Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen fröhlichen Morgen und
einen erfolgreichen Tag.
Die Kollegin Angelika Graf ({0}) und der
Kollege Rainer Fornahl feiern heute ihren 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich
herzlich und wünsche alles Gute.
({1})
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass die Kollegin
Ute Berg aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des
Zollfahndungsdienstgesetzes ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Rainer Wend vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so. Dann ist der
Kollege Dr. Rainer Wend zum Mitglied dieses Gremiums nach dem Zollfahndungsdienstgesetz gewählt.
Die Kollegin Caren Marks hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die Fraktion
der SPD den Kollegen Dr. Gerhard Botz vor. Sind Sie
auch damit einverstanden? - Es hat hier schon stärkere
Auseinandersetzungen gegeben. - Das ist offenkundig
auch der Fall. Dann haben wir das so vereinbart.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD:
Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf dem
Arbeitsmarkt
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
zu der Antwort der Bundesregierung auf die dringliche
Frage Nr. 3 auf Drucksache 16/5236
({2})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Bärbel Höhn, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für
bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen
- Drucksache 16/5271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Sportausschuss
Ausschuss für Gesundheit
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
({6})
- Drucksache 16/5172 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Landes
Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommission
- Drucksache 16/4607 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen - In
Deutschland lebende Iraker und Irakerinnen vor Abschiebung schützen
- Drucksache 16/5248 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- Drucksache 16/5249 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schieneninfrastruktur ist öffentliche Aufgabe - Moratorium für die Privatisierung der Deutsche Bahn AG
- Drucksache 16/5270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Priska Hinz ({12}) und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts
abwenden - Bestehende europäische Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/5254 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({14})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Grünbuch
Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im
Verbraucherschutz
KOM ({16}) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07
- Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Marianne Schieder
Karin Binder
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks,
Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Neue Strategien für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika erarbeiten und durchsetzen
- Drucksache 16/5243 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick
auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksache 16/5240 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht zur Realisierung der Ziele des BolognaProzesses
- Drucksache 16/5252 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der FDP und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des geplanten Ausbaus von Kinderkrippen
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam: Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf der
Bundesregierung soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Entwurf eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität ({21})
- Drucksache 16/3656 überwiesen:
Rechtsausschuss ({22})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel
Bahr ({24}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nichtraucherschutz praktikabel und mit Augenmaß umsetzen
- Drucksache 16/5118 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit ({25})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der Tagesordnungspunkt 24 - hier handelt es sich um
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Passgeset-
zes und weiterer Vorschriften - und der Tagesordnungs-
punkt 25 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze - wer-
den abgesetzt. Ich vermute, dass Sie auch mit diesen
Vereinbarungen einverstanden sind. - Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
sowie den Zusatzpunkt 3 auf:
3 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Gesunde Ernährung und Bewegung - Schlüssel für mehr Lebensqualität
({26})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Bleser, Julia Klöckner, Ursula Heinen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Volker Blumentritt,
Mechthild Rawert, Waltraud Wolff ({27}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung gesundheitsrelevanten Verhaltens
zur Prävention von Fehl- und Mangelernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel insbesondere bei Kindern und Jugendlichen
- Drucksache 16/5258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({28})
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Volker Beck ({29}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen
- Drucksache 16/5271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({30})
Sportausschuss
Ausschuss für Gesundheit
- Die Bewegung entsteht schon vor Beginn der Regierungserklärung.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch das können
wir offensichtlich so vereinbaren.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung erhält
nun der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Prävention ist bekanntlich noch immer die beste
Medizin. Sie ist notwendig; denn in Deutschland - wie
auch in allen anderen Industrienationen - nimmt die
Zahl der Krankheiten zu, die durch frühzeitige Prävention vermieden werden könnten. Das gilt für Fehlernährung, das gilt für Übergewicht, das gilt für Bewegungsmangel. All dies beeinträchtigt die Lebensqualität vieler
Menschen, und diese Krankheiten können die Lebenserwartung verkürzen und bewirken hohe Kosten für Gesundheits- und Sozialsysteme.
Die Bundesregierung hat deshalb gestern ein Eckpunktepapier beschlossen, das die Grundlage für einen
nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und den damit zusammenhängenden Krankheiten sein soll. Denn dies ist
eine der größten gesundheits- und ernährungspolitischen
Herausforderungen der kommenden Jahre. Übergewicht
und Adipositas, also Fettleibigkeit, sind maßgeblich beteiligt an der Entstehung von Zivilisationskrankheiten
wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II
sowie Rücken- und Gelenkbeschwerden.
Eine bedarfsgerechte Versorgung mit Nährstoffen und
ausreichend Bewegung bilden die Grundlagen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit in allen Altersgruppen.
Es gibt schon vielfältige Aktivitäten auf nationaler und
europäischer Ebene sowie durch die Weltgesundheitsorganisation. Durch all diese Aktivitäten wurde bisher aber
keine Trendwende herbeigeführt.
Mit unserem Aktionsplan verfolgen wir daher die
Ziele, die zum Teil durchaus erfolgreichen Projekte im
staatlichen und im nichtstaatlichen Bereich zu identifizieren, zu vernetzen, besser aufeinander abzustimmen
und als Qualitätsstandards für künftige Aktivitäten zu
implementieren sowie eine Verständigung über verstärkt
zu bearbeitende Schwerpunkte herbeizuführen. In diesem Aktionsplan werden konkrete Ziele, Handlungsfelder und Maßnahmen festgelegt, um die Menschen in
Deutschland in ihrem Bemühen um einen gesunden Lebensstil mit ausgewogener Ernährung und ausreichender
Bewegung zu unterstützen und damit auch ihre Lebensfreude zu erhöhen.
Bevor ich auf Einzelheiten dieses Aktionsplans zu
sprechen komme, möchte ich eine Grundbotschaft voranstellen: Es geht der Bundesregierung nicht darum, dass
der Staat wieder einmal vorschreibt, wie die Bürgerinnen
und Bürger zu leben haben. Wir wollen keinen Staatsdirigismus, keine von oben verordnete Moral der Lebensführung und keinen Feldzug gegen die Menschen oder
einzelne Produkte. Wir wollen die Menschen in ihrem
Bemühen um einen gesunden Lebensstil unterstützen.
Beratung statt Bevormundung ist deshalb die Generallinie dieses Projekts.
({0})
Ich möchte das auch von vielen anderen Dingen sauber abgrenzen, die uns hier beschäftigen. Vor wenigen
Tagen haben wir hier über den Nichtraucherschutz debattiert. Wenn es um einen potenziell gesundheitsgefährdenden Stoff geht, dann haben wir die Verpflichtung,
diesen gefährlichen Stoff von den Menschen fernzuhalten. Genauso ist es in der Lebensmittelpolitik selbstverständlich, Lebensmittel aus dem Verkehr zu ziehen, die
für die Menschen ohne Zweifel gesundheitsschädlich
sind.
({1})
Wenn es aber darum geht, den richtigen Gebrauch von
Lebensmitteln zu erwirken, dann sind Verbote nicht die
richtige Antwort.
Vor zwei Wochen bin ich Botschafter des Bieres geworden.
({2})
Niemand wird bestreiten, dass durch den bestimmungsgemäßen Gebrauch, also den mäßigen Gebrauch, von
Bier keinerlei Gesundheitsgefahren hervorrufen werden. Der Missbrauch von Alkohol kann aber sehr wohl
gesundheitsschädlich sein.
({3})
Darum geht es: Die Menschen müssen über den richtigen Gebrauch von Lebensmitteln informiert und aufgeklärt werden. Wir alle miteinander können hier immer
wieder dazulernen.
({4})
Falsches Essen und zu wenig Bewegung führen bei
immer mehr Menschen zur Einschränkung ihrer Lebensqualität. Ich sage noch einmal: Das betrifft nicht nur uns
Deutsche, sondern alle Industrienationen. Rund 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt sind nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation übergewichtig. Besonders
betrüblich ist, dass darunter 20 Millionen Kinder unter
fünf Jahren sind. In Europa sterben jährlich mehr als
eine Million Menschen an durch Fettleibigkeit bedingten
Krankheiten.
Heute gibt es bereits 14 Millionen Kinder in Europa
mit Übergewicht. Die Folgen, die deshalb auf uns zukommen, sind offenkundig. Die Kosten für die Behandlung von Krankheiten, die durch Fehlernährung und
Übergewicht mitbedingt sind, werden allein in Deutschland mit 30 Prozent, also mit fast einem Drittel aller Gesundheitskosten kalkuliert. Das sind mehr als 70 Milliarden Euro.
Alleine die Kosten für die Behandlung von Diabetes
belaufen sich auf 30 Milliarden Euro. Erschreckend ist,
dass 6 000 Kinder jährlich neu an Altersdiabetes erkranken. Es ist eine der ganz großen Herausforderungen in
der Gesundheitspolitik, dass Altersdiabetes mittlerweile
epidemische Auswirkungen im Kindheitsalter hat und
dass wir hier nach allen Prognosen in den nächsten Jahren noch drastische Erhöhungen erleben werden. Neben
dem individuellen Leid wird das auch Unsummen an Behandlungskosten verursachen; denn kaum eine Behandlung ist wegen der vielfältigen Folgeerkrankungen so
teuer wie die Behandlung von Diabetes. Dabei ist die
Hauptursache von Diabetes längst bekannt: falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Wir wissen alle, dass
es dafür persönliche, soziale und historische Ursachen
gibt. Für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg und
die nachfolgenden Jahre mit Entbehrungen und Hunger
erlebt hat, war es eine Wohltat, als es wieder Butter, Zucker, Nudeln und Fleisch gab. Diese Erfahrung aus der
Notzeit wurde in vielen Familien weitergegeben und war
auch eine Ursache für die Entwicklung der Folgezeit.
In diesen Nachkriegsjahren gab es zu wenig zu essen
und genug Bewegung. Heute gibt es - jedenfalls in den
Industrienationen - in den allermeisten Fällen genug zu
essen, aber zu wenig Bewegung.
({5})
Wir wissen heute auch um die genetischen Strukturen, die die körperliche Konstitution festlegen.
({6})
Dazu gehört auch, wie Studien ergaben, dass Menschen
je nach genetischer Disposition ganz unterschiedliche
Essensverwerter sind. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten im frühkindlichen Alter bis in die genetischen Strukturen niederschlagen und später nur schwer wieder verändert
werden können.
Alle diese Erkenntnisse zeigen, wie falsch es wäre, allen Menschen eine bestimmte Ernährung aufzuzwingen
oder eine einheitliche Regel für ein ganzes Volk aufzustellen. Die Untersuchungen haben aber auch gezeigt,
dass über die genetische oder historisch-soziale Vererbung hinaus jeder Mensch hinsichtlich der Ernährung einen eigenen disponiblen Handlungsbereich besitzt. Geschichte oder Gene können jedenfalls nicht mehr
erklären, warum sich die Zahl der übergewichtigen und
fettleibigen Kinder in der Zeit von 1985 bis 1999 verdoppelt hat. Man kann den Menschen als Ganzes nicht
verändern, aber es gibt auch immer Möglichkeiten zu
neuen Einsichten und Verhaltensweisen.
({7})
Wenn einseitige Ernährung und Bewegungsmangel
Hauptursachen für Übergewicht sind, dann muss man
hier ansetzen und versuchen, Verbesserungen zu erreichen. Wir alle - mich eingeschlossen - kämpfen heute
mit manchen negativen Folgen unseres modernen Lebensstils. In unserer hochindustrialisierten und technisierten Welt verbrauchen wir in unserer Arbeit nur noch
einen Bruchteil der Energie von früher. Es gibt immer
weniger Schwerarbeiter. Das ist auf der einen Seite ein
Segen und auf der anderen Seite eine Herausforderung.
Moderne Maschinen ersetzen unsere Körperkraft. Autos
und Aufzüge nehmen uns unsere täglichen Schritte ab.
In den letzten 40 Jahren ist der notwendige Kalorienverbrauch bei Männern um 40 Prozent, bei Frauen um
30 Prozent zurückgegangen.
Unsere Ernährung hat sich diesen reduzierten Anforderungen jedoch nicht angepasst. Hinzu kommt die Veränderung unserer Nahrungsmittel insgesamt. Mit
Blick auf Fastfood, Fertigprodukte und funktionelle Lebensmittel kommt es einem so vor, als hätte sich das,
was wir essen, in den letzten 30 Jahren stärker verändert
als in den 30 000 Jahren davor. Es ist heute wichtiger
denn je, dass wir wieder einen kenntnisreichen, verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln pflegen.
In gleicher Weise haben sich die Lebensumstände
der Kinder in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir viel auf
der Straße, im Wald oder im Park gespielt haben. Diese
Straßenkindheit im positiven Sinne ist weitgehend verlorengegangen. Jetzt sitzt ein Kind im Durchschnitt fünf
Stunden vor dem Computer, dem Fernsehgerät oder der
Spielkonsole. Diese Zeit geht für das Herumtollen, Fußballspielen oder Fahrradfahren verloren. Bewegung, die
früher selbstverständlich war, muss wieder künstlich erlernt werden. Das gilt auch für uns Erwachsene. Sportliche Betätigung bleibt in unserem modernen und hektischen Alltag oft auf der Strecke.
Wir Deutschen sollen sogar ganz besondere Bewegungsmuffel sein, wie internationale Studien zeigen.
Laut der jüngsten Umfrage treiben nur 21 Prozent der
Deutschen regelmäßig Sport. In anderen europäischen
Ländern ist dieser Wert doppelt so hoch. Die Bundesregierung gibt deshalb mit dem Aktionsplan einen Startschuss zur Prävention von Fehlernährung, Übergewicht
und damit zusammenhängenden Krankheiten.
Erstens brauchen wir mehr Forschung im Bereich
Ernährung und Gesundheit. Ich erinnere beispielsweise
an die weit verbreiteten Ernährungsirrtümer. Bis vor kurzem standen zum Beispiel Eier als gefährliche Cholesterinbomben oder Nüsse als fette Dickmacher auf dem Index. Mittlerweile gibt es hier völlig neue Erkenntnisse.
Heute darf und soll man wieder sein Frühstücksei essen,
und Nüsse sind wegen ihrer ungesättigten Fettsäuren
wieder wertvoll. Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang sagen: Wir haben die Ressortforschung in meinem
Verantwortungsbereich reformiert. Die Ernährung wird
in diesem reformierten Forschungskonzept einen ganz
wichtigen Platz einnehmen.
({8})
Zweitens. Wir müssen mehr Aufklärung über
gesunde Lebensmittel leisten. Wir sollten keinen
Kampf gegen Lebensmittelprodukte oder die Lebensmittelwirtschaft führen, sondern in erster Linie für einen
vernünftigen Gebrauch von Lebensmitteln tätig sein.
({9})
Ich sage hier als der für Ernährung zuständige Minister:
Wir können heute trotz aller Skandale, die gelegentlich
als Einzelfälle auftreten, auf die hohe Qualität unserer
Lebensmittel zu Recht stolz sein. Ich sage auch hier den
Satz: Die Qualität der Lebensmittel ist heute so hoch wie
nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Es kommt auf
den richtigen Gebrauch der Lebensmittel an.
({10})
Deshalb wäre eine Olympiade der Verbote völlig falsch.
Wir setzen auf Vernunft statt auf Vorschriften.
({11})
Die Zeiten, in denen gutes Essen alleine einer gehobenen Gesellschaftsschicht vorbehalten war, sind glücklicherweise vorbei. Heute haben alle Menschen in unserem Lande genügend Möglichkeiten, gute und gesunde
Lebensmittel zu kaufen. Leider sind besonders Kinder
aus sozial benachteiligten Familien und solche mit
Migrationshintergrund von Fehlernährung und mitunter
von Unterernährung betroffen. Dabei ist gesundes Essen
längst keine Frage des Geldbeutels mehr. Wir müssen
uns an alle Bevölkerungsschichten wenden und konsequent über richtiges Ernährungsverhalten aufklären. Ich
bin weiten Teilen der deutschen Lebensmittelwirtschaft
dankbar, dass sie ihrerseits in Eigenverantwortung eine
nicht irreführende, sondern eine hilfreiche Aufklärung
und Information der Verbraucher betreibt.
({12})
Wichtig ist, dass die Aufklärung auch in verändertes
Verhalten mündet. Oft haben wir das Problem, dass sich
die besten Empfehlungen über gesunde Ernährung und
Bewegung nur schwer mit unseren beruflichen Anforderungen und dem individuellen Tagesablauf vereinbaren
lassen. Mit Vorsätzen verhält es sich wie mit Aalen:
Manches ist leichter zu fassen als zu halten. Deshalb
müssen wir die Menschen durch eine gute Infrastruktur
stärken und ihnen aufzeigen, wie man ungesunde Ernährungsgewohnheiten ablegen und Bewegungsarmut überwinden kann.
Drittens. Wir wollen den Schwerpunkt auf die Prävention legen. Ich verweise auf die jüngste Gesundheitsreform - oft kritisiert, aber in diesem Punkt völlig unterschätzt -, durch die die Prävention zu einem zentralen
Element gemacht wurde und die Unterstützung der ärztlichen Vorsorgeleistungen massiv nach vorne getrieben
wird, zum Beispiel durch einen konsequenten Gesundheitscheck zur Früherkennung von Herz-KreislaufErkrankungen für Menschen, die in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind. Wir brauchen individuellere Programme der Krankenkassen. Es hat sich in
der Vergangenheit gezeigt, dass man, wenn man für alle
das Gleiche tut, für einige zu viel und für andere zu wenig macht. Das geschah oft mehr unter Werbegesichtspunkten der Sozialversicherung und weniger mit dem
Ziel, den Menschen mit ihren individuellen Anliegen zu
helfen.
Die ersten Jahre der Kindheit haben entscheidenden
Einfluss auf das künftige Körpergewicht; das wissen wir
alle. Deshalb ist es besonders wichtig, bereits bei Kleinkindern ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und
mehr Bewegung zu wecken. Das geht in erster Linie in
der Familie. Das ist aber auch in den Kitas und den
Schulen notwendig. Ich bemühe mich nachhaltig, die
Kultusminister zu gewinnen, für das Thema Ernährung
wieder als wichtigen und regelmäßigen Bestandteil unseres Schulunterrichts zu werben.
({13})
Dabei geht es nicht nur um graue Theorie, sondern auch
um die konkrete Praxis. Wir haben gemeinsam mit den
deutschen Landfrauen und der Plattform „Ernährung
und Bewegung“ einen Ernährungsführerschein entwickelt. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es angesichts der zum Teil schwierigen motorischen Entwicklungen bei Kindern nachhaltig wünschenswert
wäre, dass der Schulsport für Kinder und Jugendliche
wieder einen deutlich höheren Stellenwert in Deutschland bekommt.
({14})
Wir brauchen viertens eine Veränderung der Strukturen im Alltag. Denken Sie nur an unsere Esskultur. Das
betrifft uns auch persönlich sehr stark. Jede dritte Mahlzeit wird außer Haus konsumiert. Wir sind deshalb mit
Krankenhäusern, Kitas, Seniorenheimen und Betriebskantinen in Kontakt, um diese Verpflegung bedarfsgerecht und gesund zu gestalten.
Wir wollen bundesweite Qualitätsstandards - nicht
durch Paragrafen, sondern eigenverantwortliche, von der
Politik unterstützte Qualitätsstandards - und vor allem
auch die Möglichkeit, gutes Essen zu einem fairen Preis
in Kantinen und ähnlichen Einrichtungen, vor allem in
Schulen, anzubieten.
Wir haben uns deshalb entschlossen, in NordrheinWestfalen ab dem 1. Januar des nächsten Jahres kostenfrei bzw. deutlich kostenreduziert in den Schulen Milch
oder Milchprodukte anstelle von Cola Light und anderen
Softgetränken anzubieten. Das wird die Bundesregierung unterstützen.
({15})
Ich möchte auch ein Wort zur Lebensmittelkennzeichnung sagen. Wenn wir vom aufgeklärten, informierten Bürger sprechen, sind Transparenz und auch die
Kennzeichnung ein ganz wichtiges Mittel. Ich habe dabei gewisse Vorbehalte, nämlich dass die Kennzeichnung in einem Umfang gestaltet ist, dass sie fast an die
Medikamentenbeipackzettel heranreicht, mit der Folge,
dass die abschreckende Wirkung bzw. die Desinformation oft größer ist als die Hilfe für die Leser des Beipackzettels. Die Informationen dürfen nicht irreführend
sein.
Es kommt immer der Vorschlag, mit dem ich mich
schon seit Monaten beschäftige: Wir machen einen roten
Punkt, einen gelben Punkt, einen grünen Punkt. Dann
hat die Bevölkerung eine Information, was wegzulassen
und was zu konsumieren ist. Das Problem dabei ist, dass
auch viele Lebensmittel, die mit einem roten Punkt versehen würden - denken Sie an Fettprodukte -, sehr wohl
wichtige Nährwertstoffe für die Menschen beinhalten
und dass es hierbei auch wieder darauf ankommt, sie in
richtigem Maß zu gebrauchen und nicht im Übermaß.
Ein reiner roter Punkt könnte sehr schnell dazu führen,
dass die Menschen die Finger von etwas lassen, das, in
richtigem Maße verwendet, sehr wohl als Nährstoff für
den menschlichen Körper notwendig ist.
Lassen Sie uns darüber weiter nachdenken. Dabei
lohnt es sich auch, streitig zu diskutieren. Aber, Frau
Künast, wenn Sie das jetzt als das Allheilmittel ansehen,
wie ich es in den letzten Tagen lesen durfte, dann frage
ich mich, warum Sie in den vielen Jahren, in denen Sie
vor mir Verantwortung trugen, dieses Punktesystem
nicht realisiert haben.
({16})
Ich möchte auch die Plattform Ernährung und
Bewegung in Deutschland nicht unerwähnt lassen. Das
ist ein Zusammenschluss von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Eltern und Ärzten. Da gab es zahlreiche Initiativen und Projekte. Ich würde mir wünschen,
dass wir das Potenzial dieser Plattform künftig noch
besser ausschöpfen. Dazu würde gehören, dass sich
noch mehr Bundesländer dieser Plattform freiwillig anschließen.
({17})
Der Beitrag dafür ist geringer, als es oft bei einem Sportverein der Fall ist. Ich würde mir wünschen, dass wir
diese Plattform so in das Bewusstsein der Bevölkerung
bringen, dass diese sehr segensreiche Arbeit gerade in
den Schulen noch stärker angenommen wird.
Wir haben vor kurzem gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium und der EU eine Konferenz zu dem
Thema „Gesunde Ernährung und mehr Bewegung“
durchgeführt. Alle Mitgliedstaaten in Europa waren sich
unter unserer Präsidentschaft über zwei Ziele einig: Bis
zum Jahr 2020 wollen wir die Zunahme des Übergewichts bei Kindern stoppen und die Zahl übergewichtiger Menschen in Europa verringern.
Ich bin froh über einen solchen Zeitraum; denn unser
Aktionsplan soll kein Aktionismus sein. Wir verstehen
ihn vielmehr als einen Dauerprozess, der in der Realität
etwas nachhaltig verändert. Auf diese Nachhaltigkeit
kommt es ganz entscheidend an. Wir dürfen uns nicht
mit einer Bundestagsdebatte oder mit einer politischen
Diskussion begnügen. All dies, was jetzt an Vorschlägen
auf dem Tisch liegt oder im Rahmen der Debatte über
den Aktionsplan noch eingeführt wird, muss realisiert
werden. Wir werden hierbei nur nachhaltig und nicht mit
Aktionismen vorwärts kommen.
({18})
Ich bitte, dass wir diese Diskussion auf der einen
Seite natürlich mit dem nötigen Ernst und mit Elan, auf
der anderen Seite aber auch mit Spaß und Freude führen,
nicht verbiestert. Mir ist manches in den letzten Tagen
schon wieder zu verbissen und zu verbiestert vorgekommen. Ich glaube, dass man nur mit einer gesunden, zuversichtlichen und freudigen Grundeinstellung, die die
Quelle jeder Veränderung ist, die Menschen mitnimmt
und in der Realität etwas in Richtung mehr Lebensqualität für die Menschen verändert.
Vielen Dank.
({19})
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Hans-Michael
Goldmann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass ich mich durchaus mit der Antwort auf das, was Sie, Herr Minister,
eben hier vorgetragen haben, schwer tue,
({0})
weil sehr viele schöne Worte aneinandergereiht und sehr
viele Botschaften ins Land geschickt wurden, über die
hier im Haus absoluter Konsens besteht und die wir, die
wir im Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz tätig sind, die wir zum Teil Mitglied der
Plattform Ernährung und Bewegung sind, eigentlich alle
kennen. Wir bemühen uns intensiv darum, sie durch
Information und Bildung an den mündigen Bürger heranzutragen, sodass er sein eigenes Verhalten daran
orientieren kann, ob die Ernährungsaufnahme mit seinem Bewegungsverhalten im Einklang ist. Das ist die
entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Man soll so fit sein, dass man den Herausforderungen, vor denen man steht, gerecht wird.
({1})
Ich frage mich schon, warum Sie eigentlich erst eineinhalb Jahre nach Regierungsübernahme diese doch im
Kern sehr dünne Botschaft verkünden. Wenn man Ihr
Eckpunktepapier betrachtet, dann stellt man fest, dass
darin außerordentlich wenig Substanzielles steht.
({2})
Sie tun sich selbst damit keinen Gefallen; denn Sie haben einen gewissen Ruf als Ankündigungsminister und
als Aktionsminister.
({3})
Sie haben ein Aktionsprogramm zur Bekämpfung des
Gammelfleischs aufgelegt. Damals waren es zehn
Punkte. Heute hat Ihr Programm fünf Punkte. Sie haben
ein Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem Sie gescheitert sind. Insofern ist zwischen dem, was Sie wollen, und dem, was dann wirklich
politisch erreicht wird, eine Riesenkluft. Unter dieser
Kluft leidet die Politik in Deutschland und die Politik,
die aus Ihrem Haus kommt. Das ist schlecht für die Verbraucher und für die Menschen in Deutschland.
({4})
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen,
weil meiner Meinung nach zwischen dem, was Sie sagen, und dem, was dann passiert, der rote Faden fehlt,
auch der rote Faden der Gemeinsamkeit dieser Regierung.
({5})
Sie haben die Versorgung der jungen Menschen in der
Schule mit Schulspeisung angesprochen. Sie erklären,
die Mehrwertsteuer auf die Weitergabe dieser Produkte
in den Schulen solle wegfallen. Die zuständige Staatssekretärin erklärt jedoch im Finanzausschuss, davon
könne überhaupt keine Rede sein, die Bundesregierung
gehe an die Mehrwertsteuerdiskussion nicht heran, das
sei in der Koalitionsvereinbarung so vereinbart. Was gilt
also? Warum diese Überschrift, Herr Seehofer, und der
Mangel an Inhalt?
({6})
Sie sagten, dass Sie die Ressortforschung verstärken.
Sie hätten gestern an der Anhörung des Ausschusses teilnehmen sollen. Sie reduzieren die Institute im Ernährungsbereich von 17 auf acht.
({7})
Nennen Sie das Verstärkung im Bereich der Ressortforschung? Nennen Sie die permanente Reduzierung des
Personals in diesem Bereich Verstärkung der Ressortforschung?
({8})
Nehmen wir einen anderen Punkt: die Ampelkennzeichnung. Ich bin hundertprozentig auf Ihrer Seite und
finde, dass man endlich einmal lernen soll. Die Engländer, die dieses Modell zu verwirklichen versucht haben,
sind damit gescheitert. Es ist dumme Politik, wenn man
ein bestimmtes Nahrungsmittel mit einem roten Punkt
und ein anderes mit einem grünen Punkt kennzeichnet.
Sie haben das an einem Beispiel belegt. Butter ist bei
vernünftigem Konsum ein gutes Produkt. Wer natürlich
jede Menge Butter auf seine Brötchen schmiert und sich
davon morgens vier Stück hereinzieht, der liegt natürlich völlig falsch. Das brauchen Sie aber nicht uns zu
erklären, das müssen Sie Ihrer Ministerkollegin erklären. Frau Schmidt hat doch gesagt, wie wunderbar die
Ampelkennzeichnung ist. Bei Ihnen sind die Dinge ungeordnet. Deswegen kann ich aus meiner Sicht nur sagen, dass zwischen Ihren Worten hier und dem Inhalt,
den Sie in Ihrem Eckpunktepapier transportieren, Welten klaffen.
({9})
Ich habe heute Morgen mit meiner Mitarbeiterin gesprochen. Deren kleine Tochter von acht Jahren hat sie
gefragt: Mama, bin ich zu dick? - Ich finde es sehr gut,
was Sie in puncto Vorsicht und Stigmatisierung gesagt
haben. Allerdings steht diese Kampagne doch unter dem
Motto „Fit statt fett“. Ich halte das für außerordentlich
problematisch. Lassen Sie uns an diese Dinge mit Vorsicht, mit Nachsicht und auch mit Toleranz herangehen!
Manch einer bleibt dick, obwohl er sich Mühe gibt, abzunehmen.
({10})
Wir müssen alle Menschen in unsere Gesellschaft einbinden, und wir müssen auch dicke Menschen als gleichwertige Geschöpfe betrachten. Auf Stigmatisierungen
müssen wir mit äußerster Vorsicht reagieren.
({11})
Sie haben sich vorhin sehr klug und sehr clever als
Botschafter des Bieres dargestellt. Ich verstehe das. Von
Ernährungsverhalten habe ich Kenntnisse; ich habe das
Fach Ernährung schließlich einmal studiert und im
Grunde genommen auch gelehrt. Sie bewegen sich auf
sehr dünnem Eis. Ich glaube, unsere Vorbildrolle muss
noch deutlicher werden. Wir müssen uns diejenigen zum
Vorbild nehmen, die versuchen, einen Einklang zwischen vernünftiger Ernährung und Bewegung herzustellen. Diese Vorbilder müssen wir dann auch besser herausstellen, damit Menschen Ernährungskompetenz
erwerben. Mit dieser Kompetenz können sie dann mündige Mitglieder der Gesellschaft werden.
Ich finde es gut, dass Sie die Rolle der Wirtschaft und
die großartige Leistung der deutschen Ernährungswirtschaft insgesamt angesprochen haben. Aber nehmen Sie
doch auch ein bisschen mehr Rücksicht auf die Selbstverpflichtungsbemühungen der Wirtschaft. Zum Beispiel gab es eine Vereinbarung mit dem Hotel- und
Gaststättengewerbe, die vorsah, zahlreiche Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Nichtraucher in
den Gaststätten zu verbessern. Warum streben Sie gesetzliche Regelungen an, bevor das Hotel- und Gaststättengewerbe überhaupt die Möglichkeit hatte, diese
Selbstverpflichtung zu erfüllen?
({12})
Ich bin nicht mit allen Anstrengungen der Wirtschaft
einverstanden. Wenn Sie aber verfolgen, was Ihnen gerade in den letzten Tagen an Informationen aus der Wirtschaft auf den Tisch gekommen ist, dann werden Sie
ganz klar erkennen, dass der gesamte ernst zu nehmende
Wirtschaftsbereich eindeutig für eine Nährwertkennzeichnung ist.
({13})
Sie wissen sicherlich sehr genau, dass weite Teile der
Wirtschaft sehr wohl wissen, dass dieser Bereich nur im
Einklang mit dem Verbraucher auf einen guten Weg gebracht werden kann. Allerdings müssen wir das Gespräch mit der Wirtschaft dann auch suchen.
({14})
Herr Seehofer, ich habe sehr viele Veranstaltungen
zum Thema Plattform Ernährung und Bewegung durchgeführt und an sehr vielen parlamentarischen Abenden
und Begegnungen mit Wirtschaftsvertretern teilgenommen. Sie habe ich dort nie gesehen. Warum sprechen Sie
mit der Wirtschaft so wenig, um zu guten Lösungen zu
kommen? Warum gehen Sie nicht auf die Wirtschaft zu,
um klarzustellen, dass die Politik im Einklang mit der
Wirtschaft für mehr Wettbewerb, für mehr Marktöffnung
- und zwar nicht nur im nationalen, sondern im globalen
Bereich - sorgen will?
Sehr geehrter Herr Minister, was ist die Aufgabe der
Politik? Wir müssen uns Wege überlegen, wie wir an die
Menschen herankommen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Gehen Sie gemeinsam mit allen Fraktionen des
Deutschen Bundestages vor! Warum scheitern so viele
Appelle, Kampagnen? Warum besteht die Gefahr, dass
Ihr inhaltsloser Aktionsplan ebenfalls scheitern wird?
Weil Sie keine moderne Ernährungskommunikation
praktizieren!
Herr Minister, es geht darum, zu motivieren, statt zu
belehren, zu reflektieren, statt zu bekehren, mitzumachen, statt zu erklären, zu erleben, statt zuzuschauen.
Wenn Sie diesen Weg gemeinsam mit uns beschreiten,
dann können wir mit dieser außerordentlich notwendigen Aktion, die Sie hier auf den Weg gebracht haben,
mit diesem außerordentlich notwendigen Anliegen gemeinsam Erfolg haben, und das wird den Menschen in
Deutschland guttun.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Blumentritt,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da es heute um Ernährung
und Bewegung geht, hatte ich eigentlich vor, jeden aufzufordern, eine Liegestütze oder eine Kniebeuge zu machen.
({0})
Herr Goldmann, dieses Thema ist sehr wichtig. Man
sollte es wirklich mit allem Ernst betrachten. Ernährung
und Bewegung können in dieser Welt viel Freude machen.
({1})
Sehr geehrter Herr Minister, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Ausführungen. Mit dem heutigen Tag
haben Sie wieder ein Thema in den Fokus gerückt, das
nicht nur Gesundheit und Bewegung, sondern auch Lebensfreude zum Inhalt hat. Ich wiederhole: Dafür beVolker Blumentritt
danke ich mich ausdrücklich. Wir alle haben unseren
Anteil daran gehabt.
Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass Sie der
Aufforderung der Europäischen Kommission gefolgt
sind und nun einen nationalen Aktionsplan vorgelegt
haben. Mit der Verabschiedung des Grünbuches der
Europäischen Kommission zur Förderung gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung wurden die Mitgliedstaaten im Jahre 2005 angehalten, nationale Strategien zur Verhinderung von Übergewicht und
chronischen Krankheiten zu entwickeln. Es ist gut, dass
hier bereits die Vorgängerregierung wertvolle Weichen
gestellt hat. Auch das sollte man an dieser Stelle einmal
erwähnen.
Deutschland wird in Europa häufig als Vorreiter bezeichnet, wenn es um die Entwicklung von Maßnahmen
zur Reduzierung von Übergewicht geht. So wird die Initiative der nationalen Plattform Ernährung und Bewegung stets als Vorbild für die Gründung der europäischen
Plattform angeführt, die im März 2004 ins Leben gerufen wurde. Doch in jüngster Zeit wurde durch die Veröffentlichung der Ergebnisse neuester Studien nur allzu
deutlich, dass wir dieses Engagement leider bitter nötig
haben. Die Deutschen belegen aktuell einen der vordersten Plätze auf der Liste der - ich sage es vorsichtig - etwas korpulenten Menschen, um nicht andere Ausdrücke
zu gebrauchen.
Das Thema Übergewichtsprävention ist nicht neu,
sondern schon lange ein Dauerbrenner; seit Jahren wird
die Öffentlichkeit mit Berichten und Zahlen zur Verfettung der Gesellschaft in Alarmbereitschaft versetzt. Deswegen freut es mich, dass dieses Thema heute im Fokus
steht.
Das Problem wurde ins Bewusstsein der Menschen
gerückt. Aber allen Informationen und aller Aufklärung
zum Trotz hat sich an den Bäuchen und Speckrollen der
Menschen nicht allzu viel geändert. Im Gegenteil, die
Zahl der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen
steigt stetig. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Erklärtes Ziel ist zurzeit nicht etwa, die Anzahl
der Übergewichtigen zu reduzieren. Vielmehr müsste bereits ein Stagnieren dieser Zahl als Erfolg gewertet werden.
Zielsetzung unseres Antrags muss sein, ein neues Ernährungs- und Bewegungsbewusstsein zu schaffen. Wir
wollen neue Impulse auf dem Weg zur Trendwende setzen. In der im September 2006 vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie konnten mehrere Hauptrisikofaktoren auf dem
Weg zum Übergewicht ermittelt werden.
({2})
- Herr Goldmann, vorrangig wurde ein niedriger sozialer Status genannt.
({3})
Außerdem belegt die Studie, dass aus 80 Prozent der dicken Kinder im Laufe des Lebens übergewichtige Erwachsene werden. Prävention muss aus diesem Grunde
zwangsläufig vor Intervention stehen; Herr Minister, Sie
hatten das gesagt. Eine Therapie zur Reduzierung von
Übergewicht, ob im Kindes- oder im Erwachsenenalter,
führt sehr selten nachhaltig zum Erfolg und ist mit enormen Aufwendungen verbunden, die in der Regel gesamtgesellschaftlich getragen werden müssen. Was
Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Aufgrund
dieser Erkenntnis müssen wir Hans und Gretel bereits in
ihrer frühesten Kindheit erreichen.
({4})
Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sind
unserer Meinung nach geeignete Orte, an denen Kinder
und Jugendliche etwas über ausgewogene Ernährung
und gesunde Lebensweise lernen können.
({5})
An diesen Orten - dieser Punkt ist für eine Einflussnahme wahrscheinlich noch viel wichtiger - können Heranwachsende darüber hinaus gesunde Verhaltensweisen
leben lernen, und dies unabhängig von ihrem sozialen
Status. Schulen und Kindergärten müssen als Lebenswelten verstanden werden. Wenn wir diese Erkenntnis
verinnerlichen, müssen wir diese Einrichtungen mit anderen Augen sehen und im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung, der Umfeldgestaltung, aber auch bei der
Gestaltung von Zeitabläufen, zum Beispiel bei der Einplanung geregelter und ausreichender Essenszeiten, andere Prioritäten setzen.
Meine Damen und Herren, das gemeinsame Einnehmen von Mahlzeiten ist mehr als nur Nahrungsaufnahme. Da Kinder einen Großteil des Tages in einer Kita
oder Schule verbringen, müssen wir ihnen dort auch
Esskultur nahebringen. Dazu gehört die Atmosphäre in
den Speisesälen der Schulen und Kindergärten ebenso
wie ein appetitlicher Eindruck der Speisen, die schmackhaft und gesund sein sollen. Dieser Punkt liegt mir als
gelerntem Koch besonders am Herzen, und es tut mir
manchmal weh, wenn ich sehe, was manchmal produziert wird.
({6})
In Zusammenarbeit mit den Ländern, denen im Bildungsbereich die Verantwortung zukommt, müssen wir
Konzepte erarbeiten, die umsetzbar sind und flächendeckend Verbreitung finden. Der Bund kann und soll sich
an dieser Stelle nicht mit dem Hinweis auf fehlende
Kompetenz aus der Verantwortung ziehen. In diesem
Punkt gebe ich Ihnen recht; ich denke, dass ich diese
Einschätzung auch bei Ihnen herausgehört habe. Hier
gilt es, eigene und neue Instrumente, die einen ausreichenden Handlungsspielraum bieten, zu entwickeln.
({7})
Ein hervorragend geeignetes Mittel zur Ansprache sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen stellt das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ dar. An dieser Stelle ist
ein großer Dank an Herrn Minister Tiefensee auszusprechen. Durch dieses Programm konnten völlig neue Maßstäbe gesetzt werden; zu dieser Entwicklung hat auch
unsere Vorgängerregierung ihren Beitrag geleistet.
Durch dieses Programm konnten seit seinem Start im
Jahre 1999 die Lebensbedingungen der Menschen in benachteiligten Stadtteilen bundesweit stabilisiert und
verbessert werden. Als Ortsbürgermeister eines 25 000
Einwohner umfassenden Stadtteils, einer Großwohnsiedlung, weiß ich, wovon ich spreche. Wir haben Erfolge
gehabt. Ich denke, das kann man deutschlandweit vermitteln.
({8})
- Jawohl.
({9})
Im Rahmen des Programms konnten bis heute in zahlreichen Orten wertvolle Strukturen aufgebaut werden,
die wir intensiv nutzen sollten. Bis heute führt der Bereich der Gesundheitsförderung im Programm „Soziale
Stadt“ vor allem aufgrund mangelnder Kapazitäten eher
ein Schattendasein.
({10})
Die Notwendigkeit einer Einbindung dieses Bereichs
liegt jedoch auf der Hand.
Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass wir beispielsweise im vergangenen Jahr auf einem Workshop
Vertreter der Plattform Ernährung und Bewegung und
des Deutschen Instituts für Urbanistik bei uns in der
Stadt begrüßen konnten, wo Experten mögliche Ansatzpunkte zur Gesundheitsförderung und Übergewichtsprävention in der Stadtentwicklung aufzeigten. Zahlreiche
Möglichkeiten der Umsetzung konnten ermittelt werden.
Gesundheitsförderung als fester Bestandteil in der Stadtteilarbeit bietet große Chancen. Nur dort, in den Städten,
in den Stadtteilen, in den Quartieren, ist das Leben erlebbar. Dort kann man vieles vermitteln. Dort bringt man
viel von dem herüber, was man will.
Nicht nur Kindergärten, Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportvereine, Ärzte oder Städteplaner würden mit
Bezug zu ihrem Tätigkeitsumfeld angesprochen und zu
Kooperationen angeregt, sondern wir würden die Menschen und hier vor allem auch die Eltern innerhalb ihres
Wohnumfeldes erreichen. Niedrigschwellige Ansätze,
wie sie insbesondere in der Ansprache von sozial benachteiligten Gruppen oder Migranten gefordert sind,
wären so relativ leicht umsetzbar.
Mit der Anknüpfung an das Bundesprogramm könnten bereits vorhandene Synergieeffekte optimal genutzt
werden. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf,
geeignete Partnerprogramme zu entwickeln, die den Bereich der Gesundheitsförderung aufgreifen und an das
Bundesprogramm „Soziale Stadt“ angebunden werden.
Wir müssen uns alle darüber klar werden, dass diese
Entwicklung zur übergewichtigen Gesellschaft keine
Frage der reinen Ästhetik mehr ist. Es ist auch längst
keine Frage des persönlichen Schicksals mehr. Die Zahlen machen deutlich, dass wir hier von einem gesamtgesellschaftlichen Problem mit verheerenden Auswirkungen, auch in ökonomischer Hinsicht, sprechen.
Gesundheit nimmt in einem hohen Maß Einfluss auf
den Lebenslauf und auf den Erfolg oder Misserfolg von
Biografien - insbesondere unserer Kinder. Übergewicht
hat gesundheitliche Folgen sowohl in körperlicher als
auch in seelischer Hinsicht.
Hinzu kommt häufig eine allgemeine Lern- und
Leistungsschwäche. Wenn Kinder schon in der dritten
Unterrichtsstunde keine Nährstoffe, keine Kohlenhydrate, keine Eiweißstoffe mehr haben, sind sie nicht in
der Lage, dem Unterricht in der fünften Stunde ordentlich zu folgen.
({11})
Wir reden also vor allem über gerechte Startchancen für
unsere Kinder und Enkelkinder, der ersten Generation
des 21. Jahrhunderts.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Binder, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten 30 Jahren haben sich unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen enorm verändert. Wir sitzen heute mehr als sieben Stunden täglich und gehen
kaum noch zu Fuß. Wir haben immer mehr Stress und
arbeiten unter enormem Termindruck. Wir haben nicht
mehr drei, sondern 30 Fernsehkanäle zur Auswahl und
konsumieren nebenbei Fertigpizzen, Chips, Süßigkeiten,
Softdrinks und andere Kalorienbomben. Viele Kinder
und Jugendliche bewegen ihre virtuellen PC-Helden
mehr als sich selbst.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Übergewicht und Bewegungsmangel nicht nur im Fehlverhalten
Einzelner begründet, sondern ein strukturelles Problem
in Industriestaaten sind.
({0})
Abspeckappelle und Bewegungstipps allein helfen
daher auch nicht weiter, solange die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind: kontraproduktiv für gesunde Ernährung und ausreichende
Bewegung.
Wenn es Ihnen, Herr Minister Seehofer, wirklich ernst
ist mit dem „gesamtgesellschaftlichen Fettabbau“, dann
wird es Zeit, dass Sie in Ihren nationalen Aktionsplan
Bewegung hineinbringen und ihn um die eine oder andere konkrete Initiative ergänzen.
({1})
Bloße Appelle reichen nicht.
Eine Möglichkeit wäre da zum Beispiel eine einheitliche gesetzliche Kennzeichnung von Lebensmitteln,
damit Verbraucherinnen und Verbraucher sich schnell,
einfach und verlässlich über Qualität und Nährwert ihrer
Lebensmittel informieren können. Dazu bringen Sie in
Ihrem Eckpunktepapier keinen konkreten Vorschlag. Dabei wäre es so einfach. Wir bräuchten nur einmal nach
Großbritannien zu schauen. Über die sogenannte Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln kann man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein. Aber es ist ein
einheitliches und vor allem leicht verständliches System,
das Verbraucherinnen und Verbraucher schnell und übersichtlich über den Gehalt an Zucker, Salz, Fett und ungesättigten Fettsäuren informiert. Die Ampelfarben Rot,
Gelb und Grün zeigen die Dickmacher in den Lebensmitteln schnell an.
Natürlich ist die englische Lebensmittelindustrie
nicht amüsiert über Absatzeinbußen bei ihren rot gekennzeichneten Fertigprodukten. Aber bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern scheint die Kennzeichnung
ganz gut anzukommen.
({2})
Obwohl die Regierung in Deutschland noch nicht einmal
im Traum daran denkt, laufen die Interessenvertreter der
Lebensmittelindustrie hier schon Sturm gegen solche
Modelle. Süßigkeiten, Limonaden und Softdrinks, Frühstücksflocken und auch Fertiggerichte bedeuten in unserer Singlegesellschaft ein Milliardengeschäft.
({3})
Deshalb wird seit Jahren getrickst und verschleiert mit
Begriffen wie „kalorienarm“ oder „light“. Zuckerbomben werden mit den Slogan „0 Prozent Fett“ angepriesen. Zur Erhaltung ihres Profits will die Lebensmittelindustrie unbedingt vermeiden, dass ihre Produkte
deutlich sichtbar in „gesund“ oder „ungesund“ unterteilt
werden.
({4})
Sie hat dafür die volle Rückendeckung vom Verbraucherministerium.
