstour“ in ihrem Wirken bestärken können. Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Bernhardt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns sicher alle darin einig, dass gesellschaftliches Leben ohne die Bereitschaft von Millionen von Menschen in Deutschland, sich neben Familie und Beruf ehrenamtlich zu betätigen, in vielen Bereichen überhaupt nicht möglich wäre. Insofern muss man im Rahmen dieser Debatte all denen, die - oftmals ganz im Verborgenen - aktiv arbeiten, von dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen. ({0}) Es ist schon erstaunlich, dass, wie neueste Untersuchungen zeigen, jeder dritte Deutsche ehrenamtlich tätig ist. Was mich besonders erfreut, ist, dass sich diese Zahl in den letzten Jahren erhöht hat. Das Ehrenamt ist ein Thema - das hat die Debatte gezeigt -, das für alle Parteien bzw. Fraktionen von großer Bedeutung ist. Für uns geht es hierbei nicht nur um materielle Fragen. Für uns gehört eine Stärkung des ehrenamtlichen Engagements zu den Grundsätzen der Politik: Solidarität, Subsidiarität. Vor diesem Hintergrund haben wir mit dafür gesorgt, dass bereits im Koalitionsvertrag das Ziel der Verbesserung der Rahmenbedingungen festgehalten wurde. Heute nun diskutieren wir in erster Lesung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zum Ziel hat. Ich kann nur sagen: Herr Minister, Sie haben einen guten Entwurf vorgelegt. ({1}) Wir stimmen dem Inhalt mit Ausnahme eines Punktes uneingeschränkt zu. Bei diesem einen Punkt wollen Sie, um das klar zu sagen, etwas Gutes. Es geht dabei um die Möglichkeit, bis zu 300 Euro pro Jahr, also 25 Euro pro Monat, von der Steuerschuld abzuziehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. So mancher Ehrenamtler fühlt sich da fast in seiner Ehre gekränkt. Viel problematischer ist für uns jedoch die in diesem Zusammenhang entstehende Bürokratie. Es heißt, man kann diese 25 Euro abziehen, wenn man im Monat mehr als 20 Stunden ehrenamtlich arbeitet. Dies muss dann natürlich irgendwo dokumentiert werden. Dabei leiden die armen Vereinsvorsitzenden schon heute unter zu viel Bürokratie. Ein weiterer Punkt ist, dass Sie diese Steuerermäßigung laut Ihrem Entwurf auf diejenigen begrenzen wollen, die mit Älteren, Behinderten und Kranken arbeiten. Das sind ganz wichtige Bereiche. In der bei mir eingehenden Post wird allerdings - mehrere Redner haben es angesprochen - von vielen, die in anderen Bereichen tätig sind, gefragt: Sind wir weniger wichtig? Diese - jede! - Abgrenzung ist problematisch. ({2}) Ihr Vorschlag werde, so sagen Sie, zu Steuerausfällen von 400 Millionen Euro im Jahr führen. Das ist ein großer Schluck aus der Pulle für den ehrenamtlichen Bereich, den wir mittragen. Wir stimmen Ihnen darüber hinaus zu, dass diese 400 Millionen Euro die Grenze sein müssen. Im Grunde geht es jetzt darum, ob man den Kreis der Begünstigten erweitern sollte. Die Kollegin Scheel hat eine Reihe von Punkten genannt; dem könnte ich zustimmen. Doch ich habe mir sagen lassen, dass wir, wenn wir das umfassend gestalten, bei 1 Milliarde Euro landen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ich schließe nicht aus, dass wir im Rahmen der Beratungen zu dem Ergebnis kommen, dass wir uns diesen Punkt einfach nicht leisten können. Wir haben für die dann frei werdenden Mittel eine ganze Reihe guter Vorschläge; hier ist vieles gesagt worden. Von Bayern sind gute Vorschläge gekommen, ja ich kann generell sagen: vom Bundesrat. Auch wir haben einzelne Vorschläge gemacht. Hier kann man sicher noch etwas verbessern. ({3}) Die heutige Debatte hat gezeigt, dass alle Fraktionen bestrebt sind - wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten -, das Ehrenamt in Deutschland zu stärken. Das ist die richtige Botschaft an die Ehrenamtlichen in Deutschland: Der Bundestag steht geschlossen hinter ihrer Arbeit ({4}) und ist bereit, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern. Ich stimme dem Ausschussvorsitzenden zu, der gesagt hat: Wir sollten versuchen, für diesen Gesetzentwurf eine möglichst breite Zustimmung zu bekommen. ({5}) Ich glaube, die FDP holen wir noch rein. ({6}) Bei den Grünen sehe ich auch noch gewisse Chancen. Die Vermögensteuer will ich nicht hereinbringen, aber ich kann mir vorstellen, dass wir eine sehr breite Zustimmung bekommen. Das wäre ein weiteres gutes Signal für die Ehrenamtlichen. ({7}) Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Kompliment für das Ehrenamt. Wir alle stehen zu dem Ehrenamt. Dies ist eine gute Stunde für das ehrenamtliche Engagement in Deutschland. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/5200 und 16/5245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- sen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf: 29 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Hans-Peter Uhl, Kristina Köhler ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Fritz Rudolf Körper, Maik Reichel, Klaus Uwe Benneter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes - Drucksache 16/5239 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2006 - Vorlage der Haushaltsund Vermögensrechnung des Bundes ({2}) - - Drucksache 16/4995 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Karl Addicks, Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Neuausrichtung der deutschen Afrikapolitik - Drucksache 16/5130 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fortschritte für Zypern - Eine Aufgabe für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Drucksache 16/5259 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkommen - Drucksache 16/5247 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2002 bis 2005 - Drucksache 16/3777 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung g) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Interparlamentarischen Union 115. Interparlamentarische Versammlung vom 16. bis 18. Oktober 2006 in Genf, Schweiz - Drucksache 16/4121 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Siebzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 - Drucksache 16/4123 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({9}) - Drucksache 16/5172 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Landes Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommission - Drucksache 16/4607 9852 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen In Deutschland lebende Iraker und Irakerinnen vor Abschiebung schützen - Drucksache 16/5248 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({12}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken - Drucksache 16/5249 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schieneninfrastruktur ist öffentliche Aufgabe - Moratorium für die Privatisierung der Deutsche Bahn AG - Drucksache 16/5270 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({15}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts abwenden - Bestehende europäische Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln - Drucksache 16/5254 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie ebenfalls einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 k sowie den Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung - Drucksache 16/3303 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({17}) - Drucksache 16/5096 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Christine Lambrecht Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Volker Beck ({18}) Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5096, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3303 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes - Drucksache 16/4198 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19}) - Drucksache 16/5274 Berichterstattung: Abg. Enak Ferlemann Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5274, den Gesetzentwurf des BundesVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt rates auf Drucksache 16/4198 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 30 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({20}) Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/5138 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 30 d bis k sowie Zusatzpunkt 4. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 30 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 210 zu Petitionen - Drucksache 16/5120 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 210 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 211 zu Petitionen - Drucksache 16/5121 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 211 durch Zustimmung der Fraktionen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 212 zu Petitionen - Drucksache 16/5122 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 212 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 213 zu Petitionen - Drucksache 16/5123 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den Stimmen der Fraktionen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP und der Linken ohne Enthaltungen. Tagesordnungspunkt 30 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 214 zu Petitionen - Drucksache 16/5124 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und vom Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 30 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 215 zu Petitionen - Drucksache 16/5125 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 30 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 216 zu Petitionen - Drucksache 16/5126 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den Stimmen der Koalition und der Linken gegen die Stimmen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 30 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 217 zu Petitionen - Drucksache 16/5127 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Zusatzpunkt 5: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({29}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Grünbuch Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz KOM ({30}) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07 - Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 Berichterstattung: Abgeordnete Julia Klöckner Marianne Schieder Karin Binder Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalition, der FDP und der Linken gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5272 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf dem Arbeitsmarkt Ich eröffne die Rednerliste und erteile das Wort dem Bundesminister Franz Müntefering. ({31})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir in der in einer Aktuellen Stunde gebotenen Kürze einige Anmerkungen zu dem genannten Thema. Das Wachstum im letzten Jahr war gut; es war besser, als wir es Anfang des Jahres vermutet haben. Auch die Wirtschaftsweisen waren am Ende des Jahres überrascht über die gute Entwicklung. Besonders gut war die Entwicklung des Binnenmarktes. Der Binnenmarkt war im Jahr 2004 mit 0,0 Prozent, im Jahr 2005 mit 0,5 Prozent und im Jahr 2006 mit 1,6 Prozent am Wachstum beteiligt. ({0}) Für dieses Jahr wird mit einem Wachstum des Binnenmarktes von 1,5 Prozent bis 1,6 Prozent gerechnet. Vor diesem Hintergrund kann ich uns bei allem, was wir in den nächsten Wochen zu entscheiden haben, nur empfehlen, weiterzumachen. ({1}) Wir müssen nicht nur sanieren, sondern auch investieren, damit der Binnenmarkt in Bewegung bleibt. Damit verbindet sich ein Absinken der Beschäftigungsschwelle. Alle Ökonomen haben uns immer wieder erzählt, dass der Arbeitsmarkt erst bei einem Wachstum von 2 Prozent bis 2,5 Prozent in Bewegung geraten würde. Nach neuen Erkenntnissen ist das bei einem Wachstum zwischen 1 Prozent und 1,5 Prozent der Fall. Das ist gut und hängt mit dem Dienstleistungssektor zusammen, der schneller in Bewegung gerät als andere Bereiche. Das heißt, wir können auch für dieses Jahr eine positive Entwicklung erwarten. 1,1 Millionen Arbeitslose weniger als vor zwei Jahren bzw. 824 000 weniger als vor einem Jahr - darunter fast 180 000 Arbeitslose über 50 Jahren und 153 000 unter 25-jährige - sind eine gute Bilanz für die Koalition und für die Regierung. ({2}) Punkt zwei. Es heißt immer, die Zahl der Langzeitarbeitslosen, der Arbeitslosengeld-II-Empfänger, sei doch unverändert geblieben. Das ist falsch. Wir hatten vor einem Jahr 2,978 Millionen Arbeitslosengeld-IIEmpfänger, heute nur noch 2,613 Millionen. Das sind 365 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger weniger. Das entspricht einem Minus von 12,3 Prozent. Das heißt, dass wir etwa 3 Milliarden bis 4 Milliarden Euro in diesem Bereich weniger ausgeben, genauso wie wir es im Haushalt sehr ehrgeizig angesetzt hatten. Wir haben allerdings ein Problem: Die Zahl derjenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen, aber nicht arbeitslos sind, steigt, und zwar seit zwei Jahren um 800 000. Wir haben fast so viele, die nicht arbeitslos sind, also mehr als 15 Stunden arbeiten, und ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen, wie Arbeitslose, die Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt dagegen ein Mittel. Das heißt Mindestlohn. Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit sprechen. Aber hier liegt das Problem. ({3}) Punkt drei. Nun geht es um die Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit. Wir haben gestern im Kabinett beschlossen, einen Qualifizierungskombi für junge Menschen unter 25 aufzulegen, die schwer vermittelbar sind, weil sie keine Ausbildung haben. Diesen wollen wir eine Chance geben. Wir haben des Weiteren beschlossen, etwa 100 000 Menschen im Bereich des sozialen Arbeitsmarktes eine Chance zu geben. ({4}) Wir müssen denjenigen, die sehr schwer vermittelbar sind, eine Chance geben, in Arbeit zu kommen; denn diese Menschen haben auch bei einem hohen Beschäftigungsstand kaum eine Chance. Wir haben in Deutschland eine Definition gewählt, die sehr anspruchsvoll ist: Wer in absehbarer Zeit drei Stunden am Tag arbeiten kann, gilt als beschäftigungsfähig. In Großbritannien sind das ganz andere Zahlen. Wir haben mit unserer Definition dazu beigetragen, dass 3,1 Prozent der Menschen im Erwerbsalter als nicht erwerbsfähig gelten. Das sind in Großbritannien 6,5 Prozent und in den Niederlanden 8 Prozent. Wenn wir das anders definierten, stiege die Zahl der Arbeitslosen sofort. Das wollen wir nicht. Aber wir wollen denjenigen, die Beschäftigungshemmnisse aufweisen, helfen, ins Erwerbsleben zu kommen. Hierzu hat die Bundesregierung gestern wichtige Entscheidungen getroffen. Wir werden sie so schnell wie möglich umsetzen. Wir werden prüfen, was wir in den Bereichen tun können, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Das betrifft nicht nur, aber in hohem Maße Ostdeutschland. In Westdeutschland liegt die Arbeitslosenquote bei 7,8 Prozent, während sie in Ostdeutschland bei 15,9 Prozent liegt. Nun bin ich gegen eine saubere Trennung zwischen Ost und West, sage aber: Wir müssen in den Bereichen, in denen es eine hohe Langzeitarbeitslosigkeit gibt, die selbst in einer so guten Konjunkturphase wie der jetzigen nicht verringert werden kann, noch mehr tun. Wir müssen dort helfen, wo die Arbeitslosigkeit dramatisch hoch ist, ganz gleich, ob die Gebiete im Westen oder im Osten Deutschlands liegen. Wir müssen versuchen, hier neuen Schwung hineinzubringen. ({5}) Punkt vier. Ich bin mit einem Punkt in der Entwicklung nicht einverstanden. Darüber ist jetzt nicht zu diskutieren, aber ich will ihn nennen: Das ist der Ausbildungsbereich. Hier müssen wir in Deutschland besser werden. Es hat im letzten Jahr Erweiterungen und Verbesserungen gegeben. Diese waren aber nicht ausreichend. Der Ehrgeiz der Koalition ist: Wir müssen in dieser Legislaturperiode hinbekommen - das ist angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt möglich -, dass wirklich und wahrhaftig kein junger Mann und keine junge Frau mehr von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit kommt. Wir müssen es zusammen mit den Unternehmen und der Wirtschaft schaffen; das ist möglich. Wir müssen neuen Druck entwickeln, damit wir an dieser Stelle wirklich befriedigende Ergebnisse erzielen. ({6}) Punkt fünf. Das ist durch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt regelrecht aufgerissen worden: Wir stehen in hohem Maße vor einem Qualifizierungsproblem. Uns fehlen 20 000 bis 25 000 Ingenieure. Aber auch andere Bereiche haben große Schwierigkeiten. Das ist eine paradoxe Situation: Die Zahl der offenen Stellen ist von 420 000 im vergangenen Jahr auf 920 000 Stellen in diesem Jahr gestiegen. Nun kann man meinen, dass schneller vermittelt wird. Aber die Lebenswirklichkeit ist: Die Vermittlungszeiten werden länger, weil die Fachleute, die man sucht, nicht mehr so schnell gefunden werden, wie man es sich eigentlich wünscht. Daraus erklärt sich übrigens der große Boom der Zeit- und Leiharbeit; denn dort gibt es quasi eine Vororganisation und wird eine Vorentscheidung getroffen, die sich viele Firmen zunutze machen. Das ist zwar heute nicht Thema. Aber die Frage nach der hinreichenden Qualifizierung wird uns in den nächsten Jahren zunehmend beschäftigen. Wir müssen nicht nur darauf achten, dass es auf dem Arbeitsmarkt insgesamt Bewegung gibt. Vielmehr muss die nötige Qualifikation gesichert bleiben. Die deutsche Wirtschaft muss wissen: Wir müssen die Arbeit, die wir haben, mit den Menschen erledigen, die in unserem Land leben. Es geht nicht, zu sagen: Uns fehlen qualifizierte Leute. Macht das Tor auf! Holt Menschen aus aller Welt zusammen! - Die Arbeit, die wir in Deutschland haben, muss zuerst mit dem Potenzial, das wir hier haben, erledigt werden. Dafür werden wir jedenfalls streiten. ({7}) Wir werden die Instrumente im zweiten Halbjahr zu überprüfen haben. Das ist so vereinbart worden, und das werden wir zusammen mit der Agentur, mit den Argen und mit den optierenden Gemeinden auch tun. Ich will einmal ausdrücklich ein Dankeschön in diese Richtung sagen. Diese haben in den beiden letzten Jahren von vielen, auch von uns, mächtig etwas auf das Haupt bekommen. Wir haben sie ziemlich alleingelassen, als wir damals das Ganze geschaffen haben. Ich sage - auch weil ich mir das vor Ort angesehen habe -: Großen Respekt vor denen, die in der Bundesagentur, in den Argen und in den optierenden Gemeinden jeden Tag ihr Bestes tun, um die Probleme zu lösen, die es objektiv gibt. ({8}) Das kann noch besser werden. Dabei müssen wir helfen; aber an dieser Stelle großen Respekt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, die Bundesregierung, haben in Europa in der Zeit unserer Präsidentschaft das Thema „Gute Arbeit“ gesetzt. Ich finde, das ist etwas, was wir auch in Deutschland als Messlatte für das gut gebrauchen können, was in den kommenden Jahren zu tun ist. „Gute Arbeit“ heißt, das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aus den Augen zu verlieren. Ich weiß, viele sagen, das schafft ihr nicht, nicht schnell. Das weiß ich. Trotzdem dürfen wir es nicht aus den Augen verlieren. Alle Menschen müssen eine Chance haben. Arbeit ist sinnstiftend für die Menschen, und sie ist wohlstandssichernd. Zu „Guter Arbeit“ gehört ein fairer, ehrlicher, Existenz sichernder Lohn. Zu „Guter Arbeit“ gehört Arbeitsschutz, auch präventiv. Zu „Guter Arbeit“ gehört familiengerechte und familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt. Dass es so viele junge Mütter unter den Langzeitarbeitslosen gibt, hängt damit zusammen, dass wir an der Stelle nicht so gut sind, wie wir es sein müssten. Die Debatte über die Betreuung der unter Dreijährigen hat auch darin eine gute Begründung. Wir müssen an der Stelle drauflegen. Wir müssen sehen, dass es besser vorangeht. ({9}) Zur „Guten Arbeit“ gehört auch eine hinreichend gute Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit ihre Rechte auch in Zukunft gesichert bleiben. Dieses sind im Stakkato vorgetragene wichtige Eckpunkte zu der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Man muss sich ja ab und zu auch einmal selbst zensieren. Ich würde sagen: Zwei minus. Wir können auf „Eins“ kommen, wenn wir uns in den nächsten beiden Jahren anstrengen. Ich sage dies vorbeugend, weil ich vermute, Herr Brüderle wird dazu wieder nicht bereit sein. Er ist nicht objektiv in seiner Darstellung der Probleme. ({10}) Deshalb muss ich selbst die Zensur für uns ausstellen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kollege Rainer Brüderle hat das Wort für die FDPFraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war vorhersehbar, dass die Große Koalition diese Aktuelle Stunde anberaumt, um sich selbst zu feiern und zu beweihräuchern. Das ist ja völlig klar. ({0}) Wenn wir heute etwas zu feiern haben, dann müssen wir feiern, dass die Unternehmen in Deutschland, die Arbeitnehmer, eine gewaltige Restrukturierungsleistung erbracht haben, dass wir vernünftige Tarifabschlüsse hatten und vor allen Dingen, dass der Boom in der Weltwirtschaft in Deutschland angekommen ist ({1}) und alle darin bestätigt worden sind, die für offene Grenzen, nicht für Abschottung, waren. ({2}) - Ja, wir haben auch Osteuropäer, die hier arbeiten; aber wir verkaufen außerordentlich viel nach Osteuropa. Daher kommt auch der Schwung. Ohne den dynamischen Export wäre die Entwicklung in Deutschland relativ saftund kraftlos. Das sind die Leute, die es gemacht haben, die man feiern muss, ({3}) und nicht die Trittbrettfahrer, die jetzt Etikettenschwindel betreiben und sagen, wir waren es. - Darum geht es nicht. Entscheidend ist jetzt aber, dass sich die Regierung nach dem heißen April nicht wirtschaftspolitisch Hitzefrei nimmt. Vielmehr muss sie die gute Entwicklung, über die wir uns alle freuen - wir freuen uns darüber, dass wir Wachstum haben, und zwar weit mehr, als es vorausgesagt worden ist; wir freuen uns darüber, dass es mehr Arbeitsplätze gibt -, fortsetzen. ({4}) Aber sie muss jetzt die richtigen Hausaufgaben anpacken, Strukturreformen durchziehen, damit daraus ein langfristiger Trend wird. Dabei ist sie bei weitem noch nicht. Sie müssen den Haushalt konsolidieren, die Neuverschuldung auf null zurückführen, aber auch Steuern senken, damit Sie den Wachstumstrend verstärken. ({5}) Wir hätten weniger Arbeitslose, Herr Müntefering, wenn Sie nicht mit der Mehrwertsteuererhöhung die größte Steuererhöhung aller Zeiten zum 1. Januar in Deutschland durchgeführt hätten. Das hat Arbeitsplätze gekostet. ({6}) Wir erleben jetzt Vorzieheffekte wegen der Abschaffung der degressiven Abschreibung, aber von Vorzieheffekten kann man auf Dauer nicht leben. Sie müssen endlich an die Pflegeversicherung herangehen und diese in Ordnung bringen und den Haushalt umstrukturieren. Sie haben überhaupt nicht gespart. Sie haben die Ausgaben erhöht, und Sie haben die Steuern erhöht. Das ist kein Umstrukturierungs-, kein Modernisierungsprogramm. ({7}) Sie haben sich vor allen harten Aufgaben gedrückt. Sie sind Hans im Glück, weil die Wirtschaft aus anderen Gründen gut läuft. ({8}) Das hat aber nichts mit der Regierung zu tun. Sie haben die Wirtschaft eher behindert. Jetzt verfolgen Sie noch die falsche Strategie. Herr Müntefering ist Arbeitsminister; aber ein Arbeitsminister, der Mindestlöhne einführen will, ist ein Arbeitsplatzverhinderungsminister; denn Mindestlöhne werden keine Arbeitsplätze bringen. ({9}) Die Wirtschaftsforscher rechnen es Ihnen vor: Ein Mindestlohn von 7,50 Euro, den der DGB will, kostet 620 000 Arbeitsplätze, ein Mindestlohn von 6,50 Euro, den Herr Müntefering will, kostet 465 000 Arbeitsplätze. Ich sehe schon, dass wieder ein fauler Kompromiss herauskommt. Die CDU wird wieder umfallen. Es wird keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn geben, sondern branchenbezogene Mindestlöhne. Das ist noch schlimmer als flächendeckende Mindestlöhne, weil sie zusätzlich Strukturen verzerren. Sie machen es noch schlimmer. ({10}) Das wird wie bei der Gesundheitsreform werden. Sie haben nicht den Mut, etwas Vernünftiges zu tun. Sie treffen wieder eine Fehlentscheidung nach der anderen, nur um etwas gemeinsam hinzukriegen. Wenn ich mir den Programmentwurf der Union ansehe, dann finde ich nichts mehr von den Ideen der alten Union, die sie vor der Bundestagswahl hatte, nämlich betriebliche Bündnisse für Arbeit, modernes Kündigungsrecht, mehr Flexibilisierung. Da zeigt sich der Umgang der beiden sozialdemokratischen Parteien - eine rot, eine schwarz - miteinander. Die färben gegenseitig ab, und es kommt dieser undefinierbare Gulasch heraus. Das ist nicht die Strategie, die nach vorne führt. Eines haben Sie nicht angesprochen, Herr Müntefering: Gut ein Drittel der neu entstandenen Arbeitsplätze kommt durch Zeitarbeitsfirmen. Das ist der Beleg dafür, dass die fehlende Flexibilität eine der Kernursachen dafür ist, dass wir nicht mehr Arbeitsplätze haben. ({11}) Sie müssen den Umweg über Zeitarbeitsfirmen gehen, weil dort der Kündigungsschutz nicht wirkt und dort mehr Flexibilität herrscht. Machen Sie es doch gleich richtig, nicht immer nur indirekt! Haben Sie den Mut, den Arbeitnehmern und den Selbstständigen durch steuerliche Entlastung und eine Steuerreform, die den Namen verdient - einfach, niedrig und gerecht, das ist das Modell von Hermann Otto Solms -, die Chance zu geben, dass das verfügbare Einkommen steigt. Das wird Wachstum bringen. Haushaltskonsolidierung und Steuerreform sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie gehören geistig und instrumentell zusammen. ({12}) Sie werden leider wieder nicht die Kraft haben, das zu tun. Sie sonnen sich jetzt im Licht der guten wirtschaftlichen Entwicklung. Aber wenn Sie zu lange in der Sonne liegen, haben Sie nicht mehr die Kraft zum Denken. Gehen Sie aus der Sonne, krempeln Sie die Ärmel hoch, und machen Sie etwas Vernünftiges! Die Menschen in Deutschland hätten es verdient. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Bundesregierung. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Brüderle, es heißt: Tue Gutes, und rede darüber! - Ich glaube, deswegen ist es richtig, dass wir diese Aktuelle Stunde heute angesetzt haben. ({0}) Wir haben einen Wirtschaftsaufschwung, unser Wirtschaftsmotor läuft auf vollen Touren. Wir haben den stärksten Aufschwung seit sieben Jahren. Die Auftragsbücher sind voll, die Bilanzen vieler Konzerne sind glänzend. Die Industrie- und Handelskammern haben gestern mitgeteilt - das freut uns sehr -, dass die Anzahl der Ausbildungsplätze inzwischen um 13 Prozent höher ist als im letzten Jahr. Ich glaube, das gibt uns, was diesen Bereich angeht, noch größere Zuversicht. ({1}) Für uns ist unwahrscheinlich wichtig, dass das kein Strohfeuer ist. Alle Experten hier sind sich inzwischen einig - das ist selten -: Dieser Aufschwung ist robust, er steht auf einem stabilen Fundament und er wird noch an Breite gewinnen. Gestern ist das Gutachten des Schweizer Managerinstituts IMD herausgegeben worden. Dieses Institut untersucht jedes Jahr 55 Staaten im Hinblick auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Aus diesem Gutachten geht ganz klar hervor, dass sich Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit enorm verbessert hat. Während wir letztes Jahr noch auf Platz 25 waren, so sind wir dieses Jahr auf Platz 16. Frankreich ist zwölf und Großbritannien ist sechs Plätze hinter uns. Es heißt: Es ist die stärkste positive Veränderung, die es auf der Welt je gegeben hat. ({2}) Ich glaube, das spricht für sich. Unsere Wachstumsprognose für dieses Jahr mit 2,3 Prozent ist sehr verhalten. Die Europäische Kommission und auch andere Institute gehen von weit höheren Wachstumszahlen aus. Wichtig für uns ist: Die Menschen haben wieder Zuversicht. Die Menschen haben nicht mehr so große Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes. Sie konsumieren wieder mehr. Deswegen ist es wichtig, dass die Konjunktur wieder auf zwei Beinen stehen kann: Wir sind nicht mehr so exportlastig, wie wir es vorher gewesen sind; vielmehr hat die Binnenkonjunktur angezogen. Ich glaube, dass wir in der Zukunft bei außenwirtschaftlichen Störungen weniger schockanfällig sein werden. Das ist für uns ein ganz wichtiger Faktor. Wir profitieren endlich wieder von der Weltwirtschaft. Wir sind endlich wieder Lokomotive. Anders als in den vergangenen Jahren sind wir eine der treibenden Kräfte. Zu verdanken ist das unserer technologischen Kompetenz, die international anerkannt und international wettbewerbsfähig ist. Wir müssen aufpassen - der Herr Minister hat es vorhin angesprochen -: Unser Konjunkturaufschwung kann durch unseren momentanen Fachkräftemangel gebremst werden; dieser könnte wie eine Zeitbombe wirken. 50 000 Ingenieurarbeitsplätze konnten letztes Jahr nicht besetzt werden. Ich wiederhole: 50 000 Ingenieurarbeitsplätze. Das heißt: Wir verlieren Aufträge. Produkte und Dienstleistungen im Wert von 3,5 Milliarden Euro konnten nicht angeboten werden. Sie wurden höchstwahrscheinlich im Ausland angeboten. Wir müssen noch mehr für die Nachwuchsförderung tun. Wir sind inzwischen Weltmeister beim Nutzen von iPods, von Handys und von Computern. Was unseren jungen Leuten fehlt, ist die Neugierde darauf, welche Technologie in diesen Geräten steckt. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen versuchen, diese Neugierde zu wecken. Deswegen müssen wir auch dafür sorgen, dass das Thema Technologie an den Schulen in Zukunft vermehrt behandelt wird. Das Wichtigste für uns ist, dass die Beschäftigungssituation hier so gut wie seit langem nicht mehr ist. Nicht nur die Anzahl der Minijobs wird größer, sondern auch die der Vollzeitarbeitsplätze. ({3}) Ich bin froh, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr über 600 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben. Das kommt aber nicht von ungefähr; das ist klar. Wir wissen, dass es eine ganze Reihe von Faktoren gibt, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Die weltwirtschaftliche Lage hilft uns natürlich: Wir sind ein Exportland und daher von der Weltwirtschaft stark abhängig. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Exporteure ist aber kein Zufall. Wer auf den wachsenden Weltmärkten, also global, unterwegs ist, der ist nur wettbewerbsfähig, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat und wenn die Bedingungen zu Hause stimmen. Ich glaube, dass alle Beteiligten ihre Hausaufgaben gemacht haben: Die Tarifparteien haben eine moderate Lohnpolitik betrieben; die Unternehmen, vor allem die kleineren und mittleren, haben sich für den Wettbewerb fit gemacht, und das unter manchmal nicht ganz einfachen Bedingungen. Sie sind kostengünstiger und schneller geworden. Neueste Studien zeigen, dass die Familienunternehmen, auf die wir in unserem Land sehr stolz sind, den DAX-Konzernen inzwischen den Rang als Konjunkturmotor abgelaufen haben. Auch die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht - deswegen habe ich gesagt: „Tue Gutes, und rede darüber“ -: Wir haben ein Wachstums- und Impulsprogramm aufgelegt und die Lohnzusatzkosten gesenkt. Damit haben wir die zur Verbesserung der konjunkturellen Entwicklung notwendigen Schritte eingeleitet. Wir haben es geschafft - das ist wichtig -, dass die Menschen und die Investoren wieder Vertrauen in den Standort Deutschland haben. Wir haben all das gemacht, ohne ein wichtiges Ziel aus den Augen zu verlieren: die Haushaltskonsolidierung. Dieses Ziel werden wir auch weiterhin verfolgen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit in Höhe von 1,2 Prozent verzeichnen können, sodass wir das Maastrichtkriterium einhalten werden. Das beste Beispiel dafür, welch guten Weg wir eingeschlagen haben, ist die gegenwärtige Situation in Berlin. Es ist zu lesen, dass es der dortige Finanzsenator Sarrazin sogar für möglich hält, im Jahre 2008 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Das ist eine kleine finanzpolitische Sensation, die nicht von ungefähr kommt. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind aber auch Stimmen zu hören, die sagen: Alles ist wunderbar. Es sind genug Reformen durchgeführt worden. Jetzt müssen wir nichts mehr tun. - Vor dieser Einstellung warne ich. Sie ist nämlich höchst gefährlich. Denn wir dürfen eines nicht vergessen: Nur wer gute Zeiten für Reformen nutzt, wird auch in Zukunft international wettbewerbsfähig sein und Arbeitsplätze schaffen. ({5}) Wir konnten feststellen, welch großes Potenzial in Deutschland steckt und welche Kräfte hierzulande freigesetzt werden können. Aber wir haben noch viele Aufgaben vor uns. Wir müssen die Haushaltskonsolidierung fortsetzen. Wir müssen Teil II der Föderalismusreform auf den Weg bringen. Wir müssen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angehen. Es stimmt, dass ein großer Teil der neu geschaffenen Arbeitsplätze Zeitarbeitsplätze sind. Das hängt damit zusammen, dass unser Arbeitsmarkt unflexibel ist. Wir müssen den Wettbewerb stärken. Unser Wirtschaftsminister legt sehr großen Wert darauf, vor allem den Wettbewerb auf den Energiemärkten zu stärken. Ich bin zuversichtlich: Wenn wir alle - die Regierung, die Tarifparteien und die Unternehmen - zusammenarbeiten, klug handeln und die nötigen Reformen durchführen, dann werden wir den Aufschwung nicht nur verstetigen, sondern auch dafür sorgen, dass er sich weiter fortsetzt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Kornelia Möller für die Linke. ({0})

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Koalition jubelt. Die Wirtschaft boomt. Die Leute kaufen wieder. Das ist das gern gesehene öffentliche Bild. Doch die Realität sieht anders aus. ({0}) Bei den meisten Menschen ist der Aufschwung überhaupt nicht angekommen, schon gar nicht in ihren Brieftaschen. Die Reallöhne sind im Jahre 2004 um 1,1 Prozent gesunken, im Jahre 2005 um 1,5 Prozent und im Jahre 2006 um 0,7 Prozent. Von einer deutlichen Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt kann ebenfalls keine Rede sein. ({1}) Lassen wir, damit diese von den Koalitionsfraktionen beantragte Aktuelle Stunde nicht zur Vernebelungs- und Schönrednerveranstaltung verkommt, ein paar Fakten sprechen. ({2}) Wie sieht die Lage am Arbeitsmarkt wirklich aus? Erstens. Unbestritten ist, dass die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen ist. Aber es sind nicht überall gleichzeitig sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. ({3}) Der viel beschworene Aufschwung am Arbeitsmarkt ist vor allem ein weiterer Aufschwung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. ({4}) Bereits zu Beginn dieses Jahres waren 30 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse. Auch der Bundestag zahlt Hungerlöhne. Die Gebäudereiniger arbeiten hier zu Löhnen unterhalb des gerade beschlossenen Mindestlohns für Gebäudereiniger. Das gilt ebenso für die Fensterputzer. Vorwürfe gab es auch beim Wachdienst, schreibt heute der „Berliner Kurier“ unter der Überschrift: Die Lohn-Sklaven vom Bundestag. Von Herrn Müntefering höre ich dazu: Ja, da gibt es ein anderes Mittel, das heißt Mindestlohn, darüber werden wir aber an anderer Stelle reden. Dazu sage ich: Es wäre sinnvoll, wenn wir endlich einmal darüber reden und nicht so wie Ende April hier im Parlament das Ganze verschieben würden, statt sofort abzustimmen, und auch nicht so wie gestern im Ausschuss unseren Antrag qua Mehrheit ablehnen würden. Das Thema wäre wirklich dran. ({5}) Zweitens. Die Misere auf dem Ausbildungsstellenmarkt hat sich trotz Wirtschaftsaufschwungs nicht geändert. Die Zahl der betrieblich gemeldeten Ausbildungsplätze ging gegenüber dem Vorjahr sogar um 3,1 Prozent zurück. Auf einen einzigen Ausbildungsplatz kommen derzeit durchschnittlich vier Bewerberinnen und Bewerber. In Ostdeutschland sind es sogar 13. Hartz-IV-Karrieren sind damit vorprogrammiert. Drittens. Trotz wirtschaftlicher Belebung ist das Arbeitsvolumen annähernd konstant geblieben. Der bisherige Konjunkturaufschwung brachte also kaum mehr Arbeit. Dass die offiziellen Erwerbslosenzahlen trotzdem zurückgingen, liegt vielleicht auch an jeder Menge statistischer Ungereimtheiten. Nachdem der Arbeitsminister die Arbeitsmarktzahlen am 1. Mai stolz selbst verkündete, rechnete ihm und uns die Stiftung Marktwirtschaft vor, welche Menschengruppen bei seinem Zahlenspiel nicht berücksichtigt wurden: rund 300 000 Menschen in Ein-Euro-Jobs, 206 000 Menschen in Weiterbildungsmaßnahmen, 332 000 Menschen, die Fördermittel für Eingliederungsmaßnahmen sowie Existenzgründerzuschüsse erhalten, 485 000 Vorruheständler. Zu diesen circa 1,4 Millionen kommen weitere 800 000 Menschen, die sogenannte stille Reserve. Real fehlen also weit über 6 Millionen Arbeitsplätze. Viertens. Dass der Arbeitsmarkt trotz Gesundbeterei nicht gesund ist, zeigt sich am Zustand der beruflichen Weiterbildung und Qualifizierung. Nicht nur die Zahl offener Stellen ist gewachsen - wie Sie ja selber angemerkt haben -, gerade weil geeignete Fachkräfte fehlen, sondern auch das erschreckend hohe Niveau der Langzeitarbeitslosigkeit ist skandalös. Die hier seit 2002 vorhandenen Defizite haben zwar in erster Linie die Damen und Herren von der Sozialdemokratie zusammen mit den Grünen zu verantworten. Allerdings haben sie die HartzGesetze natürlich mit dem Segen von CDU/CSU und FDP beschlossen. ({6}) Aber auch die Große Koalition hat bisher nichts getan, um diese Situation positiv zu verändern. Um die Langzeiterwerbslosen macht nämlich nicht nur die Konjunktur einen Bogen; auch die Regierung und die hofberichterstattenden Medien tun das. Fünftens. Dank Hartz I bis Hartz IV nehmen wir bei der Langzeiterwerbslosenquote einen Spitzenplatz in Europa ein. Das hat natürlich seine Gründe. Einen haben Sie gerade angesprochen, als Sie den Fachkräftemangel beklagt haben. Aber wenn man zeitgleich die Förderung der beruflichen Weiterbildung herunterfährt und Weiterbildungsträger kaputtmacht, muss man sich nicht wundern, wenn man irgendwann einen Fachkräftemangel hat. ({7}) Andere Gründe sind die einseitige betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Bundesagentur, die verstärkte Privatisierung von Vermittlungsaufgaben, der Aussteuerungsbetrag und die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Dort, wo Sie als Große Koalition schon längst etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit hätten tun können, haben Sie bis jetzt versagt. Das betrifft besonders die Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung. Da haben Sie gestern nach neun Monaten - so lange liegen unsere Anträge mittlerweile im Parlament endlich etwas beschlossen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss, überspringe eine ganze Menge, und sage Ihnen nur eines: Arbeitslosigkeit zerstört Selbstbewusstsein und Kreativität. Und sie macht krank. Ich verzichte heute auf Ihren Lieblingssatz, zitiere einfach nur Viviane Forrester. Die bringt es nämlich auf den Punkt, wenn sie schreibt, Arbeitslosigkeit sei die Brutalität der Ruhe. Also tun Sie jetzt endlich was! Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Müntefering hat die beeindruckenden Zahlen zum Wirtschaftswachstum und zur erfreulichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vorgetragen. Ich finde, es lohnt sich, im Bundestag über die Ursachen für diese Entwicklung zu sprechen. Schlau ist man, wenn man dabei als Erstes nicht sich selbst, sondern andere lobt. Deshalb will ich das aufgreifen, was einige schon gesagt haben. Eine erste Ursache für die gute Entwicklung liegt bei den Unternehmen in unserem Land selbst. Sie haben sich nämlich wettbewerbsfähig gemacht, indem sie selber Strukturen geschaffen haben, mit deren Hilfe sie im internationalen Wettbewerb gut bestehen können. Die Familienunternehmen waren dabei besonders gut; das sieht man daran, dass sie im Durchschnitt mehr Personen eingestellt haben als die DAX-Unternehmen. ({0}) Deswegen sagen wir als Sozialdemokraten ganz deutlich: Es bewährt sich eben, wenn Unternehmen ihre Beschäftigten noch im Auge haben. Es bewährt sich, wenn sie die Familien der Beschäftigten, den regionalen Standort und den Standort Deutschland im Auge haben. Wer das tut, hat mittel- und langfristig im Wirtschaftsleben Erfolg. ({1}) Als Zweites sind die Gewerkschaften zu nennen. Es ist wahr: Durch acht bis zehn Jahre Lohnzurückhaltung haben wir inzwischen die niedrigsten Lohnstückkosten aller vergleichbaren Länder in Europa. Damit sind wir wettbewerbsfähig. Deswegen darf man auch mit Fug und Recht hinzufügen: Wenn es jetzt mit der wirtschaftlichen Entwicklung aufwärts geht, dann ist der Zeitpunkt gekommen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder an dem partizipieren, was in unserem Land erwirtschaftet wird. Auch das muss im Auge behalten werden. ({2}) Eine Frage ist: Hat auch die Politik etwas mit der Entwicklung zu tun? Herr Brüderle und Teile der Wirtschaft sagen, die Politik habe damit gar nichts zu tun. Für mich stellt es schon intellektuell ein Problem dar, nachzuvollziehen, wenn man mir in den Zeiten, in denen die Wirtschaft in Deutschland schlecht läuft, sagt, die einzige Ursache dafür sei die bescheidene Politik, die jetzt in Berlin oder damals in Bonn gemacht wurde, aber jetzt, wo die Wirtschaft gut läuft, sagt, dafür kann nur einer die Verantwortung tragen, nämlich nicht die Politik, sondern die Wirtschaft. Eine solche Argumentation zeugt also zum einen von intellektuell begrenztem Niveau. Ich halte sie aber zum anderen auch politisch für gefährlich. ({3}) Wir sagen damit doch den Bürgerinnen und Bürgern durch die Blume, ({4}) ob wir gute oder schlechte Politik im Bundestag machen, ist völlig unerheblich für die wirtschaftliche Entwicklung. Dann könnte man ja auch ganz davon absehen, politisch tätig zu werden. Das wäre ein Angriff auf die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Den wehre ich ab und halte dagegen: Jawohl, Politik hat etwas mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung zu tun. ({5}) Was sind also die politischen Ursachen für diese Entwicklung? Ich möchte dabei, ohne vordergründig parteipolitisch zu denken, auf Folgendes hinweisen: Spätestens seit Mitte der 80er-Jahre sind uns doch drei Grundprobleme unserer Gesellschaft bekannt: die Globalisierung mit ihren großen Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber auch auf die soziale Dimension unserer Marktwirtschaft, die demografische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und die technologische Entwicklung, die beispielsweise Auswirkungen auf das Qualifikationsniveau von Beschäftigten hat. Die Wahrheit ist: Wir alle, von der FDP über die Union und die Grünen bis zur SPD, müssen uns vorhalten lassen, dass wir es in den 90er-Jahren - wir in der Opposition, Sie an der Regierung - im Grunde versäumt haben, durch grundlegende Reformen auf diese drei großen Herausforderungen unserer Gesellschaft einzugehen. ({6}) Das Ende vom Lied war: Seit 1993 - egal, ob Sie oder, wie ab 1998, wir regiert haben - stand Deutschland immer auf dem letzten oder vorletzten Platz bei der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. dem Wirtschaftswachstum der EU-Länder. ({7}) Dann hat es - auch das bitte ich jetzt nicht nur parteipolitisch motiviert zu verstehen - eine Bundesregierung gegeben, die zum ersten Mal bewusst gesagt hat: Wir wissen, dass ein Weiter-so unserem Land nicht mehr helDr. Rainer Wend fen kann und grundlegende Reformen eingeleitet werden müssen, damit soziale Sicherungssysteme in unserem Land eine Zukunft haben und die wirtschaftliche Prosperität gewährleistet werden kann. Die damalige Bundesregierung hat dank der politischen Kräfteverhältnisse - im Bundesrat wurde das ja teilweise auch von den anderen Parteien unterstützt - entsprechende Maßnahmen durchgesetzt. Ich erinnere nur einmal an die erste Steuersenkung, bei der die Körperschaftsteuer von 45 auf 25 Prozent und der Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer um gut 10 Prozent gesenkt wurden, an die Verkürzung des Bezugszeitraums für das Arbeitslosengeld, an die 4 Milliarden Euro für Ganztagsbetreuung - das hat es in der letzten Legislaturperiode schon einmal gegeben, meine Damen und Herren -, an die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, an das Prinzip Fordern und Fördern von Arbeitslosen. Das war ein Gesamtpaket, das aus der politischen Erkenntnis, dass wir Reformen brauchen, um die Zukunft unserer Gesellschaft zu sichern, angestoßen wurde. Die Große Koalition hat jetzt die Aufgabe, die Umsetzung dieser Erkenntnis fortzusetzen. Damit begonnen hat sie mit dem Regierungsprogramm zur Verbesserung von Abschreibungsmöglichkeiten bei der Gebäudesanierung. Dadurch wurden mehr Aufträge vergeben. Auch die Rente mit 67, die vor uns liegende Unternehmensteuerreform und die Haushaltskonsolidierung gehören dazu. Was wäre es für ein Erfolg, wenn am Ende dieser Legislaturperiode das erste Mal seit 40 Jahren der Staat wieder feststellen kann, dass er nicht mehr Geld ausgibt, als er einnimmt, und einen ausgeglichenen Haushalt schafft? Diese Botschaft wäre für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes großartig. Die Große Koalition steht in den nächsten Jahren vor diesen Aufgaben. Sie darf und wird sich nicht in kleinteiligem politischem Streit verzetteln, ({8}) sondern sich der großen Aufgabe der Kontinuität der Reformpolitik stellen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seien Sie gegrüßt zu dieser Feierstunde der Regierung. ({0}) Es ist schon so: Der Aufschwung ist solide, und ich hoffe, dass er solide bleibt. Wir können zu Recht feststellen - Herr Wend hat darauf hingewiesen -, dass das sehr viel mit der Vergangenheit zu tun hat: mit der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit der mühsamen Strukturreform in den Unternehmen selbst und mit sehr mühsamen Strukturreformen im Zusammenhang mit der Agenda 2010 - das heißt auch mit dem, was die rot-grüne Regierung gemacht hat. Frau Wöhrl, ich erwähne das an dieser Stelle, weil Sie immer sagen, man müsse auch feiern, wenn man Gutes geleistet habe. Aber, meine Damen und Herren, Ihre Reaktion, sich sozusagen aufs Sonnendeck zu setzen und dort vor sich hinzudösen, ({1}) statt gemeinsam in den Maschinenraum zu gehen und aus dieser Situation etwas zu machen, ist nicht die richtige. Denn es geht im Kern nicht darum, wem dieser Aufschwung zu verdanken ist, sondern darum, wer davon profitiert und wer nicht und was wir für die Zukunft daraus machen. Das sind die zentralen Fragen, auf die ich ein wenig eingehen möchte. Wer profitiert vom Aufschwung? Die Unternehmen; das ist auch gut so. Aber was machen Sie daraus? Sie beschließen - dazu hätte ich gerne etwas gehört, Herr Wend - eine Unternehmensteuerreform, durch die die großen Konzerne um etwa 10 Milliarden Euro entlastet werden sollen, und das in der Phase eines konjunkturellen Aufschwungs, von dem sie ohnehin profitieren. Aber nicht nur das: Diese Steuerreform wird zulasten der mittelständischen und kleinen Unternehmen gestaltet. Herr Müntefering, Sie feiern hier den Arbeitsmarkt; aber wir wissen, dass eine zukünftige positive Beschäftigungsentwicklung in Deutschland zum großen Teil nur von den kleinen und mittleren Unternehmen ausgehen kann. ({2}) Genau diese werden Sie aber belasten. ({3}) Das, meine Damen und Herren, ist die falsche Entscheidung. Herr Wend, Sie fordern eine Haushaltskonsolidierung ein. Richtig so! Wann, wenn nicht jetzt? Im konjunkturellen Aufschwung müsste das möglich sein. Aber Sie machen das Gegenteil. Die Unternehmensteuerreform ist ein Beispiel dafür; aber es ist noch viel mehr in der Ausgaben-Wundertüte, wie wir in den letzten Tagen in der Zeitung lesen konnten. Sie machen keine ambitionierte Haushaltspolitik, die die zukünftigen Generationen entlasten würde. ({4}) Wer profitiert noch vom Aufschwung? Ich hoffe, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute Beschäftigung haben, über die Tarifverhandlungen davon profitieren werden, weil ihnen in der Vergangenheit zugesetzt worden ist. Die bereits abgeschlossenen Tarifverträge weisen darauf hin, dass sie profitieren werden. Ich glaube aber auch - das sage ich in Richtung der Tarifparteien -: Jetzt ist der Zeitpunkt, in den Tarifverhandlungen den positiven Faden der Vergangenheit wieder aufzunehmen und in den Tarifverträgen mehr Qualifizierung und lebenslanges Lernen in den Betrieben vorzusehen. Auch in Bezug auf mehr Gewinnbeteiligung in den Unternehmen muss man jetzt den Worten Taten folgen lassen. ({5}) Das war die Seite, die von dem Aufschwung profitiert. Es gibt andere, an denen dieser Aufschwung vorbeigeht, und zwar diejenigen - Herr Müntefering hat darauf hingewiesen - im Niedriglohnbereich. Ungefähr eine halbe Million Menschen bekommt trotz Vollzeitarbeit zusätzlich Arbeitslosengeld II, und die Zahl ist gestiegen. Jetzt ist der Zeitpunkt, um über einen Mindestlohn zu reden, und nicht, wie Herr Müntefering es will, irgendwann. Jetzt ist der Zeitpunkt, weil wir hier im Hause eine Mehrheit dafür haben. Wir Grüne haben dazu übrigens einen Antrag vorgelegt. Es ist auch aus konjunktureller Sicht der richtige Zeitpunkt. Wenn man nach England schaut, sieht man, dass so etwas am Anfang einer positiven konjunkturellen Entwicklung ökonomisch gut eingefädelt werden kann. Deshalb, finde ich, ist es ein Armutszeugnis für die SPD, darauf hinzuweisen, dass die Wahl in Bremen eine Testwahl für den Mindestlohn sei. Nein, die Bremerinnen und Bremer haben damit nichts zu tun. Wir unterstützen Sie gern hier im Bundestag bei diesem Projekt. Voran damit! Das ist die Zeit dafür! ({6}) Ich möchte auch noch kurz etwas zu den Langzeitarbeitslosen sagen. Die Zahl der Langzeitarbeitlosen sinkt langsamer als die Zahl der anderen Arbeitslosen. An ihnen geht der Aufschwung vorbei. Wir sehen nicht, dass im Bereich der Qualifizierung etwas getan wird. Wir sehen nicht, dass die Regierung zum Beispiel im Niedriglohnbereich die Lohnnebenkosten konzentriert absenkt, um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte zu schaffen. Wir haben mit dem Progressivmodell ja einen Vorschlag gemacht. Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, was mir in dieser doch so positiven Situation, die Chancen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland liefert, am meisten Sorgen macht. Sorgen macht mir, dass unser Wirtschaftsminister nicht sieht, dass aus dem Klimabericht deutlich wird, dass wir nur ein kleines Zeitfenster für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik haben, die einen Transformationsprozess in der Wirtschaft auf den Weg bringen muss. Sorgen macht mir