({5})
Viele Vorschläge prallen bisher an der Bundesregierung ab, zum Beispiel das Verbot von Süßigkeiten- oder
Cola-Automaten an Schulen,
({6})
die Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung
für Süßigkeiten und ein Verbot von Werbefilmen für solche Produkte vor 21 Uhr. Herr Staatssekretär Lindemann
vom Verbraucherministerium hat sich dazu vor der Lebensmittellobby eindeutig positioniert. Er hat den Anwesenden beim letzten Neujahrsempfang versichert - ich
zitiere -:
Ich weiß, dass viele von Ihnen an diesem Punkt
sehr sensibel sind. Auch die Bundesregierung hält
nichts von rechtlichen Regelungen in derartigen
Fragen.
Wo er schon einmal dabei war, hat er auch gleich versichert, dass die von der WHO in ihrer „Charta zur Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas“ geforderten
fiskalpolitischen Maßnahmen abgelehnt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nicht
alles umsetzen, was uns renommierte internationale Organisationen empfehlen, und wir müssen auch nicht alles
nachmachen, was uns andere Länder vormachen. Aber
dann sollten wir doch wenigstens selber aktiv werden
und nicht nur heiße Luft produzieren. Heiße Luft ist nur
in der Sauna gesund.
({7})
Wir alle wissen, dass Essstörungen in einkommensschwachen und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen
überdurchschnittlich auftreten. Das ist aber nicht nur
eine Frage der Bildung und des Wissens um gesunde
Ernährung. Gesunde Ernährung ist nicht zuletzt eine
Frage des Geldbeutels, Herr Minister. Wer von einem
Niedriglohn oder von Hartz IV leben muss, hat kaum
5 Euro täglich für Lebensmittel zur Verfügung. Das
reicht nicht für Bioprodukte. Das reicht noch nicht einmal für konventionelles gesundes Essen. Wer beim Einkaufen mit dem Cent rechnen muss, schaut mehr auf die
Zahlen auf dem Kassenbon als auf die in der Nährwerttabelle. Dann wird eben nicht frisches Obst und Gemüse
gekauft, sondern Konserven und billige Fertigprodukte die mit dem besonders hohen versteckten Fettgehalt. Der
direkte Produktvergleich belegt, dass billigere Produkte
meist mehr Fett, Salz oder Zucker enthalten als teurere.
Nach meiner Auffassung sollten jedoch alle Verbraucherinnen und Verbraucher - unabhängig von ihrer Kaufkraft - die Möglichkeit haben, sich gesund und vitaminreich zu ernähren.
({8})
Dazu gehört dann auch, dass die Gemeinschaftsverpflegung verbessert wird, insbesondere an Schulen und
in Kindertagesstätten, und dieses von der Gesellschaft
finanziert wird. Statt Milchschnitte und Schokoriegel
brauchen wir ein gesundes Frühstücksbuffet in Kitas und
Kindergärten - natürlich von Vater Staat finanziert.
({9})
Wir brauchen natürlich gemeinsames Kochen und Ernährungserziehung. Wir brauchen mehr Schulsport, zum
Beispiel eine dritte Sportstunde in der Woche.
({10})
Wir brauchen natürlich mehr Förderung für die Betreuerinnen und Betreuer sowie die Jugendleiterinnen und Jugendleiter in Sportvereinen. Natürlich kostet das alles
Geld. Aber sind Ihnen das unsere Kinder nicht wert?
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ursula Heinen ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zunächst einmal kurz auf meine Vorredner einzugehen und
das eine oder andere, was hier falsch behauptet worden
ist, richtigzustellen.
Wir beginnen einmal mit dem Thema Selbstverpflichtung, die angeblich in Form der Vereinbarung mit
der DEHOGA bezüglich des Rauchens hätte funktionieren können, Michael Goldmann. Das ist genau das falsche Beispiel. In dem Bereich hat die Selbstverpflichtung nämlich eben nicht funktioniert. Es gab freiwillige
Vereinbarungen,
({0})
die aber in den Restaurants und Gaststätten nicht umgesetzt worden sind, sodass rechtliche Rahmenregelungen
erforderlich wurden, die jetzt endlich sukzessive umgesetzt werden. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt richtet sich an die Kollegin, die von
der Ampelkennzeichnung gesprochen hat. Diese einfache Kennzeichnung mit Rot, Gelb oder Grün hat aber
wenig beispielsweise mit der Ernährungspyramide der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu tun, in der klar
zum Ausdruck kommt, wie ausgewogenes Essen tatsächlich aussieht und dass man Lebensmittel nicht einfach mit Punkten versehen kann. In Großbritannien
nimmt man diese Ampelkennzeichnung jetzt wieder zurück, weil sie bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht angekommen ist. Stattdessen soll ein anderes
System eingeführt werden, das die Fragen der gesunden
Ernährung deutlicher aufgreift. Großbritannien schlägt
die Richtung ein, in die auch wir gehen möchten, indem
es die Einheiten der sogenannten großen Vier - Energie,
Eiweiß, Fett, Kohlehydrate - auf der Verpackung kennzeichnet, sodass man einen vernünftigen Überblick erhält, was gesund ist und was wie der Ernährung dient.
({1})
Ich bin froh, dass es mittlerweile in Deutschland Lebensmittelhandelsbetriebe gibt, die diese Angaben von
sich aus auf die Vorderseiten der Verpackungen schreiben, sodass man die verschiedenen Gehalte direkt, wenn
man die Packung aus dem Regal nimmt, erkennen kann.
Das ist meines Erachtens der richtige Weg.
({2})
Auch in Deutschland gibt es Selbstverpflichtungen,
die sehr gut funktionieren. Coca-Cola ist hier eben angesprochen worden. Dort gibt es immerhin die Selbstverpflichtung, keine Getränkeautomaten in Schulen aufzustellen, in denen Kinder unter zwölf Jahren sind, und
auf Werbung in Sendungen zu verzichten, die vorzugsweise von kleinen Kindern gesehen werden. Ich finde,
das ist genau der richtige Weg; so müssen wir damit umgehen.
Damit komme ich zum eigentlichen Thema: dass wir
uns auf die Kinder konzentrieren müssen. Ein Erwachsener, der Übergewicht hat, ist letztendlich selbst dafür
verantwortlich. Ein übergewichtiges Kind aber kann
letztlich nichts dafür; es ist auch durch das Elternhaus
geprägt. Auch darauf muss deutlich hingewiesen werden: Wer trägt denn die Verantwortung? Das sind nicht
nur der Staat und die gesamte Gesellschaft, sondern auch
das Elternhaus und die Familie, in der Ernährung usw.
gelebt werden. Also müssen wir uns um die Kinder und
die Familien kümmern und ihnen das Thema der gesunden Ernährung nahebringen.
Der Minister hat vorhin ausgeführt, dass er das Übergewicht bei Kindern bis zum Jahr 2020 stoppen bzw. den
Trend umdrehen möchte. In Deutschland sind heute
2 Millionen Kinder übergewichtig; sie sollten im Fokus
unserer Politik stehen.
Was sind die Ursachen? Eben wurden schon Computer und Fernsehen genannt. Ich war völlig überrascht, als
ich im Rahmen einer Sitzung der Plattform Ernährung
und Bewegung gelernt habe, dass die Primetime im Kinderfernsehen zwischen 7 und 8 Uhr morgens ist. Frau
Drobinski-Weiß war ebenfalls bei dieser Sitzung. Wir
wussten überhaupt nicht, wie uns geschah, als wir erfuhren, dass Eltern ihre Kinder, um sie zu beschäftigen,
morgens, bevor der Kindergarten öffnet, vor den Fernseher setzen und dass die Werbezeiten im Kinderkanal zu
dieser Zeit am teuersten sind. Fernsehen, Computerspiele etc. spielen also sicherlich eine wichtige Rolle.
Auch die neue Organisation des Alltags von Kindern
ist sicherlich von Bedeutung. Wie sieht die organisierte
Freizeit aus? Wie wird in den Ganztagsschulen mit dem
Thema Bewegung umgegangen? Wie sind die Sportangebote? In Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt Offene
Ganztagsschulen. Wie läuft da die Kooperation mit den
Sportvereinen? Oder werden die Kinder nur verwahrt?
Wie also ist die Qualität dieses Ganztagsschulangebots?
Was wird dort an Sport und Bewegung geboten?
Schulsport ist sicherlich eine ganz entscheidende Sache. Das haben wir auch in unserem Antrag erwähnt.
({3})
In Baden-Württemberg beispielsweise gibt es eine
Schulsportoffensive für 200 Minuten Sportunterricht pro
Woche, an der sich über 300 Schulen im gesamten Land
beteiligen. In Marzahn gibt es eine Grundschule, die ihr
Sportangebot verdoppelt hat mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass die Konzentrationsfähigkeit der Kinder
sich deutlich erhöht, weil sie sich durch die Bewegung
austoben können. Kinder, die aus sozial schwierigen
Verhältnissen kommen und vielleicht viel vor dem Fernseher und Computer hängen, werden über die Schule zu
Bewegung geführt und können sich dort einmal auspowern. So wird - darum geht es ja schließlich auch die Konzentrationsfähigkeit dieser Kinder wesentlich
verbessert.
Deshalb lautet unser Appell an die Bundesländer:
Kümmert euch um das Schulsportangebot und darum,
tatsächlich auch mehr Schulsport anzubieten! Vielleicht
kann man die Lehrpläne auch einmal entsprechend
durchforsten.
({4})
Ein anderes Thema ist die Verpflegung in Schulen
und Kindertageseinrichtungen. Natürlich gibt es
schon in vielen Schulen ein gemeinsames Schulfrühstück. Es ist ja nicht so, dass wir in Bezug auf das Schulfrühstück in einem Niemandsland leben. An vielen
Grundschulen wird morgens gemeinsam gefrühstückt.
({5})
An vielen Grundschulen erklären die Lehrer ihren Kindern auch, wie vernünftige Ernährung aussieht. Das
müssen wir auch einmal ehrlich sagen. Wir wollen aber,
dass das flächendeckend erreicht wird. Deshalb versuchen wir jetzt, in Nordrhein-Westfalen ein Schulmilchprogramm zu starten.
({6})
Jedes Kind soll wieder - wie es in meiner Generation der
Fall gewesen ist - jeden Tag seine Schulmilch - und damit immerhin einen wesentlichen Baustein für eine gesunde Ernährung - in der Schule bekommen.
({7})
Jetzt möchte ich aber noch einmal etwas anderes,
nämlich die Mehrwertsteuergeschichte, ganz besonders
deutlich erwähnen. Ich halte es für eine Ungerechtigkeit
und Schwachsinn, dass in den Studentenwerken - in den
Mensen - der halbe Mehrwertsteuersatz auf die Verpflegung fällig ist, in einer Ganztagsschule aber der
volle. Das ist Schwachsinn! - Wir können das nicht anders nennen.
({8})
Wir haben das in unserem Antrag auch ganz deutlich
formuliert. Mein Kollege Peter Bleser hat, Michael
Goldmann, mit den Finanzpolitikern intensive Verhandlungen geführt, damit auch sie das unterstützen und sagen, dass wir zu einer Veränderung kommen müssen.
({9})
Es kann nicht sein, dass Studentenwerke Mahlzeiten zu
anderen Preisen anbieten können als Schulen. Die Verpflegung von Kindern ist wichtiger als die von erwachsenen Studierenden, die selbst entscheiden können, wie
sie sich ernähren!
({10})
Ein ganz wichtiger Punkt ist in der Tat, wie wir hier in
Berlin mit dem Thema weiter umgehen.
Frau Kollegin, Herr Kollege Goldmann möchte das
noch einmal in einer Zwischenfrage verdeutlichen.
Ich unterhalte mich immer gerne mit ihm.
Auf Unterhaltung kommt es jetzt eigentlich nicht in
erster Linie an.
({0})
Herr Präsident, Sie haben wie immer recht. - Frau
Heinen, Sie haben das eben so schön dargestellt. Aber
ich habe es nicht verstanden.
({0})
Ich habe da nämlich ein Problem: Mein Kollege Wissing
hat mir eben berichtet, dass gestern im Finanzausschuss
thematisiert worden ist, ob es eine abgesenkte oder gar
keine Mehrwertsteuer auf die Schulspeisung geben soll,
wie es der Minister angekündigt hat.
Meine Frage lautet: Gibt es eine Absprache zwischen
Herrn Minister Seehofer und dem Finanzminister - gibt
es also eine Absprache in der Großen Koalition -, die die
Chance bietet, dass der Mehrwertsteuersatz auf Produkte, die bei der Schulspeisung verwendet werden, so
abgesenkt wird, wie es der Minister in einer Pressemitteilung angekündigt hat?
Lieber Herr Goldmann, wenn Sie unseren Antrag und
damit den Willen des Parlaments in dieser Frage lesen
würden, dann würden Sie klar erkennen, dass es nach
dem Willen von CDU/CSU und SPD - das sind diejenigen, die hier die Gesetze beschließen - keine Unterschiede bei den Mehrwertsteuersätzen für die Studierendenverpflegung und bei den Mehrwertsteuersätzen für
die Schulverpflegung geben soll.
({0})
Aus dem Grund gibt es eine starke Übereinkunft hier
im Parlament, und auf diese stützt sich der Bundesminister, wenn er sagt, dass wir in Zukunft mit diesem Mehrwertsteuersatz entsprechend umgehen werden. Es freut
mich - das schließe ich aus Ihrer Frage -, dass die FDP
diesen Vorstoß von uns unterstützen wird. Wir können
also davon ausgehen, dass das Parlament diesen Vor9816
schlag mit breiter Mehrheit trägt und damit dem Finanzminister vielleicht noch einmal klar macht, um welch ein
wichtiges Thema es sich handelt. - Ich bedanke mich für
Ihre Frage, Herr Goldmann.
({1})
Gestatten Sie mir, noch ein letztes Thema anzusprechen, das wir der Ehrlichkeit halber ebenfalls betrachten
müssen. Es gibt sehr viele Projekte, die zurzeit schon
laufen. Vier Bundesministerien sind im Bereich Ernährung aktiv: das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, das Bildungs- und Forschungsministerium und
das Familienministerium. Es werden Projekte mit über
200 Millionen Euro gefördert. Wir von der Koalition
wollen all diese Projekte evaluieren. Es ist nämlich dringend notwendig, zu schauen, wie sie tatsächlich wirken.
Dann müssen wir uns überlegen, ob wir diese Projekte
nicht stärker bündeln und konzentrieren. Denn es darf
nicht passieren, dass wir uns angesichts dieser gut gemeinten Ideen, Projekte, Modellvorhaben verzetteln und
das große Ziel aus den Augen verlieren.
Deshalb stellen wir uns vor, dass die Plattform Ernährung und Bewegung, die vom Bund und von einigen
Bundesländern - leider, muss man sagen, noch nicht von
allen - getragen wird und von großen Organisationen sowie von den Kinder- und Jugendärzten unterstützt wird,
wesentlich gestärkt wird und eine koordinierende Funktion im Hinblick auf diese Projekte erhalten soll. Denn
wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren, bis
zum Jahr 2010 zu einer Trendumkehr in Deutschland zu
kommen, unsere Kinder fit zu machen und ihnen viel
Freude an Bewegung und Sport zu vermitteln.
In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema Übergewicht und Fettleibigkeit ist kein so einfaches Thema. Ich glaube, dass es richtig ist, dass nicht
nur das Parlament versuchen sollte, mit diesem Thema
verantwortungsbewusst umzugehen und niemanden zu
diskriminieren. Auch die Medien sollten sich ihrer Verantwortung hin und wieder bewusst werden.
Lassen Sie mich vorab auf eine Zeitungsmeldung
vom heutigen Tage eingehen. Die „Bild“-Zeitung fragt
bei einer Fotogalerie: „Ob diese Politiker auch mitmachen?“ Der Fraktionsvorsitzende der FDP philosophiert,
wenn auch im Spaß, darüber, ob es Auftrittsverbote geben sollte. Wir sollten der „Bild“-Zeitung sagen, dass
dieses Verhalten diskriminierend und falsch ist. Es richtet sich nicht nur gegen Politiker, sondern diskriminiert
auch dicke Menschen. Diese Art der Behandlung des
Themas droht sich auszubreiten. So werden wir des Fetts
nicht Herr werden.
({0})
- Der stammt nicht von mir, sondern von der Nachfolgerregierung. Trotzdem redet niemand über Auftrittsverbote und Ähnliches. Wir wissen alle um die Probleme.
Wir wissen im Übrigen auch, dass es dabei nicht nur
um individuelles Verhalten geht. Herr Seehofer, ich habe
mich gefreut, dass Sie all die entsprechenden Maßnahmen, die in den letzten Jahren begonnen worden sind,
fortgesetzt haben. Dazu gehört auch die Ernährungsplattform, die wir damals nach Europa gebracht haben.
Ich fand es aber schade, dass Sie am Ende doch wieder
Ihren Hang zum Populismus ein wenig ausgelebt haben.
({1})
- Lassen Sie sich doch Redezeit geben! Dann können
Sie Ihre Ausführungen machen.
Angesichts dieses ernsten Themas - viele Menschen
leiden aufgrund ihres Übergewichts, die Anzahl der
Fälle von Diabetes Typ II steigt schon bei den 13-Jährigen rapide an und nicht erst ab einem Alter von 40 bis
45 Jahren - finde ich es wirklich falsch, dass mit solchen
Begriffen wie „Olympiade der Verbote“ operiert wird.
Herr Seehofer, wir reden hier nicht nur über Erwachsene. Der informierte Verbraucher kann das Kleingedruckte und das Fachchinesisch auf der Packung lesen
und sich entsprechend verhalten. Ich glaube allerdings
auch nicht daran, dass das in den bildungsfernen Schichten passiert; auch wir sehen dieses Problem. Nein, wir
reden über etwas anderes. Deshalb kann man hier nicht
den klassischen Verbotsdiskurs führen. Wir reden über
drei-, vier-, fünf- und sechsjährige Kinder. Bei diesen
können Sie nicht von mündigen, informierten Verbrauchern sprechen. Die kleinen Kinder brauchen den Schutz
dieser Gesellschaft
({2})
und auch den Schutz vor der Werbewirtschaft, vor Produkten, mit denen uns die Lebensmittelwirtschaft versucht einzulullen; so einfach ist das.
({3})
Wir müssen dafür Sorge tragen, Herr Seehofer, dass
nicht noch mehr Papier zu diesem Thema vorgelegt
wird. Seit Jahren wurde viel Papier hierzu produziert.
Wir müssen vielmehr die Kernpunkte identifizieren. Am
letzten Sonntag hatte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ auf dem Titelblatt folgende Klage der
Lehrer festgehalten: Wir werden mit Werbematerial
überschüttet. - Die Lebensmittelwirtschaft macht es
mittlerweile so: Hinten und auf der Seite dieses Materials steht: Dies ist von Kellogg’s, von Ferrero oder wem
auch immer gesponsert. Vorne steht dann: Dies ist eine
anbieterunabhängige, eine - angeblich - ganz seriöse Information.
({4})
Was sollen denn die Schulen damit anfangen? Diese sagen, sie hätten keine hinreichenden Curricula, keine
Lehrer für bestimmte Unterrichtsfächer, bekämen aber
Massen an Papier. Auch da muss man einschränken: Mit
der Werbung kann es so nicht mehr weitergehen, zumindest nicht im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder und
Jugendlichen.
({5})
- Ich wusste schon immer, dass Sie es mit der Ökologie
nicht haben. Wegschmeißen von Material ist auch keine
Lösung.
({6})
- Das ist nun wieder typisch FDP. Vorne immer rein, und
dann sollen sie nachher filtern. - Noch besser wäre es,
wir würden die Lebensmittelwirtschaft dazu bewegen,
das zu bezahlen, was Sinn macht, und nicht das, was die
Lehrer nachher wegschmeißen. Das ist doch Unsinn.
({7})
Hinsichtlich des Konzepts, das uns hier vorgelegt
wurde, muss ich Ihnen sagen: Mir ist es zu wenig, auch
weil es solche Konzepte schon gegeben hat. Im April
2005 wurde das Konzept der Gesundheitsministerin
„Gesund in die Zukunft - Auf dem Weg zu einem Gesamtkonzept zur gesundheitlichen Prävention“ vorgelegt. Auch darin geht es um Ernährung und Bewegung.
Es wurde gefragt, was eigentlich in den letzten Jahren
passiert ist. Dieser Frage schließe ich mich an dieser
Stelle an.
Eines brauchen wir ganz klar - andere Länder machen dies schon, Großbritannien zum Beispiel -: Wir
brauchen, auf die Zielgruppe der Kinder ausgerichtet,
ein Werbeverbot
({8})
in der Zeit vom Frühstücksfernsehen bis 21 Uhr, wenn
es um Lebensmittel geht. Denn Lebensmittel sind keine
Produkte, für die man, auf die Zielgruppe der Kinder
ausgerichtet, Werbung machen sollte. Wenn die Lebensmittelwirtschaft dies nicht von sich aus tut, dann müssen
wir dies regeln.
({9})
Ich sage Ihnen noch etwas: Wir können die Eltern
nicht alleinlassen. Ich gebe gerne zu: Die Eltern müssen
sich bewegen. Aber Sie können die Eltern angesichts der
Milliardeninvestitionen in neue Produktentwicklungen
und in Werbung - nicht nur im Fernsehen - nicht alleinlassen.
Ich sage Ihnen auch: Wir müssen an das heran, was
im Internet passiert. Klicken Sie einmal eine Seite dieser
Kinderlebensmittelfirmen an. Ich habe es in den letzten
Tagen wieder einmal gemacht.
({10})
- Zum Beispiel Kellogg’s.
({11})
Sie glauben, Sie seien auf der Seite einer Hollywoodfilmwerbung. Alle möglichen Figuren tauchen da auf.
({12})
Da geht es nicht um Information, sondern um Figuren.
Da geht es darum, die Kinder mit Puzzlespielen und Gewinnen zu binden. Da werden Entwicklungspsychologen
engagiert, um die Kinder entsprechend ihrer Entwicklung zu fangen. Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist der
Staat in seiner Schutzfunktion gefordert.
({13})
- Gerade die FDP behauptet immer, sie sei eine Partei,
die für den Datenschutz sei und dies auch auf die modernen Medien erstrecken wolle.
({14})
Wenn Sie sagen, man solle das Internet abschalten, dann
sage ich dazu: Sie sollten sich lieber einmal einen Tag
Zeit für eine Klausur zu diesem Thema nehmen angesichts dessen, dass Sie nicht sehen, was man im Rahmen
des Internet tun kann, um die Schwachen dieser Gesellschaft zu schützen. Aber diese waren noch nie Ihr Adressat.
({15})
Ich stelle fest: Wir brauchen eine Ampelkennzeichnung; ich habe Ihnen ein Produkt mitgebracht.
({16})
- Ich weiß, Sie haben ein Problem mit der Ampel, aber
aus anderen Gründen.
({17})
Es geht dabei auch um bildungsferne Schichten, die
nicht das ganze Kleingedruckte auf Produkten lesen. Es
geht nicht nur um die Kennzeichnung von Eiweißen,
sondern auch um die von gesättigten Fetten und Zucker.
Genau dies können Sie mit einem einfachen Zeichen
ganz simpel tun.
Herr Seehofer, wenn Sie diese beiden Schritte anpacken und den Mut haben, an dieser Stelle anzusetzen,
dann verändern Sie den gesellschaftlichen Diskurs,
({18})
und dann werden auch die Landesminister ihrer Verantwortung stärker nachkommen, als sie es jetzt tun. Aber
als Erstes muss der Bund selber seine Hausaufgaben machen.
({19})
Die Kollegin Mechthild Rawert ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat gezeigt: Wir wissen viel
über gesunde Ernährung, nur am Verhalten hapert es. Es
hapert letztendlich auch - hier gehe ich als Mitglied einer Regierungspartei weiter -, weil klare Rahmenbedingungen fehlen. Die Bundesregierung hat es gesagt: Prävention ist eine Investition in die Zukunft. Das ist auch
im Memorandum, das in Badenweiler verabschiedet
wurde, ausgeführt worden. In unserem Antrag steht:
({0})
Prävention fängt bei der Eigenverantwortung an,
bedarf aber auch der Unterstützung des Staates und
der gesellschaftlichen Akteure.
Weiter heißt es:
Das geplante Präventionsgesetz soll die Kooperation und Koordination der Prävention sowie die
Qualität der Maßnahmen … verbessern.
Es geht hier nicht darum, ausschließlich über Ge- und
Verbote zu sprechen. Es geht auch um klare Zielsetzungen und klare Rahmenbedingungen. Daher danke ich für
den nationalen Aktionsplan. Ich bin als Mitglied zweier
Ausschüsse, des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und des Ausschusses für
Gesundheit, der Meinung, dass wir ein Präventionsgesetz dringend brauchen. Denn damit schaffen wir die
Rahmenbedingungen dafür, dass wir in viele Lebenswelten hineinkommen und der nationale Aktionsplan greifen kann.
({1})
Über Ernährung ist viel gesprochen worden. Einer der
Hauptfaktoren zur Entstehung von Übergewicht ist allerdings auch Bewegungsmangel. Es ist schon erwähnt
worden: Nicht jede Art der Ernährung an sich ist falsch.
Wir haben eine moderne Welt, ein Lebensumfeld für
Kinder geschaffen, das in vielen Bereichen mittlerweile
ungesund ist, vielleicht auch auf neue Art und Weise
krank macht. Wir tragen dafür die Verantwortung und
nicht die Kinder. Wir sind diejenigen, die dieses ändern
können.
Wir brauchen mehr Spiel- und Bewegungsräume.
Daher fordern wir in unserem Antrag, dass bei politischen Entscheidungen, die das Wohn- und Bewegungsumfeld der Kinder betreffen, dem Bewegungsdrang
Raum zu verschaffen ist. Ich erhalte Bürgerbriefe von
Eltern, die ganz verzweifelt sind, weil sie ihre Kinder
nicht mehr auf der Straße spielen lassen können, weil
sich die Nachbarn dann über Ruhestörung beschweren.
Die Anrainer von Sportplätzen klagen ebenfalls über Ruhestörung. Ich frage mich: Wieso ziehen Menschen, die
früher schon dort gewohnt haben und die ihre eigenen
Kinder zum Spielen dorthin geschickt haben, jetzt vor
Gericht, wenn anderer Leute Kinder dort spielen? Das ist
doch ein Unding. Das kann doch wohl nicht sein.
({2})
Wir dürfen unsere Städte nicht zu Bewegungswüsten
verkommen lassen. Hier haben Sportvereine eine große
Verantwortung. Wir wissen, dass Sportvereine gehalten
sind, Mitgliedsbeiträge zu erheben. Dies berührt die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Denn nicht
jede Familie, die finanziell schwächer gestellt ist, kann
sich dies leisten. Wir fordern daher auch hier Unterstützung, damit das Gleichheitsgebot umgesetzt werden
kann.
Ich freue mich, dass die Kampagne des Gesundheitsministeriums vorhin schon erwähnt worden ist. Denn die
Kampagne unter dem Motto „Deutschland wird fit. Gehen Sie mit.“ ist eines der positiven Zeichen, die zeigen,
wie wir versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren.
({3})
Eines ist sicher: Wir alle haben mittlerweile einen relativ zeitintensiven Alltag. Das fängt schon bei den kleinen Kindern an, deren Zeitplan sehr viele zusätzliche
Angebote umfasst. So haben sie nicht mehr genug Zeit
für Sport. Wir müssen versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Gehen Sie mit bei den vielen Aktionen, die im Rahmen der Kampagne des Gesundheitsministeriums angeboten werden!
({4})
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass sozial
benachteiligte Bevölkerungsgruppen durch Ernährungs- und Bewegungskampagnen bislang nicht zufriedenstellend erreicht worden sind. Das heißt, wir machen
unsere Angebote nicht zielgruppenorientiert genug,
({5})
obgleich die Krankenkassen bereits seit 2000 gehalten
sind, ihre Angebote in diesem Bereich zu verbessern.
Vielfach kommen sie dieser Aufforderung auch sehr gut
und erfolgreich nach. Ich sage das, damit Sie nicht den
Eindruck gewinnen, ich würde die Krankenkassen kritisieren wollen. Wir müssen das Angebot nichtsdestotrotz
ausbauen und systematisieren. Ich erinnere in diesem
Zusammenhang an das in dieser Legislaturperiode dringend umzusetzende Präventionsgesetz.
Der Sozialraumbezug in der Gesundheitsförderung
wurde bereits erwähnt. Mein Kollege Volker Blumentritt
hat das Programm „Soziale Stadt“ angesprochen. Wir
stehen hierüber bereits mit dem Gesundheitsministerium
im Gespräch, um innerhalb der einzelnen Altersstrukturen und Lebenswelten zu Verbesserungen zu kommen.
Ich will auf die Verantwortung der Wirtschaft zu sprechen kommen. Die Lebensmittelindustrie, die das Verhalten von Kindern und Familien durch Produktverkauf
und Werbung prägt, steht selbstverständlich mit in der
Verantwortung.
({6})
Richtig ist auch, dass Internet und Handy neben der klassischen Fernsehwerbung verstärkt für gezielte Produktwerbung genutzt werden. Es gibt mittlerweile kaum
noch eine Verpackung, auf der nicht extra auf Kinderwebsites der Hersteller verwiesen wird. Kinder und Jugendliche sind eine sehr geschickt umworbene Zielgruppe. Hier beginnt der Kreislauf, über den wir
sprechen: Wir können doch nicht einerseits über ungesunde Ernährung reden, über Kinder, die, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, vor dem PC oder dem Fernseher sitzen, und andererseits nichts tun, um sie vom
Fernseher oder vom PC wegzuholen. Wir brauchen auch
Werbeverbote.
({7})
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn
Sie mir jetzt zustimmen würden, dass die Kollegin Gruß
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage erhält, nachdem
vorhin aus objektiv unvermeidlichen Gründen dazu
keine Gelegenheit mehr war.
Gerne.
Vielen Dank. - Die ganze Zeit über ist hier die Rede
von Kindern und Jugendlichen, davon, wie wichtig es
ist, bei den Kleinsten anzufangen. Ich möchte dem Parlament eine Institution in Erinnerung rufen, die sich schon
in den vergangenen Legislaturperioden ausführlich mit
dem Thema beschäftigt hat - in der vergangenen Legislaturperiode unter dem Vorsitz von Frau Noll und in dieser unter dem Vorsitz Ihrer Kollegin Frau Rupprecht -:
die Kinderkommission.
Ich möchte Sie fragen, inwiefern die Erkenntnisse der
Kinderkommission, die sich bereits seit Jahren - in den
letzten Monaten sehr intensiv - mit dem Thema beschäftigt hat, Eingang in Ihre Pläne gefunden haben. Sie sagen
immer wieder: Wir müssen Aktionen starten. Die Kinderkommission hat konkrete Forderungen gestellt. Wir
haben alle Ministerien und Länder angeschrieben. Heraus kam lediglich eine Auflistung der Projekte. Ich
frage Sie: Wie haben Sie die Arbeit der Kinderkommission integriert, oder wie planen Sie, diese Arbeit zu integrieren?
Wir erachten die Kinderkommission für so wichtig,
dass wir der Kinderkommission selbstverständlich einen
sachgerechten Bericht geben wollten. Daher die Auflistung der Projekte. Das Gespräch wird fortgeführt.
({0})
Zurück zu den Werbebotschaften. Ich habe gesagt,
dass Kinder und Jugendliche bei den Firmen eine heiß
umworbene Zielgruppe sind; denn im Alter von drei bis
fünf Jahren wird heute schon das Markenbewusstsein
geprägt. Das heißt, die Werbung zielt auf die Neugierde
der Kinder, ihre Vorliebe für Buntes und Süßes, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und ihr Freizeitverhalten.
Um die Eltern zu überzeugen, das Produkt XY - ich will
keines benennen - zu kaufen, wird gesagt: Hier ist zum
Beispiel Milch drin. Suggeriert wird: Daher ist diese Süßigkeit gesund. - Das ist zum großen Teil Quatsch; denn
häufig ist nur wenig Milch oder gar nur Milchextrakt
enthalten. Das, was die Kinder zu sich nehmen, sind
viele leere Kalorien und nicht ein gesundes Lebensmittel.
Aus diesem Grunde sind auch wir für die Kennzeichnungspflicht bei Lebensmitteln. Darüber müssen wir
uns unterhalten. Immerhin sind wir im Rahmen der
Umsetzung einer EU-Verordnung verpflichtet, eine
nährwert- und gesundheitsbezogene Lebensmittelkennzeichnung vorzunehmen. Es geht um die Festlegung von
Nährwertprofilen. In diesem Zusammenhang wollen wir
die von Forschungsinstituten zusammengestellte Positivliste vorantreiben, sodass wir als Verbraucherinnen und
Verbraucher die Möglichkeit haben, sachgerecht abzugleichen: Glauben wir der Werbung, oder glauben wir
der Wirklichkeit, dem, was wissenschaftlich geprüft ist,
wenn wir unseren Kindern sagen, dass ein Lebensmittel
gesund ist? Ich hoffe, wir vertrauen dem Sein und nicht
dem Schein.
Ich möchte noch einmal zum Thema Prävention
kommen; denn Prävention ist wichtig. Wir brauchen eine
Präventionskultur. Prävention muss fest in Erziehung
und Bildung verankert werden. Wir brauchen hierfür
Strukturen, die Gesundheitsförderung und Prävention in
den Bildungskanon aufnehmen. Wir brauchen ein Gegengewicht zu einer nicht in jedem Falle gesunden Umwelt.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die
Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesund9820
heitlichen Versorgung ausgebaut werden soll. Das ist eigentlich eine logische Konsequenz des Memorandums
von Badenweiler und unserer Eckpunkte und Erklärungen. Wir machen jetzt den nationalen Aktionsplan. Ich
wiederhole: Ich persönlich bin der Meinung, wir sollten
zeitgleich das Präventionsgesetz verabschieden. Denn es
ist wahr: Viele kleine Schritte ergeben auch ein Großes;
nichtsdestotrotz ist nach vielen kleinen Schritten natürlich auch ein großer gefragt.
Wir wollen auch die Präventionsforschung ausbauen.
Denn diese ist für Erkenntnisse über den Zustand und die
Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung unerlässliche Voraussetzung. Wir müssen herausfinden, warum es so ist, dass wir so viel über Gesundheit und gesundheitsförderndes Verhalten wissen,
aber in vielen Bereichen nicht danach handeln.
({1})
Da kann jede und jeder, so wie wir hier im Saale sind,
damit beginnen, sich an die eigene Nase zu fassen.
({2})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Detlef Parr,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Offensive der Regierung für Gesundheit - Kampf gegen Fettsucht“, hat die „Welt am Sonntag“ aufgemacht - aber
nicht am vergangenen Sonntag, sondern - man höre und
staune! - am 23. Januar 2005. Vor über zwei Jahren also
alarmierte die Bundesregierung die Öffentlichkeit mit
der Meldung, dass die Krankenkassen mehr als
70 Milliarden Euro für die Behandlung ernährungsbedingter Erkrankungen aufbringen müssten; vor allem
Kinder und Jugendliche bewegten sich zu wenig und
äßen zu viel Fett und kohlenhydrathaltige Produkte; mit
einem Präventionsgesetz wolle Ulla Schmidt dazu beitragen, den Lebensstil der Deutschen ihrem gesundheitlichen Wohl anzupassen.
In der Zwischenzeit hat das groß angekündigte Präventionsgesetz im Bundesrat Schiffbruch erlitten. Der
Bundesregierung ist es, wenn man den Worten des SPDKollegen Blumentritt und der CDU-Kollegin Klöckner
Glauben schenken darf, wohl so gut ergangen, dass sie
all ihre Vorsätze vergessen hat und in Tiefschlaf verfallen ist; denn die beiden sprechen bezeichnenderweise
von einem Wachrütteln. Wohl wahr!
Wir haben bereits im Januar 2005 mit 13 Forderungen, Prävention und Gesundheitsförderung als individuelle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe voranzutreiben, versucht, die Bundesregierung aufzurütteln.
({0})
Sie haben das abgelehnt.
Zwei Monate später musste die Bundesregierung auf
unsere Kleine Anfrage zur Förderung von Ernährung
und Bewegung Farbe bekennen. Die Antwort war dürftig.
({1})
Im Januar 2006 nahm die FDP-Fraktion die desaströsen Ergebnisse einer Schulsportstudie des Deutschen
Sportbundes zum Anlass, bundesweit eine Wende an den
deutschen Schulen zu fordern. Es gab also Anstöße genug, zu handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. Doch
mehr als zwei Jahre lang Fehlanzeige; das ist ein Armutszeugnis.
({2})
Plötzlich soll es ein nationaler Aktionsplan richten.
Doch in dem Antrag der Koalitionsfraktionen wimmelt
es nur so von Allgemeinplätzen. Nach den Erfahrungen
der letzten Monate befürchten wir: Diese Koalition
bleibt auch in diesen Fragen eine Koalition der Lippenbekenntnisse.
({3})
Herr Minister Seehofer, da hilft auch Ihr Plädoyer gegen Bevormundung des Einzelnen und gegen den Zwang
des erhobenen Zeigefingers wenig. Solange Ihre Kollegin Ulla Schmidt an ihren Vorstellungen eines Präventionsgesetzes festhält und die Koalitionsfraktionen dies
in ihrem Antrag sogar noch bekräftigen, werden Sie Ihr
Ziel wieder nicht erreichen.
({4})
Dabei haben Sie richtig erkannt: Aktive Gesundheitsvorsorge ist primär eine individuelle Herausforderung,
und die Stärkung der Kompetenzen des Einzelnen in
Fragen seiner Ernährung und seiner Bewegung muss von
Kindesbeinen an im Mittelpunkt aller Bemühungen von
Bund, Ländern, Kommunen, Sozialversicherungen und
Heilberufen stehen.
Aufklärung statt Gesetze, Anreize statt bürokratische
Gängelung, Erziehung und Bildung statt Gebote und
Verbote - über diese Wege können wir uns schnell verständigen. Ich fürchte nur, die Regulierer und Volksbeglücker in Ihren Reihen behalten weiter die Oberhand.
({5})
Sie sprechen zu Recht von der Notwendigkeit einer
Balance zwischen Ernährung und Bewegung. Schade,
dass die Bundesregierung auf unsere Frage nach einer
Fortsetzung der Beteiligung an der Kampagne „Sport tut
Deutschland gut“ keine konkrete Planung vorlegen
konnte. Schade auch, dass die Bundesregierung keine
Initiativen zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur im Bereich der Sportanlagen im Köcher hat. Das
wäre eine Grundvoraussetzung für mehr Bewegung in
unserer Gesellschaft. Wer Bedarfe weckt, muss auch dafür sorgen, dass diese Bedarfe gedeckt werden. Ein goldener Plan für Gesamtdeutschland wäre die richtige Antwort darauf.
An dieser Stelle ein Lob an den Deutschen FußballBund: Er steckt 12 Millionen Euro aus dem WM-Überschuss in den Bau von 1 000 Minispielfeldern gerade
auch an Schulen in sozialen Brennpunkten mit einer hohen Zahl an Migranten.
({6})
Wir alle sind uns ja darin einig, dass wir uns zielgerichteter um die sozial Benachteiligten kümmern müssen.
Sie sind durch bisherige Aufklärungskampagnen zu wenig oder gar nicht erreicht worden.
Wir kennen die spezifischen Risikogruppen, aber wir
wissen viel zu wenig über die Ursachen besonders von
kindlichem Übergewicht. Neben falscher Ernährung und
Bewegungsmangel bedingen sich Faktoren wie Medienkonsum, niedriger sozioökonomischer Status oder
Migrationshintergrund gegenseitig. Auch genetische und
stoffwechselbedingte Faktoren sollten nicht außer Acht
gelassen werden. Ein offensichtlich multikausales Problem kann nicht durch Einzelmaßnahmen gelöst werden.
({7})
Es bedarf dringend weiterer Forschung und der sorgfältigen Evaluierung bereits bestehender Angebote, um ein
schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln und auf den
Einzelnen dann auch anwendbar zu machen.
Ein nationaler Aktionsplan - das ist ein großes Wort.
Herr Minister, es darf aber nicht wieder nur planmäßigen
Aktionismus geben, wie Sie es bezogen auf die vergangenen Initiativen im Gespräch mit der „Süddeutschen
Zeitung“ freimütig zugegeben haben. Die Probleme sind
zu ernst, als dass man sie zu einem kurzfristigen politischen Spiel missbrauchen kann.
Der Deutsche Olympische Sportbund begrüßt die Initiative der Bundesregierung als klares Signal. Die FDP
erwartet aber, dass diesmal mehr als nur kräftige Trompetenstöße als Ergebnis herauskommen. Das wird Ihnen
gelingen, wenn Sie sich lieber spät als gar nicht an den
Vorschlägen der FDP-Fraktion orientieren.
({8})
Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen Satz an die
Kollegin Heinen anfügen. Sie haben mit Vehemenz deutlich gemacht, dass die Mehrheit dieses Hauses, die Koalitionsfraktionen, die Steuerbefreiung für die Schulspeisungen durchsetzen will. Kollegin Heinen, in Ihrem
Antrag ist lediglich von einem Prüfauftrag die Rede.
({9})
Es soll geprüft werden, ob das zu einem attraktiven Preis
realisiert werden kann.
({10})
Bleiben Sie in der Diskussion also bitte bei den Tatsachen, die Sie in Ihrem eigenen Antrag niedergeschrieben
haben!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eines sollten wir hier an dieser Stelle auch
einmal festhalten: Es geht nicht um eine Stigmatisierung
oder um eine Hetzjagd auf dicke Menschen, auf Menschen, die übergewichtig und adipös sind. Es geht nicht
um ein Schönheitsideal, also nicht darum, dass der Staat
vorschreiben sollte, welchen Körperumfang und welche
Körpermaße wir brauchen. Es geht auch nicht darum, irgendeinem Wahn hinterherzulaufen.
Uns geht es letztendlich um Hilfe. Dort, wo der Staat
Einfluss hat, muss er auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Menschen die Hilfe bekommen,
um in höherer Lebensqualität leben zu können und weiterhin Spaß am Essen zu haben; denn Essen und Bewegung können auch Freude bereiten.
Ich schaue mir die Opposition an
({0})
- sie ist voller Freude - und stelle fest, dass das, was gesagt wurde, nicht gerade von Freude getragen wurde.
Man bekommt fast Angst und Beklemmungen - dabei
schaue ich auch zu den Grünen -,
({1})
wenn man anspruchsvoll über Essen und Genuss redet,
was uns sehr wichtig ist.
Liebe Frau Künast, zum Thema Diskriminierung: Sie
haben davon gesprochen, dass wir Menschen diskriminieren würden, und haben uns die „Bild“-Zeitung gezeigt.
({2})
- Darin haben wir Ihnen auch zugestimmt.
Was die Diskriminierung angeht, erinnere ich mich
an ein Buch mit dem Titel „Die dicken Kinder“ aus Ihrer
Regierungszeit.
({3})
- Ja, das war der Untertitel.
({4})
Das Buch hieß „Die dicken Kinder“, und Ihr Konterfei
zierte das Titelblatt. Wie passt das zusammen? Das war
eine Imagegeschichte Ihrerseits. Sie galten als Mutter
Teresa der dicken Kinder. Das war eindeutig eine Stigmatisierung dicker Menschen bzw. Kinder.
({5})
Damals hat die Mutter einer magersüchtigen Tochter
wegen dieser Kampagne meine Sprechstunde besucht.
Wenn die Diskussion nur in die Richtung verläuft, gegen
Dicke vorzugehen, dann tun wir den Menschen nichts
Gutes. Es geht vielmehr um Einsicht, Wohlgefühl und
Gesundheit. Das ist für uns entscheidend.
({6})
Gesundheitsprobleme übergewichtiger Kinder sind
auch kein statistisches Problem. Ob wir bei 42 Prozent,
30 Prozent oder 20 Prozent liegen, ist nicht entscheidend; selbst 15 Prozent sind zu viel. Es geht letztlich darum, wie wir Prävention betreiben können; das hat
Minister Seehofer zu Recht festgestellt. Wir sollten uns
nicht an irgendwelche Zahlen klammern; denn letztlich
erreicht die individuelle Betroffenheit ein riesiges Ausmaß, und die ernährungsbedingten Krankheiten und Folgekosten - auch das wurde bereits angesprochen - betreffen uns alle.
Eines gilt es zu verhindern - ich war sehr erschrocken, als ich davon erfahren habe -: In Großbritannien
haben die Ärztekammer und die Gesundheitsbehörde
erstmals den Ärzten geraten, bei übergewichtigen Kindern - nicht bei Erwachsenen - eine Magenverkleinerung vorzunehmen. Das kann nicht die Antwort sein.
Unsere Antwort in Deutschland lautet nicht: Ampelkennzeichnung und, wenn diese nicht funktioniert, Magenverkleinerung. Wir - der Minister wie auch die CDU/
CSU-Fraktion - setzen vielmehr auf Einsicht und auf
Orientierung statt Regulierung. Es geht darum, die Menschen dort abholen, wo sie sind, und letztlich auch um
ein Bekenntnis zu dem, was unsere Felder und Produkte
zu den Nahrungsmitteln beitragen. Sie sind nämlich
nicht per se schlecht.
({7})
Wir möchten als CDU/CSU-Fraktion auf etwas hinweisen, was Sie in Ihrer Regierungszeit leider verpasst
haben, Frau Künast. Erstens ist Fehlernährung ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht nur etwas mit
Kindern, sondern auch mit Erwachsenen zu tun hat. Kinder werden nämlich bei Erwachsenen groß und lernen in
diesem Umfeld.
Zweitens hat Fehlernährung nicht nur etwas mit
Übergewichtigen zu tun, sondern auch mit Mangelernährten; denn ein Snickers und eine Cola sind auch
für diejenigen, die nicht übergewichtig sind, kein ausgewogenes Frühstück.
Drittens stellen Mädchen im Alter zwischen neun und
14 Jahren die Altersgruppe dar, in der Diäten am häufigsten sind. In diesem Alter haben Kinder ihre Entwicklung aber noch nicht abgeschlossen. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass Hochglanzmagazine und Modelshows
das Verfolgen von Schönheitsidealen durch Heranwachsende, die selbst noch nicht richtig gefestigt sind, fördern. Die Schere zwischen den Übergewichtigen und
den Magersüchtigen öffnet sich. Wenn wir den Fehler
machen, uns nur auf dicke Kinder zu konzentrieren,
dann verlieren wir diejenigen aus den Augen, die auch
unter Problemen leiden und ein gestörtes Verhältnis zum
Essen haben. Wir aus der CDU/CSU-Fraktion streben
wieder einen ordentlichen Umgang mit Ernährung und
Lebensmitteln an, und zwar nicht nur in der Theorie,
sondern auch in der Praxis.
Frau Künast, Sie haben damals mit Ihrer Imagekampagne sehr viel Wind gemacht.
({8})
Respekt, das hat damals gut geklappt, auch wenn das
Buch - das ist nicht verwunderlich - kein Bestseller war.
Die Kinder wurden aber dadurch nicht dünner.
Ich möchte noch etwas festhalten. Liebe Frau Künast,
Sie haben eben ein Werbeverbot und eine Ampelkennzeichnung gefordert; außerdem soll die Industrie mit ins
Boot genommen werden. Sie waren vor nicht allzu langer Zeit Ernährungsministerin - wir sind erleichtert, dass
sich das inzwischen geändert hat - und hätten in diesem
Amt all das tun können, was Sie heute gefordert haben.
Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass ein entsprechender Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt
wurde. Jetzt stellen Sie diese Forderungen aus der Opposition heraus und führen das Argument an, dass der Bundesrat Ihnen seinerzeit nicht folgen wollte. Dabei haben
Sie es nicht einmal versucht.
Frau Künast möchte nachfragen und etwas klarstellen?
Offenkundig wollen Sie das auch zulassen. Damit haben wir eine übersichtliche Gefechtslage. Bitte schön,
Frau Künast.
Frau Klöckner, da Sie mich immer wieder so liebevoll
angesprochen und darauf hingewiesen haben, was ich
Ihres Erachtens versäumt habe, muss ich eine Frage stellen. Wissen Sie, dass es Ihre Fraktion war, die gegen unsere Aktivitäten im Zusammenhang mit der HealthClaims-Verordnung in Brüssel, bei der es um gesundheitsbezogene Werbung geht und die eine Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln vorsieht - das wäre auf nationaler Ebene nicht zu machen -, massiv gekämpft hat?
Können Sie mir nachsehen, wenn ich sage, dass wir es,
wenn Sie es nicht bekämpft hätten, früher durchgesetzt
und in Europa eine Rechtsgrundlage gehabt hätten? So
wurde erst nach meiner Amtszeit die Rechtsgrundlage in
der Amtszeit des Bundesministers Seehofer geschaffen.
Frau Klöckner, Sie haben nun die Möglichkeit, zusammen mit Ihrem Minister Seehofer diese wunderbare Idee
umzusetzen. Ich muss Ihnen das sagen, da Sie sich offensichtlich nicht mehr daran erinnern können, gegen
welche meiner Aktivitäten Sie damals mit Verve gekämpft haben.
({0})
Liebe Frau Künast, ich möchte die Gegenfrage stellen, ob Sie mitbekommen haben, dass wir, die CDU/
CSU-Fraktion, gegen eine Ampelkennzeichnung sind,
und zwar zu Recht.
({0})
Denn dieses Schwarz-Weiß-Denken - Grün ist gut, Rot
ist schlecht; das meine ich nicht politisch - bedeutete,
dass der Bürger gar nicht mehr denken müsste. Wer
glaubt, dass er sich ausgewogen ernährt, wenn er nur
noch Produkte mit grünen Punkten, zum Beispiel Äpfel,
in seinem Warenkorb hat, liegt falsch.
({1})
Eine solche Kennzeichnung ist doch total verwirrend.
Warum fährt denn die Lebensmittelkette Tesco in Großbritannien - Frau Heinen hat es vorhin angesprochen just dieses Prinzip wieder zurück? Sie hat erkannt, dass
es die Menschen verwirrt; denn Butter wird immer einen
roten Punkt haben. Verderben Sie den Menschen doch
nicht die Lust an der Vielfalt, sondern befähigen Sie sie
dazu, einen ordentlichen Lebensstil zu erlernen und auszuprägen!
({2})
Liebe Frau Künast, wir sind nicht für Ernährungsdiktate, Gängeln und Verbieten, sondern setzen auf Einsicht. Wir müssen die Eltern befähigen. Die Familien
sind wichtig. Es kann nicht sein, dass nun nach dem
Staat und Herrn Seehofer gerufen wird, wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht nachkommen und ihre Kinder
ohne Frühstück oder mit einem Schokoriegel in die
Schule schicken. Wir brauchen hier als Unterstützung
Ernährungslehrer. Deshalb unterstützt die CDU/CSUFraktion einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der auf
Einsicht, aber auch auf das spielerische Erlernen setzt. In
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den
Rahmenbedingungen an den Schulen. Wir sind uns mit
unserem Koalitionspartner absolut einig, dass die Rahmenbedingungen an den Schulen, insbesondere die Qualität der Mittagsverpflegung, verbessert werden müssen.
Was können denn die Kinder dafür, wenn ihnen in Kiosken nur Schokoriegel und süße Brause angeboten werden? Hier müssen wir beginnen. Wir dürfen nicht mit
irgendwelchen Kennzeichnungen Menschen reglementieren, sondern müssen auf Einsicht setzen.
({3})
Zu einem Werbeverbot im Fernsehen. Nicht, dass
Sie mich falsch verstehen: Wenn wissenschaftlich erwiesen wäre, dass ein Werbeverbot im Fernsehen dazu
führte, dass die Kinder nicht dicker würden, sondern abnähmen, dann wäre ich auf Ihrer Seite.
({4})
Aber in Schweden, wo die Werbung komplett verboten
ist, hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder in den
letzten Jahren im Schnitt verdreifacht. In Kanada haben
wir das gleiche Phänomen. Die Kinder haben dort, wo es
Werbeverbote gibt, nicht abgenommen, sondern weiter
zugenommen. Es ist falsch, eine Placebopolitik zu betreiben. Uns ist es ein ernsthaftes Anliegen, das von uns
definierte Ziel zu erreichen, dass Menschen gesünder
und ausgewogener leben. Es wäre sicherlich eine
Schlagzeile wert, wenn wir heute auf Initiative von
Herrn Seehofer eine Ampelkennzeichnung und ein Werbeverbot beschließen würden. Aber wir stünden in vier
Jahren wieder hier und stellten fest: Wir haben die Menschen nicht erreicht, weil es nicht in den Köpfen angekommen ist.
({5})
Das ist unsere verantwortungsvolle Aufgabe.
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen ganz anderen Ansatz. Sie setzt auf eine Stärkung bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, seien es die Landfrauen oder seien es andere Organisationen wie Elterninitiativen in meinem
Wahlkreis Bad Kreuznach. Sie bieten Kurse an, in denen
man spielerisch das Kochen erlernen kann. Herr Lafer,
ein Koch, der sicherlich allen bekannt ist, hat mir Folgendes erzählt: Er kocht mittags an Schulen in meinem
Wahlkreis und bietet ein Essen an. Die Hälfte der Kinder
hat die Tomatensoße zurückgehen lassen, weil sie nicht
schmeckte und weil dort Stückchen drin seien. Es waren
Tomatenstückchen. Dass eine Tomatensoße aus Tomaten
gemacht wird, ist für uns sicherlich einsehbar und eine
ganz normale Erkenntnis.
Das Ernährungswissen in Deutschland, auch der
Bezug zu Nahrungsmitteln, den Mitteln, von denen wir
leben, ist sehr schlecht ausgeprägt. Es darf uns nicht
wundern, dass Menschen eher den Preis einer Musik-CD
kennen, aber nicht wissen, dass es Fleisch unter einem
Euro eigentlich gar nicht geben könnte.
Die Wertschätzung der Produktion in Deutschland,
der regionalen Produktion, auch der Landwirtinnen und
Landwirte gehört ebenfalls in diese Gesamtstrategie.
Wir fordern die Regierung auf, lieber Herr Seehofer
- auch Ihre Kolleginnen und Kollegen; Frau Schmidt ist
ebenfalls da -, hier tätig zu werden. Ich begrüße sehr,
dass Herr Seehofer - im Gegensatz zu Frau Künast Frau Schmidt mit ins Boot geholt hat und sie sich abstimmen.
Ich wünsche mir auch, dass das Innenministerium,
das für Sport zuständig ist, und das Bildungsministerium, das für die Bildung und die Ausbildung unserer
Menschen in Deutschland zuständig ist,
({6})
sich zusammensetzen und die Projekte, für die wir Mittel
zur Verfügung stellen können, bündeln.
Eine weitere Aufgabe wird auch eine große Herausforderung sein - dabei schaue ich auch zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition -: Wir haben uns auf
eine Anhörung demnächst in unserem Ausschuss geeinigt.
({7})
- Wir haben sie nicht verhindert. Wir haben zugestimmt.
({8})
- Lieber Herr Kollege Goldmann, für eine Anhörung zu
sein, ist das eine. Aber auch darüber reden zu wollen,
was der Inhalt ist und dass der Inhalt sinnvoll ist, ist das
andere. Ihr seid für das Formale zuständig. Wir sind für
das Inhaltliche zuständig. Das ist gut so.
({9})
Bei dieser inhaltlichen Schwerpunktsetzung geht es
uns darum, die europäische Ebene, die Bundesebene, die
Landesebene und die kommunale Ebene trotz föderalistischer Probleme so zusammenzubringen, dass wir wirklich nachhaltig eine Volksbewegung für bessere Ernährung und mehr Bewegung bekommen, damit wir nach
Churchill sagen können: Man soll dem Leib etwas Gutes
bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.
({10})
Wir möchten den Menschen helfen und ihnen die Rahmenbedingungen geben, sie nicht gängeln, sondern ihnen Spaß und Freude am Leben vermitteln. Das ist das
Ziel der CDU/CSU-Fraktion.
({11})
Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ein nationaler Aktionsplan steht an. Viele - wir haben es heute
gehört - sind euphorisch. Ich bin eher skeptisch. Warum? Was hier vorliegt, ist eher Aktionismus denn eine
Strategie; das sage ich klipp und klar.
({0})
So richtig es ist, für die Beförderung einer gesunden Lebensweise alle einzubeziehen - alle Ministerien, Bund
und Länder, die Medien, die Wissenschaft, die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, den Sport, die Sozialversicherungen -: Der Knackpunkt ist, mit welcher Zielstellung miteinander verhandelt und diskutiert wird.
An dem Ansatz der Regierung gibt es aus meiner
Sicht drei wesentliche Kritikpunkte. Erstens. Sie wollen
ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und Bewegung
ausprägen. Frage: Wie ernst nehmen Sie eigentlich das,
was bisher geschah? Unzählige Experten und Akteure
haben seit dem Jahr 2000 über Gesundheitsziele für
Deutschland beraten. Eindeutig identifiziert ist, dass die
Ziele „gesunde Ernährung“, „mehr Bewegung“ und
„Stressabbau“ komplex angegangen werden müssen, um
chronische Krankheiten zu vermeiden und Wohlbefinden zu befördern.
Die WHO hat im letzten Jahr die seelische Gesundheit als die neue Herausforderung identifiziert. Sie
schätzt ein, dass die psychischen Erkrankungen im
Jahr 2020 die am häufigsten auftretende Krankheit sein
werden. Ja, die EU hat ein Grünbuch vorgelegt und
einen Beschluss zu gesunder Ernährung und mehr Bewegung gefasst. Warum müssen wir immer hinterhertrappeln, statt eigene strategische Empfehlungen und Erkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation für einen
Neuansatz abzuleiten, wenn es tatsächlich um einen nationalen Aktionsplan gehen soll?
({1})
Der zweite Kritikpunkt. Erfahrungen belegen - wir
fangen weiß Gott nicht bei null an -, und wissenschaftliche Erkenntnisse besagen: Aufklärung, Information und
Programme sind nicht ausreichend, um Verhalten dauerhaft zu verändern, wenn gesellschaftliche Verhältnisse
nicht ebenfalls verändert, wenn nicht die Ursachen der
Gesundheitsrisiken angegangen werden. Ihre Papiere
strotzen nur so davon, die Eigenverantwortung in den
Mittelpunkt zu schieben und staatliche Verantwortung
allenfalls auf Aufklärung und die berühmt-berüchtigten
Rahmenbedingungen zu reduzieren. Ich sage: Der Wille
bei den Einzelnen, bei den Akteuren ist da; nur die Bedingungen sind nicht so, um ihn zu realisieren.
Beispiele: Kindern, die unter den Bedingungen von
Hartz IV leben, stehen pro Tag rund 98 Cent für die Ernährung am Mittag zur Verfügung. Wer kann da eine gesunde Ernährung gewährleisten? In den Schulen werden
im Durchschnitt 2,40 Euro ausgegeben. Diese Forderung
gilt nicht nur in einem Bundesland, sondern überall: Hier
muss subventioniert werden, um eine unentgeltliche
Schulspeisung zu ermöglichen.
({2})
Das Bundesland, aus dem ich komme, MecklenburgVorpommern, setzt an, Ernährung für Gesundheit in
Reha- und Pflegeeinrichtungen zu organisieren, aber die
Pflegekostensätze lassen nur Masseneinkäufe zu.
({3})
Mit der Novellierung der Pflegeversicherung hat die
Politik seit Jahren versagt, auch so etwas zu ermöglichen.
Sie fordern Konzepte und appellieren an die Sportvereine. Sie kennen die finanzielle Ausstattung. Wie soll
dort etwas Neues geschehen? Es sollen Fahrradwege
ausgebaut werden, aber wir kennen die finanzielle Ausstattung der Kommunen. Ich denke, hier wird viel zu
kurz gegriffen.
Die dritte Kritik. Es fehlt an Konkretheit. Um es auf
den Punkt zu bringen: Das Eckpunktepapier ist sehr unkonkret. Das Memorandum der Konferenz von Februar
in Badenweiler, auf der ganz Konkretes vereinbart
wurde, wäre eine gute Grundlage gewesen. Darin steht,
bis 2010 sollten folgende Ziele erreicht werden:
10 Prozent mehr Menschen sollen eine halbe Stunde täglich körperlich aktiv sein, 20 Prozent mehr Menschen
sollen täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen,
30 Prozent mehr Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung sollen gesunde Mahlzeiten anbieten. Dann
könnte der Trend umgekehrt werden. Was findet sich im
Eckpunktepapier? Ich zitiere:
Zentrales Ziel ist es, bis 2020:
… das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern, …
„Nachhaltig“, allgemeiner geht es nicht.
Die fehlende Konkretheit beziehe ich auch darauf,
dass jegliche Aussage zum Präventionsgesetz fehlt.
({4})
Ich hatte gehofft, dass die Ministerin hier heute etwas ergänzt.
({5})
- Ihr Antrag ist eine löbliche Ausnahme. Aber man sieht,
wie die CDU/CSU applaudiert, nämlich gar nicht.
Welchen Platz soll das Präventionsgesetz in dem Aktionsplan einnehmen? Ich hoffe, dass es nicht auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Oder soll der
Aktionsplan vielleicht eine Beerdigung erster Klasse für
das Präventionsgesetz werden? Fragen bleiben. Wir hören nichts von der zuständigen Ministerin. Wir müssen
von dem Aktionismus wegkommen. Wir müssen uns
darüber klar sein: Wenn Prävention wirklich Priorität haben soll, dann kostet das etliches an Geld. Aber wir sparen Kosten und mindern Leid. Das ist wirklich zugunsten des Wohlbefindens derer, für die wir hier eigentlich
Politik machen.
Ich danke.
({6})
Frau Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Dicken
sind längst als Thema in den Medien angekommen; das
ist uns heute Morgen in einem Blatt gezeigt worden.
Mehrfach wöchentlich flimmern sogenannte Dokusoaps
über den Bildschirm, bei denen man sich zu Hause vor
dem Fernseher bei Chips und Cola mit wohligem Gruseln anschauen kann, wie eine von Ernährungsnannys
und Kamerateams heimgesuchte Familie ihre übergewichtigen Kinder mit falschem Essen krankfüttert.
In einer Sendung namens „Liebling, wir bringen die
Kinder um!“ wird das Ganze gekrönt durch eine Computersimulation aus der Kriminalistik, mit der den Eltern
anhand einer Fotobearbeitung die Mutation ihrer Moppelchen zu Monstern als Horrorszenario vorgeführt wird.
Eine weitere Simulation zeigt dann, dass aus denselben
Moppelchen auch Models werden können, wenn sie sich
an die Essenstipps der Ernährungsnannys halten.
Weitere Sendungen laufen unter Titeln wie „Du bist,
was du isst“, „Besser essen. Leben leicht gemacht“,
„Schwer in Ordnung! - Kinder specken ab“ oder „Dicke
Freundinnen. Kampf gegen Kilos“. Das sind nur ein paar
Beispiele. Einige dieser Sendungen geben sicherlich
wertvolle Tipps und setzen nicht auf den Sensationseffekt. Aber nicht immer wird mit den Betroffenen verantwortungsvoll umgegangen; denn: Je reißerischer aufgemacht, desto höher die Einschaltquoten.
„Die Zeit“ berichtete im letzten Jahr darüber, dass
Kinderärzte immer häufiger Medienanfragen erhalten,
ob sie aus ihrer Praxis nicht ein paar „extrafette Exemplare“ zum Interview vermitteln könnten. Das zeigt die
zwei Seiten der Medaille: So hilfreich es sein kann,
wenn die Medien sich des Themas annehmen - und damit auch Kreise erreichen, die auf anderen Wegen
schwer erreichbar sind -, so gefährlich ist es auch; denn
im Kampf um Einschaltquoten kann die Auseinandersetzung mit einem ernsthaften Problem zur Effekthascherei
auf Kosten der Betroffenen verkommen. Der Kampf gegen Übergewicht und Bewegungsmangel ist eben keine
Dokusoap, sondern eine politische und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
({0})
Seit September 2006 liegt uns mit der vom
Robert-Koch-Insititut veröffentlichten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie, abgekürzt KiGGS, erstmals
eine bundesweit repräsentative umfassende Untersuchung vor. Das erschreckende Ergebnis: 15 Prozent der
Drei- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, ein Drittel davon bereits krankhaft. Mit Übergewicht und Bewegungsmangel steigen die Gesundheitsrisiken. Jedes zweite
stark übergewichtige Kind hat bereits eine Folgeerkrankung wie Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Vorstufen
des Diabetes oder orthopädische Erkrankungen. Ohne
Gegenmaßnahmen könnten aus dicken Kindern von
heute die Frührentner von morgen werden.
Neben den enormen Kosten, die diese Entwicklung
für ein Gesundheitssystem hat, dürfen wir auch nicht
vergessen, dass hinter solchen Zahlen Leidensgeschichten einzelner Menschen stehen - verschiedene Kolleginnen und Kollegen haben dazu bereits Beispiele genannt -:
körperliche Beschwerden und Einschränkungen und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen Hänselei und
Ausgrenzung. Neben den körperlichen sind auch die
psychosozialen Belastungen groß.
Hauptrisikofaktoren für Übergewicht sind unter anderem ein niedriger sozialer Status und ein niedriges Bildungsniveau. Dabei ist gesundes Essen nicht teurer als
ungesundes. Hier muss die Aufklärung einsetzen. Wir
dürfen nicht zulassen, dass Kinder aus sozial schwachen
Strukturen in dieser Gesellschaft als „arm, dumm und
dick“ keine Chance auf eine bessere Zukunft haben.
Die Deutschen sind die Dicksten in Europa. Wir legen
heute einen Maßnahmenkatalog vor, mit dem dieser Entwicklung gegengesteuert werden soll. Wir begrüßen den
von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer vorgelegten Aktionsplan.
({1})
Diese im wahrsten Sinne des Wortes „schwerwiegende“ Aufgabe muss alle gesellschaftlichen Kräfte einbeziehen. Natürlich liegt die Verantwortung in erster
Linie bei den Eltern. Aber auch die Wirtschaft muss mitziehen. Das Überangebot an Snacks, Fast Food, Süßigkeiten und Getränken, die überall und zu jeder Tageszeit
verfügbar sind, häufig in XXL-Größen, verschärft die
Problematik. Ich appelliere an die Lebensmittelhersteller, insbesondere bei Produkten, die häufig von Kindern
gegessen und getrunken werden, also bei Säften, bei
Keksen und bei Snacks, Zucker und Fett zu reduzieren
und auf Geschmacksverstärker, die den Appetit anregen
und Heißhungerattacken auslösen, zu verzichten.
Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Auch über ein Verbot von auf Kinder ausgerichteter Werbung muss nachgedacht werden dürfen, ebenso
über eine Nährwertkennzeichnung, die Verbrauchern,
die sich ausgewogen ernähren wollen, die Auswahl der
Produkte erleichtert.
Nach meiner Meinung sollte ein ungesundes Essverhalten auch in finanzieller Hinsicht unattraktiver gestaltet werden. Wie ist zu rechtfertigen, dass Süßwaren und
Knabberartikel mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz
von 7 Prozent besteuert werden, während Mineralwasser
dem vollen Umsatzsteuersatz unterliegt? Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der Umsatzsteuer nach dem
Mehrwertsteuersystem zum 1. Januar 1968 entschieden,
dass fast alle Nahrungsmittel - ausgenommen sind die
meisten Getränke - aus sozialpolitischen Erwägungen
mit dem ermäßigten Satz besteuert werden. Solche sozialpolitischen Erwägungen können heute gute Gründe
dafür sein, ungesunde Nahrungsmittel in finanzieller
Hinsicht unattraktiver und gesunde dafür attraktiver zu
machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Aktionsplan der Bundesregierung und mit unserem Maßnahmenkatalog haben wir einen großen Schritt getan, weitere werden folgen. Dafür bitte ich Sie um Ihre
Unterstützung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Ziele, die Sie formuliert haben, sind richtig. Es ist auch schön, dass das, was Rot-Grün angefangen hat, von Ihnen fortgesetzt wird. Frau Künast hat einige Punkte angesprochen: die Modellprojekte, die
Informations- und Aufklärungskampagne, die HealthClaims-Verordnung der EU und die Plattform Ernährung
und Bewegung. Diese Bemühungen führen Sie fort.
Aber Ihr sogenannter Aktionsplan ist nichts anderes als
eine Absichtserklärung und ein Vertagungsprogramm.
Sie verhalten sich ähnlich wie beim Thema Ausbau der
Kinderkrippenplätze.
({0})
Das ist nach anderthalb Jahren erwartungsvollen Wartens ein bisschen wenig. So können Sie sich nicht aus Ihrer Verantwortung ziehen. Immer, wenn es konkret wird,
sitzen die Regierung und die Koalitionsfraktionen unter
dem Tisch.
({1})
Ich finde, es ist nicht in Ordnung, wenn der Minister
nur darauf hinweist, dass es in dieser Frage keine Bevormundung und keinen erhobenen Zeigefinger geben
dürfe. Es handelt sich nämlich um einen sogenannten
asymmetrischen Markt. Wir dürfen es nicht zulassen,
dass Eltern und Kinder mit Werbemitteln regelrecht beknallt werden und dass die Kinder in den Schulen vor
Automaten hängen, die mit Zuckergetränken und Süßigkeiten gefüllt sind. Wir müssen gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, um das zu ändern.
Die Situation ist für uns alle nicht neu: Es gibt Zehnjährige mit Altersdiabetes, Fünfjährige mit Herzinfarkt,
Kinder, die bei den Schuleingangsuntersuchungen nicht
mehr rückwärts gehen oder auf einem Bein stehen können, 18-Jährige, deren Muskelskeletterkrankungen schon
so weit fortgeschritten sind, dass sie erwerbsunfähig
sind, bevor sie überhaupt ins Berufsleben starten könnten. Hier müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Dazu bedarf es konkreter Maßnahmen, die wir in
Ihrem sogenannten Aktionsprogramm allerdings vermissen.
({2})
Viel von dem, was die Wirtschaft bisher geleistet hat,
ist gut. Es gibt Unternehmen, die sich sehr stark engagieren und sogar ihre Produktpalette und ihr Angebot verändert haben. Es gibt aber auch viele Unternehmen, die
genau das Gegenteil tun. Daher ist eine unterstützende
Rahmenpolitik des Gesetzgebers schlicht und ergreifend
notwendig. Wir sind schließlich keine Unternehmensberatung.
({3})
Sie haben fünf Handlungsfelder dargestellt. Frau
Bunge hat dargelegt, dass die konkrete Ausgestaltung
fehlt. Wir wollen Folgendes: Erstens. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen - die Mehrheit
auf allen Ebenen haben Sie da -, dass die Schulverpflegung verbindlich geregelt wird. Es kann doch wirklich
nicht sein, dass die meisten Kinder und Jugendlichen,
die nachmittags Unterricht haben, jeden Tag acht Stunden lang kein vernünftiges Ernährungsangebot bekommen. Das ist doch regelrecht ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen.
({4})
Zweitens: verbindliche Standards. Der Minister hat
das erwähnt, sagt aber nicht, wie das gemacht werden
soll. Richtig ist auf jeden Fall: Wir brauchen Qualitätsstandards, damit den Kindern nicht etwas angeboten
wird, was sich bloß als eingeschweißte Pappe herausstellt.
Drittens: die Automaten. Es kann nicht sein, dass sich
Schutzbedürftige einem Angebot ausgesetzt sehen, das
ihnen nur Produkte liefert, die ihnen nicht zuträglich
sind. Es ist schon erwähnt worden: Gut ist zum Beispiel
Mineralwasser. Gesündere Produkte gibt es also durchaus. Es muss nur dafür gesorgt werden, dass sie auch angeboten werden.
Viertens: noch einmal zur Kennzeichnung. Sie sagen,
Sie wollten Orientierung geben. Das sagte auch Frau
Klöckner. Aber im Grunde machen Sie das Gegenteil.
Ein bisschen wie beim Verbraucherinformationsgesetz
betreiben Sie nämlich Informationsverschleierung. Das
geht nicht.
Sie haben Frau Künast wohl falsch verstanden. Ich
habe die Tüte von Frau Künast mitgebracht.
({5})
Hierauf werden sehr differenziert fünf Kriterien dargestellt. Das ist eine Information, aber leicht verständlich.
({6})
Man kann doch nicht immer den Taschenrechner mitschleppen, oder man muss doch nicht Ernährungswissenschaft studiert haben, um eine Orientierung zu erhalten. Gerade für Leute, die keine Zeit haben, oder auch
für Leute aus bildungsferneren Schichten ist es wichtig,
ein solch einfaches Angebot zu haben.
Fünftens. Wir fordern in unserem Antrag ein 20-Millionen-Programm für sozial Schwache, für die Unterstützung derjenigen, die am meisten unter diesen Fehlentwicklungen leiden, die nun schon seit einigen Jahren
anhalten. Ich denke, das muss eine Zielgruppe sein. Wir
müssen die, die am unteren sozialen Rand sind, wirklich
unterstützen.
Sechstens: Prävention. Der Antrag von CDU/CSU
und SPD ist voll von dem Wort „Prävention“. Sie sagen
aber gar nichts zum Thema „Präventionsgesetz“.
({7})
Das ist doch wohl die Aufgabe des Gesetzgebers. Also,
bitte schön, dann nennen Sie auch wirklich die konkreten Punkte.
Siebtens: der Sport. Wichtig ist es, Breitensport zu
verankern und dafür zu sorgen, dass er in den Unterrichtsinhalten stärker zum Tragen kommt.
Achtens: die Landwirtschaft. Wir brauchen natürlich
Produkte, die eine gesunde Ernährung ermöglichen. Die
Lage, gerade was die Produktion von ökologischen Lebensmitteln betrifft, ist durch das Handeln der Bundesregierung traurig.
({8})
Qualität und verbraucherorientierte Produktion: Da haben Sie den Landwirten massenweise Geld gestrichen.
Der Landwirtschaft ist noch nie so viel Geld für die Qualitätsproduktion weggenommen worden wie unter dieser
Regierung. Man muss wirklich sagen: Dann machen Sie
auch bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte
die Qualitätsoffensive mit, zu der die Landwirtschaft selber in der Lage ist.
Frau Höfken, kommen Sie bitte Schluss.
Noch kurz zum Geschenkpaket des Deutschen Bauernverbandes: Darin war Müllermilch - ein Produkt mit
Orangen, massenhaft Zusatzstoffen, süß. Wenn das das
Beispiel für die deutsche Landwirtschaft sein soll, dann
muss man sich über die Vertretung Gedanken machen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Uda Heller, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Was, glauben Sie,
wünschen sich die Deutschen in Meinungsumfragen am
häufigsten? Richtig: Gesundheit steht immer an erster
Stelle. Wir beschäftigen uns heute nicht mit dem Kampf
gegen Fett, sondern mit dem Thema Gesundheit.
Leider legt die medizinische Wissenschaft den
Schwerpunkt auf die Behandlung der Krankheiten. Die
Erforschung der Krankheitsursachen tritt in den Hintergrund. Bei der Betrachtung aller Krankheitsauslöser
können wir die Krankheiten im Wesentlichen in drei
große Gruppen einteilen: in die ernährungsbedingten,
die durch Lebensumstände bedingten sowie die umweltbedingten Krankheiten.
Moderne Ernährungsforschung hat nachgewiesen,
dass durch falsche Ernährung der größte Teil aller
Krankheiten hervorgerufen wird. Gebissverfall, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Stoffwechselstörungen wie Fettsucht und Zuckerkrankheit, die meisten
Erkrankungen der Verdauungsorgane, Herz-KreislaufErkrankungen sowie die meisten Allergien und natürlich
auch die Entstehung von Krebs sind auf Fehlernährung
zurückzuführen. Atem- und Schlafstörungen werden
ebenfalls durch Übergewicht begünstigt.
Meine Damen und Herren, gesunde Ernährung und
ausreichende Bewegung sind nicht nur Dauerthemen in
Lifestyle-Magazinen wie „Fit For Fun“, sondern beherrschen mittlerweile die Titelserien der Nachrichtenmagazine wie „Stern“ und „Focus“. Interessant ist die Feststellung, dass mehr Zeitschriften verkauft werden, wenn
das Thema Diät auf der Titelseite steht. Frauenzeitschriften werben mit Wunderdiäten und -pillen, die über Nacht
das Gewicht reduzieren sollen.
({0})
Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg - das ist sicherlich der Wunsch von uns allen. Ich gebe zu, dass
auch ich schon diese Erfahrung gemacht habe und meinen Kleiderschrank mit Kleidungsstücken der Größen 38
bis 42 bestücke. In der Theorie ist alles klar; während
meines Studiums war Lebensmittel- und Ernährungslehre mein Lieblingsfach. Doch wie sieht es oft in der
Praxis aus? Gestern Abend sah ich einen Herrn von
Foodwatch im Fernsehen, der der Meinung war, die
Politik mache es sich sehr einfach, indem sie an die Eigenverantwortung der Bevölkerung appelliere, statt die
Schuldigen der Lebensmittelindustrie in Haftung zu nehmen. Prima, meine lieben Kollegen! Wenn ich demnächst einmal wieder zunehme, schimpfe ich auf die
Werbeindustrie, welche mich ständig verführt, und auf
die Zuckerindustrie, die Hunderte von leckeren Riegeln
anbietet.
Diese überspitzte Darstellung soll uns natürlich nicht
von der Tatsache ablenken, dass in unserem Land nur
etwa 30 Prozent der Bevölkerung normalgewichtig sind.
Nach den neuesten medizinischen Studien ist der
Bauchumfang ein zuverlässigerer Risikoindikator für
Herz-Kreislauf-Probleme als der bisher angewandte
Body-Mass-Index, der sich am Gesamtgewicht orientiert. Je höher die Ansammlung von Körperfett in der
Leibesmitte ist, umso höher ist das Gesundheitsrisiko.
Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
von den Medizinern ermittelten Grenzwerte nicht vorenthalten, aber bitte erschrecken Sie nicht: Bei den Damen sollte der Bauchumfang etwa 80 Zentimeter nicht
übersteigen, und die „grenzwertige Schwabbelmasse“
der Männer - ein schöner Ausdruck aus dem „Focus“
18/2007 - liegt bei 74 Zentimetern.
({1})
Ich empfehle Ihnen, meine lieben männlichen Kollegen,
bei Gelegenheit den hochinteressanten „Focus“-Leitartikel „Verflixter Bauch“ zu lesen.
({2})
Aber wie immer überreagieren wir in Deutschland. Zum
Menschen gehören nicht nur der Körper, sondern insbesondere auch der Geist und die Seele. Auch das sollten
wir nicht vergessen.
({3})
Die Meinung unserer Großeltern, dass runde Kinder
auch gesunde Kinder sind, ist medizinisch längst wiederlegt. Auch das übertriebene Schlankheitsbild unserer
Zeit entspricht keiner gesunden Lebensweise. So sind
bereits 20 Prozent der Kleinkinder übergewichtig und
über 10 Prozent untergewichtig. Bei Schulkindern verstärkt sich diese Tendenz, wie meine Kollegin Frau
Klöckner bereits ausführte. Wer als Kind dick war, bleibt
es meistens ein Leben lang. Fettzellen erinnern sich immer an diesen Start. Von den psychischen Schäden durch
Hänseleien ganz zu schweigen. Ernährungs- und Bewegungsverhalten werden bereits im Kindesalter erlernt.
Allerdings ändern sich gerade im Kinder- und Jugendalter die Geschmacksvorlieben. Somit sind sie noch gut
zu beeinflussen.
Verbote sind keine Lösung; auch das wurde heute
schon oft gesagt. Der richtige Umgang mit Lebens- und
Genussmitteln muss erlernt werden. Essen braucht Zeit
- auch das gehört heute dazu -, und Genießen muss gekonnt sein. Ein aktiver Lebensstil muss deshalb vom
ersten Tag an gefördert werden, damit Übergewicht gar
nicht erst entsteht. Dazu gehört auch, dass nicht Zahnpastaprodukte für Kinder schon mit Zucker versehen
werden, um den Geschmacksnerv anzuregen.
Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe, Professor Klaus Vetter,
berichtete, dass schon die Neugeborenen heute sehr viel
größer und schwerer sind. Als vor 34 Jahren mein erster
Sohn geboren wurde, waren Kinder mit 2,5 Kilogramm
normalgewichtig. Schaue ich heute in die Lokalpresse,
in der Neugeborene meiner Heimat vorgestellt werden,
stelle ich fest, dass das Durchschnittsgewicht zwischen
3,5 und 4 Kilogramm liegt. Auch größer sind die Babys
geworden. Verantwortlich dafür sind angeblich das hohe
Geburtsalter der Mütter und hierdurch hervorgerufene
Stoffwechselstörungen, die sich häufig in Übergewicht
der Babys niederschlagen.
Das spätere Gewicht eines Menschen wird bereits vor
der Geburt durch das Gesundheitsverhalten der Mutter
und die Gewichtsentwicklung in den ersten Lebensjahren maßgeblich mitgeprägt. Deshalb erwarte ich von den
Müttern eine bewusste Ernährung während der Schwangerschaft - natürlich ohne zu rauchen; auch dieses
Thema darf man hier nicht aussparen - sowie die Bereitschaft, das Neugeborene zu stillen.
Für eine erfolgreiche Prävention gegen Übergewicht
im Kindes- und Jugendalter müssen die Maßnahmen auf
den sozialen Status und die geschlechtsspezifischen Unterschiede ausgerichtet sein. Prävention muss bedürfnisgerecht sein, sonst ist sie wirkungslos. Im Vordergrund
muss das spielerische Erlernen von Handlungskompetenzen statt der alleinigen Vermittlung von Wissen stehen.
Im Geiseltal im Süden von Sachsen-Anhalt gibt es die
Kneipp- und Naturkindertagesstätte „Gänseblümchen“, die seit 1990 genau diesen Denkansatz in absolut
vorbildlicher Weise umsetzt. In dieser Naturkindertagesstätte, umgeben von Wald, Wiesen und Feldern, haben
die Kinder die optimale Voraussetzung, die Vielfalt von
Naturerlebnissen zu entdecken, die Wirkprinzipien der
kneippschen Lehre am eigenen Körper zu spüren, die
Wirkung von Heilkräutern auf die Gesundheit zu erfahren und gemeinsam zu kochen. Die Naturkindertagesstätte hat 2002 im Rahmen der Kampagne „Fit Kid“
erfolgreich mit dem Beitrag „Unsere kunterbunte Kinderküche“ teilgenommen. Bei meinem Besuch dort war
ich beeindruckt von der spielerischen und mit der Natur
in Einklang stehenden Art, den Kindern ganzheitliche
Bildung nahezubringen und kindliche Kompetenz zu
stärken. In der vergangenen Woche überraschten die
Kneipp-Kinder die benachbarten Grundschüler mit gesunden und leckeren Pausenbroten - ich denke, eine
tolle Aktion.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein solcher
ganzheitlicher und gleichzeitig kreativer und individueller Ansatz langfristig auch der Schlüssel zur Lösung einiger unserer Probleme ist - Ernährungserziehung in
spielerischer Weise. Sachsen-Anhalt gehört zu den wenigen Ländern, die im Schulgesetz verankert haben, dass
Schulträger eine warme Vollwertmahlzeit für alle Schülerinnen und Schüler anbieten müssen. Das gibt es also
schon. Diese wird überwiegend durch Fernversorger gewährleistet. Hilfreiche Broschüren werden den Verantwortlichen an die Hand gegeben. Ich habe einmal zwei
mitgebracht: „Schulspeisung - gesund und lecker!
Handlungsanleitung für Caterer“ und „Schulessen - Wie
wählen wir den richtigen Anbieter? Eine Entscheidungshilfe für Eltern und Lehrer“.
Unsere Landesregierung, die übrigens die einzige in
Deutschland ist, die einen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem Tag der Geburt im Gesetz festgeschrieben
hat, ist bemüht, diese Betreuungsphase mit vielfältigen
Arbeitsprogrammen in den Kitas zu begleiten, basierend
auf der Erkenntnis, dass gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung bereits im frühen Kindesalter erlernt
werden können. Auf Grundlage der Bildungsprogramme wird das Modellprojekt „Bildung durch Bewegung in Kindertagesstätten“ durchgeführt und mit Landesmitteln gefördert. Wissenschaftler am Institut für
Sportwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität
Magdeburg haben gemeinsam mit sechs Kindertagesstätten ein Förderprogramm entwickelt, das die Praxis in
den Kitas mit zahlreichen Beispielen und methodischen
Hinweisen unterstützt.
Frau Kollegin Heller, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Bewusst wurde hier ein fachpolitischer Schwerpunkt gesetzt.
Ich begrüße sehr die Pläne der Bundesregierung, Ernährung und Gesundheit als Pflichtfach in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen.
({0})
Flankierend dazu sollte der Sportunterricht wieder deutlich aufgewertet werden; denn durch Stundenreduzierung wurden die vorschulkindlichen Aktivitäten zurückgeführt. Zu den Schulzeiten meiner beiden Söhne gab es
das Grundfach „Schulgarten“, welches mit praktischer
Tätigkeit den Anbau von Obst und Gemüse auf eigens
dafür vorgesehenen Flächen ermöglichte.
Frau Kollegin Heller, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
Ja. - Wer miterlebt, wie viel Mühe
({0})
die Aufzucht eines Pflänzchens macht, der weiß auch
den Genuss eines frischen Salatkopfes mehr zu schätzen.
Vielen Dank.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist uns doch allen klar, dass falschem Ernährungsverhalten und Bewegungsmangel gesetzlich nicht entgegengewirkt werden
kann.
({0})
Wir müssen auf Freiwilligkeit setzen und die Menschen
in ihrem Alltag abholen. Genau aus diesem Grund ist
dieser Aktionsplan von Herrn Bundesminister Seehofer
gut und richtig!
({1})
Liebe Kollegin Ulrike Höfken, Sie sprechen von einer
Absichtserklärung und leeren Worten. Wenn wir aber auf
ein Mitmachen setzen, den Föderalismus als Chance begreifen und genau diese Programme von unten her begleiten, dann haben wir auch eine Chance, die Menschen
zu erreichen. In Ihrem Vortrag war die Rede von acht
Stunden Schulunterricht ohne Mittagessen. Da kann ich
den Kindern aus Rheinland-Pfalz nur empfehlen:
Kommt nach Sachsen-Anhalt. Da gibt es Mittagessen,
und zwar ein gesundes. - Das hat meine Kollegin Uda
Heller eben gesagt.
({2})
In den wenigsten Familien ist es heute so, dass noch
regelmäßig gemeinsam gegessen wird. Dafür nimmt der
Konsum von Fertiggerichten zu; das wissen wir alle. Wir
haben in dieser Debatte auch festgestellt, dass veränderte
Lebensstile zu verändertem Bewegungsverhalten und
fehlendes Wissen um gesunde Ernährung zu Fehlernährung führen. An dieser Stelle müssen wir gegensteuern.
Die Debatte zeigt, dass wir das - auch wenn wir unterschiedliche Wege suchen - alle wollen.
Diese Debatte zeigt auch deutlich, dass sich gesundes
Verhalten und die Prävention von Fehlernährung und
Bewegungsmangel nur durch ein Bündel von Maßnahmen umsetzen lassen. Wir haben uns in unserem Antrag
auf das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen
konzentriert, und wir planen ein solches Bündel gemein9830
Waltraud Wolff ({3})
sam mit dem Aktionsplan der Bundesregierung. Die
Maßnahmen sind notwendig, sinnvoll und ein Baustein
einer vorsorgenden Politik, der - das bitte ich Sie zu bedenken - nicht allein steht. Dass es zum Gesundheitsministerium und zum Familienministerium Kontakte
gibt und eine gemeinsame Aktion läuft, ist deutlich geworden.
Das Öko-Institut hat gestern gemeinsam mit anderen
Organisationen gefordert, dass in einen Aktionsplan Ernährung auch ökologische und ethische Werte und Aspekte aufgenommen werden müssen. Das stimmt! Es ist
wichtig, bei der Produktion und dem Konsum von Lebensmitteln die Umwelt und die fairen Handelsbeziehungen im Auge zu behalten. Umgekehrt gilt natürlich,
dass Lebensmittel, wenn sie nur als Sonderangebot
wahrgenommen werden, an Wertschätzung verlieren.
Das sage ich ganz bewusst auch als Landwirtschaftspolitikerin. Das darf nicht sein!
Wir sollten aber eines nicht tun: Wir sollten diese Debatte zum Thema der Fehlernährung hier und heute nicht
überladen. Wir haben in unserem Antrag den Schwerpunkt auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von
Kindern und Jugendlichen gelegt, und zwar aus gutem
Grund. Gesundes Verhalten muss möglichst früh gelernt
werden. Wir müssen deshalb bei Kindern und Jugendlichen das Bewusstsein dafür wecken, dass gutes Essen
wirklich schmeckt, dass gesundes Verhalten die Lebensqualität verbessert und dass Spaß und Freude einziehen.
In der letzten Wahlperiode haben wir die Plattform
Ernährung und Bewegung gegründet. Damit haben wir
angefangen, alle gesellschaftlichen Gruppierungen zu
vernetzen. Darauf bauen wir jetzt auf. Wir wollen die Jugendlichen in ihrem Lebensumfeld erreichen.
Es gab in der letzten Legislaturperiode einen Wettbewerb, von dem ich ganz kurz berichten möchte. Es gab
nämlich in meinem Wahlkreis, in Barleben, einen Wettbewerbsgewinner. Die NABU-Ortsgruppe hat mit der
Einrichtung einer Vollwertküche gepunktet. Die Kinder
in einer Sekundarschule bieten selber eine Pausenversorgung an, die sie aus gesunden Nahrungsmitteln herstellen. Sie bieten ihren Mitschülerinnen und Mitschülern
Getränke an, die auch angenommen werden. Das ist ein
Beispiel dafür, dass man auf Freiwilligkeit setzen kann
und setzen soll.
Wir behandeln diesen Tagesordnungspunkt in der
Kernzeit, weil es sich um ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Thema handelt. Wir werden in der Zukunft mit Problemen im Gesundheitssystem zu rechnen
haben,
({4})
wenn wir die Fehlernährung nicht als wichtiges Thema
begreifen. Wir nehmen diese Verantwortung mit dem
heute vorgestellten Gesetzentwurf genauso wie mit den
anderen Bausteinen unserer Politik an.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Für uns als
Abgeordnete des Deutschen Bundestages hätte ich zum
Schluss eine kleine Idee. Wir sollten vielleicht einmal
über eine Mittagspause nachdenken
({5})
und möglicherweise auch über Duschen in den Büroräumen, damit man zwischendurch einmal Joggen gehen
kann.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5258 und 16/5271 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
- Drucksache 16/5200 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Katrin Kunert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
- Drucksache 16/5245 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat hat dieser Gesetzentwurf eine lange
Geschichte. Auf die Verbesserung des GemeinnützigPetra Hinz ({0})
keitsrechts arbeitet die SPD-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren hin. Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
im Dezember 1999 wurde der Grundstein gelegt. Im Juni
2002 wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“ ins Leben gerufen.
Jetzt reden wir über den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der vor der Sommerpause verabschiedet werden
soll. Bereits jetzt möchte ich darauf hinweisen, dass die
Vertreterinnen und Vertreter im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements sehr großen Einfluss auf das
gehabt haben, was heute vorliegt. Wir reden über eine
Entlastung in der Größenordnung von 440 Millionen
Euro. Damit kommen wir den Menschen entgegen, die
sich ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagieren.
({1})
Ich möchte hier insbesondere diejenigen erwähnen,
die vom ersten Tag an dabei waren. Für meine Fraktion
sind das Michael Bürsch und Ute Kumpf. Wir haben in
den vergangenen Monaten die Diskussion über die Überarbeitung der rechtlichen Rahmenbedingungen intensiv
geführt und für eine weitere Stärkung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts geworben.
Ehrenamtliches Engagement muss gefördert werden
und darf nicht erschwert werden. Mit diesem Gesetzentwurf, den wir in den nächsten Wochen beraten werden,
werden Belastungen für die Ehrenamtlichen vermieden
und Anreize geschaffen.
Die entscheidenden Regelungen für die Bestimmung
des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts finden sich
in verschiedenen Gesetzen wieder. Ich erwähne hier nur
einige, um deutlich zu machen, wie schwierig es ist, sich
in unserer Gesellschaft ehrenamtlich zu engagieren.
Das Einkommensteuergesetz gibt die steuerliche Behandlung von Zuwendungen an gemeinnützige Organisationen vor. Die Einkommensteuer-Durchführungsverordnung enthält eine Aufzählung gemeinnütziger
Zwecke, nach denen Zuwendungen einkommensteuerlich geltend gemacht werden können. Schließlich definiert die Abgabenordnung gemeinnützige, mildtätige
und kirchliche Zwecke, für die eine steuerliche Begünstigung vorgesehen ist.
Diese Vielzahl von gesetzlichen Regelungen führt immer wieder zu Intransparenz und erhöhtem Aufwand für
die Finanzbehörden, aber auch - das ist entscheidend zu einer unterschiedlichen Behandlung gleicher Tatbestände, weil die Finanzämter je nach Bundesland unterschiedlich bewerten. Die steuerliche Begünstigung von
gemeinnützigen Organisationen ist sehr wichtig und
wird auch in Zukunft eine herausragende Rolle spielen.
Ziel der anstehenden Ausschussberatungen muss es sein,
die gesetzliche Grundlage zu vereinfachen und gleichzeitig mögliche Fehlinterpretationen von vornherein zu
vermeiden.