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- und damit komme ich zum Schluss -, dass wir am Anfang einer konjunkturellen Aufschwungphase nichts für eine ernsthafte Umsteuerung tun, sondern in Europa im Bremserhäuschen sitzen. Unser Wirtschaftsminister tut das gerade in Bezug auf den Klimaschutz.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das wird der Wirtschaft und den Beschäftigten in diesem Land in Zukunft schaden. Sie vertun Ihre Chancen! Schade! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, bei Ihnen habe ich irgendwie immer den Eindruck, dass Sie eine Rede im PC haben, bei der vor jedem Auftritt hier eine Zufallsvariable eingegeben wird, die die Sätze ein bisschen neu mixt. Dann kommt wieder dasselbe, was Sie beim letzten Mal gesagt haben - nur in ein bisschen veränderter Reihenfolge -, heraus. ({0}) Ich finde, Sie sollten in den Redetexten wirklich ein bisschen nachrüsten. Zu den Linken möchte ich vorweg noch einen Satz sagen: Sie haben nur zum Besten gegeben, dass die Wahrheit stört und dass Sie sich noch nicht einmal mit den 500 000 Menschen freuen können, die innerhalb eines Jahres einen neuen sozialversicherungspflichtigen Job erhalten haben, und mit den Hunderttausenden, die nicht mehr arbeitslos sind. ({1}) Was Ihre Beispiele betrifft, müssten Sie nur einmal die Protokolle des Bundestages der letzten Monate nachprüfen. Sie führen die Situation der Gebäudereiniger als besonderen Missstand an. Die Gebäudereiniger haben wir gemeinsam in das Entsendegesetz aufgenommen. Solche Grundkenntnisse sollten vorhanden sein. ({2}) - Dass Sie dabei nervös werden, kann ich mir vorstellen. ({3}) In diesem Zusammenhang ist auch der Mindestlohn gerade noch einmal angesprochen worden, auch von Ihnen, Frau Dückert. Die Gutachten der letzten Tage, die sich damit beschäftigen, sollten uns doch vor Augen halten, worauf es eigentlich ankommt. Uns kommt es darauf an, dass die Menschen ein ausreichend hohes EinLaurenz Meyer ({4}) kommen haben, um davon leben zu können. Wenn die Folge eines flächendeckenden Mindestlohnes ist, dass man zwar - so sagen es die Gutachten - vielen Menschen hilft, weil sie mehr verdienen und deshalb weniger auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, dies aber gleichzeitig Hunderttausende den Job kostet, dann sage ich: Lasst uns nach Möglichkeiten suchen, die nicht solche Kollateralschäden nach sich ziehen wie ein flächendeckender Mindestlohn. ({5}) Aus unserer Sicht gibt es bisher keine Alternative zu dem, was wir das Mindesteinkommen nennen. Wir müssen uns auch mit den „Aufstockern“ beschäftigen, dem harten Kern der Arbeitslosen. Das sind die weniger Qualifizierten, bei denen sich noch zu wenig getan hat. Die Binnenkonjunktur springt jetzt an. Sie springt nicht deswegen an, weil die Menschen am wirtschaftlichen Aufschwung über höhere Löhne beteiligt werden; das kommt ja erst noch. Die Binnenkonjunktur springt vielmehr an, weil das Angstsparen abgenommen hat. Immer weniger Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Diese hatten bisher jeden Euro auf die Seite gelegt - das ist doch völlig natürlich -, weil sie nicht wussten, was auf sie zukommt. Die zusätzliche Sicherheit, hervorgerufen durch die positive Arbeitsmarktentwicklung und durch die Wachstumsraten, lässt erstmalig seit langer Zeit bei uns die Binnenkonjunktur anspringen. Deshalb sind Aktuelle Stunden über dieses Thema so wichtig. Damit verbreiten wir eine Aufbruchstimmung in ganz Deutschland. ({6}) Der Kollege Wend hat in seiner Rede - in vielen Punkten stimme ich mit ihm überein - Reformen angesprochen, die zu einem großen Teil von uns gemeinsam beschlossen worden sind. Deswegen sollten wir uns gegenseitig keine Noten geben. Herr Müntefering hat darauf hingewiesen, dass bei uns die Beschäftigungsschwelle von über 2 Prozent auf 1 bis 1,5 Prozent gesunken ist. Ein Punkt kam in der Rede des Kollegen Wend nicht vor, dem ich aber eine sehr große Bedeutung zumesse: Nicht nur die Bedingungen für die Unterstützung - ich nenne das Arbeitslosengeld II und die Hartz-IV-Gesetze wurden neu geregelt, sondern auch die Bedingungen für die Zeitarbeit. Diese geänderten Rahmenbedingungen für die Zeitarbeit haben zu mehr Flexibilität im Markt geführt. Es zeigt sich doch - lasst uns darüber ohne Schaum vor dem Mund reden! -, dass mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt für die Menschen positive Auswirkungen hat. Dass über die Hälfte der Arbeitsplatzzuwächse im Bereich der Zeitarbeit erfolgt, ist doch ein Zeichen dafür, dass die Unternehmen angesichts eines stark reglementierten Arbeitsmarktes die beiden einzigen ihnen zur Verfügung stehenden Ventile, nämlich Zeitarbeit und Minijobs, nutzen. ({7}) Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie man Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt, die sich auf Neueinstellungen positiv auswirken, sozialverträglich durchführen kann. ({8}) Die Bevölkerung ist bereit für Veränderungen; denn sie sieht, dass Reformen etwas bringen. ({9}) Ich will noch auf Folgendes hinweisen: 900 000 offene Stellen sind eine Aufforderung an uns, schnell zu handeln. Dazu gehören auch Maßnahmen im Ausbildungsbereich, die Sie, Herr Müntefering, angesprochen haben. Es will mir nicht in den Kopf, dass sich einige von Ihnen - gegen ihre eigenen vernünftigen Einsichten dagegen wehren, jungen Leuten unter 18 Jahren zu gestatten, bis 23 Uhr im Gaststättenbereich im Rahmen einer Lehre zu arbeiten. Diese jungen Leute warten dann, bis die 18-Jährigen mit ihrer Arbeit fertig sind, um danach gemeinsam in die Disco zu gehen. Hier könnten 2 000 zusätzliche Ausbildungsplätze auf einen Schlag entstehen. Warum kann man solche kleinen Dinge nicht sofort regeln? Wir brauchen mehr Flexibilität. Der Arbeitsminister braucht Mut für weitere Veränderungen. Die Bevölkerung hat verstanden. Sie hat erkannt, dass Veränderungen auch etwas für den Einzelnen bringen. Deshalb müssen wir hier weitermachen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht nun Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, wir als Rheinland-Pfälzer müssen das Freuen doch nicht lernen. Wir können es doch am besten. Die Opposition hat es immer schwer. Wenn es dann aber noch gut läuft, wird es wirklich hart. ({0}) Herr Brüderle, Ihnen ist es wohl nicht möglich, anzuerkennen, dass es in diesem Land 20 Prozent zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt, ({1}) seitdem diese Große Koalition regiert. Wir werden es in dieser Legislaturperiode schaffen, die Neuverschuldung gegen null zu führen. Die Zahl der Arbeitslosen wird unter 4 Millionen bleiben. Wenn das kein Grund zum Freuen ist, dann lade ich Sie, Herr Brüderle, in die Eifel ein: Dann üben wir das einmal. ({2}) Jetzt wird oft gefragt: Wer ist denn verantwortlich dafür, dass wir uns freuen dürfen? Es ist tatsächlich so, dass wir das größte Investitionswachstum seit der Wiedervereinigung haben. Insbesondere im Gewerbebau, in der Industrie und in den unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereichen ist das die Marke, die sich auch auf die Beschäftigung auswirkt. In allen Bundesländern und in allen Branchen gibt es mehr Beschäftigung. Wesentlich mehr Beschäftigung gibt es in Ostdeutschland, insbesondere in Brandenburg und Sachsen. Das sind die Früchte von zwei großen Entscheidungen: Das ist zum Ersten die Frucht der Strukturreformen, die unter Rot-Grün richtigerweise eingeleitet wurden. Das ist zum Zweiten die Frucht eines Impulsprogramms, das wir am Anfang dieser Legislaturperiode initiiert haben. Wir haben gesagt: Wir müssen erst einmal einen Schub geben, damit es tatsächlich ein selbsttragendes Wachstum gibt. Wir haben die degressive AfA verbessert. Wir haben ein Programm zur energetischen Gebäudesanierung aufgelegt, das gerade in der Bauwirtschaft entsprechend gewirkt hat. Genau an dieser Stelle haben wir, anknüpfend an die Strukturreformen von Rot-Grün, zu Anfang dieser Legislaturperiode in der Großen Koalition die richtigen Weichen gestellt. Das darf man doch selbstbewusst hier sagen. Warum sollte man das verschweigen? Das ist die Wahrheit. ({3}) Insoweit sage ich ehrlich Dank denjenigen - auch da sollte man einmal mit einigen Vorurteilen aufräumen -, die das zuwege gebracht haben. Wir haben mit unserer Gesetzgebung zu Hartz IV erhebliche Stolpersteine für die Leute vor Ort, in den BAs, in den Argen, den Optionskommunen usw., produziert. Diese Stolpersteine, zum Beispiel was das Softwareprogramm anging, haben diese Menschen mit Überstunden und mehr gemeistert. Wir können jetzt wirklich sagen, dass es im letzten Jahr im Bereich des SGB III 25 Prozent weniger Arbeitslosigkeit und - das erscheint mir noch wichtiger - im Bereich des SGB II 12 Prozent weniger Arbeitslosigkeit gab. Das liegt auch an der professionelleren und effizienteren Vermittlung, die wir durch unsere Reformen eingeleitet haben. ({4}) Auch dazu von meiner Seite danke schön! Den Aufschwung muss es für alle geben. Bei all der Freude vor allem derjenigen aus dem Bereich des SGB III, die gut vermittelt wurden, muss man auch an diejenigen denken, die in einer solchen Aufschwungphase aufgrund verschiedenster Vermittlungshemmnisse zurückbleiben. Aber auch hier, liebe Kollegen, ist die Große Koalition nicht tatenlos. Im Gegenteil: Wir haben für die Jungen - Franz Müntefering hat es gerade ausgeführt - ein spezielles Förderprogramm in Form einer Kombination aus Qualifizierung und Kombilohn aufgelegt. Dies werden wir jetzt anpacken, um gerade diejenigen, die keine Berufsausbildung haben, in dieser guten Situation in den ersten Arbeitsmarkt hineinzubekommen. Wir legen zudem ein Programm für 100 000 Langzeitarbeitslose auf. Denn wir wissen: Nicht alle schaffen es, durch bloße Aktivierung auf den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. Wir nehmen dies ernst. Wir schaffen deswegen einen geförderten Arbeitsmarkt in Deutschland, der den Betroffenen auch wirklich eine Brücke baut. Herr Brüderle, Zeitarbeit ist doch kein Problem. Zeitarbeit an sich ist keine prekäre Arbeit. Wenn es in der Zeitarbeit einen Mindestlohn gibt - im Tarif ist dies schon vorgesehen; die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer wollen dies -, dann ist Zeitarbeit für mich, soweit es in diesem Bereich vernünftig läuft - die Branche hat in den letzten Jahren Gutes geleistet -, keine prekäre, sondern eine sinnvolle Arbeit. Sie sollte aber bitte mit Mindestlöhnen und sozialen Standards einhergehen, und es sollte kein Wildwuchs und keine Schmutzkonkurrenz untereinander bestehen, wie das jetzt noch der Fall ist. ({5}) Deswegen klipp und klar unsere Aussage: Die Einführung eines Mindestlohns wird diesen Aufschwung nicht blockieren. Sie wird auch keine Arbeitsplätze kosten, Herr Meyer. Das ist Propaganda; dafür gibt es gute Gegenbeispiele. Ein Mindestlohn kann den Aufschwung, den wir jetzt haben, so gestalten, dass alle davon profitieren. ({6}) Das ist das erklärte Ziel der Sozialdemokratie und, wie ich hoffe, auch der Großen Koalition. Die CDU/CSU wirft ihr Herz über die Hürde; da bin ich mir ganz sicher. Am Montag werden wir nämlich über Mindestlöhne reden. Dann werden Sie Ihr Herz über die Hürde werfen. Ich würde mich freuen. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht der Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In einer sozialen Marktwirtschaft ist ein wirtschaftlicher Aufschwung immer das Produkt der Arbeitnehmer, der Unternehmer und auch der Politik. Ich möchte diese Aktuelle Stunde dazu nutzen, das Thema von einer etwas anderen Seite zu beleuchten: Welche schwierigen Aufgaben liegen vor uns? Wir stehen tatsächlich vor schwierigen Aufgaben. Wir sollten die Zeit und die Ereignisse, die wir jetzt feiern, nutzen, um folgende Fragen zu beantworten: Wie ist ein solcher Aufschwung in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu gestalten? Wie können wir seitens der Politik die Rahmenbedingungen so setzen, dass sich die Phase des Aufschwungs, des wirtschaftlichen Wachstums so entwickelt, dass wir möglichst viele Jahre von einem gesunden wirtschaftlichen Wachstum ausgehen können? Das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland steht auf zwei Füßen - die Frau Staatssekretärin hat es schon betont -: Zum einen ist es die Binnennachfrage, zum anderen ist es das Auslandsgeschäft. Bei der Binnennachfrage müssen wir klar erkennen, dass nicht die Stärkung der Massenkaufkraft an sich die Ursache ist. Die Ursache ist nach meinen Erkenntnissen vielmehr, dass weite Teile unserer Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Geschehnisse in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt wieder mehr Vertrauen in ihre eigene wirtschaftliche Situation setzen. Durch diese mentale Einstellung sitzt das Geld wieder etwas lockerer. Bei der Exportwirtschaft müssen wir klar sehen, dass man im Ausland erkannt hat, dass deutsche Produkte nicht nur teurer, sondern in weiten Bereichen auch qualitativ besser und damit ihr Geld wert sind. Um die Frage der Nachhaltigkeit weiter zu beantworten, komme ich auf Herrn Brüderle zu sprechen. ({0}) Herr Brüderle, es ist ja ganz toll, was Sie Mal für Mal verkünden. ({1}) Ich sage Ihnen eines: Wenn es noch einen Fanatiker für Steuersenkungen in diesem Haus gibt, dann bin ich es. ({2}) Aber ist es in einer Situation, in der wir bei einem Bundeshaushaltsvolumen in Höhe von 260 Milliarden Euro rund 40 Milliarden Euro allein für Zinsen ausgeben, zu verantworten, den Menschen zu suggerieren, wir wären in der Lage, die Steuern nennenswert zu senken? Ist das wirklich seriös? ({3}) Ich bin in dieser Frage ganz bestimmt nicht nur ein Haushälter oder Buchhalter, sondern wirklich auch ein Kaufmann. Aber die Nettoneuverschuldung zum jetzigen Zeitpunkt wieder anzuheben, indem man bei den Einnahmen kürzt, ist für meine Begriffe unredlich. Das muss man der Bevölkerung sagen. ({4}) Es ist ganz sicher nicht mit dem zu vereinbaren, was wir der Bevölkerung mitteilen wollen: dass sie Vertrauen in diese Politik setzen soll. Wenn wir solche Sprüche loslassen, dann trifft auch - das ist Ihr Spruch, Herr Brüderle - zu: ({5}) Er liegt in der Sonne und denkt nicht. Wir haben noch eine ganze Reihe von Aufgaben vor uns. Das ist wahr. Die Pflegeversicherung bedarf einer vernünftigen Lösung. Der Haushalt ist Jahr für Jahr ein schwieriges Thema. Wir werden auch das Erbschaftsteuerrecht auf eine vernünftige Schiene setzen. ({6}) - Ja, was immer das heißt. - Heute ist so viel Positives über die deutschen Familienunternehmen gesagt worden. Durch die Erbschaftsteuerreform werden wir insbesondere die deutschen Familienunternehmen entlasten. ({7}) Wir werden keine Steuersenkung, sondern eine Erbschaftsteuerbefreiung vornehmen. ({8}) Sie müssten eigentlich mitfeiern, wenn wir solche Dinge machen. ({9}) Wir haben noch viel vor, um den Aufschwung nachhaltig zu gestalten. Wir haben auch die Risiken im Auge - die dürfen wir nämlich nicht übersehen -, zum Beispiel die Entwicklung der US-Konjunktur und den anhaltenden Aufwertungsdruck auf den Euro. Auch der Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise ist gefährlich. Ferner müssen wir mit den Risiken, die zu hohe Lohnabschlüsse oder zu lange Arbeitskämpfe mit sich bringen, leben. Wir müssen sie immer im Auge haben. Ich meine aber: Deutschland hat eine gute Perspektive. Deutschland hat eine gute Regierung. Wir werden den Aufschwung nachhaltig gestalten. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Katja Mast für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Können Sie sich noch an den 23. Mai 2005 erinnern, den Tag der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen? Das war der Tag, an dem Gerhard Schröder im Kampf um die Fortsetzung sozialdemokratischer Reformpolitik vorgezogene Neuwahlen forderte. Können Sie sich erinnern, was Sie damals über Konjunktur und Arbeitsmarkt dachten? Und heute? Die Wirtschaft brummt. Das Wirtschaftswachstum lag 2006 bei 2,7 Prozent. Die Lohnnebenkosten liegen bei 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit sinkt unter 4 Millionen, und wir haben 650 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr. Die Renten steigen wieder. Wenn alle Gewerkschaften ähnliche Tarifverträge wie die IG Metall in Baden-Württemberg abschließen, können wir die Renten wieder deutlicher erhöhen. ({0}) Die Nettoneuverschuldung liegt bei unter 20 Milliarden Euro und ist damit die niedrigste seit der Wiedervereinigung. Die Defizitkriterien der Europäischen Union werden eingehalten. Können Sie sich daran erinnern, mit welchen Umfragewerten die SPD in den kurzen, aber harten Wahlkampf startete, welche Argumente uns Sozialdemokraten am Infostand begegnet sind? ({1}) Wisst ihr noch, wie schwer es war, die Entscheidungen trotz schlechter Umfragewerte durchzuhalten? Wir haben durchgehalten, gemeinsam mit den Grünen; die wurden dafür aber ein bisschen weniger kritisiert. Der jetzige Aufschwung, die sinkenden Arbeitslosenzahlen und die verbesserte Haushaltssituation sind Früchte der rotgrünen Regierung und der Kontinuität in der Großen Koalition. ({2}) Mutige Handlungen wie die Reformen am Arbeitsmarkt, das 3-Prozent-Investitionsziel im Bereich Forschung und Bildung, das Ganztagsschulprogramm, die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, unsere Steuerreform, die kleine Einkommen, Familien und mittelständische Unternehmen entlastet hat - diejenigen, die Arbeitsplätze in Deutschland schaffen -, und nicht zuletzt der Atomausstieg, ({3}) der mit der Förderung regenerativer Energien gekoppelt wurde - das sind nur einige der Maßnahmen, die zum jetzigen Aufschwung beigetragen haben und von der vorangegangenen Regierung veranlasst wurden. Wir führen diese Arbeit kontinuierlich fort: Das Elterngeld, die steuerliche Begünstigung privater Sanierungen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes und die Förderung des Ehrenamtes sind nur einige Beispiele für die Kontinuität in der heutigen Koalition. ({4}) Bei der Debatte um den Mindestlohn steht die SPD felsenfest. ({5}) Wir wollen tarifliche Vereinbarungen. Dort, wo das nicht geht, wollen wir eine gesetzliche Lösung. ({6}) Wir wollen keine Armutslöhne, die vom Staat und damit von den Steuerzahlern, also jedem Einzelnen von uns, bezahlt werden. Für die Lohnzahlung sind in Deutschland die Unternehmen verantwortlich. Wir Sozialdemokraten sind übrigens diejenigen gewesen, die über das Entsendegesetz Mindestlöhne für das Baugewerbe gesichert haben. Erst jüngst haben wir mit den Stimmen der Koalition das Gebäudereinigerhandwerk, in dem 850 000 Menschen arbeiten, in dieses Gesetz aufgenommen. ({7}) Aber auch für die, die vom Aufschwung noch nicht erreicht werden, bleiben wir nicht still, nicht nur beim Thema Mindestlohn. Wir wollen Jobperspektiven für Langzeitarbeitslose. Diejenigen, die arbeiten wollen, sollen das dort tun, wo Arbeit heute brachliegt, ob im sozialen Bereich, im öffentlichen Bereich oder in der Wirtschaft. Sie sollen statt Arbeitslosengeld eigene Ansprüche erwerben und voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein. Ja, wir sind stolz auf die Arbeit unserer Regierung, und wir sind stolz, dass sich diese Leistungen im Aufschwung widerspiegeln. Aber für uns von der SPD ist der Aufschwung kein Selbstzweck: Die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen und nicht der Mensch der Wirtschaft. Deshalb gibt die SPD so lange keine Ruhe, bis dieser Aufschwung bei jedem Einzelnen ankommt. Wir wollen Aufschwung für alle. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht der Kollege Wolfgang Meckelburg. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bemerkenswerteste Ausführung heute war, wie ich finde, der Satz von Frau Nahles über die große Große Koalition. Es hat mich beeindruckt, dass selbst Frau Nahles gesagt hat, die Große Koalition kriegt etwas Großes hin - manche von Ihnen bestreiten das ja. Wie gesagt, ich finde das großartig; denn das ist eine Basis, um in den strittigen Fragen ein Stückchen weiterzukommen. ({0}) Sie haben zugegeben, dass Sie zu Ihrer Regierungszeit ein paar Stolpersteine gebaut haben; dem widerspreche ich nicht. Doch wenn Sie, Frau Nahles, hier so einfach sagen: „Beim Mindestlohn wird am Montag gesprungen“, dann vertun Sie sich. Mit den Mindestlöhnen ist das nicht so einfach. Jeder, der eine Zahl nennt, bekommt Schwierigkeiten. Die Leute überbieten sich mit Forderungen: Der eine will einen Mindestlohn von 6,50 Euro, der Nächste von 7 Euro, dann kommt einer und fordert 7,50 Euro, die KAB, habe ich gehört, fordert sogar 8,50 Euro. Da kann ich nur sagen: Wer so etwas gesetzlich festlegt, der macht Arbeitsplätze kaputt. An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. ({1}) Von anderer Seite heißt es, man müsse ja nur festlegen, sittenwidrige Löhne beginnen unterhalb von zwei Dritteln von dem, was in der Branche durchschnittlich vereinbart ist. Das hilft der berühmten Friseurin in Thüringen auch nicht. Zwei Drittel von 3,18 Euro ist nicht viel. Für diese Festlegung würde ich mich also auch nicht unbedingt einsetzen. Wir brauchen irgendeine Auffanglinie, die sich an den Daten, die wir haben, orientiert. ({2}) - Darüber sollte man sich hinter verschlossenen Türen langsam einigen. ({3}) - Nein, nein. Das können nur die Tarifpartner vereinbaren. Überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt, sind die Rahmenbedingungen völlig anders als bei uns in der Bundesrepublik: Dort ist die Tarifautonomie nicht wichtig, spielen die Gewerkschaften eine völlig andere Rolle, gibt es andere Systeme. In unserem System sind die Tarifparteien diejenigen, die in den Regionen und für ihre Branchen am besten aushandeln können, was machbar ist und was nicht. Auf diesen Weg sollten wir uns endlich begeben! ({4}) Wovon ich gar nichts halte - damit auch das klar ist -, ist, wenn Gewerkschaften - ich nenne sie jetzt nicht namentlich -, die an Tarifabschlüssen beteiligt waren, bei denen unwahrscheinlich niedrige Löhne vereinbart worden sind, jetzt auf die Straße gehen und von uns verlangen, dass wir, die Politik, das mit Mindestlöhnen korrigieren. Von solchen Gewerkschaften halte ich nichts; die manchen ihren Job nicht. ({5}) - Nein, das sind nicht die christlichen. Ich meine Verdi; damit Sie es wissen. Lassen Sie mich zum Thema der Aktuellen Stunde etwas sagen: Der Aufschwung geht weiter. Deutschland hat den kräftigsten Aufschwung seit der Wiedervereinigung. Die Gewinne der Unternehmen steigen, die Auftragsbücher der Firmen sind voll. Fachkräfte werden dringend gesucht; wir werden uns in allernächster Zeit über Fachkräftemangel unterhalten müssen. Die Arbeitslosigkeit sinkt merklich; die Zahlen sind genannt worden. Das Wichtigste ist: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt wieder. Frau Dückert, Sie haben vorhin gesagt, wir stünden auf dem Sonnendeck, wir sollten uns mal in den Maschinenraum begeben. Dieses Bild ist alt; das haben wir schon gebraucht, als Sie noch mit Rot zusammen regiert haben. Heute stelle ich fest, dass wir im Maschinenraum sitzen. Während Ihrer Regierungszeit sind 65 Monate lang Monat für Monat sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abgebaut worden. Insgesamt waren es 1,5 Millionen. ({6}) Seit Mai letzten Jahres steigt die Zahl wieder. Wir haben 650 000 neue sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das ist die größte Leistung des letzten Jahres auf dem Arbeitsmarkt. Nehmen Sie das einfach zur Kenntnis. ({7}) - Nein, das ist nicht peinlich. Die Zahl stimmt. Sie können daran drehen, wie Sie wollen. Ich will auch in Richtung von Herrn Brüderle noch etwas sagen. Wir sind und bleiben in der Politik freundschaftlich miteinander verbunden, aber es kann nicht sein, dass Sie uns hier vorwerfen, wir würden heute eine Feierstunde abhalten und uns sonnen, während Sie als Schattenwerfer auftreten und wirklich jedes Stichwort aus der Kiste holen, um den Schatten möglichst so groß zu machen, dass von dem Erfolg der Bundesregierung nichts mehr übrig bleibt. ({8}) Herr Brüderle, wären Sie mit uns zusammen in der Koalition, dann würden Sie Seite an Seite bei uns stehen und Feste feiern, bis es nicht mehr geht. ({9}) Wir feiern diese Feste heute nicht, sondern wir stellen fest, dass wir in diesem einen Jahr auf dem Arbeitsmarkt, beim Wirtschaftswachstum und bei den Steuereinnahmen wesentlich weiter vorangekommen und auf einem guten Weg sind. Wenn das gilt, was Frau Nahles hinsichtlich der großen Großen Koalition gesagt hat, dann liegen noch große Jahre vor uns. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht, dass jetzt jemand das Gerücht streut, in der Großen Koalition würden nur schlagende Argumente zählen. Es ist nur mein Zahn. Wir schlagen uns also noch nicht, sondern wir tauschen die Meinungen so aus. „Spiegel Online“ meldete am 30. April 2007, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt angekommen ist. Es ist für mich in der Tat die wichtigste Aussage zu der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, dass der Aufschwung endlich am Arbeitsmarkt angekommen ist. 650 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind nämlich zumindest für die Menschen, die sie bekommen haben, weiß Gott mehr als nur 650 000 neue Jobs. ({0}) Die positiven Zahlen sind für uns Ansporn und Bestätigung zugleich. Sie sind Bestätigung, weil die sozialdemokratische Agendapolitik endlich wirkt, und sie sind Ansporn, diesen Weg in der Großen Koalition natürlich auch weiterzugehen. Wir werden ihn so lange gehen, bis der Aufschwung bei allen Menschen angekommen ist; denn schließlich haben die Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Fabrikhallen, den Büros und den Handwerksbetrieben diesen Aufschwung miterarbeitet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Reformen brauchen Zeit. Dieser Satz ist so lapidar wie richtig. Dies gilt auch und besonders für Steuerreformen und für die Haushaltspolitik, durch die der Aufschwung in den vergangenen Jahren mitbewirkt wurde. Anfang 2006 haben wir ein 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm auf den Weg gebracht. Das war die Initialzündung für Wachstum und Beschäftigung. Dazu werden wir auch mit der Unternehmensteuerreform einen Beitrag leisten. Frau Dückert, hier muss ich Ihnen widersprechen. Es ist toll und plakativ, zu sagen: Ihr gebt den Großen und nehmt den Kleinen. - Es stimmt nicht. Der „Focus“ hat die Studie des ZEW ausgewertet. Dort steht: Allerdings seien in erster Linie mittelständische Unternehmen auf der Gewinnerseite, da sie von den geplanten Gegenfinanzierungsmaßnahmen weitgehend verschont bleiben würden … Es sind nicht die Großkonzerne; vielmehr wird der Mittelstand durch uns gestärkt, genau der Mittelstand, der hier eben gelobt wurde, weil er für den Beschäftigungsaufschwung gesorgt hat. ({1}) Wir haben die Kommunen in den vergangenen Jahren gestärkt, und wir werden sie auch weiter stärken. Die Kommunen erleben seit 2004 ein Rekordjahr nach dem anderen. Warum ist das so wichtig? Die Kommunen sind die größten öffentlichen Auftraggeber, und - das ist mindestens genauso wichtig - das Geld, das die Kommunen ausgeben, bleibt in der Regel in der Region. Wenn Riesenprojekte des Bundes europaweit ausgeschrieben werden, dann ist nicht gesagt, dass der Auftrag in Deutschland bleibt. Bei den Kommunen ist das anders. Jeder Euro, den die Kommunen mehr haben, entspricht einem Förderprogramm für die lokale Wirtschaft. ({2}) Erst wenn sich die Menschen in ihrer Kommune wohlfühlen, weil die dringend notwendigen Investitionen - ob in Straßen, Gebäude, soziale Einrichtungen, Schulen oder Kinderbetreuung - getätigt werden, sind sie wieder selber bereit, zu investieren. Dies ist notwendig, weil es den Binnenmarkt stärkt. ({3}) Das kommunale Investitionsprogramm, das noch auf die Regierung Schröder zurückgeht, ist nicht umsonst wieder aufgelegt worden. Im Jahr 2006 sind rund 3,2 Milliarden Euro ausgegeben worden. Damit sind rund 1 450 Vorhaben mitfinanziert worden. Ich darf in diesem Zusammenhang an das Ganztagsschulprogramm erinnern, mit dem den Kommunen 4 Milliarden Euro für Baukosten zur Verfügung gestellt wurden. Auch dieses Geld geht an regionale Unternehmen und stärkt das Handwerk und die heimische Wirtschaft, weil es vor Ort ausgegeben wird. Auch die privaten Haushalte - lange Zeit ein vernachlässigter Sektor, was die Beschäftigung anbelangt - stärken wir durch steuerliche Maßnahmen. Die Sanierung und die Modernisierung von Wohnraum werden ebenso steuerlich gefördert wie Kinderbetreuung, Pflege oder die Reinigung der Wohnung. Damit holen wir diesen Wirtschaftssektor aus dem grauen oder schwarzen Bereich und fördern legale Beschäftigung. Ich denke, wir haben allen Grund, uns zu freuen, und glaube, dass die Handvoll Beispiele, die ich genannt habe, deutlich machen, dass der Aufschwung zwar nicht nur, aber auch etwas mit der Regierung und der Koalition zu tun hat. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde erhält der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Brüderle ist schuld daran, dass ich anders anfangen muss, als geplant. Sie haben eine Zeit lang geleugnet, dass es einen Aufschwung gibt. Jetzt können Sie das nicht mehr tun; denn es gibt unverkennbar mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Das können Sie nicht mehr leugnen. Jetzt darf es Ihrer MeiGerald Weiß ({0}) nung nach aber nicht der Regierung zugute gehalten werden. ({1}) Der Aufschwung ist zwar nicht nur der Regierung zu verdanken - auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die Weltwirtschaft, die Wissenschaft und andere haben ihren Beitrag dazu geleistet -, sie hat aber mit der positiven Änderung der wirtschaftlichen Rahmendaten, die für die Menschen wichtig sind, ihren Anteil daran. ({2}) Als Spezialservice für den ehemaligen Studienkollegen aus Mainz greife ich aus dem oft erwähnten 25-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung nur einen Baustein heraus, um die Wirkung abzuleiten. Das erwähnte CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat im Jahr 2006 Investitionen im Umfang von 11 Milliarden Euro ausgelöst. Das können Sie anhand der Wachstumsrate nachprüfen. Mit einem Anteil von 0,5 Prozent am Sozialprodukt bedeutet das einen Wachstumsschub, der zu den verbesserten Wachstumsraten in Deutschland geführt hat. ({3}) Wenn man berücksichtigt, dass Investitionen in Höhe von 1 Milliarde Euro 25 000 neue Arbeitsplätze erschließen, dann ist der Zusammenhang zwischen Investitionen und Beschäftigung hergestellt. ({4}) Frau Möller, Sie haben in düsteren Farben beschrieben, dass der Aufschwung nicht die Menschen erreicht. Wir haben aber 823 000 Arbeitslose weniger, 650 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, 27 Prozent weniger arbeitslose Jugendliche, 14 Prozent weniger ältere Arbeitslose über 50 und 80 000 mehr Beschäftigte über 55 Jahre als im Vorjahr. All diese Menschen hat der Aufschwung konkret und glücklich erreicht. ({5}) Wie können Sie das leugnen? ({6}) - Ich könnte auch von der Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung reden, Kollege Brüderle. Das will ich an dieser Stelle aber nicht tun. Es ist vor allem ein Vertrauensaufschwung. Am Anfang gibt es mehr Vertrauen und Zutrauen. Es ist demoskopisch belegbar, dass es seit Antritt der Großen Koalition eine Zunahme bei den Investitionsplänen gibt. Die Investitionspläne von gestern sind die Aufträge von heute. Herr Brüderle, wir haben mit einem Plus von 10 Prozent bei den Auftragserteilungen in der Industrie den größten Zuwachs zu verzeichnen, der jemals statistisch erfasst wurde. Die Aufträge von heute sind die Arbeitsplätze von morgen, Herr Brüderle. Das ist der Zusammenhang mit der Beschäftigung. Es handelt sich um einen Vertrauensaufschwung. Ich lade Sie zu folgendem Gedankenmodell ein: Wenn Genossen à la Gysi und Lafontaine heute die Regierungsverantwortung hätten, gäbe es kein Zukunftsvertrauen. Aber die Große Koalition hat es trotz vieler Mühseligkeiten - die Rente mit 67 ist sicherlich nicht populär, aber langfristig notwendig geschafft, das Vertrauen und das Zutrauen der Menschen in die Zukunft wieder zu festigen. Das setzt sich um: gestern in verbesserte Investitionspläne, heute in verbesserte Investitionsmaßnahmen und - erkennbar - im Konsumverhalten. Die Menschen trauen sich mehr. Da die Menschen keine Angst mehr haben, beispielsweise den Arbeitsplatz zu verlieren, trauen sie sich, hochwertige Gebrauchsgüter anzuschaffen. Auch im Konsumbereich zeigt sich also das gestiegene Zukunftsvertrauen. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Das sind wir erst, wenn der Aufschwung alle Menschen erfasst, wenn es allen besser geht. Deshalb kümmern wir uns um die Problemgruppen. Mit dem, was es jetzt beschlossen hat, verfolgt das Kabinett die Absicht, den Menschen zielgerichtet zu helfen, die nicht ohne Weiteres durch mehr Wachstum in die Wirtschaft integriert werden können. Wenn wir die sozialen Sicherungssysteme zielgenauer machen, wie es beim Sozialgesetzbuch II in mehreren Schritten geschehen ist, dann erfüllen wir das zweite Kernanliegen unseres Koalitionsvertrages, die sozialen Sicherungssysteme zu festigen. Die sozialen Sicherungssysteme spiegeln ebenfalls schon den Aufschwung wider. Wirtschaftswachstum ist sicherlich nicht alles. Aber ohne es ist alles andere nichts. Die geringeren Ausgaben und die verbesserten Einnahmen des Sozialstaates - das gilt vor allem in der Arbeitslosenversicherung - zeigen, dass wir auf einem guten Weg sind. Den sollten wir weitergehen. Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht - Drucksache 16/576 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 16/5283 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({1}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Joachim Stünker Wolfgang Nešković Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, hierüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesregierung.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man den Titel des heute vorliegenden Gesetzentwurfes wörtlich auslegte, dann müsste man zu dem Schluss kommen, dass es um die Pressefreiheit in unserem Land schlecht bestellt ist. ({0}) Kollege Montag, richtig ist jedoch: Die Pressefreiheit genießt nach unserer Verfassungsordnung besonderen Schutz, auch im Straf- und Strafverfahrensrecht. Sie genießt aber keinen uneingeschränkten Schutz. Es geht deshalb immer um einen sachgerechten Ausgleich zwischen Pressefreiheit und Strafverfolgung. Nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Aufgabe des Staates, Straftaten aufzuklären und Straftäter zur Rechenschaft zu ziehen, hat Verfassungsrang. Dabei müssen zwei Aspekte auseinander gehalten werden. Da ist zum einen die Bewertung der gesetzlichen Regelungen - darauf werde ich mich konzentrieren -, und da ist zum anderen die von mir nicht zu behandelnde Frage, ob die geltenden Vorschriften im Einzelfall von Gerichten und Staatsanwaltschaften mit dem nötigen Augenmaß angewandt worden sind. ({1}) Der geltende § 353 b Strafgesetzbuch, also die Strafvorschrift über die Verletzung von Dienstgeheimnissen, sorgt für einen angemessen Ausgleich zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des Staates und dem Interesse der Bürger und Medien an einer öffentlichen Kontrolle staatlichen Handelns, wie es in einem Rechtsstaat unverzichtbar ist. Ihr Gesetzentwurf würde an dieser Stelle eine Schieflage verursachen, weil er den Interessen der Medien einen generellen Vorrang einräumt. Dass Anstiftung und Beihilfe strafbar sind, ist fester Bestandteil unseres Strafrechtssystems ({2}) und gilt grundsätzlich für alle Deliktsbereiche, auch für den Verrat von Dienstgeheimnissen, weil auch hier Anstiftung und Beihilfe einen eigenen Unwertgehalt haben. Man kann deshalb nicht, wie Sie es wollen, den Amtsträger als Haupttäter bestrafen, weil sein Geheimnisverrat wichtige öffentliche Interessen gefährdet, während der Medienmitarbeiter, der genau dazu angestiftet hat, generell straflos bleiben soll. Damit würde die Grenze zwischen noch erlaubter journalistischer Grundrechtsausübung und der aktiven Begehung von Straftaten insgesamt ins Rutschen geraten. Wenn Sie das Prinzip von Täterschaft und Teilnahme an dieser Stelle durchbrechen - für eine Berufsgruppe, für die es übrigens keine klare Definition gibt -, ({3}) dann wird das nicht ohne Folgewirkungen für andere Straftaten bleiben. Darin sehe ich mich auch durch das Ergebnis der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss bestätigt. Für Ihren Gesetzentwurf gibt es auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, auch nicht nach der „Cicero“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. ({4}) Diese Entscheidung hat die Strafbarkeit von Anstiftung und Beihilfe zum Geheimnisverrat gerade nicht in Zweifel gezogen. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht in wichtigen Punkten die Rechtslage klargestellt. Ob die Voraussetzungen für eine Beihilfe zum Geheimnisverrat bei Medienmitarbeitern vorliegen, müssen unter Beachtung dieser Vorgaben Staatsanwaltschaften und Gerichte von Fall zu Fall sorgfältig prüfen. Auch die vorgeschlagenen Änderungen des Strafverfahrensrechts sind allesamt verfassungsrechtlich nicht geboten und zum Teil unpraktikabel. ({5}) Ich greife wegen der Kürze der Zeit nur zwei Beispiele heraus. Erstens. Der absolute Richtervorbehalt bei Beschlagnahmen in Journalistenwohnungen geht an der Realität vorbei. Staatsanwälte und Polizeibeamte dürfen eine Beschlagnahme schon nach geltendem Recht nur bei Gefahr im Verzug selbst anordnen. Im Eilfall muss dies weiterhin möglich sein. Zweitens. Ein absolutes Verbot, Verbindungsdaten von Medienmitarbeitern zu erheben, ist ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt - zuletzt in seiner „Cicero“-Entscheidung - betont, dass ein genereller Vorrang der Pressefreiheit vor dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung nicht anzuerkennen ist. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall der Stellenwert der Pressefreiheit mit dem konkreten Strafverfolgungsinteresse abzuwägen. Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: ({6}) Wie wollen Sie eigentlich erkennen, ob ein Verbindungsdatum gerade im Zuge einer Kommunikation verarbeitet wurde, die vom Zeugnisverweigerungsrecht geschützt ist? Das steht nämlich nicht drauf. ({7}) Ihr heute zur Abstimmung stehender Entwurf greift durch seinen nur punktuellen Ansatz zu kurz. Geboten ist vielmehr ein stimmiges Gesamtkonzept, wie es die Bundesregierung Mitte April beschlossen hat. Danach bleiben die bestehenden Presseschutzregelungen uneingeschränkt erhalten. Das betrifft sowohl das Zeugnisverweigerungsrecht als auch den Beschlagnahmeschutz und das Verbot von Wohnraumüberwachungen. Worin vor diesem Hintergrund ein Angriff auf die Pressefreiheit liegen soll, wie er in der letzten Zeit der Bundesregierung unterstellt wurde - ich habe nicht gesagt, dass Sie das unterstellt haben -, bleibt mir unergründlich. Der von der Bundesregierung beschlossene Entwurf schreibt fest, dass sowohl offene als auch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen gegen zeugnisverweigerungsberechtigte Medienmitarbeiter nur nach einer vorherigen sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig sind. Kommt diese Abwägung zu dem Ergebnis, die geplante Ermittlungsmaßnahme wäre unverhältnismäßig, etwa weil es nur um die Aufklärung einer eher geringfügigen Straftat geht, dann ist die Maßnahme zu unterlassen oder zu beschränken. Wenn allerdings, lieber Kollege Montag - ich vermisse Herrn Ströbele ein bisschen -, ({8}) ein Journalist in eine Straftat selbst verstrickt ist oder wenn der Journalist sogar selbst Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, müssen die dargestellten Schutzregelungen hinter das Strafverfolgungsinteresse zurücktreten. Denn nach unserer Verfassung gilt eben auch: Es steht dem Gesetzgeber nicht frei, bestimmte Berufsfelder von jeglicher Strafverfolgung einfach auszunehmen. ({9}) - Doch, das tut ihr, Freunde. Mit unserem Konzept stehen wir in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und stellen sowohl eine freiheitliche Presse als auch eine effektive Strafverfolgung sicher. ({10}) Beides ist mir gleichermaßen ein großes Anliegen. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartenbach, es geht bei dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht darum, dass jetzt die Pressefreiheit über alles gestellt wird und jedes Augenmaß verloren geht, ({0}) sondern es geht um Korrekturen im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung, und zwar an einigen Stellen. ({1}) Deshalb teilen wir von der FDP-Bundestagsfraktion den Grundansatz, der mit diesem Gesetzentwurf verfolgt wird. Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der ebenfalls Gegenstand der Anhörung im letzten Jahr gewesen ist. Wir wollen die Vorschläge, die in unserem Gesetzentwurf zum Strafgesetzbuch, aber auch zur Strafprozessordnung enthalten sind, dann in die Beratungen einbringen, wenn wir uns hier mit den Änderungen der Telekommunikationsüberwachung beschäftigen werden; denn das ist der Moment, um konkret zu prüfen, ob es Änderungen zum Beispiel des § 97 StPO bedarf und wie wir mit den Telekommunikationsverbindungsdaten von Zeugnisverweigerungsberechtigten umgehen. Dann können wir auch Ihren Vorschlag diskutieren, der eine generelle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einigen Zeugnisverweigerungsberechtigten enthält. Ich kann an dieser Stelle schon sagen, dass ich da erhebliche Bedenken habe. ({2}) Im Gesetz steht, dass erst die Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden muss. Wir kennen die Verfahren der letzten Jahre, bei denen schon jetzt unter Achtung des Art. 5 Grundgesetz Staatsanwaltschaften und Richter hätten abwägen müssen, was aber letztlich in der Form nicht erfolgt ist; denn sonst wäre es nicht zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu „Cicero“ gekommen. ({3}) Genau dort ist nicht richtig in der Praxis geprüft worden. Nun könnte man sagen, Herr Hartenbach, das sei in Ordnung, mit dieser Klarstellung - das ist ja nicht die einzige Entscheidung; es hat schon immer entsprechende Entscheidungen gegeben - seien alle Probleme beseitigt. Nein, auch wir als FDP-Fraktion sind der Meinung, dass man auch § 353 b - Verletzung eines Dienstgeheimnisses und die Strafbarkeit von Beihilfehandlungen - auf den Prüfstand stellen muss; denn er ist zu einem Einfallstor staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen geworden. Es hat in der Vergangenheit in keinem einzigen Fall eine Verurteilung eines Journalisten gegeben, dem vorgeworfen wurde, er sei der Beihilfe verdächtig. Man hat die Regelung vielmehr benutzt, um Ermittlungen anzustellen und Erkenntnisse zu gewinnen, die auf undichte Stellen und Lücken in Behörden hinweisen, weil man selbst anders nicht zum Erfolg gekommen ist. Das kann nicht Sinn und Zweck einer solchen Regelung sein. Ich meine, es ist nur richtig und notwendig, dass das gerade angesichts der Verfahren hier im Bundestag auf den Prüfstand gehört. Unser Gesetzentwurf geht allerdings nicht so weit wie der des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir halten eine Anstiftungshandlung für eine Handlung mit einem anderen Unrechtsgehalt als eine Beihilfehandlung nach Vollendung eines Delikts. Hier geht es ja um ein Institut der sukzessiven Beihilfe, zu dem das Bundesverfassungsgericht im „Cicero“-Urteil keine abschließende Bewertung abgeben musste. Wenn es darum geht, jemanden dazu anzustiften, das Dienstgeheimnis zu verletzen, dann ist das in den Augen der FDP-Fraktion ein Vorgang, der mit einem anderen Unrechtsgehalt versehen ist. Deshalb sehen wir hier eine sehr viel differenziertere Regelung vor. In diesem Punkt unterscheidet sich unser Entwurf von dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf des Bündnisses 90/Die Grünen. Dass sich die Arbeitswelt von Journalisten in den letzten Jahren verändert hat, ist bekannt. Üblich ist nicht mehr, dass man allein in einer Redaktion sitzt und dort seine Texte schreibt. Aufgrund moderner Kommunikationsmöglichkeiten ist das Schreiben von Beiträgen auch an anderen Orten möglich, zunehmend in privaten Räumen. Wir wollen, dass ein Richter entscheidet; derzeit ist das nicht der Fall. Das Umsetzen unserer Forderung wäre eine vorsichtige Korrektur der Strafprozessordnung. Dies unterläge auch nicht dem Übermaßverbot. Es würde also nicht über die Stränge geschlagen. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen über eine grundlegende Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung darüber noch im Einzelnen werden reden können. Bei der ersten Lesung dieser Gesetzentwürfe im letzten Jahr wurde hier im Bundestag, zum Teil aus den Koalitionsfraktionen, die Bereitschaft geäußert, sich bei diesen Punkten zu öffnen. Ich würde mich freuen, wenn diese Bereitschaft auch bei den Beratungen über Änderungen der StPO vorhanden wäre. Auch das Beweiserhebungsverbot für Telekommunikationsverbindungsdaten, § 100 h StPO, sieht den absoluten Schutz von Zeugnisverweigerungsberechtigten vor. Es ist doch nicht so, als würde jetzt erfunden, dass Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht hinsichtlich ihrer Telekommunikationsverbindungsdaten ausgeforscht werden sollen. Aber man hat hier differenziert; in meinen Augen hat man hier falsch differenziert. Die Journalisten, bei denen der Informantenschutz entscheidend ist - das hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal ausdrücklich festgestellt -, hat man von dieser Regelung nicht ausgenommen. Vielmehr sagt man: Nach geltendem Recht kann man die Telekommunikationsverbindungsdaten ausforschen. Bei anderen Zeugnisverweigerungsberechtigten, bei Anwälten, bei Geistlichen, gilt dies nicht. Wenn man das abwägt, dann kann man sehr wohl zu dem Ergebnis kommen, dass es sinnvoll ist, eine entsprechende Einbeziehung vorzunehmen. Da sich unser Entwurf von dem Gesetzentwurf der Grünen in einigen Punkten unterscheidet, werden wir uns bei der heutigen Abstimmung enthalten. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat für die CDU/CSU der Kollege Reinhard Grindel das Wort. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pressefreiheit ist nicht irgendein Grundrecht, sondern für unsere Demokratie schlechthin konstituierend. Das ist in einzelnen Ermittlungsverfahren, etwa im Fall „Cicero“, nicht hinreichend beachtet worden. Wir haben das fraktionsübergreifend kritisiert. Aber es geht hier um fehlerhafte Rechtsanwendungen, nicht um fehlerhafte Rechtsgrundlagen. ({0}) Mein Kollege Siegfried Kauder wird gleich eine Reihe wichtiger rechtspolitischer Anmerkungen machen. Meine Fraktion hat mir hier sozusagen ein gewisses Journalistenprivileg eingeräumt. Ich will auf Grundlage meiner beruflichen Erfahrungen sagen: Ich finde schon, Herr Kollege Montag, wir sollten festhalten, dass wir uns in Deutschland im Vergleich zu westeuropäischen Ländern, von anderen Ländern der Welt ganz abgesehen, sowohl bezüglich der Print- als auch der elektronischen Medien, was die Qualität, die Vielfalt und die Unabhängigkeit unserer Presselandschaft angeht, nicht zu verstecken brauchen. Mit dem Gesetzentwurf der Grünen sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Freiheit der Presse durch staatliche Einrichtungen - womöglich mit wachsender Tendenz - beeinträchtigt wird. ({1}) Herr Kollege Montag, lassen Sie mich, ohne allerdings abzuschweifen, im Hinblick auf die Qualität und Freiheit unserer Presse einen weiteren Gedanken äußern: Vielleicht ist das Problem nicht in erster Linie, dass der investigative Journalismus ständig von Staatsanwaltschaften eingeschränkt wird, sondern, dass investigativer Journalismus gar nicht mehr stattfindet, weil manche Investoren bei Zeitungen oder Fernsehsendern - ich muss leider sagen: vor allem ausländische Investoren - nicht so sehr an den publizistischen, sondern eher an den wirtschaftlichen Erfolg des Mediums denken. Das hat zur Folge, dass man sich keinen investigativen Journalismus mehr leistet. ({2}) Vielleicht ist das in Zukunft sogar das größte Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. ({3}) Der Fall „Cicero“ hat deutlich gemacht, dass unser freiheitlicher Rechtsstaat funktioniert. Das Bundesverfassungsgericht hat völlig zu Recht entschieden, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige verfassungsrechtlich unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu ermitteln. Die Durchsuchungen der „Cicero“-Redaktion und des Hauses des Journalisten Bruno Schirra hatten das Ziel, beim BKA und beim BND undichte Stellen zu finden. Darauf kam es an. ({4}) Wir waren uns damals in einer Sondersitzung des Innenausschusses einig, dass unter dem Deckmantel der Verfolgung einer angeblichen Beihilfehandlung eines Journalisten zum Geheimnisverrat in Wahrheit in die Pressefreiheit eingegriffen wurde, indem man in großem Stil Akten beschlagnahmt hat. Dadurch wurde der Schutz der Vertraulichkeit und der Informationsquellen gefährdet, der für die Arbeit der Presse unentbehrlich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe übrigens nicht vergessen, dass der frühere Bundesinnenminister Otto Schily diese Kritik in seinem bekannten Stil abgetan ({5}) und einzelne Kritiker als „Hanseln“ bezeichnet hat. ({6}) Jetzt hat sich herausgestellt, dass zumindest sieben dieser „Hanseln“ Richter am Bundesverfassungsgericht sind. Das „Cicero“-Urteil ist nicht nur eine Ohrfeige für diejenigen, die in Brandenburg für das Ermittlungsverfahren verantwortlich waren, sondern auch - das muss man ganz klar sagen - für den früheren Bundesinnenminister. ({7}) - Lieber Herr Kollege Tauss, Sie wissen ganz genau, dass das ein unpassender Zuruf ist; ({8}) denn der Kollege Körper hat sowohl gestern als auch heute erklärt, dass man, was die Onlinedurchsuchungen anbetrifft, auf einem sehr guten Weg ist. ({9}) Vielleicht fragen Sie einmal bei ihm nach. Wir werden in der Koalition zu sachgerechten Ergebnissen kommen. Ich kann mir angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht vorstellen, dass in Zukunft noch einmal in dieser Weise eine Durchsuchung bei einem Journalisten wegen des Verdachts der Beihilfe zum Geheimnisverrat vorgenommen wird. Ich meine, man sollte die Wirkungen des „Cicero“-Urteils abwarten. Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Fall offensichtlich keinen gesetzgeberischen Nachbesserungsbedarf gesehen. Ich habe übrigens den Eindruck, dass die Bundesregierung den Schutz von Journalisten im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Regelung der Telekommunikationsüberwachung verbessert. Das betrifft auch das Problem der Zufallsfunde. Kollege Montag, ich finde, dass die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf, der Straffreiheit für die Anstiftung zum Geheimnisverrat vorsieht, weit über das Ziel des Schutzes der Pressefreiheit hinausschießen. Für mich ist das nicht nur, wie es in der Anhörung des Rechtsausschusses hieß, in rechtsethischer Hinsicht ein Problem, sondern es ist auch mit dem journalistischen Ethos kaum vereinbar. ({10}) Da wir angesichts des wachsenden Wettbewerbs auf dem Medienmarkt und angesichts eines immer problematischeren Kampfes um tatsächliche oder angebliche Exklusivstorys ohnehin einen gewissen Sittenverfall im Journalismus beklagen, frage ich mich, ob es die Pressefreiheit wirklich gebietet, den Instrumentenkasten mit der Anstiftung zum Geheimnisverrat - sozusagen unter ausdrücklicher Billigung des Gesetzgebers - noch weiter zu öffnen. ({11}) Ich sage: Wir sollten das nicht tun. Ein Journalist, der zum Geheimnisverrat anstiftet, darf sich nicht auf den Schutz durch die Pressefreiheit berufen können. Das Bundesverfassungsgericht hat schon im „Spiegel“-Urteil, aber auch in der „Frontal“-Entscheidung betont, dass es eine Mitverantwortung der Presse für die Sicherheit des Staates gibt. Hierbei geht es um die Abwägung der Pressefreiheit gegen das Recht des Bürgers auf Sicherheit. Die journalistische Ethik verlangt, dass man die Folgen seines Tuns selbstkritisch prüft. Ein Beispiel: In dem entsprechenden „Cicero“-Artikel hat der Autor Handynummern von al-Qaida-Führern veröffentlicht. Das war für die Geschichte unter journalistischen Gesichtspunkten nicht zwingend. Aber dadurch wurden Operationen und womöglich auch Quellen des BND massiv gefährdet. - Daran wird deutlich: Wir brauchen im Journalismus eine Kultur der Selbstverantwortung und in besonderen Fällen - wenn die Grundrechte Dritter auf dem Spiel stehen - auch eine Kultur der Selbstbeschränkung. ({12}) Durch die „Cicero“-Entscheidung wurde die Freiheit für Journalisten gestärkt. Aber das zwingt die Journalisten, sorgfältig mit dieser Freiheit umzugehen. Verantwortlicher Journalismus kann eben auch darin bestehen, dass man nicht alles veröffentlicht, was man weiß. ({13}) Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen, weil die vorgeschlagenen Regelungen nicht sinnvoll sind. Aber festhalten will ich gleichwohl - um deutlich zu machen, dass wir an dieser Stelle nicht unterschiedlicher Meinung sind -: Das eigentliche Problem der undichten Stellen in Sicherheitsbehörden sind nicht die Journalisten, ({14}) sondern Mitarbeiter, die mit Indiskretionen unserem Staat und der Sicherheit seiner Bürger schweren Schaden zufügen. Das sind keine Kavaliersdelikte. Um diese undichten Stellen aufzuspüren, stehen unseren Sicherheitsbehörden vielfältige Maßnahmen zur Eigensicherung zur Verfügung. Aber Zielobjekt muss dabei immer der untreue Beamte sein. Der Umweg über den Journalisten, um an undichte Stellen zu kommen, ist ein Holzweg. Wer glaubt, so unseren Rechtsstaat schützen zu müssen, wird ihn in Wahrheit schwächen. Das wollen wir nicht. Die Pressefreiheit hat einen ganz hohen Rang, den wir bei der Gesetzgebung mit beachten. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Pressefreiheit ist für die Demokratie unverzichtbar. Das ist ein Schulsatz. Der Umkehrschluss heißt: Eingriffe in die Pressefreiheit und Angriffe auf den besonderen Schutz von Journalistinnen und Journalisten sind Eingriffe in die Demokratie. Es gibt sie dennoch - nicht als Novum, sondern wiederkehrend. Deshalb befassen wir uns heute hier mit diesem Thema. Aktuell geht es um den Fall „Cicero“, ein Magazin, dessen Redaktionsräume durchsucht wurden. Außerdem kam es in den Privaträumen zweier Journalisten zu umfangreichen Beschlagnahmen - angeblich, weil sie sich strafbar gemacht hätten, indem sie aus einer geheimen Akte zitiert hätten. Tatsächlich wollte man - das wurde hier schon angesprochen - das Sicherheitsleck, also den Informanten, finden. So weit die Rechtfertigung für diese Maßnahmen! Der Fall „Cicero“ hat mediale Wellen geschlagen. Er ließ bei allen, denen die Pressefreiheit wichtig ist, die Glocken läuten. Er wird auch im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss noch eine Rolle spielen; denn auch hier stellt sich die Frage: Wurden im sogenannten Antiterrorkampf Grund- und Bürgerrechte suspendiert und wenn ja, durch wen? Es geht um Geheimnisverrat. Geheimnisverrat können nur Geheimnisträger begehen, die zur Geheimhaltung verpflichtet sind. Journalisten sind das nicht. Sie sind vielmehr der Öffentlichkeit verpflichtet; das ist ihr Part. ({0}) Deshalb will Die Linke, dass Journalistinnen und Journalisten auch nicht mehr wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat belangt werden können. ({1}) Aktuell kursieren hier im Parlament drei Anträge alle von der Opposition, also ein Antrag der FDP, einer von den Linken und einer von Bündnis 90/Die Grünen. Alle drei sind auf die Stärkung der Pressefreiheit gerichtet und auf den Schutz von Journalistinnen und Journalisten vor staatlichen Eingriffen. Dies sage ich auch mit Blick auf die Gelüste des Bundesinnenministers, Kommunikationsdaten zu horten und Computerdaten online beschlagnahmen zu lassen. Die Linke lehnt das ab. ({2}) Stattdessen schlägt Die Linke zur Stärkung der Pressefreiheit Änderungen im Strafgesetzbuch vor. Wir wollen damit ausschließen, dass die Veröffentlichung von Informationen durch Journalistinnen und Journalisten gegen diese gewendet und als Beihilfe zum Geheimnisverrat geahndet werden kann. Wir wollen also mehr Rechtsklarheit. Dabei gehen wir einen Schritt weiter als Bündnis 90/ Die Grünen mit ihrem Antrag. Wir wollen alle, die Medien machen, vor dem Vorwurf der Beihilfe zum Geheimnisverrat schützen und nicht nur diejenigen, die hauptberuflich als Journalisten tätig sind. Wir meinen nämlich, das Grundrecht auf Pressefreiheit ist nicht an einen besonderen journalistischen Status gebunden, sondern gilt generell. ({3}) Es gibt einen weiteren Punkt, den wir in unserem Entwurf klarer gefasst haben; er betrifft die Strafprozessordnung. Die Beschlagnahme in Redaktionsräumen darf nur durch eine Richterin oder einen Richter angeordnet werden. Bei Beschlagnahmen in Privaträumen von Journalistinnen und Journalisten reicht zumeist eine Anordnung der Staatsanwaltschaft oder einer von ihr befugten Person. Auch das ist widersinnig. So entsteht Pressefreiheit und Informantenschutz erster und zweiter Ordnung. Wir wollen, dass möglichst keine Razzien und Beschlagnahmungen stattfinden. Wenn dennoch eine gut begründete Ausnahme greift, dann generell nur auf Anordnung einer Richterin oder eines Richters. Auch darauf zielen unsere Vorschläge ab. Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemerkung. Es gibt Vertrauensberufe, die einen besonderen Schutz genießen und deshalb privilegiert werden: Ärzte, Anwälte, Geistliche, auch Journalistinnen und Journalisten. Sie besitzen diese Privilegien nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Demokratie. Wir dürfen schon aus Eigennutz nicht zulassen, dass diese Rechte beschnitten werden. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nun Kollegen Jerzy Montag, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau einer Woche, am 3. Mai, fand weltweit der Tag der Pressefreiheit statt. Deswegen finde ich es angemessen, dass wir das Hohelied auf den angeblich so guten Zustand der Pressefreiheit, wie es die Bundesregierung hier gesungen hat, einmal mit der Realität konfrontieren. ({0}) Die Realität zeigt eine durchaus schlechte Situation für die Pressefreiheit in Deutschland. Die Verfolgung von Journalisten geht auch im Jahr 2007 unvermindert weiter. Im Januar hat die Staatsanwaltschaft in Hamburg gegen Journalisten des „Stern“ und von „Financial Times Deutschland“ neue Verfahren, wieder wegen Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses, eingeleitet. Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger hat deswegen im Februar dieses Jahres über einen eklatanten Eingriff in die Pressefreiheit geschrieben und - damit geht er sogar weiter als die Forderungen der Grünen - die Abschaffung des Straftatbestands des Geheimnisverrats gefordert. ({1}) Als Anfang dieses Jahres, Herr Kollege Danckert, die Pläne der Großen Koalition, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen, bekannt geworden sind, hat es eine Erklärung von 27 gesellschaftlichen Verbänden der Bundesrepublik Deutschland gegeben, unter ihnen der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, die Deutsche Journalisten-Union und der Deutsche Journalisten-Verband. Alle diese Organisationen haben wörtlich von einer Untergrabung journalistischer Quellen und einer Beschädigung der Pressefreiheit im Kern in Deutschland gesprochen. ({2}) Im Mai hat sich der Bundesverband der Freien Berufe - in ihm sind die Dachverbände der Anwaltschaft, der Ärzteschaft und der Journalisten zusammengefasst - zu Wort gemeldet; er sieht in seiner Erklärung vom 3. Mai die Pressefreiheit in Deutschland ernsthaft durch folgende Maßnahmen der Großen Koalition bedroht: Telefonüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Reform des Zollfahndungsdienstgesetzes, Überlegungen zur Onlinedurchsuchung. Der Bundesverband der Freien Berufe spricht davon, dass der Informantenschutz und das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten in Deutschland ernsthaft in Gefahr sind. ({3}) Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht jedes Jahr eine Rangliste der Pressefreiheit. Im vorletzten Jahr rutschte die Bundesrepublik Deutschland von Platz 11 auf Platz 18. Letztes Jahr rutschte die Bundesrepublik Deutschland von Platz 18 auf Platz 23 dieser Rangliste. Dabei wurde die Bundesrepublik Deutschland wegen der Maßnahmen gegen einzelne Journalisten und wegen Redaktionsdurchsuchungen ausdrücklich negativ erwähnt. Zum Schluss: Die OSZE hat ebenfalls im Mai einen Zustandsbericht über die Pressefreiheit in den Mitgliedstaaten veröffentlicht. Von den 56 Mitgliedstaaten der OSZE wurde 20 Staaten eine befriedigende Situation bei der Pressefreiheit bescheinigt. Leider gehörte die Bundesrepublik Deutschland nicht zu diesen 20, sondern zu denjenigen, die von der OSZE gerügt worden sind. Ein ausdrücklich erwähntes negatives Beispiel waren die Hausdurchsuchungen in Redaktionen in Deutschland. Deswegen sagen wir Grünen auch heute: Es besteht dringender Handlungsbedarf. Unser Gesetzentwurf ist jetzt über ein Jahr in der Beratung. Vor über einem Jahr, am 16. März 2006, hat es hier eine Debatte gegeben. Da hat der Kollege Stünker für die SPD ebenfalls erklärt, dass es Handlungsbedarf gibt. Er hat unsere materielle Lösung abgelehnt und - im Gegensatz zum Kollegen Kauder von der eigenen Koalition ({4}) gesagt, dass im Strafprozess Reformen notwendig sind. Zu mir, mit Verlaub, Herr Kollege Stünker, haben Sie gesagt: Gemach, Gemach, Herr Montag, bis zum Sommer wird es einen Entwurf mit einer Novellierung geben. ({5}) - Es war aber das Jahr 2006, das gemeint war. Jetzt sind wir im Jahr 2007 und haben immer noch keinen Entwurf von Ihnen. ({6}) Nun, lieber Herr Kollege Kauder, zu dem, was Sie vor über einem Jahr gesagt haben. Meiner Meinung nach haben Sie sich damit in einer unglaublichen Weise diskreditiert. Sie haben uns Grünen vor über einem Jahr vorgeworfen, wir würden Kriminelle unterstützen, ({7}) weil unser Gesetzentwurf sich ausdrücklich nur auf den Schutz der „Cicero“-Journalisten richten würde, und haben wortwörtlich gesagt, unser Vorgehen sei „eine Unverschämtheit gegenüber den Ermittlungsbehörden“. Wenn Sie die Zitatstelle wissen wollen, nenne ich sie Ihnen: Protokoll vom 16. März 2006, Seite 1 993. Auf Zitate sind Sie ja scharf. Nun hat sich herausgestellt, lieber Kollege, dass das Bundesverfassungsgericht genau das, gegen das wir vorgegangen sind, als eine Unverschämtheit bezeichnet hat, nämlich die verfassungswidrigen Angriffe gegen die Journalisten durch die Ermittlungsbehörden. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist zwar zu Ende, aber Sie haben die Chance, sie zu verlängern, wenn Sie eine Zwischenfrage zulassen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit einer großen Freude. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, würden Sie bitte exakt zitieren, wo in meiner Rede ich Ihnen vorgehalten habe, Sie würden Kriminelle unterstützen. Ich verwahre mich gegen diese Behauptung.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich werde Ihnen die Fundstelle sofort nachliefern. Sie liegt auf meinem Tisch. Es ist auf jeden Fall die Seite 1 993 des Bundestagsprotokolls vom 16. März 2006. Dort können Sie das, wenn Sie wollen, nachlesen. ({0}) Ich muss jetzt, weil der Präsident mich schon auf die Zeit hingewiesen hat, zu meinem letzten Satz kommen. Ich weiß, dass die Große Koalition unseren Gesetzentwurf heute ablehnen wird. Aber wir werden auch nach dieser Abstimmung dranbleiben; denn das sind wir der Pressefreiheit und den Journalisten in Deutschland schuldig. Wir werden die Debatte fortführen und unsere Ideen weiter in den Bundestag einbringen, um die Situation für die Presse und die Journalisten in Deutschland zu verbessern. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Danckert, SPDFraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Kollegen Montag hier so reden hört, dann hat man den Eindruck, dass in Deutschland jeden Tag die Pressefreiheit von den staatlichen Organen Polizei und Staatsanwaltschaft kujoniert und verfolgt wird. Das ist ein geradezu absurdes Bild, das Sie hier zeichnen. ({0}) Ich bitte Sie, Herr Kollege Montag, dass wir die Debatte - dazu bin ich bereit - sachlich führen und uns über Einzelheiten Ihres Gesetzentwurfs, den Sie hier fast verschwiegen und in den letzten 30 Sekunden Ihrer Redezeit gerade noch erwähnt haben, unterhalten, statt zu polemisieren und alle möglichen Stimmungen zu erzeugen. Ihre Argumentation ist schlicht absurd. Wenn Sie wollen, dass wir, wie es, glaube ich, Frau Pau angedeutet hat, auf Geheimnisse verzichten und alles der Öffentlichkeit zugänglich machen, ist das eine andere Debatte. ({1}) Ich meine, dass unser Staat ein Recht darauf hat, bestimmte Dinge als Geheimnis zu deklarieren und den Verrat dieser Geheimnisse in jedem Fall unter Strafe zu stellen. ({2}) Dem Kollegen Grindel muss ich allerdings sagen: Wenn Sie unseren ehemaligen Innenminister Otto Schily für das, was vor dem Hintergrund des Falls „Cicero“ geschehen ist, verantwortlich machen, dann kann ich Ihre Auffassung überhaupt nicht teilen und weise sie zurück. ({3}) Ich bin sehr wohl der Meinung - insofern nähern wir uns vielleicht an -, dass man sich politisch darüber streiten kann, ob die Ermächtigung zur Strafverfolgung vom August 2005 der richtige Weg war. Darüber kann man so oder so entscheiden; der Innenminister hat sich für die Ermächtigung entschieden. Aber was danach gelaufen ist, liegt nicht im Verantwortungsbereich des damaligen Innenministers, ({4}) der ja nicht den Antrag auf Durchsuchung und Beschlagnahme gestellt hat und auch nicht für die Entscheidung des Landgerichts Potsdam zuständig war. ({5}) Da sollten wir die Kirche im Dorf lassen, damit wir vernünftig miteinander diskutieren können. Der Fall „Cicero“ ist in der Tat der Ausgangspunkt gewesen; darüber gibt es gar keine Debatte. Dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten 50 Jahren immer wieder einmal Grund hatte - das kann man ja nachlesen -, korrigierend einzugreifen, liegt in der Natur unserer grundgesetzlichen Regelung. Wir haDr. Peter Danckert ben in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz die Pressefreiheit, die aber - um das einmal verkürzt auszudrücken in keiner Weise schrankenlos ist, sondern nach Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz durch allgemeine Gesetze durchaus eingeschränkt werden kann. ({6}) Dass das wiederum nicht heißen kann, dass mit den allgemeinen Gesetzen die Pressefreiheit generell desavouiert und eingeschränkt werden kann, liegt auch in der Natur dieser verfassungsrechtlichen Vorschriften, die dann im Lichte des gesamten Grundgesetzes ausgelegt werden. Das ist gang und gäbe und nichts Besonderes. So kommt es immer wieder zu einem solchen Konflikt zwischen den allgemeinen Gesetzen und unseren grundrechtlichen Bestimmungen, insbesondere im Bereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Das ist die Ausgangslage. Ich verhehle nicht - das habe ich an anderer Stelle auch schon gesagt -, dass mir diese Entscheidungen vom Potsdamer Amtsgericht, Landgericht und in der Folge dann übrigens auch vom Brandenburger Justizministerium, das das alles noch gutgeheißen hat, in keiner Weise gefallen haben. ({7}) Wenn aber hier die Debatte so geführt wird, als seien die Journalisten die weißen Schafe, die zu schwarzen gemacht werden - nämlich zu Straftätern -, dann ist das jenseits der Realität. Wir haben auf der einen Seite den Geheimnisträger, der das Gespräch mit dem Journalisten sucht oder angesprochen wird. Das ist doch die Realität, die wir vielleicht nicht immer in allen Details so belegen können. Aber es ist ja nicht so, dass sie sich zufällig in der Bahn treffen und dann miteinander über Geheimnisse - Staatsgeheimnisse - reden. Vielmehr spricht der eine den anderen ganz bewusst an, und zwar nicht in dem Sinne, dass da nur ein feines Hintergrundgespräch geführt wird, sondern mit der Absicht, etwas in die Öffentlichkeit dringen zu lassen oder - auf der anderen Seite - etwas zu veröffentlichen. ({8}) An dieser Nahtstelle befinden wir uns in der Tat. Das Bundesverfassungsgericht hat, wie ich meine, sehr feinsinnig entschieden, dass, soweit es keinen belegbaren Verdacht gibt, dass der Journalist den Geheimnisträger angestiftet oder ihm Beihilfe zugesagt hat, man mit Durchsuchungen sehr vorsichtig sein muss. Das ist eine gute, positive und notwendige Entscheidung, über die wir uns, glaube ich, an dieser Stelle nicht unterhalten müssen. Es ist ein Segen, dass wir das Verfassungsgericht haben! Ich würde vielleicht sogar sagen, dass es insofern - insofern! Nur, dass wir uns an dieser Stelle nicht missverstehen - gut ist, dass es diese beiden Entscheidungen aus Potsdam gab, damit das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde, die ein kluger Anwalt, der mein Schüler war, eingereicht hat - ({9}) - Jetzt kommt es heraus. Da können Sie einmal sehen, aus welchem Hause ich und meine Mitarbeiter stammen. Aber jetzt lassen wir das einmal beiseite. Das ist der Ausgangspunkt. Aber das, was Sie populistisch mit Ihrem Antrag daraus gemacht haben, geht weit über das Ziel hinaus. Es ist in meinen Augen - das trifft auch auf andere zu, die sich dazu geäußert haben geradezu absurd, die Anstiftung herauszunehmen. Welches rechtsstaatliche Verständnis haben Sie eigentlich, ({10}) wenn der Journalist, der den Geheimnisträger zum Geheimnisverrat anstiftet, in Zukunft straflos bleiben soll, weil das nach Ihrer Meinung keine rechtswidrige Tat ist? Da stellen Sie unser ganzes Rechtssystem - jedenfalls das Strafrechtssystem - auf den Kopf. Sie hätten lieber noch ein paar Minuten länger nachdenken sollen, bevor Sie das vorschnell in eine Richtung lenken, die unser materielles Strafrecht auf den Kopf stellt. ({11}) Dasselbe gilt im Grunde genommen für die Beihilfe. Ich kann wirklich nicht ernsthaft erkennen, warum Journalisten ein Privileg haben sollen, das andere Menschen, die durchaus wegen Anstiftung und Beihilfe bestraft werden sollen, nicht haben. Wenn sie sich korrekt verhalten, dann haben sie an dieser Stelle nichts zu befürchten. ({12}) Ein solches Privileg wäre absurd. Sie wollen den § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches streichen, weil er angeblich keine praktische Relevanz hat. Nach diesem Kriterium könnte man noch ganz andere Strafnormen abschaffen. ({13}) Wir lassen aus guten Gründen alles so, wie es ist. Journalisten haben kein Recht darauf, besonders privilegiert zu sein. Sie hingegen wollen an dieser Stelle eine Neuregelung. Ich lasse mit mir darüber reden - wir werden sehen, wie die Diskussion läuft -, im Bereich des Verfahrensrechts einige Punkte - ich sage ganz vorsichtig: möglicherweise - zu verändern und zu verbessern. Ich meine schon, dass nicht nur die Redaktionsräume einen besonderen Schutz genießen, sondern - ich sage wieder ganz vorsichtig: möglicherweise - auch der Arbeitsplatz zu Hause. ({14}) Denn immer mehr Menschen arbeiten zu Hause, sie arbeiten unter anderen Bedingungen, als das noch vor Jahren der Fall war. Darüber kann man reden. In § 98 der Strafprozessordnung wollen Sie ganz neue Begriffe einführen. ({15}) Sie haben die Begrifflichkeit der Strafprozessordnung sozusagen beiseite gelegt und erfinden neue Begriffe. Das ist an dieser Stelle nicht hilfreich. Der entscheidende Punkt ist, dass die Staatsanwälte darauf hingewiesen werden, dass sie präzise Anträge zu stellen haben, wenn es um Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen geht. Das sollten sie eigentlich nach dem zweiten Staatsexamen gelernt haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. - Dass das nicht immer der Fall ist, kennen wir auch aus anderen Gebieten. Wie Abgeordnete bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen fehlbar sind, so können auch Richter und Staatsanwälte fehlbar sein. Aber ich halte es nicht für richtig, übertrieben zu reagieren. Wir werden mit dem Telekommunikationsüberwachungsgesetz eine Neuregelung auf den Weg bringen und gemeinsam darüber diskutieren: Ich finde es richtig, was Frau Leutheusser-Schnarrenberger an dieser Stelle dazu gesagt hat.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass Sie mich so lange haben reden lassen. Mit dem Kollegen Montag werde ich außerhalb dieser Debatte sprechen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Siegfried Kauder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute in den Reden viel über Pressefreiheit gehört. Das ist auch gut so. Denn Pressefreiheit gehört zu einem demokratischen Staat und ist zu Recht grundrechtlich geschützt. Wir haben aber, so glaube ich, zu wenig über innere Sicherheit gesprochen. Denn die Pressefreiheit steht in einem natürlichen Spannungsverhältnis zur inneren Sicherheit. Nicht nur die Presse braucht Informationen und geschützte Informanten, auch die Ermittlungsbehörden brauchen Informationen und geschützte Informanten. Wer sich für dieses Spannungsverhältnis im Detail interessiert, dem kann ich nur das Nachlesen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band, Seite 299 ff. empfehlen, in der es um die Frage der Erhebung von Telekommunikationsdaten gegangen ist. In diesem Fall wurde ein Terrorist gesucht, dem drei Morde zur Last gelegt wurden und der irgendwo in Europa abgetaucht war. Durch die Erhebung der Telekommunikationsdaten bei einer „Stern“-Reporterin ist es gelungen, den Aufenthaltsort dieses Terroristen ausfindig und ihn dingfest zu machen. Weil er sich für die Kronzeugenregelung entschieden hat, wurde er nicht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der von mir bereits zitierten Entscheidung die Erhebung von Telekommunikationsdaten für verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen. ({0}) Darüber müssen wir auch einmal reden. Sowohl in dieser Entscheidung als auch in der „Cicero“-Entscheidung wurde verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, dass im Bereich der Telekommunikationsüberwachung und im Bereich der Pressefreiheit irgendetwas geändert werden müsse. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit befassen. ({1}) - Entschuldigung, ich meine die Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen. ({2}) Aber auch die andere Variante stimmt. - Es ist, wie gesagt, nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit befassen. Im Jahr 2001 - da war Rot-Grün an der Regierung - gab es einen Regierungsentwurf, in dem sehr behutsam vorgegangen wurde. Er nannte sich nämlich: „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung“. Dahinter war das Anliegen der Pressefreiheit versteckt. ({3}) Siegfried Kauder ({4}) Dem Kollegen Montag kann ich dies nicht vorhalten, weil er damals noch nicht im Bundestag saß, aber anderen Abgeordneten vom Bündnis 90/Die Grünen. Ich kann Ihnen sagen, was in diesem Gesetzentwurf zugunsten der Pressefreiheit gemacht worden ist. Man hat § 53 der Strafprozessordnung, also das Zeugnisverweigerungsrecht, im sachlichen Bereich etwas geöffnet. Man hat in § 97 Abs. 5 der Strafprozessordnung, wo es um die Beschlagnahme und Durchsuchung geht, auf Art. 5 des Grundgesetzes und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hingewiesen. Und, Herr Kollege Montag, mehr war nicht. ({5}) Dieser Gesetzentwurf, der auch angenommen wurde, war seriös. Nun kam aus aktuellem Anlass das Bündnis 90/Die Grünen auf einmal auf die Idee, das Thema Pressefreiheit populistisch auszuschlachten. Am 12. September 2005 fand die Durchsuchung der Redaktionsräume von „Cicero“ statt. Im Oktober des Jahres 2005 gab es einen Aufschrei in vielen Pressepublikationen, und wenige Monate später präsentierte Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf, in dem exakt auf dieses Vorgehen gegen „Cicero“ Bezug genommen worden ist. ({6}) „Cicero“ war also Anlass für eine Gesetzesänderung, die man im Jahre 2001 so nicht für notwendig gehalten hatte, obwohl sich die Sach- und Rechtslage überhaupt nicht geändert hat. Nun hätte ich eigentlich erwartet, dass Kollege Montag hier seinen ach so guten Gesetzentwurf präsentiert. Denkste wohl! Davon war nicht die Rede. Stattdessen ergeht er sich in Zitaten, die er mir noch belegen muss und die so nicht stimmen; denn Kollege Montag glaubt, mir vorhalten zu müssen, ich hätte in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs vom Bündnis 90/Die Grünen erklärt, die Grünen würden Kriminelle unterstützen. Zeigen Sie mir, wo ich das gesagt habe! Für den Fall, dass Sie das nicht können, erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich für diese unwahre Behauptung angemessen entschuldigen. ({7}) Bündnis 90/Die Grünen glaubt, populistisch einen Diener vor der Presse machen zu müssen, indem man meint, das materielle Recht auf den Kopf stellen zu können: ein Sonderrecht für Journalisten zu schaffen, indem man die Beihilfe und die Handlung der Anstiftung zum Geheimnisverrat von Journalisten straffrei ausgestalten will. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Bündnis 90/Die Grünen spätestens nach der „Cicero“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzentwurf wieder einrollt oder zurückzieht; denn in der „Cicero“-Entscheidung wurde selbst in diesem Fall gesagt, dass es nicht um das Problem gegangen ist, dass die Ermittlungsbehörden das Abwägungsgebot nicht beachtet hätten. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung besagt, dass das Recht in Ordnung ist, das Recht aber deshalb nicht ordnungsgemäß angewendet worden ist, weil keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Haupttat gegeben waren. Drei Beispiele wurden genannt: Es kann ja sein, dass eine Information versehentlich an die Presse gekommen ist, dass ein Nichtgeheimnisträger die Information weitergegeben hat oder dass es nur um eine Hintergrundinformation ging, sodass kein Veröffentlichungswille vorlag. Die Argumente, die Bündnis 90/Die Grünen für diesen Gesetzentwurf ins Felde führt, stechen also nicht. ({8}) Wie populistisch dieser Gesetzentwurf gestrickt ist, zeigt der Umstand - das habe ich dem Kollegen Montag im Rechtsausschuss vorgehalten -, dass man auch § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches abschaffen will. Diese Vorschrift verbietet, dass ein Nebenkläger den Haftbefehl, der gegen den Beschuldigten ergangen ist, im Internet veröffentlicht. ({9}) Das ist eine Schutzvorschrift für Beschuldigte. Ist es nicht das Bündnis 90/Die Grünen, das sich immer zum Vorreiter der Schutzvorschriften für Beschuldigte aufspielt? In diesem Fall aber wirft man auf einmal alles über den Haufen. Die materiell-rechtliche Lösung ist sicherlich nicht der richtige Ansatzpunkt. Der richtige Ansatzpunkt wäre allenfalls, sich Gedanken zu machen, wie man im Prozessrecht etwas ändern kann. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was die Telekommunikationsüberwachung anbelangt, der Hinweis: Auch das ist in trockenen Tüchern und verfassungsrechtlich ordnungsgemäß ausgestaltet. Das ergibt sich sehr schön aus der bereits zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band, Seite 299 ff. ({10}) Über eines wird man sich unterhalten müssen: über die Beschlagnahme von Zufallsfunden bei Journalisten. Bezeichnenderweise war all das, was man im Fall „Cicero“ gefunden hat, ein Zufallsfund. Ich kann dem Kollegen Stünker nur beipflichten: Wir sind auf einem richtigen Weg. Sie werden den Entwurf eines Gesetzes zur Telekommunikationsüberwachung sehen. Lenken Sie Ihr Augenmerk besonders auf § 53 b der Strafprozessordnung. Da wird es eine Regelung geben, die die Erhebung von Zufallsfunden bei Journalisten deutlich erschweren wird. Das, was Kollege Stünker in der ersten Lesung versprochen hat, werden wir in einem gemeinsamen Entwurf umsetzen. ({11}) Siegfried Kauder ({12}) Populistisch gestrickte Gesetzentwürfe werden wir allerdings nicht unterstützen. Deswegen kann man den Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen nur ablehnen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5283, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/576 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von FDP und Linkspartei gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- tere Beratung. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b so- wie Zusatzpunkt 6 auf: 6 Entwicklungspolitische Afrikadebatte a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig Fischer ({0}), Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Groneberg, Dr. Sascha Raabe, Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine intensive wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Kontinent auf Augenhöhe - Drucksache 16/5257 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia auf den Prüfstand stellen - Drucksachen 16/965, 16/2363 Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer ({3}) Dr. Karl Addicks Ute Koczy ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Strategien für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika erarbeiten und durchsetzen - Drucksache 16/5243 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort. ({5})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika ist in Bewegung. Wir können helfen, Gutes zu bewirken. Die Menschen in Afrika wollen ihr eigenes Schicksal selbst voranbringen. Wir waren in den letzten Tagen zusammen mit einer Delegation der Parlamentarier in der Demokratischen Republik Kongo. Dort gibt es - Sie wissen das - seit letztem Jahr eine gewählte Regierung. Wir, Deutschland, haben mitgeholfen, dass die Wahlen dort stattfinden konnten und dass heute eine Regierung existiert. Wir haben dazu beigetragen, die Wahlen zu sichern. Alle Menschen, die uns im Kongo begegnet sind, haben gesagt: Wir danken Ihnen, den Deutschen, wir danken der EUFOR und auch der Bundeswehr, dass sie diesen Einsatz geleistet haben. Sonst wäre der Kongo heute wieder im Bürgerkrieg. ({0}) Aber der Kongo ist längst nicht über den Berg. Die Menschen müssen in ihren positiven und zukunftsweisenden Anstrengungen unterstützt werden. Das ist einer der Gründe, warum wir als Zeichen einer Dividende des Friedens einen Friedensfonds für die Demokratische Republik Kongo in Höhe von rund 50 Millionen Euro für mehrjährige Maßnahmen in Aussicht gestellt haben. Wir wollen dazu beizutragen, dass junge Menschen unmittelbar Beschäftigung finden, dass die Infrastruktur wiederhergestellt wird und dass damit auch die Wirtschaft und die demokratische Entwicklung vorankommen. Das ist eine Hilfe zur Selbsthilfe, die - wie wir hoffen - dazu beitragen wird, dass der Kongo über den Berg kommen kann. Es geht für die Menschen auf dem ganzen Kontinent um sichtbare Erfolge. Es geht um politischen, ökonomischen und sozialen Fortschritt. Herzstück der politischen Bewegung Afrikas ist zum einen NEPAD, die Partnerschaft der Reformstaaten, und zum anderen die Afrikanische Union. Sie ist der entscheidende Ansatz, die entscheidende Institution, die politische Lösungen auf dem Kontinent voranbringt. Wir haben auf der Reise deutliche Beispiele der neuen politischen Selbstständigkeit erlebt. Dazu zähle ich übrigens auch, dass das Vorgehen Chinas keineswegs unkritisiert hingenommen wird - das ist ein gutes Zeichen für die afrikanischen Staaten - und dass der Dialog zwischen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft als notwendig betrachtet wird. Gleichzeitig geht es um ökonomische Fortschritte. Weil das immer wieder hinterfragt wird, will ich an dieser Stelle sagen: Wir halten die Zusage, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika bis zum Jahr 2010 zu verdoppeln, ein. Das gilt gleichfalls für den in Gleneagles beschlossenen Schuldenerlass. ({1}) Das sind wir den Menschen in den afrikanischen Ländern und unserer eigenen Glaubwürdigkeit schuldig. Natürlich geht es aber auch darum, dass die Ressourcen der Partnerländer gestärkt werden. In diesem Zusammenhang will ich die Demokratische Republik Kongo nennen. Die Steuern, die dort erwirtschaftet werden, gehören den Menschen in den betroffenen Ländern und sollten nicht als Finanzpaket auf Nummernkonten im Ausland aufbewahrt werden. ({2}) Deshalb müssen wir alles tun, damit die Einnahmen, die mit der Rohstofferzeugung erwirtschaftet werden, tatsächlich in den Landeshaushalt, zum Beispiel des Kongo, fließen und für den Wiederaufbau eingesetzt werden können. Ich will daran erinnern, dass die potenziellen Steuereinnahmen im Kongo allein im Rohstoffsektor 400 Millionen US-Dollar jährlich betragen, bisher aber noch nicht einmal ein Zehntel dieser Summe tatsächlich in den Haushalt einfließt. Wir haben uns vorgenommen, auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm dazu beizutragen, dass die Transparenzinitiativen im Bereich Rohstofferzeugung von allen G-8-Ländern unterstützt werden, und zwar sowohl finanziell als auch politisch. Das ist ein aktiver Beitrag zur Förderung der Transparenz der Finanzströme. ({3}) Es geht aber auch darum, das System der Mikrokredite voranzubringen. Die Kollegen, die mit in Afrika waren, werden dieses Thema bestimmt aufgreifen. In Kinshasa haben wir mit dem Team der Pro-Credit-Bank gesprochen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat mit 1,4 Millionen Euro - das ist, verglichen mit der Gesamtsumme, ein sehr geringer Anteil - dazu beigetragen, dass diese Bank zur größten Bank im Kongo wurde. Diese Bank führt mittlerweile 22 000 Sparkonten und hat seit 2005 3 000 neue Kleinkreditkunden. Dahinter stehen Tausende von Existenzen, Menschen, die eine Zukunft haben. Wir haben dazu beigetragen, diese Hilfe zur Selbsthilfe in Gang zu setzen. Das ist wunderbar. Wir wünschen den Menschen den Erfolg, den sie verdient haben. ({4}) - Und das in anderthalb Jahren. Danke, Herr Fischer. Auf dem G-8-Gipfel wollen wir diesen Weg mit einer zusätzlichen Initiative zur Stärkung der Mikrofinanzinstitutionen in Afrika fortsetzen. Es geht aber auch um soziale Fortschritte. Wir sollten die Erfolge nicht kleinmachen, sondern klarmachen. Ich will an dieser Stelle noch einmal daran erinnern: Aufgrund des Schuldenerlasses, der im Jahr 1999 für die ärmsten Entwicklungsländer beschlossen worden ist, gehen heute 20 Millionen Kinder zusätzlich in die Schule. Das sind 20 Millionen Perspektiven, Hoffnungen und Chancen mehr. Das ist ein wunderbares Ergebnis. Diese Menschen haben nun Hoffnung und eine Zukunftsperspektive. ({5}) Wir haben uns vorgenommen, auf dem G-8-Gipfel diesmal die Entwicklung der Gesundheitssysteme in den Mittelpunkt zu rücken, insbesondere zusätzliche Finanzmittel für HIV/Aids vorzusehen. Zum Schluss: Es gibt viele Vorurteile über Afrika, die überhaupt nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit zu tun haben. Für Afrikas Zukunft stehen nicht Diktatoren, auch nicht Diktatoren im Endstadium, sondern viele kreative Menschen und Persönlichkeiten wie Desmond Tutu, Nelson Mandela und Kofi Annan sowie eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern wie der ghanaische Präsident Kufuor oder die liberianische Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf oder Donald Kaberuka, Chef der Afrikanischen Entwicklungsbank. Das Afrika der Vergangenheit hat Kolonialismus und den Kalten Krieg erlitten. Das Afrika der Zukunft steht für globale Partnerschaft. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Partnerschaft geschlossen wird. Ich möchte auch da mit Kofi Annan enden, der, als er hier in Berlin der Kanzlerin die Bewertungen der Umsetzung der Ziele von Gleneagles übergeben hat, gesagt hat: Ich glaube, dass Krieg in Europa heute undenkbar ist, und das, obwohl dies ein Kontinent ist, der zwei Weltkriege gesehen hat. Ich hoffe, dass meine Kinder oder ihre Enkelkinder morgen sagen werden, dass Krieg in Afrika undenkbar ist. Ich denke, wir sollten gemeinsam in diese Richtung arbeiten. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDPFraktion. ({0})

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika steht derzeit tatsächlich sehr hoch im Kurs, die Präsenz von Afrikathemen ist beachtlich: In Talkshows wird über Afrika debattiert - da geht es um Malaria -, in den Printmedien werden ganze Serien zu Afrika gebracht, und auch im Deutschen Bundestag haben wir in der Vergangenheit verstärkt über Afrika gesprochen. Heute sprechen wir wieder einmal aus entwicklungspolitischer Sicht über Afrika. Wir messen damit dem Thema den Stellenwert bei, der ihm zukommt. ({0}) Denn Afrika ist gerade für die deutsche, aber auch für die europäische Entwicklungspolitik von größter Bedeutung. Das heißt nicht, dass wir andere Entwicklungsländer, in Lateinamerika oder in Südostasien, vergessen. Aber Afrika ist die größte Herausforderung, und Afrika liegt nun einmal direkt vor unserer Haustür. Subsahara-Afrika ist dabei der Teil des Kontinents, auf den wir unser Augenmerk richten müssen; ich denke, darüber sind wir uns einig. Die nordafrikanischen Staaten sind größtenteils auf einem ganz guten Weg. ({1}) Viele der 45 Staaten in Subsahara-Afrika sind ebenfalls auf einem hoffnungsvollen Weg. Doch manche erleben finstere Zeiten. Aber, Frau Ministerin, ich gebe Ihnen recht: Afrika macht Mut, wir haben Anlass zur Hoffnung. Die Zahl derjenigen, die finstere Zeiten durchleben, wird immer kleiner. Die Zahl derjenigen, die positive Geschichte machen, ist viel größer als die Zahl der Simbabwes und Sudans. Côte d’Ivoire kann man eigentlich schon nicht mehr dazuzählen; dort hat man sich ja geeinigt. Die gesamte Region weist Staaten in sehr unterschiedlichen Stadien der Entwicklung auf. Dem müssen wir Rechnung tragen. Deshalb brauchen wir für jeden Staat eine maßgeschneiderte deutsche Entwicklungszusammenarbeit. ({2}) Wir Liberale machen mit den heute von uns eingebrachten Anträgen deutlich, dass die deutsche Afrikaentwicklungspolitik von Taten und nicht von Worten geprägt sein sollte, dass wir die neuen reformerischen Kräfte in Afrika, die sichtbar sind, unterstützen müssen und dass wir uns in der Diskussion über eine verbesserte entwicklungspolitische Strategie nicht in der Forderung nach mehr Geld festfahren dürfen. Mehr Geld ist gut; aber besser ist es, wenn das verfügbare Geld erst einmal effizient eingesetzt wird. ({3}) Frau Ministerin, es ist erfreulich, dass Sie in den Kongo fahren und dort 50 Millionen Euro für einen Friedensfonds zusagen. Es ist richtig, dass der Kongo dieses Geld dringend braucht, und 50 Millionen Euro sind auch kein Pappenstiel. Aber noch besser wäre es gewesen, wenn direkt oder sehr bald nach der Wahl im Kongo, die, von EUFOR unterstützt, erfolgreich durchgeführt worden ist, Konzepte für eine EZ verfügbar gewesen wären. ({4}) Denn wir glauben, dass, bevor dieses Geld fließen kann, im Kongo die zuverlässigen Strukturen entstehen müssen, die nötig sind, damit es sinnvoll verwendet werden kann. Das sehe ich im Kongo derzeit noch nicht. ({5}) Es ist nach unserer Auffassung wenig förderlich, wenn wir unser Geld per Budgethilfe weiter in korrupte Strukturen hineinbuttern. Frau Ministerin, Sie haben das heute auch angesprochen. Ich denke, wir müssen das noch viel häufiger und viel deutlicher ansprechen. Das Wort „versickern“ ist mittlerweile zu einem halbwegs politisch korrekten Terminus technicus für das Abhandenkommen, für das „Verdunsten“, für das Verschwinden von Geld geworden. Frau Kollegin Koczy hat uns nach ihrer Rückkehr aus dem Tschad berichtet, dass dort mal eben 500 Millionen Euro versickert sind. Das sind erhebliche Summen, die für die Entwicklung von Afrika gebraucht werden. Sie dürfen nicht auf irgendwelchen Nummernkonten in anderen Ländern verschwinden. Das müssen wir langsam wirklich entschieden angehen. ({6}) Die Entwicklungszusammenarbeit muss als Instrument zur Durchsetzung von guter Regierungsführung effektiver genutzt werden. Good Governance darf nicht zu einem Schlagwort verkommen, sondern Bad Governance muss offen und deutlich angeprangert werden. Wir tun das heute mit unserem Keniaantrag. ({7}) Er ist mittlerweile zwar nicht mehr ganz aktuell, aber zu der Zeit, als wir ihn gestellt haben, passierten in Kenia Dinge, zu denen sich die Bundesregierung nicht so geäußert hat, wie wir uns das gewünscht hätten. In Fällen unzuverlässiger Regierungsführung macht das Instrument der Budgethilfe keinen Sinn. Wir müssen uns genau überlegen und wir müssen genau hinschauen, in welchen Ländern - bei welcher Regierung - wir eine Budgethilfe leisten können. Das müssen zuverlässige und verantwortungsvolle Regierungen sein, und das darf nicht einfach nach dem Motto geschehen: Die Budgethilfe mit der Gießkanne einfach drübergießen. Das wollen wir nicht. ({8}) Leider wird die Budgethilfe in der bilateralen deutschen und auch in der europäischen Zusammenarbeit zunehmend ausgeweitet. Ich befürchte, dass die Steigerung der ODA-Quoten bis 2015 dazu führen wird, dass sie so weit aufgeblasen wird, dass es den Ländern in Afrika nicht mehr gut tut. Wie ich gerade gesagt habe, kann die Budgethilfe nur in Ländern mit verantwortlichen Eliten eingesetzt werden. Diese gibt es mehr und mehr. Wir müssen sie aber genau aussuchen und von Hand verlesen. Dabei muss sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und ärmsten Länder konzentrieren. Schwellenländer wie China, Brasilien, Mexiko und Südafrika müssen früher oder später aus der Entwicklungszusammenarbeit herausfallen. China müsste im Prinzip sofort herausfallen, weil es selbst Entwicklungshilfe leistet. Wir haben das schon oft genug gesagt. Lassen Sie uns das Geld also lieber woanders sinnvoller verwenden. ({9}) Es gibt in Afrika wahrlich Länder, die dieses Geld dringlicher brauchen. Wir brauchen dann natürlich auch Anschlusskonzepte für die Länder, die irgendwann aus der Entwicklungszusammenarbeit herausfallen. Wir haben das gerade gesehen: Die Republik Kap Verde hat tolle Entwicklungsfortschritte gemacht. Auf einmal hörte die deutsche EZ auf. Das wünschen wir uns auch nicht. Wir müssen dann Anschlusskonzepte für die Außenwirtschaft haben. Hier sind die Außenwirtschaftler gefragt. Wir werden heute im weiteren Verlauf der Tagesordnung noch über das Thema Ressourcen sprechen. Das werde ich dann zu diesem Zeitpunkt ansprechen. Ich danke Ihnen jetzt für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der G-8-Gipfel in Heiligendamm rückt in greifbare Nähe. Überall werden fieberhaft Entscheidungen vorbereitet und wird um Dokumente gerungen. Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen wollen natürlich auch wir den Gang der Dinge ein bisschen beeinflussen. Dies wollen wir auch bei einem Thema, das für uns ein besonderer Schwerpunkt ist, nämlich der Politik gegenüber Afrika. Wir beide, die Afrikaner und die Europäer, brauchen diesen Erfolg; denn die Entwicklung in Afrika - das wurde schon gesagt hat Licht und Schatten. Gott sei Dank gibt es immer mehr Hoffnungsträger, nämlich nicht nur Südafrika, Ghana und Mosambik, sondern es gibt auch neue Hoffnung im Kongo, in Liberia und anderswo. 16 Länder in Afrika hatten während der letzten zehn Jahre stabile Wachstumsraten von über 4,5 Prozent. Auch im Gesundheitsbereich, im Bildungsbereich sowie im Bereich der Demokratie und anderswo gibt es, wie schon erwähnt, große Fortschritte. Wir müssen aber natürlich auch sehen, dass 50 Prozent der Afrikaner nach wie vor in absoluter Armut leben und dass Afrika eine Region ist, in der die Armut in den letzten zwei Dekaden zugenommen hat. Auch die fortschreitende Islamisierung macht uns Sorge. Daneben müssen wir eine groteske Fehlentwicklung im Bereich der Wirtschaft erkennen. Trotz Rohstoffhausse, trotz Rohstoffgewinnung auf Rekordhöhe, hat der Anteil Afrikas am Welthandel abgenommen. Er ist auf unter 2 Prozent gesunken. Auch die privaten Investoren - von einigen Ausnahmen abgesehen - machen nach wie vor einen großen Bogen um Afrika. Natürlich ist es für uns Europäer wichtig - das hat sich in den letzten Jahren herausgestellt -, zu erkennen, dass der Erfolg oder Misserfolg der Entwicklung Afrikas auch ökonomische, ökologische und sicherheitspolitische Auswirkungen auf uns hat. Wir haben selbst - das müssen wir auch nach außen betonen - ein vitales Interesse an der Stabilisierung des Kontinents. Wir haben Interesse an einer ausgewogenen Entwicklung zugunsten der breiten Bevölkerung in Afrika. Wir haben ein Interesse daran, fundamentalistische und radikalistische Strömungen in Afrika zu dämpfen und dass die Menschen in Afrika auch in ihren Heimatländern eine Perspektive finden. Deswegen ist es wichtig, dass wir nach all den vorangegangenen G-8-Gipfeln mit vielen Papieren und Erklärungen in Heiligendamm einen entscheidenden Schritt vorankommen werden. Das heißt für mich vor allem, dass die Frage im Mittelpunkt steht, wie wir die Selbsthilfekräfte der Afrikaner zur Lösung ihrer Probleme stärken können, statt sie zu blockieren. Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass die Handelspolitik, die wir als Europäer gegenüber Afrika betreiben, nicht dazu führt, dass zarte Pflänzchen afrikanischer Märkte und Produktion abgewürgt werden. ({0}) Wir haben auch ein ureigenes Interesse daran, eine internationale und europäische Entwicklungspolitik zu be9884 treiben, die - auch mit Blick auf die Hilfe zur Selbsthilfe koordinierter, gezielter und effizienter wird. Wir sollten in unserer Politik von der Fata Morgana Abstand nehmen, man könnte Afrika von außen sozusagen schlüsselfertig aufbereiten. ({1}) Wir sollten vielmehr versuchen, die afrikanischen Kapazitäten für Problemlösungen zu stärken. Dazu gehört neben Bildung und Ausbildung, Wissenschaftstransfer und ländlicher Entwicklung, dass wir - das haben wir neulich in einem Hearing der Konrad-Adenauer-Stiftung gelernt - als Parlamentarier die demokratischen Parteien und die Demokratien in Afrika und auch die Zivilgesellschaft stärken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Groneberg [SPD] Das bedeutet auch Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen. Darauf wird Hartwig Fischer noch eingehen. Dazu gehört für mich auch, worauf Sie, Frau Ministerin, schon hingewiesen haben, nämlich dass man bei der Demobilisierung nach Beendigung von Konflikten und Unruhen sehr schnell und auch unbürokratisch auf Instrumentarien zurückgreifen kann, um den Kindersoldaten und den Armeeangehörigen die Chance zu geben, sich wieder in ein normales Privatleben einzugliedern. Dazu gehört auch - das wurde ebenfalls bereits angesprochen -, dass die großartigen Reichtümer Afrikas professioneller erschlossen und zum Wohle der eigenen Entwicklung der Länder Afrikas verwandt werden. ({2}) Von dem G-8-Gipfel muss auch ein Signal von unserer Seite als wichtigste und reiche Rohstoffbezieher ausgesandt werden, dass auch wir viel stärker als bisher dazu beitragen werden, dass die Reichtümer Afrikas nicht in Wildwestmanier und auch nicht zum Schaden einer gesunden Entwicklung Afrikas ausgebeutet werden. China wurde bereits angesprochen. Es muss auch ein Signal an China ausgehen, dass mit neuer Macht auch neue Verantwortung verbunden ist und dass mit dem massiven Auftreten Chinas in anderen Kontinenten eine größere Verantwortung für die friedliche Entwicklung dieser Länder verbunden ist. Das müssen wir von der Volksrepublik China einfordern. ({3}) Spiegelbildlich zu unserer Verantwortung gibt es auch eine Verantwortung der Afrikaner. In unserem Antrag ist von einer Partnerschaft auf Augenhöhe die Rede. Der Schlüssel für die Entwicklung Afrikas liegt vor allem in den Händen der Afrikaner selbst. Aus dieser Verantwortung können wir niemanden in Afrika entlassen. Das heißt auch, dass es eine zutiefst afrikanische Aufgabe ist, afrikanische Diktaturen und Massenmörder zu ächten. ({4}) Es ist auch eine zutiefst afrikanische Aufgabe, mit den eigenen natürlichen Reichtümern nicht die eigenen Taschen zu füllen, sondern sie für die eigene Bevölkerung und deren Entwicklung zu nutzen. Das heißt, dass der Aufbau von Rechts- und Investitionssicherheit, einer funktionierenden Verwaltung und regionaler Märkte sowie von Sozialsystemen eine zutiefst afrikanische Aufgabe ist. Hier müssen die Weichen von afrikanischen Politikern gestellt werden. Partnerschaft auf Augenhöhe bedeutet nicht nur, dass wir unsere Hausaufgaben machen, sondern auch, dass wir von unseren afrikanischen Partnern einfordern müssen, ihre Hausaufgaben zu erledigen. Das ist eine große Aufgabe für den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Hier müssen wir einen Schritt vorankommen. Wir Entwicklungspolitiker haben unsere Hausaufgaben zumindest mit dem fraktionsübergreifenden Antrag erfüllt. Wir hoffen, dass man auf dem Gipfel in Heiligendamm zu einem guten Ergebnis für Afrika kommt. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin, Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst eine Anmerkung zu der gegenwärtigen Situation bezüglich der Kriminalisierung der G-8-Gegner, die in Heiligendamm demonstrieren wollen: Wir lehnen diese Kriminalisierung mit aller Schärfe ab. ({0}) Wir erwarten von allen anderen Fraktionen, sich diesbezüglich zu positionieren. Wir leben in einer Welt der Extreme. Die 1 000 reichsten Menschen der Welt verfügen über 3 500 Milliarden Dollar. Die Hälfte davon reichte aus, um alle Schulden der Entwicklungsländer zu tilgen. Auf der anderen Seite gibt es extreme Armut. In Afrika haben 40 Prozent der Menschen - darauf wurde bereits hingewiesen - weniger als 1 Dollar am Tag zum Leben zur Verfügung. Die Zahl der Hungernden dort ist in den letzten Jahren auf über 200 Millionen gestiegen und steigt weiter an. Sie von der Regierung finden sich damit ab. Deshalb demonstrieren auch wir in Heiligendamm gegen diese Politik. ({1}) Zugegeben, die Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland will dieses Elend beseitigen. Aber die Regierung tut es nur halbherzig. Alle Bemühungen werden durch die Außenwirtschaftspolitik der EU und der USA, aber auch Chinas systematisch hintertrieben. Nehmen wir als Beispiel die Fischerei. Mit Millionenbeträgen hat die EU-Kommission umfangreiche Fanglizenzen vor Westafrika erworben. Die Folge ist: Heute stehen dort 70 Prozent der Fischbestände vor dem Kollaps. Die arHüseyin-Kenan Aydin men Fischer in Senegal stehen vor dem Aus; denn die schwimmenden Fabriken aus Europa und China lassen kaum noch etwas für sie übrig. Ich sage: Die deutsche Politik hat Mitschuld, dass die Menschen Westafrikas hungern müssen. ({2}) Die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit bleiben stumpf, wenn der IWF Konzerninteressen durchdrückt. So wurden vor Jahren den Tomatenbauern in Senegal Traktoren, finanziert mit Entwicklungsgeldern, geschenkt, was schön war. Doch 2001 erzwang der IWF die Privatisierung der Tomatenverarbeitung in Senegal. Damit beseitigte er die Abnahmegarantie, die die staatliche Verarbeitungsindustrie den einheimischen Gemüsebauern gewährte. Der IWF erzwang auch die Absenkung der Agrarzölle. Damit machte er den Weg für subventioniertes Tomatenmark aus Italien und China frei. Welcher Irrsinn! So werden die Gemüsebauern des Senegals ruiniert. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beschleunigt solche verheerenden Entwicklungen noch. Kernstück ihrer Afrikapolitik ist der Abschluss sogenannter Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die ab 2008 eine weitere Marktöffnung in den armen Ländern vorsehen. Die Folgen werden mehr Arbeitslosigkeit und mehr Hunger sein und nicht weniger. Ist das das Zusammenspiel von Entwicklungs- und Außenwirtschaftspolitik, von der die Bundesregierung immer spricht? Das ist es nicht. Die europäischen Wirtschaftsminister hauen den afrikanischen Bauern die Beine weg. Hinterher verteilen die Entwicklungsminister großzügig Almosen. Das reicht nicht. ({3}) Die Entwicklungspolitik in Deutschland und in Europa hat keinen Einfluss auf die Handelsvereinbarungen. Wir fordern, dass die Entwicklungspolitik die Ursachen der Armut bekämpft. Sie muss nachhaltig helfen, Armut zu vermeiden. Die Linke will die konsequente Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit auf folgende Kernbereiche. Erstens: Hungerbekämpfung und Wasserversorgung. Zweitens: Bildung, Gesundheit und Beschäftigung; Bildung nicht nur im quantitativen Sinn, damit man statistisch 20 Millionen Kinder ausweisen kann, sondern im qualitativen Sinn. ({4}) Wir wollen drittens Infrastrukturmaßnahmen und Umweltschutz. Tatsächlich gibt es viele gute Projekte, die in Afrika die fehlende sozialstaatliche Struktur auffangen. Dazu gehört auch ein Projekt des Entwicklungsministeriums, mit dem Deutschland in Kenia den Aufbau einer Krankenversicherung unterstützt, die auch für die Armen offen ist. Leider sind solche Projekte in eine widersprüchliche Gesamtstrategie eingebettet. Die Bekämpfung der Armut in Afrika ist keineswegs der Schwerpunkt. Stattdessen hält das Ministerium weiterhin am sogenannten Ankerländerkonzept fest. In diesem Punkt stimme ich mit der FDP überein. Wir müssen uns überlegen, ob China Mittel in Höhe von 57 Millionen Euro aus dem Entwicklungstopf bekommen soll. Wenn es außen- und wirtschaftspolitisch sinnvoll ist, sollte die Finanzierung über das Wirtschaftsministerium, nicht aber aus dem Topf des Entwicklungsministeriums erfolgen. ({5}) Das muss aufhören. Die Gelder müssen auf Länder konzentriert werden, denen keine ausreichenden eigenen Mittel zur Verfügung stehen. Ohne ausreichende Mittel ist keine Entwicklung möglich. Statt Tornados nach Afghanistan zu schicken, geben Sie dieses Geld für die Bekämpfung der Armut aus, meine Damen und Herren! ({6}) Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien spiegelt die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Afrikapolitik wider. Sie fordern zwar die Verfolgung europäischer Firmen, die sich durch Bestechung in Afrika Vorteile verschaffen, aber es bleibt dennoch folgenlos. Frau Merkel stellt ihren Kampfgeist gegen die Korruption in diesen Tagen mit ihrem lauten Schweigen zur Affäre Wolfowitz knallhart unter Beweis. ({7}) Zu solch einer Politik der leeren Worte sagen wir Nein. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Thilo Hoppe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde diese Rede am liebsten mit einem Zwillingsbruder halten und sie in verteilten Rollen vortragen. Der eine übernimmt die Rolle des Optimisten. Er berichtet von erfreulichem Wirtschaftswachstum im Durchschnitt von 5,5 Prozent in den afrikanischen Ländern, von beachtlichen Reformanstrengungen und auch von Erfolgen im NEPAD-Prozess, von den Signalen des Aufbruchs und der Hoffnung. Der andere Zwillingsbruder übernimmt nicht die Rolle des Pessimisten, aber die eines doch sehr besorgten und bedrückten Menschen, der auf all das Elend hinweist, das es gerade in Afrika südlich der Sahara nach wie vor gibt und das in einigen Sektoren sogar noch größer geworden ist. Insbesondere die Zahl der Hungernden steigt. Man muss sich das vor Augen halten: Ein Drittel aller Menschen in Afrika, in der Subsahara, sind in bedrohlicher Weise chronisch unterernährt. Nach so einer doppelten Rede, vorgetragen von Zwillingsbrüdern, könnten wir darüber streiten, wer von beiden nun recht hat oder mehr recht hat. Die Antwort ist einfach: natürlich beide. Kontraproduktiv würde es werden, wenn der eine Bruder auf die Idee käme, dem anderen Bruder den Mund zu verbieten, wenn wir nur noch auf das Leid der Aidswaisen, der Bürgerkriegsflüchtlinge, auf fortschreitende Wüstenbildung, auf die Rohstoffplünderung, auf den Sumpf der Korruption und auf unfähige Regierungen hinweisen würden. Dann würden sich die Menschen hier in Deutschland mit Grausen abwenden und sagen, das ist ein verlorener Kontinent, man raubt den Menschen in Afrika die Würde, man degradiert sie zu reinen Almosenempfängern. Aber auch die andere Einseitigkeit, mit der die wirtschaftlichen Erfolge, die Signale des Aufbruchs überbetont werden, ist unmenschlich, weil sie die Vergessenen, die Opfer ignoriert oder gar verhöhnt. Sowohl auf Wirtschaftskongressen als auch auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und -konzerten kann man die eine oder andere Einseitigkeit erleben. Unser Antrag ist von beiden Zwillingsbrüdern geschrieben worden. Wir würdigen die Stärken, wir würdigen die Reformbemühungen, aber wir decken auch schonungslos die Missstände auf. ({0}) Beides macht auch die Koalition in ihrem Antrag, aber es fehlt die Selbstkritik bei der Frage nach den Ursachen der Missstände. Es werden vor allem die Fehler benannt, die die afrikanischen Regierungen selber produzieren. Die Folgen der Kolonialgeschichte, die verheerenden Zwangstherapien des IWF, ein gescheiterter Liberalisierungskurs, illegitime Schulden oder schädliche Megaprojekte werden ausgeblendet. Lediglich die negativen Auswirkungen der Agrarexportsubventionen werden etwas kleinlaut zugegeben. ({1}) Da könnte man sehr viel drastischer argumentieren. Gerade die Afrikapolitik der Europäischen Union ist nach wie vor von großen Widersprüchen geprägt. Was die eine Hand aufbaut, zerstört die andere Hand. ({2}) Wir haben das Beispiel der Tomaten aus dem Senegal gehört. Ich hätte noch ein Beispiel aus Ghana. Dort hat man einerseits den Anbau von Tomaten mithilfe der Entwicklungszusammenarbeit erfolgreich gefördert, andererseits ist aber alles wieder durch immense Einfuhren von hochsubventioniertem Tomatenmark „kaputtgedumpt“ worden. Bei meiner letzten Reise - ich konnte mit Horst Köhler fahren - haben mir Politiker aus Ghana bestätigt, dass die Europäische Union indirekt damit gedroht hat, die Entwicklungshilfe einzustellen, sollte Ghana auf die Idee kommen, den Außenschutz zu erhöhen, um sich gegen diese Dumpingeinfuhren zu wehren. Das ist wirklich irrsinnig. ({3}) Das ist nur ein Beispiel dafür, dass es, obwohl viele Probleme in Afrika verursacht werden und wir tatsächlich in vielen Fällen bei der Problemlösung helfen, auch Sektoren gibt, auf denen die Europäische Union selber ein Teil des Problems ist. Wenn ich alle Anträge, die vorliegen und in der Diskussion sind, miteinander vergleiche, dann stelle ich fest, dass es in der Tat viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber aufgrund der knappen Redezeit möchte ich jetzt nicht diese beleuchten, sondern mich auf die Unterschiede konzentrieren. Gerade wenn ich unseren Antrag mit alten Afrikaanträgen vergleiche, die noch unter der rotgrünen Regierung gestellt wurden, dann stelle ich fest, dass Bereiche fehlen, für die sich besonders die Grünen stark eingesetzt haben. Die ökologischen Fragen werden unterbelichtet, und das große Problem, dass die ländliche Entwicklung vernachlässigt wurde und noch vernachlässigt wird, besteht nach wie vor. Es werden Strategien beschrieben, die auf die Metropolen zielen, es wird eine Wirtschaftsstrategie beschrieben, wonach Wirtschaftskerne weiter gestärkt werden sollen, aber die abgehängten Menschen in der Peripherie, in den ländlichen Gegenden kommen nur in wenigen Zeilen vor. Diese Politik, nämlich die Vernachlässigung der ländlichen Entwicklung, ist in einer Studie von Oxfam und der Welthungerhilfe kritisiert worden. In der Studie wird deutlich gesagt, dass die G-8-Staaten immer mit vollmundigen Versprechen und mit großen Verlautbarungen daherkommen. Wenn man aber genau rechnet, dann sind die Leistungen der G-8-Staaten seit Gleneagles sogar um 5 Prozent zurückgegangen. Wenn die Versprechungen, die die Ministerin heute gemacht hat und die ich unterstütze, wirklich mit Leben erfüllt werden, dann müssen wir noch einen riesigen Schritt nach vorne gehen. Ich sehe das aber noch nicht. ({4}) Ich möchte mich nicht in jeder Debatte wiederholen - das wird irgendwann langweilig -, aber wo sind die innovativen Finanzierungsinstrumente, die schon seit Monaten und Jahren angekündigt werden? Ohne diese Finanzierungsinstrumente werden wir es nicht schaffen, den Worten Taten folgen zu lassen. Im Antrag der Linken findet sich berechtigte Kritik an den wirtschaftlichen Zusammenhängen, aber einen Bereich blenden Sie völlig aus: die sicherheitspolitische Dimension. Sie fordern, dass die Menschenrechte unbedingt eingehalten werden müssen - d’accord -, aber sie verschließen die Augen davor, dass dies beispielsweise in Darfur ohne ein robustes Mandat einer UN-Friedenstruppe einfach nicht möglich ist. Ich hoffe, dass Sie diesbezüglich intern noch eine Debatte führen. Ich weiß, dass es dafür Anzeichen gibt. Ich hoffe, dass Sie in der Frage, wie der schleichende Völkermord in Darfur eingedämmt werden kann, zu neuen Erkenntnissen kommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie gesagt, es liegen viele Anträge vor. Ich glaube, dass unser Antrag im Vergleich vorne liegt; denn unser Ansatz ist wirklich kohärent und ganzheitlich. Er zielt darauf ab, den Menschen in Afrika ein Leben in Würde zu ermöglichen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wenn wir im Bundestag über den afrikanischen Kontinent reden, dann geht es tatsächlich oft um Krisen, um Kriege, um korrupte Regime, um Hungersnöte oder um HIV/Aids. Diejenigen, die einen intensiveren Kontakt zum afrikanischen Kontinent haben, nehmen Afrika aber auch ganz anders wahr. Sie sehen, es gibt dort Staaten mit Regierungen, die sich intensiv um demokratische Strukturen und um die Einhaltung von Menschenrechten kümmern. Dort gibt es eine mutige Zivilgesellschaft. Es gibt dort Staaten, die auf den Gebieten Gesundheitsversorgung und Bildung gute Ergebnisse vorweisen können. In der allgemeinen Wahrnehmung Afrikas sind diese Inseln des Fortschritts allerdings nicht zu finden, und das zu Unrecht. Wir sind uns natürlich bewusst, dass unsere Bemühungen - wie die der anderen wichtigen Geber - zu guten und zu schlechten, das heißt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Entwicklung Afrikas geführt haben. Insgesamt ist das nicht zufriedenstellend - das ist richtig -; sonst würden wir hier nicht darüber reden. Man fragt sich natürlich, warum wir unzufrieden sind. Die Antworten darauf sind nicht einfach. Es gibt nicht nur eine schlüssige Antwort, sondern mehrere, ganz differenzierte Antworten. Einige will ich geben. Vor allem sind die vielen bewaffneten Auseinandersetzungen zu nennen. Viele positive Ansätze und Entwicklungen in der Vergangenheit sind durch die verheerenden Konflikte, die irgendwann wieder stattgefunden haben, zerstört worden. Erst seit der jüngsten Vergangenheit sind wir uns alle - damit meine ich die Afrikaner genauso wie den Rest der Welt - einig darüber, dass es nötig ist, in der Bewältigung von Konflikten gemeinsam aktiv zu werden, und dies mithilfe militärischer Einsätze, um Sicherheit in Konfliktregionen zu organisieren. Die Ministerin hat das Beispiel Kongo gerade genannt. Die Afrikanische Union - kurz AU - bemüht sich seit ihrer Gründung im Jahre 2002 aktiv um die Gestaltung multilateraler Konfliktlösungsmechanismen in Afrika. Elf afrikanische Staaten haben Ende 2006 zum Beispiel ein Abkommen über Sicherheit, Stabilität und Entwicklung in der Region der Großen Seen mit einer Laufzeit von 20 Jahren unterzeichnet. Es ist mittlerweile also gerade einmal fünf Jahre her, dass die AU diesbezüglich aktiv ist. Wir, Deutschland, und weitere internationale Geber unterstützen die AU und andere Staaten natürlich in ihren Bemühungen. Aber auch wir in Europa haben lange gebraucht, bis wir zu dieser Sicherheit und Stabilität gekommen sind. Wir sollten uns einmal daran erinnern, dass wir Afrika nicht mit unseren Maßstäben messen können. ({0}) In diesem Zusammenhang darf ich Herrn Nooke nach seinen heutigen Bemerkungen einmal sanft daran erinnern, dass es bis zum Wegfall des Ost-West-Konflikts in Europa doch eigentlich so gewesen ist, dass wir unsere Konflikte stellvertretend auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen haben. Wie viele gegenseitige Blockaden hat es gegeben, und zwar zum Schaden einer wirksamen Entwicklungspolitik! Das war manchmal doch eher eine Entwicklungspolitik des gegenseitigen Behinderns. Das sollten wir einmal ehrlich zugeben. Auch das gehört zu einer ehrlichen Analyse. Über das Stadium des gegenseitigen Behinderns sind wir Gott sei Dank hinweg. Selbstkritisch sollten wir feststellen, dass der Bereich der Agrarpolitik mit ganz vielen eigenen Interessen verbunden ist. Thilo Hoppe, wir werden im Ausschuss noch intensiv darüber reden. Offensichtlich hat sich Herr Nooke wenig mit Entwicklungshilfe beschäftigt; sonst wüsste er nämlich, dass wir unsere Hilfe seit Jahren vor allen Dingen an guter Regierungsführung ausrichten. Eine gemeinsame internationale Strategie dazu ist eigentlich erst mit der Millenniumserklärung entwickelt worden. Ich erinnere an die Millenniumsentwicklungsziele, die wir gemeinsam definiert haben. Diese Erklärung und die MDGs haben eine neue globale Partnerschaft für Entwicklung eingeleitet, und das erst im Jahre 2000. Das ist gerade einmal sieben Jahre her. Gute Regierungsführung, Good Governance, der Aufbau einer wehrhaften und mutigen Zivilgesellschaft zur Kontrolle von Regierungen, der Aufbau demokratischer Strukturen sind ganz wichtige Elemente und Kriterien unserer Entwicklungspolitik. Zugegebenermaßen gibt es immer wieder Fälle, wo wir nachbessern müssen, weil wir festgestellt haben, dass Entwicklungshilfegelder nicht dorthin kommen, wohin sie gehören. Aber das kann man eben nicht verallgemeinern, Herr Addicks. In diesen Fällen haben wir entsprechend reagiert bzw. - siehe Kenia - sind wir dabei, zu reagieren. Deshalb ist Ihr Antrag überflüssig geworden. Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass wir in diesem Zusammenhang auch einmal kritischer auf uns selbst schauen sollten. Man muss ehrlich zugeben: Be9888 kannte Beispiele zeigen, dass Korruption auch bei uns vorkommt. Insofern sollten wir uns an die eigene Nase fassen und mit vernünftigem Maß messen. ({1}) Unabhängig davon leisten wir humanitäre und Nothilfe in Staaten, die sich durch Menschenrechtsverletzungen und Korruption auszeichnen, und das in negativem Sinne. Gerade ein Menschenrechtsbeauftragter sollte sich überlegen, ob er das bestreiten möchte. Aber sollte man deshalb tatsächlich darüber nachdenken, gar keine Hilfe mehr zu leisten? Ich glaube nicht, dass das im Sinne der Menschenrechte wäre und dass wir uns das im Namen der Menschlichkeit erlauben könnten. ({2}) In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich seit der Gründung von NEPAD im Jahre 2001 26 afrikanische Staaten verpflichtet haben, im Rahmen des African Peer Review Mechanism die notwendigen Reformen und die Grundsätze des Good Governance in Afrika massiv voranzutreiben, und zwar im Erfahrungsaustausch zwischen den afrikanischen Staaten. Nun muss darauf geachtet werden, dass die gegebenen Zusagen eingehalten werden. Der eigentliche Fortschritt ist, dass sich die Afrikaner jetzt dazu bekannt haben, die entsprechenden Maßnahmen durchführen zu wollen. Sicherlich haben wir in der Vergangenheit einen großen Fehler gemacht: Wir haben versucht, die Probleme Afrikas nach unserem europäischen Verständnis zu lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Das kann nur begrenzt funktionieren. In den letzten Jahren wurde es daher zum zentralen Bestandteil unserer Programme und unserer Entwicklungshilfe, zum einen die Eigenverantwortlichkeit der afrikanischen Staaten einzufordern und zum anderen gemeinsam mit ihnen nach Lösungen zu suchen, die der afrikanischen Kultur gerecht werden und die Bevölkerung einbeziehen. Nur so kann man nachhaltige Prozesse einleiten. Herr Addicks, das gilt auch für den Kongo und die geplante Einrichtung des Fonds. Dieser Fonds wird nicht über die Regierung organisiert. Wir speisen diesen Fonds, die KfW baut ihn auf, und die Abwicklung erfolgt über die NGOs im Land. Genau das wollen wir. Deshalb verstehe ich Ihre Kritik an dem geplanten Fonds nicht. ({3}) - Es gibt ein Konzept; sonst würden wir diesen Fonds nicht in Zusammenarbeit mit den NGOs aufbauen. Darüber werden wir im Ausschuss noch intensiv reden. ({4}) Nun komme ich auf die demokratischen Strukturen und auf die Beteiligung der Bevölkerung zu sprechen. Freie und fair gewählte Parlamente sind eine wichtige Grundlage für den Entwicklungsprozess. Das Ziel von uns Parlamentariern ist, den Austausch mit den dortigen Parlamenten zu vertiefen und durch Kontakte ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Wir wollen, dass die Parlamente über die Entwicklungshilfeleistungen und deren Höhe informiert werden. Sie müssen in die Lage versetzt werden, vor Ort die notwendige Kontrolle ausüben zu können. Wir wollen die Kooperation mit den Parlamenten auf allen Ebenen, bis hin zur kommunalen Ebene, verbessern. Meine letzte Bemerkung: Der Bundestag wird prüfen, ob es möglich ist, ein Parlamentarisches Patenschaftsprogramm für afrikanische Jugendliche einzurichten. Wir sollten uns darum bemühen. Jugendliche sind unsere Zukunft. Das gilt vor allen Dingen für Afrika. Durch einen solchen Austausch könnten wir die afrikanische Jugend gezielt unterstützen. Deutschland hat ein sehr großes Interesse daran, die Kooperation mit Afrika insbesondere in diesem Bereich fortzusetzen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hartwig Fischer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen, Frau Dr. Merkel und Frau Wieczorek-Zeul, dafür, dass es Ihnen in den letzten Monaten gelungen ist, Afrika im Rahmen der EU-Präsidentschaft und der G-8Präsidentschaft Deutschlands in den Mittelpunkt der Politik zu rücken. ({0}) Es ist selten genug der Fall, dass dieses Thema im Parlament zur Sprache kommt. Ich bedanke mich insbesondere deshalb, weil im Vorfeld der beiden Gipfel offene Dialoge geführt worden sind - auf Ministerkonferenzen und in Workshops der Ministerien, der Fraktionen, der Stiftungen, der Kirchen, aber auch der NGOs. Es hat also ein breit angelegter Begleitprozess stattgefunden. Herr Aydin, Ihnen sage ich ganz offen: Nehmen Sie an der Demonstration teil, aber leisten auch Sie Ihren Beitrag, dass sie friedlich bleibt! Diesen Anspruch sollte man haben. ({1}) Deutschland gilt in Afrika aufgrund seiner zielgerichteten Entwicklungspolitik als glaubwürdiger und vorHartwig Fischer ({2}) bildlicher Partner. Zu der Art und Weise, in der Sie, Herr Aydin, das dargestellt haben, muss ich Ihnen allerdings sagen: So können Sie, wenn Ihnen das gefällt, mit der Ministerin sprechen. Aber so, wie Sie es vorgetragen haben, ist das ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die für die Technische Zusammenarbeit, die Finanzielle Zusammenarbeit, die Durchführungsorganisation verantwortlich sind und die für ihre Professionalität und Effektivität bekannt sind. ({3}) Es ist gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht der NGOs, der Kirchen und der Stiftungen, die sich dort humanitär engagieren, Capacity Building leisten und Hilfestellung in Sachen Demokratie geben. ({4}) Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Das, was sich in den letzten Monaten an Entwicklungsprozessen gezeigt hat, macht mir deutlich, dass Heiligendamm nicht nur eine Fortschreibung von Gleneagles sein wird, sondern dass diese Präsidentschaft genutzt wird, um Schwerpunkte zu setzen. Man kann Schwerpunkte setzen, weil Deutschland gute Regierungsführung unterstützt hat, weil Deutschland in der Vergangenheit Schwerpunkte bei der Bekämpfung der Korruption gesetzt hat, weil man mit der EITI-Initiative und der Stärkung von Good Governance richtige Schwerpunkte gesetzt hat, weil wir in der Frage Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung Schwerpunkte gesetzt haben. Ein Fünftel der bilateralen EZ-Mittel in Afrika fließen in diesen Bereich. 2 Milliarden Euro unserer Mittel für Entwicklungszusammenarbeit sind bi- und multilateral in die Subsahara geflossen, zurzeit jährlich 386 Millionen Euro allein in den Energiesektor. Das sind vorbildliche Beispiele, die man bei den Verhandlungen vorzeigen kann. Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, den die Präsidentschaft über Frau Dr. Merkel und unsere Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit angedeutet hat: Das ist die Frage des Verhaltenskodexes, wenn medizinisches Personal abgeworben wird. Wir haben das gerade wieder bei Besuchen in Afrika erlebt. Beispiel Malawi: Es gibt in England mehr Fachärzte aus Malawi als in Malawi selbst. Das ist ein Trend, der umgekehrt werden muss. Meine Damen und Herren, es müssen aber auch Schwerpunkte und Akzente insbesondere im Rahmen der Kooperation und Partnerschaft zwischen EU und AU und den afrikanischen Regionalorganisationen gesetzt werden. Das kann man noch verstärken. Herr Hoppe, Sie haben gesagt, wir konzentrierten uns so sehr auf die großen Städte. Wir müssen uns auch auf die großen Städte konzentrieren. Bei einer Stadt wie Lagos mit 16 Millionen bis 18 Millionen Einwohnern kann man nicht daran vorbeisehen, was dort an Umweltverschmutzung, an Wasserverschmutzung, an Krankheiten und Ähnlichem entsteht. ({5}) Aber wenn Sie sich die Programme ansehen, dann werden Sie merken, dass wir in den letzten Jahren im Aufwuchs gerade bei der Dezentralisierung stark geworden sind. Wir haben die Mittel in die Dezentralisierung gesteckt, um die Menschen selbst in die Lage zu versetzen, zu handeln. Ich komme darauf gleich noch zurück. Wir haben bei der Rechtstaatlichkeit geholfen, beim Aufbau von Justiz und Polizei. HIV und Aids will ich heute nicht noch einmal ausdrücklich erwähnen, weil wir dazu Extraerklärungen gehabt haben. Aber wir brauchen - da unterstütze ich Gabi Groneberg ausdrücklich Partnerschaft mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, gerade auch über AWEPA. Ich stelle drei Schwerpunkte heraus und knüpfe zunächst an das an, was die Ministerin vorgetragen hat: an Mikrofinanzen und das, was wir im Kongo erlebt haben, was einige auch woanders erlebt haben. Wenn wir Mikrofinanzprojekte vorantreiben, dann helfen wir damit Kleinstunternehmen und Kleinunternehmen aus allen Sektoren, Selbstständigkeit zu entwickeln, eigenverantwortlich zu handeln. Die Konsequenzen sehen wir dort, wo es Mikrofinanzprojekte gibt. Sie bedeuten nicht nur eigenes Einkommen, ein vermehrtes Einkommen über dem Durchschnitt der Bevölkerung, was dann breite Bevölkerungsschichten erreicht, sondern sie bedeuten gleichzeitig, dass die Familien - es sind vor allen Dingen Frauen, die diese Kredite in Anspruch nehmen ihre Kinder zur Schule schicken können. Bildung bedeutet wiederum einen Rückgang von Aidsraten und Ähnlichem. Das heißt, wir müssen in diesem Bereich noch stärker werden und einen zusätzlichen Schwerpunkt setzen. Ich sage trotzdem: Wir müssen die Wirtschaft mit einbauen. Unsere Wirtschaft darf den afrikanischen Kontinent nicht anderen überlassen; denn wenn die ihre Standards setzen, werden wir in Zukunft außen vor sein. Wir setzen damit gleichzeitig Wertemaßstäbe, für die es sich lohnt, dort zu kämpfen. ({6}) Der zweite wichtige Schwerpunkt, den ich mir wünsche - und von dem ich den Eindruck habe, dass er einfließen wird -, betrifft die Frage von Rohstofftransparenz und Rohstoffökonomie, damit die Wertschöpfung in den entsprechenden Ländern bleibt. Ich habe das im Zusammenhang mit EITI angesprochen. Ich bin sehr froh, dass auch wir uns des Themas fossile Brennstoffe annehmen. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel ist es ja wichtig, dass wir dafür sorgen, dass regenerative Energien gefördert werden. Der dritte Schwerpunkt ist die Krisenprävention. Das ist natürlich mein großes Wunschthema, nachdem ich die Krisenherde gesehen und mitbekommen habe, wie viele Tausend Menschen gestorben sind. Wir als Europäer müssen die African Standby Force bei Logistikausbildung sowie Technik und Ausbildung stärker unterstützen, um Afrika das Wahrnehmen von Eigenverantwortung zu ermöglichen. Meine Damen und Herren, Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern und den Partnern dort heißt, unsere Hartwig Fischer ({7}) Interessen und die Beweggründe für unsere Politik deutlich zu machen. Vier davon will ich ganz kurz aufzählen. Erstens: ethische und humanitäre Beweggründe. Beide Bereiche hängen ganz eng mit unseren Grundwerten zusammen. Wir wissen, dass auf dieser Erde täglich 30 000 Kinder sterben und davon unglaublich viele in Afrika. Deshalb müssen wir diese Partnerschaftspolitik machen. Zweitens: Rohstoffökonomie. Das heißt, dass wir Rohstoffe zu Weltmarktpreisen kaufen und die Wertschöpfung aus der Förderung dieser Rohstoffe in den Ursprungsländern verbleibt. Drittens: ein fairer Import und Export, bei dem dafür gesorgt wird, dass nicht durch Subvention Märkte kaputt gemacht werden. Da stimme ich mit den Kollegen, die das angesprochen haben, überein. Viertens: Die Migrationsbewegung aus Afrika - jeder Migrant hat ja ein besonders furchtbares Schicksal muss durch die Ermöglichung von eigenverantwortlichem Leben in diesen Ländern gestoppt werden. Ergebnisse in diesem Sinne erhoffe ich mir auch von dem Gipfel in Heiligendamm. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Kanzlerin mit unserer Entwicklungsministerin dafür kämpft. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5257 und 16/5243 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia auf den Prüfstand stellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2363, den Antrag der FDP auf Drucksache 16/965 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahnmautrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 16/2718, 16/2935 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) - Drucksache 16/5234 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({2}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/5244 Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Klaas Hübner Dr. Claudia Winterstein Anna Lührmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann das Wort. ({4})

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Zusammenhang mit der Einführung der Lkw-Maut haben sich im Mai 2003 Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung darauf verständigt, dem Straßengüterverkehrsgewerbe wegen der Wettbewerbsbedingungen im europäischen Güterverkehr ein sogenanntes Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro jährlich zu gewähren. Die Bundesregierung steht zu dieser Vereinbarung und setzt sich, wie bisher, auch weiterhin für die Realisierung geeigneter Maßnahmen ein. Dem nach dem Mautkompromiss vom Mai 2003 vorrangig zu verfolgenden sogenannten Mautermäßigungsverfahren, das zusammen mit dem Gewerbe erarbeitet worden war, hat die Europäische Kommission im Beihilfeprüfverfahren Ende Januar 2006 wegen einer De-factoDiskriminierung von Ausländern nicht zugestimmt. Eine Anrechnung bereits gezahlter Mineralölsteuern auf die Maut ist damit nicht möglich. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf soll nunmehr die ebenfalls im Mai 2003 verabredete Änderung der Kraftfahrzeugsteuer umgesetzt werden. Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe wird entlastet, indem die Höchststeuer für schwere Nutzfahrzeuge auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau abgesenkt wird. Die Absenkung hat ein Gesamtvolumen von 150 Millionen Euro jährlich. Die den Ländern entgehenden Einnahmen aus der Kraftfahrzeugsteuer werden aus dem Mautaufkommen ausgeglichen. Das Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge wird entsprechend angepasst. Die Gegenfinanzierung der Steuersenkung erfolgt aus Mehreinnahmen bei der Lkw-Maut. Die Mautsätze werden entsprechend angehoben. In den Kategorien A und B wird der Mautsatz um 1 Cent je Kilometer und in der Kategorie C um 1,5 Cent je Kilometer angehoben. Bei der Erhöhung der Mautsätze wurde auch die Finanzierung des sogenannten Innovationsprogramms, das ebenfalls im Mai 2003 verabredet wurde, berücksichtigt. Das Programm sieht die Förderung der Anschaffung besonders emissionsarmer schwerer Nutzfahrzeuge vor. Unternehmen sollen zwischen einem zinsgünstigen Kredit und einem einmaligen Direktzuschuss wählen können. Das Innovationsprogramm selbst bedarf als Förderprogramm keiner gesetzlichen Regelung und ist somit nicht Inhalt dieses Gesetzentwurfs. Die Europäische Kommission hat das Innovationsprogramm Ende Januar 2007 beihilferechtlich genehmigt. Entsprechend der Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses des Bundestages soll die Anhebung der Mautsätze, soweit sie das Innovationsprogramm betrifft, auf den 30. September 2008 befristet werden. Diese Forderung ist vor dem Hintergrund der Auflage der Europäischen Kommission zu verstehen, Fahrzeuge mit Schadstoffnorm Euro 5 nur bis zum 30. September 2008 zu fördern. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Förderung von Euro-6-Fahrzeugen aufzunehmen, wenn diese technologisch zur Verfügung stehen, sobald diese Schadstoffnorm definiert ist. Das ist ja die Voraussetzung. Bis dahin wird die Förderung von sogenannten EEV-Fahrzeugen - Enhanced Environmentally Friendly Vehicle; überwiegend gasbetriebene Fahrzeuge - möglich sein. Da die Einnahmen aus der Lkw-Maut gemäß § 11 Autobahnmautgesetz zweckgebunden zu verwenden sind, bedarf es der Erweiterung der Zweckbindung, um das Innovationsprogramm aus Mauteinnahmen finanzieren zu können. Mit der Absenkung der Kfz-Steuer und dem Innovationsprogramm wird also nur ein Teil des im Mai 2003 vereinbarten Harmonisierungsvolumens von 600 Millionen Euro umgesetzt. Aus dem parlamentarischen Raum sowie von den Verbänden, also dem Gewerbe, wurden jüngst verschiedene Maßnahmen steuerlicher Art vorgeschlagen, um die bestehende Harmonisierungslücke von 350 bis 450 Millionen Euro - je nachdem, ob man das Innovationsprogramm hinzuzählt oder nicht - zu schließen. Die Bundesregierung prüft derzeit, ob diese Maßnahmen geeignet und inwieweit sie mit den Beschlüssen der Bundesregierung zur Neuausrichtung der Subventionspolitik vereinbar sind. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehe ich auch die EU in der Verantwortung. Auf europäischer Ebene muss eine Harmonisierung der Besteuerung der Kraftstoffe erreicht werden. Die Europäische Kommission hat am 13. März 2007, also vor wenigen Wochen, einen Richtlinienvorschlag für die Besteuerung von gewerblich genutztem Diesel vorgelegt. Mit der darin vorgeschlagenen Änderung würde für Deutschland die Möglichkeit zur Absenkung des Steuersatzes für gewerblichen Diesel und damit die Möglichkeit einer Steuerspreizung zwischen gewerblich und privat verwendetem Diesel entstehen. Das BMVBS begrüßt die Initiative der Kommission ausdrücklich, die einen wichtigen Schritt zur Harmonisierung der Besteuerung der Kraftstoffe auf europäischer Ebene darstellt. Damit würden wir die Möglichkeit erhalten, das deutsche Transportgewerbe, das sowohl Maut als auch Mineralölsteuer zahlt, zu entlasten. Auch könnte die Möglichkeit der Angleichung der Steuern auf gewerblichen Diesel an das Steuerniveau der Nachbarländer einen wirkungsvollen Beitrag zur Eindämmung des Tanktourismus in Deutschland leisten. Das BMVBS wird die Kommission bei ihrem Richtlinienvorschlag unterstützen. Dieser kann - das wissen Sie - allerdings nur dann wirksam werden, wenn alle Mitgliedstaaten ihn akzeptieren. Es gilt also noch dicke Bretter zu bohren. Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir können noch nicht zufrieden sein, weil ein Teil - ich habe es geschildert - fehlt. Ich bitte Sie, heute in zweiter und dritter Lesung diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Horst Friedrich, FDPFraktion. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich komme ich heute mit zwiespältigen Gefühlen hierher; denn ich weiß nicht, ob ich es begrüßen soll, ({0}) dass man wenigstens angefangen hat, das umzusetzen, was man dem Gewerbe im Jahre 2003 versprochen hat, nämlich dass mit Einführung der Maut ein Harmonisierungsbeitrag von 600 Millionen Euro zur Verfügung steht. Die Maut funktioniert in Deutschland seit zwei Jahren. Aber erst jetzt fängt man ein bisschen mit einer Lösung an. ({1}) Das ist das Positive. Das Negative ist: Sie sind nach wie vor - das hat Ihre Rede, Herr Staatssekretär, deutlich gemacht - nicht in der Lage, dem Gewerbe belastbar und planbar nachzuweisen, wie man die 350 oder 450 Millionen Euro, die noch ausstehen, aufbringen will. Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie jetzt mit dem Finger auf die EU zeigen und sagen, diese könnte uns ja erlauben, die Mineralölsteuer für den Diesel für die gewerbliche Nutzung zu senken. Wenn ich recht informiert bin, hat die Bundesregierung, die Sie schon mitgetragen haben - nämlich die rot-grüne -, mit der Ökosteuer begonnen, die bei uns schon immer vorhandene Spreizung bei Mineralölsteuererhöhungen zwischen Ottokraftstoff und Dieselkraftstoff ganz bewusst aufzuheben. ({2}) Wir sind eines der wenigen Länder in der EU, das bereits jetzt über den Mindeststeuersätzen für Mineralöl liegt, die die EU für das Jahr 2012 vorsieht. Was hindert Horst Friedrich ({3}) Sie denn jetzt daran - Sie haben doch die Mehrheit! -, als Abrundung des ganzen Programms die Mineralölsteuer für das Gewerbe zu reduzieren und damit den Harmonisierungsbeitrag zu erfüllen? ({4}) Nein, Sie retten sich seit langer Zeit mit der famosen Aussage, die Absenkung der Maut bei deren Einführung um 600 Millionen Euro gegenüber dem Durchschnittssatz, den die EU uns für Autobahnen genehmigt hat, sei ein Harmonisierungsbeitrag gewesen. Das hat Herr Stolpe schon erzählt, Herr Tiefensee setzt das fort, und Sie bringen es auch regelmäßig. Das gleichmäßige Absenken der Maut für alle ist doch kein Harmonisierungsbeitrag für das deutsche Gewerbe! Das war nie richtig und wird auch nicht durch ständiges Wiederholen richtiger. ({5}) Deswegen setzen Sie jetzt etwas um, was die Opposition damals schon als Plan B rechtzeitig für den Fall aufsetzen wollte, dass sich andeutet, dass die EU das Mineralölsteueranrechnungsverfahren, das Sie so hoch gehalten haben, nicht genehmigt. Nein, Sie haben es erst einmal in Brüssel scheitern lassen müssen. Sie haben dann einen zweiten Anlauf genommen, der wieder gescheitert ist. Die Begründung war, man könne doch nicht einen Plan B aus der Schublade holen, weil man damit seine Position in Brüssel beim Mautanrechnungsverfahren schwäche. Entschuldigen Sie, aber das ist doch Unsinn! Das Problem ist, dass man dem Gewerbe mit Einführung der Maut eine Harmonisierungsleistung zugesagt hat, die sich aus ganz anderen Kriterien ergibt. Ich habe noch die Worte des ehemaligen Verkehrsministers Bodewig bei einer Versammlung des Bundesverbandes für Güterverkehr und Logistik, als es um die Harmonisierung ging, im Ohr. Er hat damals gesagt, dass wir in Deutschland dann, wenn die anderen Länder in Europa die Vorteile nicht umsetzen, die Harmonisierung einführen werden. Auf die Umsetzung dieser Zusage warte ich eigentlich heute noch. ({6}) Als Antwort von Rot-Grün kam dann: Wir beteiligen uns doch nicht an einem Wettlauf nach unten bei der Besteuerung; Europa ist gefordert. - Es bleibt also zwiespältig. Deswegen kann ich in Bezug auf das Gewerbe sagen, dass es bei der Kfz-Steuer ein kleines Licht am Ende des Tunnels gibt. Das Interessante an dem Gesetzentwurf mit den Investitionsanreizen ist Folgendes: Sie erhöhen die Maut. Wenn sich aber bis zum 30. September 2008, wenn die Förderung auslaufen muss, weil die EU für diesen Zeitpunkt den Euro-5-Motor gesetzlich vorgeschrieben hat, nichts Neues in der Anschlussförderung ergibt, soll die Maut wieder reduziert werden. Das kann man glauben - oder auch nicht! Dem Gewerbe wurden per Handschlag im Kanzleramt 600 Millionen Euro Harmonisierungsbeitrag versprochen, wenn die Maut kommt. Das dauert nun vier Jahre und ist zu 20 Prozent erfüllt. Wenn jetzt jemand, der schon das versprochen hat, sagt, es stehe ja im Gesetz, dass, wenn das im Anschluss nicht kommt, die Mautsätze wieder reduziert werden, dann kann ich nur sagen: Das ist ein Zukunftsversprechen, an das ich erst dann glaube, wenn es tatsächlich erfüllt worden ist. ({7}) Vor dem Hintergrund werden Sie Verständnis dafür haben, dass wir Investitionsbeihilfen, die zeitlich immer befristet sein werden, grundsätzlich nicht gegen eine unbegrenzt geltende Mautanhebung eintauschen werden. Dieses Instrument ist untauglich; es gibt andere. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Wir wollen uns nicht in Haft nehmen lassen, wenn die Bundesregierung gegenüber dem deutschen Transportgewerbe wieder wortbrüchig wird. Danke sehr. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Dorothée Menzner von der Fraktion Die Linke das Wort.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lkw-Maut in diesem Land ist kein Ruhmesblatt: weder für die jetzige Bundesregierung noch für die vorherige. ({0}) Es ist schon angesprochen worden: Mehr als zwei Jahre ist es her, dass die Lkw-Maut eingeführt wurde. Doch unsere Spediteure können erst jetzt mit einer teilweisen Mautkompensation rechnen, die ihnen vor langer, langer Zeit - auch das wurde schon angesprochen in Aussicht gestellt wurde. Im Mai 2003, also vor genau vier Jahren, haben Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung den legendären Mautkompromiss getroffen. Damals wurde vereinbart, 600 Millionen Euro aus den Mauteinnahmen zugunsten des hiesigen Speditionsgewerbes als Ausgleich für die Kfz- und die Mineralölsteuer zu verwenden, die ausländische Lkw hierzulande nicht entrichten. Die Linke meint: Da sollte jetzt schnellstens Klarheit geschaffen werden. Einerseits hat das Speditionsgewerbe Anspruch auf einen korrekten Ausgleich. Andererseits muss die Lkw-Maut schnellstens auf das EUrechtlich mögliche Maß erhöht werden. Das beträgt bekanntlich 15 Cent je gefahrenen Kilometer. Aber dem steht dieser Mautkompromiss jetzt entgegen. Die Koalition und die Regierung kneifen. Sie geben den inländischen Spediteuren durch die Senkung der Kfz-Steuer, wie eben angesprochen, nur 150 Millionen Euro zurück. Da fehlen noch 350 Millionen bis 450 Millionen Euro. Statt Zusagen einzuhalten, wurschtelt die Regierung weiter. Die Maut soll von zurzeit 12,4 Cent um etwa einen Cent auf 13,5 Cent erhöht werden. Es ist in Aussicht gestellt, dass sie ab Oktober 2008 um 0,45 Cent je Kilometer gesenkt wird. Wenn unserem Verkehrsminister zwischenzeitlich noch eine andere Regelungsmöglichkeit einfällt, dann gibt es 2009 vielleicht wieder eine Erhöhung. Das würde bedeuten, dass es innerhalb von 18 Monaten vier verschiedene Mautsätze gibt. Man muss wissen, dass Fachleute sagen - auch das ist kein Geheimnis -, dass eine grundlegende Reform der Maut anstehen würde. Nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern relativ zeitnah müssten unterschiedliche Mautsätze je nach Abgasausstoß der Fahrzeuge eingeführt werden. Wir könnten uns jetzt damit trösten, dass die im Gesetz ab Oktober 2008 festgelegten Mautsätze nach dem Zeitplan der Bundesregierung vielleicht nie zur Anwendung kommen. Aber ich nehme diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Anlass, einmal sehr ernsthaft zu fragen, was wir hier eigentlich tun. Wir reden permanent vom Bürokratieabbau, aber gleichzeitig schaffen wir mit solch unzulänglichen Gesetzen mehr Undurchsichtigkeit. ({1}) Dieses Gesetz - das muss man Ihnen lassen - ist durchaus ein Meisterwerk, ein Meisterwerk getreu dem Motto „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass!“. Es hält allen Akteuren die Türen weiter offen, um munter an den Stellschrauben zu drehen. Dass mit dieser Pfennigfuchserei über die Notwendigkeiten hinweggetäuscht wird, finde ich wahrlich meisterlich. Uns als Linke ist das zu wenig. Genau aus diesem Grund können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Mit einer Senkung der Maut ab Oktober 2008 würden wir dazu beitragen, einen minimalen Anreiz - er ist wirklich nur minimal - für eine bessere ökologische Bilanz des Lkw-Verkehrs wieder zu kassieren. Gerade nach den Debatten und nach dem, was wir in den letzten Tagen in den Zeitungen lesen konnten, entspricht dies nicht den Zeichen der Zeit. ({2}) Angesichts des Klimawandels ist ein großer Wurf nötig - er ist nach EU-Recht auch möglich -, aber nicht diese Flickschusterei, die uns hier vorgelegt wird. Danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich dem Kollegen Dirk Fischer, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Verkehrsleistung des Straßengüterverkehrsgewerbes betrug 2006 434 Milliarden Tonnenkilometer. Der Anteil des Gewerbes am Modal Split in Deutschland beträgt rund 70 Prozent. Selbst die DB AG mischt über ihre Lkw-Sparte Schenker, den größten Lkw-Carrier in Deutschland und Europa, in diesem Markt mit. Nebenbei gesagt: Bedauerlich ist nur, dass dies in der Ökobilanz der DB AG, die gerade den Tageszeitungen beigelegt worden ist, keinen Niederschlag gefunden hat. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! In Deutschland hat das überwiegend mittelständisch geprägte Straßengüterverkehrsgewerbe rund 600 000 Beschäftigte und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Euro. Die Branche gehört nicht nur zu den zentralen Wirtschaftszweigen am Standort Deutschland, sondern leistet auch einen hohen Beitrag zur Bruttowertschöpfung in unserem Land und ist Garant für den Fortbestand der arbeitsteiligen Volkswirtschaften Europas. Auch 14 Jahre nach Beginn des EU-Binnenmarktes für Dienstleistungen gibt es immer noch keine vollständige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. Das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe leidet besonders stark unter den fortbestehenden Wettbewerbsverzerrungen. Nach der EU-Erweiterung haben die Kostenunterschiede zwischen den alten und den neuen EU-Staaten den ohnehin schon hohen Preisdruck deutlich verschärft. Faire Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Betriebe sind eigentlich nur durch eine schnelle Harmonisierung innerhalb der EU zu erreichen. Mit der Einführung der streckenbezogenen LkwMaut in unserem Lande ist eine gerechtere Wegekostenanlastung für das europäische Straßengüterverkehrsgewerbe in Deutschland erreicht worden. Die Union hat stets die Auffassung vertreten, dass weitere Harmonisierungsmaßnahmen dringend erforderlich sind, damit das deutsche Güterverkehrsgewerbe den Wettbewerb in Europa erfolgreich bestehen kann. ({0}) Deswegen hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion 2003 im Vermittlungsverfahren zum Autobahnmautgesetz darauf gedrängt, das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe mit einem Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro zu entlasten. Das war in der Tat ein Faustpfand, Herr Kollege Friedrich, und keine Harmonisierung. Immerhin war es aber eine Kostenentlastung. Als Faustpfand haben wir damals vereinbart, dass der geplante durchschnittliche Mautsatz nicht 15 Cent pro Kilometer beträgt, sondern auf 12,4 Cent pro Kilometer gesenkt wird, bis er dann mit der Durchsetzung einzelner Harmonisierungsschritte für das Gewerbe jeweils sukzessive erhöht werden kann. Damit haben wir damals eine richtige Entscheidung getroffen. Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition zu dieser Zusage bekannt und das Ziel der Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe festgeschrieben. Das zunächst prioritär verfolgte Mautermäßigungsverfahren in Verbindung mit in Deutschland gezahlter Mineralölsteuer wurde von der EU-Kommission im Beihilfeprüfverfahren abgelehnt. - Herr Kollege Friedrich, an dieser Stelle muss deutlich gesagt werden: Es war der Wunsch des Gewerbes, zunächst dieses Verfahren zu betreiben, wodurch natürlich, da es gescheitert ist, ein Zeitverlust eingetreten ist. - Nach Auffassung der Kommission hätte dieses Dirk Fischer ({1}) Verfahren ausländische Spediteure benachteiligt, die seltener in Deutschland tanken. Unabhängig von den Erfolgsaussichten einer Klage gegen die Entscheidung der Europäischen Kommission hat sich die Bundesregierung angesichts eines Zeitbedarfs von geschätzten sechs bis zehn Jahren bis zu einem Endurteil in Abstimmung mit dem Gewerbe dafür entschieden, dieses Mautermäßigungsverfahren nicht weiter zu verfolgen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden jetzt alternative Harmonisierungsmaßnahmen angegangen. Die Kfz-Steuer für schwere Nutzfahrzeuge wird auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau gesenkt. Das führt zu einem Entlastungsvolumen von 150 Millionen Euro gegenüber den ausländischen Wettbewerbern. Ferner wird bis zum 30. September 2008 - länger ist es nicht genehmigt - ein Innovationsprogramm von 100 Millionen Euro aufgelegt, um die Anschaffung besonders emissionsarmer Lkws der Euro-5-Klasse zu fördern. Beide Harmonisierungsmaßnahmen werden durch die Anhebung der Maut auf durchschnittlich 13,5 Cent pro Kilometer gegenfinanziert. Gleichzeitig haben wir geregelt, dass die Mautsätze mit dem Auslaufen des befristeten Innovationsprogramms zum 1. Oktober 2008 wieder automatisch um 0,44 Cent pro Kilometer gesenkt werden. Ob im Anschluss daran ein Euro-6-Förderprogramm aufgelegt werden sollte, was gemäß EU-Genehmigung innerhalb eines Zeitraums von insgesamt bis zu sechs Jahren möglich wäre, hängt nach unserer Auffassung natürlich zunächst einmal von der Markteinführung solcher Fahrzeuge ab, aber auch von der aktuellen Beurteilung der Investitionskraft des Gewerbes. Man kann dem mittelständischen Gewerbe nicht einen permanenten Investitionsstress aufoktroyieren, den es mangels Investitionsfähigkeit gar nicht bestehen kann. Dann würde gerade bei den mittelständischen Betrieben eine Förderung völlig ins Leere laufen. Deswegen müssen wir das hinterher prüfen. ({2}) Das heute beschlossene Harmonisierungsvolumen in der Höhe von 250 Millionen Euro, von denen nur 150 Millionen Euro nachhaltig sind, ist also nur ein erster Schritt zur Beseitigung von diskriminierenden Wettbewerbsverzerrungen. Der Bund bleibt gegenüber dem Straßengüterverkehrsgewerbe in der Pflicht, weitere Harmonisierungsschritte bis zum zugesagten Gesamtvolumen von 600 Millionen Euro zu erbringen. Er muss daher alle Möglichkeiten prüfen, um die fortbestehende Harmonisierungslücke zu schließen. Dazu gehört auch die fachliche Prüfung und politische Beurteilung der vom Gewerbe vorgeschlagenen steuerlichen Erleichterungen, zum Beispiel der Verkürzung der Abschreibungsfrist und der Einführung eines Steuerfreibetrages für Fahrzeugveräußerungsgewinne. Dazu gehört auch, dass wir wahrnehmen müssen, dass die EU-Kommission es nicht untersagt hat, dass Frankreich für seine Transportunternehmen die Gewerbesteuer abgesenkt hat. Das Gewerbe weist auch darauf hin, dass Doppelbelastungen vermieden würden, wenn die Kfz-Steuer und ein Teil der gezahlten Lkw-Maut künftig nicht mehr aufwandsmindernd abgerechnet, sondern direkt von den Gewinnsteuern abgesetzt werden könnten und damit teilweise zu durchlaufenden Posten würden. Dazu gehört auch - der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann hat es angesprochen; ich begrüße, was Sie dazu gesagt haben -, dass Art. 4 der geänderten EU-Energiesteuerrichtlinie die Möglichkeit vorsieht, den Steuersatz für Gewerbediesel im Zusammenhang mit der Maut zu senken, sofern der Mindeststeuersatz nicht unterschritten wird, was bisher schon möglich ist, wenn der Steuersatz nicht unter das Niveau vom 1. Januar 2003 abgesenkt wird. Unter dem Strich: Für die CDU/CSU-Fraktion ist das Thema Harmonisierung im Bereich des Straßengüterverkehrsgewerbes nicht erledigt. Wir sind und bleiben verpflichtet, die mit der Einführung der Lkw-Maut zugesagte Harmonisierung Zug um Zug zu erfüllen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Winfried Hermann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute mit einem richtig großen Gesetz der Großen Koalition zu tun. Man könnte es auch den dritten Versuch einer Harmonisierung im Bereich des Güterverkehrs nennen. Zweimal ist man gescheitert, zweimal hat man einen Vorstoß gemacht, der nicht EU-kompatibel, der nicht mit dem Beihilferecht der EU vereinbar war. Jetzt macht man einen dritten Anlauf. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben deutlich gemacht, dass es nur der Versuch einer Harmonisierung ist. Er ist nicht gelungen. Denn er ist, wie ich finde, zu kurz gegriffen, weil nur die Perspektiven des Gewerbes und zu wenig andere Aspekte berücksichtigt werden; so haben auch manche Kollegen argumentiert. Es handelt sich um den mutigen Schritt, die KfzSteuer abzusenken und gleichzeitig die Maut um 1,1 Cent zu erhöhen. So weit, so gut. Dies ist ein kleines Schrittchen, das in einem Jahr wieder zurückgenommen wird, wenn die Lkw-Maut um 0,45 Cent gesenkt wird. Am Ende bleiben von dem ganz großen Schritt 0,65 Cent an Erhöhung übrig. Dies wird als mutige Erhöhung dargestellt, obwohl wir die Chance hätten, im Güterverkehr durch die Maut als Steuerungsinstrument tatsächlich lenkend in die Beförderungsleistung von Straße und Schiene einzuwirken. Diese Möglichkeit der Politik ist hier glatt verspielt worden. ({0}) In anderen Ländern geht man deutlich mutiger voran. Die Schweiz ist inzwischen längst beim fünffachen Satz der deutschen Maut. So schnell und so mutig müssen wir nicht sein. Aber auch die Österreicher sind inzwischen bei mehr als dem doppelten Satz. Deswegen meinen wir Grüne, dass eine maßvolle Erhöhung der deutschen Maut aus Klimaschutzgründen angemessen und an der Zeit ist. Wir könnten ohne weiteres auf 15 Cent pro Kilometer erhöhen. Das wäre nicht mehr als billig. ({1}) Wir sind der Meinung, dass die Ausweitung auf die kleinen Lkws bis 3,5 Tonnen, die bisher von der Maut ausgenommen sind, ansteht. Wir glauben auch, dass die überregionalen Bundesstraßen, die Autobahnen ähnlich sind, endlich in das Mautsystem einbezogen werden müssen. ({2}) All das ist mehr als angemessen und notwendig. Das Umweltbundesamt hat ebenso wie die Europäische Union mehrfach die externen Kosten ausgerechnet. In diesen Tagen hat die „Allianz pro Schiene“ eine neue Untersuchung vorgelegt. All diese Untersuchungen belegen nicht nur eindeutig, dass die Belastung durch den Schwerverkehr auf den Straßen für die Straßen groß ist, sondern auch, dass die Folgen für Umwelt und Klima gewaltig sind. Man kann die Belastung ausrechnen: Ihr Volumen umfasst mehrere Milliarden Euro. Wenn man das in Cent umrechnet - so sagt es zum Beispiel das UBA -, wäre es angemessen, die Maut um 17 Cent zu erhöhen. ({3}) - Ich sage, dass das aus ökologischen Gründen angemessen wäre; so argumentiert das UBA. Auch ich weiß, dass das nicht möglich ist. Das deutet aber an, was ökologisch zu rechtfertigen ist, was zwingend zu tun wäre und wie klein der Schritt ist, der mit dieser Maßnahme gemacht wurde. Sie sehen: Mit diesem kleinen Gesetz werden kleine Schritte unternommen. Es wirkt fast ein bisschen peinlich: einen Cent hoch und dann wieder runter. Das ist aber typisch für diese Koalition: Sie ist groß und macht ganz kleine Schritte. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPDFraktion. ({0})

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Lkw-Maut hat im Bundestag schon für viel Diskussionsstoff gesorgt. Jetzt kann insgesamt eine positive Bilanz gezogen werden: Die Maut sorgt für mehr Gerechtigkeit. Das sage ich auch an die Adresse der Grünen. ({0}) Das gilt sowohl für den Wettbewerb der Verkehrsträger als auch für die notwendige Beteiligung deutscher und ausländischer Spediteure an den Kosten der Infrastruktur in Deutschland. Das sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Diese Beteiligung ist nach Auffassung der SPD-Fraktion genauso gerechtfertigt wie das Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro jährlich. Ohne EU-Kommission geht aber nichts. Dem Vorhaben der Bundesregierung vom Mai 2003 - damals war übrigens Rot-Grün an der Regierung; die Grünen waren also mit dabei - wurde, wie allgemein bekannt ist, von der EU-Kommission im Januar 2006 nicht zugestimmt. ({1}) Deshalb erfolgt eine Absenkung des Kfz-Steuersatzes für schwere Lkw auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau. Mehr geht nicht. Das ist aber kein Grund, nicht neue Wege zu suchen. Diese Absenkung hat immerhin ein Volumen von 150 Millionen Euro. Nach unserer Auffassung ist das ein richtiger Schritt. Ich gehe fest davon aus, dass der Bundesrat den Weg dafür in seiner nächsten Sitzung endgültig freimacht. Damit sind wir bei der gemeinsamen Verantwortung für die Infrastruktur in Deutschland. Die Koalition hat bei den Haushaltsberatungen 2007 für eine Nachbesserung im dreistelligen Millionenbetrag gesorgt. Es heißt immer: Jeder kann seinen Beitrag leisten. Mitunter ist der Beitrag der Länder in diesem Bereich aber etwas dürftig. Das gilt übrigens für jede Farbenlehre, auch für die FDP, die in Niedersachsen an der Regierung beteiligt ist, was den Anteil an Investitionen in Landesstraßen betrifft. ({2}) Güterverkehr gibt es auch auf Landesstraßen. Das ist übrigens ein Grund, der allgemeinen Ausweitung der Lkw-Maut auf Bundesstraßen nicht zuzustimmen. Eine Möglichkeit der Umfahrung mautpflichtiger Straßen würde sich dann nämlich an jeder Straßenkreuzung bieten. Das sollte man sich auch im Interesse des nachgeordneten Netzes gut überlegen. ({3}) Es ist immer richtig, einen Beitrag zur Reduzierung der Emissionen zu leisten. Dazu dient das 100-Millionen-Euro-Programm zur Anschaffung emissionsarmer Nutzfahrzeuge. Es ist zwar zeitlich begrenzt, ich gehe aber davon aus, dass es nicht das letzte Programm dieser Art ist. Im Interesse der Umwelt müssen und werden wir diesbezüglich am Ball bleiben. ({4}) Das Transportgewerbe ist einer der größten Arbeitgeber in unserem Land; der Kollege Fischer hat darauf hingewiesen. Wir sollten deshalb verdeutlichen: Die wirtschaftliche Entwicklung, der Aufschwung wäre ohne das Transportgewerbe nicht möglich. Der Transport muss si9896 chergestellt werden. Es sind Menschen, die dafür sorgen, dass die Transporte zu den Unternehmen und zu den Menschen kommen. Ich bin dagegen, dass, wie es immer wieder geschieht, ihnen der Schwarze Peter zugeschoben wird. ({5}) Deutschland ist und bleibt die wichtigste Verkehrsdrehscheibe in Europa. Das Netz der Bundesautobahnen hat die beeindruckende Länge von mehr als 12 000 Kilometern. Wir sollten das als Standortvorteil begreifen. Gerade wir Verkehrspolitiker haben die Aufgabe, mit diesem Standortvorteil für Deutschland Werbung zu machen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahnmautrechtlicher Vorschriften. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/2718 und 16/2935 ({0}) in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Frak- tion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist damit angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil, Gudrun Kopp, Christian Ahrendt, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP Keine Verlängerung des Briefmonopols - Wettbewerb auf dem deutschen und euro- päischen Postmarkt ermöglichen - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Vollständige Öffnung der Postmärkte stop- pen - Universaldienstverpflichtung absi- chern - Drucksachen 16/3623, 16/4044, 16/4600 - Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Barthel b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes - Drucksache 16/4908 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) - Drucksache 16/5276 Berichterstattung: Abgeordneter Alexander Dobrindt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt für die Unionsfraktion. ({3})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Postdienstleistungen reden, müssen wir uns bewusst machen, dass in Deutschland in diesem Bereich mehr als 200 000 Menschen beschäftigt sind. Nebenbei bemerkt: Für viele kann es eine berufliche Chance bedeuten, zukünftig einen liberalisierten Postmarkt zu haben. Es gibt Millionen Menschen in Deutschland, die sich täglich der Postdienstleistungen bedienen, sie nutzen, Briefe verschicken und sonstige Dienstleistungen in Anspruch nehmen. ({0}) Die Menschen beschäftigt letztlich die Frage: Hat der Wettbewerb, hat der freie Markt, der kommen soll, für mich positive oder negative Auswirkungen? Selbstverständlich müssen wir auf diese Frage eine Antwort geben. Genauso müssen wir klären, wann, wo und unter welchen Bedingungen Wettbewerb bei den Postdienstleistungen entstehen soll. Darauf gebe ich die klare Antwort: Für mich ist der 1. Januar 2008 das Datum, zu dem wir eine Liberalisierung des Postmarkts haben wollen. ({1}) Diese Öffnung soll natürlich in bestimmten Rahmenbedingungen passieren. ({2}) Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die Kunden, um die Rahmenbedingungen für die betroffenen Arbeitnehmer und um die Rahmenbedingungen für die betroffenen Unternehmen. Wir wollen Rahmenbedingungen, die so sind, dass wir in der Summe eine positive Weiterentwicklung des Postdienstmarktes bekommen. Meine Damen und Herren, es klingt immer ein bisschen leicht dahergesagt: Betreiben wir einen freien Wettbewerb bei Postdienstleistungen. - In Wirklichkeit steckt natürlich ein riesiger Markt in Europa dahinter. 90 Milliarden Euro werden in diesem Markt jährlich umgesetzt. Eines der größten Projekte der Europäischen Union in der nahen Zukunft ist es, hier einen echten Binnenmarkt zu forcieren. Wir erwarten uns von diesem Binnenmarkt und diesem verstärktem Wettbewerb letztlich natürlich sinkende Preise für die Verbraucher, neue Produkte, in der Summe einen besseren Service und natürlich auch mehr Kundenzufriedenheit. Also noch einmal: Es stellt sich die entscheidende Frage, ob diese Postdienstleistungen für die Menschen besser oder schlechter werden. Man kann darüber diskutieren, ob ein Markt einfach besser ist. Ein Markt ist aus meiner Sicht nur dann besser, wenn er ein europäisch funktionierender Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wir große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken eingetreten sind. Ich erinnere einmal an den Strommarkt. Wir hätten es gerne, dass er besser funktioniert, als er es heute tut. Ich erinnere auch gerne daran, dass wir schon in den vergangenen Wahlperioden darüber diskutiert haben, wie wir mit dem Thema Post umgehen können. Jeder von Ihnen kann sich heute sicherlich noch an die Situation erinnern, als es um den Abbau von Briefkästen, die Schließung von Postfilialen und Postämtern in Deutschland und vieles mehr ging. Wir hatten große Bedenken, ob der Dienstleistungsmarkt für den Kunden so aufrechterhalten werden kann, wie er bisher war. Wir müssen heute auch feststellen: Es gibt positive Entwicklungen. Postpoint ist eine, die ich hier nennen will. Durch dieses Format der Post werden heute in der breiten Fläche - auch im ländlichen Raum; sicherlich in reduzierter Form - postalische Dienstleistungen angeboten. Ich glaube, dass hier schon erkennbar ist, dass es auch im Wettbewerb neue Formen geben wird, die letztlich dazu führen, dass die Menschen, die diese Postdienstleistungen in Anspruch nehmen, einen größeren Nutzen haben. Wir haben in den letzten Wochen die in den Medien inzwischen sehr deutlich werdende Diskussion über die Frage hören können - allerdings durchaus mit Sorge -, ob es im alternativen Postbereich Lohndumping gibt. Dies ist ein Thema, das wir heute mitdiskutieren müssen. Ich sage Ihnen, dass wir das, was hier teilweise erkennbar ist, natürlich mit großem Unbehagen und großer Sorge betrachten. Es gibt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen. In ihr steht, dass 1,4 Prozent der 600 000 Aufstocker, die es in Deutschland gibt - also der Menschen, die zusätzlich zu ihrem Lohn weiteres Geld vom Arbeitsamt erhalten -, im Rahmen von Postdienstleistungen beschäftigt sind. Wenn man rechnen kann - Sie haben uns das in dieser Woche im Ausschuss ja vorgerechnet -, dann kommt man auf eine Zahl von circa 8 000 Menschen. Ich will jetzt nicht sagen, dass sie nur im Rahmen von alternativen Postdienstleistungen oder sonst wo beschäftigt sind, aber selbstverständlich muss man sich die Frage stellen, ob es in Ordnung ist, dass es Unternehmen gibt, die durch sehr, sehr niedrige Löhne für einen erheblichen Teil ihrer Mitarbeiter versuchen, hier ein Geschäft zu machen. ({3}) Wir müssen ganz klar sagen: Wir haben den Auftrag an alle erteilt, dafür zu sorgen, dass in den nächsten Monaten hier Abhilfe geschaffen wird und dass sichergestellt wird, dass diese Leute durch ihre Beschäftigung eine ordentliche Entlohnung erzielen können. ({4}) Ich selber habe in den Gesprächen mit den Wettbewerbern festgestellt, dass sie sich bemühen, diese Arbeitssituationen zu schaffen. In Gesprächen mit den entsprechenden Sozialpartnern wollen sie dafür sorgen, dass es hier zu einer deutlichen Besserung kommt. Ich möchte erleben, dass es irgendwann in Deutschland nicht nur fair gehandelten Kaffee, sondern auch eine fair gehandelte Briefmarke gibt. Wir wollen, dass auch in Zukunft die Postdienstleistungen in ihrer bisherigen Güte möglich sind. Ich glaube daran, dass wir das auch innerhalb Europas schaffen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei der Bundesregierung für ihr Bemühen bedanken, alle europäischen Länder in dieses Vorhaben mit einzubeziehen und einen europäischen Gleichklang zu erreichen. Nach dem bisherigen Stand - das sieht die europäische Postrichtlinie vor - soll die Liberalisierung der Postmärkte bis zum 1. Januar 2009 erreicht werden. Es ist aber auch davon die Rede, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen kann. Entscheidend ist aber nicht, ob es 2008, 2009 oder 2010 sein wird. Für uns ist die entscheidende Frage, ob möglichst viele Märkte in Europa beteiligt sein werden, wenn es zur Liberalisierung des Postmarktes in Europa kommt, und ob es zu einem europäischen Wettbewerb kommen wird, den wir gerne wollen. Wir treten auch weiterhin dafür ein, die Märkte zu öffnen. Wir wollen aber auch, dass sich alle anderen mit uns gemeinsam bemühen, diesen europäischen Markt zu schaffen. Ich glaube, dass wir dann die Chance haben, für die Kunden, die Mitarbeiter und die Unternehmen eine Marktsituation zu schaffen, die letztlich für alle profitabel ist, und einen neuen Postmarkt zu ermöglichen, der neue Produkte, Anreize und Möglichkeiten für alle Kunden bietet. Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem guten Weg sind. Auch wenn es zurzeit noch Probleme gibt, bleibt es dabei, dass wir die Liberalisierung des Postmarktes zum 1. Januar 2008 wollen. Danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion. ({0})