Die Koalition ist sich einig - das kann ich, glaube ich,
auch für die CDU/CSU sagen; denn ich beziehe mich auf
den Koalitionsvertrag -, dass bürgerschaftliches Engagement in Deutschland unverzichtbar geworden ist. Wir
benötigen eine gute Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements auch deshalb, weil es den Staat von Aufgaben in vielen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen entlastet,
({2})
zu deren Erfüllung der Staat aufgrund seiner finanziellen
Ausstattung nicht mehr in der Lage ist.
Jetzt möchte ich einige Fakten nennen. Die Zahlen,
die ich nennen werde, stammen nicht vom BMF. Vielmehr habe ich gestern eine Ehrenamtsagentur in Essen
angerufen, die mir folgende Zahlen nannte: Es gibt in
Deutschland 23 Millionen ehrenamtlich tätige Menschen. Das sind rund 36 Prozent der Gesamtbevölkerung. Nahezu jeder dritte Bundesbürger über 14 Jahre
engagiert sich ehrenamtlich. Von der Sozialstruktur her
sind es Schüler, Studenten, Auszubildende sowie Rentner und Arbeitslose oder Angehörige besonderer Berufsgruppen, die sich ehrenamtlichem Engagement und der
Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben kostenlos stellen.
Wir reden hier über Steuervergünstigungen. Ich
habe am Montag ein Gespräch mit einer Kollegin aus
dem ehrenamtlichen Bereich, aus dem Sportbereich, geführt. Sie sagte - dies hat mich sehr beeindruckt -, wir
dürften mit dem, was wir hier zu Recht beschließen
wollten, nicht zwei Klassen von Ehrenamtlichen schaffen, nämlich diejenigen, die keine Möglichkeit hätten,
etwas steuerlich abzusetzen, und diejenigen, die wir jetzt
zu Recht fördern wollten.
Was bedeutet ehrenamtliches Engagement für den
Staat in Geldleistung und Arbeitsstunden? Ehrenamtliche leisten durchschnittlich zwei Arbeitsstunden pro
Woche. Dies sind somit 46 Millionen Arbeitsstunden in
der Woche. Man sollte sich einmal vorstellen, wie viel
gemeinnützige Arbeit durch Ehrenamtliche in den Kommunen übernommen wird. Für ganz Deutschland ergeben sich somit rund 2,4 Milliarden Arbeitsstunden pro
Jahr.
Setzt man nun den angestrebten Mindestlohn von
7 Euro an - hierbei geht es um eine zukunftsgerichtete
Diskussion -, dann lässt sich aus der Tätigkeit der Ehrenamtlichen ein geldwerter Vorteil in einer Größenordnung von - ich erlaube mir, diesen Betrag zu runden 17 Milliarden Euro pro Jahr errechnen. An dieser Stelle
sollte man all denjenigen ein Dankeschön sagen, die sich
in diesem Bereich engagieren.
({3})
Um welche Bereiche geht es? Das sind die Bereiche
Sport und Bewegung; wir haben gerade eine sehr ausführliche Diskussion zu diesem Thema geführt. Es geht
um die Bereiche Schule und Kindergärten, um soziale
Bereiche, um die Kultur und die Feuerwehr bzw. Rettungsdienste. Alle in diesen Bereichen Tätigen engagieren sich für den Staat, ohne zu fragen: Was bringt mir
das?
Bürgerschaftliches Engagement muss mit Nachdruck
gefördert werden - darum geht es -, sodass die Freiwilli9832
Petra Hinz ({4})
gen bei ihrer Leistung für unsere Gesellschaft weder
finanzielle Nachteile haben noch ohne Schutz des Staates sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage
der Haftung anzusprechen.
Vor dem Hintergrund der Entwicklung unserer Gesellschaft muss auch gesagt werden, dass es nicht ausreicht, Anreize für freiwilliges Engagement nur in der
Jugend zu schaffen. Mit diesem Entwurf wollen wir vielmehr generationsübergreifend Anreize schaffen - auch
das ist ein ganz wichtiger Aspekt -, um alle Alters- und
Berufsschichten sowie Generationsgruppen zu motivieren, einen Dienst für die Gesellschaft zu leisten.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die
Entbürokratisierung Einzug hält. Ich habe gerade über
die verschiedenen Steuerrechtstatbestände gesprochen,
die unterschiedlichst greifen. Meine Fraktion steht dafür,
in den Fachausschussberatungen das Gemeinnützigkeitsund Spendenrecht so zu verbessern und zu vereinfachen,
dass die gewünschten größeren Anreize, sich ehrenamtlich zu engagieren, auch tatsächlich entstehen.
Was steht jetzt im Einzelnen im Entwurf? Ich will
ganz kurz die Überschriften nennen. Es geht um die Anhebung der Übungsleiterpauschale. Der Freibetrag soll
von 1 848 Euro auf 2 100 Euro angehoben werden. Es
geht um die Einführung einer Steuerermäßigung für die
ehrenamtliche Tätigkeit zur Förderung mildtätiger Zwecke. Dies betrifft all diejenigen Menschen, die stille
Arbeit leisten, wenn sie sich um ältere, kranke und behinderte Menschen kümmern und dies in einem Zeitaufwand von mindestens 20 Stunden im Monat tun. Hier ist
die Einführung einer Steuerermäßigung in Höhe von
300 Euro vorgesehen.
Die Anhebung der Zweckbetriebsgrenze: All diejenigen, die in Vereinen aktiv sind, kennen die Thematik. Es
geht um die Vereinsgaststätte. Der Verein lebt von der
Vereinsgaststätte. Hier wird darüber diskutiert, die Besteuerungsgrenzen anzuheben.
Sonderausgabenabzug von Mitgliedsbeiträgen in Kulturfördervereinen: Hier geht es um die sogenannten
Freikarten und alles, was damit zusammenhängt. Eigentlich wäre das steuerrechtlich als geldwerter Vorteil
zu sehen. Aber in diesem Fall soll es nicht angerechnet
werden.
Absenkung des Haftungssatzes: Er soll von 40 auf
30 Prozent gesenkt werden. Das darf man nicht unterschätzen. Denn gerade die gemeinnützig und ehrenamtlich Tätigen müssen sich darauf verlassen können, dass
die Zuwendungen, die sie in Form von Spenden erhalten,
rechtlich abzusetzen sind und das einer rechtlichen Prüfung standhält.
Ein anderer Bereich ist der der Stiftungen. Wir haben
gestern in der Beilage einer Zeitung vieles über Stiftungen lesen können. Was wären wir ohne unsere ehrenamtlich Tätigen und auch ohne unsere Stiftungen? Alle die,
die im kommunalen Bereich aktiv sind, wissen, dass sehr
viele Angebote im Freizeitbereich, im Jugendbereich
und im Sportbereich durch Stiftungen gefördert werden.
Auch hier sind weitere Verbesserungen möglich.
Zusammengefasst sage ich: Ich wünsche uns eine intensive und faire Beratung. Wir sollten hervorheben,
dass wir auf Grundlage dieses Gesetzentwurfs - Herr
Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist;
ich komme zum Schluss - den Ehrenamtlichen über
440 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Wir sollten
aber auch immer im Hinterkopf behalten, dass wir keine
zwei Klassen der ehrenamtlich Aktiven schaffen.
Ich freue mich auf die Beratung.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
brauche hier nicht lange zu betonen, wie wichtig uns das
Ehrenamt ist. Es gibt keinen hier im Raum, dem das
Thema nicht besonders am Herzen liegt. In dieser Frage
unterscheiden wir uns nicht.
Ich komme deshalb gleich auf das zu sprechen, was
uns unterscheidet. Das ist die Beurteilung der Qualität
dieses Gesetzentwurfs. Der Entwurf ist unter dem Strich
gesehen schwach. Sie, Frau Kollegin Hinz, haben darauf
hingewiesen, dass der Entwurf jetzt im Rahmen der Beratung verbessert werden muss.
({0})
Angeblich wollen Sie mit diesem Entwurf das bürgerschaftliche Engagement stärken. In nahezu allen Bereichen, die strukturelle Fragen betreffen, ist der Entwurf
aber die Fortschreibung des Status quo. So stärken Sie
das Ehrenamt letztlich nicht. Sie nennen sich Große Koalition, bringen aber nichts Großes zustande.
({1})
Schauen wir uns einmal an, was Sie uns hier präsentieren. Sie satteln bei einigen Steuervergünstigungen
drauf und lassen sämtliche Strukturfragen offen.
({2})
- Ich komme noch darauf zu sprechen, Herr Kollege.
Man fragt sich, ob Sie sich ein einziges Mal Gedanken über das Verhältnis des Ehrenamts zu Staat und
Markt gemacht haben.
({3})
Der Entwurf ist derart obrigkeitsgeprägt, dass man nur
mit dem Kopf schütteln kann. Im Mittelpunkt steht bei
Ihnen nicht eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, die
selbstständig über Art und Umfang ihres Engagements
entscheidet,
({4})
nein,
({5})
bei Ihnen steht der Staat, der über das bürgerschaftliche
Engagement urteilt, im Zentrum des Geschehens.
({6})
Sie haben das sehr schön gesagt: Es gibt Gruppen, die
Ihnen mehr wert sind, und Gruppen, die Ihnen weniger
wert sind.
({7})
Was dem Staat gefällt, wird finanziell unterstützt, und
die restliche Zivilgesellschaft wird bestenfalls ignoriert.
Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie es geschafft hätten, den
Staat zurückzunehmen.
({8})
Es ist doch in erster Linie Sache der Bürgerinnen und
Bürger, zu entscheiden, wofür sie sich in welchem Umfang engagieren möchten.
({9})
- Ja, sie tun das freiwillig in ihrer Freizeit. Deswegen
wäre es schön, wenn wir nicht einzelne Aufgaben bevorzugen und andere ausschließen würden, wie Sie es tun.
({10})
Richtig wäre es gewesen, wenn man für alle Formen
des bürgerschaftlichen Engagements klare und gerechte
Rahmenbedingungen geschaffen hätte. Genau das ist
mit dem Entwurf bisher nicht gelungen und muss verändert werden. Die Zivilgesellschaft braucht einen Wechsel vom gewährenden hin zum ermöglichenden Staat.
Genau das schaffen Sie nicht. Wir brauchen vor allen
Dingen auch eine deutlich erkennbare Abgrenzung zwischen den drei Akteuren Markt, Staat und Zivilgesellschaft.
({11})
Dazu findet man in Ihrem Entwurf kein Wort.
Im Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und privaten
Dienstleistungsunternehmen sind eine ganze Reihe von
Wettbewerbsfragen zu klären, die Sie nicht ansatzweise beantworten. Auch was die Vereinfachung angeht,
kommen wir mit Ihrem Entwurf nicht weiter. Sie haben
es nicht geschafft, die steuerrechtliche Behandlung
gemeinnütziger Organisationen grundlegend einfacher
zu gestalten. Sie haben es nicht geschafft, die für Ehrenamtliche besonders wichtigen Vorschriften in einem
Gesetzbuch zusammenzufassen. Sie haben es nicht
geschafft, das Akkreditierungsverfahren zu vereinfachen.
({12})
Das wäre gerade für kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen, die oft keine steuerliche Relevanz haben,
ohne Kostenaufwand möglich gewesen. Von all dem findet sich in diesem Gesetzentwurf nichts.
({13})
- Herr Bürsch, ich kann die Reihe der Mängel fortsetzen.
Wir bräuchten auch dringend mehr Transparenz im Bereich der Zivilgesellschaft. In Ihrem Gesetzentwurf steht
darüber null.
({14})
Die Frage der Transparenz ist eine ganz wesentliche
Frage;
({15})
denn wenn Sie zivilgesellschaftliche Organisationen privilegieren, dann schulden diese der Öffentlichkeit auch
Informationen. Das übergehen Sie in Ihrem Entwurf einfach.
Wie Sie mit dem Stiftungswesen umgehen,
({16})
das haben Sie ja hervorgehoben:
({17})
Sie haben eine Grenze von 750 000 Euro eingeführt, und
lassen sich jetzt als großzügige Stiftungskulturförderer
feiern.
({18})
Das ist aber kein Aufbruchssignal; das ist schwach. Das,
was Sie uns hier präsentieren, sind kleine Schritte.
({19})
Dabei wäre es dringend nötig, die Stiftungskultur in
Deutschland zu fördern.
({20})
Wir brauchen Stiftungen. Schauen Sie sich an, was sich
in anderen Ländern vollzieht. Gerade im kulturellen Bereich haben wir viel zu erwarten. Hier liegen enorme
Chancen. Diese Chancen kann man in unserem Land
aber nicht wecken, wenn man es so macht wie Sie und
sich auf einen Höchstbetrag von 750 000 Euro beschränkt. Sie starten angeblich durch, verwechseln aber
leider das Gaspedal mit der Bremse.
({21})
Wenn man bedenkt, dass diese halbherzige Politik
auch noch Millionen an Steuergeldern verschlingt, bleibt
am Ende eine nüchterne Bilanz dessen, was Sie uns bisher vorgelegt haben.
({22})
Zwar wird keiner, für den Sie mit diesem Gesetzentwurf
Verbesserungen schaffen, Ihr Vorhaben kritisieren, es
gibt aber viele, die sich ehrenamtlich engagieren, an die
Sie nicht gedacht haben, die nicht profitieren. Alle, die
in einer Zivilgesellschaft aktiv sind, werden spüren, dass
Ihnen hier kein großer Wurf gelungen ist. Ich denke, Sie
hören selbst die Kritik aus den Verbänden.
({23})
Deswegen muss nachgearbeitet werden. Der vorliegende Entwurf ist unterm Strich armselig, nicht offenherzig und stärkt die Zivilgesellschaft in keiner Weise.
Deswegen muss dieser Gesetzentwurf, der nichts anderes als eine in Gesetzesform gegossene Anspruchslosigkeit der Großen Koalition darstellt, verändert werden.
Wir brauchen eine selbstständige, selbstbewusste und
von Markt und Staat klar abgegrenzte Zivilgesellschaft.
({24})
Die wollen Sie offensichtlich nicht.
({25})
Zumindest sind Sie auf dem falschen Weg.
({26})
Wir werden uns an den Beratungen aktiv beteiligen, damit wir einen Schritt weiterkommen.
Was Sie bisher zum Ehrenamt vorgelegt haben, ist
wenig, sehr wenig. Da ist mehr drin. Die Menschen, die
sich in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagieren, haben mehr verdient. Lassen Sie uns in den Beratungen
mehr daraus machen als das, was die Bundesregierung
vorgelegt hat!
({27})
Das ist für die deutsche Zivilgesellschaft zu wenig.
({28})
Das Wort hat der Kollege Eduard Oswald von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Volker Wissing, ich bedauere, dass Sie den Gesetzentwurf in dieser pauschalen Form ablehnen, ohne
sich mit den Details überhaupt beschäftigt zu haben. Das
ist sicher der falsche Weg.
({0})
Wir alle wissen: Ohne Ehrenamt ist kein Staat zu machen. Jede Gemeinschaft lebt von den Menschen, die
mehr tun, als es ihre unmittelbare Pflicht ist. Deshalb ist
es unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe, all diejenigen zu unterstützen, die sich in Familie, Nachbarschaft
und Ehrenamt einbringen. Unser Ziel als CDU/CSU ist
es, die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement zu verbessern.
({1})
Wir wollen die Mitwirkung und Beteiligung der Bürger
ermöglichen. Dieses bürgerschaftliche Engagement
muss der Staat nach Kräften unterstützen, und zwar sowohl in organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht. Dazu gehört die Schaffung günstiger steuerlicher
Rahmenbedingungen. Dieses Vorhaben der Großen
Koalition, dieser Bundesregierung, ist ein Ausdruck der
gestaltenden Finanzpolitik und ist eine Investition in den
Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
({2})
Die anstehenden Probleme können und dürfen aber
nicht vom Staat allein gelöst werden. Es ist gesellschaftspolitisch wünschenswert, dass Bürger in Ergänzung zum Staat Gemeinwohlaufgaben übernehmen ohne dadurch zum Lückenbüßer staatlicher Politik zu
werden. Wir müssen also eigenbestimmte Handlungsformen und die Übernahme von Verantwortung fördern und
unterstützen. Die Förderung des Gemeinwohls kann dabei nicht allein dem notwendigerweise gewinnorientierten Markt überlassen werden.
Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie die Menschen bereit sind, sich in ihr zu engagieren. Die Gemeinschaft
lebt von denen, die mitspielen, nicht von denen, die zuschauen.
({3})
Wir brauchen in der Gesellschaft nicht nur Zuschauer
und Schiedsrichter, sondern auch aktive Mitspieler. So
gehört es zur Erziehung zu Werten, zu Bildung für das
Leben, dass schon junge Menschen zu Jugendarbeit, zu
ehrenamtlichem Einsatz, zu Teilnahme am Vereinsleben
ermutigt und unterstützt werden.
Der Staat darf den, der sich für die Gemeinschaft einsetzt, nicht alleinlassen. Wenn sich jemand ins Private
zurückzieht, ist dies seine Freiheit. Wer aber bereit ist,
im Ehrenamt einen Beitrag für Staat und Gesellschaft zu
leisten, dem muss die Gemeinschaft mit den notwendigen Rahmenbedingungen helfen. Bürger, die sich engagieren, benötigen einen rechtlichen Handlungsrahmen, der einfach und deswegen verständlich ist und sie
nicht - etwa durch strenge Haftungsregeln - überfordert.
Darüber müssen wir in den Ausschussberatungen intensiv reden.
Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzeswerk auf dem
richtigen Weg. Es ist gut, dass der Finanzminister das
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates nicht zur
Grundlage seiner Vorschläge gemacht hat.
({4})
Der Finanzminister hat mit diesem Entwurf vielmehr die
in der Koalitionsvereinbarung festgelegten und von der
Union immer als Leitlinien geforderten Positionen umgesetzt.
Dies ist heute die erste Lesung. Wir werden in den
Ausschüssen und bei einer Anhörung intensiv zu überlegen haben, wie wir das, was vorliegt, qualitativ weiterentwickeln können. Für uns ist es enorm wichtig, das
Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht zu entbürokratisieren. Vergessen wir nicht, dass auch und gerade breite
Bereiche des kulturellen Lebens auf bürgerschaftlichem
Engagement beruhen. Sowohl die geplante verbesserte
steuerliche Absetzbarkeit dieses Engagements als auch
die Erhöhung der Spendenabzugsfähigkeit auf 20 Prozent sind ein wichtiges Signal der Ermutigung an die
Bürgerinnen und Bürger, sich zugunsten des Allgemeinwohls zu engagieren.
({5})
Die Zusammenführung von spendenbegünstigten und
gemeinnützigen Zwecken aus der Abgabenordnung und
der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung in diesem Katalog ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu
weniger Bürokratie und hat unsere volle Unterstützung.
Natürlich haben wir noch Diskussionsbedarf, vor allen Dingen im Hinblick darauf, dass die Zwecke abschließend aufgezählt werden sollten. Wir möchten die
Kreativität der engagierten Bürgerinnen und Bürger
nicht durch abschließende Regelungen bremsen. Sehr
wertvoll und wohltuend war die bayerische Initiative
„10 plus 10“. Auch die Beratungen des Bundesrates
müssen wir mit heranziehen.
({6})
Das Gemeinnützigkeitsrecht in unser aller Sinne soll
eine Einladung zum Mitmachen aussprechen und offen
für neue Impulse aus der Mitte der Gesellschaft sein.
Dieser Gesetzentwurf ist eine Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dies geht nur, indem wir
- Frau Kollegin Hinz hat schon darauf hingewiesen auch finanzielle Mittel einsetzen. Natürlich steht für uns
Haushaltskonsolidierung an erster Stelle des politischen Handelns. Die vorgesehenen rund 400 Millionen
Euro sind für uns Leitlinie. Angesichts der allgemeinen
Finanzsituation ist klar, dass wir nicht jeden Wunsch erfüllen können; denn natürlich gibt es viele Wünsche. Es
ist unsere Aufgabe, die Verteilung dieser Summe von
400 Millionen Euro zu optimieren. Hierfür werden in
dem Gesetzentwurf zahlreiche Ansatzpunkte gegeben.
Wir als CDU/CSU werben für einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Kollege Wissing, vielleicht
können Sie sich das auch in den weiteren Beratungen
grundsätzlich noch einmal überlegen. Als ein gutes und
richtiges Signal für die Menschen im Ehrenamt wollen
wir auch hier in diesem Haus einen breiten Konsens. Im
Ehrenamt der Bürger sehen wir einen tragenden Pfeiler
des zukunftsfähigen Sozialstaates.
Das kraftvolle kulturelle Leben und das ehrenamtliche Engagement vieler Menschen für Kultur, Tradition
und Brauchtum dürfen natürlich genauso wenig fehlen
wie der große umfassende Bereich des Ehrenamtes im
Sport. Kollege Klaus Riegert wird für unsere Fraktion
darauf eingehen.
Auch die aktuellen Debatten über den Zusammenhalt
der Gesellschaft und über das soziale Miteinander kommen hier zum Tragen. Viele Migranten bringen ihre Fähigkeiten in die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur,
die Dienstleistungen, das Ehrenamt und den Sport ein.
Auch dies sollten wir hier würdigen.
Wir wollen das Stiftungsrecht weiterentwickeln, um
die Errichtung von Stiftungen zu erleichtern und zusätzliche Anreize für Zuwendungen zu schaffen. Kollege
von Stetten wird dazu etwas sagen.
Wir müssen auch darüber reden, wie wir beim Gesetzgebungsverfahren die besonderen Belange der Kultur, der Medien, der Künstler und der Kulturschaffenden
berücksichtigen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen generell
verdeutlichen, dass ehrenamtliches Engagement weniger
eine Belastung bedeutet, als vielmehr auch eine große
Chance für jeden Einzelnen ist, Fähigkeiten zu entwickeln, Qualifikationen und soziale Kompetenz zu erwerben, Erfahrungen zu sammeln und damit Sinn und Lebensqualität zu gewinnen.
({7})
Man gibt also nicht nur etwas für die Gemeinschaft, sondern man bekommt von der Gemeinschaft auch etwas
zurück.
Unser Ziel ist es also, in den anstehenden Beratungen
alles zu tun, um die aktive Bürgergesellschaft, die wir ja
haben - das breite Miteinander der Menschen in diesem
Land -, weiter zu stärken. Das sollten wir insgesamt in
geschlossener Form tun.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die LINKE.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bürgerschaftliches Engagement ist die vielfältige Gestaltung der Zivilgesellschaft. Es umfasst auch die kritische Begleitung staatlichen Handelns. Ob im Mieterverein, bei der Stiftung Warentest oder in der politischen
Meinungsfindung: Zur aktiven Bürgergesellschaft, wie
Herr Oswald eben sagte, gehört auch die kritische
Begleitung von Gesetzgebungsverfahren und politischen Großereignissen.
Eine Überschrift in den Zeitungen heute lautet: Polizei schreckt G-8-Gegner mit Großrazzia. Ich glaube, das
bedeutet alles andere als die Förderung bürgerschaftlichen Engagements.
({0})
Der Sprecher der Bundesstaatsanwaltschaft erklärte gestern im „heute-journal“ - ich zitiere sinngemäß -: Es
ging nicht darum, terroristische Aktionen aufzudecken.
({1})
Dafür gab es keine Anhaltspunkte. Es ging darum, Überblick über die Strukturen der G-8-Gegner zu erhalten.
Es ging also darum, das gesamte Spektrum der G-8Gegner zu kriminalisieren. Das lehnen wir ab. Der Staat
muss die kritische Begleitung seines Handelns aushalten. Auch das ist Sinn und Zweck bürgerschaftlichen
Engagements.
({2})
Es ist zu begrüßen, dass sich gerade junge Leute aufmachen und Gerechtigkeit nicht nur im eigenen Lande, sondern weltweit wollen.
({3})
Wir unterstützen und begrüßen die Initiative, die zeitgleich in Mecklenburg-Vorpommern läuft, nämlich eine
Werbekampagne für friedliche Proteste, die von prominenten Persönlichkeiten in Zusammenarbeit mit der
Polizei in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt wird.
({4})
Das ist ein Versuch, zu deeskalieren. Was Sie gestern getan haben, bedeutet aber pure Eskalation. Das lehnen wir
ab.
({5})
Der gestrige Vorgang zeigt sehr drastisch, dass zwischen dem in Worten geäußerten Willen, was man an
bürgerschaftlichem Engagement möchte, und dem Handeln vonseiten des Staates eine Kluft besteht. Engagement der Bürgerinnen und Bürger ist gut, solange es dem
Staat nützt, am besten als Ersatz für fehlendes staatliches
Engagement. Daran krankt auch Ihr Gesetzentwurf.
Auch wenn wir einiges in Ihrem Gesetzentwurf unterstützen, ist festzustellen, dass vieles fehlt. Deshalb haben
wir einen eigenen Antrag vorgelegt.
({6})
Ihr Gesetzentwurf soll zwar laut seiner Überschrift zur
weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
führen, ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt aber, dass
es darin de facto nur um die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen geht.
({7})
Das ist eindeutig zu wenig. Bereits im Abschlussbericht
der Enquete-Kommission des Bundestages wird die weitere Schaffung von steuerlichen Anreizen als nicht sinnvoll bezeichnet - das können Sie auf Seite 10 nachlesen -: „weil die Schaffung weiterer steuerlicher Anreize keine angemessene und wirkungsvolle Förderung
des bürgerschaftlichen Engagements darstellt.“
Ich verdeutliche Ihnen das gerne am Beispiel einiger
Zahlen. 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik engagieren sich ehrenamtlich, 43 Prozent in
Vereinen - vor allem Sportvereine -, Schulen, Kirchen,
Freizeiteinrichtungen oder bei der Feuerwehr. 40 Prozent der Ehrenamtlichen sind erwerbstätig. 27 Prozent
der Arbeitslosen, 37 Prozent der Menschen, die zu
Hause sind, und 28 Prozent der Seniorinnen und Senioren engagieren sich ehrenamtlich.
Es gibt 14 000 Stiftungen und - das ist besonders erfreulich - inzwischen 147 Bürgerstiftungen. Trotzdem
liegen wir mit diesen Zahlen im europäischen Vergleich gerade noch im Mittelfeld. Norwegen, Schweden,
Finnland und Dänemark - die Staaten, in denen ein starker Sozialstaat existiert und wirkt - weisen ein viel höheres bürgerschaftliches Engagement auf,
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Woher kommen
die Zahlen? Die kennen wir nicht! - Ute
Kumpf [SPD]: Ich glaube, damit liegen Sie ein
bisschen daneben!
weil die Bürgerinnen und Bürger dort wissen, dass sie
nicht als Lückenbüßerinnen und Lückenbüßer für fehlendes staatliches Agieren missbraucht werden.
Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine individuelle Entscheidung. Es wird auch stimuliert durch
Tradition, Werte, die Art und Weise der Organisation der
Gesellschaft, Verteilung von Verantwortung und wirtschaftliche Entwicklungen. Die Motive des Einzelnen
sind sehr verschieden. Man möchte die Gesellschaft im
Kleinen mitgestalten, mit anderen Menschen zusammenkommen, Verantwortung übernehmen oder die eigene
Kompetenz entwickeln. Finanzielle Gründe sind nicht
vorrangig.
Wir müssen aber auch feststellen, dass es keine
Chancengleichheit mehr beim Zugang zum bürgerschaftlichen Engagement gibt. Viele Bürgerinnen und
Bürger können sich nicht mehr ehrenamtlich engagieren,
({8})
unter anderem deshalb, weil ihnen die finanzielle Ausstattung fehlt. Für viele ist vielleicht schon der Fahrschein für die Straßenbahn unerschwinglich, um zu einer
Veranstaltung zu fahren.
({9})
Insofern muss man das Thema wesentlich breiter angehen. Bei einer vorrangig steuerlichen Förderung bürgerschaftlichen Engagements tauchen verteilungspolitische Risiken auf. Durch steuerliche Vergünstigungen für
Stiftungen können öffentliche Güter unter den Einfluss
von Individual- und Partikularinteressen geraten.
Ich möchte Ihnen die Probleme auch am Beispiel der
Stiftungen deutlich machen. Stiftungen werden jetzt wesentlich besser steuerlich gefördert. Das ist gut. In Leipzig gibt es ein wunderschönes Bildermuseum, und es
gibt auch eine inzwischen weltbekannte Leipziger
Malerschule. Ein Bild von Neo Rauch kostet derzeit
etwa 350 000 Euro. Raten Sie mal, wie hoch der Etat des
Bildermuseums zu Leipzig für den Neuerwerb ist! Es
sind weder 50 000 noch 100 000 Euro, sondern
7 000 Euro. Davon kann man allenfalls ein gutes Farbbild kaufen. Dass der Etat so niedrig ist, liegt daran, dass
die öffentlichen Einnahmen zurückgehen.
({10})
Die schon erwähnte Beilage der „Financial Times
Deutschland“ bietet einen wunderbaren Ansatz: Viele
Stifter lösen mit der Gründung einer Stiftung ihr ganz
besonderes Finanzproblem. Wer nach einem erfolgreichen Berufs- oder Unternehmerleben so viel Geld hat,
dass weder er selbst noch seine Erben es jemals ausgeben können, bringt einfach einen Teil seines Vermögens
in eine Stiftung ein.
({11})
Ich finde es gut, wenn sich Menschen engagieren und
auch im Kulturbereich sozusagen immer den Sahneklecks bieten.
({12})
Aber es kann nicht sein, dass das ehrenamtliche, unentgeltliche Engagement Einzelner staatliches Handeln ersetzt. Wir haben große Möglichkeiten, zum Beispiel die
Erbschaftsteuer so zu gestalten, dass vielleicht auch
das Bildermuseum zu Leipzig wieder mehr Geld hat, um
selber Bilder zu kaufen.
Wir sind dafür, bei der Übungsleiterpauschale noch
einmal nachzubessern. Wir halten es zudem für überlegenswert, die Abgabenordnung zu vereinfachen - das
würden wir sehr begrüßen - und einen absoluten Höchstbetrag für die Abzugsfähigkeit von Spenden einzuführen. Es gibt also Beratungsbedarf. Ihr Gesetzentwurf ist
insgesamt zu einseitig und erfasst die vielfältigen Probleme nicht.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte vorab zu den Eingangsworten von Frau Dr. Höll
sagen: Auch wir machen uns Sorgen darüber, was alles
im Vorfeld des G-8-Gipfels geschieht. Aber ich halte es
für falsch, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu diskutieren.
({0})
Unsere Zivilgesellschaft lebt wesentlich vom bürgerschaftlichen Engagement. Man muss klar sagen, dass jedem und jeder, der bzw. die sich in unserer Gesellschaft
für unsere Gesellschaft engagiert, großer Dank gebührt.
Bürgerschaftliches Engagement ist - das wissen wir alle die Hefe für zivilgesellschaftliches Handeln. Bürgerschaftliches Engagement ist ein aktiver Beitrag zu einem
friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft. Es ist
nicht zu unterschätzen und unbezahlbar. Frau Kollegin
Petra Hinz hat bereits auf die 2,4 Milliarden Arbeitsstunden jährlich im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements hingewiesen. Die Bürger sind vermehrt unentgeltlich aktiv. Das ist sehr gut und muss eine verstärkte
Anerkennung durch unsere Gesellschaft erfahren, auch
unter steuerlichen Gesichtspunkten und nicht nur durch
das Anstecken einer Ehrennadel ans Revers.
({1})
Alle neuen steuerlichen Regelungen sind verstärkte
Anreize, kontinuierlich bürgerschaftliches Engagement
für gemeinnützige Zwecke zu leisten. Sie können den
menschlichen Impuls natürlich nicht ersetzen, sondern
nur unterstützen. Aber wir müssen mit denjenigen gerecht und fair umgehen, die dieses Engagement leisten.
Die Bundesregierung hat nun zehn steuerliche Maßnahmen vorgeschlagen. Die entscheidenden Fragen sind:
Sind die Maßnahmen gut begründet? Sind sie in der Abgrenzung wirklich richtig? Bringen sie eine Stärkung des
Engagements in allen Zweigen der Zivilgesellschaft?
Wenn wir uns die Briefe, die wir alle von ehrenamtlich
tätigen Menschen bekommen, genau anschauen, dann
stellen wir fest, dass es viele gibt, die sich durch den Gesetzentwurf nicht berücksichtigt fühlen. Wenn ich mir
die Anträge, die vonseiten der Bundesländer im Bundesrat kommen, und den Beschluss des Bundesrates
anschaue, sehe ich, dass der heute diskutierte Gesetzentwurf von Finanzminister Steinbrück und der Bundesregierung und der Beschluss des Bundesrates noch weit
auseinanderliegen. Ich hoffe, dass der Gesetzentwurf der
Bundesregierung das Parlament mit erheblichen Änderungen verlassen wird.
Wir, die Grünen, wollen ebenso wie der Bundesrat,
dass der Katalog der förderungswürdigen Zwecke für
bürgerschaftliches Engagement im Gesetz nicht abschließend geregelt wird, sondern dass neue, zukünftige
Aufgaben ausdrücklich zugelassen werden. Es ist begrüßenswert, dass als gesonderter Zweck die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements im Gesetzentwurf aufgeführt wird.
({2})
Es ist aber falsch, dass in der Begründung eine Erweiterung gemeinnütziger Zwecke für bürgerschaftliches
Engagement ausgeschlossen wird. Was soll eine solche
Kosmetik im Gesetz? Placebos verhelfen nicht zu einem
verstärkten Einsatz. Darüber müssen wir im Ausschuss
noch diskutieren.
({3})
Wir brauchen einen offenen Katalog. Wir wollen kein
starres Korsett. Welchen Grund gibt es für die Bundesregierung eigentlich, dass die Übungsleiterpauschale nicht
auf Aktivitäten der Umwelt- und Naturschutzverbände
ausgeweitet wird? Aktivitäten im Bereich des Vogelschutzes, beispielsweise Brutplätze sichern, und vieles andere,
was von der Umweltschutzbewegung, dem BUND und
anderen, geleistet wird, sind Aktivitäten, die gemeinnützig sind, aber nicht pädagogisch im Sinne der Übungsleiterpauschale. Wir meinen schon, dass aktiver Umweltschutz nicht ausgeschlossen werden sollte. Wie wir
damit umgehen, darüber werden wir auch noch zu diskutieren haben.
({4})
Vergleichbares gilt auch für Helfer in der Gefahrenabwehr, etwa Sanitäter und Rettungsschwimmer. Auch in
diesem Fall ist zu fragen, warum bestimmte Tätigkeiten
nicht einbezogen und berücksichtigt werden. Ich denke,
wir schulden der Gesellschaft hierauf eine Antwort, und
hoffe, dass es auch hier zu Veränderungen kommt.
Zur Stiftungskultur in Deutschland muss ich an die
FDP gewandt einmal sagen: Es war die rot-grüne Bundesregierung - mit starker Unterstützung der grünen Vizepräsidentin Antje Vollmer -, die dafür gesorgt hat, dass wir
bei der Stiftungskultur einen Riesenschritt vorangekommen sind. Es war nicht die FDP während ihrer 29-jährigen
Regierungszeit hier im Haus.
({5})
Selbstverständlich muss über den Höchstbetrag des
Stiftungskapitals diskutiert werden. Wir würden uns einen Höchstbetrag von 1 Million Euro für die Ausstattung von Stiftungen mit Kapital wünschen, wie es auch
der Bundesrat fordert.
({6})
Wir sehen schon, dass die Stiftungskultur in Bewegung ist. Wir wollen sie gesellschaftspolitisch insgesamt
stärken. Dafür brauchen wir klare Signale, die in dem
Gesetzentwurf verankert werden sollten.
Wir wollen, dass bestimmte Ansätze im Zusammenhang mit dem angehobenen pauschalen Spendenabzug
noch einmal angesprochen werden. Denn es ist nicht einzusehen, dass wir unentgeltlich ehrenamtlich Tätige im
Bereich der Betreuung alter, kranker und behinderter
Menschen unterstützen - was völlig richtig ist -, aber
andere unentgeltliche ehrenamtliche Tätigkeiten im Bereich der Jugendhilfe und des Sports - den Naturschutz
habe ich angesprochen - oder der Kultur nicht unterstützt werden. Es muss noch einmal überlegt werden,
wie wir hier weiterkommen.
Ich denke, es ist eine ganz vernünftige Vorlage. Sie ist
ausbaufähig. Aber sie muss verbessert werden und sie
muss auch stärker den Realitäten und den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft angepasst werden.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Bundesminister Peer Steinbrück.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine
sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
- Dann sind Sie alle offenbar etwas früher aufgestanden
als ich.
({1})
Als ich ein bisschen zugehört habe, habe ich mir die
Frage gestellt: Warum ist es eigentlich so schwer, zu einem Thema wie der Förderung des Ehrenamtes eine Oppositionsrede zu halten, die nicht so verkrampft und so
ritualisiert ist wie die, die wir von Herrn Wissing gehört
haben?
({2})
Hier stellt sich jemand hin und sagt, es sei ein armseliger Gesetzentwurf. Man muss sich einmal vorstellen,
was das für eine absolute Verzeichnung dessen ist, was
wir hier vorgelegt haben.
({3})
Ich will jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, dass Ihre
Rede armselig gewesen ist. Das ist aber das Adjektiv,
das Sie dafür verwendet haben. Man kann hinsichtlich
Ihrer Bewertung allerdings schlicht und einfach sagen:
Ich konfrontiere Sie mit dem Echo, das ich von den ehrenamtlich Tätigen und den Verbänden selbst bekommen
habe. Dann ist diese Oppositionsrede schlicht und einfach irrelevant.
({4})
Natürlich sagen die meisten, mit denen ich spreche
- glauben Sie mir, es sind sehr viele -, und auch die
einschlägigen Verbände, dass es eine ganz bemerkenswerte Initiative ist, um das Ehrenamt in Deutschland zu
stärken.
({5})
Wenn es Ihr erster Satz gewesen wäre, dass Sie als
Oppositionspolitiker diese Einschätzung der Verbände
teilen - was durchaus ein ziemliches Ausmaß an Souveränität zum Ausdruck gebracht hätte -, und Sie wären
dann auf Detailpunkte gekommen, dann wäre das eine
Oppositionsrede gewesen, die mich hätte neugierig machen können.
({6})
- Ja, Frau Scheel hat das schon sehr viel besser gemacht.
({7})
Aber dass Frau Höll es schafft, in sieben Minuten die
Erbschaftsteuer, das G-8-Treffen, das deutsche Demonstrationsrecht und die öffentliche Einnahmesituation
zum Thema Ehrenamt zusammenzufassen, ist schon eine
bemerkenswerte Leistung.
({8})
Worum geht es? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihre
Erfahrung mit der fantastischen Bandbreite des Ehrenamtes in Deutschland identisch ist mit meiner. Das beginnt bei den Kirchen, geht über große Stiftungen, über
kleine Bürgerstiftungen, über Wohlfahrtsverbände, über
Ehrenamtsbörsen, über Seniorencomputerklubs - die
besten Hacker dieser Republik habe ich unter Senioren
gefunden, die sich gegenseitig Computerunterricht geben -, Elternvereine, Schulen, Kindergärten, Feuerwehren, Heimatvereine, Hospizbewegungen - auch die will
ich nicht außen vor lassen -, Obdachlosen- und Stadtteilinitiativen bis hin zu Tafelvereinen und Eine-Welt-Gruppen. Das ist eine Vielfalt, die wirklich fantastisch ist.
Richtig ist, dass sich viele Menschen in diesem Ehrenamt engagieren. Es sind 23 Millionen Menschen.
Frau Hinz hat darauf hingewiesen. Ich vermute, dass es
dabei eine Reihe von Doppelzählungen gibt; aber das ändert nichts daran, dass das Ehrenamt eine Erscheinung in
unserer Gesellschaft ist, die wir dringend brauchen und
die große Anerkennung verdient.
({9})
So verschieden die Ehrenämter auch sind - ich selber
habe unmittelbare Erfahrung sammeln dürfen, als ich in
einer früheren Funktion regelmäßig über zwei, manchmal drei Tage solche Ehrenamtstouren gemacht habe -,
so verschieden sind diejenigen in Bezug auf das Alter,
den Beruf und die soziale Herkunft, die sie ausüben. Ich
warne davor, sich das Vorurteil zu eigen zu machen, dass
es vornehmlich ältere Menschen sind, die sich ehrenamtlich engagieren. Es sind auch sehr viele jüngere darunter,
die nur auf eine andere Art und Weise, manchmal zeitlich begrenzt, ehrenamtlich arbeiten. Das Ziel, das diese
Mensche alle gemeinsam haben, ist, sich für unsere Gesellschaft einzusetzen, und zwar sehr häufig an den Stellen, wo diese Gesellschaft schwach ist. Sie handeln bewusst oder auch unbewusst ganz nach einem alten Satz
von Hermann Gmeiner, der lautet: „Alles Gute auf dieser
Welt geschieht nur, wenn einer mehr tut, als er tun
muss.“
({10})
Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist von diesem
Engagement wesentlich abhängig. Will sagen: Würden
diese Menschen nicht mehr tun, als sie tun müssen, würden sie nur, wenn man so will, ihr persönliches Pflichtenheft abarbeiten oder ihren legitimen materiellen Interessen nachgehen, würden sie nicht Zeit, Kraft und
manchmal auch Nerven in diese ehrenamtliche Tätigkeit
investieren, wäre unsere Gesellschaft nach meiner Auffassung nicht nur ärmer, sondern sie würde nicht funktionieren.
({11})
Der Zusammenhalt dieser Gesellschaft wäre dann massiv gefährdet. In meinen Augen sind es insbesondere
diese Menschen, die erwähnt werden müssen.
Mir ist an dem Hinweis sehr gelegen, dass es nicht
zum Beispiel fremdbestimmte junge Leute in Fernsehcastingshows sind, die als die Superstars - wie mein
Sohn sagen würde - „hochsterilisiert“ werden,
({12})
wobei man sich wundert, welche Eintagsfliegen in den
Medien zu solchen Superstars und teilweise absolut verzogenen Vorbildern hochstilisiert werden. Das bleibt ein
Geheimnis medialer Inszenierung. Die wahren Helden
des Alltags sind - ohne Pathos - die sich in Deutschland
ehrenamtlich engagierenden Bürgerinnen und Bürger.
({13})
Ich will nicht missverstanden werden. Es geht mir
nicht darum, dieses Engagement in irgendeiner Form zu
idealisieren oder mich gar über einen billigen Reparaturbetrieb für einen in Teilen nicht mehr handlungsfähigen
Staat zu freuen. Eine solche Sichtweise auf das ehrenamtliche Engagement in Deutschland wäre grundfalsch.
Denn zum einen ist eine vitale Bürgergesellschaft viel
mehr: Sie ist auch ein Ausdruck von Freiheit und auch
einer von staatlichen Fürsorgeorganisationen unabhängigen Solidarität, was von einer erheblichen Bedeutung ist.
Zum anderen müssen wir gerade in der heutigen Zeit
auch für einen, wie ich glaube, handlungsfähigen Staat
sorgen, der nicht die Hand dafür reicht, dass das Hauptamt durch das Ehrenamt ersetzt wird, was sich die ehrenamtlich engagierten Bürger auch verbitten würden.
({14})
Ich bin bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs in
der glücklichen Lage gewesen, dass wir hinsichtlich der
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf sehr
weitreichende Vorarbeiten und einige wichtige Erfolge
engagierter Mitglieder insbesondere aus den beiden Regierungsfraktionen aufbauen konnten. Bei Ihrer Rede,
Herr Wissing, hatte ich manchmal den Eindruck, dass
Sie sich insbesondere so über diesen Gesetzentwurf ausgelassen haben, wie Sie es getan haben, weil Sie ihn
nicht mit erfunden haben und auch nie eine richtige Zuarbeit dazu geleistet haben.
({15})
Denjenigen, die bei dieser Entwicklung sehr behilflich waren, möchte ich herzlich danken. Ich möchte niemanden zurücksetzen, aber ich will insbesondere
Michael Bürsch, Klaus Riegert und Ute Kumpf für ihren
unermüdlichen Einsatz danken, auch für den kritischen
Dialog, den wir gehabt haben,
({16})
der es mir relativ leicht gemacht hat - das Stichwort ist
schon gefallen -, seinerzeit Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesfinanzministerium - Sie
erinnern sich an die Aufregung im August letzten Jahres sehr schnell abzuwehren. Ich weiß, dass es das eine oder
andere Missverständnis gegeben hat; aber ein Bundesfinanzminister ist gelegentlich auch in der Lage, sich wissenschaftliche Empfehlungen nicht zu eigen zu machen.
({17})
Mit diesem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements löst die Koalitionsfraktion übrigens eine wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag
ein; Herr Riegert, Sie wissen das. Mit unseren Hilfen unterstützen und fördern wir in großem Ausmaß das bürgerschaftliche Engagement auf Bundes- und auf Landesebene entweder über Steuernachlässe oder durch andere
Vorzüge, und das in einem Umfang von 440 Millionen
Euro. Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass sich jene,
die sich ehrenamtlich engagieren, voll darauf konzentrieren können und sich nicht mit einer unnötigen Bürokratie abplagen müssen. Ihre Hinweise, Herr Wissing,
auf all das, was in diesem Gesetzentwurf steht, sind von
Ignoranz gekennzeichnet. Ich wäre für eine faire Bewertung dankbar.
Gleichzeitig wollen wir das Stiftungswesen in
Deutschland stärken. Ich selbst empfinde es ebenfalls als
einen Glücksfall, dass wir in Deutschland ziemlich genau seit der Reform des Stiftungsrechts unter der rotgrünen Koalition, seit 2002, einen wahren Boom bei den
Stiftungsgründungen haben. Auch das darf Anerkennung
finden.
({18})
Im Vergleich zu den 80er-Jahren hat sich 2006 die
Zahl der jährlich neu gegründeten Stiftungen um rund
900 erhöht. Insgesamt gibt es in Deutschland inzwischen
- ich glaube, Frau Scheel hat darauf hingewiesen ({19})
14 400 Stiftungen des bürgerlichen Rechts plus die sehr
zahlreichen, unselbstständigen Stiftungen, Stiftungsvereine und Stiftungsgesellschaften, die ich bei dieser Gelegenheit nicht ungewürdigt lassen möchte.
Wir haben es also zunehmend mit einer gewissen Stiftungskultur in Deutschland zu tun. Dies wird durch das,
was wir hier tun, weiter unterstützt. Von mir aus mag das
aus mancher Perspektive unzureichend sein; aber es wird
unterstützt. Es mag erstrebenswert sein, einen Standard
an Stiftungsaktivitäten wie im angloamerikanischen Bereich, insbesondere in den USA, zu erreichen. Die Situation bei uns hat sich jedenfalls deutlich verbessert.
Es ist kein Geheimnis - ich weiß das -: Zwischen den
Fraktionen gibt es in einigen Punkten noch unterschiedliche Meinungen, auch über die wichtigen Initiativen im
Rahmen dieses Gesetzentwurfs.
({20})
Ich nenne beispielhaft nur die sogenannte 300-Euro-Regelung, die wir auf das ehrenamtliche Engagement für
ältere und behinderte Menschen begrenzen wollen. Es
geht also um den Begriff der Mildtätigkeit im engeren
Sinne; auch Sie haben das indirekt angesprochen. Der
Grund für diese Begrenzung ist ganz einfach - das sage
ich an Frau Scheel und andere gerichtet -: Eine Ausweitung ist schlicht und einfach nicht mehr bezahlbar.
({21})
Wenn wir eine solche Begrenzung nicht einführen, dann
wird das Ganze absolut uferlos und man landet bei Milliardenbeträgen.
Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche
Exklusion mancher - sie werden auf anderen Wegen doch
mit gefördert, insbesondere im Bereich des Sports - nicht
zu rechtfertigen ist, dann sollte man nach meinem Eindruck eher auf das ganze Vorhaben verzichten. Das wäre
besser, als diese Regelung in unbestimmtem Maße auszuweiten, was von den Ländern und vom Bund in der
Tat nicht mehr bezahlt werden könnte.
({22})
Ich will sagen: Ich habe Verständnis für entsprechende Änderungswünsche aus den Regierungsfraktionen, die im parlamentarischen Verfahren behandelt werden.
Mir selber ist an zwei Punkten gelegen - ich bitte um
Verständnis -:
Erstens. Die festgelegte Obergrenze von 440 Millionen Euro - diese Mittel werden von Bund und Ländern
paritätisch aufgebracht - wird nicht überschritten.
Zweitens. Dieser Gesetzentwurf wird ohne schuldhaftes Zögern noch vor der Sommerpause verabschiedet.
({23})
Dies wäre ein wichtiges Signal für die ehrenamtlich engagierten Menschen.
Es ist vielleicht etwas merkwürdig, dass das Bundesfinanzministerium eine solche Initiative startet. Dass
mein Ministerium so vorgeht, hängt damit zusammen,
dass ich gerne auch auf diesem Wege mein Verständnis
einer gestaltenden Finanzpolitik unterstreichen möchte.
({24})
Der Finanzminister ist nicht nur für eine solide Haushaltspolitik verantwortlich - das ist er auch, gerade in
diesen Zeiten mit wachsenden Begehrlichkeiten -, sondern auch dafür - das war immer mein Verständnis -,
dass das Finanzministerium in der Lage ist, Impulse für
Wachstum und Beschäftigung und darüber hinaus zur
Förderung der Zivilgesellschaft, die eine erhebliche Bedeutung hat, zu geben.
({25})
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist
eine sehr gute Verfassung. Auch unsere Landesverfassungen sind sehr gut. Aber die nicht geschriebene Verfassung dieses Landes, der Zustand dieser Gesellschaft,
wird maßgeblich von Menschen geprägt, die sich ehrenamtlich engagieren.
({26})
Aus diesem Grunde wollen wir sie mit unserer Initiative
stärken.
Unser Gesetzentwurf ist vielleicht nicht perfekt, aber
er ist ein sehr wichtiger Schritt, der von allen Beteiligten
begrüßt wird und der es ermöglicht, dieser Wertschätzung und diesem Dank konkrete Taten folgen zu lassen.
Das ist der Kern dieses Gesetzentwurfes.
Herzlichen Dank.
({27})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Steinbrück, Ihren Guten-MorgenGruß kann ich so nicht erwidern,
({0})
auch wenn Sie sich ausführlich mit der FDP-Fraktion befasst haben. Mittlerweile ist es nämlich Highnoon, und
ich meine, es ist höchste Zeit für die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements.
({1})
Für die FDP ist die Stärkung der Zivilgesellschaft
eine zentrale Aufgabe.
({2})
- Ich danke für Ihre Zustimmung. - Unser Ziel ist, Freiräume für Bürger zu schaffen, die ohne staatliche Bevormundung handeln und sich frei entfalten wollen. Staat,
Markt und Zivilgesellschaft sollen als gleichrangige
Akteure nebeneinanderstehen. Die rund 1 Million Organisationen, in denen sich mehr als 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger freiwillig engagieren, braucht klare
Rahmenbedingungen. Es genügt nicht, nur neue Steuervorteile zu schaffen. Erforderlich ist eine grundlegende
und systematische Bearbeitung des Gemeinnützigkeitsrechts.
Die FDP will weg vom gewährenden und hin zum ermöglichenden Staat.
({3})
Für die FDP ist die lebendige Zivilgesellschaft die
Klammer unseres Gemeinwesens.
({4})
Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements
durch Finanz- oder Sachmittel ist im Handlungsradius
von Ländern und Kommunen verankert und muss daher
vor Ort diskutiert und festgelegt werden.
In den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen neben der Schaffung der steuerlichen Rahmenbedingungen
vor allem die Durchführung von Projekten und Modellprogrammen sowie die Freiwilligendienste, die ein gutes
Beispiel für ausbaufähiges, freiwilliges Engagement darstellen. Wenn sich die verschiedenen Ministerien einig
wären, wer Freiwilligenprogramme auflegt und Freiwilligendienste entwickelt, dann wären wir auch unter systematischen Gesichtspunkten bereits ein gutes Stück
weiter.
({5})
Ich erinnere nur an die Differenz zwischen dem Bundesfamilienministerium und dem Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Unsere Aufgabe als Bundespolitiker ist es, die öffentliche Diskussion und damit das Ansehen der bürgerschaftlich Engagierten und ihrer wichtigen Arbeit zu erhöhen. Bürgerschaftliches Engagement fördert nicht nur
das soziale Kapital unserer Gesellschaft, sondern es ist
auch ein Weg zur Selbstverwirklichung und Mitgestaltung, allerdings nicht - wie im Antrag der Linken formuliert - als Lückenbüßer für den Sozialstaat, sondern als
ein Bereich mit eigener Qualität.
({6})
Die Förderung des Bürgerengagements lässt sich besonders gut in den Niederlanden beobachten. Die Freiwilligenarbeit gehört dort zum Alltag. Auf ein Jahr
hochgerechnet schaffen die, die in ihrer Freizeit für an9842
dere da sind, einen Wert in Höhe von 14 Milliarden
Euro. Ohne die Erfahrung der wirtschaftlichen Krise in
den 80er-Jahren wäre dieses Engagement in den Niederlanden, was sein Ausmaß und die professionalisierte
Vermittlung angeht, kaum denkbar. Damals haben Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft vereinbart, die Staatsausgaben zu verringern und das Eigenengagement zu stärken.
Ich meine, das ist eine Entwicklung, die wir auch in
Deutschland brauchen.
({7})
Die Niederlande halten am Ziel fest, Geld investiv und
damit gesellschaftlich nutzbringend zur Stärkung der Zivilgesellschaft auszugeben.
Ein quantitativer und qualitativer Ausbau der Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements in den
Ländern und Kommunen ist auch in Deutschland nötig.
Ich erinnere an ein Beispiel, das in meiner Heimatstadt
Schule gemacht hat. Dort wurde die Seniorenarbeit auf
kommunaler Ebene bürgerschaftlich organisiert und innerhalb der Stadt gestaltet. So könnte die Seniorenarbeit
in ganz Deutschland organisiert werden. Das gilt auch
für die Integrationsarbeit, ein Thema, das uns gegenwärtig an anderer Stelle intensiv beschäftigt.
Das grundlegend positive Vorhaben der Bundesregierung wird allerdings noch in vielen Detailfragen zu
klären sein. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die
Bundesregierung Erkenntnisse, welche durch die Expertenanhörung erbracht werden, noch in das Gesetz einfließen lässt. Die FDP nimmt beispielsweise die Hinweise des Deutschen Kulturrates zum vorliegenden
Entwurf sehr ernst. Als sehr problematisch erachtet der
Kulturrat, Spitzenverband der Bundeskulturverbände,
dass die Bundesregierung dem Vorschlag des Bundesrates folgen will, die gemeinnützigen Zwecke im Bereich
Kunst und Kultur enger zu führen. Sollte die Definition des Bundesrats Gesetzeskraft erlangen, könnten gemeinwohl- und nicht gewinnorientierte Kulturvereine,
die nicht unter diese Definition fallen, nicht mehr als gemeinnützig anerkannt werden.
({8})
Dies ist im weiteren Verfahren sehr genau zu hinterfragen, Herr Minister, und gegebenenfalls auch zu ändern.
({9})
Für sehr problematisch halte ich die neue abschließende Aufzählung der gemeinnützigen Zwecke. Die
FDP fordert die Prüfung eines Bestandsschutzes für Vereine, die bei Verabschiedung des Gesetzes als gemeinnützig anerkannt sind.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss den Stifterverband für
die Deutsche Wissenschaft zitieren, der anschaulich beschreibt, warum es sich lohnt, das Steuer- und Spendenrecht zu überarbeiten:
Stiften und Spenden wirken wie eine freiwillige
Selbstbesteuerung. Der Staat mobilisiert durch
Steueranreize mehr privates Kapital für gemeinnützige Zwecke, als er selbst durch Steuern erheben
könnte. Was dem Staat an Steuern entgeht, fließt
nach unseren Berechnungen in drei- bis sechsfacher
Höhe in den gemeinnützigen Sektor und kommt der
Gesellschaft ohne Umwege zugute.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian von Stetten
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei allen Sparmaßnahmen, die die Große Koalition
aufgrund der notwendigen Haushaltssanierung in die
Wege geleitet hat, haben wir immer betont, dass es neben den Familien eine Bevölkerungsgruppe gibt, die wir
in Zukunft nicht nur weiter fördern wollen, sondern zu
deren Unterstützung wir in Zukunft noch weiteres Geld
in die Hand nehmen wollen. Das ist die große Gruppe
der ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürger,
der mildtätigen, sozialen und gemeinnützigen Vereine
und Stiftungen.
Dass eine Anpassung der Freibeträge im Steuerrecht
dringend notwendig ist, das merken Sie auch daran, dass
bei den gemeinnützigen Vereinen die Buchführungspflichtgrenze in Höhe von 30 678 Euro letztmalig am
9. November 1989 angepasst worden ist.
({0})
Das ist, wie Sie wissen, aus einem anderen Grund ein
bedeutsames Datum für unser Vaterland. Nach der Abstimmung zum Vereinsförderungsgesetz wurde die Plenarsitzung im Deutschen Bundestag in Bonn - damals
im Wasserwerk - unterbrochen, weil sich in Berlin die
Mauer öffnete. Sie sehen also, es ist höchste Zeit, dass
wir uns mit dem Thema wieder beschäftigen.
Die kulturelle und die soziale Bedeutung der Vereine
ist in den letzten Jahren noch einmal stark gestiegen.
Wer sich in funktionierenden Vereinen aufhält, der spürt
die Wärme, ja fast schon familiäre Atmosphäre, die in
unseren Vereinen herrscht. Wir merken immer mehr: Die
Vereine sind in vielen Fällen schon fast eine Art Familienersatz geworden und leisten einen enormen Beitrag
insbesondere zur Integration ausländischer Jugendlicher.
({1})
Die Übungsleiter in unseren Sportvereinen sind längst
mehr als nur „Vorturner“. Sie kümmern sich immer mehr
auch um die persönlichen Probleme der ihnen anvertrauten Jugendlichen. Viele Kinder erfahren im Verein erstmalig, wie wichtig Pünktlichkeit, Fairness und Kameradschaft sind. Deshalb werden wir, wie angekündigt,
die Übungsleiterpauschale anheben. Wir werden auch
schauen, inwieweit wir andere Personenkreise einbezieChristian Freiherr von Stetten
hen können. Zusätzlich erhalten die Vereine bessere
Rahmenbedingungen.
So haben wir es übrigens auch bei den Stiftungen
vor. Wir brauchen in Deutschland eine neue Stifterkultur.
Sie ist vorhin schon für die USA und andere angelsächsische Länder angesprochen worden. Wir unterstützen Unternehmen und Privatpersonen, wenn sie mit gemeinnützigen Stiftungen unser soziales und kulturelles Leben
bereichern wollen.
({2})
Das ist übrigens der Unterschied, Frau Dr. Höll, zur
Linksfraktion. Wer Ihre Rede genau verfolgt hat und wer
vor allem Ihren Antrag genau gelesen hat, in dem Sie
sich zu den Stiftungen äußern, der merkt: Das Gesellschaftsbild der Linken ist völlig verklärt. Sie verweigern
sich ja nicht nur einer Besserstellung der Stiftungen
heute, sondern Sie kritisieren in Ihrem Antrag - Sie gucken so ungläubig; lesen Sie Ihren Antrag! - sogar das
heute gängige Verfahren der Unterstützung kultureller
und sozialer Stifter in unserem Land. Sie haben ein Gesellschaftsbild, gemäß dem der Staat seinen Bürgern so
viele Steuern wie möglich abnimmt und dann selbst entscheidet, was gut ist und was mit dem Geld gemacht
wird.
Wir dagegen wollen, dass nur die Rahmenbedingungen für die Stiftungen definiert werden, also nur festgelegt wird, was grundsätzlich förderungswürdig ist. Damit haben die Bürger die Freiheit, selber zu entscheiden,
für welche Projekte sie ihr Vermögen einsetzen wollen.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrem und unserem
Modell.
({3})
Herr Kollege von Stetten, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Barbara Höll?
Das mache ich gerne, auch wenn die Linksfraktion
gleich als nächste das Wort hat. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich natürlich,
dass Sie unseren Antrag sehr gründlich gelesen haben.
Wir haben ihn ja geschrieben, um ihn in die Debatte einzubringen. Ich glaube aber, Sie haben ihn nicht ganz
richtig gelesen. Wir kritisieren nicht die Stiftungen an
sich, sondern wir machen auf das verteilungspolitische
Problem aufmerksam, dass durch die steuerliche Begünstigung von Stiftungen dem Gemeinwesen Steuergeld verloren geht. Das heißt, es findet auf dieser Seite
eine Schwächung statt. Andererseits wird die Position
des Stifters gestärkt, der als Individuum entscheiden
kann, was er finanziert.
({0})
Ich glaube, wir dürfen keine Schieflage zulassen. Wir
müssen für ein ausgewogenes Verhältnis sorgen.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, noch einmal
richtig nachzulesen. Wir sind nicht gegen Stiftungen und
Stifter. Wir sind dafür - ({1})
- Können Sie die Auffassung teilen - eine Frage -, dass
mit den Stiftungen sowohl der Zweck verfolgt wird,
Steuern zu sparen, als auch der Zweck verfolgt wird, Gutes zu tun
Frau Kollegin Höll, Sie sollen eine kurze Frage stellen.
- das ist mein letzter Satz -, und der Zweck verfolgt
wird, auf Kosten der Steuerzahler das Auskommen von
Nachkommen sicherzustellen?
Die Gelegenheit kann ich nutzen, um auf die Geschäftsordnung hinzuweisen: Die Fragen sollen kurz und
präzise sein, die Antworten ebenfalls.
({0})
Herr Präsident, ich habe zwar die Frage nicht ganz
verstanden,
({0})
aber damit alle wissen, was in Ihrem Antrag steht,
möchte ich nur zwei Sätze vorlesen. Nachdem Sie im
Vorspann erklären, dass Stiftungen besonders unterstützt
werden und auch in der Vergangenheit schon unterstützt
wurden, schreiben Sie weiter:
gerade vor dem Hintergrund … öffentlicher Mittel Verteilungsrisiken - ({1})
- Sie erzählen uns, dass öffentliche Mittel gekürzt werden, weil wir Stiftungen fördern.
Hier kann kein Zwiegespräch stattfinden.
({0})
Sie haben eine Frage gestellt.
Herr Präsident, nur ein Satz:
Diese liegen vor allem darin, - 9844
Herr von Stetten, ich leite hier die Versammlung.
Richten Sie sich bitte danach.
({0})
Eine Frage ist gestellt worden. Ich bitte jetzt um eine
kurze, präzise Antwort. Dann ist das Zwiegespräch beendet.
({1})
Gleichzeitig liegt die Verwendung der auf diese
Weise bereitgestellten Mittel im Ermessen des Stifters bzw. der Stiftungsgemeinschaft. Damit sind
diese Mittel einem demokratischen und parlamentarischen Entscheidungsprozess entzogen. Öffentliche Güter gelangen damit unter den Einfluss von
Individualinteressen.
({0})
Das ist Ihre Bemerkung zu dem Thema, dass wir die
Stifter in Zukunft besser fördern wollen. Daran wird der
große gesellschaftliche Unterschied zwischen Ihrer Ideologie, gemäß der mehr Staat gefordert wird, und unserem
Anliegen, die Stifter zu fördern, deutlich. - Ich bin mit
meiner Beantwortung fertig, Herr Präsident.
({1})
Meine Damen und Herren, wir halten an unserer Forderung fest, bei der Kapitalausstattung der Stiftungen die
steuerfreie Höchstgrenze von heute 307 000 Euro nicht
nur, wie vom Bundesfinanzminister vorgesehen, auf
750 000 Euro, sondern auf 1 Million Euro heraufzusetzen. Dass dies im Einklang mit einer Forderung der Grünen steht, ist besonders erfreulich, weil wir so gemeinsam bei einer wichtigen Thematik an einem Strang
ziehen. Gleichzeitig ist uns noch wichtig, den Zusatzhöchstbetrag von 20 450 Euro beizubehalten. Wir halten
dies trotz der Kritik der Linken für eine sehr wichtige
Maßnahme.
Wie Sie aus den Ausführungen meines Kollegen
Oswald entnehmen konnten, haben wir zu verschiedenen
anderen Punkten weiteren Änderungsbedarf beim Minister angemeldet. Für die nun anstehenden Beratungen in
den Ausschüssen sollten wir uns ausreichend Zeit nehmen, um mit den Betroffenen über die vorgeschlagenen
Gesetzesänderungen diskutieren zu können. Denn wir
wollen nicht nur steuerlich etwas verbessern, sondern
bei dieser Gelegenheit auch gleich die Haftung der ehrenamtlich Tätigen ansprechen und beim Bürokratieabbau weiter vorankommen.
Wichtig ist für die Betroffenen, dass das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar 2007 in Kraft treten soll. Da aber
die Steuererklärungen für das Jahr 2007 in der Regel erst
im Jahr 2008 erstellt werden, dürfte das kein Problem
sein.
({2})
Hier sollte uns Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen.
Wir wollen einen ausführlichen Dialog mit dem Personenkreis, der von diesem Gesetz betroffen ist, und dann
hier im Bundestag endgültig ein vernünftiges Gesetz beschließen, das den Betroffenen hilft.
({3})
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Bürgerschaftliches Engagement ist derzeit
in aller Munde und hochgeschätzt. In der Tat: Es befördert, richtig verstanden, den Zusammenhalt des Gemeinwesens und dient der sozialen Integration. Die Menschen in unserem Land wollen das öffentliche Leben
aktiv mitgestalten, sei es beim Bau von Kinderspielplätzen, bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, in
Erwerbsloseninitiativen oder durch die Unterstützung
von Sportstrukturen.
Allerdings möchte ich auch auf eine gravierende
Fehlentwicklung aufmerksam machen, durch die der eigentliche Sinn des bürgerschaftlichen Engagements verwässert zu werden droht: Das Engagement Freiwilliger
ist heute immer stärker Ersatz öffentlicher Leistungen
und dient somit der finanziellen Entlastung von Bund,
Ländern und Gemeinden.
({0})
Weil sich Bund und Länder aus der Verantwortung stehlen, sind viele Kommunen kaum noch in der Lage, ihre
laufenden Ausgaben aus den Einnahmen zu bestreiten.
Das führt nun dazu, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Kommune
angehalten werden. Viele tun dies grundsätzlich auch
gern. Aber hierbei wird oftmals übersehen, dass sich
bürgerschaftliches Engagement nach und nach zum Notbehelf im Zuge des Sozialstaatabbaus entwickelt. Der
Staat zieht sich aus Kostengründen immer weiter zurück.
Die Privatwirtschaft folgt unmittelbar. Immer mehr reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze fallen weg. Die Ehrenamtlichen sollen nun diese Lücke
schließen. Hier fordert die Linke von der Regierung, in
Richtung öffentlich geförderter Beschäftigung aktiv
zu werden. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen!
({1})
Bürgerschaftliches Engagement darf nicht ein Ersatz für
Leistungen sein, die Kommunen, Länder und Staat nicht
mehr erbringen können oder teilweise nicht erbringen
wollen. Wir wollen kein dienendes und ersetzendes
Engagement, sondern Partizipation und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem alltäglichen
Lebensumfeld.
Unterdessen werden die durch Sozialabbau freigewordenen Stellen kostensparend mit freiwillig Engagierten besetzt. Dazu ein Beispiel aus meiner Region: In Jugendklubs wird sozialpädagogisches Fachpersonal durch
Ehrenamtliche und 1-Euro-Beschäftigte ersetzt - oder
die Klubs werden gleich ganz geschlossen.
({2})
Ehrenamtlichkeit ist gerade im sozialen Bereich unverzichtbar; das ist keine Frage. Wenn die momentane
Entwicklung jedoch weiter so verläuft, werden immer
mehr qualifizierte Arbeitskräfte durch engagierte, aber
unentgeltlich und nicht sozialversichert arbeitende, möglicherweise unzureichend qualifizierte Bürgerinnen und
Bürger ersetzt. Ähnliches ist auch schon in der Altenpflege und Altenbetreuung zu beobachten.
({3})
Ich möchte noch kurz auf einen anderen Bereich eingehen: die Tafeln. Das Ziel der Tafeln ist es, qualitativ
einwandfreie Nahrungsmittel, die sich nicht mehr verwenden lassen, an Bedürftige zu verteilen. Die Tafeln
bemühen sich hier um sozialen Ausgleich. Vor allem seit
der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Tafelneugründungen stark gestiegen. Das Projekt wird hauptsächlich von Ehrenamtlichen bewerkstelligt. Im Dezember 2006 war zu vernehmen, dass Familienministerin
von der Leyen die Schirmherrschaft für Die Tafeln übernommen hat. Der Einsatz der mehr als 25 000 Helferinnen und Helfer ist wirklich bemerkenswert und nicht
hoch genug zu loben. Aber stellt sich nicht gleichzeitig
die Frage, wie es erst so weit kommen konnte, dass die
Zahl der Tafeln so gewachsen ist?
Die unsoziale, armutsverschärfende Politik dieser
Koalition hat ihren Anteil daran. Es ist zugleich auffällig,
dass die Anerkennung für die Freiwilligen in erster Linie
von denen kommt, die den Rückbau des Sozialstaates
und die Zunahme von Armut politisch zu verantworten
haben. Es ist der Hohn, dass sich Frau von der Leyen auf
der einen Seite als Schirmherrin der Tafeln zur Verfügung stellt und andererseits eine Politik mitverantwortet,
die immer mehr Bedürftige schafft. Freiwillige Arbeit
benötigt alles in allem umfangreiche materielle, finanzielle und soziale Infrastruktur, personelle Ressourcen sowie eine ausgeprägte Kultur der öffentlichen Anerkennung.
Doch weiteren Sozialabbau - nun auch unter dem
Deckmantel des bürgerschaftlichen Engagements - wird
es mit der Fraktion Die Linke nicht geben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Lassen Sie mich
bitte kurz drei Dinge vorwegschicken, wenn wir über
bürgerschaftliches Engagement sprechen.
Wir sprechen über bürgerschaftliches Engagement
selbstverständlich in Bezug auf die vielen Menschen, die
sich im Sinne einer lebendigen Zivilgesellschaft
engagieren, die etwas Emanzipatorisches, Lebendiges,
Kreatives und Zusätzliches ist und selbstverständlich
nicht professionelle Infrastrukturen ersetzt.
({0})
Vielmehr braucht man als unverzichtbares Element
hauptamtliche Strukturen.
({1})
Das will ich einfach vorwegschicken, denn man kann
mit einer Debatte, die hier über mehr als sechs Jahre geführt worden ist - ich selbst bin neu im Bundestag -,
nicht immer wieder bei null anfangen.
({2})
Das ist ein kreativer, emanzipatorischer Ansatz. Dafür
brauchen wir hauptamtliche Strukturen. So definieren
wir Grüne bürgerschaftliches Engagement.
({3})
Punkt zwei. Bürgerschaftliches Engagement - das
sage ich auch in Abgrenzung zur FDP - bedeutet gerade
nicht den Rückzug des Staates aus der Verantwortung.
Es bedeutet eine Neudefinition des Verhältnisses von
staatlicher Verantwortung, Markt und lebendiger Zivilgesellschaft, aber gerade nicht den Rückzug des Staates
aus der Verantwortung.
({4})
Drittens. Es wurde hier eben beklagt, dass die Chancen und Möglichkeiten für Engagement immer geringer
werden. Das ist nicht so! Alle Berichte, Erhebungen,
Statistiken und Umfragen, die uns vorliegen, zeigen
deutlich, dass es eine massiv erhöhte Bereitschaft zum
Engagement und auch verstärktes Engagement, und
zwar bei vielen Menschen, gibt.
({5})
Das gilt sowohl für junge als auch für alte Menschen. Es
gilt auch für Migrantinnen und Migranten, um die wir
uns auch zu kümmern haben, indem wir fragen, welche
Bedingungen wir dafür zugrunde legen, dass Menschen
sich engagieren können, die Deutschland vielleicht nicht
als Herkunftsland haben. Schließlich gilt es auch für
Menschen, die arbeitslos sind und Interesse haben, sich
auf diese Art und Weise zu engagieren und ihre Kreativität einzubringen. Das sollten wir, wenn wir darüber diskutieren, auch einmal zur Kenntnis nehmen.
({6})
Nun zum Gesetzentwurf: Herr Finanzminister, ich
freue mich sehr, dass Sie zu Weihnachten doch noch die
Kurve gekriegt haben.
({7})
Ich hatte am Anfang den Eindruck, dass der Wissenschaftliche Beirat und die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats auch - um das einmal so deutlich zu
sagen - im Finanzministerium auf offene Ohren stoßen.
Ich war irritiert über auf die eine oder andere Stellungnahme. Sowohl meine Kollegen und Kolleginnen aus
der SPD als auch die aus der CDU/CSU und anderen
Fraktionen wissen, über welche Stellungnahmen ich
rede.
({8})
Daher bin ich umso positiver überrascht, dass diese Beiratsempfehlungen zum Zeitpunkt der Gesetzeseinbringung vom Tisch sind.
({9})
Denn es war dringend notwendig, mit dem Tenor aufzuräumen, lebendige Zivilgesellschaft, Vereinsengagement
und Initiativenarbeit bedeuteten Wettbewerbsverzerrungen und Missbrauch. Ich glaube, da waren wir uns in Bezug auf die Arbeit im bürgerschaftlichen Engagement
sehr einig.
Meine Kollegin Christine Scheel ist auf viele der einzelnen Punkte aus den zehn Vorschlägen aus grüner
Sicht eingegangen. Ich glaube, dass es in der Anhörung
und in den Fachausschüssen noch eine sehr intensive
Diskussion geben wird. Denn die eine oder andere Einlassung des Finanzministeriums, Herr Minister, hat nicht
gerade für Klarheit gesorgt. Ich denke zum Beispiel an
die Äußerung, man müsse durch die Neuregelung vielleicht bestimmten Vereinen die Gemeinnützigkeit aberkennen. Wenn ich an solche Bespiele denke, glaube ich,
dass wir da noch über einige Fragen ganz intensiv diskutieren müssen.
Meine Kollegin Christine Scheel hat vorhin, wie gesagt, die Punkte schon angesprochen, die aus grüner
Sicht notwendig sind. Ich will an dieser Stelle betonen,
dass wir zwar jetzt über den Gesetzentwurf zur weiteren
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und über
die Fragen im Zusammenhang mit der Gemeinnützigkeit
und der steuerrechtlichen Förderung diskutieren. Im
Grunde genommen muss aber das gesamte Thema der
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements überall
und nicht nur in dieser parlamentarischen Debatte behandelt werden.
Die Fragen sind: Was tun wir eigentlich, um eine lebendige Zivilgesellschaft zu fördern? Welche Bedingungen können wir schaffen, damit sich noch mehr Menschen engagieren? Es gibt im Moment fast 23 Millionen
Menschen, die sich in irgendeiner Weise bürgerschaftlich engagieren, und zwar nicht nur in großen Verbänden, sondern auch in sehr vielen kleinen Initiativen vor
Ort. Was tun wir eigentlich, um dieses Thema als Querschnittsaufgabe zu behandeln und entsprechende Unterstützung in allen Politikfeldern und in allen Ressorts zu
leisten?
Wir dürfen nicht die Tatsache überbewerten, dass wir
uns nun mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen. Dass
wir jetzt etwas tun, sollte uns nicht dazu veranlassen, uns
gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Es gibt noch
jede Menge konkreten Handlungsbedarf. Ich wünsche
mir eine viel stärkere Debatte in allen Politikfeldern.
Warum sollten nicht auch der Verbraucherschutzminister, der Umweltminister und die Ministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend viel mehr über die Bedeutung des bürgerschaftliche Engagements in dieser Gesellschaft reden und Initiativen begleiten?
({10})
Hier besteht noch Handlungsbedarf. Wir müssen stärker
dafür eintreten, Bedingungen zu schaffen, mit denen das
bürgerschaftliche Engagement wirklich gefördert wird.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit
Mitte der 90er-Jahre geführte Diskussion über Wert und
Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements scheint
sich nun endlich auszuzahlen. Zumindest ist ein Wandel
in der Wahrnehmung des Engagements und seiner Bedeutung für unser Gemeinwesen festzustellen. Die CDU/
CSU begrüßt den vom zuständigen Bundesfinanzminister vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur weiteren
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements als ersten
großen Schritt in die richtige Richtung.
({0})
Dies gilt umso mehr, als der Gesetzentwurf im Wesentlichen auf Vorschlägen basiert, die auf die Enquete-Kommission und auf Handlungsempfehlungen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion zurückgehen.
({1})
Zur Erinnerung: Die CDU/CSU hat durch eine Große
Anfrage im Jahr 1996 dafür gesorgt, dass wir am
5. Dezember 1997 zum ersten Mal überhaupt eine Debatte über bürgerschaftliches Engagement im Deutschen
Bundestag hatten.
({2})
Dies führte zur Einsetzung der Enquete-Kommission im
Jahre 1999. Das Ziel war es, politische Strategien und
Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements zu erarbeiten. Ich empfehle jedem, unseren vorliegenden Abschlussbericht, der sehr aktuell ist,
zu lesen.
({3})
Lassen Sie mich nun konkret auf einige Punkte eingehen.
Erstens. Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung der
Besteuerungs- bzw. Zwecksbetriebsgrenze bei gemeinnützigen Körperschaften und sportlichen Veranstaltungen auf 35 000 Euro vor. Wir wie auch der Bundesrat
sind der Meinung, dass wir die Besteuerungsgrenze auf
40 000 Euro anheben sollten. Wir möchten mit dieser
Erhöhung eine Flexibilisierung auf drei Jahre verbinden,
um zum Beispiel den Vereinen eine größere Planungsfreiheit bei der Ausrichtung von Vereinsjubiläen oder besonderen Anlässen zu ermöglichen.
Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht eine Anhebung
der sogenannten Übungsleiterpauschale bei unverändertem Anwendungsbereich auf 2 100 Euro vor. Über
die Anhebung des Übungsleiterfreibetrages hinaus halte
ich eine Erweiterung des Bezugskreises auf Verantwortungsträger - zum Beispiel Vereinsvorsitzende, Schatzmeister und ehrenamtliche Geschäftsführer - für erforderlich.
({4})
Ferner sollten wir die 2 000 lizenzierten Organisationsleiter im Sport und die Helfer in der Gefahrenabwehr mit
aufnehmen.
({5})
Im Übrigen profitieren die Feuerwehrleute von dieser
Anhebung bisher nicht. Auch hier müssen wir eine entsprechende Anpassung vornehmen. Sie ist notwendig
und sachgerecht. Dies sollte Ausdruck der Anerkennung
für die gefährliche und wertvolle Arbeit der Feuerwehr
sein.
({6})
Drittens. Wir unterstützen die Anhebung des
Höchstbetrages für die Ausstattung von Stiftungen,
sind aber wie der Bundesrat der Meinung, dass wir hier
ein klares Zeichen setzen sollten, diesen auf 1 Million
Euro anheben zu wollen. Das wäre für mich ein wichtiges Signal für die Gründung von Stiftungen. Dies würde
den Bürgern die Möglichkeit geben, dauerhaft gemeinnützige Zwecke zu finanzieren.
Viertens. Im Entwurf ist die Einführung eines Abzugs
von der Steuerschuld in Höhe von 300 Euro jährlich für
ehrenamtliche Tätigkeiten im mildtätigen Bereich im
Umfang von 20 Stunden vorgesehen. Wir sind wie der
Finanzminister der Meinung, dass diese Begrenzung auf
den mildtätigen Bereich ein Ranking innerhalb des ehrenamtlichen Engagements schafft und damit Unterschiede zeitigt. Darin sehen wir ein Problem. Das kann
nicht unser Ziel sein.
Die Konsequenz kann nur sein, dass wir diese Abzugsfähigkeit sachgerecht auf den Naturschutz, die
Hilfs- und Rettungsdienste, die Feuerwehr, kirchliches
Engagement und Bereiche des Sports ausweiten. Falls
dies nicht zu finanzieren ist, sollte dieser Punkt zur Disposition stehen. Eine Rangfolge des Ehrenamtes streben
wir nicht an. Aus meiner Sicht sollten wir eher darüber
nachdenken, ob wir nicht eine Freigrenze von
1 200 Euro für alle Ehrenamtlichen schaffen. Damit erzielen wir einen konkreten Bürokratieabbau, da die
Einzelnen nicht mehr die Kosten für Porto, Telefon und
gefahrene Kilometer sowie andere Aufwendungen detailliert nachweisen müssen, sondern dies pauschal über
eine Freigrenze abgedeckt ist.
Fünftens. Die Beiträge für Kultur sind in Zukunft von
der Steuer absetzbar. Aber was, Herr Finanzminister, geschieht mit Mitgliedsbeiträgen an Sportvereine? Ihr
Ministerium hat einen entsprechenden Vorschlag lapidar
mit der Formulierung abgelehnt - ich zitiere -: Die Mitglieder von Sportvereinen fördern mit ihren Beiträgen in
erster Linie die eigene Freizeitgestaltung. - Lieber Herr
Steinbrück, Sie haben mich zwar gelobt. Aber an dieser
Stelle muss ich Sie natürlich fragen: Was ist mit den Begriffen der Sozialisation, der Integration, der Gesundheitsförderung und der Lebensschule für Kinder? Dies
alles sind Leistungen der Sportvereine. In Ihren Reden
zu entsprechenden Anlässen findet sich das alles. Ist es
jetzt vergessen?
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darüber nachdenken, ob wir die Mitgliedsbeiträge für Kinder und Jugendliche an Sportvereine als Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke anerkennen können.
({7})
Dies wäre ein erheblicher Beitrag, Eltern zu motivieren,
ihre Kinder regelmäßig zum Sport anzuhalten.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird im Gesetzgebungsverfahren die im Gesetzentwurf vorhandenen
Unebenheiten und Ungleichheiten zum Wohle aller ehrenamtlich Tätigen beseitigen. Wir stehen weiter an der
Seite des Ehrenamtes.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist richtig, Frau Dr. Höll: Viele tun es. Der Brite macht es; der
Franzose macht es. Auch der Pole, der Ire, der Belgier
und der Deutsche tun es. Ganz viele sind in Europa bürgerschaftlich, freiwillig, unentgeltlich, eigensinnig unterwegs. Sie sind das soziale Kapital, über das unsere
Gesellschaft verfügt. Sie sind ein Kapital, das sich, wenn
man es benutzt, sogar vermehrt. Dies ist auch gut so.
Wir haben also im europäischen Umfeld vieles; einiges haben Sie zitiert. Wir haben aber etwas, was andere
nicht haben: Die 23 Millionen Menschen in Deutschland, die sich bürgerschaftlich engagieren, und die
14 000 Stiftungen haben in Peer Steinbrück einen Finanzminister, der genau dieses Engagement wertschätzt,
der mit seinem Gesetz hier unterlegt, dass Ehrenamt kein
Ausfallbürge für den Sozialstaat sein soll,
({0})
der den Ehrenamtlichen nicht als potenziellen Steuerhinterzieher betrachtet,
({1})
sondern davon ausgeht, dass der Ehrenamtliche, wenn er
unterwegs ist, nicht nur an sich denkt, sondern auch an
die Gesellschaft und Gemeinschaft. Alle in diesem
Hause sprechen hier oder in ihrem Wahlkreis zum Tag
des Ehrenamtes am 5. Dezember immer von der Seele
der Demokratie und vom Wärmestrom der Gesellschaft,
der unsere Gesellschaft zusammenhält.
({2})
Vielleicht wäre es für die Kollegen und Kolleginnen
von der Opposition einmal ganz hilfreich, Folgendes zur
Kenntnis zu nehmen - Kollege Riegert hat es schon gesagt -: In der rot-grünen Koalition haben wir die Enquete-Kommission und den Ausschuss ins Leben gerufen. Wir haben seit 2002 eine ganze Reihe von
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir haben die finanzielle Förderung der Freiwilligendienste, Unfallschutz
und Haftungsfragen geregelt. Wir haben die Hospizbewegung und die Selbsthilfe unterstützt.
({3})
Wir haben über alle Elemente aus der Enquete-Kommission in diesem Hohen Hause beraten.
Heute sprechen wir über das Finanzielle; das ist auch
gut so. Nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen
Beirates haben viele gefragt: Oh Gott, was werden wir
aus dem Finanzministerium womöglich hören? Mit dem
Gesetzesentwurf mit der Überschrift „Hilfen für Helfer“
- da war die grüne Seite vielleicht nicht mehr so ganz
auf der Höhe der Zeit - hat sich der Finanzminister nicht
auf die Seite des Beirates gestellt, sondern auf die Seite
der Engagierten.
({4})
- Es hat nicht gedauert.
({5})
Vielleicht sind Sie auch da nicht auf der Höhe der Zeit.
Schon lange vorher - auch das ist eine Neuheit - wurde
aus dem Finanzministerium der Kontakt zur Zivilgesellschaft und zu den Verbänden gesucht, um das Gesetzeswerk tatsächlich Stück für Stück zu entwickeln und gemeinsam auf den Weg zu bringen.
Deswegen ist das Gesetz zur weiteren Stärkung des
bürgerschaftlichen Engagements ein Zeichen der Anerkennung und der Unterstützung bürgerschaftlich Engagierter. Das Gesetz soll mehr Menschen motivieren, sich
zu engagieren. Für uns als Sozialdemokraten ist beides
wichtig - das sage ich vor allem an die Adresse der Linken -: Sowohl die Zivilgesellschaft als auch der Sozialstaat müssen gestärkt werden.
({6})
Nur wenn beides gestärkt wird, kann es funktionieren.
Herr Kollege Riegert und andere haben es schon angeführt: Mit dem Gesetz „Hilfen für Helfer“ werden unsere Forderungen - es sind nicht nur Forderungen der
CDU/CSU; da muss man etwas genauer sein -, die Forderungen der Enquete-Kommission - Kollege Riegert
und Kollege Bürsch waren dabei; auch ich durfte mitarbeiten - jetzt aufgegriffen und gesetzgeberisch umgesetzt.
Nach der Schrecksekunde, die im Sommer durch den
Wissenschaftlichen Beirat ausgelöst wurde, war der Jubel groß, nachdem die Eckpunkte kurz vor dem Tag des
Ehrenamtes am 5. Dezember vorgelegt worden sind.
Jetzt seien Sie doch alle einmal ehrlich - das sage ich
vor allem an die Seite der Linken gerichtet; ich glaube,
in diesen Kreisen bewegen Sie sich nicht -: Es gab viel
Wertschätzung und viele positive Reaktionen aus den
Verbänden, weil sie dem Finanzminister dies nicht zugetraut hatten. Es gab ja früher immer die Debatte, dass es
Milliarden kostet, wenn man Steuervergünstigungen für
die jeweiligen Verbände gewährt.
Das Finanzministerium hat mit diesem Gesetzentwurf
richtig gehandelt. Lob und Anerkennung können nicht
nur die Verbände, sondern auch wir an das Ministerium
richten. Ich will hier einmal die Kulturseite zitieren, die
gesagt hat: Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt.
Das hört man selten über ein Vorhaben des Finanzministeriums; das überrascht. In diesem Fall kommt das, was
mobilisiert werden kann, der Kultur zugute.
({7})
Diese Neuregelungen, die jetzt auf den Weg gebracht
werden sollen, stehen für Bürokratieabbau und für mehr
Anreize zum Stiften von Zeit und von Geld. Wir sind gut
beraten, wenn wir die engagierten Bürgerinnen und Bürger nicht benutzen. Wir alle wissen: Bürgerschaftliches
Engagement lässt sich nicht verordnen. Es muss eigensinnig, freiwillig und unentgeltlich sein. Die Menschen
müssen die Möglichkeit haben, innovativ zu sein.
Ich finde es gut und schön, dass dieser Gesetzentwurf
nicht hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, sondern mitten im Leben steht. Uns ist besonders wichtig, dass die
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in den
Katalog der gemeinnützigen Zwecke des § 52 der Abgabenordnung - dieser Passus ist auf den ersten Blick unscheinbar - aufgenommen wurde. Das geschah zu Recht,
das finden wir gut, und daran wollen wir festhalten.
({8})
Ich finde es immer wieder putzig, wenn die FDP dazu
auffordert, zu stiften und auf andere Weise fürs Gemeinwohl tätig zu werden. Ich frage mich nur, warum Sie
sich dafür nicht in der Zeit eingesetzt haben, als Sie an
der Regierung waren. Wir sind seit 1998 an der Regierung, und seitdem ist die Stiftungskultur bei uns am
Werden und am Wachsen.
({9})
Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen aus unserer
Runde waren bei vielen Bürgerstiftungen dabei. Auch
ich habe meinen Beitrag geleistet. Wir werden auch in
Zukunft für Verbesserungen der Rahmenbedingungen
für Stiftungen sorgen. Wir werden wahrscheinlich auch
den Stiftungsrahmen anheben. Wir haben schon viel getan, und wir werden auch in Zukunft noch viel tun.
({10})
Frau Kollegin Kumpf, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Lieber Kollege Tauss, ich würde jetzt gern bei diesem
Thema bleiben, weil es mir wichtig ist. Es ist ein heiß
umkämpftes Thema und ein Lieblingskind von mir. Die
einen stiften Geld, und die andern stiften Zeit. Ich
glaube, auch diejenigen, die Zeit spenden, die ehrenamtlich und unentgeltlich für ältere und behinderte Menschen tätig sind, werden dadurch ermutigt, dass sie
300 Euro von ihrer Steuerschuld abziehen können. Wir
tun gut daran, dieses Engagement zu unterstützen. Ich
weiß, dass das sehr umstritten ist. Ich denke, dass wir
hiermit einen Paradigmenwechsel vornehmen. Wir entsprechen damit auch einer Forderung der Enquete-Kommission.
Es wird immer wieder behauptet, dass für die
Übungsleiter nichts getan wurde. In dem Gesetzeswerk
steckt auch eine Erhöhung der Übungsleiterpauschale. Mit dieser Erhöhung befindet sich Peer
Steinbrück in guter Gesellschaft: In Zeiten von Willy
Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder wurde
die Übungsleiterpauschale erhöht. Von dieser Übungsleiterpauschale profitieren im Übrigen nicht nur Kolleginnen und Kollegen, die sich im Bereich des Sports um die
Jugend kümmern, sondern auch diejenigen, die sich im
Bereich der Kultur und in anderen Bereichen für die Jugend engagieren.
Ich sehe, dass die Lampe leuchtet. Der Präsident sagt
gleich etwas.
Frau Kollegin, sind Sie so weit?
Ich komme gleich zum Schluss.
Ich habe noch ein Anliegen.
({0})
- Ich habe zwar mehrere, ich konzentriere mich jetzt
aber auf eines, Kollege Fischer. - Ich hoffe, dass die
CDU/CSU, was den Terminplan anbelangt, ein wenig
schwächelt. Ich finde, dass diejenigen, die sich bürgerschaftlich engagieren, es verdient haben, dass bis zur
Sommerpause Klarheit über das steuerrechtliche Verfahren herrscht.
({1})
Nachdem wir alle steuerrechtlichen Fragen abgehandelt
haben, wird noch genügend Zeit bleiben, um andere Fragen zu klären, zum Beispiel Haftungsfragen.
({2})
Frau Kollegin Kumpf, Sie bringen jetzt unseren Terminplan durcheinander.
Deswegen bitte ich, dass wir unsere Beratungen zügig
fortsetzen,
({0})
damit wir die Menschen Mitte des Sommers auf unserer
„Ehrenamtstour“ in ihrem Wirken bestärken können.
Danke.
({1})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Bernhardt von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns sicher alle darin einig, dass gesellschaftliches Leben ohne die Bereitschaft von Millionen
von Menschen in Deutschland, sich neben Familie und
Beruf ehrenamtlich zu betätigen, in vielen Bereichen
überhaupt nicht möglich wäre. Insofern muss man im
Rahmen dieser Debatte all denen, die - oftmals ganz im
Verborgenen - aktiv arbeiten, von dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen.
({0})
Es ist schon erstaunlich, dass, wie neueste Untersuchungen zeigen, jeder dritte Deutsche ehrenamtlich tätig
ist. Was mich besonders erfreut, ist, dass sich diese Zahl
in den letzten Jahren erhöht hat. Das Ehrenamt ist ein
Thema - das hat die Debatte gezeigt -, das für alle Parteien bzw. Fraktionen von großer Bedeutung ist. Für uns
geht es hierbei nicht nur um materielle Fragen. Für uns
gehört eine Stärkung des ehrenamtlichen Engagements
zu den Grundsätzen der Politik: Solidarität, Subsidiarität.
Vor diesem Hintergrund haben wir mit dafür gesorgt,
dass bereits im Koalitionsvertrag das Ziel der Verbesserung der Rahmenbedingungen festgehalten wurde.
Heute nun diskutieren wir in erster Lesung über einen
Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Stärkung
des bürgerschaftlichen Engagements zum Ziel hat. Ich
kann nur sagen: Herr Minister, Sie haben einen guten
Entwurf vorgelegt.