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auseinandersetzung um das Postmonopol ist fast so alt wie das Postwesen selbst. Der Exklusivauftrag Kaiser Friedrichs III. an den ersten Thurn und Taxis im Jahre 1451 war noch relativ unumstritten, da es außer den reitenden Boten noch keine Wettbewerber gab. Aber schon bald wollten auch andere im Deutschen Reich - Fürstentümer, Reichsstände, Städte und Kaufmannschaften - am einträglichen Postgeschäft mit verdienen. Sie gründeten ihre eigene Post, die in Konkurrenz zu der Reichspost trat. Daraufhin erklärte Kaiser Rudolf II. die Reichspost im Jahre 1597 zum kaiserlichen Privileg. Damit erlangte die Post zum ersten Mal eine Monopolstellung. Doch wieder regten sich die ersten Geister des Wettbewerbs. So hat das Herzogtum Württemberg 1622 eine landeseigene „Post- und Metzgerordnung“ erlassen. Erst mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 unter Bismarck wurde das deutsche Postwesen endgültig unter einem Dach zusammengefasst und war dann über 100 Jahre lang verstaatlicht. Wenn wir nun 18 bzw. 13 Jahre nach den von der FDP mit durchgesetzten Postreformen - die Sie übrigens mitgetragen haben - heute zum wiederholten Male über die Beseitigung der letzten Reste dieses staatlichen Monopols diskutieren, dann zeigt sich, wer in welcher Tradition steht. ({0}) SPD und Linke verteidigen das Staatsdenken zu Kaisers Zeiten. Die liberale Fraktion steht in der Tradition derjenigen, die der staatlichen Wirtschaftsbetätigung schon immer kritisch gegenüberstanden und für die der freiheitsstiftende Gedanke des Wettbewerbs seit jeher als richtig galt. ({1}) Im Übrigen ist Ihre Politik auch völlig widersprüchlich. Erst haben Sie die Reformen mitgetragen. Jetzt - kurz vor der Liberalisierung - glauben Sie, endlich ein Thema für den Wettbewerb mit der Linkspartei gefunden zu haben. Das Briefmonopol eignet sich aber nicht als weitere Spielwiese für die Diskussion über Mindestlöhne. Aber auch der Entscheidungsprozess ist für diese Koalition bezeichnend. Da verkündet der Wirtschaftsminister mannhaft: „Ich halte am Ende des Briefmonopols fest“, während der Finanzminister gleichzeitig über eine Verlängerung spekuliert. Nach einem Gipfeltreffen von Frau Merkel und Herrn Beck zu diesem Thema hieß es: Wir haben uns endgültig geeinigt; das Briefmonopol fällt. - Wenige Tage später nutzte dann der Vizekanzler die Gunst der Stunde, um Herrn Beck wieder einmal vorzuführen. Gegen dieses ewige Hin und Her ist ein Slalom eine gerade Linie. ({2}) Diese Debatte muss nun dringend beendet werden; denn sie gibt nicht nur die Bundesregierung der Lächerlichkeit preis. Vielmehr verunsichert sie auch die Marktteilnehmer. Die Argumente sind weitgehend ausgetauscht. Ich möchte nur ganz kurz auf die wesentlichen eingehen. Erstens. Wir haben durch eine Liberalisierung die Chance, eher zu einem Aufbau als zu einem Abbau von Arbeitsplätzen zu kommen. Es gibt Schätzungen, die bis zu 53 000 neuen Arbeitsplätzen reichen. Auch die Furcht vor den ausländischen Anbietern ist unberechtigt. Postunternehmen handeln global. Arbeitsplätze werden aber vor Ort geschaffen. Die Wettbewerber der Post sind weitgehend inländische Unternehmer. Deswegen liegt eine Marktöffnung auch im deutschen Interesse. Selbst wenn andere EU-Länder noch länger brauchen, werden die Widerstände langsam zusammenbrechen. Zudem hat bislang kein einziges Unternehmen aus einem Land, das einer Marktöffnung skeptisch gegenübersteht, eine Lizenz in Deutschland beantragt. Zweitens. Der Vorwurf des Lohndumpings ist nicht zutreffend. Das Postgesetz sieht vor, dass die von privaten Postunternehmen gezahlten Löhne das ortsübliche Lohnniveau für vergleichbare Tätigkeiten nicht erheblich unterschreiten dürfen. Ich darf zu Ihrem Antrag sagen, meine Damen und Herren von der Linken: Es ist erstaunlich, dass Sie sich auf Bundesebene so starkmachen, während Berlin, das letzte Land, in dem Sie Mitverantwortung tragen, seine Verwaltungspost durch einen Wettbewerber der Deutschen Post AG austragen lässt. ({3}) Das zeigt doch, wie scheinheilig Ihre Politik und Position ist. Auf der einen Seite verfluchen Sie den Kapitalismus. Auf der anderen Seite nutzen Sie seine Vorzüge. Ich kann abschließend die wenigen verbliebenen marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker innerhalb der Koalition deshalb nur bitten: Knicken Sie nicht schon wieder ein! Die Widerstände innerhalb der EU gegen das Ende des Briefmonopols brechen zusammen. Sie sind zusammen mit der FDP von Verbündeten umgeben. Nutzen Sie wenigstens diesen Punkt, um dem Motto Ihrer Regierung „mehr Freiheit wagen“ zumindest in einem kleinen, aber nicht unwichtigen Punkt zum Durchbruch zu verhelfen! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Barthel das Wort.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Postpolitik erleben wir heute wieder in allen Facetten: den reservierten Bereich aufheben oder ihn für alle Ewigkeit aufrechterhalten, Portodiskussion, Arbeitsbedingungen. Alles kommt vor. Tatsächlich hängt alles miteinander zusammen. Aber, Herr Zeil, so einfach, wie es sich die FDP macht - alles wird gut, wenn man liberalisiert -, ist die Welt nicht. Mein Kollege Dobrindt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das wirkliche Leben gerade in diesem Bereich anders ist. In Europa ist die Situation - anders als Sie es behauptet haben - keineswegs geklärt. Die Mehrheiten sind nach wie vor offen. Ich glaube nicht, dass sich zum Beispiel die französische Haltung nach den Wahlen geändert hat. Das niederländische Parlament hat erst in diesen Tagen die Entscheidung über eine Liberalisierung vertagt, und zwar aus denselben Gründen, über die wir hier diskutieren. Wir sind von einem Konsens weit entfernt. Es bleibt dabei, dass wir die Bundesregierung bei der zeitnahen Umsetzung des verbindlichen Zeitplans unterstützen, wie wir ihn im Wirtschaftsausschuss beschlossen haben. Das wäre meiner Meinung nach der eigentliche Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums: Anstatt innenpolitische Debatten gegen den Koalitionspartner zu führen, sollte es sich darum kümmern, dass wir uns in der EU mit unserer Linie durchsetzen. Zum reservierten Bereich in Deutschland. Auch diesbezüglich ist - anders, als es berichtet wurde - noch keine Entscheidung in der Koalition gefallen. Wir sind uns noch nicht einig geworden. Wir weisen einfach noch einmal darauf hin - das hat Herr Dobrindt auch schon getan -, dass dieser reservierte Bereich kein Selbstzweck ist. Es geht vielmehr - erstens - um die Wettbewerbssituation in Europa. Deutschland ist der zentrale Markt von der Bevölkerung her, von der Kaufkraft her und von der geografischen Lage her. Deshalb kann man uns nicht mit Vergleichen mit dem offenen Markt in Schweden, in Finnland und in Großbritannien kommen. Diese liegen abseits. Das Entscheidende ist, was in Deutschland passiert, wo sich dann der Wettbewerb abspielen wird. Daraus resultiert ein enormer Druck in diesem Wettbewerb auf alle. Im Übrigen - auch an die FDP gerichtet -: Der Wettbewerbsdruck, wenn er sich auf Deutschland konzentriert, betrifft doch nicht nur die Deutsche Post AG, sondern alle Wettbewerber in Deutschland; die müssen dann diesen Druck aushalten. Der Druck kommt aus Konzernen, Herr Zeil, da hilft alles nichts. Der Wettbewerb wird nicht auf die Hartz-IVBoten in Ostdeutschland beschränkt bleiben oder auf ein paar Verlage, die sich jetzt dort tummeln, sondern es wird sehr schnell dazu kommen, dass vielleicht nicht die französische Post selbst hier tätig wird, aber über Tochterunternehmen, Beteiligungen und Verflechtungen internationalisiert. Das ist eben der Charakter des europäischen Binnenmarktes. Das sind nicht die Hartz-IVBeschäftigten in den neuen Bundesländern. Der Druck kommt - zweitens - über die Arbeitsbedingungen. Die Postboten in Deutschland sind, wie wir alle wissen, nicht auf Rosen gebettet, auch nicht die bei der Deutschen Post AG. Aber jetzt gibt es Wettbewerber, die höchstens die Hälfte der Löhne bezahlen, die bei der Deutschen Post AG üblich sind. Das heißt, es droht kein Wettbewerb über mehr Dienstleistungen, höhere Qualität, mehr Volumen, sondern es droht eine Kannibalisierung der Unternehmen gegeneinander über die Arbeitsbedingungen. ({0}) Es wäre besser gewesen, man hätte damals auf uns gehört und das Postgesetz wirklich umgesetzt, nämlich dass Lizenzen zu versagen sind, wenn die wesentlichen branchenüblichen Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden. Anders, als es die FDP behauptet, weist das SäckerGutachten, das die Bundesnetzagentur in Auftrag gegeben hat, zwei Dinge nach: erstens, dass die sozialen Lizenzbedingungen EU- und verfassungskonform sind - das wurde immer bestritten -, und zweitens, dass die Bundesnetzagentur ihren Pflichten leider nicht nachgekommen ist, weil es eben nicht darum ging, wie es immer behauptet wurde, dass das Gesetz auf Arbeitsverhältnisse abhebt, also auf die Frage, ob es sich um geringfügige Beschäftigungen handelt, sondern darum, dass es im umfassenden Sinn auf Arbeitsbedingungen abhebt, nämlich im Wesentlichen, wie es auch der Rechtsprechung entspricht, auf Lohn, Arbeitszeit und Urlaub. Diese Arbeitsbedingungen hätten festgestellt und durchgesetzt werden müssen. Das heißt, die Rechtslage ist völlig klar. Deshalb ist auch der Antrag der Fraktion Die Linke, der uns zu diesem Thema heute vorliegt, schlichtweg überflüssig. Stattdessen weiß die Bundesnetzagentur von Amts wegen bis heute nicht, was in der Branche tatsächlich los ist. Die Öffentlichkeit weiß es. Wir wissen es aus Gutachten, die von anderer Seite in Auftrag gegeben worden sind. Das Tragische ist, dass die neuen Anbieter nicht dorthin gehen, wo die große Kaufkraft ist, wo im Postbereich ein Geschäft mit höherwertigen Diensten, wie es im Gesetz steht, zu machen wäre, sondern dass sie dort sind, wo die Arbeitslosenquote am höchsten ist, nämlich im Wesentlichen in den neuen Bundesländern. Sehen wir uns nur einmal die Lizenzdichte an. Diese ist in den neuen Bundesländern dreimal so hoch wie zum Beispiel in Bundesländern wie Bayern und BadenWürttemberg. Das heißt, sie korreliert unmittelbar mit der Arbeitslosigkeit. Dann macht aber Herr Professor Säcker - das macht uns große Sorge - einen halsbrecherischen Salto rück9900 wärts. Er behauptet - das muss ich hier schon einmal zitieren -: Für die Feststellung der üblichen Arbeitsbedingungen sind daher auch die Tarifverträge im Subunternehmerbereich und im Bereich von Personalleasingfirmen, die zur Briefbeförderung in der Lage sind und als Verrichtungs- und Erfüllungsgehilfen des Lizenznehmers eingesetzt werden können … als Bezugspunkt der Üblichkeit heranzuziehen. Auch die Arbeitsentgelte geringfügig Beschäftigter … sind als übliche Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen … Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen - von lebenslang bezahlten und versorgten Professoren. Diese wollen die Minijobs zum Maßstab des Postsektors und anderer Sektoren machen. Das wird mit uns nicht zu machen sein. ({1}) Abgesehen davon, dass hier von Tarifverträgen die Rede ist, die es gar nicht gibt, ist diese Logik pervers; denn erst sagt der Herr Professor sinngemäß, eigentlich dürfte es die Hungerlöhne von 5 Euro und die Hartz-IVAufstocker gar nicht geben; weil es sie aber jetzt gibt, sind sie plötzlich der Branchenmaßstab. Das heißt, 8 000 Vollzeitbeschäftigte bei den privaten Wettbewerbern im 5-Euro-Bereich sind plötzlich der Maßstab für 90 000 Vollzeitbeschäftigte der Deutschen Post AG. Da stimmt doch etwas nicht. Zwei Drittel von den 46 000 Beschäftigten der Lizenznehmer sind Minijobber - 30 000 Leute -, und die sollen der Maßstab - Herr Dobrindt hat es gesagt - für eine Branche mit 200 000 Menschen werden? Üblich ist also, was schlecht und billig ist. Wenn der Markt erst einmal ganz geöffnet ist, zahlen der Arbeitgeber und die Arbeitnehmer der Deutschen Post AG die Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge dafür, dass die in- und ausländischen Wettbewerber der Deutschen Post AG ungestraft Lohn- und Sozialdumping betreiben dürfen. Das kann doch nicht die Zukunft des Postmarktes in Deutschland sein. ({2}) Deswegen sagen wir ganz klar: Marktöffnung erst dann und nur dann, wenn der Universaldienst gesichert ist, wenn die Arbeitsbedingungen klar geregelt sind, nämlich durch Mindestlöhne und dadurch, dass Arbeitsbedingungen definiert, gesichert und kontrolliert werden, ({3}) und wenn der faire Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union möglich ist. All dieses ist bis heute nicht absehbar. Deswegen möchte ich Sie als Berichterstatter zu dem Thema bitten, der Ausschussempfehlung zu folgen, die vorliegenden Anträge alle aus den Gründen, die ich genannt habe, abzulehnen und es der Koalition zuzutrauen, dass sie eine gute Lösung in diesem Bereich findet. Wenn ich mir vergegenwärtige, was Herr Dobrindt heute gesagt hat, dann kann ich feststellen, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich muss erst einmal Herrn Dobrindt korrigieren: Die Anfrage war von uns, und die Zahlen habe ich Ihnen gestern schon genannt. Sie können sie heute offiziell im Netz nachlesen. ({0}) Über die 8 000 haben wir gestern schon diskutiert. Ich musste Sie gestern korrigieren, als Sie von Einzelfällen sprachen. Es sind 8 000. ({1}) Herr Zeil, Ihre Geschichtserklärung war sehr interessant. ({2}) Ich will Ihnen zur PIN AG nur sagen, dass Tarifverhandlungen geführt werden. Ich finde es richtig, dass man dort eingegriffen hat. Rot-Rot hat im Koalitionsvertrag eindeutig gesagt, dass öffentliche Aufträge nur dann vergeben werden, wenn Tarifverträge abgeschlossen werden. ({3}) Ich muss schon sagen: Es ist ein fürchterliches Schauspiel, das die Große Koalition seit Wochen rund um die gelbe Post bietet. ({4}) Der Briefdienst gehört zu einer Branche - ich freue mich, dass Sie, Herr Zeil, mir zustimmen -, in der Hungerlöhne voll auf dem Vormarsch sind. Manchmal erinnert das wirklich an frühkapitalistische Verhältnisse. Briefträgerinnen und Briefträger arbeiten sogar teilweise für Stundenlöhne von unter 1 Euro. Hinzu kommt - Herr Barthel, ich bitte Sie, zuzuhören, damit Sie darauf antworten können -, dass es in dieser Branche bereits Tausende sind, deren Monatslohn so niedrig ist, dass sie ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Da geht es nur um die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, es geht noch nicht einmal um die Minijobs. ({5}) Das lassen Sie zu mit Ihrer Politik gegen die Beschäftigten der Post AG, meine Damen und Herren der Großen Koalition. ({6}) Was tun Sie? Sie reden und reden und reden. Da gebe ich meinem Kollegen Zeil recht, der gesagt hat: Hin und her, rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln. ({7}) Noch schlimmer, Sie wollen den Postmarkt im kommenden Jahr vollständig öffnen und nehmen einen Erdrutsch von Billigjobs in Kauf. Sie sehen zu, dass hier Zehntausende von regulären Arbeitsplätzen in Gefahr sind. Deshalb fordert auch die Linke, dass das Briefmonopol über 2007 verlängert wird. ({8}) - Das ist richtig. Ich weiß das, Kollege Zeil. Eine Studie der Gewerkschaft Verdi zeigt, dass der durchschnittliche Stundenlohn neuer Briefdienstleister in Ostdeutschland bei etwa 6 Euro und in Westdeutschland bei 7 Euro liegt. Die Deutsche Post AG zahlt noch einen Stundenlohn von etwa 12 Euro. Aber auch sie beteiligt sich inzwischen durch Tausende Minijobs an dem Lohn- und Sozialdumping im Briefdienst. Wie ist es eigentlich zu dem Wettlauf um die billigsten Löhne gekommen? Die SPD hat das Thema Mindestlohn wiederentdeckt. Das ist vielleicht deshalb geschehen, weil sie einmal wieder mit den Gewerkschaften reden will. Auf einem Flugblatt von Ihnen heißt es: Lohndumping und prekäre Beschäftigungsverhältnisse hängen mit der Öffnung des deutschen Postmarktes zusammen. Was ich von Ihnen höre, ist ein bisschen widersprüchlich. Sie wissen es also. ({9}) Es steht auf diesem Flugblatt, und Sie sehen es offensichtlich. Die Linke stimmt Ihnen da völlig zu. Wir fragen uns bloß - darauf habe ich von Ihnen, Herr Barthel, keine Antwort bekommen -: Warum zieht die SPD daraus keine Konsequenzen? ({10}) - Nein, eben nicht. Sie haben noch keine Antwort gegeben. - Gegenwärtig sind 20 Prozent des Briefmonopols liberalisiert. Bereits das hat zu einem beispiellosen Sozialdumping geführt. Die entsprechenden Zahlen liegen auf dem Tisch. Wie können Sie angesichts dessen die restlichen 80 Prozent dem freien Wettbewerb übergeben? Meine Damen und Herren in diesem Hohen Haus, niedrige Löhne müssen bekämpft und dürfen nicht gefördert werden. ({11}) Sie dagegen fördern sie. Um dem Sozialdumping im Briefdienst einen Riegel vorzuschieben, schlägt die Linke vor, das Postgesetz zu ändern. Sie müssen verbindliche Standards wie Lohn, Arbeitszeit und Urlaub festlegen. Briefdienstleistern, die diese unterlaufen, muss die Beförderung von Briefen untersagt werden. ({12}) Dafür muss nur ein Satz geändert werden. Das kann gar nicht so schwer sein. Es kostet nichts. Sie müssen nur Ihre Hand heben für die Beschäftigten der Post AG. Ich hoffe, die SPD wird dies, entsprechend ihrem Flugblatt, auch tun. Handeln werden dagegen Zehntausende Beschäftigte aus dem Postdienst am kommenden Montag, wenn sie hier in Berlin gegen die geplante Liberalisierung auf die Straße gehen. Die Linke wird dabei sein und die Beschäftigten unterstützen. Herr Barthel, sicher werden auch Sie dabei sein und die Wahrheit sagen. ({13}) - Ja, das werde ich tun.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Diese Verabredung müssen Sie außerhalb Ihrer Redezeit treffen.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Genau. - In diesem Sinne werden wir uns sicherlich sehen. Danke schön für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren hier über zwei Anträge. Letztlich diskutieren wir über die Aufhebung des Briefmonopols Ende 2007. Ich will für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ganz klar sagen, dass wir für die Aufhebung des Briefmonopols zum Ende dieses Jahres sind. Wir halten das für richtig. Hier sind Versprechungen gemacht und Investitionen seitens der Wettbewerber, der Anbieter getätigt worden. Es ist daher richtig, das Briefmonopol aufzuheben. ({0}) Die Formulierungen von SPD und CDU/CSU, die wir hier hören, lassen zumindest auf einen heißen Herbst in dieser Sache schließen. Ich habe noch nicht den Eindruck gehabt, dass Sie sich absolut einig sind. ({1}) - Ja, es ist alles beschlossen. Aber wir kennen ja durchaus die Möglichkeit, dass beschlossene Dinge noch einmal verhandelt werden. ({2}) Ich will Folgendes sagen: Wettbewerb - ja, Liberalisierung - ja; aber wir brauchen einen Wettbewerb unter ganz klaren Rahmenbedingungen. Wir sind absolut der Meinung, dass es wichtig ist, über die Lohnstruktur im Postgewerbe zu sprechen. Herr Zeil, Sie haben behauptet, das sei kein richtiges Problem und die Lohnstruktur bei den privaten Anbietern sei letztlich nicht so dramatisch, wie es uns teilweise dargestellt werde. Diese Auffassung teile ich nicht. Tatsächlich ist das Lohngefüge bei privaten Anbietern davon geprägt, dass es Aufstocker gibt und dass man mit aggressivem Lohndumping in den Wettbewerb eintritt. ({3}) Das heißt für uns: Erstens. Es ist ganz wichtig, dass die Gewerkschaften mit den alternativen Postanbietern verhandeln. Das ist jetzt angekündigt worden, und das ist auch richtig so. Zweitens. Wir brauchen aber auch branchenabhängige Mindestlöhne, und wir brauchen eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Herr Dobrindt, Sie haben unsere Anfrage angesprochen: In dieser Anfrage steht - das ist der entscheidende Satz -, dass die Bundesregierung derzeit prüft, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen im Niedriglohnsektor eventuell auch branchenbezogen ergriffen werden sollen. ({4}) - Sie kennt das. - Das war eine Anfrage, in der es tatsächlich um die Mindestlöhne im Bereich des Postsektors geht. Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung für Liberalisierung und Wettbewerb einsetzt, dass sie sich aber auch mit der Lohnstruktur bei den Anbietern auseinandersetzt. Denn Wettbewerb zu unfairen Bedingungen und Wettbewerb über Lohndumping, das ist nicht korrekt. ({5}) Daher müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb schaffen. ({6}) Die Große Koalition ist allerdings völlig tatenlos. Herr Müntefering hat angekündigt, die Frage existenzsichernder Löhne gesetzgeberisch zu klären. Aber das macht man nicht, indem man Briefe an sich selber schreibt. Die CDU/CSU blockiert und macht aus unserer Sicht untaugliche Vorschläge wie die Festschreibung der Aussage, dass sittenwidrige Löhne sittenwidrig sind; das wissen wir schon. Wir sagen: Gehen Sie dieses Problem an, und lösen Sie es. Sie haben noch ein halbes Jahr Zeit. Dieser Schritt ist dringend erforderlich, um faire Rahmenbedingungen und fairen Wettbewerb gewährleisten zu können. Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die flächendeckende Versorgung. Natürlich muss es so sein, dass ein Brief aus dem südbadischen St. Peter genauso schnell ins norddeutsche St. Peter-Ording gebracht wird wie von München nach Berlin. Wir müssen uns über die Frage unterhalten, wie dieser Universaldienst aufrechterhalten und die Regelung zur Entschädigung der Anbieter ausgestaltet werden kann. Der Universaldienst muss gewährleistet sein. Wir sagen: Die Liberalisierung wird nur dann ein Erfolg, wenn es die Regierung schafft, die Rahmenbedingungen für faire Löhne und flächendeckende Versorgung zu schaffen. Unserer Meinung nach ist es falsch, zu sagen: Dafür brauchen wir noch ein Jahr mehr Zeit. - Sie haben noch ein halbes Jahr Zeit. Gehen Sie dieses Thema an. Dann können wir den Investoren im Mittelstand, die sich darauf eingestellt haben, dass das Briefmonopol im Jahre 2008 fällt, den versprochenen Markt bieten. Mein letzter Punkt. Eines sehe ich überhaupt nicht ein - Herr Barthel, ich finde, in diesem Punkt war Ihre Darstellung nicht richtig -: Die Deutsche Post agiert als globales Unternehmen im europäischen Ausland. Sie aber wollen nicht - das haben Sie geschildert -, dass die französische Post oder ein anderer europäischer Anbieter auf dem deutschen Markt agiert. Das ist nicht mein Verständnis des europäischen Binnenmarktes. ({7}) Ich sehe überhaupt nicht ein, dass wir einem Unternehmen Wettbewerbsvorteile gewähren und sich dieses Unternehmen mit seinen Monopolgewinnen dann als globales Unternehmen etablieren kann. ({8}) Wir müssen weg von der Strategie der nationalen Champions und hin zu einer dezentralen und wettbewerbsorientierten Politik mit fairen Rahmenbedingungen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Verlängerung des Briefmonopols - Wettbewerb auf dem deutschen und europäischen Postmarkt ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4600, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3623 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Vizepräsidentin Petra Pau Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4600 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4044 mit dem Titel „Vollständige Öffnung der Postmärkte stoppen - Universaldienstverpflichtung absichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Postgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5276, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4908 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Ich rufe den Tagessordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ingbert Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche ({1}), weiterer Abgeordneter und Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christoph Pries, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schutz der Wale sicherstellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({2}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC stärken - Drucksachen 16/4843, 16/5105, 16/5284 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Christoph Pries Eva Bulling-Schröter Markus Kurth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug.

Astrid Klug (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003567

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In gut zwei Wochen findet die 59. Jahrestagung der Internationalen Walfangkommission in Alaska statt. Sie wird sich auch in diesem Jahr wieder mit der Gefährdung, mit der Nutzung und vor allem auch mit dem Schutz der großen Wale beschäftigen. Deutschland hat in der Vergangenheit immer auf der Seite der Walfanggegner, der Walschützer gestanden und wird diese Position auch in Zukunft mit großem Nachdruck vertreten. ({0}) Bei der letzten Jahrestagung gab es zum ersten Mal eine knappe Mehrheit für die Walfangbefürworter. Die hat zwar nicht gereicht, um das Walfangmoratorium aufzuheben, weil dafür eine Dreiviertelmehrheit notwendig ist. Aber diese knappe Mehrheit hat deutlich gemacht, dass wir uns noch viel stärker engagieren müssen, um weitere Bündnispartner der Walschützer zu finden. Deshalb hat sich auch die Bundesregierung gemeinsam mit den Regierungen anderer Staaten in den letzten Monaten intensiv dafür eingesetzt, weitere Mitgliedsländer für die Internationale Walfangkommission zu finden, Walschützer zu finden, die unsere Position unterstützen und damit auch bei Entscheidungen auf künftigen Jahrestagungen der Internationalen Walfangkommission stärken. Diese Bemühungen waren erfolgreich. In diesem Jahr werden voraussichtlich 74 stimmberechtigte Mitgliedstaaten an der Tagung teilnehmen. Trotzdem wird es aller Voraussicht nach nur eine knappe Mehrheit für den Walschutz geben. Aber immerhin: Wir rechnen mit einer knappen Mehrheit. Das zeigt jedoch ebenso deutlich, dass wir auch in Zukunft in den Bemühungen nicht nachlassen dürfen, dass wir uns weiter einsetzen müssen; denn zu dem absoluten Walschutz gibt es aus unserer Sicht keine Alternative. ({1}) Deshalb freuen wir uns sehr über das deutliche Votum gestern im Umweltausschuss für diese deutsche Position, für den Walschutz. Ich bin sehr dankbar, dass hier über alle Fraktionen hinweg eine Position gefunden werden konnte, die unsere Verhandlungsposition bei den anstehenden Konferenzen deutlich stärkt. Dafür will ich ganz ausdrücklich danken. Wir werden auch dem tödlichen sogenannten wissenschaftlichen Walfang eine klare Absage erteilen; denn das ist nichts anderes als ein Unterlaufen der Walschutzbemühungen. Wir werden die Inuit und die Eskimos nicht schwächen und ihnen den Walfang nicht untersagen; denn er gehört zur Erhaltung ihrer Kultur, er gehört zu ihrer Erhaltung überhaupt. Das wollen wir weiter zulassen; dort werden wir nicht aktiv werden. Aber wir werden sehr genau darauf achten, dass die Bemühungen nicht über die Definition, wer Ureinwohner ist, unterlaufen werden, und dass wir keine Ausweitung der Definition bekommen, die sich nach Ansicht von manchen Walfangbefürwortern auf alle Bewohner von Küstenstaaten erstrecken soll. Das kann aber nicht in unserem Interesse sein; denn dadurch würden die Walschutzbemühungen deutlich unterlaufen. ({2}) Wir werden die anstehende Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens, CITES, nutzen, um auch dort unsere Position deutlich zu machen und um den Antrag von Japan abzulehnen, das den Schutzstatus der Wale überprüfen will. Auch diese Konferenz Anfang Juni wird ein wichtiger weiterer Meilenstein in unseren Bemühungen sein. Wir werden unsere Rolle im Rahmen der Präsidentschaft nutzen, um Europa dort mit einer starken Position in diesem Sinne zu vertreten. ({3}) Die Bundesregierung wird auch weiterhin jegliche Initiativen ablehnen, die gerade im Nachgang zu der Erklärung von St. Kitts und der von Japan ausgerichteten Normalisierungskonferenz auf eine Normalisierung - das bedeutet in dem Fall eine Wiederzulassung des kommerziellen Walfangs nach IWC-Regeln - zielen. Wir werden dort jegliche Initiativen in dieser Richtung ablehnen und all jene Initiativen aktiv unterstützen und an diesen mitwirken, die auf den Walschutz gerichtet sind, und Resolutionen weiter voranbringen. Wir brauchen diese Allianzen für den Walschutz. Damit verbinden wir die Zielsetzung, das Moratorium aufrechtzuerhalten und den sogenannten wissenschaftlichen Walfang zu beenden. In diesem Sinne wollen wir die Zusammenarbeit in der IWC noch weiter ausbauen. Wir wollen auf die Verringerung von Konfrontationen unter den Mitgliedstaaten hinwirken; das heißt auch, den Schutz der Wale durch mehr Meeresschutz, also nicht nur durch Beschlüsse für den Walschutz, sondern auch durch aktiven Meeresschutz, zum Beispiel durch Anstrengungen zur Vermeidung von Beifängen in der Fischerei, und die Ausweisung von Walschutzgebieten im Verbund mit anderen Staaten voranzubringen. Dafür brauchen wir eine politische Mehrheit. Dabei hilft uns das klare Votum des Deutschen Bundestages. Dafür ein herzliches Dankeschön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Angelika Brunkhorst. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wale haben einen besonderen Symbolwert für den Schutz der Meere und können als Indikator für den Gesamtzustand der Ozeane angesehen werden. Darüber hinaus spielen beim Walfang natürlich auch große Emotionen eine Rolle. Wir von der FDP haben zwar jetzt zu diesem Punkt keinen gesonderten Antrag vorgelegt, aber wir haben uns in einem aktuellen maritimen Antrag auch mit dem Gesamtzustand der Meere, den äußeren Einflüssen und den notwendigen Schutzmaßnahmen befasst. Trotz einiger Erfolge ist der Schutz der Meere nach wie vor eine große Herausforderung. Die Erhaltung der Ökosysteme und der biologischen Vielfalt der Meere dient dem Schutz der gemeinsamen natürlichen Ressourcen. Davon wollen letztendlich auch wir immer wieder profitieren. Ich denke, das ist ein Ziel, das nur durch internationale Vereinbarungen erreicht werden kann. ({0}) Neben dem kommerziellen Walfang sind die Meeressäuger unterschiedlichsten Umwelteinflüssen ausgesetzt. Das wissen wir alle. Die Gleichgewichte in der Nahrungskette verschieben sich, der CO2-Anstieg führt zur Versauerung der Meere, und durch die Klimaerwärmung steigen auch die Wassertemperaturen, was die Wale gar nicht mögen. Die Bedrohung der Wale durch äußere Einflüsse ist nicht geringer geworden. Die schädlichen Einflüsse durch Eintrag von Schadstoffen und durch Zunahme des Unterwasserlärms - das wird ein immer drängenderes Problem werden - bestehen fort. Auch die Folgen der Überfischung sind nicht zu unterschätzen, weil das zunehmend zur Nahrungsknappheit für die Wale führt. Kleinwale und Delfine - wir haben im Deutschen Bundestag ja schon über einzelne diesbezügliche Anträge debattiert - finden als Beifang aufgrund der Fangmethoden häufig den Tod. Der Schutz der Wale ist ein Anliegen aller Fraktionen; das hat Frau Klug eben schon festgestellt. Es gab dazu bereits im Jahre 2003 einen interfraktionellen Antrag, nämlich von den Fraktionen der damaligen rot-grünen Koalition zusammen mit der FDP. Ich denke, die Positionen, die dort vertreten wurden, haben heute noch Gültigkeit. Wir von der FDP freuen uns natürlich, dass sich jetzt die CDU/CSU im Gegensatz zu damals dem Schutz der Wale in gleicher Weise widmet. Ich denke einmal, die Forderungen nach einem strikten Walfangverbot, nach Beschränkung des wissenschaftlichen Walfangs und nach Einschränkung des Handels mit Walprodukten sind Anliegen aller Initiativen. Wir werden beiden vorliegenden Anträgen zustimmen. Die FDP stimmt darüber hinaus in vollem Umfang der Forderung zu, weitere Schutzgebiete auszuweisen bzw. bestehende zu erweitern. ({1}) Das Walfangmoratorium zeigt erste Erfolge. Die Walbestände erholen sich aber sehr langsam; das ist ganz klar, denn die Reproduktionszyklen der großen Walarten erstrecken sich über lange Zeiträume. Die Bestände können sich nicht in einigen Jahren, sondern nur im Laufe von Jahrzehnten regenerieren. Deshalb ist die Einführung eines funktionierenden internationalen Inspektions- und Überwachungssystems notwendig, um sicherzustellen, dass die Schutzgebiete auch wirklich beachtet werden. Es besteht - Frau Klug hat es angesprochen - derzeit tatsächlich die Gefahr, dass das Walschutzmoratorium ins Wanken gerät, und zwar deswegen, weil es verschiedenste Initiativen der Pro-Walfang-Staaten Japan, Island, Norwegen und Dänemark gibt, um eine Lockerung des Walfangverbotes zu erwirken. Es ist zu befürchten, dass sich bei der schon angesprochenen IWC-Tagung und den Verhandlungen zum Washingtoner Artenschutzabkommen die Mehrheiten verschieben. Wir hoffen natürlich, dass sie sich nicht in die falsche Richtung verschieben. Aber deswegen ist es heute besonders wichtig, dass aus dem Deutschen Bundestag ein klares Signal kommt und dass die Fraktionen sich einig sind. In dem Sinne hätte ich mir gewünscht, dass ein interfraktioneller Antrag auf den Weg hätte gebracht werden können. Ein kleiner Wermutstropfen bei der Geschichte ist, dass die Koalitionsfraktionen den Antrag von den Grünen vielleicht nicht befürworten. Aber möglicherweise haben Sie sich ja noch eines Besseren besonnen. ({2}) Ebenso wichtig ist, dass auch die Europäische Union jetzt eine klare Linie vertritt und auf das Mitgliedsland Dänemark einwirkt. Das ist sehr wichtig, und das müsste auch zu schaffen sein. Der Fortbestand des Moratoriums ist uns ein Anliegen. Wir werden uns gleichzeitig dafür einsetzen, dass die indigenen Völker weiterhin nachhaltigen Walfang für den eigenen Bedarf betreiben dürfen. Zum Schluss möchte ich einen Appell an uns selbst richten. Auch wir sind ja ein Land mit weiten Küstenabschnitten. Ich bin sehr dafür, dass die maritime Wirtschaft ihren Platz findet. Aber wir müssen natürlich bei allen unseren Bestrebungen im Küstenbereich - Hafenausbau, Hafenerweiterung, Ausbau von Offshoreanlagen, Pipelineausbau - darauf achten, die sensiblen Lebensräume der Wale zu schützen, sie nicht zu verkleinern, damit sie ihre Kinderstuben behalten können. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ingbert Liebing. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende dieses Monats finden sich in Anchorage in Alaska die Mitglieder der Internationalen Walfangkommission, IWC, wieder zu ihrem jährlichen Treffen zusammen. Ich bin sicher, dass diese Konferenz ein ungleich höheres internationales öffentliches Interesse hervorrufen wird als die vorangegangenen Konferenzen. Schließlich ist das Treffen im letzten Jahr besonders durch die unrühmliche St.-Kitts-Deklaration aufgefallen, mit der sich erstmals eine Mehrheit der Mitgliedstaaten der IWC für die Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs ausgesprochen hat. Zwar haben sie die notwendige Dreiviertelmehrheit verfehlt, um das seit 1982 bestehende Moratorium gegen den kommerziellen Walfang aufzuheben; aber es war schon ein Alarmsignal. Im Februar hat die japanische Regierung, die seit Jahren unter zweifelhaftem Deckmantel sogenannten wissenschaftlichen Walfang betreibt, ein ebenso fadenscheiniges Treffen der Walfangbefürworter in Tokio organisiert. Man sprach von einem Normalisierungstreffen, dem Deutschland sowie die anderen erklärten Walschutzstaaten demonstrativ ferngeblieben sind. Die Intention dieses Treffens bestand offenkundig nicht darin, den IWC-internen Konflikt zu lösen. Vielmehr sollte der Konflikt in diplomatischer Rhetorik erstickt und der Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs der Weg bereitet werden. Deswegen ist es gut, dass sich unsere Bundesregierung auf dieses Possenspiel nicht eingelassen hat. ({0}) Aber die Fronten sind klar, und es besteht weiterhin die Gefahr, dass sich in Zukunft die notwendige Dreiviertelmehrheit findet, um das Walfangmoratorium aufzuheben. Gerade Japan wirbt sehr offensiv um neue IWC-Mitglieder, deren unabhängiges Stimmverhalten angezweifelt werden darf. Es heißt, dass hier Entwicklungshilfegelder an Stimmverhalten gekoppelt worden seien. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann wäre das ein absolut inakzeptables politisches Gebaren Japans. In dieser Situation ist es besonders bedeutungsvoll, dass ein klares Signal für den Schutz der Wale, der „Giganten der Meere“, aus Deutschland kommt. Wir können bei weitem noch nicht von einer Erholung der Bestände ausgehen, sodass eine Aufhebung des Walfangmoratoriums gerechtfertigt wäre. Die Bestände liegen teilweise noch unter 20 Prozent des Ausgangsbestandes. Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um dem Schutz der Wale gerecht zu werden. ({1}) Das gilt für die Beschlüsse der IWC im Mai in Anchorage, es gilt genauso für die Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzabkommens, CITES, im Juni in Den Haag, und es wird auch im kommenden Jahr in Bonn gelten, wenn die 9. Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt hier bei uns in Deutschland stattfindet. Denn diese Konferenz legt Deutschland eine besondere Verantwortung auf, insbesondere wenn es um den Schutz der marinen Arten geht. Deswegen haben wir als CDU/CSU-Fraktion die Initiative für einen Bundestagsbeschluss ergriffen, der Ihnen jetzt als Antrag der Koalitionsfraktionen vorliegt. Ich freue mich, dass diesem Antrag gestern im Umweltausschuss alle Fraktionen zugestimmt haben. ({2}) Weil eine fraktionsübergreifende Beschlussfassung ein gutes Signal ist, waren wir als Koalitionsfraktionen gerne bereit, zwei Änderungsvorschläge von Bündnis 90/ Die Grünen zu übernehmen, um auch Ihnen die Zustimmung zu unserem Antrag zu ermöglichen. Ein solches einstimmiges Votum ist ein ganz wichtiger Schritt und ein deutliches Plädoyer für den Walschutz, der von Deutschland ausgeht. Unser Antrag enthält die Ablehnung jeglicher Vorschläge, die zur Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs führen. Die Europäische Union müsste unserer Auffassung nach aber mit einer einheitlichen Position vertreten sein. Wir wissen, dass es dabei noch ein Problem mit unserem Nachbarn Dänemark gibt. Aber das lösen wir nicht, indem wir die Dänen an den Pranger stellen. Die Sensibilität der Dänen habe ich gerade in der vergangenen Woche erneut erlebt, als ich mit der Gruppe der schleswig-holsteinischen CDU-Abgeordneten in Kopenhagen war. Hierbei ist diplomatisches Gespür nötig, und ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung in diesem Sinne wirksam vorgeht. Das ist auch der entscheidende Grund, weshalb wir dem Antrag der Grünen nicht zustimmen können. Ansonsten sind wir uns in der Sache ja sehr einig - das ist gut -, auch in der Ablehnung des sogenannten wissenschaftlichen Walfangs, wie er von Japan praktiziert wird. Unter diesem Vorwand sind seit 1986 etwa 26 000 Wale getötet worden. Für die daraus gewonnenen Produkte gibt es nicht einmal in den walfangbetreibenden Staaten Absatzmärkte. Wesentliche wissenschaftliche Erkenntnis daraus gibt es genauso wenig. Etwas ganz anderes ist unserer Auffassung nach der Subsistenzwalfang, also jener traditionell betriebene Walfang der Inuit-Gemeinschaften Alaskas und Russlands. Dafür sind zu Recht die entsprechenden Fangquoten freigegeben worden. Dabei handelt es sich - wenn man es vernünftig definiert - um eine nachhaltige, den Walbestand nicht gefährdende Art der Bejagung. Diese Völker wissen, wie sie mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen umzugehen haben. Sie sägen gerade nicht den Ast ab, auf dem sie sitzen. Wir dürfen aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass es noch weitere Gefährdungen für die Wale gibt. Über die Bedrohung der Meeresökologie durch Klimawandel, zunehmende Versauerung und Verschmutzung der Gewässer, Unterwasserlärm sowie Überfischung und Fischereipraktiken, die die marinen Ökosysteme dauerhaft schädigen, haben wir in der Vergangenheit bereits mehrfach diskutiert. Dadurch werden die Wale in besonderem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Vor ein paar Tagen konnten wir in den Zeitungen lesen: Kanadische Grauwale vom Hungertod bedroht. Es ist eine akute Hungersnot ausgebrochen, die sich zunächst selbst Walforscher nicht erklären konnten. Im schlimmsten Fall könne diese für die betroffene Grauwalpopulation genau das einleiten, was wir mit dem Walfangmoratorium eigentlich verhindern wollen, nämlich das Aussterben dieser Art. Mittlerweile ist geklärt, dass diese Unterernährung auf ein Fehlen kleiner Krustentiere zurückzuführen ist, die den Walen als Nahrungsgrundlage dienen. Diese wiederum wurden aufgrund des deutlich erwärmten Pazifikwassers stark dezimiert. Die natürliche Nahrungskette ist unterbrochen worden. ({3}) Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, welche gravierenden Auswirkungen der Klimawandel gerade auf die Meere und die marinen Ökosysteme hat. Es zeigt, wie nötig der Schutz der Meere ist. Der Walfang ist eine Bedrohung für diese schützenswerten Arten. Wir wollen dieser Bedrohung kraftvoll entgegentreten. Lassen Sie uns deshalb ein deutliches Signal nach Anchorage senden! Stärken wir unserer Bundesregierung den Rücken für den Schutz der Wale! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 85 Millionen Tonnen Fisch werden jährlich gefangen. Mit in die Netze gehen 30 Millionen Tonnen Meerestiere, Jungfische, Seesterne, Muscheln, Krebse, Haie und 60 000 Wale, die keiner will - Beifang, behandelt wie Müll. Zu diesem Müll gehört auch der Grauwal, ein Nomade der Meere. Im Laufe seines Lebens schwimmt er eine Strecke bis zum Mond und wieder zurück. Nationalstaatliche Rechtsklüngeleien sind ihm wurscht; er kennt keine Grenzen. Deshalb sind internationale Regeln so wichtig, auch und gerade im Meer. ({0}) Nur sie können diesen gigantischen Säuger vor Fischund Walfang schützen, wie das Walfangmoratorium von 1982. Jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Japaner wünschen sich eine „Normalisierung“ der Internationalen Walfangkommission, das heißt die Wiedereinführung des kommerziellen Walfangs. Bei der letzten IWC-Tagung waren 30 Mitgliedstaaten dafür. Ich halte das für eine Tragödie. ({1}) Aber noch lebt das Moratorium. Es muss weiterleben, ohne Wenn und Aber. Deshalb fordern wir: Erstens. Keine als Wissenschaft getarnten Walfänge. Zweitens. Keine Quotenfänge und deshalb kein Revised Management Scheme. Dieser geschwollene Begriff steht für Bewirtschaftungsverfahren und bedeutet Quotenfang durch die Hintertür. Drittens. Ein nationales Verbot für den Verkauf jeglicher Walprodukte - wo kein Absatzmarkt, da keine Gewinnaussichten. ({2}) Viertens. Kein internationaler Handel mit Walprodukten. Entsprechende Resolutionsvorschläge sind abzulehnen. Fünftens. Kein Small-Type Coastal Whaling. Wer hier so putzig von traditionellem oder subsistenzwirtschaftlichem Küstenwalfang spricht, der lügt. Küstenwalfang ist kommerzieller, gnadenloser Walfang. Deshalb stimmen wir beiden Anträgen zu. Sechstens. Wale und Delfine sollen nicht nur vor dem Fang geschützt werden. Dreck aus der Chemie- und Ölindustrie, Lärm, zerstörerische Fischfangflotten, Militär und Munitionssprengungen gefährden die Säuger ebenfalls. Meine Damen und Herren, alle weltweit bekannten Walarten sind gefährdet, auch die vor der eigenen Haustür. Frau Staatssekretärin Klug, im April hat das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie in Clausthal-Zellerfeld eine Untersuchung der Erdgasvorkommen mit seismischen Tests in der Nordsee genehmigt. Dass es in der Nordsee Schweinswale gibt, ist bekannt. Seit wenigen Tagen weiß man auch, dass es am Testort sogar Zwergwale gibt. Vielleicht nicht mehr lange: Schallimpulse mit 260 Dezibel donnern alle acht Sekunden und 24 Stunden täglich bis zum Herbst durch das Wasser - in einem Naturschutzgebiet! Das ist qualvoller Lärm für die Wale. Zum Vergleich: Wenn auf Ihrer Schulter ein Feuerwerkskörper explodiert, dann ist das nur halb so laut wie das, was den Walen angetan wird. Ich frage mich schon, warum das Bergbauamt nicht den Empfehlungen des Bundesamts für Naturschutz folgt. Wir müssen auch hier die Wale schützen. ({3}) Deshalb fordert die Linke für die einheimischen Walarten erstens einen sofortigen Stopp der seismischen Tests in der Nordsee, zweitens keine Genehmigung von Munitionssprengungen in der Ostsee, drittens die Aufnahme von Großwalen in das ASCOBANS-Abkommen, viertens die Ausdehnung und Erforschung weiterer Meeresschutzgebiete und fünftens Regeln, wie und wann seismische Tests gemacht werden dürfen. Das, denke ich, müssen wir jetzt angehen. Danke. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Cornelia Behm ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Staatssekretärin Klug eingangs festgestellt hat, ist es in diesem Jahr ganz besonders wichtig, dass Deutschland weiterhin für einen strikten Walschutz eintritt und deutlich macht, wie wichtig das Walfangmoratorium ist. Es gilt, die Mehrheit für das Moratorium durch inhaltliche Überzeugungsarbeit und Anwerbung neuer im Walschutz engagierter Mitgliedstaaten zurückzugewinnen. Daher fordert das Bündnis 90/Die Grünen vor der diesjährigen Jahrestagung vom 28. bis 31. Mai in Anchorage ein klares Signal der Bundesregierung zugunsten der Wale und gegen den Walfang. ({0}) Wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Aktivitäten im Walschutz zu verstärken. Wir Grüne begrüßen sehr, dass auch die schwarz-rote Bundesregierung an der Ablehnung des Walfangs festhält. Dies war im Übrigen keineswegs selbstverständlich, wenn man erlebt hat, wie walfangfreundlich die Union - Herr Liebing, ich muss es leider sagen - in der letzten Legislaturperiode im Bundestag agiert hat. Zur Anhörung „Schutz der Walbestände“ hatte die Union - und im Übrigen auch die FDP Sachverständige unter anderem aus Norwegen und Island bestellt, die versuchten, den Walfang als notwendig und sinnvoll hinzustellen und die Gefahren für das Ökosystem Meer herunterzuspielen. Auch die gesamte Fragestrategie der Union war darauf ausgerichtet, die Argumente der Walschützer infrage zu stellen und die der Walfänger zu stützen. Offensichtlich hat der öffentliche Druck von Umweltund Tierschutzverbänden und der Druck von uns Grünen die Union zu einer Kehrtwende bewegt. Dies begrüßen wir, da uns, wie gesagt, sehr viel daran liegt, dass Deutschland weiter zu den Walschutzländern gehört. Deshalb und weil wir diesem Anliegen möglichst großen Nachdruck verleihen wollen und da in Ihrem Antrag keine Aussagen stehen, die wir Grüne ablehnen, stimmen wir dem Koalitionsantrag zu.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebing?

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Behm, ich will zwar die traute Gemeinsamkeit heute Nachmittag bei diesem Thema nicht stören. Aber da Sie in die Historie zurückgegangen sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie von mir noch einmal hören möchten, was die CDU-Kollegin Gitta Connemann seinerzeit in der Debatte, als es um das Thema Walschutz ging, wirklich gesagt hat. Damals hat unsere Kollegin Connemann ausgeführt -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jetzt müsste aber eigentlich erst die Kollegin Behm Gelegenheit haben, Ihre Frage, ob sie das wirklich hören möchte, zu beantworten.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde Ihre Frage gerne beantworten. Ich möchte nämlich das, was Sie jetzt zitieren wollen, nicht hören. Das würde nur einen kurzen Ausschnitt der gesamten Anhörungsdebatte wiedergeben und damit den Sinn mit Sicherheit verfälschen. Deswegen verzichte ich auf Ihr Angebot. ({0}) Zurück zu den Anträgen. Unser Antrag - so muss ich Ihnen sagen - erledigt sich mit dem Koalitionsantrag nicht; denn in unserem Antrag erheben wir Grüne mehrere Forderungen, die im Koalitionsantrag fehlen. Dazu gehört die Aufforderung, einem Walfangmanagementsystem nicht zuzustimmen. Auch soll die Bundesregierung etwaigen Anträgen auf die Vergabe von Küstenwalfangquoten die Zustimmung verweigern. Es muss klar sein, dass beides der Einstieg in die Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs wäre. Außerdem soll die Bundesregierung für den Widerruf der St.-Kitts-&-Nevis-Deklaration eintreten. In unserem Antrag wird konkret Dänemark als dasjenige EU-Land benannt, das es zu überzeugen gilt, seine walfangfreundliche Haltung zu überdenken. Weiterhin hat es SchwarzRot versäumt, der Bundesregierung einen Auftrag zu geben, sich im Zusammenhang mit CITES dafür einzusetzen, dass sämtliche in Anhang I - dort sind die besonders zu schützenden Arten gelistet - aufgeführten Walarten dort auch weiterhin verbleiben, damit mit diesen auch zukünftig nicht gehandelt werden darf. Wegen dieser notwendigen Forderungen wäre es gut, wenn auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unserem Antrag zustimmen würden. Wir empfehlen im Übrigen, nicht mit der Keule nach Dänemark zu gehen. Zum Schluss nur noch dies: In einem Nebensatz fordert die Koalition die Bundesregierung auf, für konkrete Maßnahmen zum verbesserten Schutz aller Walarten vor Lärm einzutreten. Zu diesem Problem hat Bündnis 90/ Die Grünen bereits einen weitergehenden Antrag eingebracht. Den werden wir, denke ich, bei anderer Gelegenheit hier gesondert beraten. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Liebing das Wort zu einer Kurzintervention, vermutlich auch, um uns nun das Zitat vorzutragen. Bitte schön. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jeder mag selber bewerten, warum Sie das Zitat nicht hören möchten. Aber da Sie mit Ihrer Darstellung der Vergangenheit den Eindruck erweckt haben, als ob die CDU/CSU-Fraktion seinerzeit in der Anhörung und im Plenum die Position von Island und Norwegen quasi unkritisch übernommen hätte, möchte ich gerne zitieren, was seinerzeit die Position der CDU/CSU-Fraktion gewesen ist. Damals hat Gitta Connemann für unsere Fraktion ausgeführt: Deutschland ist 1982 der Internationalen WalfangKommission IWC beigetreten und hat sich seit 1986 für das Verbot des kommerziellen Walfangs eingesetzt sowie die Schaffung von Walschutzgebieten unterstützt. Wir waren uns darin alle einig. Uns verbindet die Erkenntnis, dass wir die Wale schützen und sie vor der Ausrottung bewahren müssen. Sie nimmt damit Bezug darauf, dass alle Bundesregierungen seit der Bundesregierung von Helmut Kohl das Verbot des kommerziellen Walfangs aktiv unterstützt haben. Sie hat weiter ausgeführt: Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass Wale auch ohne Legalisierung des Walfangs durch Umweltveränderung bedroht sind wie nie zuvor. Dazu gehören die Klimaerwärmung, die Verschmutzung der Meere, aber auch die Bedrohung durch Lärm. Wale leben in einer akustischen Welt, ihr Gehör ist ihr wichtigstes Organ. Wir brauchen deshalb auch das Einvernehmen der Nationen für einen besseren Klima- und Umweltschutz. Wir brauchen gemeinsame Strategien gegen die Lärmverschmutzung. Wir brauchen Einigkeit, um das seit 1994 bestehende Schutzgebiet Antarktis nicht zu verlieren, sondern mehr zu gewinnen. Dies sind deutliche Belege dafür, dass die CDU/CSUFraktion auch seinerzeit deutlich für den Walschutz eingetreten ist. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir alle wünschen ausdrücklich nur den Mitgliedern der IWC in Anchorage Erfolg, die sich für den Walschutz einsetzen. In diesem Fall, denke ich, ist es gut, nur einen Teil einer Konferenz zu begrüßen. Es wurde hier darauf hingewiesen, dass der Antrag im Umweltausschuss beraten wurde, und es wurde gerade die Frage gestellt, wie ein Mitglied des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz für Großwale zuständig sein kann. Auch im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beschäftigen wir uns mit diesen Themen. Hier hat es ebenfalls eine einmütige Zustimmung zu unserem Koalitionsantrag gegeben. Das, was Kollege Liebing bereits gesagt hat, ist richtig: Die Bestandszahlen der meisten Walarten nehmen ab, und das trotz des Moratoriums. Es freut mich, dass wir hier und heute einen so klaren Auftrag zum Schutz der Wale ergehen lassen und damit unsere Bundesregierung bei der Tagung in Anchorage unterstützen. Ich freue mich auch, dass es uns gelungen ist, die Mehrheiten für den Walschutz auszubauen. Wir begrüßen Kroatien, Slowenien und auch Zypern auf der Seite der Walschützer. Wir fordern unsere Bundesregierung auf, weiterhin aktiv bei anderen Staaten für den Walschutz zu werben. ({0}) Wale - das wurde schon gesagt - werden nicht nur durch den Walfang gefährdet. Ihre Lebenswelt und damit sie selber werden immer stärker durch die Begleiterscheinungen unserer modernen Welt gefährdet: Meeresund Umweltverschmutzung, Klimawandel, Beifänge in der Fischerei, Schiffsverkehr, Unterwasserlärm und Offshoreaktivitäten. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen sogenannten negativen anthropogenen Einflüssen - so nennt man den Schaden, den wir Menschen erzeugen - konsequent entgegenzutreten. Im September letzten Jahres haben wir hier den Antrag „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“ einstimmig beschlossen und klargestellt, dass wir eine Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen im Ochotskischen Meer vor Sachalin - das ist eine Insel in der Nähe von Japan, die zu Russland gehört - zulasten dieser letzten Population - das kann auch zum Tod der Tiere führen - nicht zulassen wollen. Das war konkreter, praktizierter Walschutz. Wir wollen aber - eine Kollegin hat das bereits erwähnt - nicht nur in die Ferne schweifen. Mit dem Abkommen zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ostsee haben wir auch den Schutz unserer heimischen Wale, Schweinswale, Zwergwale, vorangetrieben. In der Doggerbank werden seit einigen Wochen seismische Messungen vorgenommen, ausgerechnet jetzt, wo viele Schweinswale trächtig sind. Das ist eine massive Gefährdung. In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Es ist erstaunlich, dass wir auf Bundesebene konsequent Walschutz betreiben und uns in internationalen Gremien für den Walschutz einsetzen, die Regierung in Niedersachsen es aber versäumt, Walschutz zu betreiben. In diesem Zusammenhang könnte man fast von einer Wolfim-schwarzen-Schafspelz-Regierung sprechen. Es kann nicht angehen, dass wir zwar global denken, aber lokal nicht handeln. ({1}) Auch ich unterstütze ausdrücklich die Forderung des Bundesamtes für Naturschutz nach begleitenden Forschungsarbeiten, mit der Option, diese seismischen Untersuchungen im Bedarfsfall einzustellen. Hinzu kommt, dass die Doggerbank ein Flora-FaunaHabitat-Schutzgebiet ist und als solches an die Europäische Kommission gemeldet wurde. Mit der Ausweisung dieser Gebiete wollen wir einen aktiven Beitrag zur Förderung der biologischen Vielfalt leisten; denn wir wollen nicht, dass wir Wale bald nur noch in ausgestopfter Form im Naturkundemuseum betrachten können. Daher freue ich mich über die Aktivitäten der Bundesregierung und über unsere internationalen Bemühungen. Ich hoffe, dass wir in unserem föderalen System die Kraft haben, auch in Niedersachsen aktiv Walschutz zu betreiben. Dazu lade ich uns alle ein. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Schutz der Wale sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5284, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4843 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5284 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü9910 Präsident Dr. Norbert Lammert nen auf Drucksache 16/5105 mit dem Titel „Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das ist nicht mehr ganz so einmütig. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Der gegenteilige Antrag ist damit nicht zum Zuge gekommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung ({0}) - Drucksache 16/4805 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke. ({2})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, IAB, stellte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung zum Thema Leiharbeit fest, dass Leiharbeit Lohndumping begünstigt und bei den Beschäftigten zu erheblichen Einkommenseinbußen führt. Leiharbeiter verdienen deutlich weniger als die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, die die gleiche Arbeit verrichten, aber fest angestellt sind. Insbesondere, so die IAB-Studie, bieten die Einstiegsentgelte in den unteren Lohngruppen mit 5 bis 6 Euro pro Stunde für Vollzeitarbeit kein existenzsicherndes Einkommen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Einen Augenblick! - Darf ich bitten, die offenkundig nicht alle diesem Thema gewidmeten Gespräche für einen Augenblick zurückzustellen und für das Maß an Aufmerksamkeit zu sorgen, auf das der Redner Anspruch hat? - Danke schön.