({1})
Wir stimmen dem Inhalt mit Ausnahme eines Punktes
uneingeschränkt zu. Bei diesem einen Punkt wollen Sie,
um das klar zu sagen, etwas Gutes. Es geht dabei um die
Möglichkeit, bis zu 300 Euro pro Jahr, also 25 Euro pro
Monat, von der Steuerschuld abzuziehen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. So mancher Ehrenamtler fühlt sich da fast in seiner Ehre gekränkt. Viel
problematischer ist für uns jedoch die in diesem Zusammenhang entstehende Bürokratie. Es heißt, man kann
diese 25 Euro abziehen, wenn man im Monat mehr als
20 Stunden ehrenamtlich arbeitet. Dies muss dann natürlich irgendwo dokumentiert werden. Dabei leiden die armen Vereinsvorsitzenden schon heute unter zu viel Bürokratie.
Ein weiterer Punkt ist, dass Sie diese Steuerermäßigung laut Ihrem Entwurf auf diejenigen begrenzen wollen, die mit Älteren, Behinderten und Kranken arbeiten.
Das sind ganz wichtige Bereiche. In der bei mir eingehenden Post wird allerdings - mehrere Redner haben es
angesprochen - von vielen, die in anderen Bereichen tätig sind, gefragt: Sind wir weniger wichtig? Diese
- jede! - Abgrenzung ist problematisch.
({2})
Ihr Vorschlag werde, so sagen Sie, zu Steuerausfällen
von 400 Millionen Euro im Jahr führen. Das ist ein großer Schluck aus der Pulle für den ehrenamtlichen Bereich, den wir mittragen. Wir stimmen Ihnen darüber hinaus zu, dass diese 400 Millionen Euro die Grenze sein
müssen. Im Grunde geht es jetzt darum, ob man den
Kreis der Begünstigten erweitern sollte. Die Kollegin
Scheel hat eine Reihe von Punkten genannt; dem könnte
ich zustimmen. Doch ich habe mir sagen lassen, dass
wir, wenn wir das umfassend gestalten, bei 1 Milliarde
Euro landen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ich
schließe nicht aus, dass wir im Rahmen der Beratungen
zu dem Ergebnis kommen, dass wir uns diesen Punkt
einfach nicht leisten können. Wir haben für die dann frei
werdenden Mittel eine ganze Reihe guter Vorschläge;
hier ist vieles gesagt worden. Von Bayern sind gute Vorschläge gekommen, ja ich kann generell sagen: vom
Bundesrat. Auch wir haben einzelne Vorschläge gemacht. Hier kann man sicher noch etwas verbessern.
({3})
Die heutige Debatte hat gezeigt, dass alle Fraktionen
bestrebt sind - wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten -, das Ehrenamt in Deutschland zu stärken. Das
ist die richtige Botschaft an die Ehrenamtlichen in
Deutschland: Der Bundestag steht geschlossen hinter ihrer Arbeit
({4})
und ist bereit, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern. Ich stimme dem Ausschussvorsitzenden zu, der gesagt hat: Wir sollten versuchen, für diesen Gesetzentwurf eine möglichst breite Zustimmung zu bekommen.
({5})
Ich glaube, die FDP holen wir noch rein.
({6})
Bei den Grünen sehe ich auch noch gewisse Chancen.
Die Vermögensteuer will ich nicht hereinbringen, aber
ich kann mir vorstellen, dass wir eine sehr breite Zustimmung bekommen. Das wäre ein weiteres gutes Signal für
die Ehrenamtlichen.
({7})
Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Kompliment für das Ehrenamt. Wir
alle stehen zu dem Ehrenamt. Dies ist eine gute Stunde
für das ehrenamtliche Engagement in Deutschland.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen
auf den Drucksachen 16/5200 und 16/5245 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
sen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h
sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf:
29 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Hans-Peter Uhl, Kristina
Köhler ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Fritz Rudolf Körper, Maik Reichel, Klaus
Uwe Benneter, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes
- Drucksache 16/5239 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2006 - Vorlage der Haushaltsund Vermögensrechnung des Bundes ({2}) -
- Drucksache 16/4995 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Karl Addicks, Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Neuausrichtung der deutschen Afrikapolitik
- Drucksache 16/5130 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortschritte für Zypern - Eine Aufgabe für die
deutsche EU-Ratspräsidentschaft
- Drucksache 16/5259 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkommen
- Drucksache 16/5247 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deutsche
humanitäre Hilfe im Ausland 2002 bis 2005
- Drucksache 16/3777 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
g) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche
Delegation in der Interparlamentarischen Union
115. Interparlamentarische Versammlung vom
16. bis 18. Oktober 2006 in Genf, Schweiz
- Drucksache 16/4121 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Siebzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung
der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
- Drucksache 16/4123 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({9})
- Drucksache 16/5172 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Landes Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommission
- Drucksache 16/4607 9852
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen In Deutschland lebende Iraker und Irakerinnen vor Abschiebung schützen
- Drucksache 16/5248 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- Drucksache 16/5249 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schieneninfrastruktur ist öffentliche Aufgabe - Moratorium für die Privatisierung der
Deutsche Bahn AG
- Drucksache 16/5270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({15}) und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts abwenden - Bestehende europäische
Förderstrukturen stärken und weiterentwickeln
- Drucksache 16/5254 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Damit sind Sie ebenfalls einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 k
sowie den Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung
- Drucksache 16/3303 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({17})
- Drucksache 16/5096 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Christine Lambrecht
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({18})
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5096, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 16/3303 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/4198 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({19})
- Drucksache 16/5274 Berichterstattung:
Abg. Enak Ferlemann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5274, den Gesetzentwurf des BundesVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
rates auf Drucksache 16/4198 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({20})
Übersicht 6
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/5138 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 30 d bis k sowie Zusatzpunkt 4. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 210 zu Petitionen
- Drucksache 16/5120 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 210 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 211 zu Petitionen
- Drucksache 16/5121 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 211 durch Zustimmung der Fraktionen der Koalition und der FDP bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 212 zu Petitionen
- Drucksache 16/5122 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 212 einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 213 zu Petitionen
- Drucksache 16/5123 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Fraktionen der Koalition und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP
und der Linken ohne Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 214 zu Petitionen
- Drucksache 16/5124 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht angenommen mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und vom Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke.
Tagesordnungspunkt 30 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 215 zu Petitionen
- Drucksache 16/5125 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen
der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 216 zu Petitionen
- Drucksache 16/5126 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition und der Linken gegen die Stimmen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 30 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 217 zu Petitionen
- Drucksache 16/5127 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Zusatzpunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({29}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch
Die Überprüfung des gemeinschaftlichen
Besitzstands im Verbraucherschutz
KOM ({30}) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07
- Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Marianne Schieder
Karin Binder
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis
zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalition, der FDP und der Linken gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5272 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann
ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage
auf dem Arbeitsmarkt
Ich eröffne die Rednerliste und erteile das Wort dem
Bundesminister Franz Müntefering.
({31})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir in der in einer Aktuellen Stunde gebotenen Kürze einige Anmerkungen zu dem genannten
Thema. Das Wachstum im letzten Jahr war gut; es war
besser, als wir es Anfang des Jahres vermutet haben.
Auch die Wirtschaftsweisen waren am Ende des Jahres
überrascht über die gute Entwicklung.
Besonders gut war die Entwicklung des Binnenmarktes. Der Binnenmarkt war im Jahr 2004 mit 0,0 Prozent,
im Jahr 2005 mit 0,5 Prozent und im Jahr 2006 mit
1,6 Prozent am Wachstum beteiligt.
({0})
Für dieses Jahr wird mit einem Wachstum des Binnenmarktes von 1,5 Prozent bis 1,6 Prozent gerechnet.
Vor diesem Hintergrund kann ich uns bei allem, was
wir in den nächsten Wochen zu entscheiden haben, nur
empfehlen, weiterzumachen.
({1})
Wir müssen nicht nur sanieren, sondern auch investieren, damit der Binnenmarkt in Bewegung bleibt. Damit
verbindet sich ein Absinken der Beschäftigungsschwelle. Alle Ökonomen haben uns immer wieder erzählt, dass der Arbeitsmarkt erst bei einem Wachstum
von 2 Prozent bis 2,5 Prozent in Bewegung geraten
würde. Nach neuen Erkenntnissen ist das bei einem
Wachstum zwischen 1 Prozent und 1,5 Prozent der Fall.
Das ist gut und hängt mit dem Dienstleistungssektor zusammen, der schneller in Bewegung gerät als andere Bereiche. Das heißt, wir können auch für dieses Jahr eine
positive Entwicklung erwarten. 1,1 Millionen Arbeitslose weniger als vor zwei Jahren bzw. 824 000 weniger
als vor einem Jahr - darunter fast 180 000 Arbeitslose
über 50 Jahren und 153 000 unter 25-jährige - sind eine
gute Bilanz für die Koalition und für die Regierung.
({2})
Punkt zwei. Es heißt immer, die Zahl der Langzeitarbeitslosen, der Arbeitslosengeld-II-Empfänger, sei
doch unverändert geblieben. Das ist falsch. Wir hatten
vor einem Jahr 2,978 Millionen Arbeitslosengeld-IIEmpfänger, heute nur noch 2,613 Millionen. Das sind
365 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger weniger. Das
entspricht einem Minus von 12,3 Prozent. Das heißt,
dass wir etwa 3 Milliarden bis 4 Milliarden Euro in diesem Bereich weniger ausgeben, genauso wie wir es im
Haushalt sehr ehrgeizig angesetzt hatten. Wir haben allerdings ein Problem: Die Zahl derjenigen, die
Arbeitslosengeld II bekommen, aber nicht arbeitslos
sind, steigt, und zwar seit zwei Jahren um 800 000. Wir
haben fast so viele, die nicht arbeitslos sind, also mehr
als 15 Stunden arbeiten, und ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen, wie Arbeitslose, die Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt dagegen ein Mittel. Das heißt
Mindestlohn. Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit sprechen. Aber hier liegt das Problem.
({3})
Punkt drei. Nun geht es um die Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit. Wir haben gestern im Kabinett beschlossen, einen Qualifizierungskombi für junge Menschen unter 25 aufzulegen, die schwer vermittelbar sind,
weil sie keine Ausbildung haben. Diesen wollen wir eine
Chance geben. Wir haben des Weiteren beschlossen,
etwa 100 000 Menschen im Bereich des sozialen Arbeitsmarktes eine Chance zu geben.
({4})
Wir müssen denjenigen, die sehr schwer vermittelbar
sind, eine Chance geben, in Arbeit zu kommen; denn
diese Menschen haben auch bei einem hohen Beschäftigungsstand kaum eine Chance. Wir haben in Deutschland eine Definition gewählt, die sehr anspruchsvoll ist:
Wer in absehbarer Zeit drei Stunden am Tag arbeiten
kann, gilt als beschäftigungsfähig. In Großbritannien
sind das ganz andere Zahlen. Wir haben mit unserer Definition dazu beigetragen, dass 3,1 Prozent der Menschen im Erwerbsalter als nicht erwerbsfähig gelten. Das
sind in Großbritannien 6,5 Prozent und in den Niederlanden 8 Prozent. Wenn wir das anders definierten, stiege
die Zahl der Arbeitslosen sofort. Das wollen wir nicht.
Aber wir wollen denjenigen, die Beschäftigungshemmnisse aufweisen, helfen, ins Erwerbsleben zu kommen.
Hierzu hat die Bundesregierung gestern wichtige Entscheidungen getroffen. Wir werden sie so schnell wie
möglich umsetzen.
Wir werden prüfen, was wir in den Bereichen tun
können, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist.
Das betrifft nicht nur, aber in hohem Maße Ostdeutschland. In Westdeutschland liegt die Arbeitslosenquote bei
7,8 Prozent, während sie in Ostdeutschland bei
15,9 Prozent liegt. Nun bin ich gegen eine saubere Trennung zwischen Ost und West, sage aber: Wir müssen in
den Bereichen, in denen es eine hohe Langzeitarbeitslosigkeit gibt, die selbst in einer so guten Konjunkturphase
wie der jetzigen nicht verringert werden kann, noch
mehr tun. Wir müssen dort helfen, wo die Arbeitslosigkeit dramatisch hoch ist, ganz gleich, ob die Gebiete im
Westen oder im Osten Deutschlands liegen. Wir müssen
versuchen, hier neuen Schwung hineinzubringen.
({5})
Punkt vier. Ich bin mit einem Punkt in der Entwicklung nicht einverstanden. Darüber ist jetzt nicht zu diskutieren, aber ich will ihn nennen: Das ist der Ausbildungsbereich. Hier müssen wir in Deutschland besser
werden. Es hat im letzten Jahr Erweiterungen und Verbesserungen gegeben. Diese waren aber nicht ausreichend. Der Ehrgeiz der Koalition ist: Wir müssen in dieser Legislaturperiode hinbekommen - das ist angesichts
der Lage auf dem Arbeitsmarkt möglich -, dass wirklich
und wahrhaftig kein junger Mann und keine junge Frau
mehr von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit kommt.
Wir müssen es zusammen mit den Unternehmen und der
Wirtschaft schaffen; das ist möglich. Wir müssen neuen
Druck entwickeln, damit wir an dieser Stelle wirklich
befriedigende Ergebnisse erzielen.
({6})
Punkt fünf. Das ist durch die Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt regelrecht aufgerissen worden: Wir stehen
in hohem Maße vor einem Qualifizierungsproblem. Uns
fehlen 20 000 bis 25 000 Ingenieure. Aber auch andere
Bereiche haben große Schwierigkeiten. Das ist eine paradoxe Situation: Die Zahl der offenen Stellen ist von
420 000 im vergangenen Jahr auf 920 000 Stellen in diesem Jahr gestiegen. Nun kann man meinen, dass schneller vermittelt wird. Aber die Lebenswirklichkeit ist: Die
Vermittlungszeiten werden länger, weil die Fachleute,
die man sucht, nicht mehr so schnell gefunden werden,
wie man es sich eigentlich wünscht. Daraus erklärt sich
übrigens der große Boom der Zeit- und Leiharbeit; denn
dort gibt es quasi eine Vororganisation und wird eine
Vorentscheidung getroffen, die sich viele Firmen zunutze machen. Das ist zwar heute nicht Thema. Aber die
Frage nach der hinreichenden Qualifizierung wird uns in
den nächsten Jahren zunehmend beschäftigen. Wir müssen nicht nur darauf achten, dass es auf dem Arbeitsmarkt insgesamt Bewegung gibt. Vielmehr muss die nötige Qualifikation gesichert bleiben.
Die deutsche Wirtschaft muss wissen: Wir müssen die
Arbeit, die wir haben, mit den Menschen erledigen, die
in unserem Land leben. Es geht nicht, zu sagen: Uns fehlen qualifizierte Leute. Macht das Tor auf! Holt Menschen aus aller Welt zusammen! - Die Arbeit, die wir in
Deutschland haben, muss zuerst mit dem Potenzial, das
wir hier haben, erledigt werden. Dafür werden wir jedenfalls streiten.
({7})
Wir werden die Instrumente im zweiten Halbjahr zu
überprüfen haben. Das ist so vereinbart worden, und das
werden wir zusammen mit der Agentur, mit den Argen
und mit den optierenden Gemeinden auch tun.
Ich will einmal ausdrücklich ein Dankeschön in diese
Richtung sagen. Diese haben in den beiden letzten Jahren von vielen, auch von uns, mächtig etwas auf das
Haupt bekommen. Wir haben sie ziemlich alleingelassen, als wir damals das Ganze geschaffen haben. Ich
sage - auch weil ich mir das vor Ort angesehen habe -:
Großen Respekt vor denen, die in der Bundesagentur, in
den Argen und in den optierenden Gemeinden jeden Tag
ihr Bestes tun, um die Probleme zu lösen, die es objektiv
gibt.
({8})
Das kann noch besser werden. Dabei müssen wir helfen;
aber an dieser Stelle großen Respekt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, die Bundesregierung, haben in Europa in der Zeit unserer Präsidentschaft das Thema „Gute Arbeit“ gesetzt. Ich finde, das
ist etwas, was wir auch in Deutschland als Messlatte für
das gut gebrauchen können, was in den kommenden Jahren zu tun ist.
„Gute Arbeit“ heißt, das Ziel der Vollbeschäftigung
nicht aus den Augen zu verlieren. Ich weiß, viele sagen,
das schafft ihr nicht, nicht schnell. Das weiß ich. Trotzdem dürfen wir es nicht aus den Augen verlieren. Alle
Menschen müssen eine Chance haben. Arbeit ist sinnstiftend für die Menschen, und sie ist wohlstandssichernd.
Zu „Guter Arbeit“ gehört ein fairer, ehrlicher, Existenz sichernder Lohn. Zu „Guter Arbeit“ gehört Arbeitsschutz, auch präventiv. Zu „Guter Arbeit“ gehört
familiengerechte und familienfreundliche Gestaltung der
Arbeitswelt. Dass es so viele junge Mütter unter den
Langzeitarbeitslosen gibt, hängt damit zusammen, dass
wir an der Stelle nicht so gut sind, wie wir es sein müssten. Die Debatte über die Betreuung der unter Dreijährigen hat auch darin eine gute Begründung. Wir müssen an
der Stelle drauflegen. Wir müssen sehen, dass es besser
vorangeht.
({9})
Zur „Guten Arbeit“ gehört auch eine hinreichend gute
Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
damit ihre Rechte auch in Zukunft gesichert bleiben.
Dieses sind im Stakkato vorgetragene wichtige Eckpunkte zu der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Man
muss sich ja ab und zu auch einmal selbst zensieren. Ich
würde sagen: Zwei minus. Wir können auf „Eins“ kommen, wenn wir uns in den nächsten beiden Jahren anstrengen. Ich sage dies vorbeugend, weil ich vermute,
Herr Brüderle wird dazu wieder nicht bereit sein. Er ist
nicht objektiv in seiner Darstellung der Probleme.
({10})
Deshalb muss ich selbst die Zensur für uns ausstellen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Kollege Rainer Brüderle hat das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war
vorhersehbar, dass die Große Koalition diese Aktuelle
Stunde anberaumt, um sich selbst zu feiern und zu beweihräuchern. Das ist ja völlig klar.
({0})
Wenn wir heute etwas zu feiern haben, dann müssen
wir feiern, dass die Unternehmen in Deutschland, die
Arbeitnehmer, eine gewaltige Restrukturierungsleistung
erbracht haben, dass wir vernünftige Tarifabschlüsse
hatten und vor allen Dingen, dass der Boom in der Weltwirtschaft in Deutschland angekommen ist
({1})
und alle darin bestätigt worden sind, die für offene Grenzen, nicht für Abschottung, waren.
({2})
- Ja, wir haben auch Osteuropäer, die hier arbeiten; aber
wir verkaufen außerordentlich viel nach Osteuropa. Daher kommt auch der Schwung. Ohne den dynamischen
Export wäre die Entwicklung in Deutschland relativ saftund kraftlos.
Das sind die Leute, die es gemacht haben, die man
feiern muss,
({3})
und nicht die Trittbrettfahrer, die jetzt Etikettenschwindel betreiben und sagen, wir waren es. - Darum geht es
nicht.
Entscheidend ist jetzt aber, dass sich die Regierung
nach dem heißen April nicht wirtschaftspolitisch Hitzefrei nimmt. Vielmehr muss sie die gute Entwicklung,
über die wir uns alle freuen - wir freuen uns darüber,
dass wir Wachstum haben, und zwar weit mehr, als es
vorausgesagt worden ist; wir freuen uns darüber, dass es
mehr Arbeitsplätze gibt -, fortsetzen.
({4})
Aber sie muss jetzt die richtigen Hausaufgaben anpacken, Strukturreformen durchziehen, damit daraus ein
langfristiger Trend wird. Dabei ist sie bei weitem noch
nicht. Sie müssen den Haushalt konsolidieren, die Neuverschuldung auf null zurückführen, aber auch Steuern
senken, damit Sie den Wachstumstrend verstärken.
({5})
Wir hätten weniger Arbeitslose, Herr Müntefering, wenn
Sie nicht mit der Mehrwertsteuererhöhung die größte
Steuererhöhung aller Zeiten zum 1. Januar in Deutschland durchgeführt hätten. Das hat Arbeitsplätze gekostet.
({6})
Wir erleben jetzt Vorzieheffekte wegen der Abschaffung der degressiven Abschreibung, aber von Vorzieheffekten kann man auf Dauer nicht leben. Sie müssen
endlich an die Pflegeversicherung herangehen und diese
in Ordnung bringen und den Haushalt umstrukturieren.
Sie haben überhaupt nicht gespart. Sie haben die Ausgaben erhöht, und Sie haben die Steuern erhöht. Das ist
kein Umstrukturierungs-, kein Modernisierungsprogramm.
({7})
Sie haben sich vor allen harten Aufgaben gedrückt. Sie
sind Hans im Glück, weil die Wirtschaft aus anderen
Gründen gut läuft.
({8})
Das hat aber nichts mit der Regierung zu tun. Sie haben
die Wirtschaft eher behindert. Jetzt verfolgen Sie noch
die falsche Strategie.
Herr Müntefering ist Arbeitsminister; aber ein Arbeitsminister, der Mindestlöhne einführen will, ist ein
Arbeitsplatzverhinderungsminister; denn Mindestlöhne
werden keine Arbeitsplätze bringen.
({9})
Die Wirtschaftsforscher rechnen es Ihnen vor: Ein Mindestlohn von 7,50 Euro, den der DGB will, kostet
620 000 Arbeitsplätze, ein Mindestlohn von 6,50 Euro,
den Herr Müntefering will, kostet 465 000 Arbeitsplätze.
Ich sehe schon, dass wieder ein fauler Kompromiss herauskommt. Die CDU wird wieder umfallen. Es wird
keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn geben, sondern branchenbezogene Mindestlöhne. Das ist
noch schlimmer als flächendeckende Mindestlöhne, weil
sie zusätzlich Strukturen verzerren. Sie machen es noch
schlimmer.
({10})
Das wird wie bei der Gesundheitsreform werden. Sie haben nicht den Mut, etwas Vernünftiges zu tun. Sie treffen
wieder eine Fehlentscheidung nach der anderen, nur um
etwas gemeinsam hinzukriegen. Wenn ich mir den Programmentwurf der Union ansehe, dann finde ich nichts
mehr von den Ideen der alten Union, die sie vor der Bundestagswahl hatte, nämlich betriebliche Bündnisse für
Arbeit, modernes Kündigungsrecht, mehr Flexibilisierung. Da zeigt sich der Umgang der beiden sozialdemokratischen Parteien - eine rot, eine schwarz - miteinander. Die färben gegenseitig ab, und es kommt dieser
undefinierbare Gulasch heraus. Das ist nicht die Strategie, die nach vorne führt.
Eines haben Sie nicht angesprochen, Herr
Müntefering: Gut ein Drittel der neu entstandenen Arbeitsplätze kommt durch Zeitarbeitsfirmen. Das ist der
Beleg dafür, dass die fehlende Flexibilität eine der Kernursachen dafür ist, dass wir nicht mehr Arbeitsplätze haben.
({11})
Sie müssen den Umweg über Zeitarbeitsfirmen gehen,
weil dort der Kündigungsschutz nicht wirkt und dort
mehr Flexibilität herrscht. Machen Sie es doch gleich
richtig, nicht immer nur indirekt! Haben Sie den Mut,
den Arbeitnehmern und den Selbstständigen durch steuerliche Entlastung und eine Steuerreform, die den Namen verdient - einfach, niedrig und gerecht, das ist das
Modell von Hermann Otto Solms -, die Chance zu geben, dass das verfügbare Einkommen steigt. Das wird
Wachstum bringen. Haushaltskonsolidierung und Steuerreform sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie gehören geistig und instrumentell zusammen.
({12})
Sie werden leider wieder nicht die Kraft haben, das zu
tun. Sie sonnen sich jetzt im Licht der guten wirtschaftlichen Entwicklung. Aber wenn Sie zu lange in der Sonne
liegen, haben Sie nicht mehr die Kraft zum Denken. Gehen Sie aus der Sonne, krempeln Sie die Ärmel hoch,
und machen Sie etwas Vernünftiges! Die Menschen in
Deutschland hätten es verdient.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt spricht die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Brüderle, es heißt: Tue Gutes, und
rede darüber! - Ich glaube, deswegen ist es richtig, dass
wir diese Aktuelle Stunde heute angesetzt haben.
({0})
Wir haben einen Wirtschaftsaufschwung, unser Wirtschaftsmotor läuft auf vollen Touren. Wir haben den
stärksten Aufschwung seit sieben Jahren. Die Auftragsbücher sind voll, die Bilanzen vieler Konzerne sind glänzend. Die Industrie- und Handelskammern haben gestern
mitgeteilt - das freut uns sehr -, dass die Anzahl der
Ausbildungsplätze inzwischen um 13 Prozent höher ist
als im letzten Jahr. Ich glaube, das gibt uns, was diesen
Bereich angeht, noch größere Zuversicht.
({1})
Für uns ist unwahrscheinlich wichtig, dass das kein
Strohfeuer ist. Alle Experten hier sind sich inzwischen
einig - das ist selten -: Dieser Aufschwung ist robust, er
steht auf einem stabilen Fundament und er wird noch an
Breite gewinnen. Gestern ist das Gutachten des Schweizer Managerinstituts IMD herausgegeben worden. Dieses Institut untersucht jedes Jahr 55 Staaten im Hinblick
auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Aus diesem Gutachten geht ganz klar hervor, dass sich Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit enorm verbessert hat. Während wir letztes Jahr noch auf Platz 25
waren, so sind wir dieses Jahr auf Platz 16. Frankreich
ist zwölf und Großbritannien ist sechs Plätze hinter uns.
Es heißt: Es ist die stärkste positive Veränderung, die es
auf der Welt je gegeben hat.
({2})
Ich glaube, das spricht für sich. Unsere Wachstumsprognose für dieses Jahr mit 2,3 Prozent ist sehr verhalten.
Die Europäische Kommission und auch andere Institute
gehen von weit höheren Wachstumszahlen aus.
Wichtig für uns ist: Die Menschen haben wieder Zuversicht. Die Menschen haben nicht mehr so große
Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes. Sie konsumieren wieder mehr. Deswegen ist es wichtig, dass die
Konjunktur wieder auf zwei Beinen stehen kann: Wir
sind nicht mehr so exportlastig, wie wir es vorher gewesen sind; vielmehr hat die Binnenkonjunktur angezogen.
Ich glaube, dass wir in der Zukunft bei außenwirtschaftlichen Störungen weniger schockanfällig sein werden.
Das ist für uns ein ganz wichtiger Faktor. Wir profitieren
endlich wieder von der Weltwirtschaft. Wir sind endlich
wieder Lokomotive. Anders als in den vergangenen Jahren sind wir eine der treibenden Kräfte. Zu verdanken ist
das unserer technologischen Kompetenz, die international anerkannt und international wettbewerbsfähig ist.
Wir müssen aufpassen - der Herr Minister hat es vorhin angesprochen -: Unser Konjunkturaufschwung kann
durch unseren momentanen Fachkräftemangel gebremst
werden; dieser könnte wie eine Zeitbombe wirken.
50 000 Ingenieurarbeitsplätze konnten letztes Jahr nicht
besetzt werden. Ich wiederhole: 50 000 Ingenieurarbeitsplätze. Das heißt: Wir verlieren Aufträge. Produkte
und Dienstleistungen im Wert von 3,5 Milliarden Euro
konnten nicht angeboten werden. Sie wurden höchstwahrscheinlich im Ausland angeboten.
Wir müssen noch mehr für die Nachwuchsförderung
tun. Wir sind inzwischen Weltmeister beim Nutzen von
iPods, von Handys und von Computern. Was unseren
jungen Leuten fehlt, ist die Neugierde darauf, welche
Technologie in diesen Geräten steckt. Hier müssen wir
ansetzen. Wir müssen versuchen, diese Neugierde zu
wecken. Deswegen müssen wir auch dafür sorgen, dass
das Thema Technologie an den Schulen in Zukunft vermehrt behandelt wird.
Das Wichtigste für uns ist, dass die Beschäftigungssituation hier so gut wie seit langem nicht mehr ist. Nicht
nur die Anzahl der Minijobs wird größer, sondern auch
die der Vollzeitarbeitsplätze.
({3})
Ich bin froh, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr über
600 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben.
Das kommt aber nicht von ungefähr; das ist klar. Wir
wissen, dass es eine ganze Reihe von Faktoren gibt, die
zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Die weltwirtschaftliche Lage hilft uns natürlich: Wir sind ein Exportland und daher von der Weltwirtschaft stark abhängig.
Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Exporteure ist aber
kein Zufall. Wer auf den wachsenden Weltmärkten, also
global, unterwegs ist, der ist nur wettbewerbsfähig,
wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat und wenn die
Bedingungen zu Hause stimmen. Ich glaube, dass alle
Beteiligten ihre Hausaufgaben gemacht haben: Die Tarifparteien haben eine moderate Lohnpolitik betrieben;
die Unternehmen, vor allem die kleineren und mittleren,
haben sich für den Wettbewerb fit gemacht, und das unter manchmal nicht ganz einfachen Bedingungen. Sie
sind kostengünstiger und schneller geworden. Neueste
Studien zeigen, dass die Familienunternehmen, auf die
wir in unserem Land sehr stolz sind, den DAX-Konzernen inzwischen den Rang als Konjunkturmotor abgelaufen haben.
Auch die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht - deswegen habe ich gesagt: „Tue Gutes, und rede
darüber“ -: Wir haben ein Wachstums- und Impulsprogramm aufgelegt und die Lohnzusatzkosten gesenkt. Damit haben wir die zur Verbesserung der konjunkturellen
Entwicklung notwendigen Schritte eingeleitet.
Wir haben es geschafft - das ist wichtig -, dass die
Menschen und die Investoren wieder Vertrauen in den
Standort Deutschland haben. Wir haben all das gemacht,
ohne ein wichtiges Ziel aus den Augen zu verlieren: die
Haushaltskonsolidierung. Dieses Ziel werden wir auch
weiterhin verfolgen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass
wir in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit in Höhe von
1,2 Prozent verzeichnen können, sodass wir das Maastrichtkriterium einhalten werden.
Das beste Beispiel dafür, welch guten Weg wir eingeschlagen haben, ist die gegenwärtige Situation in Berlin.
Es ist zu lesen, dass es der dortige Finanzsenator Sarrazin
sogar für möglich hält, im Jahre 2008 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Das ist eine kleine finanzpolitische Sensation, die nicht von ungefähr kommt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind aber auch
Stimmen zu hören, die sagen: Alles ist wunderbar. Es
sind genug Reformen durchgeführt worden. Jetzt müssen wir nichts mehr tun. - Vor dieser Einstellung warne
ich. Sie ist nämlich höchst gefährlich. Denn wir dürfen
eines nicht vergessen: Nur wer gute Zeiten für Reformen
nutzt, wird auch in Zukunft international wettbewerbsfähig sein und Arbeitsplätze schaffen.
({5})
Wir konnten feststellen, welch großes Potenzial in
Deutschland steckt und welche Kräfte hierzulande freigesetzt werden können. Aber wir haben noch viele Aufgaben vor uns. Wir müssen die Haushaltskonsolidierung
fortsetzen. Wir müssen Teil II der Föderalismusreform
auf den Weg bringen. Wir müssen die Flexibilisierung
des Arbeitsmarktes angehen. Es stimmt, dass ein großer
Teil der neu geschaffenen Arbeitsplätze Zeitarbeitsplätze
sind. Das hängt damit zusammen, dass unser Arbeitsmarkt unflexibel ist. Wir müssen den Wettbewerb stärken. Unser Wirtschaftsminister legt sehr großen Wert
darauf, vor allem den Wettbewerb auf den Energiemärkten zu stärken.
Ich bin zuversichtlich: Wenn wir alle - die Regierung,
die Tarifparteien und die Unternehmen - zusammenarbeiten, klug handeln und die nötigen Reformen durchführen, dann werden wir den Aufschwung nicht nur verstetigen, sondern auch dafür sorgen, dass er sich weiter
fortsetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Jetzt spricht Kornelia Möller für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Große Koalition jubelt. Die Wirtschaft boomt. Die Leute
kaufen wieder. Das ist das gern gesehene öffentliche
Bild. Doch die Realität sieht anders aus.
({0})
Bei den meisten Menschen ist der Aufschwung überhaupt nicht angekommen, schon gar nicht in ihren Brieftaschen. Die Reallöhne sind im Jahre 2004 um
1,1 Prozent gesunken, im Jahre 2005 um 1,5 Prozent und
im Jahre 2006 um 0,7 Prozent. Von einer deutlichen
Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt kann ebenfalls
keine Rede sein.
({1})
Lassen wir, damit diese von den Koalitionsfraktionen
beantragte Aktuelle Stunde nicht zur Vernebelungs- und
Schönrednerveranstaltung verkommt, ein paar Fakten
sprechen.
({2})
Wie sieht die Lage am Arbeitsmarkt wirklich aus?
Erstens. Unbestritten ist, dass die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen ist. Aber es sind nicht überall
gleichzeitig sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
entstanden.
({3})
Der viel beschworene Aufschwung am Arbeitsmarkt ist
vor allem ein weiterer Aufschwung prekärer Beschäftigungsverhältnisse.
({4})
Bereits zu Beginn dieses Jahres waren 30 Prozent aller
Beschäftigungsverhältnisse sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse. Auch der Bundestag zahlt Hungerlöhne. Die Gebäudereiniger arbeiten hier zu Löhnen
unterhalb des gerade beschlossenen Mindestlohns für Gebäudereiniger. Das gilt ebenso für die Fensterputzer.
Vorwürfe gab es auch beim Wachdienst, schreibt
heute der „Berliner Kurier“ unter der Überschrift:
Die Lohn-Sklaven vom Bundestag.
Von Herrn Müntefering höre ich dazu: Ja, da gibt es
ein anderes Mittel, das heißt Mindestlohn, darüber werden wir aber an anderer Stelle reden. Dazu sage ich: Es
wäre sinnvoll, wenn wir endlich einmal darüber reden
und nicht so wie Ende April hier im Parlament das
Ganze verschieben würden, statt sofort abzustimmen,
und auch nicht so wie gestern im Ausschuss unseren Antrag qua Mehrheit ablehnen würden. Das Thema wäre
wirklich dran.
({5})
Zweitens. Die Misere auf dem Ausbildungsstellenmarkt hat sich trotz Wirtschaftsaufschwungs nicht geändert. Die Zahl der betrieblich gemeldeten Ausbildungsplätze ging gegenüber dem Vorjahr sogar um 3,1 Prozent
zurück. Auf einen einzigen Ausbildungsplatz kommen
derzeit durchschnittlich vier Bewerberinnen und Bewerber. In Ostdeutschland sind es sogar 13. Hartz-IV-Karrieren sind damit vorprogrammiert.
Drittens. Trotz wirtschaftlicher Belebung ist das Arbeitsvolumen annähernd konstant geblieben. Der bisherige Konjunkturaufschwung brachte also kaum mehr
Arbeit. Dass die offiziellen Erwerbslosenzahlen trotzdem zurückgingen, liegt vielleicht auch an jeder Menge
statistischer Ungereimtheiten. Nachdem der Arbeitsminister die Arbeitsmarktzahlen am 1. Mai stolz selbst
verkündete, rechnete ihm und uns die Stiftung Marktwirtschaft vor, welche Menschengruppen bei seinem
Zahlenspiel nicht berücksichtigt wurden: rund 300 000
Menschen in Ein-Euro-Jobs, 206 000 Menschen in Weiterbildungsmaßnahmen, 332 000 Menschen, die Fördermittel für Eingliederungsmaßnahmen sowie Existenzgründerzuschüsse erhalten, 485 000 Vorruheständler. Zu
diesen circa 1,4 Millionen kommen weitere 800 000
Menschen, die sogenannte stille Reserve. Real fehlen
also weit über 6 Millionen Arbeitsplätze.
Viertens. Dass der Arbeitsmarkt trotz Gesundbeterei
nicht gesund ist, zeigt sich am Zustand der beruflichen
Weiterbildung und Qualifizierung. Nicht nur die Zahl offener Stellen ist gewachsen - wie Sie ja selber angemerkt haben -, gerade weil geeignete Fachkräfte fehlen,
sondern auch das erschreckend hohe Niveau der Langzeitarbeitslosigkeit ist skandalös. Die hier seit 2002 vorhandenen Defizite haben zwar in erster Linie die Damen
und Herren von der Sozialdemokratie zusammen mit den
Grünen zu verantworten. Allerdings haben sie die HartzGesetze natürlich mit dem Segen von CDU/CSU und
FDP beschlossen.
({6})
Aber auch die Große Koalition hat bisher nichts getan, um diese Situation positiv zu verändern. Um die
Langzeiterwerbslosen macht nämlich nicht nur die Konjunktur einen Bogen; auch die Regierung und die hofberichterstattenden Medien tun das.
Fünftens. Dank Hartz I bis Hartz IV nehmen wir bei
der Langzeiterwerbslosenquote einen Spitzenplatz in
Europa ein. Das hat natürlich seine Gründe. Einen haben
Sie gerade angesprochen, als Sie den Fachkräftemangel
beklagt haben. Aber wenn man zeitgleich die Förderung
der beruflichen Weiterbildung herunterfährt und Weiterbildungsträger kaputtmacht, muss man sich nicht wundern, wenn man irgendwann einen Fachkräftemangel
hat.
({7})
Andere Gründe sind die einseitige betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Bundesagentur, die verstärkte
Privatisierung von Vermittlungsaufgaben, der Aussteuerungsbetrag und die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Dort, wo Sie als Große Koalition schon
längst etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit hätten tun
können, haben Sie bis jetzt versagt. Das betrifft besonders die Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung. Da haben Sie gestern nach neun Monaten - so
lange liegen unsere Anträge mittlerweile im Parlament endlich etwas beschlossen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, überspringe eine ganze
Menge, und sage Ihnen nur eines: Arbeitslosigkeit zerstört Selbstbewusstsein und Kreativität. Und sie macht
krank. Ich verzichte heute auf Ihren Lieblingssatz, zitiere
einfach nur Viviane Forrester. Die bringt es nämlich auf
den Punkt, wenn sie schreibt, Arbeitslosigkeit sei die
Brutalität der Ruhe. Also tun Sie jetzt endlich was!
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt hat Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Müntefering hat die beeindruckenden
Zahlen zum Wirtschaftswachstum und zur erfreulichen
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vorgetragen. Ich
finde, es lohnt sich, im Bundestag über die Ursachen für
diese Entwicklung zu sprechen. Schlau ist man, wenn
man dabei als Erstes nicht sich selbst, sondern andere
lobt. Deshalb will ich das aufgreifen, was einige schon
gesagt haben.
Eine erste Ursache für die gute Entwicklung liegt bei
den Unternehmen in unserem Land selbst. Sie haben
sich nämlich wettbewerbsfähig gemacht, indem sie selber Strukturen geschaffen haben, mit deren Hilfe sie im
internationalen Wettbewerb gut bestehen können. Die
Familienunternehmen waren dabei besonders gut; das
sieht man daran, dass sie im Durchschnitt mehr Personen
eingestellt haben als die DAX-Unternehmen.
({0})
Deswegen sagen wir als Sozialdemokraten ganz deutlich: Es bewährt sich eben, wenn Unternehmen ihre Beschäftigten noch im Auge haben. Es bewährt sich, wenn
sie die Familien der Beschäftigten, den regionalen
Standort und den Standort Deutschland im Auge haben.
Wer das tut, hat mittel- und langfristig im Wirtschaftsleben Erfolg.
({1})
Als Zweites sind die Gewerkschaften zu nennen. Es
ist wahr: Durch acht bis zehn Jahre Lohnzurückhaltung
haben wir inzwischen die niedrigsten Lohnstückkosten
aller vergleichbaren Länder in Europa. Damit sind wir
wettbewerbsfähig. Deswegen darf man auch mit Fug
und Recht hinzufügen: Wenn es jetzt mit der wirtschaftlichen Entwicklung aufwärts geht, dann ist der Zeitpunkt
gekommen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder an dem partizipieren, was in unserem Land
erwirtschaftet wird. Auch das muss im Auge behalten
werden.
({2})
Eine Frage ist: Hat auch die Politik etwas mit der Entwicklung zu tun? Herr Brüderle und Teile der Wirtschaft
sagen, die Politik habe damit gar nichts zu tun. Für mich
stellt es schon intellektuell ein Problem dar, nachzuvollziehen, wenn man mir in den Zeiten, in denen die Wirtschaft in Deutschland schlecht läuft, sagt, die einzige Ursache dafür sei die bescheidene Politik, die jetzt in
Berlin oder damals in Bonn gemacht wurde, aber jetzt,
wo die Wirtschaft gut läuft, sagt, dafür kann nur einer
die Verantwortung tragen, nämlich nicht die Politik, sondern die Wirtschaft. Eine solche Argumentation zeugt
also zum einen von intellektuell begrenztem Niveau. Ich
halte sie aber zum anderen auch politisch für gefährlich.
({3})
Wir sagen damit doch den Bürgerinnen und Bürgern
durch die Blume,
({4})
ob wir gute oder schlechte Politik im Bundestag machen,
ist völlig unerheblich für die wirtschaftliche Entwicklung. Dann könnte man ja auch ganz davon absehen,
politisch tätig zu werden. Das wäre ein Angriff auf die
demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Den
wehre ich ab und halte dagegen: Jawohl, Politik hat etwas mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung zu tun.
({5})
Was sind also die politischen Ursachen für diese Entwicklung? Ich möchte dabei, ohne vordergründig parteipolitisch zu denken, auf Folgendes hinweisen: Spätestens seit Mitte der 80er-Jahre sind uns doch drei
Grundprobleme unserer Gesellschaft bekannt: die Globalisierung mit ihren großen Auswirkungen auf die
Wirtschaft, aber auch auf die soziale Dimension unserer
Marktwirtschaft, die demografische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme
und die technologische Entwicklung, die beispielsweise
Auswirkungen auf das Qualifikationsniveau von Beschäftigten hat. Die Wahrheit ist: Wir alle, von der FDP
über die Union und die Grünen bis zur SPD, müssen uns
vorhalten lassen, dass wir es in den 90er-Jahren - wir in
der Opposition, Sie an der Regierung - im Grunde versäumt haben, durch grundlegende Reformen auf diese
drei großen Herausforderungen unserer Gesellschaft einzugehen.
({6})
Das Ende vom Lied war: Seit 1993 - egal, ob Sie oder,
wie ab 1998, wir regiert haben - stand Deutschland immer auf dem letzten oder vorletzten Platz bei der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. dem Wirtschaftswachstum der EU-Länder.
({7})
Dann hat es - auch das bitte ich jetzt nicht nur parteipolitisch motiviert zu verstehen - eine Bundesregierung
gegeben, die zum ersten Mal bewusst gesagt hat: Wir
wissen, dass ein Weiter-so unserem Land nicht mehr helDr. Rainer Wend
fen kann und grundlegende Reformen eingeleitet werden
müssen, damit soziale Sicherungssysteme in unserem
Land eine Zukunft haben und die wirtschaftliche Prosperität gewährleistet werden kann. Die damalige Bundesregierung hat dank der politischen Kräfteverhältnisse
- im Bundesrat wurde das ja teilweise auch von den anderen Parteien unterstützt - entsprechende Maßnahmen
durchgesetzt. Ich erinnere nur einmal an die erste Steuersenkung, bei der die Körperschaftsteuer von 45 auf
25 Prozent und der Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer um gut 10 Prozent gesenkt wurden, an die
Verkürzung des Bezugszeitraums für das Arbeitslosengeld, an die 4 Milliarden Euro für Ganztagsbetreuung
- das hat es in der letzten Legislaturperiode schon einmal gegeben, meine Damen und Herren -, an die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, an das
Prinzip Fordern und Fördern von Arbeitslosen. Das war
ein Gesamtpaket, das aus der politischen Erkenntnis,
dass wir Reformen brauchen, um die Zukunft unserer
Gesellschaft zu sichern, angestoßen wurde.
Die Große Koalition hat jetzt die Aufgabe, die Umsetzung dieser Erkenntnis fortzusetzen. Damit begonnen
hat sie mit dem Regierungsprogramm zur Verbesserung
von Abschreibungsmöglichkeiten bei der Gebäudesanierung. Dadurch wurden mehr Aufträge vergeben. Auch
die Rente mit 67, die vor uns liegende Unternehmensteuerreform und die Haushaltskonsolidierung gehören dazu.
Was wäre es für ein Erfolg, wenn am Ende dieser Legislaturperiode das erste Mal seit 40 Jahren der Staat wieder feststellen kann, dass er nicht mehr Geld ausgibt, als
er einnimmt, und einen ausgeglichenen Haushalt
schafft? Diese Botschaft wäre für die wirtschaftliche
Entwicklung unseres Landes großartig.
Die Große Koalition steht in den nächsten Jahren vor
diesen Aufgaben. Sie darf und wird sich nicht in kleinteiligem politischem Streit verzetteln,
({8})
sondern sich der großen Aufgabe der Kontinuität der Reformpolitik stellen.
({9})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seien Sie gegrüßt zu dieser Feierstunde der Regierung.
({0})
Es ist schon so: Der Aufschwung ist solide, und ich
hoffe, dass er solide bleibt. Wir können zu Recht feststellen - Herr Wend hat darauf hingewiesen -, dass das sehr
viel mit der Vergangenheit zu tun hat: mit der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
mit der mühsamen Strukturreform in den Unternehmen
selbst und mit sehr mühsamen Strukturreformen im Zusammenhang mit der Agenda 2010 - das heißt auch mit
dem, was die rot-grüne Regierung gemacht hat. Frau
Wöhrl, ich erwähne das an dieser Stelle, weil Sie immer
sagen, man müsse auch feiern, wenn man Gutes geleistet
habe.
Aber, meine Damen und Herren, Ihre Reaktion, sich
sozusagen aufs Sonnendeck zu setzen und dort vor sich
hinzudösen,
({1})
statt gemeinsam in den Maschinenraum zu gehen und
aus dieser Situation etwas zu machen, ist nicht die richtige. Denn es geht im Kern nicht darum, wem dieser
Aufschwung zu verdanken ist, sondern darum, wer davon profitiert und wer nicht und was wir für die Zukunft
daraus machen. Das sind die zentralen Fragen, auf die
ich ein wenig eingehen möchte.
Wer profitiert vom Aufschwung? Die Unternehmen;
das ist auch gut so. Aber was machen Sie daraus? Sie beschließen - dazu hätte ich gerne etwas gehört, Herr
Wend - eine Unternehmensteuerreform, durch die die
großen Konzerne um etwa 10 Milliarden Euro entlastet
werden sollen, und das in der Phase eines konjunkturellen Aufschwungs, von dem sie ohnehin profitieren. Aber
nicht nur das: Diese Steuerreform wird zulasten der mittelständischen und kleinen Unternehmen gestaltet. Herr
Müntefering, Sie feiern hier den Arbeitsmarkt; aber wir
wissen, dass eine zukünftige positive Beschäftigungsentwicklung in Deutschland zum großen Teil nur von den
kleinen und mittleren Unternehmen ausgehen kann.
({2})
Genau diese werden Sie aber belasten.
({3})
Das, meine Damen und Herren, ist die falsche Entscheidung.
Herr Wend, Sie fordern eine Haushaltskonsolidierung
ein. Richtig so! Wann, wenn nicht jetzt? Im konjunkturellen Aufschwung müsste das möglich sein. Aber Sie
machen das Gegenteil. Die Unternehmensteuerreform ist
ein Beispiel dafür; aber es ist noch viel mehr in der Ausgaben-Wundertüte, wie wir in den letzten Tagen in der
Zeitung lesen konnten. Sie machen keine ambitionierte
Haushaltspolitik, die die zukünftigen Generationen entlasten würde.
({4})
Wer profitiert noch vom Aufschwung? Ich hoffe, dass
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute Beschäftigung haben, über die Tarifverhandlungen davon
profitieren werden, weil ihnen in der Vergangenheit zugesetzt worden ist. Die bereits abgeschlossenen Tarifverträge weisen darauf hin, dass sie profitieren werden. Ich
glaube aber auch - das sage ich in Richtung der Tarifparteien -: Jetzt ist der Zeitpunkt, in den Tarifverhandlungen den positiven Faden der Vergangenheit wieder
aufzunehmen und in den Tarifverträgen mehr Qualifizierung und lebenslanges Lernen in den Betrieben vorzusehen. Auch in Bezug auf mehr Gewinnbeteiligung in den
Unternehmen muss man jetzt den Worten Taten folgen
lassen.
({5})
Das war die Seite, die von dem Aufschwung profitiert. Es gibt andere, an denen dieser Aufschwung vorbeigeht, und zwar diejenigen - Herr Müntefering hat
darauf hingewiesen - im Niedriglohnbereich. Ungefähr
eine halbe Million Menschen bekommt trotz Vollzeitarbeit zusätzlich Arbeitslosengeld II, und die Zahl ist gestiegen.
Jetzt ist der Zeitpunkt, um über einen Mindestlohn zu
reden, und nicht, wie Herr Müntefering es will, irgendwann. Jetzt ist der Zeitpunkt, weil wir hier im Hause
eine Mehrheit dafür haben. Wir Grüne haben dazu übrigens einen Antrag vorgelegt. Es ist auch aus konjunktureller Sicht der richtige Zeitpunkt. Wenn man nach England schaut, sieht man, dass so etwas am Anfang einer
positiven konjunkturellen Entwicklung ökonomisch gut
eingefädelt werden kann.
Deshalb, finde ich, ist es ein Armutszeugnis für die
SPD, darauf hinzuweisen, dass die Wahl in Bremen eine
Testwahl für den Mindestlohn sei. Nein, die Bremerinnen und Bremer haben damit nichts zu tun. Wir unterstützen Sie gern hier im Bundestag bei diesem Projekt.
Voran damit! Das ist die Zeit dafür!
({6})
Ich möchte auch noch kurz etwas zu den Langzeitarbeitslosen sagen. Die Zahl der Langzeitarbeitlosen sinkt
langsamer als die Zahl der anderen Arbeitslosen. An ihnen geht der Aufschwung vorbei. Wir sehen nicht, dass
im Bereich der Qualifizierung etwas getan wird. Wir sehen nicht, dass die Regierung zum Beispiel im Niedriglohnbereich die Lohnnebenkosten konzentriert absenkt,
um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte zu schaffen. Wir haben mit dem Progressivmodell ja einen Vorschlag gemacht.
Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, was mir
in dieser doch so positiven Situation, die Chancen für
eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in
Deutschland liefert, am meisten Sorgen macht. Sorgen
macht mir, dass unser Wirtschaftsminister nicht sieht,
dass aus dem Klimabericht deutlich wird, dass wir nur
ein kleines Zeitfenster für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik haben, die einen Transformationsprozess in der
Wirtschaft auf den Weg bringen muss. Sorgen macht mir
Frau Kollegin!
- und damit komme ich zum Schluss -, dass wir am
Anfang einer konjunkturellen Aufschwungphase nichts
für eine ernsthafte Umsteuerung tun, sondern in Europa
im Bremserhäuschen sitzen. Unser Wirtschaftsminister
tut das gerade in Bezug auf den Klimaschutz.
Frau Kollegin!
Das wird der Wirtschaft und den Beschäftigten in diesem Land in Zukunft schaden. Sie vertun Ihre Chancen!
Schade!
({0})
Jetzt spricht der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, bei Ihnen habe ich irgendwie immer den Eindruck, dass Sie eine Rede im PC haben, bei der vor jedem Auftritt hier eine Zufallsvariable eingegeben wird,
die die Sätze ein bisschen neu mixt. Dann kommt wieder
dasselbe, was Sie beim letzten Mal gesagt haben - nur in
ein bisschen veränderter Reihenfolge -, heraus.
({0})
Ich finde, Sie sollten in den Redetexten wirklich ein bisschen nachrüsten.
Zu den Linken möchte ich vorweg noch einen Satz
sagen: Sie haben nur zum Besten gegeben, dass die
Wahrheit stört und dass Sie sich noch nicht einmal mit
den 500 000 Menschen freuen können, die innerhalb eines Jahres einen neuen sozialversicherungspflichtigen
Job erhalten haben, und mit den Hunderttausenden, die
nicht mehr arbeitslos sind.
({1})
Was Ihre Beispiele betrifft, müssten Sie nur einmal
die Protokolle des Bundestages der letzten Monate nachprüfen. Sie führen die Situation der Gebäudereiniger als
besonderen Missstand an. Die Gebäudereiniger haben
wir gemeinsam in das Entsendegesetz aufgenommen.
Solche Grundkenntnisse sollten vorhanden sein.
({2})
- Dass Sie dabei nervös werden, kann ich mir vorstellen.
({3})
In diesem Zusammenhang ist auch der Mindestlohn
gerade noch einmal angesprochen worden, auch von Ihnen, Frau Dückert. Die Gutachten der letzten Tage, die
sich damit beschäftigen, sollten uns doch vor Augen halten, worauf es eigentlich ankommt. Uns kommt es darauf an, dass die Menschen ein ausreichend hohes EinLaurenz Meyer ({4})
kommen haben, um davon leben zu können. Wenn die
Folge eines flächendeckenden Mindestlohnes ist, dass
man zwar - so sagen es die Gutachten - vielen Menschen hilft, weil sie mehr verdienen und deshalb weniger
auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, dies aber
gleichzeitig Hunderttausende den Job kostet, dann sage
ich: Lasst uns nach Möglichkeiten suchen, die nicht solche Kollateralschäden nach sich ziehen wie ein flächendeckender Mindestlohn.
({5})
Aus unserer Sicht gibt es bisher keine Alternative zu
dem, was wir das Mindesteinkommen nennen. Wir müssen uns auch mit den „Aufstockern“ beschäftigen, dem
harten Kern der Arbeitslosen. Das sind die weniger Qualifizierten, bei denen sich noch zu wenig getan hat.
Die Binnenkonjunktur springt jetzt an. Sie springt
nicht deswegen an, weil die Menschen am wirtschaftlichen Aufschwung über höhere Löhne beteiligt werden;
das kommt ja erst noch. Die Binnenkonjunktur springt
vielmehr an, weil das Angstsparen abgenommen hat. Immer weniger Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Diese hatten bisher jeden Euro auf die Seite gelegt
- das ist doch völlig natürlich -, weil sie nicht wussten,
was auf sie zukommt. Die zusätzliche Sicherheit, hervorgerufen durch die positive Arbeitsmarktentwicklung und
durch die Wachstumsraten, lässt erstmalig seit langer
Zeit bei uns die Binnenkonjunktur anspringen. Deshalb
sind Aktuelle Stunden über dieses Thema so wichtig.
Damit verbreiten wir eine Aufbruchstimmung in ganz
Deutschland.
({6})
Der Kollege Wend hat in seiner Rede - in vielen
Punkten stimme ich mit ihm überein - Reformen angesprochen, die zu einem großen Teil von uns gemeinsam
beschlossen worden sind. Deswegen sollten wir uns gegenseitig keine Noten geben. Herr Müntefering hat darauf hingewiesen, dass bei uns die Beschäftigungsschwelle von über 2 Prozent auf 1 bis 1,5 Prozent gesunken ist.
Ein Punkt kam in der Rede des Kollegen Wend nicht
vor, dem ich aber eine sehr große Bedeutung zumesse:
Nicht nur die Bedingungen für die Unterstützung - ich
nenne das Arbeitslosengeld II und die Hartz-IV-Gesetze wurden neu geregelt, sondern auch die Bedingungen für
die Zeitarbeit. Diese geänderten Rahmenbedingungen
für die Zeitarbeit haben zu mehr Flexibilität im Markt
geführt.
Es zeigt sich doch - lasst uns darüber ohne Schaum
vor dem Mund reden! -, dass mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt für die Menschen positive Auswirkungen hat.
Dass über die Hälfte der Arbeitsplatzzuwächse im Bereich der Zeitarbeit erfolgt, ist doch ein Zeichen dafür,
dass die Unternehmen angesichts eines stark reglementierten Arbeitsmarktes die beiden einzigen ihnen zur
Verfügung stehenden Ventile, nämlich Zeitarbeit und
Minijobs, nutzen.
({7})
Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie man
Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt, die sich auf Neueinstellungen positiv auswirken, sozialverträglich durchführen kann.
({8})
Die Bevölkerung ist bereit für Veränderungen; denn sie
sieht, dass Reformen etwas bringen.
({9})
Ich will noch auf Folgendes hinweisen: 900 000 offene Stellen sind eine Aufforderung an uns, schnell zu
handeln. Dazu gehören auch Maßnahmen im Ausbildungsbereich, die Sie, Herr Müntefering, angesprochen
haben. Es will mir nicht in den Kopf, dass sich einige
von Ihnen - gegen ihre eigenen vernünftigen Einsichten dagegen wehren, jungen Leuten unter 18 Jahren zu gestatten, bis 23 Uhr im Gaststättenbereich im Rahmen einer Lehre zu arbeiten. Diese jungen Leute warten dann,
bis die 18-Jährigen mit ihrer Arbeit fertig sind, um danach gemeinsam in die Disco zu gehen. Hier könnten
2 000 zusätzliche Ausbildungsplätze auf einen Schlag
entstehen. Warum kann man solche kleinen Dinge nicht
sofort regeln?
Wir brauchen mehr Flexibilität. Der Arbeitsminister
braucht Mut für weitere Veränderungen. Die Bevölkerung hat verstanden. Sie hat erkannt, dass Veränderungen auch etwas für den Einzelnen bringen. Deshalb müssen wir hier weitermachen.
({10})
Es spricht nun Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brüderle, wir als Rheinland-Pfälzer müssen das
Freuen doch nicht lernen. Wir können es doch am besten.
Die Opposition hat es immer schwer. Wenn es dann
aber noch gut läuft, wird es wirklich hart.
({0})
Herr Brüderle, Ihnen ist es wohl nicht möglich,
anzuerkennen, dass es in diesem Land 20 Prozent zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt,
({1})
seitdem diese Große Koalition regiert. Wir werden es in
dieser Legislaturperiode schaffen, die Neuverschuldung
gegen null zu führen. Die Zahl der Arbeitslosen wird unter 4 Millionen bleiben. Wenn das kein Grund zum
Freuen ist, dann lade ich Sie, Herr Brüderle, in die Eifel
ein: Dann üben wir das einmal.
({2})
Jetzt wird oft gefragt: Wer ist denn verantwortlich dafür, dass wir uns freuen dürfen? Es ist tatsächlich so,
dass wir das größte Investitionswachstum seit der Wiedervereinigung haben. Insbesondere im Gewerbebau, in
der Industrie und in den unternehmensbezogenen
Dienstleistungsbereichen ist das die Marke, die sich
auch auf die Beschäftigung auswirkt. In allen Bundesländern und in allen Branchen gibt es mehr Beschäftigung. Wesentlich mehr Beschäftigung gibt es in Ostdeutschland, insbesondere in Brandenburg und Sachsen.
Das sind die Früchte von zwei großen Entscheidungen: Das ist zum Ersten die Frucht der Strukturreformen,
die unter Rot-Grün richtigerweise eingeleitet wurden.
Das ist zum Zweiten die Frucht eines Impulsprogramms,
das wir am Anfang dieser Legislaturperiode initiiert haben. Wir haben gesagt: Wir müssen erst einmal einen
Schub geben, damit es tatsächlich ein selbsttragendes
Wachstum gibt. Wir haben die degressive AfA verbessert. Wir haben ein Programm zur energetischen Gebäudesanierung aufgelegt, das gerade in der Bauwirtschaft
entsprechend gewirkt hat. Genau an dieser Stelle haben
wir, anknüpfend an die Strukturreformen von Rot-Grün,
zu Anfang dieser Legislaturperiode in der Großen Koalition die richtigen Weichen gestellt. Das darf man doch
selbstbewusst hier sagen. Warum sollte man das verschweigen? Das ist die Wahrheit.
({3})
Insoweit sage ich ehrlich Dank denjenigen - auch da
sollte man einmal mit einigen Vorurteilen aufräumen -,
die das zuwege gebracht haben. Wir haben mit unserer
Gesetzgebung zu Hartz IV erhebliche Stolpersteine für
die Leute vor Ort, in den BAs, in den Argen, den Optionskommunen usw., produziert. Diese Stolpersteine,
zum Beispiel was das Softwareprogramm anging, haben
diese Menschen mit Überstunden und mehr gemeistert.
Wir können jetzt wirklich sagen, dass es im letzten
Jahr im Bereich des SGB III 25 Prozent weniger Arbeitslosigkeit und - das erscheint mir noch wichtiger - im Bereich des SGB II 12 Prozent weniger Arbeitslosigkeit
gab. Das liegt auch an der professionelleren und effizienteren Vermittlung, die wir durch unsere Reformen eingeleitet haben.
({4})
Auch dazu von meiner Seite danke schön!
Den Aufschwung muss es für alle geben. Bei all der
Freude vor allem derjenigen aus dem Bereich des
SGB III, die gut vermittelt wurden, muss man auch an
diejenigen denken, die in einer solchen Aufschwungphase aufgrund verschiedenster Vermittlungshemmnisse
zurückbleiben. Aber auch hier, liebe Kollegen, ist die
Große Koalition nicht tatenlos. Im Gegenteil: Wir haben
für die Jungen - Franz Müntefering hat es gerade ausgeführt - ein spezielles Förderprogramm in Form einer
Kombination aus Qualifizierung und Kombilohn aufgelegt. Dies werden wir jetzt anpacken, um gerade diejenigen, die keine Berufsausbildung haben, in dieser guten
Situation in den ersten Arbeitsmarkt hineinzubekommen.
Wir legen zudem ein Programm für 100 000 Langzeitarbeitslose auf. Denn wir wissen: Nicht alle schaffen
es, durch bloße Aktivierung auf den ersten Arbeitsmarkt
zu gelangen. Wir nehmen dies ernst. Wir schaffen deswegen einen geförderten Arbeitsmarkt in Deutschland,
der den Betroffenen auch wirklich eine Brücke baut.
Herr Brüderle, Zeitarbeit ist doch kein Problem. Zeitarbeit an sich ist keine prekäre Arbeit. Wenn es in der
Zeitarbeit einen Mindestlohn gibt - im Tarif ist dies
schon vorgesehen; die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer wollen dies -, dann ist Zeitarbeit für mich, soweit es
in diesem Bereich vernünftig läuft - die Branche hat in
den letzten Jahren Gutes geleistet -, keine prekäre, sondern eine sinnvolle Arbeit. Sie sollte aber bitte mit Mindestlöhnen und sozialen Standards einhergehen, und es
sollte kein Wildwuchs und keine Schmutzkonkurrenz
untereinander bestehen, wie das jetzt noch der Fall ist.
({5})
Deswegen klipp und klar unsere Aussage: Die Einführung eines Mindestlohns wird diesen Aufschwung
nicht blockieren. Sie wird auch keine Arbeitsplätze kosten, Herr Meyer. Das ist Propaganda; dafür gibt es gute
Gegenbeispiele. Ein Mindestlohn kann den Aufschwung, den wir jetzt haben, so gestalten, dass alle davon profitieren.
({6})
Das ist das erklärte Ziel der Sozialdemokratie und, wie
ich hoffe, auch der Großen Koalition. Die CDU/CSU
wirft ihr Herz über die Hürde; da bin ich mir ganz sicher.
Am Montag werden wir nämlich über Mindestlöhne reden. Dann werden Sie Ihr Herz über die Hürde werfen.
Ich würde mich freuen.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt spricht der Kollege Franz Obermeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In einer
sozialen Marktwirtschaft ist ein wirtschaftlicher Aufschwung immer das Produkt der Arbeitnehmer, der Unternehmer und auch der Politik. Ich möchte diese Aktuelle Stunde dazu nutzen, das Thema von einer etwas
anderen Seite zu beleuchten: Welche schwierigen Aufgaben liegen vor uns? Wir stehen tatsächlich vor schwierigen Aufgaben. Wir sollten die Zeit und die Ereignisse,
die wir jetzt feiern, nutzen, um folgende Fragen zu beantworten: Wie ist ein solcher Aufschwung in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu gestalten? Wie
können wir seitens der Politik die Rahmenbedingungen
so setzen, dass sich die Phase des Aufschwungs, des
wirtschaftlichen Wachstums so entwickelt, dass wir
möglichst viele Jahre von einem gesunden wirtschaftlichen Wachstum ausgehen können?
Das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland
steht auf zwei Füßen - die Frau Staatssekretärin hat es
schon betont -: Zum einen ist es die Binnennachfrage,
zum anderen ist es das Auslandsgeschäft. Bei der Binnennachfrage müssen wir klar erkennen, dass nicht die
Stärkung der Massenkaufkraft an sich die Ursache ist.
Die Ursache ist nach meinen Erkenntnissen vielmehr,
dass weite Teile unserer Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Geschehnisse in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt wieder mehr Vertrauen in ihre eigene wirtschaftliche Situation setzen.
Durch diese mentale Einstellung sitzt das Geld wieder
etwas lockerer. Bei der Exportwirtschaft müssen wir klar
sehen, dass man im Ausland erkannt hat, dass deutsche
Produkte nicht nur teurer, sondern in weiten Bereichen
auch qualitativ besser und damit ihr Geld wert sind.
Um die Frage der Nachhaltigkeit weiter zu beantworten, komme ich auf Herrn Brüderle zu sprechen.
({0})
Herr Brüderle, es ist ja ganz toll, was Sie Mal für Mal
verkünden.
({1})
Ich sage Ihnen eines: Wenn es noch einen Fanatiker für
Steuersenkungen in diesem Haus gibt, dann bin ich es.
({2})
Aber ist es in einer Situation, in der wir bei einem Bundeshaushaltsvolumen in Höhe von 260 Milliarden Euro
rund 40 Milliarden Euro allein für Zinsen ausgeben, zu
verantworten, den Menschen zu suggerieren, wir wären
in der Lage, die Steuern nennenswert zu senken? Ist das
wirklich seriös?
({3})
Ich bin in dieser Frage ganz bestimmt nicht nur ein
Haushälter oder Buchhalter, sondern wirklich auch ein
Kaufmann. Aber die Nettoneuverschuldung zum jetzigen Zeitpunkt wieder anzuheben, indem man bei den
Einnahmen kürzt, ist für meine Begriffe unredlich. Das
muss man der Bevölkerung sagen.
({4})
Es ist ganz sicher nicht mit dem zu vereinbaren, was wir
der Bevölkerung mitteilen wollen: dass sie Vertrauen in
diese Politik setzen soll. Wenn wir solche Sprüche loslassen, dann trifft auch - das ist Ihr Spruch, Herr
Brüderle - zu:
({5})
Er liegt in der Sonne und denkt nicht.
Wir haben noch eine ganze Reihe von Aufgaben vor
uns. Das ist wahr. Die Pflegeversicherung bedarf einer
vernünftigen Lösung. Der Haushalt ist Jahr für Jahr ein
schwieriges Thema. Wir werden auch das Erbschaftsteuerrecht auf eine vernünftige Schiene setzen.
({6})
- Ja, was immer das heißt. - Heute ist so viel Positives
über die deutschen Familienunternehmen gesagt worden. Durch die Erbschaftsteuerreform werden wir insbesondere die deutschen Familienunternehmen entlasten.
({7})
Wir werden keine Steuersenkung, sondern eine Erbschaftsteuerbefreiung vornehmen.
({8})
Sie müssten eigentlich mitfeiern, wenn wir solche Dinge
machen.
({9})
Wir haben noch viel vor, um den Aufschwung nachhaltig zu gestalten. Wir haben auch die Risiken im Auge
- die dürfen wir nämlich nicht übersehen -, zum Beispiel die Entwicklung der US-Konjunktur und den anhaltenden Aufwertungsdruck auf den Euro. Auch der
Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise ist gefährlich.
Ferner müssen wir mit den Risiken, die zu hohe Lohnabschlüsse oder zu lange Arbeitskämpfe mit sich bringen,
leben. Wir müssen sie immer im Auge haben. Ich meine
aber: Deutschland hat eine gute Perspektive. Deutschland hat eine gute Regierung. Wir werden den Aufschwung nachhaltig gestalten.
Herzlichen Dank.
({10})
Jetzt spricht Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Können Sie sich noch an den 23. Mai 2005 erinnern, den Tag der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen? Das war der Tag, an dem Gerhard Schröder im
Kampf um die Fortsetzung sozialdemokratischer Reformpolitik vorgezogene Neuwahlen forderte. Können
Sie sich erinnern, was Sie damals über Konjunktur und
Arbeitsmarkt dachten?
Und heute? Die Wirtschaft brummt. Das Wirtschaftswachstum lag 2006 bei 2,7 Prozent. Die Lohnnebenkosten liegen bei 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit sinkt unter
4 Millionen, und wir haben 650 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr. Die Renten steigen wieder.
Wenn alle Gewerkschaften ähnliche Tarifverträge wie
die IG Metall in Baden-Württemberg abschließen, können wir die Renten wieder deutlicher erhöhen.
({0})
Die Nettoneuverschuldung liegt bei unter 20 Milliarden
Euro und ist damit die niedrigste seit der Wiedervereinigung. Die Defizitkriterien der Europäischen Union werden eingehalten.
Können Sie sich daran erinnern, mit welchen Umfragewerten die SPD in den kurzen, aber harten Wahlkampf
startete, welche Argumente uns Sozialdemokraten am
Infostand begegnet sind?
({1})
Wisst ihr noch, wie schwer es war, die Entscheidungen
trotz schlechter Umfragewerte durchzuhalten? Wir haben durchgehalten, gemeinsam mit den Grünen; die wurden dafür aber ein bisschen weniger kritisiert. Der jetzige Aufschwung, die sinkenden Arbeitslosenzahlen und
die verbesserte Haushaltssituation sind Früchte der rotgrünen Regierung und der Kontinuität in der Großen Koalition.
({2})
Mutige Handlungen wie die Reformen am Arbeitsmarkt, das 3-Prozent-Investitionsziel im Bereich Forschung und Bildung, das Ganztagsschulprogramm, die
Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, unsere Steuerreform, die kleine Einkommen, Familien und mittelständische Unternehmen entlastet hat - diejenigen, die Arbeitsplätze in Deutschland schaffen -, und nicht zuletzt
der Atomausstieg,
({3})
der mit der Förderung regenerativer Energien gekoppelt
wurde - das sind nur einige der Maßnahmen, die zum
jetzigen Aufschwung beigetragen haben und von der vorangegangenen Regierung veranlasst wurden.
Wir führen diese Arbeit kontinuierlich fort: Das Elterngeld, die steuerliche Begünstigung privater Sanierungen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die
Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes und die Förderung des Ehrenamtes sind nur einige Beispiele für die
Kontinuität in der heutigen Koalition.
({4})
Bei der Debatte um den Mindestlohn steht die SPD
felsenfest.
({5})
Wir wollen tarifliche Vereinbarungen. Dort, wo das nicht
geht, wollen wir eine gesetzliche Lösung.
({6})
Wir wollen keine Armutslöhne, die vom Staat und damit
von den Steuerzahlern, also jedem Einzelnen von uns,
bezahlt werden. Für die Lohnzahlung sind in Deutschland die Unternehmen verantwortlich. Wir Sozialdemokraten sind übrigens diejenigen gewesen, die über das
Entsendegesetz Mindestlöhne für das Baugewerbe gesichert haben. Erst jüngst haben wir mit den Stimmen der
Koalition das Gebäudereinigerhandwerk, in dem
850 000 Menschen arbeiten, in dieses Gesetz aufgenommen.
({7})
Aber auch für die, die vom Aufschwung noch nicht
erreicht werden, bleiben wir nicht still, nicht nur beim
Thema Mindestlohn. Wir wollen Jobperspektiven für
Langzeitarbeitslose. Diejenigen, die arbeiten wollen,
sollen das dort tun, wo Arbeit heute brachliegt, ob im sozialen Bereich, im öffentlichen Bereich oder in der Wirtschaft. Sie sollen statt Arbeitslosengeld eigene Ansprüche erwerben und voll sozialversicherungspflichtig
beschäftigt sein.
Ja, wir sind stolz auf die Arbeit unserer Regierung,
und wir sind stolz, dass sich diese Leistungen im Aufschwung widerspiegeln. Aber für uns von der SPD ist
der Aufschwung kein Selbstzweck: Die Wirtschaft hat
dem Menschen zu dienen und nicht der Mensch der
Wirtschaft. Deshalb gibt die SPD so lange keine Ruhe,
bis dieser Aufschwung bei jedem Einzelnen ankommt.
Wir wollen Aufschwung für alle.
({8})
Jetzt spricht der Kollege Wolfgang Meckelburg.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die bemerkenswerteste Ausführung heute war, wie ich
finde, der Satz von Frau Nahles über die große Große
Koalition. Es hat mich beeindruckt, dass selbst Frau
Nahles gesagt hat, die Große Koalition kriegt etwas Großes hin - manche von Ihnen bestreiten das ja. Wie gesagt, ich finde das großartig; denn das ist eine Basis, um
in den strittigen Fragen ein Stückchen weiterzukommen.
({0})
Sie haben zugegeben, dass Sie zu Ihrer Regierungszeit ein paar Stolpersteine gebaut haben; dem widerspreche ich nicht. Doch wenn Sie, Frau Nahles, hier so einfach sagen: „Beim Mindestlohn wird am Montag
gesprungen“, dann vertun Sie sich. Mit den Mindestlöhnen ist das nicht so einfach. Jeder, der eine Zahl nennt,
bekommt Schwierigkeiten. Die Leute überbieten sich
mit Forderungen: Der eine will einen Mindestlohn von
6,50 Euro, der Nächste von 7 Euro, dann kommt einer
und fordert 7,50 Euro, die KAB, habe ich gehört, fordert
sogar 8,50 Euro. Da kann ich nur sagen: Wer so etwas
gesetzlich festlegt, der macht Arbeitsplätze kaputt. An
dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei.
({1})
Von anderer Seite heißt es, man müsse ja nur festlegen, sittenwidrige Löhne beginnen unterhalb von zwei
Dritteln von dem, was in der Branche durchschnittlich
vereinbart ist. Das hilft der berühmten Friseurin in Thüringen auch nicht. Zwei Drittel von 3,18 Euro ist nicht
viel. Für diese Festlegung würde ich mich also auch
nicht unbedingt einsetzen.
Wir brauchen irgendeine Auffanglinie, die sich an den
Daten, die wir haben, orientiert.
({2})
- Darüber sollte man sich hinter verschlossenen Türen
langsam einigen.
({3})
- Nein, nein. Das können nur die Tarifpartner vereinbaren.
Überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt, sind die
Rahmenbedingungen völlig anders als bei uns in der
Bundesrepublik: Dort ist die Tarifautonomie nicht wichtig, spielen die Gewerkschaften eine völlig andere Rolle,
gibt es andere Systeme. In unserem System sind die Tarifparteien diejenigen, die in den Regionen und für ihre
Branchen am besten aushandeln können, was machbar
ist und was nicht. Auf diesen Weg sollten wir uns endlich begeben!
({4})
Wovon ich gar nichts halte - damit auch das klar ist -,
ist, wenn Gewerkschaften - ich nenne sie jetzt nicht namentlich -, die an Tarifabschlüssen beteiligt waren, bei
denen unwahrscheinlich niedrige Löhne vereinbart worden sind, jetzt auf die Straße gehen und von uns verlangen, dass wir, die Politik, das mit Mindestlöhnen korrigieren. Von solchen Gewerkschaften halte ich nichts; die
manchen ihren Job nicht.
({5})
- Nein, das sind nicht die christlichen. Ich meine Verdi;
damit Sie es wissen.
Lassen Sie mich zum Thema der Aktuellen Stunde etwas sagen: Der Aufschwung geht weiter. Deutschland
hat den kräftigsten Aufschwung seit der Wiedervereinigung. Die Gewinne der Unternehmen steigen, die Auftragsbücher der Firmen sind voll. Fachkräfte werden
dringend gesucht; wir werden uns in allernächster Zeit
über Fachkräftemangel unterhalten müssen. Die Arbeitslosigkeit sinkt merklich; die Zahlen sind genannt worden.
Das Wichtigste ist: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt wieder.
Frau Dückert, Sie haben vorhin gesagt, wir stünden auf
dem Sonnendeck, wir sollten uns mal in den Maschinenraum begeben. Dieses Bild ist alt; das haben wir schon gebraucht, als Sie noch mit Rot zusammen regiert haben.
Heute stelle ich fest, dass wir im Maschinenraum sitzen.
Während Ihrer Regierungszeit sind 65 Monate lang
Monat für Monat sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abgebaut worden. Insgesamt waren
es 1,5 Millionen.
({6})
Seit Mai letzten Jahres steigt die Zahl wieder. Wir haben
650 000 neue sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Das ist die größte Leistung des letzten Jahres auf dem
Arbeitsmarkt. Nehmen Sie das einfach zur Kenntnis.
({7})
- Nein, das ist nicht peinlich. Die Zahl stimmt. Sie können daran drehen, wie Sie wollen.
Ich will auch in Richtung von Herrn Brüderle noch etwas sagen. Wir sind und bleiben in der Politik freundschaftlich miteinander verbunden, aber es kann nicht
sein, dass Sie uns hier vorwerfen, wir würden heute eine
Feierstunde abhalten und uns sonnen, während Sie als
Schattenwerfer auftreten und wirklich jedes Stichwort
aus der Kiste holen, um den Schatten möglichst so groß
zu machen, dass von dem Erfolg der Bundesregierung
nichts mehr übrig bleibt.
({8})
Herr Brüderle, wären Sie mit uns zusammen in der Koalition, dann würden Sie Seite an Seite bei uns stehen
und Feste feiern, bis es nicht mehr geht.
({9})
Wir feiern diese Feste heute nicht, sondern wir stellen
fest, dass wir in diesem einen Jahr auf dem Arbeitsmarkt, beim Wirtschaftswachstum und bei den Steuereinnahmen wesentlich weiter vorangekommen und auf
einem guten Weg sind.
Wenn das gilt, was Frau Nahles hinsichtlich der großen Großen Koalition gesagt hat, dann liegen noch große
Jahre vor uns.
({10})
Jetzt hat Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nicht, dass jetzt jemand das Gerücht streut, in
der Großen Koalition würden nur schlagende Argumente
zählen. Es ist nur mein Zahn. Wir schlagen uns also noch
nicht, sondern wir tauschen die Meinungen so aus.
„Spiegel Online“ meldete am 30. April 2007, dass der
Aufschwung am Arbeitsmarkt angekommen ist. Es ist
für mich in der Tat die wichtigste Aussage zu der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, dass der Aufschwung endlich am Arbeitsmarkt angekommen ist.
650 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind nämlich zumindest für die Menschen, die sie bekommen haben, weiß Gott mehr als nur
650 000 neue Jobs.
({0})
Die positiven Zahlen sind für uns Ansporn und Bestätigung zugleich. Sie sind Bestätigung, weil die sozialdemokratische Agendapolitik endlich wirkt, und sie sind
Ansporn, diesen Weg in der Großen Koalition natürlich
auch weiterzugehen. Wir werden ihn so lange gehen, bis
der Aufschwung bei allen Menschen angekommen ist;
denn schließlich haben die Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Fabrikhallen, den Büros
und den Handwerksbetrieben diesen Aufschwung miterarbeitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Reformen brauchen
Zeit. Dieser Satz ist so lapidar wie richtig. Dies gilt auch
und besonders für Steuerreformen und für die Haushaltspolitik, durch die der Aufschwung in den vergangenen
Jahren mitbewirkt wurde. Anfang 2006 haben wir ein
25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm auf den Weg
gebracht. Das war die Initialzündung für Wachstum und
Beschäftigung. Dazu werden wir auch mit der Unternehmensteuerreform einen Beitrag leisten.
Frau Dückert, hier muss ich Ihnen widersprechen. Es
ist toll und plakativ, zu sagen: Ihr gebt den Großen und
nehmt den Kleinen. - Es stimmt nicht. Der „Focus“ hat
die Studie des ZEW ausgewertet. Dort steht:
Allerdings seien in erster Linie mittelständische
Unternehmen auf der Gewinnerseite, da sie von den
geplanten Gegenfinanzierungsmaßnahmen weitgehend verschont bleiben würden …
Es sind nicht die Großkonzerne; vielmehr wird der Mittelstand durch uns gestärkt, genau der Mittelstand, der
hier eben gelobt wurde, weil er für den Beschäftigungsaufschwung gesorgt hat.
({1})
Wir haben die Kommunen in den vergangenen Jahren
gestärkt, und wir werden sie auch weiter stärken. Die
Kommunen erleben seit 2004 ein Rekordjahr nach dem
anderen. Warum ist das so wichtig? Die Kommunen sind
die größten öffentlichen Auftraggeber, und - das ist mindestens genauso wichtig - das Geld, das die Kommunen
ausgeben, bleibt in der Regel in der Region. Wenn Riesenprojekte des Bundes europaweit ausgeschrieben werden, dann ist nicht gesagt, dass der Auftrag in Deutschland bleibt. Bei den Kommunen ist das anders. Jeder
Euro, den die Kommunen mehr haben, entspricht einem
Förderprogramm für die lokale Wirtschaft.
({2})
Erst wenn sich die Menschen in ihrer Kommune wohlfühlen, weil die dringend notwendigen Investitionen
- ob in Straßen, Gebäude, soziale Einrichtungen, Schulen oder Kinderbetreuung - getätigt werden, sind sie
wieder selber bereit, zu investieren. Dies ist notwendig,
weil es den Binnenmarkt stärkt.
({3})
Das kommunale Investitionsprogramm, das noch auf
die Regierung Schröder zurückgeht, ist nicht umsonst
wieder aufgelegt worden. Im Jahr 2006 sind rund
3,2 Milliarden Euro ausgegeben worden. Damit sind
rund 1 450 Vorhaben mitfinanziert worden. Ich darf in
diesem Zusammenhang an das Ganztagsschulprogramm
erinnern, mit dem den Kommunen 4 Milliarden Euro für
Baukosten zur Verfügung gestellt wurden. Auch dieses
Geld geht an regionale Unternehmen und stärkt das
Handwerk und die heimische Wirtschaft, weil es vor Ort
ausgegeben wird.
Auch die privaten Haushalte - lange Zeit ein vernachlässigter Sektor, was die Beschäftigung anbelangt - stärken wir durch steuerliche Maßnahmen. Die Sanierung
und die Modernisierung von Wohnraum werden ebenso
steuerlich gefördert wie Kinderbetreuung, Pflege oder
die Reinigung der Wohnung. Damit holen wir diesen
Wirtschaftssektor aus dem grauen oder schwarzen Bereich und fördern legale Beschäftigung.
Ich denke, wir haben allen Grund, uns zu freuen, und
glaube, dass die Handvoll Beispiele, die ich genannt
habe, deutlich machen, dass der Aufschwung zwar nicht
nur, aber auch etwas mit der Regierung und der Koalition zu tun hat.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde erhält
der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Brüderle ist schuld daran, dass ich anders anfangen muss, als geplant. Sie haben eine Zeit lang
geleugnet, dass es einen Aufschwung gibt. Jetzt können
Sie das nicht mehr tun; denn es gibt unverkennbar mehr
Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Das
können Sie nicht mehr leugnen. Jetzt darf es Ihrer MeiGerald Weiß ({0})
nung nach aber nicht der Regierung zugute gehalten
werden.
({1})
Der Aufschwung ist zwar nicht nur der Regierung zu
verdanken - auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die Weltwirtschaft, die Wissenschaft und andere haben ihren Beitrag dazu geleistet -,
sie hat aber mit der positiven Änderung der wirtschaftlichen Rahmendaten, die für die Menschen wichtig sind,
ihren Anteil daran.
({2})
Als Spezialservice für den ehemaligen Studienkollegen aus Mainz greife ich aus dem oft erwähnten 25-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung nur einen
Baustein heraus, um die Wirkung abzuleiten. Das erwähnte CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat im Jahr
2006 Investitionen im Umfang von 11 Milliarden Euro
ausgelöst. Das können Sie anhand der Wachstumsrate
nachprüfen. Mit einem Anteil von 0,5 Prozent am Sozialprodukt bedeutet das einen Wachstumsschub, der zu
den verbesserten Wachstumsraten in Deutschland geführt hat.
({3})
Wenn man berücksichtigt, dass Investitionen in Höhe
von 1 Milliarde Euro 25 000 neue Arbeitsplätze erschließen, dann ist der Zusammenhang zwischen Investitionen
und Beschäftigung hergestellt.
({4})
Frau Möller, Sie haben in düsteren Farben beschrieben, dass der Aufschwung nicht die Menschen erreicht.
Wir haben aber 823 000 Arbeitslose weniger,
650 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr,
27 Prozent weniger arbeitslose Jugendliche, 14 Prozent
weniger ältere Arbeitslose über 50 und 80 000 mehr Beschäftigte über 55 Jahre als im Vorjahr. All diese Menschen hat der Aufschwung konkret und glücklich erreicht.
({5})
Wie können Sie das leugnen?
({6})
- Ich könnte auch von der Absenkung des Beitrags zur
Arbeitslosenversicherung reden, Kollege Brüderle. Das
will ich an dieser Stelle aber nicht tun.
Es ist vor allem ein Vertrauensaufschwung. Am Anfang gibt es mehr Vertrauen und Zutrauen. Es ist demoskopisch belegbar, dass es seit Antritt der Großen Koalition eine Zunahme bei den Investitionsplänen gibt. Die
Investitionspläne von gestern sind die Aufträge von
heute. Herr Brüderle, wir haben mit einem Plus von
10 Prozent bei den Auftragserteilungen in der Industrie
den größten Zuwachs zu verzeichnen, der jemals statistisch erfasst wurde. Die Aufträge von heute sind die Arbeitsplätze von morgen, Herr Brüderle. Das ist der Zusammenhang mit der Beschäftigung. Es handelt sich um
einen Vertrauensaufschwung. Ich lade Sie zu folgendem
Gedankenmodell ein: Wenn Genossen à la Gysi und
Lafontaine heute die Regierungsverantwortung hätten,
gäbe es kein Zukunftsvertrauen. Aber die Große Koalition hat es trotz vieler Mühseligkeiten - die Rente mit 67
ist sicherlich nicht populär, aber langfristig notwendig geschafft, das Vertrauen und das Zutrauen der Menschen
in die Zukunft wieder zu festigen. Das setzt sich um:
gestern in verbesserte Investitionspläne, heute in verbesserte Investitionsmaßnahmen und - erkennbar - im Konsumverhalten. Die Menschen trauen sich mehr. Da die
Menschen keine Angst mehr haben, beispielsweise den
Arbeitsplatz zu verlieren, trauen sie sich, hochwertige
Gebrauchsgüter anzuschaffen. Auch im Konsumbereich
zeigt sich also das gestiegene Zukunftsvertrauen.
Wir sind noch lange nicht am Ziel. Das sind wir erst,
wenn der Aufschwung alle Menschen erfasst, wenn es allen besser geht. Deshalb kümmern wir uns um die Problemgruppen. Mit dem, was es jetzt beschlossen hat,
verfolgt das Kabinett die Absicht, den Menschen zielgerichtet zu helfen, die nicht ohne Weiteres durch mehr
Wachstum in die Wirtschaft integriert werden können.
Wenn wir die sozialen Sicherungssysteme zielgenauer
machen, wie es beim Sozialgesetzbuch II in mehreren
Schritten geschehen ist, dann erfüllen wir das zweite
Kernanliegen unseres Koalitionsvertrages, die sozialen
Sicherungssysteme zu festigen. Die sozialen Sicherungssysteme spiegeln ebenfalls schon den Aufschwung wider.
Wirtschaftswachstum ist sicherlich nicht alles. Aber
ohne es ist alles andere nichts. Die geringeren Ausgaben
und die verbesserten Einnahmen des Sozialstaates - das
gilt vor allem in der Arbeitslosenversicherung - zeigen,
dass wir auf einem guten Weg sind. Den sollten wir weitergehen.
Danke schön.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele,
Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht
- Drucksache 16/576 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/5283 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder
({1})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Joachim Stünker
Wolfgang Nešković
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden,
hierüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Alfred
Hartenbach für die Bundesregierung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wenn man den Titel des heute vorliegenden Gesetzentwurfes wörtlich auslegte, dann müsste
man zu dem Schluss kommen, dass es um die Pressefreiheit in unserem Land schlecht bestellt ist.
({0})
Kollege Montag, richtig ist jedoch: Die Pressefreiheit
genießt nach unserer Verfassungsordnung besonderen
Schutz, auch im Straf- und Strafverfahrensrecht. Sie genießt aber keinen uneingeschränkten Schutz. Es geht
deshalb immer um einen sachgerechten Ausgleich zwischen Pressefreiheit und Strafverfolgung. Nicht nur die
Pressefreiheit, sondern auch die Aufgabe des Staates,
Straftaten aufzuklären und Straftäter zur Rechenschaft
zu ziehen, hat Verfassungsrang.
Dabei müssen zwei Aspekte auseinander gehalten
werden. Da ist zum einen die Bewertung der gesetzlichen
Regelungen - darauf werde ich mich konzentrieren -,
und da ist zum anderen die von mir nicht zu behandelnde
Frage, ob die geltenden Vorschriften im Einzelfall von
Gerichten und Staatsanwaltschaften mit dem nötigen
Augenmaß angewandt worden sind.
({1})
Der geltende § 353 b Strafgesetzbuch, also die Strafvorschrift über die Verletzung von Dienstgeheimnissen, sorgt für einen angemessen Ausgleich zwischen
dem Geheimhaltungsinteresse des Staates und dem Interesse der Bürger und Medien an einer öffentlichen Kontrolle staatlichen Handelns, wie es in einem Rechtsstaat
unverzichtbar ist. Ihr Gesetzentwurf würde an dieser
Stelle eine Schieflage verursachen, weil er den Interessen der Medien einen generellen Vorrang einräumt.
Dass Anstiftung und Beihilfe strafbar sind, ist fester
Bestandteil unseres Strafrechtssystems
({2})
und gilt grundsätzlich für alle Deliktsbereiche, auch für
den Verrat von Dienstgeheimnissen, weil auch hier Anstiftung und Beihilfe einen eigenen Unwertgehalt haben.
Man kann deshalb nicht, wie Sie es wollen, den
Amtsträger als Haupttäter bestrafen, weil sein Geheimnisverrat wichtige öffentliche Interessen gefährdet, während der Medienmitarbeiter, der genau dazu angestiftet
hat, generell straflos bleiben soll.
Damit würde die Grenze zwischen noch erlaubter
journalistischer Grundrechtsausübung und der aktiven
Begehung von Straftaten insgesamt ins Rutschen geraten. Wenn Sie das Prinzip von Täterschaft und Teilnahme an dieser Stelle durchbrechen - für eine Berufsgruppe, für die es übrigens keine klare Definition gibt -,
({3})
dann wird das nicht ohne Folgewirkungen für andere
Straftaten bleiben. Darin sehe ich mich auch durch das
Ergebnis der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss bestätigt.
Für Ihren Gesetzentwurf gibt es auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, auch nicht nach der
„Cicero“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
({4})
Diese Entscheidung hat die Strafbarkeit von Anstiftung
und Beihilfe zum Geheimnisverrat gerade nicht in Zweifel gezogen. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht
in wichtigen Punkten die Rechtslage klargestellt. Ob die
Voraussetzungen für eine Beihilfe zum Geheimnisverrat
bei Medienmitarbeitern vorliegen, müssen unter Beachtung dieser Vorgaben Staatsanwaltschaften und Gerichte
von Fall zu Fall sorgfältig prüfen.
Auch die vorgeschlagenen Änderungen des Strafverfahrensrechts sind allesamt verfassungsrechtlich nicht
geboten und zum Teil unpraktikabel.
({5})
Ich greife wegen der Kürze der Zeit nur zwei Beispiele
heraus.
Erstens. Der absolute Richtervorbehalt bei Beschlagnahmen in Journalistenwohnungen geht an der
Realität vorbei. Staatsanwälte und Polizeibeamte dürfen
eine Beschlagnahme schon nach geltendem Recht nur
bei Gefahr im Verzug selbst anordnen. Im Eilfall muss
dies weiterhin möglich sein.
Zweitens. Ein absolutes Verbot, Verbindungsdaten
von Medienmitarbeitern zu erheben, ist ebenfalls nicht
zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt - zuletzt in seiner „Cicero“-Entscheidung - betont, dass ein genereller Vorrang der Pressefreiheit vor
dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung nicht anzuerkennen ist. Es ist vielmehr in jedem
Einzelfall der Stellenwert der Pressefreiheit mit dem
konkreten Strafverfolgungsinteresse abzuwägen.
Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen:
({6})
Wie wollen Sie eigentlich erkennen, ob ein Verbindungsdatum gerade im Zuge einer Kommunikation verarbeitet
wurde, die vom Zeugnisverweigerungsrecht geschützt
ist? Das steht nämlich nicht drauf.
({7})
Ihr heute zur Abstimmung stehender Entwurf greift
durch seinen nur punktuellen Ansatz zu kurz. Geboten
ist vielmehr ein stimmiges Gesamtkonzept, wie es die
Bundesregierung Mitte April beschlossen hat. Danach
bleiben die bestehenden Presseschutzregelungen uneingeschränkt erhalten. Das betrifft sowohl das Zeugnisverweigerungsrecht als auch den Beschlagnahmeschutz und
das Verbot von Wohnraumüberwachungen. Worin vor
diesem Hintergrund ein Angriff auf die Pressefreiheit
liegen soll, wie er in der letzten Zeit der Bundesregierung unterstellt wurde - ich habe nicht gesagt, dass Sie
das unterstellt haben -, bleibt mir unergründlich.