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. Nicht nur ich, sondern auch die Leiharbeiter haben Anspruch auf Aufmerksamkeit. ({0}) Was tut die Bundesregierung? Einerseits preist die Bundesregierung in den verschiedensten Veröffentlichungen Leiharbeit als Beschäftigungsform der Zukunft. In der Tat hat Leiharbeit in den letzten Jahren drastisch zugenommen, allein von 2005 auf 2006 um mehr als 20 Prozent. Andererseits - das finde ich hochinteressant - gibt es eine ganze Reihe von offiziellen Äußerungen, auch von der Bundesregierung, in denen - ich sage es einmal mit meinen Worten - die miserable Qualität von vielen Leiharbeiten und Leiharbeitsverhältnissen anhand von eigenen Untersuchungen bestätigt wird. Beispielsweise steht im „Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit … im Jahre 2005“: Die Zeitarbeit ist in weiten Bereichen gekennzeichnet durch schlechte Arbeitsbedingungen, gering qualifizierte Tätigkeiten, fehlende Partizipation und im Durchschnitt schlechte Entlohnung … Im Zehnten Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des AÜG heißt es: Besonders bei Großbetrieben sind Tendenzen erkennbar, Stammpersonal durch Leiharbeitnehmer zu substituieren. Zum Teil werden Mitarbeiter entlassen, um sie über hauseigene Verleihfirmen zumeist zu ungünstigeren Tarifbedingungen in den alten Betrieb zurück zu entleihen. Ich habe in den letzten Tagen und auch heute eine Reihe von Gesprächen geführt mit Betriebsräten sowohl von Leiharbeitsunternehmen als auch von Unternehmen, die solche Praktiken, Leiharbeit zum Lohndumping zu benutzen, einsetzen. Die Meinung der Betriebsräte ist einhellig: Hier ist dringender gesetzlicher Handlungsbedarf vorhanden. ({1}) Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder einführen. Mit den Hartz-Gesetzen ist dieses Prinzip in einem ganz zentralen Bereich durchlöchert worden, und zwar mit den Ausnahmeregelungen, die 2005 eingeführt wurden. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf erreichen, dass diese Ausnahmeregelungen zurückgenommen werden und das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder für alle gilt. ({2}) Die unmittelbaren Vorteile der gleichen Entlohnung von Leiharbeit liegen auf der Hand: Eine Regelung wie die, die wir vor 2005 im Prinzip hatten und die wir mit unserem Gesetzentwurf im Interesse sowohl der Leiharbeitsunternehmen als auch der Entleiher, vor allen Dingen aber der Betroffenen wieder einführen wollen, begrenzt Lohndumping und schützt reguläre Beschäftigungsverhältnisse. ({3}) Beim Thema „Lohndumping“ und „reguläre Beschäftigungsverhältnisse“ will ich noch auf einen Punkt hinweisen, der gleichzeitig mit weiteren Initiativen geregelt werden muss: Offensichtlich nimmt das Bestreben zu, dass Unternehmen eigene AÜG-Gesellschaften gründen mit dem ausschließlichen Ziel, sichere Arbeitsplätze - Stammarbeitsplätze - abzubauen und Lohndumping zu betreiben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf einen Artikel im „Betriebs-Berater“ vom November 2004, in dem zwei Rechtsanwälte unter der Überschrift Absenkung des Tarifniveaus durch die Gründung von AÜG-Gesellschaften als alternative oder flankierende Maßnahme zum Personalabbau auf der Basis der Rechtsregelungen, die 2005 eingeführt worden sind, einen ganzen Katalog von Maßnahmen entfalten, wie man unmittelbar Lohndumping betreiben kann. Mit diesen Regelungen, mit diesen Möglichkeiten des Unterlaufens muss Schluss gemacht werden. Deshalb bitten wir darum, in den Ausschüssen und in der zweiten und dritten Lesung für unseren Gesetzentwurf zu stimmen. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Dreibus, seit eineinhalb Jahren kennen wir uns hier in diesem Hohen Hause. Seit eineinhalb Jahren warte ich auf eine vernünftige Rede von Ihnen. Seit eineinhalb Jahren werde ich enttäuscht. ({0}) Auch heute wieder, lieber Herr Dreibus, würde ich, wenn ich Lehrer in einer Schule wäre, sagen: Sechs, Thema verfehlt, setzen! ({1}) - Ja, das ist aber wahr. Liebe Freunde von der Linksfraktion, mit Ihrem Antrag geben Sie den sozial Schwachen, den Arbeitslosen und den Geringqualifizierten abermals Steine statt Brot. Sie streuen ihnen Sand in die Augen. Sie wollen vermeintliche Wohltaten verkünden, die sich gerade eben nicht als solche entpuppen. Auch, wenn Sie es sich noch so wünschen, dass die beiden Ausnahmen in § 3 und § 9 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes abgeschafft werden: Sie sind vor wenigen Jahren bewusst und mit Intention eingeführt worden. Eine Abschaffung dieser beiden Regelungen würde zunächst bedingen, dass sie entbehrlich sind. Dies sind sie gerade nicht. Sie hatten und haben ihre Berechtigung. Zunächst zur Sechswochenfrist. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in derzeit gültiger Fassung ist vorgesehen, dass sich der Verleiher und der Leiharbeitnehmer - der vorher arbeitslose Arbeitnehmer; das möchte ich ausdrücklich betonen - einmalig für insgesamt sechs Wochen der Überlassung darauf einigen können, dass der Leiharbeitnehmer lediglich ein Nettoarbeitsgeld in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes erhält. Damit soll dem Verleihunternehmen ein Anreiz gegeben werden, vormals Arbeitslose einzustellen. Zugleich soll die Bereitschaft der Arbeitgeber erhöht werden, ein Arbeitsverhältnis mit einem ursprünglich arbeitslosen Arbeitnehmer zu versuchen. Es geht darum, dass die Leute - insbesondere die Langzeitarbeitslosen überhaupt erst einmal wieder einen Arbeitsplatz bekommen. Ab dem ersten Tag der gleiche Lohn: Das klingt natürlich erst einmal gut, Herr Dreibus. Sie müssen aber bedenken, dass es sich hier um eine Arbeitsförderungsmaßnahme handelt. Diejenigen, die hier vermittelt werden, sind zudem zu einem großen Anteil Hilfskräfte und Geringqualifizierte. Wozu würde Ihr Vorschlag führen? Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose hätten künftig nicht mehr die Chance, über diese Arbeitnehmerüberlassung einen festen Job zu bekommen. Sie verkennen in Ihrem Gesetzentwurf auch, dass jährlich etwa 30 Prozent aller Mitarbeiter in Leiharbeitsfirmen - das sind etwa 200 000 Mitarbeiter - aus einem Zeitarbeitsvertrag heraus in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen werden. ({2}) Das verschweigen Sie den Leuten. Sie sollten das ehrlicherweise auch sagen. ({3}) Sie haben hier gerade an diesem Pult gesagt, die Leiharbeitnehmer würden weniger als Festangestellte verdienen. Das ist für die ersten sechs Wochen durchaus möglich und zumutbar. Allerdings muss man auch die Chancen der Leiharbeitnehmer auf einen Übergang in ein festes Arbeitsverhältnis sehen. Dafür ist diese Arbeitsvermittlungsmaßnahme durchaus sinnvoll. Herr Dreibus, Sie selbst haben gerade die beiden Rechtsanwälte mit ihrem Artikel aus dem „Betriebs-Berater“ zitiert, in dem sie gesagt haben: Die rechtlich zulässige Gestaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ist als Alternative zum Personalabbau auch in Erwägung zu ziehen. - Wollen Sie denn lieber Gekündigte und Arbeitslose haben, oder wollen Sie die Möglichkeit, dass jemand über diese Regelung in ein Zeitarbeitsverhältnis und über dieses Zeitarbeitsverhältnis in ein festes Arbeitsverhältnis kommen kann? ({4}) - Für sechs Wochen. ({5}) Zur anderen Alternative komme ich gleich. Ich komme gleich zu den Tarifverträgen. Gedulden Sie sich, Herr Dreibus! Wir kommen schon noch dazu. Geringqualifizierte würden kaum mehr in die Zeitarbeit vermittelt werden, sondern nur noch die Hochqualifizierten und die Facharbeitskräfte. Viele andere fielen aus dem Markt heraus. Ihre Forderung würde zu Hartz IV statt einer Festanstellung führen. Das wäre in vielen Fällen die Folge, die Sie mit der von Ihnen gewollten Änderung erreichen würden. Das kann nicht Ihr Ernst sein, lieber Herr Dreibus. Ich habe Ihre polemischen Reden hier zumindest immer so verstanden, dass Sie sich gerade für die gesellschaftlich Schwachen einsetzen wollen. Das tun Sie mit diesem heute eingebrachten Gesetzentwurf gerade nicht. ({6}) Sie fordern, vom ersten Tag an Equal Pay anzuwenden. Das ist in vielen Fällen schlicht unpraktikabel. Wie soll zum Beispiel jemand bezahlt werden, der im ersten Monat an die Firma A, im zweiten Monat an die Firma B und anschließend vielleicht noch an die Firma C entliehen wird, in denen unter Umständen ganz unterschiedliche Lohnstrukturen existieren? Auch dazu geben Sie in Ihrem Antrag keine Aufklärung. Zum Tarifvorbehalt. Diesbezüglich wollen Sie § 9 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ändern. Hiernach können in einem Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichende Regelungen grundsätzlich zugelassen werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelung individualrechtlich vereinbaren. Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei - ich vermisse übrigens den Kollegen Lafontaine und auch etliche von Ihren Gewerkschaftern; sie werden schon wissen, warum sie nicht anwesend sind -, mit diesem Gesetzentwurf zeigen Sie Ihren Frust bzw. Ihr fehlendes Vertrauen in die Gewerkschaften, sich nach unseren tarifrechtlichen Bestimmungen auf einen Tarif einigen zu können. Sie meinen, die Tarifvertragsparteien können das nicht mehr, die Gewerkschaften seien ohnmächtig. Mit diesem Vorschlag attestieren Sie ihnen die Ohnmacht. Deshalb muss der Bundesgesetzgeber jetzt alle Regelungen, die früher die Tarifvertragsparteien ausgehandelt haben, schaffen. Das zeigt Ihr Verständnis der Gewerkschaften. Ich nehme das erstaunt zur Kenntnis, weil viele aus Ihrer Partei - ich glaube, es sind 50 Prozent - aus diesem Bereich kommen. Die pauschale Unterstellung, dass die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von den Arbeitgebern zum Lohndumping missbraucht wird, entbehrt jeder Grundlage. ({7}) Entsprechend schwammig ist in Ihrer Vorlage auch nur von praktischen Erfahrungen die Rede, ohne dass dem irgendwelche konkreten Zahlen und Fakten zugrunde gelegt werden. ({8}) - Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, oder beantragen Sie Redezeit, Frau Pothmer! Mit Blick auf die Tarifabschlüsse der drei großen Verbände der Zeitarbeit wird schnell klar, dass diese Unterstellung unhaltbar ist. Wenn Ungelernte und Geringqualifizierte im Westen an die 7 Euro Stundenlohn und im Osten an die 6 Euro pro Stunde erhalten, kann eine solche Bezahlung wohl kaum als Lohndumping bezeichnet werden, erst recht nicht, wenn man die Bezahlung von anderen Berufsgruppen mit abgeschlossener Ausbildung berücksichtigt, die in einigen Branchen bei bestehenden Tarifverträgen, an denen die Gewerkschafter in Ihren Reihen zum Teil mitgewirkt haben, zwischen 4 und 5 Euro liegt. Dagegen sprechen auch Statistiken der Bundesagentur für Arbeit über die Zeitarbeitsbranche. Als aufsichtführende Behörde fragt die Bundesagentur für Arbeit halbjährlich bei den Zeitarbeitsunternehmern die Zahlen über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Diese Zahlen belegen, dass Zeitarbeit auch für Höherqualifizierte immer mehr zu einer Alternative wird. ({9}) Das wäre wohl kaum der Fall, wenn in dieser Branche Dumpinglöhne bezahlt würden. Sie tun sich mit der Zeitarbeitsbranche etwas schwer, weil es ein neues Instrument ist, Herr Dreibus. Aber mir ist jemand in Zeitarbeit lieber als ein Hartz-IV-Empfänger oder ein ALG I beziehender Mitbürger. ({10}) Der Tarifvorbehalt soll Fehlentwicklungen vorbeugen. Auch das sollten Sie anerkennen, Herr Dreibus. So wurde gegen das Diskriminierungsverbot bei der Leiharbeit immer wieder vorgebracht, dass ein positiver Beschäftigungseffekt nicht zu erwarten sei - ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass 70 Prozent der Leiharbeitnehmer in ein festes Arbeitsverhältnis überführt werden -; denn durch die Pflicht zur Gleichbehandlung verteuere sich die Leiharbeit derart, dass sie für Entleihund Verleihunternehmen wirtschaftlich nicht mehr rentabel sei. Die Möglichkeit, Personalkosten zu reduzieren, ist jedoch zentraler Beweggrund, Leiharbeitnehmer im eigenen Betrieb zu beschäftigen, insbesondere wenn ein Unternehmen durch einen Nachfrageüberhang kurzfristig mehr Personal braucht und eine Festanstellung aus diesen Gründen nicht vornehmen will. Darüber hinaus verursacht die Regelung einen administrativen Mehraufwand, wenn Leiharbeitnehmer zu einer Vielzahl von Arbeitseinsätzen in verschiedenen Betrieben überlassen werden. Diesen Bedenken begegnet die am 1. April 2004 eingeführte Neuregelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit der Möglichkeit des Abschlusses abweichender Tarifverträge. Die sich hieraus ergebenden Chancen, die Rahmenbedingungen der Leiharbeit im SpannungsverPaul Lehrieder hältnis zwischen Arbeitnehmerschutz und wirtschaftlicher Notwendigkeit sozial ausgewogen zu bestimmen, sind nicht zu unterschätzen. ({11}) Dies zeigen die bislang erfolgten Tarifabschlüsse, die hinsichtlich des Arbeitsentgelts sowohl dem Entleiher als auch dem Verleiher hinreichenden finanziellen Spielraum und dem Arbeitgeber Flexibilität bei kurzfristigen Auftragsüberhängen einräumen. Ich sehe aus diesen Gründen keine Veranlassung, im Sinne der Linkspartei Änderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorzunehmen. ({12}) - Das ist nicht enttäuschend; es war vielmehr zu erwarten. - Sie können sicher sein, dass die Interessen der Arbeitnehmer ebenso wie die Interessen der Arbeitslosen in den Händen der CDU/CSU und der SPD besser aufgehoben sind als bei den Populisten der Linkspartei. ({13}) Danke schön. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland erlebt derzeit einen Aufschwung, über den wir uns freuen, zu dem allerdings die amtierende Bundesregierung und die sie tragende Koalition nichts, aber auch gar nichts beigetragen haben. ({0}) Zu den Branchen, die besonders vom Aufschwung profitieren, gehört auch die Zeitarbeitsbranche. Sie hat sich geradezu rasant entwickelt und zeichnet sich seit Jahren durch hohe Wachstumsraten aus. Im Jahr 2006 hat die Zahl der Leiharbeiter erstmals die Grenze von 500 000 überschritten. So erfreulich der Aufschwung dieser Branche ist, Herr Kollege Dreibus, so nötig ist es, auf folgenden Zusammenhang hinzuweisen: Die Zeitarbeitsbranche profitiert in hohem Maße davon, dass wir in Deutschland einen noch immer viel zu reglementierten Arbeitsmarkt haben. Trotz der guten Konjunkturlage trauen sich die Unternehmen nicht, selbst Beschäftigte einzustellen; denn feste Beschäftigungsverhältnisse bedeuten relativ starre Kapazitäten. Unternehmen müssen aber im globalen Wettbewerb oft flexibel reagieren. Sie tun dies durch die Beschäftigung von Zeitarbeitern. Ich finde die Einstellung von Zeitarbeitern gut; denn im Ergebnis werden durch die Zeitarbeit Beschäftigungspotenziale nutzbar gemacht, die ansonsten ungenutzt blieben. Die Zeitarbeitsplätze verdrängen nicht, wie von der Fraktion Die Linke oft angeprangert, reguläre Arbeitsplätze, sondern sie gehen diesen regelmäßig voraus. ({1}) Mit dem Boom der Zeitarbeitsbranche ist auch ein Imagewandel einhergegangen. Zeitarbeitsunternehmen werden nicht mehr - wie in der Vergangenheit oft der Fall in die Ecke der Schmuddelkinder gestellt oder als Arbeitgeber zweiter Klasse angesehen. Dadurch, dass sie ihren Kunden die notwendige Flexibilität geben, die diese bei der Personalplanung brauchen, haben Zeitarbeitsunternehmen gerade bei einem wirtschaftlichen Aufschwung die Rolle eines Jobmotors inne, den es auf Touren zu halten gilt. Die Bundesregierung sollte die relativ gute konjunkturelle Ausgangslage, die wir derzeit haben, nutzen, die dringend notwendigen Maßnahmen zur weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Deutschland zu ergreifen. ({2}) Es gibt gute Gründe, im Sektor Zeitarbeit weitere Reformen durchzuführen. Gerade für Arbeitslose und Berufseinsteiger ist die Zeitarbeit eine sehr gute Möglichkeit, den Einstieg in eine Beschäftigung zu finden. Zeitarbeit ist eine Brücke zurück in den ersten Arbeitsmarkt, die sich für viele Arbeitslose als tragfähig erwiesen hat. ({3}) Ich will zwei Vorschläge zur weiteren Deregulierung im Bereich der Zeitarbeit machen. Erstens. Zu überlegen ist, ob das Verbot gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung in Betrieben des Baugewerbes für Arbeiten, die üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, nicht aufgehoben werden kann. Ich sehe aktuell keinen Grund mehr, warum Zeitarbeit im Baugewerbe in Deutschland nicht zugelassen ist bzw. nicht zugelassen sein soll. Dieses Verbot ist ein Wettbewerbsnachteil für die Baubranche und die Personaldienstleister in Deutschland, denen damit ein Zugang zu einem wichtigen Kundenmarkt verwehrt wird. ({4}) Zweitens. Weil sich die Zeitarbeitsverhältnisse zu einem wichtigen und gleichrangigen Bestandteil des Arbeitsmarktes entwickelt haben, gibt es nach unserem Dafürhalten ein besonderes Schutzbedürfnis von Arbeitnehmern in der Zeitarbeit gegenüber der Beschäftigung bei anderen Arbeitgebern nicht mehr. ({5}) Es ist daher zu überprüfen, ob das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mittelfristig nicht ganz abgeschafft werden sollte. ({6}) Das wäre der richtige Weg der Deregulierung. Fatal wäre es aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion hingegen, die Zeitarbeitsbranche unter das Dach des ArbeitnehmerEntsendegesetzes zu ziehen und damit für mehr Regulierung zu sorgen sowie einen Mindestlohn durch die Hintertür einzuführen. Die Begehbarkeit der Brücke würde eingeschränkt. Gerade Problemgruppen unter den Arbeitslosen wären von einer solchen Maßnahme betroffen. Mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in erster Lesung beraten, will die Linksfraktion die im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vorgesehenen beiden Ausnahmen von dem sonst geltenden Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ aufheben. Die FDP-Fraktion hatte schon im Gesetzgebungsverfahren 2001 die Aufnahme dieses Grundsatzes abgelehnt. Das halte ich heute noch für richtig, da die Zeitarbeitsunternehmen, müssten sie ihren Leiharbeitnehmern tatsächlich dieselben Arbeitsbedingungen gewähren, die der Entleiher vergleichbaren Arbeitnehmern bietet, mit einer erheblichen Verteuerung ihres Angebotes und verschlechterten Marktchancen konfrontiert wären, von der zusätzlichen Bürokratie ganz abgesehen. In der Praxis haben die Verleiher das Problem dadurch gelöst, dass sie von der Tariföffnungsklausel im Gesetz Gebrauch machen und dass die Tarifparteien in der Zeitarbeitsbranche eigene Tarifverträge abgeschlossen haben. Die Linksfraktion bewirkte vor diesem Hintergrund mit ihrem Gesetz im Ergebnis, dass, würde diese legale Ausweichmöglichkeit beendet, zwangsläufig zahlreiche Arbeitsplätze in der Zeitarbeitsbranche verloren gingen. Herr Dreibus, ich wundere mich, wie es die Fraktion Die Linke in ihren Vorlagen immer wieder schafft, solche einfachen und zwingenden Zusammenhänge schlichtweg auszublenden. ({7}) Zum Schluss: Die bisherigen Flexibilisierungen der Arbeitnehmerüberlassung haben - wie eingangs erwähnt - einen wichtigen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Bereich geleistet. Statt das Rad zurückzudrehen, wie es die Linksfraktion anstrebt, sollten wir dort, wo noch Hemmnisse für Beschäftigung bestehen, über weitere Liberalisierungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nachdenken. Die Ansatzpunkte dafür habe ich genannt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe keine gescheiten Vorlagen gefunden. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier das Wort des Tages der FDP zum Neoliberalismus gehört. Ich sage ganz klar: Grundsätzlich und generell ist gegen Zeitarbeit nichts einzuwenden. Zeitarbeit ermöglicht es, Spitzenauslastungen der Unternehmen abzudecken. Zeitarbeit bietet Unternehmen Flexibilität. Immerhin 30 Prozent der Leiharbeitnehmer erreichen eine Festeinstellung beim Entleiher. Ich sage aber genauso klar: Sozialdumping muss ein Riegel vorgeschoben werden. Wir wollen keine Zeitarbeit in der Schmuddelecke. Wir wollen, dass Zeitarbeit zu fairen und zu annehmbaren Bedingungen durchgeführt wird. ({0}) Wir haben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festgeschrieben, dass einem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher die im Betrieb dieses Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren sind. Das heißt, wenn ein Leiharbeitnehmer in einem Betrieb der Metall- und Elektroindustrie arbeitet, dann hat er auch Rechte wie nach dem Metalltarifvertrag, und das ist richtig so. Lediglich ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen. Das ist dem Grunde nach ebenfalls richtig. Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Das ist Konsens in dieser Gesellschaft. Wir haben als Gesetzgeber klar zum Ausdruck gebracht, dass wir die Gleichbehandlung der Zeitarbeitnehmer mit den Beschäftigten im Entleiherbetrieb wünschen. Auf dieser Basis haben alle Gewerkschaften verhandelt; sie hatten den Gleichbehandlungsgrundsatz als Unterstützung im Rücken. Die christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit haben dann in Nordbayern einen Tarifvertrag abgeschlossen, der nur ein extrem niedriges Arbeitsentgelt vorsieht. Die DGB-Gewerkschaften verhandelten zu diesem Zeitpunkt noch. Sie hatten sich mit den Arbeitgeberverbänden in einem Eckpunktepapier auf 11 Euro verständigt. Das Vorgehen der christlichen Gewerkschaften war wirklich sehr hilfreich! Nach diesem Tarifabschluss machten die Arbeitgeberverbände iGZ und BZA natürlich nicht mehr mit. Die christlichen Gewerkschaften haben die Verhandlungsposition des DGB kaputt gemacht. Ich sage ganz klar: Die Tarifpolitik der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit gefällt uns nicht. ({1}) Es ist nicht in Ordnung, dass die christlichen Gewerkschaften beispielsweise mit Allbecon Personaldienstleistungen einen Stundenlohn um die 5 Euro vereinbaren. Dasselbe gilt beispielsweise für die AES, die Arbeits Entlastungs Service GmbH in Düsseldorf. Wir haben nicht den Eindruck, dass bei Tarifvertragsverhandlungen durch die christlichen Gewerkschaften jemals Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteressen vertreten worden sind. ({2}) Die Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit betreibt Lohndumping, sie macht Gefälligkeitstarifverträge. Das ist ein Skandal. ({3}) Ich bedauere sehr, dass das Bundesarbeitsgericht bei der Christlichen Gewerkschaft Metall von deren Tariffähigkeit ausgeht. Die Sprücheklopferei des neu gegründeten Arbeitgeberverbandes AMP „Wir sind noch billiger“ stellt nur eine Abwandlung der Geiz-ist-geil-Mentalität dar. Das hat auf dem Arbeitsmarkt nichts zu suchen. Lassen Sie uns in der Zeitarbeit zunächst das machen, was zeitnah möglich ist. Es ist gut, dass sich die DGBGewerkschaften und die Arbeitgeberverbände iGZ und BZA zusammengesetzt und einen gemeinsamen bundesweiten Tarifvertrag mit Mindestbedingungen für die Zeitarbeit vereinbart haben. Es wird Zeit, dass unser Koalitionspartner mit uns die entsprechende Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes beschließt. ({4}) Meine Damen und Herren der Union, ich befürworte ausdrücklich, dass auch für die Leiharbeitsbranche die Möglichkeit geschaffen wird, die Tarifverträge per Rechtsverordnung - und nicht über das Tarifvertragsgesetz - für allgemeinverbindlich zu erklären. Es ist fast unmöglich geworden, außerhalb des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Tarifverträge über den Tarifausschuss, also über das Tarifvertragsgesetz, für allgemeinverbindlich erklärt zu bekommen. Die Arbeitgeberseite geriert sich in unerträglicher Weise. Bei dieser Gelegenheit: Die FDP hat als Regierungspartei ursprünglich dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz und dem ihm zugrunde liegenden Gedanken zugestimmt. Sehr vernünftig. ({5}) Mir fällt da nur eines ein: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. ({6}) Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden wir inländische und ausländische Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen vor Lohndumping schützen. Wir müssen uns auch auf die Zeit einstellen, wenn das 2+3+2-Abkommen abläuft. Die Gewerkschaften berichten uns von Skandalen in der Leiharbeitsbranche. Der Deutsche JournalistenVerband beispielsweise schreibt uns, dass Medienunternehmen, insbesondere Zeitungsverlage, eigene Leiharbeitsfirmen als Tochterfirmen gründen. Redakteurinnen und Redakteure würden seit geraumer Zeit von den Zeitungsverlagen generell nur noch befristet eingestellt, und zwar mit Verträgen mit einem oder nur zwei Jahren Laufzeit. Nach Ablauf der Frist würden sie vor die Alternative gestellt, entweder den Verlag zu verlassen oder am bisherigen Schreibtisch zu bleiben, allerdings als Leiharbeitnehmer und selbstverständlich zu deutlich schlechteren Konditionen. Immerhin für neun Zeitungsverlage sind solche Leiharbeitskonstruktionen bekannt geworden. Ich kann aber auch ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Bayreuth hat ein Klinikum in öffentlichrechtlicher Trägerschaft mit ungefähr 2 000 Beschäftigten. Die Geschäftsleitung intendierte zunächst, alle Mitarbeiter bis auf die Ärzte und die leitenden Kräfte in eine Leiharbeitsfirma zu überführen. Ziemlich offen wurde erklärt, das sei eine Maßnahme zur Reduzierung von Lohnkosten. Der Betriebsrat hat errechnet, dass eine Krankenschwester in der Arbeitnehmerüberlassungsfirma 40 Prozent weniger als nach dem ansonsten anzuwendenden TVöD verdient. Die Entscheidung ist dann aufgrund politischen Drucks anders ausgefallen. Das Klinikum hat sich entschieden, die befristeten Arbeitsverhältnisse bei sich auslaufen zu lassen und Neueinstellungen grundsätzlich nur noch über die Leiharbeitsfirma zu tätigen und hierüber 10 Prozent der Belegschaft abzudecken. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass in der Leiharbeitsfirma mittlerweile mehr als 200 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Leider gilt auch, dass Firmen zunehmend nicht nur Tochterunternehmen als Leiharbeitsfirmen einsetzen, ({7}) sondern auch sonstige Leiharbeitsunternehmen zur Umgehung des eigenen Tarifvertrages einschalten. Da werden Stammarbeitskräfte durch Leiharbeitskräfte ersetzt. In der Zeitarbeitsbranche sind derzeit circa 2 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt. Bei der Gelegenheit sei erwähnt, in den Niederlanden sind es circa 4,5 Prozent und in Großbritannien sogar 4,7 Prozent der Beschäftigten. Im Jahr 2005 griffen circa 2,5 Prozent der deutschen Betriebe auf Leiharbeit zurück. Im Durchschnitt wurden in jedem dieser Betriebe circa 6,7 Zeitarbeitnehmer eingesetzt. Wir brauchen dringend empirisches Zahlenmaterial über die Substitution von Stammarbeitern durch Leiharbeitnehmer. Wir als SPD beobachten mit äußerster Aufmerksamkeit diese skandalösen Prozesse, und wir diskutieren intensiv über die verschiedenen Handlungsvarianten. Kurt Beck hat sich zur Thematik geäußert. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, als ich Ihren Gesetzentwurf das erste Mal gelesen habe, fiel mir spontan ein: Willkommen in der fabelhaften Welt. Sie formulieren Forderungen und gucken wie ein Pferd mit Scheuklappen nicht nach rechts oder links. Sie fordern eine Streichung der Ausnahmeregelungen bei dem gesetzlich fixierten Grundsatz von Equal Pay und Equal Treatment. Sie zeichnen sich immer durch eine Arbeitshaltung aus, die da lautet: Hoppla hopp! Machen wir doch mal eben etwas! - Es ist Ihnen schlicht egal, ob und wie Ihre Regelungen umsetzbar sind. Es ist so wie früher: Da muss nur einmal schnell der Rat beschließen, und dann wird der Mehrjahresplan schon von den Kombinaten erfüllt werden. ({9}) Ich finde bei Ihnen keine Auseinandersetzung mit der verfassungsrechtlichen Problematik, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur ziemlich intensiv diskutiert wird. Ich sage nicht, dass eine solche Regelung verfassungswidrig ist, aber Überlegungen sind schon erforderlich. Ich finde bei Ihnen keine Abwägung von Alternativen. Die romanischen Staaten wie Frankreich und Belgien lassen Leiharbeit beispielsweise nur bei einem Sachgrund zu, ähnlich unseren Regelungen im Teilzeitund Befristungsrecht. Es wird nicht darüber nachgedacht, dass die Ablösung von vorhandenen Belegschaften durch eine gesetzliche Regelung unter Umständen ausgeschlossen wird. Wir akzeptieren kein Lohndumping in der Leiharbeitsbranche. ({10}) Wir brauchen dringend die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Wir akzeptieren nicht, dass durch Leiharbeitsfirmen Tarifflucht begangen wird. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen, das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, was hier beschrieben worden ist: Die Leiharbeit nimmt tatsächlich eine immer größere Bedeutung an. ({0}) 1 Million Menschen war im Laufe des Jahres 2006 im Bereich der Zeitarbeit tätig. 70 Prozent dieser Menschen waren vorher arbeitslos oder nicht erwerbstätig, Herr Dreibus. Ein erheblicher Teil von ihnen hat es tatsächlich geschafft, über Leiharbeit eine Festanstellung zu erreichen. ({1}) - Das sind nicht allzu viele; ich gebe Ihnen recht. - Das ist die eine Seite der Leiharbeit. Sie ist ein Instrument zur Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt. Es bietet zudem den Unternehmen mehr Flexibilität. Das wollen wir durchaus. Auf der anderen Seite, Herr Lehrrieder - ({2}) - Herr Lehrieder! Sie kommen für mich immer so als Lehrer daher. ({3}) Andererseits wird dieses Instrument zur gezielten Verschlechterung der Arbeitsbedingungen genutzt. Das müssen Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie sich konstant weigern, Untersuchungen zu diesem Thema zu lesen, dann sollten Sie sich nicht hierhin stellen und der Bundesregierung unterstellen, dass sie keine wahrheitsgemäßen Aussagen macht. Das Problem, dass Leiharbeit zu Lohndumping führt und zur Verschlechterung von Arbeitsbedingungen genutzt wird, existiert. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion sehr deutlich festgestellt. Sie werden doch Ihrer eigenen Bundesregierung nicht widersprechen wollen. Das gehört sich nicht, Herr Lehrieder, jedenfalls nicht in Ihren Reihen. ({4}) Herr Dreibus, Sie sehen: Ich leugne dieses Problem nicht. Aber ich finde, dass Sie es sich in Ihrer Vorlage zu einfach machen. Wenn wir diesem Gesetzentwurf zustimmten, liefen wir Gefahr, dafür zu sorgen, dass die Leiharbeit die Funktion einer Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zukünftig nicht mehr ausfüllen könnte. Ich meine, dass wir darauf nicht verzichten sollen. Wir wollen doch den Missbrauch bekämpfen. Der Missbrauch entsteht in erster Linie dadurch, dass die derzeitigen Leiharbeitsregelungen Lohndumping zulassen. ({5}) - Aber dann lassen Sie uns doch einen anderen Weg gehen. - Frau Kramme hat hier doch auf die unmöglichen Zustände in der Leiharbeit hingewiesen. Wir könnten das Lohngefälle dadurch mildern, dass wir die Leiharbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Diese Möglichkeit hat diese Branche inzwischen längst geschaffen. Frau Kramme, Sie stellen sich hierhin und weinen Krokodilstränen. ({6}) Sie sagen: Wir wollen diese Situation nicht länger hinnehmen. Sie gehen auf die Straße und sammeln Unterschriften für Mindestlöhne. Sie haben hier im Hause eine Mehrheit dafür, Mindestlöhne einzuführen. Wir würden sehr gerne einen Antrag von Ihnen mittragen, der fordert, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz entsprechend zu ändern. ({7}) Tun Sie mir einen Gefallen: Geben Sie mir ein Mal die Möglichkeit, einer Initiative von Ihnen zuzustimmen. ({8}) Das wäre schön für mich. Das wäre gut für die Leiharbeit. Ich glaube, das täte auch der sozialdemokratischen Seele gut. Ich danke Ihnen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/4805 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes - Drucksache 16/4691 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 16/5238 Berichterstattung: Abgeordneter Patrick Döring Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute zu behandelnde Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes soll die Voraussetzungen für die Ergänzung der Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über die Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr schaffen. Hierzu ist Folgendes erforderlich: erstens die Ergänzung einer Verordnungsermächtigung, zweitens die Regelungen zum Datenschutz im Zusammenhang mit der Einführung eines digitalen Kontrollgeräts, drittens eine einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten, danach Löschung der Daten und Vernichtung der Scheiben, es sei denn, sie sind nach den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes oder der Abgabenordnung weiterhin aufzubewahren, viertens die Bußgeldbewehrung für die Verantwortung der Beförderungskette für Verstöße gegen die Lenkund Ruhezeiten, fünftens die Ahndung von im Ausland begangenen Verstößen und sechstens die Übergangsregelung zu den Bußgeldverfahren. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält die entsprechenden Regelungen. So wird eine ausdrückliche Ermächtigung für Auskünfte aus dem Kontrollgerätkartenregister an die zuständigen Behörden und Stellen geschaffen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass festgestellt werden kann, ob und wie viele Fahrerkarten zur Bedienung des digitalen Kontrollgerätes einer Person bereits ausgestellt wurden. Es geht also, obwohl sich die ersten Sätze meiner Rede sehr bürokratisch anhörten, um ein zentrales Thema: die Verkehrssicherheit. Die Anpassung der Fristen zur Aufbewahrung der Daten aus dem Massespeicher des digitalen Kontrollgerätes an die europäische Grundregelung - ein Jahr - bedeutet eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Um dem Unternehmer die Möglichkeit zu geben, diese Daten auch für andere vom Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz bzw. in der Abgabenordnung vorgeschriebenen Zwecke zu verwenden, wird ihm nun ermöglicht, die Daten erst dann zu löschen, wenn er sie für die vorgenannten - rechtlichen - Zwecke nicht mehr braucht. Gleiches gilt in Zukunft auch für die aufzubewahrenden Tachografenscheiben des mechanischen Kontrollgerätes und deren Vernichtung. Der Gesetzentwurf enthält weiterhin eine Bußgeldbewehrung der Verantwortung in der Beförderungskette. Die dort Beteiligten müssen die Beförderungszeitpläne so vereinbaren, dass für die Fahrer die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten möglich ist. Daneben wird in Ergänzung der Verordnung klargestellt, dass Ordnungswidrigkeiten künftig auch dann geahndet werden können, wenn sie nicht im Geltungsbereich des Fahrpersonalgesetzes begangen wurden. Letztendlich enthält der Gesetzentwurf eine punktuelle Aufhebung der Meistbegünstigungsklausel im Hinblick auf Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeiten bis zum 10. April 2007. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Lenk- und Ruhezeiten in der Verordnung Nr. 3820/85 geregelt, also in einer anderen Verordnung der Europäischen Gemeinschaft. Diese wurde dann am 11. April 2006 ersetzt. Nach § 4 Abs. 3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes ist bei einer Gesetzesänderung, die zwischen der Begehung der Handlung und der Entscheidung in Kraft tritt, zugunsten des Betroffenen das mildere Gesetz anzuwenden. Danach ist die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit unzulässig, wenn die Tat in der Zeit zwischen ihrer Begehung und der gerichtlichen Entscheidung einmal nicht mit einer Geldbuße bedroht war. Da das geänderte Fahrpersonalgesetz am 11. April 2007 noch nicht in Kraft getreten war, hätten in der Zwischenzeit bis zum Inkrafttreten alle vor dem 10. April 2007 noch nicht geahndeten Verstöße nicht weiterver9918 folgt werden können. Dieses Prinzip der Meistbegünstigung hat einfachgesetzlichen Charakter und kann daher, wie im vorliegenden Fall, durch ein anderes Gesetz punktuell aufgehoben werden. Es werden dadurch keine Handlungen rückwirkend unter Strafe gestellt, sondern es wird lediglich das Prinzip der Meistbegünstigung aufgehoben. Dies stellt, auch unter Aspekten des Vertrauensschutzes, keine unzumutbare Beeinträchtigung dar; denn die Fahrer, die bis zu diesem Zeitpunkt Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeitenvorschriften begangen haben, mussten mit einer Bestrafung rechnen. Der Bundesrat hat am 16. Februar 2007 keine grundsätzlichen Einwände gegen den Regierungsentwurf erhoben, allerdings manche Änderungen bzw. Ergänzungen gewünscht. Einige dieser Vorschläge sind annehmbar. Die Bundesregierung konnte ihnen in ihrer Gegenäußerung zustimmen. Im Ergebnis wird dieses Gesetz einen Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fahrer leisten. Noch ein Wort zu den Zahlen, die immer wieder gehandelt werden, was dem Staat an Einnahmen durch die leider eingetretene Verzögerung angeblich entgangen ist: Das Bundesamt für Güterverkehr hat im gesamten Jahr 2006 11 Millionen Euro an Bußgeldern und Verwarnungen vereinnahmt. In diesem Fall geht es um acht Wochen. Ich weiß also nicht, wie man auf dreistellige Millionensummen kommt, von denen man in der Presse immer wieder lesen konnte. Wir sind mit der Vorlage rechtzeitig im Dezember im Kabinett gewesen. Aber es hat einer langen Abstimmung bedurft, weil es eine sehr komplizierte Gesetzgebung war. Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, das, was die Europäische Gemeinschaft als Richtlinie beschlossen hat, mit entsprechenden Bußgeldern zu bewehren. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Patrick Döring für die FDP-Fraktion ist der nächste Redner in dieser Debatte. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erste Bemerkung. Am Ende Ihrer Rede, Herr Staatssekretär Großmann, haben Sie darauf hingewiesen, dass der Gesetzentwurf, nachdem die Frist verstrichen und die Verordnung in Kraft ist und es ein amtsgerichtliches Urteil aus Schleswig-Holstein gibt, auf einmal ganz schnell in der letzten Sitzungswoche im Ausschuss war und die Bundesregierung sich mehrfach dafür entschuldigt hat, dass die Ressortabstimmung so furchtbar lange gedauert hat; aber nun müsste man ja ganz schnell zu Potte kommen. Natürlich gab es dann ganz schnell Änderungsvorschläge aus der Koalition. Mit einem Mal ging’s. In Wahrheit war diese Misere, die zu dem Urteil geführt hat, und die nicht mehr gegebene Möglichkeit der Verfolgung solcher Verstöße gegen Lenk- und Ruhezeiten das Produkt - ich sage es einmal vorsichtig - unprofessioneller Regierungsarbeit. ({0}) Damit haben Sie jedenfalls dem Gewerbe, auch wenn das Ganze vielleicht in einem anderen Haus verschuldet wurde, keinen Gefallen getan. ({1}) Zweite Bemerkung. Egal, ob die Zahlen, die dort genannt werden, überzogen sind oder nicht, wahr ist, dass das Signal fatal ist, dass es gerade die Bundesrepublik Deutschland in Europa nicht schafft, diese Verordnung rechtzeitig in deutsches Recht zu überführen, dass gerade wir während unserer Ratspräsidentschaft Schwierigkeiten bekommen, europäische Regelungen für dieses Gewerbe in Kraft zu setzen. Auch das möge man bedenken. ({2}) Zum Inhalt selbst. Ich habe in der Ausschussberatung für meine Fraktion beim Thema Meistbegünstigungsklausel nachgefragt, ob das Ganze hinsichtlich der seinerzeit am OLG Stuttgart entschiedenen Frage, ob man diese Klausel einfachgesetzlich außer Kraft setzen dürfe, inzwischen mit dem BMJ abgeklärt ist. Es war übrigens 1998 beim Bundesnaturschutzgesetz unter der Umweltministerin Dr. Angela Merkel das erste Mal der Fall, dass die Meistbegünstigungsklausel einfachgesetzlich außer Kraft gesetzt worden ist. Das hat das OLG Stuttgart damals für verfassungskonform gehalten. Seitdem ist relativ viel Zeit ins Land gegangen. In der heutigen Ausgabe der „Deutschen Verkehrszeitung“ wird uns auf einer ganzen Seite von einer Kanzlei für Verkehrsrecht dargelegt, dass diese Aufhebung wahrscheinlich verfassungswidrig ist. ({3}) Ich hatte in der Ausschusssitzung darum gebeten, das zu klären, damit uns das nicht noch einmal passiert. Sie, Herr Staatssekretär, haben das in Ihrer Rede bestätigt. „Wir werden sehen“, sage ich einmal. Aber sollte das passieren, wäre das das zweite Gesetz aus Ihrem Haus - neben einem großen Gesetzentwurf -, das wahrscheinlich verfassungswidrig ist. Damit führen Sie die Rangliste vermutlich an. ({4}) Zu unserem Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir hätten uns gewünscht - wenn das ganze Verfahren so gelaufen wäre, wie es hätte laufen sollen -, als Verkehrspolitiker in der Diskussion klären zu können, ob die eine oder andere Regelung, die mit der EU-Verordnung unmittelbar nichts zu tun hat, für das Gewerbe tatsächlich noch Sinn macht. Da geht es insbesondere um die seit 1971 gültige Regelung für Fahrzeuge zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen. Wir hören von den Handwerkskammern vor Ort - sicher auch in Ihrem Wahlkreis -, dass die seit 1971 gültige 50-Kilometer-Regelung, für die wir eine gesetzliche Sonderregelung haben - das hat nichts mit Europa zu tun -, nicht mehr praktikabel ist. Deshalb hätten wir mit einer längeren und ruhigeren Beratung für mittelständische Betriebe das tun können, was hier in der Kernzeit in Sonntagsreden von anderen Ministern immer wieder vorgetragen wird, nämlich unpraktikable und bürokratische Regelungen abzuschaffen bzw. auf den Prüfstand zu stellen und den Grenzwert zu übernehmen, der nach der europäischen Verordnung möglich ist, nämlich die 100-Kilometer-Grenze. Ich finde es bemerkenswert, dass ein anderer Staatssekretär aus Ihrem Hause, der geschätzte Kollege Kasparick, wenige Tage bevor die europäische Verordnung beschlossen wurde, in der Fragestunde des Deutschen Bundestages noch sagt: Wahrscheinlich wird eine Ausweitung der 50-Kilometer-Regelung in Europa nicht beschlossen. Tatsächlich ist es europarechtlich nun möglich, Fahrten im Umkreis von 100 Kilometern zu erlauben. Diese sind mit Fahrzeugen zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen europarechtlich ohnehin möglich. Wir hätten uns gewünscht, dass der Verkehrsausschuss ein Signal für Bürokratieabbau gegeben und eine mittelstandsfreundliche Regelung umgesetzt hätte. Dazu waren Sie in diesem Verfahren nicht bereit. Ich kann das zwar zum Teil nachvollziehen, glaube aber zugleich, dass man hier eine Chance hat verstreichen lassen. Deshalb werden wir dieser Gesetzesänderung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir hoffen, dass wir an anderer Stelle Gelegenheit erhalten, die Fehler, die im jetzigen Gesetzgebungsverfahren entstanden sind, auszubügeln. Ich bin sicher, wir werden damit noch befasst, wenn das Verfassungsgericht entschieden hat. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Wilhelm Josef Sebastian.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Europäische Union hat die Lenk- und Ruhezeiten in einer Verordnung neu geregelt. Damit hat sie für alle Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt, wie lange Fahrer am Steuer sitzen dürfen. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz werden wir die Dinge so regeln, dass für alle möglichst schnell wieder Rechtssicherheit gegeben ist. Durch die neue Verordnung sind eine Reihe von Änderungen notwendig. Das Fahrpersonalgesetz müssen wir deswegen ändern, weil es auf einer alten EU-Verordnung basiert, die am 10. April außer Kraft gesetzt wurde. Darüber hinaus wurden zwei weitere europäische Verordnungen geändert, auf die es ebenso aufbaut. Bevor ich zum Inhalt des Fahrpersonalgesetzes komme, lassen Sie mich etwas zu den neuen Lenk- und Ruhezeiten sagen. Wozu erlässt die EU jetzt neue Grenzwerte für Lenk- und Ruhezeiten? Dahinter steht das Bestreben der EU nach mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Im Weißbuch Verkehr von 2001 hat sie sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten im Straßenverkehr zwischen 2001 und 2010 zu halbieren. Von 2001 bis 2005 ging die Zahl der tödlichen Unfälle im Durchschnitt um mehr als 17 Prozent zurück. Das ist sicherlich sehr erfreulich, aber dieser Rückgang ist immer noch zu gering. Es bleibt für uns alle noch viel zu tun. Meine Damen und Herren, Lenk- und Ruhezeiten sind natürlich nicht der alleinige Faktor. Wir lesen immer wieder von großen Unfällen. Es gibt manchmal auch Fehlverhalten von Menschen: Sei es, dass der Druck oder die Vorgabe zu groß ist, oder aus welchem Grunde auch immer. Ich komme darauf aber gleich noch einmal zurück. Neben einer ausgefeilten Fahrzeugtechnologie und einer guten Straßenverkehrsinfrastruktur ist, wie ich eben sagte, das Verhalten der Menschen entscheidend. Die neue Lenk- und Ruhezeitverordnung setzt hier an und wird einen großen Beitrag zu mehr Sicherheit leisten. Seit dem 11. April gelten diese neuen Lenk- und Ruhezeiten unmittelbar auch für Deutschland. Im Wesentlichen beinhaltet der Gesetzentwurf folgende Punkte: Die Verordnungsermächtigung wird ergänzt; der Datenschutz wird im Zusammenhang mit der Einführung des digitalen Kontrollgerätes verbessert; die einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten wird neu geregelt; die Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeiten in der Beförderungskette wird ausgedehnt - das ist ein sehr wichtiger Punkt -; die Ahndung von im Ausland begangenen Verstößen wird erleichtert. Im Detail bedeutet dies, dass der Verweis auf die alte Verordnung aus dem Fahrpersonalgesetz durch den Verweis auf die nun aktuelle Lenk- und Ruhezeitverordnung ersetzt wird. So wird die Verordnungsermächtigung ergänzt und die Ahndung von Verstößen gegen die Lenkund Ruhezeiten erst legitim. Für einen verbesserten Datenschutz werden die von der Kontrollbehörde abgerufenen Daten gleich nach der Überprüfung der Fahrerkarten gelöscht. Außerdem wird sichergestellt, dass die Daten nur zu Kontrollzwecken abgerufen werden dürfen. Die Aufbewahrungsfristen werden neu geregelt, und zwar folgendermaßen: Ein Unternehmer hat die von der Fahrerkarte und den Massenspeichern kopierten Daten und die Schaublätter im Regelfall ein Jahr lang aufzubewahren, es sei denn, sie sind nach Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes oder der Abgabenordnung länger aufzubewahren. Danach sind die Daten unverzüglich zu löschen bzw. die Schaublätter unverzüglich zu vernichten. „Unverzüglich“ ist - das hat sich in den Beratungen herausgestellt und ist im Ausschuss fraktionsübergrei9920 fend als richtig angesehen worden - realitätsfremd. Es würde bedeuten, dass der Unternehmer ständig den genauen Zeitpunkt überwachen müsste, zu dem die Jahresfrist abläuft, um dann die Daten zu löschen und die Schaublätter zu vernichten. Dies kann man nicht verlangen, weil es viel zu bürokratisch und aufwendig wäre. Deswegen schlagen wir in unserem Änderungsantrag vor, dass dieser Vorgang bis zu einem gewissen Stichtag im Jahr erledigt sein muss. Dies soll der 31. März des Kalenderjahres sein, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Aufbewahrungsfrist endet. Nebenbei bemerkt bietet die Umstellung auf das digitale Kontrollgerät auch für das Transportunternehmen viele Vorteile. Zusammen mit entsprechenden Softwarelösungen lassen sich die Lenk- und Ruhezeiten auch für betriebliche Dinge durchaus sinnvoll nutzen. Bewegungsprofile, Geschwindigkeiten und Bremsverhalten lassen sich auch in anderen Unternehmensbereichen einsetzen, bis hin zur Lohnbuchhaltung. Nicht zuletzt warnt die Elektronik schon die Disponenten, die eine Fahrt planen, vor Überschreitung der Lenkzeiten. Ich habe schon eben angesprochen, dass mancher Fahrer durch Vorgaben unter Druck gerät, weshalb er die eine oder andere Pause auslässt. Deshalb ist auch geregelt, dass die Haftung zukünftig auf die gesamte Kette ausgedehnt wird. Fahrer, Verlader, Speditionen, Subunternehmer und Fahrervermittlungsagenturen werden für Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeitenverordnung in die Pflicht genommen, also nicht nur das letzte Glied in der Kette, der Fahrer. Zudem können die Kontrollbehörden ab Inkrafttreten dieses Gesetzes auch alle im Ausland begangenen Verstöße ahnden. Bisher konnte das Bundesamt für Güterverkehr nur ermitteln, wenn ihm entsprechende Hinweise aus dem Ausland zugingen. Die Neuregelung ist bei dem mittlerweile zum Alltag gehörenden grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr längst überfällig. Jedoch kann sie empfindliche Mehrkosten nach sich ziehen. Was bei uns 100 Euro kostet, kann woanders ein Vielfaches kosten. Bei der Beratung des Gesetzentwurfs haben wir festgestellt, dass dieser in einem weiteren wichtigen Punkt ergänzungsbedürftig war. Zusammen mit dem Ministerium haben wir Abhilfe geschaffen, indem wir eine tragbare Übergangsregelung für die vor dem 11. April begangenen, aber noch schwebenden Bußgeldverfahren geschaffen haben. Der Kollege Döring sprach eben an, ob das Gesetz verfassungskonform sei. - Nach meinem Kenntnisstand ist es übrigens ein Urteil des OLG Stuttgart gewesen, das bezüglich der Umweltfragen geurteilt hat. - Wir sind davon überzeugt, dass ansonsten eine nicht hinnehmbare Besserstellung der Fahrer die Folge gewesen wäre. Wir mussten davon ausgehen, dass nach dem Prinzip der Meistbegünstigung aufgrund der wegfallenden Verordnungen sämtliche nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr hätten geahndet werden können. Dies wären alle Verfahren, die vor dem 10. April zwar eingeleitet wurden, aber noch nicht abgeschlossen sind. Die in den Medien dargestellte Summe der ausfallenden Bußgelder erscheint mir zu hoch. Auch Staatssekretär Großmann hat das schon angesprochen. Er hat auch dargelegt, in welchem Zeitabschnitt welche Einnahmen zu verbuchen sind. Aber ob die Staatskasse unbedingt darunter leidet, wenn es einmal eine straffreie Zeit gibt, ist an anderer Stelle zu beurteilen. Ich will zum Schluss noch auf etwas aufmerksam machen, das nach meinem Ermessen von uns nicht außer Acht gelassen werden kann. Wir verlangen verlängerte Ruhezeiten, damit die Sicherheit erhöht wird, aber oftmals haben die Fahrer große Schwierigkeiten, an unseren Autobahnen entsprechende Parkplätze zu finden, um die Ruhezeiten einzuhalten. ({0}) Wir als Gesetzgeber können über diese Schwierigkeiten nicht einfach hinwegsehen. Wir sind aufgefordert, Vorsorge zu treffen, damit es zu Verbesserungen kommt, sodass die geforderten Ruhezeiten auch eingehalten werden können. Zum Schluss will ich ein Zitat aus einer Veröffentlichung in einer Verkehrszeitung aufgreifen. Ich zitiere: Am 11. April haben Unternehmen die Reise in ein neues Zeitalter angetreten. Seitdem gelten in der Europäischen Union neue Lenk- und Ruhezeiten. Die Fahrt führt allerdings ins Ungewisse. Mit der heutigen Beschlussfassung hat das ein Ende. Durch die Zustimmung des Bundesrats in wenigen Wochen ist diese Fahrt ins Ungewisse beendet. Vielen Dank ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht jetzt die Kollegin Dorothée Menzner für Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die neuen Regelungen zum Fahrpersonalgesetz dienen der weiteren Humanisierung des Arbeitsplatzes hinter dem Lenkrad. Nur ausgeruhte und fitte Fahrer sorgen für mehr Sicherheit auf unseren Straßen. Verbesserungen sind zum Beispiel die Erhöhung der Ruhezeiten sowie die Pflicht zu einer Pause von mindestens 45 Stunden alle 14 Tage. Jeder wird einsehen, dass Verstöße gegen diese Vorschriften mit Bußgeldern geahndet werden müssen. Dies betrifft Unternehmen, Reiseveranstalter und Disponenten. Doch auch der Fahrer ist und bleibt in der Verantwortung, die vorgesehenen Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten. Trotzdem ist Kritik angebracht. Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, darf die tägliche Lenkzeit zweiDorothée Menzner mal in der Woche auf zehn Stunden angehoben werden. Die Begründung dafür ist, dass kein Wettbewerbsnachteil gegenüber ausländischen Fuhrunternehmen entstehen dürfe. Eine generelle Begrenzung der täglichen Lenkzeit auf acht - als Ausnahme höchstens neun Stunden, wie ursprünglich geplant - wäre durchaus sinnvoller gewesen. Wie kann es aber sein - das wurde schon angesprochen -, dass eine neue EU-Regelung in Kraft tritt, es aber vom Bundesverkehrsministerium versäumt wird, das Bundesrecht rechtzeitig anzupassen, sodass Verstöße gegen das Fahrpersonalgesetz nicht weiter geahndet werden konnten? Inzwischen werden Lkw-Fahrer vom Vorwurf der Überschreitung der Lenkzeiten freigesprochen, weil es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Ich verweise nur auf das Urteil des Amtsgerichts Itzehoe. Deshalb darf ich hier die Fraktionen der Koalition, vor allem den verehrten Kollegen Dirk Fischer, dafür loben, dass sie schnell nachgebessert haben. Dies war nötig, um diese Verstöße wieder ahnden zu können. ({0}) Wir müssen einmal beleuchten, was der Grund dafür ist, dass auf einmal ein rechtsfreier Raum entstand. Hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass wir uns langsam daran gewöhnen, dass Änderungsanträge und Vorlagen den Fachpolitikern häufig erst am Abend vor den Ausschusssitzungen zugeleitet werden und damit eine gründliche Analyse nicht mehr möglich ist? Diese Art und Weise, Abgeordnete zu unterrichten und eine Debatte zu organisieren, hatte durchaus ernste Folgen. Die weicheren alten Vorschriften des Fahrpersonalgesetzes gelten ein halbes Jahr länger. Bescheide sind anfechtbar, nur weil im Ministerium geschlafen wurde. Einige Millionen Euro - über die Höhe mag ich mich gar nicht streiten - an Verlusten von Einnahmen sind dem Fiskus dabei entstanden. Das ist keine solide Regierungsarbeit. Wenn mein Sohn - er geht in die dritte Klasse - Hausaufgaben schlampig anfertigt, dann gibt es einen sogenannten Hausaufgabenstrich und ich als Mutter bekomme eine Mitteilung. ({1}) Was das Ministerium hier abgeliefert hat, ist schlampig und, um im Bild zu bleiben, einen Hausaufgabenstrich wert. Ich finde, der Wähler sollte das wissen. Es liegt - darauf möchte ich noch kurz eingehen - ein Änderungsantrag der FDP vor, der Lkw unter 3,5 Tonnen von der Fahrtschreiberpflicht ausnehmen will. Damit würden Tür und Tor geöffnet, dass im Güterverkehr bei kleinen Lastern jegliche Dokumentationspflicht entfällt. Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung wollen die Liberalen Gesetzesverstöße legalisieren ({2}) und ermöglichen, dass der ohnehin sehr wenig geschützte Fahrer unter Druck gesetzt wird, die Lenkzeiten zu überschreiten. Der geringe Schutz der Fahrer soll also weiter minimiert werden. Das ist in unseren Augen Steinzeitliberalismus. Den FDP-Antrag lehnen wir deswegen allemal ab. ({3}) Ich danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht jetzt Toni Hofreiter für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass die wichtigsten Punkte in diesem Bereich nicht in dem vorliegenden Gesetz, sondern in der entsprechenden EU-Verordnung geregelt werden. Letztendlich steht das, worauf es ankommt, in der EU-Verordnung. Was müssen wir letztendlich umsetzen? Wir müssen umsetzen, dass die EU-Verordnung vor Ort durchgesetzt wird, das heißt, dass die Polizei kontrollieren kann, Bußgelder verhängen kann usw. Man muss sagen, dass es eigentlich nicht kompliziert war, diese Verordnung umzusetzen. Komischerweise ist es dieser ach so Großen Koalition nicht einmal gelungen, eine relativ einfache EU-Verordnung fristgerecht in nationales Recht umzusetzen. Da fragt man sich natürlich: Was würde diese Große Koalition machen, wenn es um komplizierte und komplexe Sachen geht? Man weiß es, man befürchtet es: Es würde noch mehr schiefgehen. Das ist das eigentlich Tragische an dieser Geschichte, nicht dass Sie wieder einmal einen Monat vertrödelt haben. Das kann man ja verstehen; so etwas passiert in Ministerien. Das Schlimme ist aber: Sie trödeln sogar bei simpelsten Sachen. Das ist es, was hier anzuprangern ist. ({0}) Wir freuen uns darüber, dass die Aufbewahrungsfristen jetzt unbürokratischer geregelt worden sind. Wir hatten diesbezüglich einen Änderungsantrag eingebracht, der von den beiden Koalitionsfraktionen dankenswerterweise flott übernommen wurde. Es ist schön, dass zumindest die Fraktionen noch lernfähig sind; beim Ministerium haben wir da aufgrund der Erfahrungen aus anderen Gesetzgebungsverfahren unsere Zweifel. Letztendlich muss man sagen: Die EU-Verordnung ist ein Fortschritt. Es ist gut, dass das Gesetz jetzt umgesetzt wird. Dem Änderungsantrag der FDP können wir wirklich nicht zustimmen, auch wenn wir der FDP im Verkehrsbereich manchmal wohlgesonnen sind ({1}) allerdings eher, wenn es um die Bahn geht. Das, was die FDP hier vorlegt, ist die übliche Klientelpolitik. So ken9922 nen wir die FDP; sie ist eine nette Lobbyistenpartei. Wir sind in diesem Fall aber nett und enthalten uns einfach, weil wir euch in anderen Fällen ab und zu mal brauchen. ({2}) Ich ziehe das Resümee: Dieses Gesetz ist ein Beitrag zu mehr Verkehrssicherheit. Die Hauptarbeit hat allerdings die EU geleistet. Immerhin, mit einem guten Monat Verzögerung hat unser Ministerium die Umsetzung geschafft. Darüber freuen wir uns einfach. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste hat die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD das Wort. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe gedacht, jetzt freuen sich einige, dass wir die Bußgeldverordnung endlich auf den Weg bringen und vor allem, dass wir dabei die ganze Kette in die Pflicht nehmen. Wenn ein Auftrag erteilt wird, den die Fahrer nur unter Missachtung der Lenk- und Ruhezeiten erfüllen könnten, so sind jetzt auch die Spediteure, die Reiseveranstalter und die Fahrvermittlungsagenturen haftbar. Das ist doch ein wirklicher Fortschritt. Die Regelarbeitszeit - ich rede jetzt von allen Branchen - beträgt heute acht Stunden am Tag. Das war früher einmal anders. Zu Zeiten der Industrialisierung waren es im Durchschnitt zwölf Stunden und länger. Es hatte handfeste wirtschaftliche Gründe, dass man dies geändert hat: Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, wenn man zu lange arbeiten muss. Die Menschen können sich nicht mehr regenerieren. Die Qualität der Arbeit verschlechtert sich. Dies führt zu Sicherheitsrisiken. Mit den Verordnungen zur Verlängerung der Ruhezeiten und zur Verkürzung der Lenkzeiten wird dies aufgegriffen und umgesetzt. Sicherheitsaspekte sind insbesondere dort von Bedeutung, wo Menschen mit Maschinen arbeiten, zum Beispiel im Straßenverkehr, wo durch eine unaufmerksame Sekunde das Leben Dutzender gefährdet werden kann. Es muss sichergestellt sein, dass das nicht passiert und die Fahrer in der Lage sind, sich zu regenerieren und die geforderte Leistung tatsächlich zu erbringen. ({0}) Sie wissen genau, dass diese Zeiten in dieser Branche, die einem starken Wettbewerb ausgesetzt ist, oftmals nicht eingehalten wurden. Dem wollen wir mit der Änderung des entsprechenden Gesetzes begegnen. Einige Busunternehmen haben gegen die EU-Vorlagen protestiert. Sie sehen sich in ihrer Wirtschaftlichkeit bedroht. Sie sagen - damit haben Sie recht -, dass Busfahren bereits heute eine sehr sichere und klimafreundliche Art, zu reisen, ist. Aber ich erinnere an die schlimmen Busunfälle in den Jahren 2002 und 2003. Damals haben wir uns alle vorgenommen, die Sicherheit zu verbessern. Dazu gehört eine entsprechende Begrenzung der Lenkzeiten. Ich kann die Sorgen der Unternehmen zwar nachvollziehen. Aber ich sage auch ganz klar: Sicherheit muss oberste Priorität haben. ({1}) Die neuen Regelungen zu Lenk- und Ruhezeiten können von den Reiseunternehmen auch positiv genutzt werden. Es gibt einen Anbieter von Studienreisen, der schon vor Inkrafttreten der EU-Verordnungen diese umgesetzt und nur Verträge mit Unternehmen geschlossen hat, die diese Lenk- und Ruhezeiten auch einhielten. Sicherheit kann man auch als Gütesiegel begreifen; mit ihm kann man auch werben. ({2}) Wenn wir den Gesetzentwurf gleich beschließen, kann das Änderungsgesetz im Juli in Kraft treten. Ab dann werden dann tatsächlich Verstöße gegen die neuen Lenk- und Ruhezeiten geahndet. Herr Döring, wir haben eine Demokratie. In einer Demokratie gibt es parlamentarische Verfahren. In diesem Fall war es nicht das Ministerium, sondern der Bundesrat, der Änderungen gewünscht hat. ({3}) Darüber haben wir diskutiert. Deswegen hat das Verfahren etwas länger gedauert. Ich denke, das sind wir unserer Demokratie schuldig. Der Gesetzentwurf, über den wir jetzt entscheiden, findet eine breite Zustimmung; darüber bin ich froh. Weniger Zustimmung findet der Antrag der FDP. Auch bei Handwerkern hat Sicherheit oberste Priorität. Wenn ein Handwerker mehr als acht Stunden auf einer Baustelle war und noch drei Stunden hin- und drei Stunden zurückfahren muss, dann gefährdet auch das die Straßensicherheit. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4691 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die GrüVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt nen ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenergebnis wie vorher angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5281. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Koalition und der Linken und bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Entwicklung nutzen - Drucksachen 16/4054, 16/5273 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christian Ruck Dr. Karl Addicks Ute Koczy Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Walter Riester für die SPD-Fraktion. ({2})

Walter Riester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003616, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es gibt in diesem Parlament kaum ein Mitglied, das dem Antrag von der Überschrift her gesehen nicht sofort zustimmen würde. Viele Inhalte haben wir - Gott sei Dank! - in dieser Legislaturperiode schon beschlossen, und viele sind bereits umgesetzt. Es gibt in dem Antrag ein paar Positionen, denen ich persönlich besonders zustimme. Das ist zum Beispiel die auch an mich herangetragene Kritik hinsichtlich der Koordinierungsstelle für die Umsetzung der OECDLeitlinien; das muss ein Thema sein. Nun mögen Sie fragen: Warum kann man dem Ganzen dann nicht zustimmen? Es gibt zumindest zwei Punkte, die ich dafür anführen möchte. Herr Hoppe, Sie haben heute früh hinsichtlich des Afrikaantrages, wie ich finde, nicht ganz zu Unrecht kritisiert, dass die historische Belastung, unter der die jetzigen Regierungen Afrikas zu leiden haben, zu wenig angeführt ist. Diese Frage wird in diesem Antrag überhaupt nicht thematisiert. Aber im Antrag steht im Kern nicht zu Unrecht, dass korrupte Eliten in demokratische Prozesse eingebunden werden müssen als Voraussetzung dafür, dass Rohstoffgewinne in nachhaltige Entwicklung umgesetzt werden. Im letzten Absatz ist aufgeführt - auch dem stimme ich zu, aber es trifft das Problem nicht -, dass die Verantwortung nicht nur bei den korrupten Machteliten liegt, sondern auch bei den Abnehmern. Wie die korrupten Machteliten entstanden sind, müssen wir der Ehrlichkeit halber aufzeigen. Ich weiß ja, wie man solche Anträge formuliert und wie die Diskussionen ablaufen. Sie fordern von unserer Kanzlerin, dieses Thema beim G-8Treffen einzubringen. Mindestens vier große Länder bei diesem G-8-Treffen haben historisch viel Schuld bei der Entwicklung Afrikas auf sich genommen. In vielen Bereichen ist die Schuld mit großen materiellen Interessen an Rohstoffen verbunden gewesen. Der Prozess hat nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart. Das macht mich etwas nachdenklich. Der zweite Punkt. Sie führen die Demokratische Republik Kongo und Angola an. Zur Demokratischen Republik Kongo kann ich wenig sagen, außer dass ich als junger Mensch erlebt habe, dass der erste Versuch, nach der Überwindung der Kolonialherrschaft demokratische Wahlen durchzuführen, damit geendet hat, dass Patrice Lumumba von gekauften Söldnern europäischer Unternehmen umgebracht wurde. Der zweite Anlauf, demokratische Wahlen durchzuführen, liegt nur wenige Wochen zurück. Über Angola kann ich ein bisschen mehr sagen. Ich will Ihnen gerade in Bezug auf die Rohstofffrage schildern, welche Erfahrungen ich gemacht habe und wo ich mich auch korrigiert habe. Ich bin mit einem ähnlichen Bild, wie es im Antrag formuliert ist, nach Angola gefahren, also vor dem Hintergrund der Informationen, die ich hier aus der Presse hatte, und eines mich sehr beeindruckenden Films mit dem Titel „Reiches Land, armes Volk - Angola und das Öl“, den ich auf Arte gesehen habe und in dem genau diese Rohstofffrage angesprochen wurde. Wir kamen in ein Land, das durch 32 Jahre Bürgerkrieg zerstört ist. Die ganze Infrastruktur ist kaputt. Wir hatten dort ein Gespräch mit dem Außenminister. Er sagte uns: Wir haben versucht, über eine Geberkonferenz Europa zu bewegen, uns zu helfen, die Infrastruktur aufzubauen, weil ohne die Entwicklung der Infrastruktur Armutsminderung überhaupt nicht möglich ist. Unsere Bitte war umsonst. Wir haben uns jetzt auf Abkommen mit der chinesischen Regierung eingelassen, die uns in vielen Punkten nicht gefallen. Die einzige Möglichkeit für uns war, die kaputte Infrastruktur wieder aufzubauen. Der nahezu einzige Rohstoff, den sie dafür einsetzen können, ist Erdöl. Das hat mich dazu gebracht, über meine Meinung, die ich mir hier vorschnell gebildet habe, bevor ich die Bedingungen vor Ort kannte, nachzudenken. Ich habe eine zweite Erfahrung gemacht. Jetzt gehe ich über den Antrag hinaus. Was heißt Nachhaltigkeit? In den Gesprächen, die wir in Angola geführt haben, ist uns geschildert worden, dass das Land nie die Chance hatte - das ist gut nachvollziehbar -, die in den Rohstoffen liegenden Werte über Veredelungsprozesse in Wertschöpfung umzusetzen. Sie haben immer den Rohstoff verkauft. Die Wertschöpfung liegt aber, wie wir alle wissen, nicht im Rohstoff, der im Boden liegt, sondern in der Weiterverarbeitung. Wenn ich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit einen progressiven Ansatz wählen müsste, würde ich sagen: Versuchen wir, wirtschaftliche Unterstützung so zu gestalten, dass nachhaltige Wirtschaftsprozesse aufgebaut werden können, dass der Reichtum des Landes zumindest über einige Etappen des Wertschöpfungsprozesses im Land bleibt. Die Kollegen, die an dieser Reise teilgenommen haben - ich sehe den Herrn Fischer -, und ich hatten die Möglichkeit, ein Gespräch mit einer Delegation des Vorstandes der Commerzbank zu führen, die gleichzeitig in Angola war. Das war eine sehr beeindruckende Erfahrung. Diese Delegation verhandelte mit der Regierung über einen ungebundenen 1-Milliarde-Euro-Kredit der Commerzbank, der also nicht über Hermesbürgschaften abgesichert ist. Auf unsere Frage, wie er wirtschaftlich abgesichert sei, sagten uns die Herren: Über 20 Jahre Erdgaslieferungen aus Angola. Meine Position dazu: Ich bin dafür, dass sich Deutschland engagiert. Ich bin dafür, diesen Aufbauprozess in Angola zu unterstützen. Wir haben dann aber die Frage diskutiert: Wie können wir uns mit anderen, nachhaltigeren Projekten in diesen Prozess einbringen, mit Projekten, die über das hinausgehen, was von China kritisiert wird? Ein nachhaltiger Ansatz wäre in diesem Zusammenhang die Unterstützung der industriellen Entwicklung und die Förderung der Qualifikation der Menschen. Diese Punkte fehlen mir in Ihrem Antrag. ({0}) - Das steht nicht drin. Ich habe den Antrag sehr genau gelesen, Frau Koczy. Er enthält viele Punkte, die ich sofort unterstreichen würde. Das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, ist ja auch nicht Teil der alltäglichen Diskussion über diese Fragen. Ich möchte aber dazu ermuntern, dass wir uns mit diesen Fragen ein bisschen eingehender beschäftigen, dass wir die Diskussion nicht nur unter dem Motto „korrupte Machteliten verkaufen an gierige Entnahmeländer“ führen. Welche Chance zur Entwicklung hat Angola im Moment, abgesehen von dem Weg, den es jetzt wählen muss, weil Europa den anderen Weg nicht mitgegangen ist? Welche nachhaltigen Angebote, so frage ich mich, können wir tatsächlich bieten? Wir können welche bieten; davon bin ich fest überzeugt. Hier müssen wir, so denke ich, ansetzen. Wir sollten nicht nur einen moralischen Appell aussprechen - auch wenn das richtig ist -: Ihr Industrienationen, die ihr nicht zuletzt für die Entwicklung Afrikas eine große historische Schuld auf euch geladen habt - das wird in dem Antrag gar nicht gesagt -, solltet euch fragen, was ihr einbringen könnt, um die Entwicklung nachhaltig positiv zu gestalten! Mir ist der Appell zu wenig, wenn der Kauf von Rohstoffen oder sogar die Gabe von Entwicklungshilfe von dem Aufbau demokratischer oder demokratieähnlicher Strukturen abhängig gemacht werden soll. Ich bin sehr dafür, dass wir eine Entwicklung in Richtung Demokratie anstreben, ich bin aber dagegen, dass wir holzschnittartig vorgehen. Aus diesem Grunde kann ich nicht empfehlen, diesen Antrag anzunehmen. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Hellmut Königshaus.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, so glaube ich, ein deutliches Signal, dass wir in diesen Bereichen weitgehend übereinstimmende Analysen und wahrscheinlich auch weitestgehend gemeinsame Forderungen haben. Vorhin war die Rede davon - ich glaube, Frau Pothmer hat das gesagt -, dass man endlich einmal einem Antrag der anderen Seite zustimmen will. Dieser Antrag kommt dem ganz nahe - auch wenn wir ihm nicht ganz folgen können. Wir wissen alle um die Probleme, die der Hunger nach Energie, insbesondere nach den entsprechenden Rohstoffen, mit sich bringt, und wir kennen die damit verbundenen Ausbeutungstendenzen. Wir wissen aber auch, dass letzten Endes nicht die Nachfrage allein das Problem ist, sondern das, was mit den Gewinnen aus dem Verkauf dieser Rohstoffe passiert. Die nachhaltige Entwicklung im Land selbst, für die wir uns einsetzen, und der Aufbau entsprechender Strukturen werden mit diesen Gewinnen häufig nicht gefördert. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen sind für den afrikanischen Kontinent - Sie haben das angesprochen oftmals eher Fluch als Segen, sie führen zu Zerstörung, weil sie zur Finanzierung kriegerischer Auseinandersetzungen verwendet werden, die in diesem Umfang sonst nicht möglich wären. Sie von den Grünen nennen in Ihrem Antrag als Beispiel Nigeria. Zu Recht: Nirgendwo sonst gibt es so viele Ölfelder, nirgendwo sonst wird die Entwicklung der Förderung in Zukunft so stürmisch sein. Nigeria ist also im Grunde genommen von der Natur verwöhnt, dieses Land könnte sich selbst entwickeln. Wir sehen aber, dass dieses bedauerlicherweise nicht passiert. Die politische Elite ruiniert das Land, sie versteht es nicht, diesen natürlichen Reichtum zu nutzen. Sie verscherbelt die Ressourcen, und das erlangte Geld wird der Versickerung überlassen. Das Beispiel Angola, das Sie angesprochen haben, zeigt den gleichen unseligen Mechanismus. Auch wenn dort andere Verantwortlichkeiten mit hineinkommen, muss man natürlich darüber reden, dass diese Länder, statt ihre Rohstoffe nur zu exportieren, Wertschöpfung vor Ort aufbauen sollten. Dafür haben wir eine Verantwortung. Wofür ich nicht bin, ist, dass wir Entwicklungshilfe oder Entwicklungszusammenarbeit koppeln mit einer historischen Verantwortung für die Ausbeutung des Kontinents, die im Übrigen mehr durch andere und weniger durch Deutschland stattgefunden hat. Unsere Entwicklungszusammenarbeit muss nach vorne gerichtet sein, sie muss sich am Bedarf orientieren und nicht an historischer oder politischer Verantwortlichkeit. ({0}) Afrika ist also noch immer auf unsere Unterstützung angewiesen - andere Länder der Dritten Welt sind es auch -, und zwar deshalb, weil die Bodenschätze verkauft werden, die Einnahmen aber durch die gierigen Eliten veruntreut werden. Nigeria, Angola, Sudan sind nur einige Beispiele, dass trotz hoher Exporteinnahmen keine nennenswerten Entwicklungserfolge vorgewiesen werden können. Korruption - das zeigt sich auch hier ist ein zentrales Problem; nur so kann dieses Versickerungssyndrom ermöglicht werden. Deshalb dürfen wir Good Governance nicht bloß propagieren, sondern müssen sie zur Voraussetzung der Entwicklungszusammenarbeit machen. Wir sind schließlich den Steuerzahlern gegenüber verantwortlich für das, was wir für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass Good Governance die Grundlage der Zusammenarbeit ist. Andernfalls nehmen wir billigend in Kauf, dass die Mittel versickern, anstatt dass sie dafür verwendet werden, wofür sie gebraucht werden. ({1}) Die Grünen haben - für uns in diesem Zusammenhang überraschend - eine unseren eigenen Einschätzungen weitgehend entsprechende Analyse vorgenommen; die unsrige haben wir in zahlreichen Anträgen, wenngleich breiter gefächert, formuliert. Sie stellen völlig zu Recht fest, dass die Ölexporte der Entwicklungsländer nicht zu mehr Demokratie und Transparenz geführt haben, dass Korruption und fehlende staatliche Strukturen entscheidende Merkmale dieser erdölexportierenden Länder sind. Die daraus hergeleiteten Forderungen greifen unsere Positionen auf. Deshalb würden wir gerne zustimmen. Doch wir können Ihnen nicht zustimmen, weil in manchen Bereichen wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Weil mir die Zeit wegläuft - Frau Präsidentin, ich habe es gesehen, und ich beeile mich auch, zum Ende zu kommen -, möchte ich hier als Beispiel einfach nur anführen, dass Sie auch fordern, dass die Weltbank und die Entwicklungsbanken überhaupt keine Kredite mehr für die Erdöl- und Erdgasprojekte vergeben. Das geht zu weit.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möglicherweise geht es jetzt auch bei Ihnen zu weit.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sofort fertig. - Heute Morgen haben wir beklagt, dass beispielsweise Länder wie China im eigenen Interesse Projekte entwickeln. Dann dürfen wir sie ihnen eben nicht vor ihren Rachen werfen, sondern dann müssen wir natürlich eine entsprechende Finanzierung ermöglichen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Das Erfreuliche an dem Politikfeld, das wir hier gemeinsam beackern, ist, dass es jenseits aller Wurzeln und Details im Kern einen Konsens darüber gibt, was wir wollen. Hier geht es um die entwicklungsorientierte Verwendung der Einnahmen der Entwicklungsländer aus den Rohstoffquellen. Das ist ein zentrales Anliegen zur Förderung der Stabilität in diesen Ländern. Weil es diesen Konsens gibt, erlaube ich mir an dieser Stelle, dieses Thema auch einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, nämlich aus der Perspektive der nationalen deutschen Interessen. Ich glaube, dass es auch den Entwicklungspolitikern gut ansteht, diese nationalen Interessen ab und zu in den Vordergrund zu stellen; denn es geht natürlich auch um die Akzeptanz der Entwicklungshilfe bei unseren Wählerinnen und Wählern in der Bundesrepublik Deutschland. Ich glaube auch, dass es uns deshalb gut ansteht, das zu tun, weil diese Interessen gar nicht gegenläufig sein müssen. Ein Interesse unserer Seite an Good Governance in den Entwicklungsländern entspricht natürlich auch dem Interesse der Bevölkerung vor Ort. Insofern wird es auch hier aus meiner Sicht keinen Dissens, sondern einen Konsens geben. Wenn ich mir die Situation in Deutschland anschaue, dann stelle ich fest, dass wir hinsichtlich der Rohstoffe ein hohes Maß an Importabhängigkeit haben und dass deshalb die Themen Entwicklung und Außenpolitik im Zusammenhang mit Rohstoffen und Energie jetzt plötzlich einen neuen und, wie ich meine, auch besonders positiven und wichtigen Stellenwert bekommen. Ich meine auch, dass wir mit unserem Verhalten und beim Umgang mit den Ressourcen ein Vorbild sein müssen. Wir müssen zeigen, dass wir auf der einen Seite Wohlstand schaffen und vergrößern und auf der anderen Seite im Interesse der Umwelt und des Klimas Ressourcen schonen können. Nur dann, wenn es uns gelingt, zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander vereinbar sind, haben wir auch eine Chance, dass uns die Entwicklungs- und die Schwellenländer bei diesem Prozess unterstützen und dass sie mitmachen und mit in dieses Boot kommen, in das sie unbedingt müssen, wenn wir zum Beispiel im Interesse des Klimaschutzes wirklich etwas bewegen wollen. ({0}) Nun sehe ich auch die Probleme, die wir haben: Rohstoffverknappung wegen neuer Wettbewerber - Indien und China - und ein Großteil der Ressourcen in politisch instabilen Ländern sowie der Versuch, dies machtpolitisch zu missbrauchen. Deshalb müssen wir hier in unserem Land folgenden Weg gehen: Diversifizierung der Rohstoffquellen und Rohstoffarten, Sicherung der Rohstoffversorgung durch den Einsatz erneuerbarer Energien und Sicherung der Ressourcenversorgung durch Pflege der Beziehungen zu Anbieter und Konkurrenten sowie durch Unterstützung stabiler Verhältnisse auf der Anbieterseite. Allerdings darf sich das eigene Interesse nicht darauf richten, wer am schnellsten und billigsten an Ressourcen aus Entwicklungsländern kommt. Horst Köhler hat in diesem Zusammenhang gesagt, es wäre eine Tragödie für die Menschheit, wenn nach der Sklaverei, dem Kolonialismus und dem Kalten Krieg jetzt ein neuer Megatrend - nämlich die Nachfrage nach Rohstoffen und Öl - afrikanische Bemühungen um Demokratie, gute Regierungsführung und Armutsbekämpfung unterlaufen würde. Ob diese Tragödie letztendlich eintritt, hängt in weiten Teilen nicht nur von den afrikanischen Ländern ab, sondern auch davon, wie wir uns verhalten und ob wir es schaffen, in diesem Bereich für Transparenz zu sorgen und verschiedene Fragen zu beantworten. SubsaharaAfrika zum Beispiel hat im Jahr 2006 Erdöleinnahmen in Höhe von 64 Milliarden US-Dollar erzielt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wo dieses Geld geblieben ist. Das meine ich mit Transparenz. Das muss auf beiden Seiten beobachtet werden. Dazu sind Kontrollmechanismen und ein Verhaltenskodex notwendig. Es ist sicherlich positiv, dass Deutschland als Mitinitiator an vorderster Front steht. Ich denke zum Beispiel an den Kimberleyprozess zur Zertifizierung von Rohdiamanten, den „Forest Law Enforcement and Governance Process“ zum Schutz des Waldes und die „Extractives Industries Transparency Initiative“ im Zusammenhang mit Öl, Gas und Bergbau. Mit all diesen Maßnahmen haben wir einen Weg eingeschlagen, der in die richtige Richtung führt. Doch auch wenn wir durchaus auf dem richtigen Weg sind, kommt es entscheidend darauf an, dass sich insbesondere die Schwellenländer China, Brasilien, Indien und beispielsweise auch Russland endlich beteiligen und vermehrt als Investoren auftreten. Insofern ist es positiv, dass mit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm ein entsprechender Dialog in Gang kommt und dass Rohstoffe und Good Governance zentrale Themen dieses Gipfels sein werden. Im Zusammenhang mit der Transparenz möchte ich noch einen Randaspekt ansprechen, nämlich die Zertifizierungssysteme. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Entwicklung im Bereich der Biomasse bei uns nur dann verteidigen und ausbauen können, wenn es uns gelingt, die Rohstoffe, die aus dem Ausland kommen bzw. kommen müssen, zu zertifizieren und zu belegen, dass sie aus nachhaltigem Anbau kommen und nicht beispielsweise zulasten der Regenwälder angebaut werden. ({1}) Lassen Sie mich noch einen letzten Aspekt ansprechen. Nicht alle Entwicklungsländer verfügen über Rohstoffvorkommen. Deshalb sollte man auch deren Situation beleuchten. Wie Sie alle wissen, stellen steigende Rohstoffpreise ein entscheidendes Problem für die Entwicklungsländer dar. Sie haben gravierende Folgen für deren Devisenausgaben. Kenia zum Beispiel hatte durch den Anstieg des Ölpreises von 2002 bis 2006 zusätzliche Devisenausgaben in Höhe von 800 Millionen US-Dollar zu verzeichnen. Das ist sehr viel Geld. Wir laufen Gefahr, wieder in die Verschuldungsproblematik der 70er-Jahre zurückzufallen. Das darf nicht passieren. Ich meine, das ist ein entscheidender Punkt, den man berücksichtigen sollte. Deshalb sollte Deutschland Energieversorgung nicht als Einbahnstraße betrachten, um sich mit Rohstoffen zu versorgen; vielmehr sollten wir auch die Chance sehen, durch deutsche Technologie Impulse zu geben, damit auch in den Ländern, die nicht über Rohstoffvorkommen verfügen, energieeffizient gewirtschaftet wird und die erneuerbaren Energien eine größere Rolle spielen. Das ist, glaube ich, entwicklungspolitisch von entscheidender Bedeutung. Den Antrag, den wir heute beraten, finde ich zwar inhaltlich gut, aber er ist insofern überflüssig, als dieses Thema bereits Bestandteil des Regierungshandelns der Großen Koalition ist. ({2}) - Das glauben Sie nicht? Ich behaupte es einfach. Sie haben anschließend die Chance, das zu widerlegen. Außerdem gibt es von den Koalitionsfraktionen einen weitergehenden Antrag, der sich zwar in der Überschrift sehr stark auf das Thema Energie bezieht, der aber das ganze Rohstoffthema beinhaltet. Deshalb brauchen wir Ihren Antrag nicht. Aber wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie unserer Meinung sind. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Heike Hänsel hat jetzt das Wort für Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Wir sehen, dass Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, einige gute Forderungen enthält. Allerdings halten wir sie für nicht ausreichend. Wir sprechen heute über die entwicklungspolitische Verwendung von Rohstoffeinnahmen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag unter anderem auf die Initiative EITI, eine Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie. Diese will die Bundesregierung beim G-8-Gipfel in Heiligendamm voranbringen. Es geht vor allem darum, Schwellenländer wie China in diese Initiative einzubinden. Der chinesischen Regierung wird fast täglich vorgeworfen, unlauteren Wettbewerb beim Kampf um Rohstoffe zu betreiben. Die deutsche Wirtschaft erhofft sich von dieser Transparenzinitiative einen Vorteil für die eigenen Unternehmen. Deshalb muss ich die grundsätzliche Frage stellen: Was steht bei dieser Transparenzinitiative eigentlich im Vordergrund? Geht es um Entwicklung und Armutsbekämpfung, oder geht es unter anderem darum, unbequeme Wettbewerber zu bremsen? Wenn es um ernsthafte Armutsbekämpfung geht, dann reicht diese Transparenzinitiative überhaupt nicht aus. ({0}) Sie ist eine rein freiwillige Initiative ohne Sanktionsmöglichkeiten. Sie sagt auch nichts über die Verwendung der Rohstoffeinnahmen, geschweige denn über die Verteilung der Gewinne aus. Das Mindeste wäre - das fordern wir -, eine international bindende Konvention daraus zu machen. ({1}) Davon hält aber unter anderem der BDI, der Bundesverband der Deutschen Industrie, nicht viel, der nach wie vor auf die Freiwilligkeit dieser Initiative pocht. Er hat vor ein paar Wochen seinen zweiten Rohstoffkongress mit hohem Besuch durchgeführt. Kanzlerin Angela Merkel hat dort eine „enge und koordinierte Zusammenarbeit bei der deutschen Rohstoffsicherung“ zugesagt und gleich die Einrichtung eines vom BDI gewünschten interministeriellen Ausschusses für Rohstoffpolitik angekündigt, an dem auch das BMZ beteiligt sein wird. Der BDI formuliert seine Ansprüche an die deutsche Entwicklungspolitik so: Die Entwicklungspolitik bietet viel mehr Möglichkeiten, zur Sicherheit unserer Rohstoffversorgung beizutragen, als gemeinhin angenommen wird, sie kann in Entwicklungsländern hinwirken auf Rechtssicherheit, Investitionsschutz, Abbau von Exportbeschränkungen oder Unterbindung des illegalen Exports von Rohstoffen … Und jetzt zur Verwendung und Verarbeitung der Rohstoffe in den betreffenden Ländern. Sämtliche Freihandelsabkommen der EU enthalten mittlerweile die Forderung nach Abbau von Exportbeschränkungen, Herr Riester. Das verhindert die inländische Verarbeitung der Rohstoffe. Der BDI schließt zudem nicht aus, dass die Sicherheit der Rohstoffversorgungswege im Extremfall auch die Sicherheitspolitik betreffen kann. Das heißt im Klartext: Ein militärischer Einsatz zur Sicherung der Rohstoffversorgung wird nicht ausgeschlossen. Ähnliche Sätze finden wir auch im neuen Weißbuch der Bundeswehr. Wir lehnen diese Politik ab. ({2}) Wenn wir über Rohstoffe reden, dann dürfen wir nicht nur über Bedingungen von Erschließung, Handel und Verbrauch reden, sondern müssen auch über Machtund Besitzstrukturen im globalen Energie- und Rohstoffsystem sprechen. Die Gewinne landen meistens noch immer bei den multinationalen Konzernen. Wir wollen ganz andere Ansätze, die dazu führen, dass die Rohstoffeinnahmen in den betreffenden Ländern verbleiben und für eine nachhaltige Entwicklung eingesetzt werden. Solche Ansätze gibt es in Lateinamerika, zum Beispiel in Bolivien oder Venezuela. Bolivien hat durch die Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorräte im letzten Jahr seine Einnahmen verdoppelt und verwendet diese Gelder nun für soziale Programme. Das ist für mich eine entwicklungspolitisch sinnvolle Verwendung. ({3}) Ecuador hat vorgeschlagen, Rohstoffe wie Erdöl erst gar nicht zu fördern und dafür Kompensationszahlungen zu bekommen. Das wären aus meiner Sicht Ansätze, die man auch bei den Vereinten Nationen ins Auge fassen könnte, zum Beispiel Kompensationszahlungen für nicht gefördertes Erdöl vorzunehmen. Das sind langfristige, richtig gute Ansätze, die wir fördern müssen, anstatt uns ausschließlich auf freiwillige Initiativen zu begrenzen. Abschließend noch einmal: Der Antrag der Grünen ist gut gemeint, aber die herrschenden Machtstrukturen werden überhaupt nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: Sie wenden sich sogar noch an die G 8 und fordern, dass ausgerechnet die G-8-Staaten, die größten Klimakiller und rohstoffhungrigsten Länder, einen Aktionsplan zum Umgang der Entwicklungsländer

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

mit ihren Rohstoffeinnahmen entwickeln sollen. Das lehnen wir absolut ab. Ich kann nur sagen: Wir unterstützen soziale Bewegungen, die gegen diese Ausbeutung der Rohstoffländer kämpfen. Diese kommen nämlich nach Heiligendamm zum G-8-Gipfel. Dort können sie viel lernen. Wir werden auch dort sein. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Gäste! Ich bin Herrn Riester sehr dankbar, dass er diesen nachdenklichen Ton in die Debatte eingebracht hat, weil dadurch die Debatte eine ganz andere Richtung genommen hat als das, was wir das letzte Mal, als wir über diesen Rohstoffantrag zusammen mit dem Antrag der Koalition diskutiert haben, besprochen haben. Sie haben ein Thema angesprochen - historische Schuld und Gegenwart - und haben gesagt, der grüne Antrag sei holzschnittartig. Ich möchte darauf reagieren und sagen, dass wir uns aus ganz bestimmten Gründen auf bestimmte Punkte konzentrieren wollten, weil wir der Meinung sind, dass wir in die Zukunft blicken müssen, dass sich Entwicklungen abzeichnen, die wir jetzt mit bestimmten Rahmensetzungen, mit dem Einrammen von Pflöcken begrenzen müssen, und dass wir darauf reagieren müssen. Das, was Sie, Herr Riester, gefordert haben, ist offenkundig nicht konsensfähig. Ein Teil davon ist im Koalitionsantrag enthalten, aber eben nicht alles. Deshalb müssten Sie Ihren Antrag einer Nacharbeit unterziehen. Ich möchte das an einem Punkt festmachen. Sie haben gesagt, wir hätten das Thema Bildung nicht angesprochen. Wir haben es ganz kurz erwähnt, nämlich mit dem Satz: Aufgrund von Windfall Profits durch die hohen Rohstoffpreise auf den Weltmärkten existieren überdies kaum Anreize für Investitionen in Bildung und Forschung. Das haben wir sehr wohl deswegen hineingeschrieben, weil es so ist und weil dieser Punkt angesprochen werden muss. Wir haben vier konkrete Forderungen, die uns wichtig sind und die wir in den 13 Punkten unseres Antrages ausführlich erläutert haben. Was sind das für vier Punkte? Es geht einmal um die OECD-Leitlinien, die hier niemand kennt, die aber sehr wichtig sind. Sie würden das ja unterstützen. Ich würde mich freuen, wenn das das nächste Mal in Ihrem Antrag stehen würde. Wir haben gefordert: keine Kredite der Weltbank oder der Entwicklungsbanken an Erdöl-, Gas- und - wenn man so will; wenn man dem Salim-Bericht folgt - an Extractive-Industries-Projekte. Diese Forderung wurde schon im Salim-Report aufgestellt; darüber wurde auch im Bundestag öffentlich diskutiert. Was erleben wir? Die Weltbank erhöhte 2005, 2006 massiv die Investitionen in diese Bereiche. Das ist nicht nachhaltig. Das wollten wir in unserem Antrag klipp und klar festhalten. ({0}) Der nächste Punkt. Wir haben in unserem Antrag gefordert: Wir wollen mehr Transparenz hinsichtlich der Bürgschaftsentscheidungen der Bundesregierung. Auch darüber müssen wir hier diskutieren. Das wird im Bundestag normalerweise nicht eingefordert. Deswegen ist es in dem Antrag ebenfalls enthalten. Der aus meiner Sicht wichtigste Punkt betrifft die Konfliktrohstoffe. Die Konfliktrohstoffe sind auch deswegen ein Anliegen der Nichtregierungsorganisationen, weil wir, in die Zukunft gerichtet, feststellen müssen, dass wir durch die Verknappung der Rohstoffe vor der Situation stehen, durch die Förderung von weiteren Rohstoffen Konflikte zu schaffen. Ich möchte einmal kurz zitieren, was die Große Koalition in ihrem Antrag geschrieben hat. Ich meine, Sie müssten über die Konfliktrohstoffe intensiver diskutieren. Sie wollen zwei Regionen in das engere Blickfeld nehmen, die Länder Zentralasiens und die Staaten Nordafrikas und der Subsahara. Sie schreiben: Deutschland hat ein vitales Interesse daran, die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung dieser rohstofffördernden Staaten und Regionen allgemein zu unterstützen und damit letztlich die eigene Energieversorgung und -preisentwicklung zu stabilisieren. Wir wissen, dazu gehört das Land Turkmenistan. Welche Bank verwaltet die Gelder von Turkmenistan? Es ist die Deutsche Bank. Damit schließt sich der Kreis, und damit kommen wir zu dem, was wir in unseren Antrag geschrieben haben. ({1}) Es geht darum, zu verhindern, dass solche Gelder bei der Deutschen Bank, bei unseren Investitionsinstitutionen angelegt werden und damit unmöglich gemacht wird, dass Gerechtigkeit in diesem Land Einzug hält. Wir wissen, wie der Diktator dort geherrscht hat. Deswegen ist es so wichtig, dass die Gelder, die aus den Verkäufen von Rohstoffen, die dem Volk geraubt werden, stammen, auf internationaler Ebene geächtet werden und darauf hingewirkt wird, dass so etwas nicht mehr geschieht. Unser Antrag ist in die Zukunft gerichtet. Deswegen haben wir nicht die ganze Vergangenheit aufgearbeitet. Wir haben uns nicht so sehr auf die Gegenwart bezogen, sondern wir haben deutlich gemacht, was wir tun müssen. Wir müssen jetzt handeln. Dafür ist der Antrag das geeignete Mittel. Sie können eigentlich nur zustimmen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Entwicklung nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5273, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4054 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Für die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China - zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China - Drucksachen 16/4559, 16/855, 16/5146 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Volker Beck ({1}) Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in China vollzieht sich in einer beeindruckenden Geschwindigkeit. China ist in jeder Hinsicht zu einem Global Player geworden. Die Volksrepublik ist heute ein wichtiger Akteur und Partner mit Verantwortung in der internationalen Politik und in unserer globalisierten Wirtschaft. Ein Land mit dieser Bedeutung steht natürlich auch im besonderen Fokus der Weltöffentlichkeit und hat auch besondere Aufmerksamkeit verdient. Dies meine ich zunächst durchaus in positivem und anerkennendem Sinne. Doch diese Aufmerksamkeit muss alle Bereiche in der gesellschaftlichen Entwicklung in diesem großen Land gleichermaßen betreffen. Wir wollen mit diesem Antrag die Bereiche, in denen diese Entwicklung noch nicht das Tempo erreicht hat, das erforderlich wäre, konkret beleuchten. Wir wollen dabei keine Bereiche aussparen. Ich denke, China ist sich dessen bewusst und sollte dies auch akzeptieren. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Volksrepublik China sind in ihrer Geschichte selten besser gewesen als heute. Wir haben ein Interesse daran, das Verhältnis so zu gestalten, dass es stark und belastbar genug ist, dass auch kritische Fragen thematisiert werden können. Es geht uns dabei um eine konstruktive bilaterale Zusammenarbeit, auch und gerade in Fragen der Menschenrechte. Wir wollen diese Diskussion rational führen. Es geht uns nicht um eine pauschale Verurteilung, und wir tun dies auch nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Es geht um ganz konkrete Missstände, die wir in unserem Antrag benennen und die zum Wohl der Menschen einer Veränderung bedürfen. Lassen Sie mich Folgendes an dieser Stelle mit der gebotenen Nüchternheit sagen: Die Auseinandersetzung mit gravierendsten Menschenrechtsverletzungen, wo auch immer auf dieser Welt sie geschehen, ist eine Notwendigkeit in allen nationalen Parlamenten. Sie ist eine Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen, und sie ist - darüber sind wir schon lange hinweg - keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes, sondern eine Erfüllung international geltender Normen. ({0}) Das Europäische Parlament hat vor zwei Wochen in Straßburg den Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage in der Welt und zur Menschenrechtspolitik in der Europäischen Union verabschiedet. Darin heißt es - dem stimme ich uneingeschränkt zu -, dass der Menschenrechtsdialog auf dieser Ebene mit der Volksrepublik China fortgesetzt werden muss; Themen wie „Zwangsarbeit, Meinungs- und Religionsfreiheit, die Rechte religiöser und ethnischer Minderheiten und das Lagersystem Laogai sollten im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden“. In der kommenden Woche findet der nächste EU-China-Menschenrechtsdialog in Berlin unter der deutschen Ratspräsidentschaft statt. Deshalb war das Ansinnen der chinesischen Botschaft, das zu überdenken und eine Beschlussfassung auszusetzen, nicht wirklich zielführend. Wir wollen, dass diese Position des Deutschen Bundestages bei der Führung des nächsten Menschenrechtsdialoges Bestandteil der Verhandlungen ist. Ich glaube, das ist die richtige Antwort auf all das, was uns hier in diesen Tagen vorgehalten wird. ({1}) In den letzten Jahren - das verkennt keiner bei uns ist in China durchaus ein Fortschritt bei wirtschaftlichen und kulturellen Rechten zu beobachten. Bei der Umsetzung der individuellen Freiheits- und Menschenrechte ist aber noch ein ganz großer Rückstand aufzuholen. Gerade bei Reformen im Justizwesen, vor allem im Bereich des Strafrechts, herrscht akuter Nachholbedarf. Trotz wiederholter Forderungen aus dem In- und Ausland, das System der Laogai-Lager abzuschaffen, wird diese Form der Straf- und Arbeitslager weiter im großen Maßstab genutzt. Dieses Straflagersystem wurde erstmals 1957 flächendeckend eingesetzt. Seit Jahrzehnten und noch heute wird das System harter Arbeit als Umerziehungsmethode für Systemabweichler jeder Art, für Kleinkriminelle, für Angehörige von Religionsgemeinschaften, für Homosexuelle und für politische Kritiker genutzt. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen von Wanderarbeitern, Obdachlosen und unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen. Ohne rechtsstaatliche Verfahren werden die Betroffenen inhaftiert und „politisch umerzogen“. Umerziehung durch Arbeit - Lao Jiao - heißt eine Form der Administrativhaft, durch die politische Dissidenten als „antisozialistische“ und „parteifeindliche Elemente“ ohne gerichtliche Überprüfung bis zu vier Jahren in solche Arbeitslager verbracht werden können. Die Entscheidungen werden von Komitees aus Vertretern der lokalen Verwaltung und der Büros für öffentliche Sicherheit getroffen. Die Haft- und Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Körperliche und psychische Demütigung und Folter sind nicht selten. Die Vorschriften zur Verhängung der Haft sind nur teilweise öffentlich einsehbar, und ihre Formulierungen sind oftmals derart vage und vieldeutig, dass sie einer eigenmächtigen Auslegung Tür und Tor öffnen. Nach offiziellen Angaben der chinesischen Behörden sitzen circa 220 000 Menschen in solchen Umerziehungslagern ein. Schätzungen von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen gehen allerdings von einer vielfach höheren Zahl inhaftierter Menschen aus. Wegen der restriktiven Informationspolitik der Regierung ist es schwierig, zu sagen, wie viele Umerziehungslager es tatsächlich in jeder Provinz gibt. Eine, wie ich finde, legitime Forderung in unserem Antrag ist deshalb, die Regierung der Volksrepublik China aufzufordern, die genaue Zahl und die genaue Lage dieser Lager anzugeben und Besuche internationaler Beobachter zu gestatten. Der Kollege Haibach wird eine Delegation unseres Ausschusses im Herbst in die Volksrepublik China anführen. Wir werden darauf bestehen, dass wir Zugang zu einem solchen Lager haben. Ich glaube, auch das gehört zur Vertrauensbildung in der internationalen Gemeinschaft. ({2}) Es ist an der Zeit, diesem menschenrechtswidrigen System ein Ende zu setzen. Ein solches Unrechtsregime verhindert die weitere Entwicklung Chinas zu einem freiheitlichen, toleranten und demokratischen Rechtsstaat. Das System der Arbeitslager muss deshalb mittelfristig abgeschafft werden, und kurzfristig müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in diesen Lagern spürbar verbessert werden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen - wie wir es auch in den Dialogen tun -, an China zu appellieren, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der von China bereits 1998 gezeichnet wurde, endlich zu ratifizieren. ({3}) Ich möchte auch daran erinnern, dass die Volksrepublik als Mitgliedstaat der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO, Konventionen über die Rechte von Arbeitern und Arbeitsbedingungen unterzeichnet hat. Die chinesischen Behörden haben den Willen bekundet, das System der Administrativhaft umzugestalten. Wir spüren auch in den Dialogen, die wir führen, dass eine entsprechende Bereitschaft zur Veränderung des Strafrechts- und des Verwaltungsrechtssystems durchaus besteht. Wir sind sehr gespannt darauf, ob die Ankündigungen auf der jüngsten Tagung des Nationalen Volkskongresses, dass in China eine Reform der Administrativhaft eingeführt wird und im Jahr 2008 Geltung erlangt, Wirklichkeit werden. Angesichts der bisherigen Ankündigungen und ihrer Folgen muss ich allerdings sagen: Ich habe meine Zweifel. Aber ich denke, wir sollten an dieser Stelle weiterarbeiten. Meine Damen und Herren, die Theorie ist die eine Seite der Medaille, die Praxis die andere. Neben den Bekundungen der Regierung bleibt das Problem der Implementierung und bleiben die Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Umsetzung bestehen. Insbesondere die Menschen auf dem Land haben unter der Willkür der lokalen Bürokratien und der Parteisekretäre zu leiden, die es zu kontrollieren gilt. Daneben berichten Amnesty International und Human Rights Watch, dass im Vorfeld der Olympischen Spiele im Sommer 2008 die Anwendung der Administrativhaft, des Systems der Umerziehung durch Arbeit durch Behörden genehmigt wird, um Peking einerseits von Landstreichern, Kleinkriminellen und politisch Andersdenkenden „zu befreien“ und andererseits öffentliche gerichtliche Verfahren zu umgehen. Wir alle freuen uns auf die Olympischen Spiele. Sie mögen ein beeindruckendes Fest des Friedens und der Völkerverständigung werden. Aber oft genug sind große Sportveranstaltungen schon zu Propagandazwecken missbraucht worden. Deshalb ist es im Vorfeld dieses Events die Verpflichtung aller, insbesondere von Politik und Sport, nicht die Augen vor den Geschehnissen in diesem Land zu verschließen, sondern dieses Ereignis und die damit verbundene Aufmerksamkeit zu nutzen, um auf eine deutliche Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China hinzuwirken. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Toncar spricht jetzt für die FDP.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das, was hier gerade stattfindet, ist eine menschenrechtliche Sensation. So hat es jedenfalls die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in einer Meldung vom Dienstag dieser Woche bezeichnet. Auch ich möchte meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass es möglich war, den Antrag, den die FDP im letzten Jahr eingebracht hat, als Grundlage zur Erarbeitung eines fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrages zu verwenden. ({0}) Im Wesentlichen sind es drei Punkte, die wir an den sogenannten Laogai-Lagern zu kritisieren haben. Der erste Aspekt betrifft das Prinzip der Administrativhaft: dass eine lokale Behörde und nicht etwa ein Richter anordnen darf, dass ein Mensch bis zu vier Jahre lang festgehalten wird. Das ist ein klarer Verstoß gegen Art. 9 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Wie berechtigt die Kritik, die in Europa an der Administrativhaft geäußert wird, ist, zeigt sich daran, dass die Administrativhaft für die chinesische Legislative eines der zentralen Reformprojekte der nächsten Jahre darstellt. Wir können davon, wie ich glaube, keine Abschaffung dieser Lager erwarten. Aber das macht deutlich, dass die Notwendigkeit einer Reform bzw. die Notwendigkeit, dieses System zu überprüfen, selbst in China erkannt wird. Daher glaube ich, dass unsere Kritik gar nicht so falsch sein kann. ({1}) Zweiter Punkt. Die Arbeitsbedingungen in den LaogaiLagern sind menschenunwürdig. Zwangsarbeit darf es nicht geben. Das gilt auch für Gefangene. Überall auf der Welt haben Menschen ein Anrecht darauf, dass ihre Arbeitskraft nicht ausgebeutet wird, indem sie gezwungen werden, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten, ohne auch nur einen freien Tag im Jahr zu haben. So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Dritter Punkt. Die Laogai-Lager werden im Gegensatz zu manch anderen Gefängnissen als Instrument des politischen Kampfes genutzt. Dieses System richtet sich nicht nur gegen Kleinkriminelle, sondern auch gegen sogenannte asoziale Elemente. Dazu gehören ausdrücklich auch die Gruppe der politischen Dissidenten, der sogenannten antisozialistischen oder parteifernen Elemente, und religiöse Minderheiten wie Falun Gong. Von den Häftlingen, die in diesen Lagern untergebracht sind, ging keine Gefahr für das chinesische Recht aus. Diese Menschen haben keine Straftaten wie Diebstahl oder Körperverletzung begangen. Sie sollen schlicht und ergreifend aufgrund ihrer Weltanschauung oder Religion unterdrückt oder umerzogen werden. Dieser Aspekt macht deutlich, warum die Laogai-Lager ein ganz besonders berüchtigtes und schlimmes System darstellen, das abgeschafft werden muss. ({2}) Es ist keine Frage der Zeit, bis die Laogai-Lager der Vergangenheit angehören, sondern es ist eine Frage des politischen Willens. Es stimmt, dass sich im Zuge einer zunehmend positiven Entwicklung eines Landes auch die Situation im Bereich der Menschenrechte von allein verbessert. Aber es gibt Menschenrechte, die so elementar sind, dass wir sie nicht einfach der Entwicklung des Landes überlassen und sie zehn Jahre lang ignorieren können. Wenn es um die Einhaltung elementarer Menschenrechte geht, muss eine Verbesserung sofort eintreten. Daher müssen wir sie heute einfordern. Das tun wir mit unserer heutigen Initiative. Ein Punkt, der mir noch besonders wichtig ist: Wir sollten alles dafür tun, zu vermeiden, dass in den LaogaiLagern hergestellte Produkte auch auf den deutschen Markt kommen. Ich bin mir sicher, dass unsere heimischen Verbraucher selber solche Produkte nicht wollen. Kontrollen von Zollbehörden können die Herkunft eines solchen Produktes zwar manchmal, aber oft eben auch nicht aufdecken, zumal wenn es sich nur um Komponenten, um einzelne kleine Teile von importierten Produkten handelt. Wer soll das herausfinden? Wie soll man das erkennen? Deswegen ist es wichtig, dass wir auf die Hersteller und die Importeure zugehen, dass wir sie motivieren, sich genau darüber zu informieren, wo sie ihre Komponenten beziehen, mit wem sie auf chinesischer Seite zusammenarbeiten und ob sich nicht vielleicht doch auch eine Laogai-Einrichtung hinter einer gewöhnlichen Fabrik verbirgt. Beispielhaft möchte ich - weil es wirklich ein gutes Beispiel ist - eine Initiative der deutschen Spielwarenindustrie nennen. Die hat in den letzten Monaten über den Branchenverband eine Liste von 125 deutschen Spielwarenherstellern erstellt. Da fehlt praktisch keiner von denen, die man kennt. Diese Hersteller haben sich verpflichtet - es sind viele, die auch in China produzieren -, sich darüber zu informieren, ob alle Spielwaren unter menschrechtskonformen Bedingungen hergestellt worden sind. Ich glaube, was die deutsche Spielwarenindustrie geschafft hat, das können auch andere Branchen. Ich halte diese Initiative ausdrücklich für vorbildlich und nachahmenswert. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für nötig, dass wir uns auch mit der chinesischen Seite über dieses Thema auseinandersetzen, und zwar auch außerhalb der institutionalisierten Menschenrechtsdialoge, die stattfinden. Deswegen finde ich es zunächst einmal richtig, dass wir auf unsere Initiative auch von chinesischer Seite eine Reaktion bekommen. Die Frage ist nur, ob man mit einer „Kaltfront“ oder mit einer sehr pauschalen, schnellen Drohung hinsichtlich der Qualität der Beziehungen in der Sache unbedingt weiterkommt. Die Chinesen haben jedes Recht der Welt, ihre Meinung zu unserem Antrag zu äußern. Aber sie täten auch gut daran, uns zu ermöglichen, beispielsweise diese Lager zu sehen. Es ist doch bezeichnend, dass es entgegen aller internationalen Übung, entgegen sämtlichen Standards nicht gelingt, die UN-Sonderberichterstatter in diese Lager zu lassen, dass es nicht gelingt, das Rote Kreuz in diese Lager zu lassen. Ein allererster Beitrag dafür, dass man sich auch mit der chinesischen Seite sachlich über dieses Thema auseinandersetzen könnte, wäre die Schaffung von Transparenz. Lassen Sie uns diese Lager besichtigen! Lassen Sie uns ein Urteil vor Ort fällen! Dann können wir mit der chinesischen Seite objektiver über die Situation in diesen Lagern diskutieren. Die pauschale Drohung hinsichtlich der Qualität der Beziehungen hilft mit Sicherheit nicht weiter. Einen Erfolg - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - hat unsere Initiative mit Sicherheit schon jetzt gehabt: Sie hat dafür gesorgt, dass ein in Europa bisher kaum bekanntes Thema auf die Tagesordnung gekommen ist und dass es im öffentlichen Bewusstsein ist. Vielleicht ist das ein Beitrag - neben dem, was wir im Antrag verlangen -, dass die Laogai-Lager schon bald der Vergangenheit angehören werden. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Erika Steinbach. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „China droht dem Bundestag mit Kaltfront“ titelt heute die „Tageszeitung“. Der Deutsche Bundestag lässt sich nicht drohen, von niemandem. Wir sind auch Anwalt von Menschen, die in ihren Ländern keinen Anwalt haben. Menschenrechte bedürfen des Anwaltes. Der Deutsche Bundestag nimmt diese Themen auf, ob sie China oder andere Länder betreffen. Das mag letzten Endes auch China akzeptieren. ({0}) Genauso wie die russischen Gulags längst zum Inbegriff für … systematische Menschenverachtung geworden sind, sollte auch das chinesische Wort Laogai in jedes Wörterbuch aufgenommen werden. Das ist ein Zitat von Harry Wu, dem Vorsitzenden der Laogai-Stiftung und vielen von Ihnen als sehr engagierter Kämpfer gegen das chinesische Laogai-Zwangsarbeitersystem bekannt. Von ihm wissen wir sehr viel. Sein Wunsch hat sich inzwischen erfüllt. Der Duden hat den Begriff Laogai mittlerweile in seinen Wortschatz aufgenommen. Ich wünsche mir allerdings, dass dieses Wort eines Tages wieder daraus verschwinden kann, nämlich dann, wenn der Schrecken, den es bezeichnet, auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet sein wird, wo er hingehört. 19 Jahre hat der Katholik Harry Wu als sogenannter rechter Abweichler in einem der chinesischen LaogaiLager eingesessen. Er selbst bezeichnet diese Lager als ein „ausgeklügeltes System für die physische, geistige und psychische Vernichtung eines Menschen“. In der Tat handelt es sich derzeit um das weltweit größte System von Umerziehungs- und Arbeitslagern - eine moderne Form der Sklaverei. Bis zu 50 Millionen Menschen, so schätzt man, haben seit der Einführung des Laogai-Systems unter Mao Zedong ihr Leben in diesen Lagern gefristet. Unabhängige Schätzungen gehen davon aus, dass gegenwärtig 4 bis 6 Millionen Chinesen - die Zahl ist nicht genau bekannt, aber wir wollen das irgendwann auch einmal wissen - in bis zu 1 000 Lagern einsitzen. Dazu gehören politisch Inhaftierte genauso wie Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten wie Tibeter, Mongolen, Uiguren und Falun-Gong-Praktizierende; aber auch Drogensüchtige und Homosexuelle werden oft jahrelang in Lagerhaft genommen. Das chinesische Strafgesetzbuch sieht vor, dass jeder arbeitsfähige, rechtskräftig verurteilte Verbrecher eine - wie es da heißt - Reform durch Arbeit durchlaufen soll. Nicht alle Laogai-Insassen sind jedoch nach rechtsstaatlichen Verfahren - selbst nach chinesischen Maßstäben von Rechtsstaatlichkeit, die der unseren durchaus nicht entspricht - bzw. Verfahren, die in China für rechtsstaatlich gehalten werden, verurteilt worden. Die sogenannte Administrativhaft macht es möglich, dass missliebige Personen einfach so per Polizeiverfügung bis zu drei Jahre eingesperrt werden können. Davon wird in der Praxis sehr rege Gebrauch gemacht. Die Betroffenen haben dann überhaupt kein Recht auf Verteidigung oder Berufung. Nicht selten werden Aussagen, die durch Folter erpresst wurden, als Geständnis deklariert. Die Lager - das wurde auch schon deutlich - sind an Fabriken, Minen oder Farmen angeschlossen. Hier werden die Häftlinge bis zu 18 Stunden täglich zur unentgeltlichen Arbeit gezwungen. Wer das Arbeitspensum nicht schafft, dem droht dann auch noch Nahrungsentzug mit der Folge, dass er noch schlechter arbeiten kann. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind menschenverachtend. Misshandlungen, Mangelernährung, auch sexueller Missbrauch sind dort trauriger Alltag. Angewandte Foltermethoden sind seit jeher aus kommunistischen und anderen Lagersystemen bekannt, nämlich Hiebe, Schlafentzug, Stromschläge oder psychische Folter. All das kennen wir aus anderen Lagersystemen. Neben Zwangsarbeit ist Gehirnwäsche, die sogenannte Gedankenreform - man muss sich das Wort Gedankenreform einmal vorstellen -, eine zweite Komponente des Laogai-Systems. Die Lagerinsassen müssen ihre realen oder auch vermeintlichen Missetaten gestehen, Selbstkritik üben und schließlich Reue zeigen. Ziel ist es, ihren Willen zu brechen und ihre Selbstachtung zu untergraben, um sie so zu treuen Anhängern des Sozialismus chinesischer Prägung umzuerziehen. Ein besonders schockierender Auswuchs dieses Systems hat uns in den letzten Monaten immer wieder beschäftigt, nämlich ein blühender Organhandel. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass toten Häftlingen Organe entnommen und diese gewinnbringend für Transplantationszwecke weiterverkauft werden. Dies alles geschieht laut offizieller chinesischer Lesart mit der angeblich freiwilligen Zustimmung der Gefangenen bzw. deren Familienangehörigen. In einem solchen Lagersystem muss allerdings jede angeblich freiwillig abgegebene Erklärung als höchst fragwürdig betrachtet werden. Ich traue dem Ganzen nicht über den Weg. Besonders erschütternd sind Berichte, die man immer wieder einmal hört, über Tötungen ausschließlich zum Zwecke der Organentnahme. Dabei sollen durch zuvor stattfindende Reihenuntersuchungen geeignete Personen identifiziert werden, die dann erst bei Bedarf getötet werden. Die chinesische Regierung hat inzwischen angekündigt - das ist immerhin ein Fortschritt -, den illegalen Handel mit Organen gesetzlich zu unterbinden. Die Gesetzesänderung ist offensichtlich eine Reaktion auf den anhaltenden internationalen Druck von Politikern und Menschenrechtsorganisationen. Das macht auch deutlich, wie wichtig es ist, dass wir im Bundestag über diese Themen sprechen. Organentnahme ohne Einwilligung des Spenders soll nunmehr strafrechtlich verfolgt werden. Das wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung. Ob jetzt nur Papier beschrieben wurde oder sich die Praxis tatsächlich ändert, wird sich zeigen. Geschäfte werden jedoch nicht nur mit den Organen der Häftlinge gemacht, sondern auch mit ihrer kostenlosen Arbeitskraft. Was die Aufklärungsarbeit erschwert, ist ein mangelnder Überblick unsererseits über Produktionsstätten und Produktionsmethoden. Daher ist es nicht ganz einfach, nachzuvollziehen, welche Produkte tatsächlich aus Zwangsarbeiterlagern kommen. China verweigert - mit ganz wenigen Ausnahmen - internationalen Delegationen regelmäßig einen Besuch in den Lagern. Unsere Ausschussvorsitzende musste das kürzlich selbst erfahren, als sie China besuchte. Vielleicht haben die Kollegen beim nächsten Besuch mehr Erfolg; ich hoffe es sehr. ({1}) - Ich drücke die Daumen. Nur der Aufklärungsarbeit von Menschen wie Harry Wu ist es zu verdanken, dass wir etwas Licht in das Dunkel bekommen haben und dass wir immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen hingewiesen worden sind. Die chinesische Regierung bestreitet offiziell den Export von Laogai-Produkten. De facto werden sie aber in alle Welt exportiert. So werden beispielsweise 20 Prozent der chinesischen Kohleproduktion durch LaogaiHäftlinge gefördert, und es ist zu vermuten, dass ein Drittel des chinesischen Weltmarkttees aus diesen Lagerproduktionen stammt. Mit dem Laogai-System stehen dem chinesischen Regime Millionen von kostenlosen Arbeitskräften für zahllose Produkte zur Verfügung. Damit bekommt die Aussage „Made in China“ einen besonders bitteren Beigeschmack. Allen internationalen Protesten zum Trotz hat China Anfang dieses Jahres angekündigt, die Laogai-Lager und die Administrativhaft nicht abzuschaffen, sondern lediglich zu verbessern. Berichten zufolge wird über eine Umwandlung der Laogai-Lager in ein System von Erziehungsanstalten nachgedacht. Ich halte es für wichtig, dass man sie nicht umbenennt, sondern ganz einfach abschafft, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. China hat kürzlich angekündigt, dass es auch in Zukunft keine unabhängige Justiz geben wird. Das lässt für die Bekämpfung von Folter nichts Gutes erahnen, da China zwar Fortschritte bei der Gesetzgebung macht, aber bei der Durchsetzung von Recht nach wie vor die Kommunistische Partei die Entscheidung über Urteile fällt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der große Chinese Konfuzius sagte: „Einen Fehler begangen haben und ihn nicht korrigieren: Erst das ist ein Fehler.“ - Der chinesische Drache ist ein Symbol für Weisheit. So können wir vielleicht gemeinsam hoffen, dass China seine menschenverachtende Politik in Weisheit endlich korrigiert. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Leutert hat jetzt das Wort für die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Auch für uns besteht kein Zweifel, dass dieses LaogaiLagersystem keiner menschenrechtlichen Betrachtung standhält, dass es verurteilt und abgeschafft gehört. ({0}) Trotzdem möchte ich auf zwei Punkte des Antrags kritisch eingehen. Der erste Punkt ist, wie ich vermute, ein Lapsus, aber doch etwas zynisch: Den US-Kongress als Kronzeugen der Menschenrechte heranzuziehen, wenn es um ein Lagersystem geht, das wir verurteilen wollen, halte ich nun wirklich für verfehlt und zynisch. ({1}) Gerade die USA, die mit Guantánamo ein Lagersystem - das ist ja bekannt - aufgebaut haben! Von den Amerikanern habe ich bis heute noch kein Zeichen, ob ich meine Reise nach Guantánamo antreten darf. Der Botschaftsrat hat uns in Vorbereitung auf unsere Delegationsreise nach China immerhin angekündigt, unser Vorhaben zu unterstützen, dieses Lager zu besuchen. ({2}) - Diesen Vergleich muss man sich schon gefallen lassen, wenn man die USA im Antrag erwähnt. ({3}) Ich bin der Meinung, man sollte das Angebot des Botschaftsrats annehmen und entsprechend handeln. Punkt zwei; das ist der inhaltlich stärkere Kritikpunkt. Uns geht der Antrag bezüglich der Kritik an der Zwangsarbeit einfach nicht weit genug. In diesem Antrag wird Zwangsarbeit nur mit Blick auf die Laogai-Lager verurteilt. Die Zwangsarbeit bei den „Normalarbeitsverhältnissen“ wird nicht angesprochen. Das führt meines Erachtens zu einer Verharmlosung der Situation in der übrigen Arbeitswelt in China. Ich möchte ein Beispiel nennen. Ich bin erstaunt, dass niemand sonst dieses Beispiel genannt hat. Wir reden im Forderungskatalog von einer Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft. Kollege Toncar, Sie hatten die Spielwarenindustrie angesprochen. Ich nenne einmal ein anderes Beispiel. Die „taz“ titelte am 8. Mai 2007 - es ist also kein alter Bericht -: Teuer bezahlte Aldi-Schnäppchen Darunter heißt es: Aldi ist der achtgrößte Textilhändler der Republik. Viele Hemden und Hosen kommen aus China, wo die Näherinnen oft sieben Tage die Woche schuften, neben den Fabrikhallen schlafen und weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Weiter heißt es: Morgens um acht haben sie an der Maschine zu sitzen, abends um neun endet ihr Werktag … Das ist also ein Dreizehnstundentag. In manchen Fabriken gilt die 7-Tage-Woche … Um noch eins draufzusetzen: Wer kündigen will, braucht dafür die Erlaubnis des Arbeitgebers … Nichts anderes schreiben wir zu dem Laogai-Lagersystem. Es gibt dort eine Siebentagewoche, einen Sechzehnstundentag; die Leute sind eingesperrt und Repressalien ausgesetzt. Wenn man seinen Arbeitgeber fragen muss, ob man kündigen darf, ist man natürlich ebenso eingesperrt. Wenn dazu kein Satz in diesem Antrag steht, ist das für mich natürlich ein Problem. Das zeigt uns doch zumindest eines: Mit reiner Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft ist es nicht getan. Es muss hier eine Verpflichtung her und nicht nur eine Selbstverpflichtung. ({4}) Letzter Punkt. Ich freue mich, dass es bei der CDU/ CSU einen Erkenntnisgewinn gibt. Denn Sie können den Antrag nur dann mit einreichen, wenn Sie Ihr Motto „Sozial ist, was Arbeit schafft“, das Sie einmal aufgestellt haben, korrigieren. ({5}) Denn dieses Beispiel dürfte uns zeigen - die Internationale Arbeitsorganisation und die entsprechenden Normen sind angesprochen worden -: Sozial ist Arbeit nur, wenn sie unter humanen Bedingungen und für einen gerechten Lohn geleistet wird. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Thilo Hoppe für das Bündnis 90/ Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Leutert, Sie vermischen da ganz verschiedene Themen, die alle gesondert diskutiert werden müssten. Natürlich müssen wir Debatten über notwendige ökologische und soziale Mindeststandards sowie über Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen führen. Aber dies mit der jetzigen Debatte zu vermengen, halte ich für völlig unangebracht. ({0}) Denn das, was in den Laogai-Lagern geschieht, ist noch einmal zehn Nummern schärfer und kann mit prekären Arbeitsverhältnissen in anderen Bereichen nicht verglichen werden. Auch zu Guantánamo gab es kritische Worte aus vielen Fraktionen. Aber es geht heute um die Laogai-Lager. Darauf sollten wir uns konzentrieren und gemeinschaftlich und fraktionsübergreifend einen scharfen Protest zum Ausdruck bringen. ({1}) Die chinesische Wirtschaft boomt. Fast 20 Prozent des Außenhandels der Volksrepublik werden mit den EU-Ländern getätigt, und Deutschland ist auf Platz fünf im Außenhandelsranking. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers forderte kurz nach seiner Chinareise, den Handel mit China kräftig zu erweitern. Das ist legitim. Aber wir müssen viel stärker der Frage nachgehen, was denn der Hintergrund von den vielen Billigimporten aus China ist und unter welchen Bedingungen sie produziert wurden. Das ist die Kehrseite der verlockenden Geiz-istgeil-Angebote. Leider ist es noch immer so, dass die Boomwirtschaft China sich sehr wenig um soziale Mindeststandards und Menschenrechte kümmert. Billigprodukte sind oft deshalb so billig, weil sie aus den Laogai-Arbeitslagern kommen. Der geringe Preis kommt dadurch zustande, dass der Faktor Arbeit in diesen Lagern nichts kostet. Die Menschen - es sind mindestens zwei Millionen werden unter unsäglichen Bedingungen ausgebeutet; das ist schon von vielen Rednerinnen und Rednern vor mir gesagt worden, und ich muss es nicht wiederholen. Es gibt Demütigungen - vereinzelt auch Folter -, und Menschen werden auf eine unmenschliche Art und Weise ausgebeutet. Die Laogai Research Foundation schätzt, dass seit der Regierungszeit von Mao Zedong 40 Millionen bis 50 Millionen Menschen in diesen Arbeitslagern umgekommen sind. Kein Wunder also, dass die chinesische Botschaft viel unternommen hat, um die Debatte, die wir heute führen, zu unterbinden. Die Aussage der chinesischen Botschaft, die Umerziehung durch Arbeit sei ein legitimes Mittel, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, klingt zynisch und muss nicht weiter kommentiert werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt, frei übersetzt: „Wenn Du nicht willst, dass Dein Handeln jemand erfährt, dann handele einfach nicht so.“ Wir erkennen an, dass es im Menschenrechtsdialog mit China in einzelnen Sektoren Fortschritte gibt. Die chinesische Regierung muss aber aushalten, dass hier auch über die Schattenseiten, über die prekären Verhältnisse offen und schonungslos debattiert wird. ({2}) Sie muss aushalten, dass wir Menschenrechte und Wirtschaftsfragen nicht miteinander aufwiegen. Die Drohungen, die im Vorfeld dieser Debatte ausgestoßen wurden, haben mich doch mehr als irritiert. Frau Kollegin Steinbach hat darauf hingewiesen, dass uns sehr erschreckende Meldungen über illegale Organentnahmen bei Menschen, die hingerichtet wurden oder hingerichtet werden sollen, erreicht haben. Es gibt auch Berichte von einem ehemaligen kanadischen Staatssekretär und von einem Menschenrechtsanwalt, dass auch Falun-Gong-Anhänger Opfer dieser illegalen Organentnahmen geworden sind. Die Berichte, die wir gehört haben, klingen schier unglaublich. Der Wahrheitsgehalt dieser Berichte kann so schnell nicht verifiziert werden, aber wir bitten die Bundesregierung, diesen Vorwürfen, diesen Anschuldigungen sehr sorgsam und gründlich nachzugehen. ({3}) Wir müssen auch bei der Ausbildung von Medizinern aufpassen - es gibt ja eine deutsch-chinesische Kooperation auf diesem Gebiet -, dass wir nicht unbewusst zu Komplizen bei der illegalen Organentnahme werden. Das wäre gar nicht auszuhalten. Ich bin sehr froh, dass wir hier weitgehend fraktionsübergreifend die unmenschlichen Bedingungen in den Laogai-Arbeitslagern scharf verurteilen. Wir erwarten jetzt von der Bundesregierung, dass dieser gemeinsame Protest der chinesischen Regierung gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wird. ({4}) Die Initiative der Spielwarenindustrie wurde von Ihnen, Herr Toncar, schon angesprochen. Wir fordern, dass sich auch andere Sektoren der deutschen Wirtschaft stärker für Transparenz einsetzen und dass sich die Verbraucherschutzverbände dieses Themas annehmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Konsumentinnen und Konsumenten müssen die Möglichkeit erhalten, die Augen aufzumachen und Produkte aus diesen Arbeitslagern zu boykottieren. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5146, den Antrag auf Drucksache 16/4559 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfeh- lung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5146 empfiehlt der Ausschuss, den An- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/855 mit dem Titel „Für die Verurteilung des Systems der Laogai- Lager in China“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung ein- stimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Cornelia Pieper, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen - Entschiedenes Vorgehen gegen Zer- störungen von Wertprüfungs- und Sortenver- suchen sowie von Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen - Drucksachen 16/2835, 16/4474 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Dr. Christel Happach-Kasan Ulrike Höfken b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, Undine Kurth ({1}) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Keine Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen auf dem Gelände des Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben - Drucksache 16/4904 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch veränderten Mais MON863 anordnen - Drucksache 16/4905 9936 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Max Lehmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! In meinem kurzen Vortrag möchte ich Stellung nehmen zum Antrag der FDP und zu den Anträgen des Bündnisses 90/Die Grünen, die teilweise schon im Ausschuss thematisch besprochen und vorbehandelt wurden. Zunächst einmal zum Antrag der FDP-Fraktion „Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen“. Die Feldzerstörungen sind in jedem Falle auf das Schärfste zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen. Darüber, glaube ich, sollten wir uns alle einig sein. ({0}) Hierin stimmen wir auch mit Ihnen von der FDP überein; daran gibt es keine Zweifel. Eine Entscheidung über die Zukunft von Wissenschaftsdisziplinen - hierbei geht es um eine wichtige Wissenschaftsdisziplin - kann nur auf der Basis transparenter und reproduzierbarer Versuchsergebnisse gefunden werden. ({1}) Zerstörung kann keinesfalls ein Mittel der Auseinandersetzung über strittige Wissenschaftsdisziplinen sein. ({2}) Im Rahmen der notwendigen Forschungen zur Grünen Gentechnik sind Freilandversuche unverzichtbar, auch wenn teilweise das Gegenteil behauptet wird. CDU/CSU und SPD haben bereits bei ihren Koalitionsverhandlungen die Bedeutung der Forschung für diese innovative Technologie erkannt und deshalb in den Koalitionsvertrag die Absicht aufgenommen, die Forschung in der Grünen Gentechnik zu fördern. Freilandversuche sind die Voraussetzung dafür, verlässliche, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu folgenden Fragen, die durchaus noch nicht alle geklärt sind, zu erlangen: erstens Erkenntnisse zur Koexistenz, also zu Anbauabständen, Nachbarkulturen, Mantelsaaten, zweitens Erkenntnisse zu den Auswirkungen auf das Bodenleben, drittens Basisdaten und Fakten für die gute landwirtschaftliche Praxis und letztlich viertens eine biologische Datengrundlage für praktikable Haftungsregeln. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ein Hauptargument der Gentechnikgegner immer war, die Gentechnik sei nicht genug erforscht und es gebe zu wenig Versuchsergebnisse, um die ökologischen Auswirkungen durch den Anbau von GVO-Pflanzen umfassend beurteilen zu können. Genau dem wollen wir abhelfen. Wir tun also etwas zur Beruhigung unserer Gegner. ({3}) Eine wichtige Frage dabei ist: Wie kann man wirksam gegen Feldzerstörungen vorgehen? Das Eckpunktepapier sieht vor, dass im öffentlichen Teil des Standortregisters zukünftig nur noch die Gemarkung angegeben wird. Das ist sicher eine Möglichkeit, aber keine umfassende, um in jedem Fall zu vermeiden, dass das Standortregister als Wegweiser für Genfeldzerstörer verwendet wird. Dies geschieht deswegen, um dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu entsprechen und dabei gleichzeitig - das ist sehr wichtig - weitere Feldzerstörungen zu verhindern. Aber jedem, der ein berechtigtes Interesse an der genauen Lage eines entsprechenden Grundstücks darlegt, wird diese mitgeteilt. Das gilt insbesondere für Nachbarn und Imker in der umliegenden Region. In diesem Zusammenhang kurz einige Sätze zum Problemkreis „Akzeptanz und Kommunikation“. Die Ängste in der Bevölkerung gegenüber modernen Technologien müssen wir auf jeden Fall ernst nehmen. Ängste basieren meist auf fehlenden verständlichen Informationen. Das ist gerade bei der Grünen Gentechnik der Fall. Die Bürger unseres Landes müssen endlich sachlich aufgeklärt werden und wissenschaftlich fundierte Fakten über die Grüne Gentechnik und die Zielsetzungen gerade der Freilandversuche erhalten. ({4}) Viele Ängste wurden und werden immer noch durch sehr einseitige und überzogene Risikodarstellungen von Organisationen verursacht, die bewusst und absichtlich die Grüne Gentechnik ablehnen, ja diese sogar bekämpfen. Eine Abwägung zwischen Chancen und Risiken kann aber nur in einem angst- und ideologiefreien Klima stattfinden. Ich denke, das ist unbestritten. Ich muss also feststellen: Wir stimmen in vielen Punkten mit dem Antrag der FDP überein. Wesentliche Punkte wurden aber schon erfüllt oder werden, wie im Eckpunktepapier vorgesehen, noch erfüllt. Deshalb halten wir den Antrag in der vorgelegten Form für überflüssig. Außerdem ist für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland und damit für die Unversehrtheit der Versuchsfelder nicht der Bund, sondern sind die Länderbehörden zuständig. Nun zum Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zum Problemkreis „Keine GVO-Freisetzungen in Gatersleben“. Konkret geht es bei diesem Antrag um zwei verschiedene Freisetzungsversuche: zum einen um einen Versuch mit Weizen und zum anderen um einen mit Erbsen. Beide sind durch das BVL genehmigt. Entscheidender Punkt dabei ist: Der Leiter der angeblich betroffenen Genbank, Herr Professor Dr. Andreas Graner, sieht seinerseits als Experte keinerlei Risiko für die pflanzengenetischen Ressourcen der Genbank. Ein besseres Argument ist nicht vorstellbar. Ich sage ausdrücklich: Auch uns sind der Erhalt und die Sicherheit der Genbank ein ausgesprochen großes Anliegen. ({5}) Auch das BVL kam in seiner der Genehmigung vorausgegangenen Sicherheitsbewertung zu dem Schluss, dass von dem Freisetzungsversuch keine schädlichen Einflüsse auf Menschen und Tiere sowie auf die Umwelt zu erwarten sind. Es hat aber trotzdem vorsorglich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen verfügt. Das LeibnizInstitut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung wird während der Freisetzung keine zum Sortiment der Genbank gehörenden Erbsen im Freiland kultivieren, sodass Auskreuzungen in das Erbmaterial der Genbank vermieden werden. Zu Flächen außerhalb des Institutsgeländes, auf denen konventionelle Erbsen angebaut werden, wird ein Abstand von mindestens 1 000 Metern eingehalten. Bei den Weizenpflanzen ist es ein Abstand von 500 Metern. Da sowohl bei den Weizen- als auch bei den Erbsenpflanzen überwiegend Selbstbestäubung stattfindet, ist die Wahrscheinlichkeit einer Auskreuzung ohnehin äußerst gering. Für die Entscheidung des BVL wurden Stellungnahmen des Bundesamtes für Naturschutz, des Bundesinstituts für Risikobewertung und des Robert Koch-Institutes eingeholt. Gleichzeitig wurden Stellungnahmen des unabhängigen Wissenschaftler- und Sachverständigengremiums, der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit und der Biologischen Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft in die Entscheidung einbezogen. Darüber hinaus wurde das BVL durch die fachliche Stellungnahme des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt. Ich halte als Fazit fest: Von der Freisetzung gehen nach Erkenntnissen aller Wissenschaftler und Experten keine Risiken aus, ({6}) weder für die Genbank noch sonst für Mensch, Tier oder Umwelt. ({7}) Folglich lehnen wir diesen Antrag ab. Nun zum zweiten Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zum Einfuhrverbot für Produkte aus Mais MON 863. Über dieses Thema haben wir schon mehrfach diskutiert. Dieser Antrag bezieht sich auf eine Gruppe französischer Wissenschaftler, die neue Zweifel an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit des gentechnisch veränderten Maises MON 863 geäußert hat. Zur Erläuterung: MON-863-Mais besitzt eine Resistenz gegen den Maiswurzelbohrer und wird in Nordamerika angebaut. Er ist in der EU als Lebens- und Futtermittel zugelassen. Die französischen Wissenschaftler stützten sich auf eine erneute Auswertung aller Unterlagen aus den Fütterungsversuchen, die im Vorfeld der Zulassung von dem Unternehmen Monsanto durchgeführt wurden. Die Gruppe sieht Anzeichen dafür, dass Leber und Nieren der mit MON 863 gefütterten Versuchstiere geschädigt wurden. Nach der von Greenpeace finanzierten erneuten Analyse der Monsanto-Unterlagen - ich denke, das allein ist schon ein sehr bemerkenswerter Vorgang kommt Professor Séralini zu dem Ergebnis, dass neue Fütterungsversuche über einen längeren Zeitraum erforderlich seien, bevor die gesundheitliche Unbedenklichkeit beurteilt werden könne. ({8}) Laut EFSA wurde die von Monsanto durchgeführte Fütterungsstudie an Ratten entsprechend dem Qualitätssicherungsstandard und den OECD-Richtlinien durchgeführt, und sie umfasst wissenschaftlich profunde toxikologische Untersuchungen, Frau Tackmann, ({9}) sowie korrekte statistische Auswertungen der Versuchsergebnisse. Darüber können Sie sich als wissenschaftlich geschulte Kollegin informieren. Schon vor der Zulassung von MON 863 in Europa wurde über die Interpretation der Daten aus der Fütterungsstudie diskutiert. Es hat im Blutbild der mit MON 863 gefütterten Tiere statistisch auffällige Abweichungen gegeben. Die Experten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit hatten diese Auffälligkeiten aber als biologisch nicht relevant eingestuft, da sie sich im Rahmen normaler biologischer Streuung bewegten. ({10}) Auch bei weiteren Untersuchungen haben die Behörden keine Hinweise auf mögliche gesundheitliche Gefährdungen gefunden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. Nach Ansicht des BfR liefert die französische Analyse der Daten ebenfalls keine Belege, welche die früheren Bewertungen der 90-tägigen Rattenstudie infrage stellen. Deshalb lehnen wir auch diesen Antrag ab, ebenfalls das beantragte Moratorium, das jeglicher EU-rechtlichen Grundlage entbehrt. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Happach-Kasan spricht jetzt für die FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich darüber, dass sich die SPD, die Grünen und auch Die Linke nun entschlossen haben, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen. ({0}) Ich bedanke mich vor allem beim Kollegen Lehmer, dass er mir die Stange gehalten hat und von Anfang an gesagt hat, dass er reden wird. Das finde ich ausgesprochen nett. ({1}) - Frau Präsidentin, habe ich das Wort? ({2}) - Frau Präsidentin, habe ich das Wort, oder habe ich es nicht?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben das Wort.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe in einer der letzten Ausgaben des „Stern“ dieses wunderschöne Foto von Tomaten gefunden. Es hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es waren transgene, allergenfreie Tomaten abgebildet. Wer im Internet forscht, findet auch transgene, allergenfreie Apfelsorten. Diese Zuchtlinien gibt es inzwischen. Sie sind in Europa erforscht worden, zum Beispiel in Wien, in Deutschland oder den Niederlanden. Den Allergikern müssen wir aber leider sagen: Sie werden diese Sorten nicht essen können; denn sie werden bei uns nicht angebaut werden. Somit wird diese Forschung, da bin ich mir sicher, in die USA gehen. 75 Prozent der Allergiker in den USA freuen sich bereits auf solche Sorten. Ich hoffe sehr, dass sie sie auch erhalten werden; denn Äpfel und Tomaten schmecken richtig gut, auch den Allergikern. Die Hightechstrategie der Bundesregierung ist mit sehr vielen Worten angekündigt worden. Sie wurde zwar hoch gelobt, aber es fehlt ihr etwas: Es fehlt die Novelle des Gentechnikgesetzes. Kollege Lehmer, auch Sie mussten heute leider wieder nur von den Eckpunkten sprechen. Sie konnten keine Novelle des Gentechnikgesetzes vorlegen, mit der der Anbau und die Forschung tatsächlich gefördert würden. Bundesminister Seehofer, der Ankündigungsminister, steht mit leeren Händen da. ({0}) Die FDP-Bundestagsfraktion hat dagegen bereits eine Novelle des Gentechnikgesetzes vorgelegt und dafür Lob und Anerkennung derer erfahren, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt haben. ({1}) Wir beraten heute über einen Antrag der FDP, der sich mit der Zerstörung von Feldern befasst. Kollege Lehmer hat einiges dazu gesagt. Kollege Lehmer, ich stimme Ihnen nicht zu: Dieser Antrag ist nicht überflüssig. ({2}) Wer sich im Internet informiert, stellt fest, dass sich Gentechnikgegner wieder einmal sammeln, um weitere Zerstörungsaktionen durchzuführen. Wer das sieht, weiß, dass dieser Antrag nicht überflüssig ist. Es ist wichtig, dass wir darüber beraten. Damit machen wir deutlich, dass die Zerstörung von Feldern ein krimineller Akt ist, der bestraft werden muss. Im Übrigen sind die Täter auch bestraft worden. ({3}) Die Zerstörung von Feldern ist zum einen Ausdruck von Dummheit. Das muss man angesichts der Tatsache sagen, dass in Bayern Mineralöl auf einen Acker gekippt wurde. Zum anderen ist die Zerstörung Ausdruck eines Demonstrationstourismus. Wer einmal bei einem solchen Happening dabei gewesen ist, weiß, dass das Freizeitgestaltung ist und mit Engagement überhaupt nichts zu tun hat. ({4}) - Kollege Kelber, sagen Sie doch bitte, dass Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, anstatt dazwischenzurufen. ({5}) - Wenn Sie eine Frage stellen möchten, tun Sie das. Oder lassen Sie sich Redezeit geben! Das wäre viel besser. Ich habe mir die Rede einer Demonstrantin durchgelesen. Ich bin betroffen davon, dass diese Frau ohne jeden Grund Angst hat. All diejenigen, die den Menschen Angst einjagen, ob von den Grünen, der SPD oder der Linken, ({6}) machen sich schuldig. Sie vermiesen dieser Frau das Leben durch Ängste, die völlig überflüssig sind. ({7}) Die FDP lehnt den Antrag der Grünen zum Thema Gatersleben ab. Ich finde ihn absolut überflüssig. Dass die Grünen gegen die Gentechnik sind, wissen wir. Ich glaube, dass das, was der Leiter der Genbank gesagt hat, viel aussagekräftiger ist, dass nämlich von den Freisetzungsversuchen keinerlei Gefährdung für die Gendatenbank ausgeht. Das ist das Entscheidende, und er ist der Fachmann, nicht die Grünen. ({8}) Im Übrigen möchte ich einmal daran erinnern, dass Auskreuzungen bei allen Pflanzen passieren, ob sie gentechnisch verändert sind oder nicht. Das heißt, die Gendatenbank wäre, wenn Ihre Annahme zuträfe, von jedem Anbau, ob es Weizen ist oder ob es Erbsen sind, betroffen. Sie liegen daher mit Ihrem Antrag total falsch. ({9}) In der letzten Ausschusssitzung haben wir das Vorgehen des BVL beraten. Man sollte sich noch einmal ganz klar vor Augen führen, was da passiert ist. Nach dem Gentechnikgesetz muss der Anbau von gentechnisch verändertem Mais angekündigt werden. Das ist irgendwann im Januar geschehen. Was ist daraufhin passiert? Nichts. Es wurde veröffentlicht. Was ist daraufhin passiert? Nichts. Der Mais ist ausgesät worden. Was ist daraufhin passiert? Auch nichts. Aber eine Woche nach der Aussaat erließ das BVL eine Anordnung, nach der die weitere Aussaat verboten wurde. Das ist doch komisch. ({10}) Das ist so, als ob man das Angeln in Teichen verbieten würde, aus denen das Wasser gerade abgelassen wurde. Das ist eine Symbolhandlung. Damit hat Bundesminister Seehofer wieder einmal seine Möglichkeiten verstärkt, CSU-Vorsitzender in Bayern zu werden. Er handelt verantwortungslos gegenüber den Menschen in diesem Lande. Er sollte sich einmal durchlesen, was die DFG über die Abwanderung von Wissenschaftlern schreibt! Er sollte sich einmal durchlesen, welche Beschäftigungspotenziale der Ausbau der Biotechnologie in Deutschland hat: 600 000 Arbeitsplätze! Er sollte sich einmal anschauen, was er mit seinem Handeln an Verunsicherung der Menschen in diesem Lande verursacht! Er wird seiner Aufgabe als Minister nicht gerecht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvira DrobinskiWeiß, SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung der Freisetzungsversuche in Gatersleben auf dem Gelände des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung, IPK, hat schon im letzten Jahr hohe Wellen geschlagen. Tausende uralter Sorten werden in der dortigen Genbank bewahrt und zur Erhaltung immer wieder im Freiland angebaut. Seit durch die Presse ein Schreiben der zuständigen Genehmigungsbehörde, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, bekannt wurde, in welchem dem IPK nahegelegt wird, die Vermehrungsflächen der Genbank zu verlagern, ist die Aufregung groß. Das lässt sich zum Teil auf eine Fehlinterpretation des BVL-Schreibens zurückführen: Anders als im Antrag der Grünen behauptet geht das BVL nicht davon aus, dass die Freisetzungsversuche eine Gefährdung für die Genbank darstellen. Vielmehr ging es darum, durch eine räumliche Trennung der Erhaltungsflächen und der Versuchsflächen die öffentliche Diskussion zu entschärfen und den vielen Einwendungen Rechnung zu tragen. Ob der Weg, die neuen, relativ kleinen Versuchsflächen am Standort zu belassen und die wesentlich größeren Erhaltungsflächen, die sich dort seit langem befinden, zu verlagern, richtig ist, darüber werden wir im Ausschuss sicherlich ausführlich diskutieren. Mir ist bisher nicht bekannt, wie sich das IPK zu den Empfehlungen des BVL verhält. Mich persönlich haben die Einwendungen nachdenklich gemacht. Auskreuzungen von den Versuchsfeldern mit gentechnisch verändertem Weizen lassen sich nicht zu hundert Prozent ausschließen. Wenn es aber zu solchen Auskreuzungen kommt, dann kann hier ein Stück biologische Vielfalt verloren gehen. Dabei sollte der Schutz der biologischen Vielfalt angesichts des Klimawandels Priorität haben. ({0}) Auch für die Gentechnologie ist der Schutz der biologischen Vielfalt von grundlegender Bedeutung; denn sie ist das Reservoir, aus dem die Gentechnik schöpft. Wer den Verlust von Arten riskiert, beschneidet auch die Möglichkeiten der Gentechnik. Hinzu kommt, dass sich in Bezug auf die Weizenversuche die Frage stellt, ob dieses Weizenkonstrukt noch zeitgemäß ist, finden sich hier doch alle Eigenschaften versammelt, die die Grüne Gentechnik in Verruf gebracht haben: zwei Antibiotikaresistenzgene - nach EUVorgaben soll darauf verzichtet werden, um Resistenzen zu vermeiden - sowie eine Resistenz gegen das Totalherbizid Basta. Insgesamt soll sich dieser gentechnisch veränderte Weizen durch einen erhöhten Proteingehalt auszeichnen, alles in allem eine Entwicklung, deren Vorteile zweifelhaft, zumindest aber schwer vermittelbar sind. ({1}) Weizen als Nahrungsmittelpflanze Nummer eins ist besonders emotional besetzt. Gentechnisch veränderter Weizen ist darüber hinaus ein großes wirtschaftliches Risiko für die Landwirte und die Lebensmittelproduzenten. In einem Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks vom 27. Oktober 2006 zu diesem Thema äußerte ein konventionell arbeitender Müller, dass er beim Einkauf ein Gebiet, von dem er wisse, dass dort GVO-Weizen angebaut werde, meiden würde - und er wisse, dass seine Kollegen ebenso verfahren würden. Wir werden dieses Thema, wie ich bereits sagte, im Ausschuss ausführlich diskutieren. In diesem Zusam9940 menhang liegt uns darüber hinaus ein Antrag auf ein Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch veränderten Mais MON 863 vor. Auch wir haben uns mehrfach für Transparenz bei den Sicherheitsprüfungen, eine Veröffentlichung der Studien und die stärkere Ausrichtung auf Langzeitbeobachtungen eingesetzt; denn nur mit Transparenz kann man Vertrauen schaffen. Nachher spricht ja noch der Kollege Röspel, der dazu auch noch etwas sagen wird. Des Weiteren liegt uns die Beschlussempfehlung unseres Ausschusses zum FDP-Antrag zu den Feldzerstörungen vor, mit dem wir uns auch an dieser Stelle mehrfach ausführlich befasst haben. ({2}) Solche Zerstörungen sind Straftaten - das wurde heute Abend auch von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen gesagt -, die auch wir ganz entschieden verurteilen. Den Antrag der FDP lehnen wir ab, ({3}) da sich ein Zusammenhang - wie immer wieder gerne behauptet wird - zwischen Feldzerstörungen und dem öffentlichen Standortregister nicht herleiten lässt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Skepsis gegenüber und die Ablehnung der Agro-Gentechnik sind nach wie vor groß - nicht hier im Bundestag, aber draußen in der richtigen Welt. ({0}) Dies wurde durch eine Studie der GfK Marktforschung vom Dezember 2006 erneut belegt. 74,9 Prozent von 1 023 Befragten lehnen die Entwicklung und Einführung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln ab. Nur 6,7 Prozent befürworten sie, und 18,3 Prozent ist das Thema egal. Dieses Votum können wir nicht ignorieren. Möglicherweise ist das ja auch ein Votum gegen Zwangsbeglückung. ({1}) Zunächst zu den Anträgen der FDP. Wir halten die sogenannten Feldbefreiungen für keine geeignete Protestform. Sie erreichen damit auch gar nicht das angestrebte Ziel. Es lohnt sich aber, darüber nachzudenken, warum Menschen zu solchen Protestformen greifen. Das sage ich ausdrücklich vor dem Hintergrund meiner ostdeutschen Biografie. ({2}) Ich habe gelernt, nicht nur über Protestformen nachzudenken, sondern auch über Protestgründe. Die FDP setzt mit ihrer Definition von Forschungsfreiheit die Existenzen Dritter aufs Spiel. Wer fordert, dass Verschleppungen aus Genfeldern bis zu einem Grenzwert von 0,9 Prozent toleriert werden müssen, der steht eben nicht auf der Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher ({3}) und auch nicht an der Seite der Landwirte, die keine Agro-Gentechnik anwenden wollen. Uns ist der Schutz ihrer Rechte deutlich wichtiger als Monsanto, Pioneer und Co. ({4}) Auch der angebliche Zusammenhang zwischen der Feldbefreiung und dem öffentlichen Standortregister ist nicht belegbar. Die Linke lehnt Zugangsbeschränkungen zum Standortregister ab, weil der von der FDP völlig zu Recht geforderte öffentliche Dialog zu der Problematik nur dann stattfinden kann, wenn es Transparenz gibt. Aus unserer Sicht geht die FDP mit ihrem Antrag daher in die falsche Richtung. Deshalb wird er abgelehnt. ({5}) Zum zweiten Antrag. Über 30 000 Menschen haben gegen die Freisetzung von genverändertem Weizen in Gatersleben Einspruch erhoben. Wer schon einmal Unterschriften gesammelt hat, der weiß, wie gigantisch diese Zahl an Unterschriften ist. Gebracht hat es bis jetzt allerdings nichts. Die nicht auszuschließende Gefährdung der 150 000 alten Kultursorten in der dortigen Genbank wird ignoriert. Der Gipfel der Absurdität ist: Das BVL untersagt nicht den Freisetzungsversuch mit gentechnisch verändertem Weizen und gentechnisch veränderten Erbsen, sondern es empfiehlt die Verlagerung der Genbank. Ich habe der Gaterslebener Institutsleitung letzte Woche einen Brief geschrieben und eindringlich die Frage gestellt: Was ist, wenn Sie das Verschleppungsrisiko unterschätzen? Die Antwort lautete: Das kann nicht passieren. - Es gibt aber kein Null-Risiko. Es gibt keine NullIrrtumswahrscheinlichkeit. Warum sollten wir also unnötige Sicherheitsrisiken für diese Genbank eingehen? Ich bleibe dabei: Die Vernunft gebietet die sofortige Beendigung und Aussetzung dieser Freisetzungsversuche. Null-Risiko für die Genbank! ({6}) Antrag drei. Die Schlagzeile „Rattengift im Popcorn“ ist sicherlich daneben. Worum geht es aber? Französische Wissenschaftler - das wurde schon genannt - haben bei einer Neuauswertung der Daten festgestellt - den Zugang zu diesen Daten mussten sie sich übrigens gerichtlich erstreiten -, dass durch den gentechnisch veränderten Mais MON 863 bei Versuchstieren Schädigungen von Leber und Nieren verursacht wurden. Die Veränderungen blieben zwar innerhalb der biologischen Variabilität, aber vielleicht lag das ja auch daran, dass nur drei Monate lang getestet wurde. Es ist jedoch ein statistisch signifikanter, also nicht zufälliger Unterschied zwischen den Versuchs- und den Kontrollgruppen. Beim Zulassungsverfahren für MON 863 wurde dieser Befund ignoriert. Man kann nun trefflich darüber diskutieren, ob das Ergebnis biologisch relevant ist, aber ignorieren darf man es nicht. ({7}) Was auch immer man von dieser Studie hält: Die Bundesregierung muss aus unserer Sicht nach dem Vorsorgegrundsatz handeln und die neuen Hinweise prüfen. Bis zur Neubewertung muss aus unserer Sicht nach Art. 23 der Freisetzungsrichtlinie - der sogenannten Schutzklausel - die Inverkehrbringung ruhen. MON 863 darf bis zur Klärung der Fragen nicht mehr als Futteroder Lebensmittel genutzt werden. Das ist das Mindeste, was die Verbraucherinnen und Verbraucher von uns erwarten können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Vorwürfe des Kollegen Lehmer und der Kollegin Happach-Kasan angeht, frage ich mich, wo sie eigentlich leben. In den Anweisungen des Bundesministers Seehofer und des in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zu MON 810, dem Bt-Mais, heißt es: Da berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass der gentechnisch veränderte Mais eine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder Umwelt darstellt, wird die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet. Dabei geht es um das Verbot des Verkaufs. Heißt das, dass Sie Herrn Seehofer, der Ihrer Fraktion angehört, der Ideologie beschuldigen oder gar Schlimmeres? Das Gleiche gilt dann vielleicht auch für das Verwaltungsgericht Augsburg.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Höfken, wir haben in der letzten Ausschusssitzung am Mittwoch das Thema „Bescheid des BVL“ beraten, und wir haben beide unseren Unmut darüber geäußert, dass der Bescheid erst Ende April ergangen ist, obwohl dem Bundesministerium bereits seit Januar bekannt war, auf welchen Feldern gentechnisch veränderter Mais ausgesät werden würde. Gleichwohl hat das Ministerium bis Ende April damit gewartet, den Bescheid zu erlassen. Sie haben sicherlich auch gehört, dass ich dem Staatssekretär Dr. Müller die Frage gestellt habe, welche neuen Erkenntnisse diesen Bescheid rechtfertigen. Dr. Müller konnte die Frage aber nicht beantworten. Er hat uns nicht bestätigt, dass es neue Erkenntnisse gibt. Es gibt offenbar keine neuen Erkenntnisse. Haben Sie das nicht gehört, oder wie muss ich Ihre Einlassung zu diesem Thema verstehen?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen für die Frage. Wir sind uns durchaus einig darin, dass die Anweisung und das Verbot des weiteren Verkaufs viel zu spät erfolgt sind. Ich habe einen ganzen Ordner mit Argumenten gegen MON 810 gefüllt, den ich auch in den Ausschuss mitgebracht hatte, und darauf hingewiesen, dass wir als Grüne drei Gutachten erstellt haben, die die gesundheitlichen, ökologischen und rechtlichen Bedenken gegen diese Zulassung noch einmal begründet haben. Das heißt, der Minister hätte ebenso wie die Landesbehörden, die ich alle einzeln angeschrieben habe, sehr viel früher handeln müssen. Da das Ganze aber inzwischen auch im Amtsblatt veröffentlicht wurde, kann ich es Ihnen noch weiter vorlesen. In der Begründung heißt es: Erst mit jüngeren Untersuchungen wurde deutlich, dass und in welchem Ausmaß das Bt-Toxin über die Pflanze in höhere Nahrungskettenglieder gelangt. Die Exposition von Nichtzielorganismen höherer Nahrungskettenglieder usw. mit dem Bt-Toxin ist damit belegt. Weiter heißt es zu den Risiken für den Boden: Bei BtPflanzen sind die Wirkung und die Verweildauer des in Pflanzen gebildeten Toxins im Boden derzeit ungeklärt, sie bergen jedoch ein relativ hohes Potenzial für ökologische Folgen. Es werden also in vielerlei Hinsicht auf die Wirkungen des verwendeten Bt-Toxins als Pestizid hingewiesen sowie eine Reihe von Gefahren aufgezeigt. Das hat dazu geführt, dass mit sofortiger Wirkung der weitere Verkauf dieses Maises verboten wurde. - Jetzt bin ich mit der Beantwortung Ihrer Zwischenfrage fertig, Frau HappachKasan. ({0}) - Das stand nicht im Amtsblatt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Nachfragen lässt nach wie vor die Präsidentin zu oder nicht zu. Es tut mir leid.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich werde gerne nachfragen, Frau Happach-Kasan, wie das zu bewerten ist. Auf jeden Fall ist eines klar geworden: Der Minister selbst hat mit Verweis auf Art. 23 der Freisetzungsrichtlinie eine nationale Schutzmaßnahme ergriffen, ich denke: aus gutem Grund, wie Sie sicherlich bestätigen werden. Das ist eine Erkenntnis, die zu Konsequenzen führen muss; denn es kann von uns nicht im Ernst erwartet werden, dass wir das angebaute Zeug tatsächlich in unsere Nahrungskette gelangen lassen. Nicht nur der Verkauf muss verboten werden. Vielmehr brauchen wir ein Moratorium für die weitere Verwendung von solchen gentechnisch veränderten Maisprodukten oder gentechnisch veränderten Pflanzen insgesamt. Genauso ist es nötig, den weiteren Anbau und die Verwendung der daraus entstehenden Produkte sofort zu stoppen. ({0}) Sie glauben doch nicht wirklich, dass man das noch an Tiere verfüttern kann oder in die Nahrungskette gelangen lassen darf! Das Augsburger Verwaltungsgericht hat gesagt - es ist Ihrer Meinung nach vielleicht ebenfalls von ideologischen Sichtweisen umschattet -, es könne nicht sein, dass die Produkte der Landwirtschaft kontaminiert werden, und hat auf Antrag eines Imkers per Eilentscheid effektive Schutzmaßnahmen verlangt und sehr strenge Auflagen gemacht; das ist richtig. Das ist eine wichtige Entscheidung im Hinblick auf den Schutz der gentechnikfreien Erzeugung. ({1}) Minister Seehofer hätte sich also eine Menge Ärger ersparen können, wenn er vorausschauend gehandelt hätte und unseren Forderungen frühzeitig nachgekommen wäre. Diese Erkenntnisse müssen dreimal mehr gelten, wenn es um MON 863 geht, wozu wir einen Antrag vorgelegt haben; denn MON 863 ist nicht nur im Hinblick auf die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken ähnlich wie MON 810 zu bewerten. Darüber hinaus enthält MON 863 die bereits erwähnten Antibiotika, die laut EU-Beschlüssen gar nicht mehr verwendet werden sollen. Deswegen verlangen wir einen sofortigen Stopp des Importes dieses Maises, um zu verhindern, dass er in unsere Futter- und Lebensmittelkette gelangt. ({2}) Ein letztes Wort zu Gatersleben: Ich kann meinen Vorrednern von SPD und Linken nur zustimmen. Es kann nicht sein, dass wir ein Kulturgut wie die Genbank in Gatersleben gefährden, die ihre Sorten weiter vermehren muss. Angesichts der Erkenntnisse über den Bt-Mais MON 810 ist es das Gebot der Stunde, zu handeln und einen sofortigen Stopp der Freisetzungen in der Nähe dieser Genbank zu erlassen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Happach-Kasan, ich bin froh - darum habe ich ausdrücklich gebeten -, heute reden zu dürfen; denn sonst hätte ich mein Gekrakel ordentlich aufschreiben und dann zu Protokoll geben müssen. Das wäre viel mehr Aufwand gewesen und hätte sich im Hinblick auf den vorliegenden FDP-Antrag, über den wir hier mindestens zum fünften Mal zu diskutieren haben, nicht gelohnt. Ich gebe gern wieder zu Protokoll, dass die SPD-Bundestagsfraktion natürlich die Beteiligung an Straftaten ablehnt. Das ist für uns aber eine Selbstverständlichkeit. Der eine Antrag der Grünen bezieht sich auf das Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung. Das ist unter anderem eine Genbank, in der über 120 000 oder 130 000 Saatgutarten und -varietäten aufbewahrt werden. Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß aus meiner Fraktion hat zu Recht gesagt: Es ist ein kulturelles und landwirtschaftliches Gedächtnis und Vermächtnis. Es ist ein Erbe alter Arten und Sorten. Es ist von großer Bedeutung, diese Gen- bzw. Saatgutbank zu erhalten, weil sie noch heute ein Lieferant für Saatgut ist. Das ist vor allen Dingen eine Zukunftschance. Wenn wir irgendwann, vielleicht in einigen Jahren, eine alte Art, die wir schon längst vergessen haben - eingeräumt in die Schublade dieser Genbank, dieser Saatgutbank -, doch wieder entdecken, weil sie Eigenschaften hat, die wir vorher nicht gekannt oder nicht genutzt haben, dann ziehen wir die Schublade auf und wir können dieses Saatgut wieder verwenden. Voraussetzung für eine funktionierende Genbank, für dieses Gedächtnis und Vermächtnis, ist eben, dass die Saatgutarten rein vermehrt werden können. Wenn gentechnisch veränderte Pflanzen, sogar gleicher Sorten und Arten, in unmittelbarer Nähe und auf den Flächen des IPK angepflanzt werden, halte ich das ausdrücklich für falsch. Das werden wir im Ausschuss noch einmal interessiert diskutieren. Bei dem zweiten Antrag der Grünen geht es um einen gentechnisch veränderten Mais, MON 863, der ein Insektengift produziert. Er ist im Jahr 2002 in das Zulassungsverfahren gegangen, und zwar mit einer 1 000-seitigen Stellungnahme des Herstellers über Fütterungsstudien an Ratten. Er ist mittlerweile als Futter und Lebensmittel zugelassen. Im Jahr 2003 gab es die erste Kritik an dieser Zulassung. Im Jahr 2004 hat Greenpeace - man kann dazu steRené Röspel hen, wie man will - die Herausgabe dieser Studie verlangt. Monsanto als Hersteller hat dagegen geklagt und verloren. Im Jahr 2007 kam dann eine weitere Studie. Séralini und andere haben sich diese 1 000 Seiten mit Daten zu Gemüte geführt und sie anders ausgewertet. Wenn man in diese Studie hineinschaut - veröffentlicht in einem wissenschaftlichen Organ über Gutachtersysteme -, dann stellt man Differenzen fest. Es sind gentechnisch veränderte und gentechnisch nicht veränderte Maiskörner an Ratten verfüttert worden, die sogenannte Kontrolle. Es gibt Veränderungen: bei den Leberwerten, bei den Triglyceriden, um die 40 Prozent, bei den Nierenwerten um 35 Prozent, bei Eosinophilen und Retikolozyten, bestimmten Zellarten des Knochenmarks, um 50 Prozent. Wenn Ihr Arzt so eine Abweichung von den Normwerten feststellen würde, würde er Sie ganz schnell zu sich rufen. Nun sind das Tierversuche. Nun sind das zweifelsohne ganz bestimmte Versuche. Dennoch wird man sie interpretieren können. Das Bundesinstitut für Risikobewertung bleibt ja bei seiner Einschätzung, dass es eben nicht aus der Reihe schlagen würde. Trotzdem sage ich: So einfach vom Tisch wischen - es gibt Indizien darüber, dass man sich wenigstens Gedanken machen muss, ob wir den richtigen Weg gehen -, das kann man auch nicht machen. Je länger ich mich damit beschäftigt habe - auch mit den Möglichkeiten und den Verfahrensweisen, wie die Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen geprüft wird -, desto größer sind meine Zweifel geworden. Ich stelle nämlich fest, dass nicht wie üblich wissenschaftlich standardisierte Methoden angewandt werden, sondern dass die Kontrollverfahren durchaus zweifelhaft sind, dass die Auswertungsmöglichkeiten sehr breit sind - das zeigt die Studie - und dass eine ganze Reihe von Parametern und Kriterien in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen, die ich wissenschaftlich nicht für haltbar halte. ({0}) Morgen wird Greenpeace eine Studie über eine andere gentechnisch veränderte Pflanze, MON 810, veröffentlichen, bei der auf sehr interessante Weise die unterschiedliche Konzentration dieses Insektengiftes und die teilweise mangelhafte Beurteilung dieser Pflanzen deutlich werden wird oder zumindest interpretiert werden kann. Ich habe in meiner letzten Rede - damit komme ich zum Schluss, weil die Zeit drängt - dargestellt, dass es sehr viele Gutachten mit Pro und Kontra zur Gentechnik gibt und dass ich die Lösung noch nicht gefunden habe. Aus meiner Sicht sind aber die Zweifel größer geworden. Wenn es diese Zweifel gibt, dann ist es - es sind eben sehr wichtige Entscheidungen - richtig, dass man ihnen nachgeht und versucht, sie auszuräumen oder zu bestätigen und Konsequenzen zu ziehen. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden das in den Antragsberatungen und darüber hinaus genau prüfen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen Entschiedenes Vorgehen gegen Zerstörungen von Wertprüfungs- und Sortenversuchen sowie von Feldern mit gentechnisch veränderten Pflanzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4474, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2835 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkte 14 b und c: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 16/4904 und 16/4905 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank - Drucksache 16/4971 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/5286 - Berichterstattung: Abgeordneter Leo Dautzenberg Die Kollegen Leo Dautzenberg, Jörg-Otto Spiller, Frank Scheffler, Dr. Herbert Schui, Dr. Gerhard Schick sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ich weise vor der Abstimmung darauf hin, dass der Kollege Hans Eichel eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung abgegeben hat. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/5286, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4971 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim- menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Bildungszugang von Kindern und Jugendlichen stärken - Finanzierung von Schülerund Schülerinnenbeförderung im SGB II ermöglichen - Drucksache 16/4486 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen - Bildungsteilhabe für alle Kinder und Jugendlichen sichern - Drucksache 16/5139 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Dr. Thea Dückert, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten fördern - Drucksache 16/5253 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Kollegen Karl Schiewerling, Wolfgang Grotthaus, Markus Kurth sowie die Kolleginnen Gesine Multhaupt, Miriam Gruß und Cornelia Hirsch haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4486 und 16/5139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/5253 zu Tagesordnungspunkt 16 c soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/4486 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtlicher und anderer Vorschriften - Drucksache 16/4455 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4}) - Drucksache 16/5280 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer Die Kollegen Jens Spahn, Daniel Bahr, Frank Spieth und die Kolleginnen Dr. Marlies Volkmer, Elisabeth Scharfenberg sowie der Parlamentarische Staatssekretär Rolf Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung medizinprodukterechtlicher und anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4455 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, der CDU/ CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung auch in dritter Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Energieeinsparverordnung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen - Drucksachen 16/4787, 16/5235 Berichterstattung: Abgeordneter Rainer Fornahl Die Kollegen Volkmar Vogel, Rainer Fornahl, Joachim Günther, Hans-Kurt Hill, Peter Hettlich sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Energieeinsparverordnung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5235, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4787 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/ CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe ({6}) - Drucksache 16/1994 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Kollegen Dirk Manzewski, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag sowie der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach und die Kollegin Mechthild Dyckmans sowie die Justizministerin Niedersachsens, Elisabeth Heister-Neumann, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1994 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({8}) - Drucksache 16/3139 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Kollegen Norbert Geis, Dr. Carl-Christian Dressel, Jörg van Essen, Jan Korte und Volker Beck ({10}) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Weg vom Öl im Kunststoffbereich - Chance der Novelle der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunststoffen echte Kreisläufe schließen - Drucksache 16/3140 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Kollegen Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst Meierhofer sowie die Kolleginnen Eva Bulling-Schröter und Sylvia Kotting-Uhl haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3140 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Zuschauern auf der Tribüne noch einen schönen Abend. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2007, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.