Der von der Bundesregierung beschlossene Entwurf
schreibt fest, dass sowohl offene als auch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen gegen zeugnisverweigerungsberechtigte Medienmitarbeiter nur nach einer vorherigen
sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig sind.
Kommt diese Abwägung zu dem Ergebnis, die geplante
Ermittlungsmaßnahme wäre unverhältnismäßig, etwa
weil es nur um die Aufklärung einer eher geringfügigen
Straftat geht, dann ist die Maßnahme zu unterlassen oder
zu beschränken. Wenn allerdings, lieber Kollege Montag
- ich vermisse Herrn Ströbele ein bisschen -,
({8})
ein Journalist in eine Straftat selbst verstrickt ist oder
wenn der Journalist sogar selbst Beschuldigter in einem
Strafverfahren ist, müssen die dargestellten Schutzregelungen hinter das Strafverfolgungsinteresse zurücktreten. Denn nach unserer Verfassung gilt eben auch: Es
steht dem Gesetzgeber nicht frei, bestimmte Berufsfelder von jeglicher Strafverfolgung einfach auszunehmen.
({9})
- Doch, das tut ihr, Freunde.
Mit unserem Konzept stehen wir in Einklang mit der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und
stellen sowohl eine freiheitliche Presse als auch eine effektive Strafverfolgung sicher.
({10})
Beides ist mir gleichermaßen ein großes Anliegen.
Vielen Dank.
({11})
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat jetzt das
Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartenbach, es geht bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf nicht darum, dass jetzt die
Pressefreiheit über alles gestellt wird und jedes Augenmaß verloren geht,
({0})
sondern es geht um Korrekturen im Strafgesetzbuch und
in der Strafprozessordnung, und zwar an einigen Stellen.
({1})
Deshalb teilen wir von der FDP-Bundestagsfraktion den
Grundansatz, der mit diesem Gesetzentwurf verfolgt
wird.
Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht,
der ebenfalls Gegenstand der Anhörung im letzten Jahr
gewesen ist. Wir wollen die Vorschläge, die in unserem
Gesetzentwurf zum Strafgesetzbuch, aber auch zur Strafprozessordnung enthalten sind, dann in die Beratungen
einbringen, wenn wir uns hier mit den Änderungen der
Telekommunikationsüberwachung beschäftigen werden; denn das ist der Moment, um konkret zu prüfen, ob
es Änderungen zum Beispiel des § 97 StPO bedarf und
wie wir mit den Telekommunikationsverbindungsdaten
von Zeugnisverweigerungsberechtigten umgehen. Dann
können wir auch Ihren Vorschlag diskutieren, der eine
generelle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einigen Zeugnisverweigerungsberechtigten enthält.
Ich kann an dieser Stelle schon sagen, dass ich da erhebliche Bedenken habe.
({2})
Im Gesetz steht, dass erst die Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden muss. Wir kennen die Verfahren der
letzten Jahre, bei denen schon jetzt unter Achtung des
Art. 5 Grundgesetz Staatsanwaltschaften und Richter
hätten abwägen müssen, was aber letztlich in der Form
nicht erfolgt ist; denn sonst wäre es nicht zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu „Cicero“ gekommen.
({3})
Genau dort ist nicht richtig in der Praxis geprüft worden.
Nun könnte man sagen, Herr Hartenbach, das sei in
Ordnung, mit dieser Klarstellung - das ist ja nicht die
einzige Entscheidung; es hat schon immer entsprechende
Entscheidungen gegeben - seien alle Probleme beseitigt.
Nein, auch wir als FDP-Fraktion sind der Meinung, dass
man auch § 353 b - Verletzung eines Dienstgeheimnisses und die Strafbarkeit von Beihilfehandlungen - auf
den Prüfstand stellen muss; denn er ist zu einem Einfallstor staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen geworden. Es hat in der Vergangenheit in keinem einzigen Fall
eine Verurteilung eines Journalisten gegeben, dem vorgeworfen wurde, er sei der Beihilfe verdächtig. Man hat
die Regelung vielmehr benutzt, um Ermittlungen anzustellen und Erkenntnisse zu gewinnen, die auf undichte
Stellen und Lücken in Behörden hinweisen, weil man
selbst anders nicht zum Erfolg gekommen ist. Das kann
nicht Sinn und Zweck einer solchen Regelung sein. Ich
meine, es ist nur richtig und notwendig, dass das gerade
angesichts der Verfahren hier im Bundestag auf den
Prüfstand gehört.
Unser Gesetzentwurf geht allerdings nicht so weit wie
der des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir halten eine Anstiftungshandlung für eine Handlung mit einem anderen
Unrechtsgehalt als eine Beihilfehandlung nach Vollendung eines Delikts. Hier geht es ja um ein Institut der
sukzessiven Beihilfe, zu dem das Bundesverfassungsgericht im „Cicero“-Urteil keine abschließende Bewertung
abgeben musste. Wenn es darum geht, jemanden dazu
anzustiften, das Dienstgeheimnis zu verletzen, dann ist
das in den Augen der FDP-Fraktion ein Vorgang, der mit
einem anderen Unrechtsgehalt versehen ist. Deshalb sehen wir hier eine sehr viel differenziertere Regelung vor.
In diesem Punkt unterscheidet sich unser Entwurf von
dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Dass sich die Arbeitswelt von Journalisten in den
letzten Jahren verändert hat, ist bekannt. Üblich ist nicht
mehr, dass man allein in einer Redaktion sitzt und dort
seine Texte schreibt. Aufgrund moderner Kommunikationsmöglichkeiten ist das Schreiben von Beiträgen
auch an anderen Orten möglich, zunehmend in privaten
Räumen. Wir wollen, dass ein Richter entscheidet; derzeit ist das nicht der Fall. Das Umsetzen unserer Forderung wäre eine vorsichtige Korrektur der Strafprozessordnung. Dies unterläge auch nicht dem Übermaßverbot.
Es würde also nicht über die Stränge geschlagen. Ich
hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen über eine
grundlegende Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung darüber noch im Einzelnen werden reden
können. Bei der ersten Lesung dieser Gesetzentwürfe im
letzten Jahr wurde hier im Bundestag, zum Teil aus den
Koalitionsfraktionen, die Bereitschaft geäußert, sich bei
diesen Punkten zu öffnen. Ich würde mich freuen, wenn
diese Bereitschaft auch bei den Beratungen über Änderungen der StPO vorhanden wäre.
Auch das Beweiserhebungsverbot für Telekommunikationsverbindungsdaten, § 100 h StPO, sieht den absoluten Schutz von Zeugnisverweigerungsberechtigten
vor. Es ist doch nicht so, als würde jetzt erfunden, dass
Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht hinsichtlich ihrer Telekommunikationsverbindungsdaten ausgeforscht
werden sollen. Aber man hat hier differenziert; in meinen Augen hat man hier falsch differenziert. Die Journalisten, bei denen der Informantenschutz entscheidend ist
- das hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal
ausdrücklich festgestellt -, hat man von dieser Regelung
nicht ausgenommen. Vielmehr sagt man: Nach geltendem Recht kann man die Telekommunikationsverbindungsdaten ausforschen. Bei anderen Zeugnisverweigerungsberechtigten, bei Anwälten, bei Geistlichen, gilt
dies nicht. Wenn man das abwägt, dann kann man sehr
wohl zu dem Ergebnis kommen, dass es sinnvoll ist, eine
entsprechende Einbeziehung vorzunehmen.
Da sich unser Entwurf von dem Gesetzentwurf der
Grünen in einigen Punkten unterscheidet, werden wir
uns bei der heutigen Abstimmung enthalten.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat für die CDU/CSU der Kollege Reinhard
Grindel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Pressefreiheit ist nicht irgendein Grundrecht, sondern für unsere Demokratie schlechthin konstituierend.
Das ist in einzelnen Ermittlungsverfahren, etwa im Fall
„Cicero“, nicht hinreichend beachtet worden. Wir haben
das fraktionsübergreifend kritisiert. Aber es geht hier um
fehlerhafte Rechtsanwendungen, nicht um fehlerhafte
Rechtsgrundlagen.
({0})
Mein Kollege Siegfried Kauder wird gleich eine
Reihe wichtiger rechtspolitischer Anmerkungen machen. Meine Fraktion hat mir hier sozusagen ein gewisses Journalistenprivileg eingeräumt. Ich will auf Grundlage meiner beruflichen Erfahrungen sagen: Ich finde
schon, Herr Kollege Montag, wir sollten festhalten, dass
wir uns in Deutschland im Vergleich zu westeuropäischen Ländern, von anderen Ländern der Welt ganz abgesehen, sowohl bezüglich der Print- als auch der elektronischen Medien, was die Qualität, die Vielfalt und die
Unabhängigkeit unserer Presselandschaft angeht, nicht
zu verstecken brauchen. Mit dem Gesetzentwurf der
Grünen sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass
die Freiheit der Presse durch staatliche Einrichtungen
- womöglich mit wachsender Tendenz - beeinträchtigt
wird.
({1})
Herr Kollege Montag, lassen Sie mich, ohne allerdings abzuschweifen, im Hinblick auf die Qualität und
Freiheit unserer Presse einen weiteren Gedanken äußern:
Vielleicht ist das Problem nicht in erster Linie, dass der
investigative Journalismus ständig von Staatsanwaltschaften eingeschränkt wird, sondern, dass investigativer
Journalismus gar nicht mehr stattfindet, weil manche Investoren bei Zeitungen oder Fernsehsendern - ich muss
leider sagen: vor allem ausländische Investoren - nicht
so sehr an den publizistischen, sondern eher an den wirtschaftlichen Erfolg des Mediums denken. Das hat zur
Folge, dass man sich keinen investigativen Journalismus
mehr leistet.
({2})
Vielleicht ist das in Zukunft sogar das größte Problem,
mit dem wir uns beschäftigen müssen.
({3})
Der Fall „Cicero“ hat deutlich gemacht, dass unser freiheitlicher Rechtsstaat funktioniert. Das Bundesverfassungsgericht hat völlig zu Recht entschieden, dass
Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige verfassungsrechtlich unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu
ermitteln. Die Durchsuchungen der „Cicero“-Redaktion und des Hauses des Journalisten Bruno Schirra hatten das Ziel, beim BKA und beim BND undichte Stellen
zu finden. Darauf kam es an.
({4})
Wir waren uns damals in einer Sondersitzung des Innenausschusses einig, dass unter dem Deckmantel der Verfolgung einer angeblichen Beihilfehandlung eines Journalisten zum Geheimnisverrat in Wahrheit in die
Pressefreiheit eingegriffen wurde, indem man in großem
Stil Akten beschlagnahmt hat. Dadurch wurde der
Schutz der Vertraulichkeit und der Informationsquellen
gefährdet, der für die Arbeit der Presse unentbehrlich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe übrigens
nicht vergessen, dass der frühere Bundesinnenminister
Otto Schily diese Kritik in seinem bekannten Stil abgetan
({5})
und einzelne Kritiker als „Hanseln“ bezeichnet hat.
({6})
Jetzt hat sich herausgestellt, dass zumindest sieben dieser „Hanseln“ Richter am Bundesverfassungsgericht
sind. Das „Cicero“-Urteil ist nicht nur eine Ohrfeige für
diejenigen, die in Brandenburg für das Ermittlungsverfahren verantwortlich waren, sondern auch - das muss
man ganz klar sagen - für den früheren Bundesinnenminister.
({7})
- Lieber Herr Kollege Tauss, Sie wissen ganz genau,
dass das ein unpassender Zuruf ist;
({8})
denn der Kollege Körper hat sowohl gestern als auch
heute erklärt, dass man, was die Onlinedurchsuchungen
anbetrifft, auf einem sehr guten Weg ist.
({9})
Vielleicht fragen Sie einmal bei ihm nach. Wir werden in
der Koalition zu sachgerechten Ergebnissen kommen.
Ich kann mir angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht vorstellen, dass in Zukunft noch einmal in dieser Weise eine Durchsuchung bei einem Journalisten wegen des Verdachts der Beihilfe zum
Geheimnisverrat vorgenommen wird. Ich meine, man
sollte die Wirkungen des „Cicero“-Urteils abwarten.
Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat in
diesem Fall offensichtlich keinen gesetzgeberischen
Nachbesserungsbedarf gesehen.
Ich habe übrigens den Eindruck, dass die Bundesregierung den Schutz von Journalisten im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Regelung der Telekommunikationsüberwachung verbessert. Das betrifft auch
das Problem der Zufallsfunde.
Kollege Montag, ich finde, dass die Grünen mit ihrem
Gesetzentwurf, der Straffreiheit für die Anstiftung zum
Geheimnisverrat vorsieht, weit über das Ziel des Schutzes der Pressefreiheit hinausschießen. Für mich ist das
nicht nur, wie es in der Anhörung des Rechtsausschusses
hieß, in rechtsethischer Hinsicht ein Problem, sondern es
ist auch mit dem journalistischen Ethos kaum vereinbar.
({10})
Da wir angesichts des wachsenden Wettbewerbs auf dem
Medienmarkt und angesichts eines immer problematischeren Kampfes um tatsächliche oder angebliche Exklusivstorys ohnehin einen gewissen Sittenverfall im Journalismus beklagen, frage ich mich, ob es die Pressefreiheit
wirklich gebietet, den Instrumentenkasten mit der Anstiftung zum Geheimnisverrat - sozusagen unter ausdrücklicher Billigung des Gesetzgebers - noch weiter zu öffnen.
({11})
Ich sage: Wir sollten das nicht tun. Ein Journalist, der
zum Geheimnisverrat anstiftet, darf sich nicht auf den
Schutz durch die Pressefreiheit berufen können.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon im „Spiegel“-Urteil, aber auch in der „Frontal“-Entscheidung betont, dass es eine Mitverantwortung der Presse für die
Sicherheit des Staates gibt. Hierbei geht es um die Abwägung der Pressefreiheit gegen das Recht des Bürgers
auf Sicherheit. Die journalistische Ethik verlangt, dass
man die Folgen seines Tuns selbstkritisch prüft. Ein Beispiel: In dem entsprechenden „Cicero“-Artikel hat der
Autor Handynummern von al-Qaida-Führern veröffentlicht. Das war für die Geschichte unter journalistischen
Gesichtspunkten nicht zwingend. Aber dadurch wurden
Operationen und womöglich auch Quellen des BND
massiv gefährdet. - Daran wird deutlich: Wir brauchen
im Journalismus eine Kultur der Selbstverantwortung
und in besonderen Fällen - wenn die Grundrechte Dritter
auf dem Spiel stehen - auch eine Kultur der Selbstbeschränkung.
({12})
Durch die „Cicero“-Entscheidung wurde die Freiheit für
Journalisten gestärkt. Aber das zwingt die Journalisten,
sorgfältig mit dieser Freiheit umzugehen. Verantwortlicher Journalismus kann eben auch darin bestehen, dass
man nicht alles veröffentlicht, was man weiß.
({13})
Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen, weil die
vorgeschlagenen Regelungen nicht sinnvoll sind. Aber
festhalten will ich gleichwohl - um deutlich zu machen,
dass wir an dieser Stelle nicht unterschiedlicher Meinung sind -: Das eigentliche Problem der undichten Stellen in Sicherheitsbehörden sind nicht die Journalisten,
({14})
sondern Mitarbeiter, die mit Indiskretionen unserem
Staat und der Sicherheit seiner Bürger schweren Schaden zufügen. Das sind keine Kavaliersdelikte.
Um diese undichten Stellen aufzuspüren, stehen unseren Sicherheitsbehörden vielfältige Maßnahmen zur Eigensicherung zur Verfügung. Aber Zielobjekt muss dabei immer der untreue Beamte sein. Der Umweg über
den Journalisten, um an undichte Stellen zu kommen, ist
ein Holzweg. Wer glaubt, so unseren Rechtsstaat schützen zu müssen, wird ihn in Wahrheit schwächen. Das
wollen wir nicht. Die Pressefreiheit hat einen ganz hohen Rang, den wir bei der Gesetzgebung mit beachten.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau, Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Pressefreiheit ist für die Demokratie unverzichtbar. Das
ist ein Schulsatz. Der Umkehrschluss heißt: Eingriffe in
die Pressefreiheit und Angriffe auf den besonderen
Schutz von Journalistinnen und Journalisten sind Eingriffe in die Demokratie. Es gibt sie dennoch - nicht als
Novum, sondern wiederkehrend. Deshalb befassen wir
uns heute hier mit diesem Thema.
Aktuell geht es um den Fall „Cicero“, ein Magazin,
dessen Redaktionsräume durchsucht wurden. Außerdem
kam es in den Privaträumen zweier Journalisten zu umfangreichen Beschlagnahmen - angeblich, weil sie sich
strafbar gemacht hätten, indem sie aus einer geheimen
Akte zitiert hätten. Tatsächlich wollte man - das wurde
hier schon angesprochen - das Sicherheitsleck, also den
Informanten, finden. So weit die Rechtfertigung für
diese Maßnahmen!
Der Fall „Cicero“ hat mediale Wellen geschlagen. Er
ließ bei allen, denen die Pressefreiheit wichtig ist, die
Glocken läuten. Er wird auch im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss noch eine Rolle spielen; denn
auch hier stellt sich die Frage: Wurden im sogenannten
Antiterrorkampf Grund- und Bürgerrechte suspendiert
und wenn ja, durch wen?
Es geht um Geheimnisverrat. Geheimnisverrat können nur Geheimnisträger begehen, die zur Geheimhaltung verpflichtet sind. Journalisten sind das nicht. Sie
sind vielmehr der Öffentlichkeit verpflichtet; das ist ihr
Part.
({0})
Deshalb will Die Linke, dass Journalistinnen und Journalisten auch nicht mehr wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat belangt werden können.
({1})
Aktuell kursieren hier im Parlament drei Anträge alle von der Opposition, also ein Antrag der FDP, einer
von den Linken und einer von Bündnis 90/Die Grünen.
Alle drei sind auf die Stärkung der Pressefreiheit gerichtet und auf den Schutz von Journalistinnen und Journalisten vor staatlichen Eingriffen. Dies sage ich auch mit
Blick auf die Gelüste des Bundesinnenministers, Kommunikationsdaten zu horten und Computerdaten online
beschlagnahmen zu lassen. Die Linke lehnt das ab.
({2})
Stattdessen schlägt Die Linke zur Stärkung der Pressefreiheit Änderungen im Strafgesetzbuch vor. Wir
wollen damit ausschließen, dass die Veröffentlichung
von Informationen durch Journalistinnen und Journalisten gegen diese gewendet und als Beihilfe zum Geheimnisverrat geahndet werden kann. Wir wollen also mehr
Rechtsklarheit.
Dabei gehen wir einen Schritt weiter als Bündnis 90/
Die Grünen mit ihrem Antrag. Wir wollen alle, die Medien machen, vor dem Vorwurf der Beihilfe zum Geheimnisverrat schützen und nicht nur diejenigen, die
hauptberuflich als Journalisten tätig sind. Wir meinen
nämlich, das Grundrecht auf Pressefreiheit ist nicht an
einen besonderen journalistischen Status gebunden, sondern gilt generell.
({3})
Es gibt einen weiteren Punkt, den wir in unserem Entwurf klarer gefasst haben; er betrifft die Strafprozessordnung. Die Beschlagnahme in Redaktionsräumen darf
nur durch eine Richterin oder einen Richter angeordnet
werden. Bei Beschlagnahmen in Privaträumen von Journalistinnen und Journalisten reicht zumeist eine Anordnung der Staatsanwaltschaft oder einer von ihr befugten
Person. Auch das ist widersinnig. So entsteht Pressefreiheit und Informantenschutz erster und zweiter Ordnung.
Wir wollen, dass möglichst keine Razzien und Beschlagnahmungen stattfinden. Wenn dennoch eine gut
begründete Ausnahme greift, dann generell nur auf Anordnung einer Richterin oder eines Richters. Auch darauf zielen unsere Vorschläge ab.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch
eine Bemerkung. Es gibt Vertrauensberufe, die einen
besonderen Schutz genießen und deshalb privilegiert
werden: Ärzte, Anwälte, Geistliche, auch Journalistinnen und Journalisten. Sie besitzen diese Privilegien nicht
um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Demokratie. Wir dürfen
schon aus Eigennutz nicht zulassen, dass diese Rechte
beschnitten werden.
({4})
Ich erteile das Wort nun Kollegen Jerzy Montag,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau
einer Woche, am 3. Mai, fand weltweit der Tag der Pressefreiheit statt. Deswegen finde ich es angemessen, dass
wir das Hohelied auf den angeblich so guten Zustand der
Pressefreiheit, wie es die Bundesregierung hier gesungen hat, einmal mit der Realität konfrontieren.
({0})
Die Realität zeigt eine durchaus schlechte Situation
für die Pressefreiheit in Deutschland. Die Verfolgung
von Journalisten geht auch im Jahr 2007 unvermindert
weiter. Im Januar hat die Staatsanwaltschaft in Hamburg
gegen Journalisten des „Stern“ und von „Financial
Times Deutschland“ neue Verfahren, wieder wegen Beihilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses, eingeleitet.
Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger hat deswegen im Februar dieses Jahres über einen eklatanten Eingriff in die Pressefreiheit geschrieben und - damit geht
er sogar weiter als die Forderungen der Grünen - die Abschaffung des Straftatbestands des Geheimnisverrats gefordert.
({1})
Als Anfang dieses Jahres, Herr Kollege Danckert, die
Pläne der Großen Koalition, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen, bekannt geworden sind, hat es eine Erklärung von 27 gesellschaftlichen Verbänden der Bundesrepublik Deutschland gegeben, unter ihnen der
Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, die Deutsche
Journalisten-Union und der Deutsche Journalisten-Verband. Alle diese Organisationen haben wörtlich von einer Untergrabung journalistischer Quellen und einer Beschädigung der Pressefreiheit im Kern in Deutschland
gesprochen.
({2})
Im Mai hat sich der Bundesverband der Freien Berufe
- in ihm sind die Dachverbände der Anwaltschaft, der
Ärzteschaft und der Journalisten zusammengefasst - zu
Wort gemeldet; er sieht in seiner Erklärung vom 3. Mai
die Pressefreiheit in Deutschland ernsthaft durch folgende Maßnahmen der Großen Koalition bedroht: Telefonüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Reform des
Zollfahndungsdienstgesetzes, Überlegungen zur Onlinedurchsuchung. Der Bundesverband der Freien Berufe
spricht davon, dass der Informantenschutz und das
Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten in Deutschland ernsthaft in Gefahr sind.
({3})
Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht jedes Jahr eine Rangliste der Pressefreiheit. Im vorletzten Jahr rutschte die Bundesrepublik Deutschland
von Platz 11 auf Platz 18. Letztes Jahr rutschte die Bundesrepublik Deutschland von Platz 18 auf Platz 23 dieser
Rangliste. Dabei wurde die Bundesrepublik Deutschland
wegen der Maßnahmen gegen einzelne Journalisten und
wegen Redaktionsdurchsuchungen ausdrücklich negativ
erwähnt.
Zum Schluss: Die OSZE hat ebenfalls im Mai einen
Zustandsbericht über die Pressefreiheit in den Mitgliedstaaten veröffentlicht. Von den 56 Mitgliedstaaten der
OSZE wurde 20 Staaten eine befriedigende Situation bei
der Pressefreiheit bescheinigt. Leider gehörte die Bundesrepublik Deutschland nicht zu diesen 20, sondern zu
denjenigen, die von der OSZE gerügt worden sind. Ein
ausdrücklich erwähntes negatives Beispiel waren die
Hausdurchsuchungen in Redaktionen in Deutschland.
Deswegen sagen wir Grünen auch heute: Es besteht
dringender Handlungsbedarf. Unser Gesetzentwurf ist
jetzt über ein Jahr in der Beratung. Vor über einem Jahr,
am 16. März 2006, hat es hier eine Debatte gegeben. Da
hat der Kollege Stünker für die SPD ebenfalls erklärt,
dass es Handlungsbedarf gibt. Er hat unsere materielle
Lösung abgelehnt und - im Gegensatz zum Kollegen
Kauder von der eigenen Koalition ({4})
gesagt, dass im Strafprozess Reformen notwendig sind.
Zu mir, mit Verlaub, Herr Kollege Stünker, haben Sie gesagt: Gemach, Gemach, Herr Montag, bis zum Sommer
wird es einen Entwurf mit einer Novellierung geben.
({5})
- Es war aber das Jahr 2006, das gemeint war. Jetzt sind
wir im Jahr 2007 und haben immer noch keinen Entwurf
von Ihnen.
({6})
Nun, lieber Herr Kollege Kauder, zu dem, was Sie vor
über einem Jahr gesagt haben. Meiner Meinung nach haben Sie sich damit in einer unglaublichen Weise diskreditiert. Sie haben uns Grünen vor über einem Jahr vorgeworfen, wir würden Kriminelle unterstützen,
({7})
weil unser Gesetzentwurf sich ausdrücklich nur auf den
Schutz der „Cicero“-Journalisten richten würde, und
haben wortwörtlich gesagt, unser Vorgehen sei „eine Unverschämtheit gegenüber den Ermittlungsbehörden“.
Wenn Sie die Zitatstelle wissen wollen, nenne ich sie Ihnen: Protokoll vom 16. März 2006, Seite 1 993. Auf Zitate sind Sie ja scharf. Nun hat sich herausgestellt, lieber
Kollege, dass das Bundesverfassungsgericht genau das,
gegen das wir vorgegangen sind, als eine Unverschämtheit bezeichnet hat, nämlich die verfassungswidrigen
Angriffe gegen die Journalisten durch die Ermittlungsbehörden.
({8})
Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist zwar zu Ende,
aber Sie haben die Chance, sie zu verlängern, wenn Sie
eine Zwischenfrage zulassen.
Mit einer großen Freude.
({0})
Herr Kollege Montag, würden Sie bitte exakt zitieren,
wo in meiner Rede ich Ihnen vorgehalten habe, Sie würden Kriminelle unterstützen. Ich verwahre mich gegen
diese Behauptung.
Herr Kollege, ich werde Ihnen die Fundstelle sofort
nachliefern. Sie liegt auf meinem Tisch. Es ist auf jeden
Fall die Seite 1 993 des Bundestagsprotokolls vom
16. März 2006. Dort können Sie das, wenn Sie wollen,
nachlesen.
({0})
Ich muss jetzt, weil der Präsident mich schon auf die
Zeit hingewiesen hat, zu meinem letzten Satz kommen. Ich weiß, dass die Große Koalition unseren Gesetzentwurf heute ablehnen wird. Aber wir werden auch nach
dieser Abstimmung dranbleiben; denn das sind wir der
Pressefreiheit und den Journalisten in Deutschland
schuldig. Wir werden die Debatte fortführen und unsere
Ideen weiter in den Bundestag einbringen, um die Situation für die Presse und die Journalisten in Deutschland
zu verbessern.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Danckert, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Kollegen Montag hier so reden hört,
dann hat man den Eindruck, dass in Deutschland jeden
Tag die Pressefreiheit von den staatlichen Organen Polizei und Staatsanwaltschaft kujoniert und verfolgt wird.
Das ist ein geradezu absurdes Bild, das Sie hier zeichnen.
({0})
Ich bitte Sie, Herr Kollege Montag, dass wir die Debatte
- dazu bin ich bereit - sachlich führen und uns über Einzelheiten Ihres Gesetzentwurfs, den Sie hier fast verschwiegen und in den letzten 30 Sekunden Ihrer Redezeit gerade noch erwähnt haben, unterhalten, statt zu
polemisieren und alle möglichen Stimmungen zu erzeugen. Ihre Argumentation ist schlicht absurd.
Wenn Sie wollen, dass wir, wie es, glaube ich, Frau
Pau angedeutet hat, auf Geheimnisse verzichten und alles der Öffentlichkeit zugänglich machen, ist das eine
andere Debatte.
({1})
Ich meine, dass unser Staat ein Recht darauf hat, bestimmte Dinge als Geheimnis zu deklarieren und den
Verrat dieser Geheimnisse in jedem Fall unter Strafe zu
stellen.
({2})
Dem Kollegen Grindel muss ich allerdings sagen:
Wenn Sie unseren ehemaligen Innenminister Otto Schily
für das, was vor dem Hintergrund des Falls „Cicero“ geschehen ist, verantwortlich machen, dann kann ich Ihre
Auffassung überhaupt nicht teilen und weise sie zurück.
({3})
Ich bin sehr wohl der Meinung - insofern nähern wir uns
vielleicht an -, dass man sich politisch darüber streiten
kann, ob die Ermächtigung zur Strafverfolgung vom
August 2005 der richtige Weg war. Darüber kann man so
oder so entscheiden; der Innenminister hat sich für die
Ermächtigung entschieden. Aber was danach gelaufen
ist, liegt nicht im Verantwortungsbereich des damaligen
Innenministers,
({4})
der ja nicht den Antrag auf Durchsuchung und Beschlagnahme gestellt hat und auch nicht für die Entscheidung
des Landgerichts Potsdam zuständig war.
({5})
Da sollten wir die Kirche im Dorf lassen, damit wir
vernünftig miteinander diskutieren können. Der Fall
„Cicero“ ist in der Tat der Ausgangspunkt gewesen; darüber gibt es gar keine Debatte.
Dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten
50 Jahren immer wieder einmal Grund hatte - das kann
man ja nachlesen -, korrigierend einzugreifen, liegt in
der Natur unserer grundgesetzlichen Regelung. Wir haDr. Peter Danckert
ben in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz die Pressefreiheit, die aber - um das einmal verkürzt auszudrücken in keiner Weise schrankenlos ist, sondern nach Art. 5
Abs. 2 Grundgesetz durch allgemeine Gesetze durchaus
eingeschränkt werden kann.
({6})
Dass das wiederum nicht heißen kann, dass mit den
allgemeinen Gesetzen die Pressefreiheit generell desavouiert und eingeschränkt werden kann, liegt auch in der
Natur dieser verfassungsrechtlichen Vorschriften, die
dann im Lichte des gesamten Grundgesetzes ausgelegt
werden. Das ist gang und gäbe und nichts Besonderes.
So kommt es immer wieder zu einem solchen Konflikt
zwischen den allgemeinen Gesetzen und unseren grundrechtlichen Bestimmungen, insbesondere im Bereich des
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Das ist die Ausgangslage.
Ich verhehle nicht - das habe ich an anderer Stelle
auch schon gesagt -, dass mir diese Entscheidungen vom
Potsdamer Amtsgericht, Landgericht und in der Folge
dann übrigens auch vom Brandenburger Justizministerium, das das alles noch gutgeheißen hat, in keiner Weise
gefallen haben.
({7})
Wenn aber hier die Debatte so geführt wird, als seien die
Journalisten die weißen Schafe, die zu schwarzen gemacht werden - nämlich zu Straftätern -, dann ist das
jenseits der Realität.
Wir haben auf der einen Seite den Geheimnisträger,
der das Gespräch mit dem Journalisten sucht oder angesprochen wird. Das ist doch die Realität, die wir vielleicht nicht immer in allen Details so belegen können.
Aber es ist ja nicht so, dass sie sich zufällig in der Bahn
treffen und dann miteinander über Geheimnisse - Staatsgeheimnisse - reden. Vielmehr spricht der eine den anderen ganz bewusst an, und zwar nicht in dem Sinne,
dass da nur ein feines Hintergrundgespräch geführt wird,
sondern mit der Absicht, etwas in die Öffentlichkeit
dringen zu lassen oder - auf der anderen Seite - etwas zu
veröffentlichen.
({8})
An dieser Nahtstelle befinden wir uns in der Tat. Das
Bundesverfassungsgericht hat, wie ich meine, sehr feinsinnig entschieden, dass, soweit es keinen belegbaren
Verdacht gibt, dass der Journalist den Geheimnisträger
angestiftet oder ihm Beihilfe zugesagt hat, man mit
Durchsuchungen sehr vorsichtig sein muss. Das ist eine
gute, positive und notwendige Entscheidung, über die
wir uns, glaube ich, an dieser Stelle nicht unterhalten
müssen. Es ist ein Segen, dass wir das Verfassungsgericht haben! Ich würde vielleicht sogar sagen, dass es insofern - insofern! Nur, dass wir uns an dieser Stelle nicht
missverstehen - gut ist, dass es diese beiden Entscheidungen aus Potsdam gab, damit das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde, die ein kluger Anwalt, der mein Schüler war, eingereicht hat - ({9})
- Jetzt kommt es heraus. Da können Sie einmal sehen,
aus welchem Hause ich und meine Mitarbeiter stammen.
Aber jetzt lassen wir das einmal beiseite.
Das ist der Ausgangspunkt. Aber das, was Sie populistisch mit Ihrem Antrag daraus gemacht haben, geht
weit über das Ziel hinaus. Es ist in meinen Augen - das
trifft auch auf andere zu, die sich dazu geäußert haben geradezu absurd, die Anstiftung herauszunehmen. Welches rechtsstaatliche Verständnis haben Sie eigentlich,
({10})
wenn der Journalist, der den Geheimnisträger zum Geheimnisverrat anstiftet, in Zukunft straflos bleiben soll,
weil das nach Ihrer Meinung keine rechtswidrige Tat ist?
Da stellen Sie unser ganzes Rechtssystem - jedenfalls
das Strafrechtssystem - auf den Kopf. Sie hätten lieber
noch ein paar Minuten länger nachdenken sollen, bevor
Sie das vorschnell in eine Richtung lenken, die unser
materielles Strafrecht auf den Kopf stellt.
({11})
Dasselbe gilt im Grunde genommen für die Beihilfe.
Ich kann wirklich nicht ernsthaft erkennen, warum Journalisten ein Privileg haben sollen, das andere Menschen,
die durchaus wegen Anstiftung und Beihilfe bestraft
werden sollen, nicht haben. Wenn sie sich korrekt verhalten, dann haben sie an dieser Stelle nichts zu befürchten.
({12})
Ein solches Privileg wäre absurd.
Sie wollen den § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches
streichen, weil er angeblich keine praktische Relevanz
hat. Nach diesem Kriterium könnte man noch ganz andere Strafnormen abschaffen.
({13})
Wir lassen aus guten Gründen alles so, wie es ist. Journalisten haben kein Recht darauf, besonders privilegiert
zu sein. Sie hingegen wollen an dieser Stelle eine Neuregelung.
Ich lasse mit mir darüber reden - wir werden sehen,
wie die Diskussion läuft -, im Bereich des Verfahrensrechts einige Punkte - ich sage ganz vorsichtig: möglicherweise - zu verändern und zu verbessern. Ich meine
schon, dass nicht nur die Redaktionsräume einen besonderen Schutz genießen, sondern - ich sage wieder ganz
vorsichtig: möglicherweise - auch der Arbeitsplatz zu
Hause.
({14})
Denn immer mehr Menschen arbeiten zu Hause, sie arbeiten unter anderen Bedingungen, als das noch vor Jahren der Fall war. Darüber kann man reden.
In § 98 der Strafprozessordnung wollen Sie ganz neue
Begriffe einführen.
({15})
Sie haben die Begrifflichkeit der Strafprozessordnung
sozusagen beiseite gelegt und erfinden neue Begriffe.
Das ist an dieser Stelle nicht hilfreich.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Staatsanwälte
darauf hingewiesen werden, dass sie präzise Anträge zu
stellen haben, wenn es um Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen geht. Das sollten sie eigentlich nach dem zweiten Staatsexamen gelernt haben.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Dass das nicht immer der
Fall ist, kennen wir auch aus anderen Gebieten. Wie Abgeordnete bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen fehlbar sind, so können auch Richter und Staatsanwälte fehlbar sein. Aber ich halte es nicht für richtig, übertrieben
zu reagieren. Wir werden mit dem Telekommunikationsüberwachungsgesetz eine Neuregelung auf den Weg
bringen und gemeinsam darüber diskutieren: Ich finde es
richtig, was Frau Leutheusser-Schnarrenberger an dieser
Stelle dazu gesagt hat.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende
kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen.
({0})
Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass Sie mich so
lange haben reden lassen. Mit dem Kollegen Montag
werde ich außerhalb dieser Debatte sprechen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Siegfried Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben heute in den Reden viel über Pressefreiheit
gehört. Das ist auch gut so. Denn Pressefreiheit gehört
zu einem demokratischen Staat und ist zu Recht grundrechtlich geschützt.
Wir haben aber, so glaube ich, zu wenig über innere
Sicherheit gesprochen. Denn die Pressefreiheit steht in
einem natürlichen Spannungsverhältnis zur inneren
Sicherheit. Nicht nur die Presse braucht Informationen
und geschützte Informanten, auch die Ermittlungsbehörden brauchen Informationen und geschützte Informanten. Wer sich für dieses Spannungsverhältnis im Detail
interessiert, dem kann ich nur das Nachlesen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band,
Seite 299 ff. empfehlen, in der es um die Frage der Erhebung von Telekommunikationsdaten gegangen ist.
In diesem Fall wurde ein Terrorist gesucht, dem drei
Morde zur Last gelegt wurden und der irgendwo in Europa abgetaucht war. Durch die Erhebung der Telekommunikationsdaten bei einer „Stern“-Reporterin ist es gelungen, den Aufenthaltsort dieses Terroristen ausfindig
und ihn dingfest zu machen. Weil er sich für die Kronzeugenregelung entschieden hat, wurde er nicht zu einer
lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der von mir bereits zitierten Entscheidung die Erhebung von Telekommunikationsdaten für verfassungsrechtlich unbedenklich
angesehen.
({0})
Darüber müssen wir auch einmal reden. Sowohl in dieser Entscheidung als auch in der „Cicero“-Entscheidung
wurde verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, dass im
Bereich der Telekommunikationsüberwachung und im
Bereich der Pressefreiheit irgendetwas geändert werden
müsse.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es ist ja
nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit befassen.
({1})
- Entschuldigung, ich meine die Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Aber auch die andere Variante stimmt. - Es ist, wie gesagt, nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit
befassen. Im Jahr 2001 - da war Rot-Grün an der Regierung - gab es einen Regierungsentwurf, in dem sehr behutsam vorgegangen wurde. Er nannte sich nämlich:
„Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung“. Dahinter war das Anliegen der Pressefreiheit
versteckt.
({3})
Siegfried Kauder ({4})
Dem Kollegen Montag kann ich dies nicht vorhalten,
weil er damals noch nicht im Bundestag saß, aber anderen Abgeordneten vom Bündnis 90/Die Grünen.
Ich kann Ihnen sagen, was in diesem Gesetzentwurf
zugunsten der Pressefreiheit gemacht worden ist. Man
hat § 53 der Strafprozessordnung, also das Zeugnisverweigerungsrecht, im sachlichen Bereich etwas geöffnet.
Man hat in § 97 Abs. 5 der Strafprozessordnung, wo es
um die Beschlagnahme und Durchsuchung geht, auf
Art. 5 des Grundgesetzes und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hingewiesen. Und, Herr Kollege Montag,
mehr war nicht.
({5})
Dieser Gesetzentwurf, der auch angenommen wurde,
war seriös.
Nun kam aus aktuellem Anlass das Bündnis 90/Die
Grünen auf einmal auf die Idee, das Thema Pressefreiheit populistisch auszuschlachten. Am 12. September
2005 fand die Durchsuchung der Redaktionsräume
von „Cicero“ statt. Im Oktober des Jahres 2005 gab es
einen Aufschrei in vielen Pressepublikationen, und wenige Monate später präsentierte Bündnis 90/Die Grünen
einen Gesetzentwurf, in dem exakt auf dieses Vorgehen
gegen „Cicero“ Bezug genommen worden ist.
({6})
„Cicero“ war also Anlass für eine Gesetzesänderung, die
man im Jahre 2001 so nicht für notwendig gehalten
hatte, obwohl sich die Sach- und Rechtslage überhaupt
nicht geändert hat.
Nun hätte ich eigentlich erwartet, dass Kollege
Montag hier seinen ach so guten Gesetzentwurf präsentiert. Denkste wohl! Davon war nicht die Rede. Stattdessen ergeht er sich in Zitaten, die er mir noch belegen
muss und die so nicht stimmen; denn Kollege Montag
glaubt, mir vorhalten zu müssen, ich hätte in der ersten
Lesung des Gesetzentwurfs vom Bündnis 90/Die Grünen erklärt, die Grünen würden Kriminelle unterstützen.
Zeigen Sie mir, wo ich das gesagt habe! Für den Fall,
dass Sie das nicht können, erwarte ich von Ihnen, dass
Sie sich für diese unwahre Behauptung angemessen entschuldigen.
({7})
Bündnis 90/Die Grünen glaubt, populistisch einen
Diener vor der Presse machen zu müssen, indem man
meint, das materielle Recht auf den Kopf stellen zu können: ein Sonderrecht für Journalisten zu schaffen, indem
man die Beihilfe und die Handlung der Anstiftung
zum Geheimnisverrat von Journalisten straffrei ausgestalten will.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Bündnis 90/Die
Grünen spätestens nach der „Cicero“-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts den Gesetzentwurf wieder
einrollt oder zurückzieht; denn in der „Cicero“-Entscheidung wurde selbst in diesem Fall gesagt, dass es nicht
um das Problem gegangen ist, dass die Ermittlungsbehörden das Abwägungsgebot nicht beachtet hätten. Die
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung besagt, dass
das Recht in Ordnung ist, das Recht aber deshalb nicht
ordnungsgemäß angewendet worden ist, weil keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Haupttat gegeben waren. Drei Beispiele wurden genannt: Es kann ja sein,
dass eine Information versehentlich an die Presse
gekommen ist, dass ein Nichtgeheimnisträger die Information weitergegeben hat oder dass es nur um eine Hintergrundinformation ging, sodass kein Veröffentlichungswille vorlag. Die Argumente, die Bündnis 90/Die
Grünen für diesen Gesetzentwurf ins Felde führt, stechen also nicht.
({8})
Wie populistisch dieser Gesetzentwurf gestrickt ist,
zeigt der Umstand - das habe ich dem Kollegen Montag
im Rechtsausschuss vorgehalten -, dass man auch
§ 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches abschaffen will.
Diese Vorschrift verbietet, dass ein Nebenkläger den
Haftbefehl, der gegen den Beschuldigten ergangen ist,
im Internet veröffentlicht.
({9})
Das ist eine Schutzvorschrift für Beschuldigte. Ist es
nicht das Bündnis 90/Die Grünen, das sich immer zum
Vorreiter der Schutzvorschriften für Beschuldigte aufspielt? In diesem Fall aber wirft man auf einmal alles
über den Haufen. Die materiell-rechtliche Lösung ist sicherlich nicht der richtige Ansatzpunkt. Der richtige Ansatzpunkt wäre allenfalls, sich Gedanken zu machen, wie
man im Prozessrecht etwas ändern kann.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was die
Telekommunikationsüberwachung anbelangt, der Hinweis: Auch das ist in trockenen Tüchern und verfassungsrechtlich ordnungsgemäß ausgestaltet. Das ergibt
sich sehr schön aus der bereits zitierten Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band, Seite 299 ff.
({10})
Über eines wird man sich unterhalten müssen: über
die Beschlagnahme von Zufallsfunden bei Journalisten. Bezeichnenderweise war all das, was man im Fall
„Cicero“ gefunden hat, ein Zufallsfund.
Ich kann dem Kollegen Stünker nur beipflichten: Wir
sind auf einem richtigen Weg. Sie werden den Entwurf
eines Gesetzes zur Telekommunikationsüberwachung
sehen. Lenken Sie Ihr Augenmerk besonders auf § 53 b
der Strafprozessordnung.
Da wird es eine Regelung geben, die die Erhebung
von Zufallsfunden bei Journalisten deutlich erschweren
wird. Das, was Kollege Stünker in der ersten Lesung
versprochen hat, werden wir in einem gemeinsamen Entwurf umsetzen.
({11})
Siegfried Kauder ({12})
Populistisch gestrickte Gesetzentwürfe werden wir allerdings nicht unterstützen. Deswegen kann man den
Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen nur ablehnen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum
Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf-
und Strafprozessrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5283,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/576 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von FDP und
Linkspartei gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b so-
wie Zusatzpunkt 6 auf:
6 Entwicklungspolitische Afrikadebatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig
Fischer ({0}), Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele
Groneberg, Dr. Sascha Raabe, Dr. Bärbel Kofler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine intensive wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem
afrikanischen Kontinent auf Augenhöhe
- Drucksache 16/5257 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia
auf den Prüfstand stellen
- Drucksachen 16/965, 16/2363 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({3})
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Strategien für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika erarbeiten
und durchsetzen
- Drucksache 16/5243 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika ist in Bewegung. Wir können helfen, Gutes zu bewirken. Die Menschen in Afrika wollen ihr eigenes
Schicksal selbst voranbringen. Wir waren in den letzten
Tagen zusammen mit einer Delegation der Parlamentarier in der Demokratischen Republik Kongo. Dort gibt
es - Sie wissen das - seit letztem Jahr eine gewählte Regierung. Wir, Deutschland, haben mitgeholfen, dass die
Wahlen dort stattfinden konnten und dass heute eine
Regierung existiert. Wir haben dazu beigetragen, die
Wahlen zu sichern. Alle Menschen, die uns im Kongo
begegnet sind, haben gesagt: Wir danken Ihnen, den
Deutschen, wir danken der EUFOR und auch der Bundeswehr, dass sie diesen Einsatz geleistet haben. Sonst
wäre der Kongo heute wieder im Bürgerkrieg.
({0})
Aber der Kongo ist längst nicht über den Berg. Die
Menschen müssen in ihren positiven und zukunftsweisenden Anstrengungen unterstützt werden. Das ist einer
der Gründe, warum wir als Zeichen einer Dividende des
Friedens einen Friedensfonds für die Demokratische
Republik Kongo in Höhe von rund 50 Millionen Euro
für mehrjährige Maßnahmen in Aussicht gestellt haben.
Wir wollen dazu beizutragen, dass junge Menschen unmittelbar Beschäftigung finden, dass die Infrastruktur
wiederhergestellt wird und dass damit auch die Wirtschaft und die demokratische Entwicklung vorankommen. Das ist eine Hilfe zur Selbsthilfe, die - wie wir hoffen - dazu beitragen wird, dass der Kongo über den Berg
kommen kann.
Es geht für die Menschen auf dem ganzen Kontinent
um sichtbare Erfolge. Es geht um politischen, ökonomischen und sozialen Fortschritt. Herzstück der politischen
Bewegung Afrikas ist zum einen NEPAD, die Partnerschaft der Reformstaaten, und zum anderen die Afrikanische Union. Sie ist der entscheidende Ansatz, die entscheidende Institution, die politische Lösungen auf dem
Kontinent voranbringt.
Wir haben auf der Reise deutliche Beispiele der neuen
politischen Selbstständigkeit erlebt. Dazu zähle ich übrigens auch, dass das Vorgehen Chinas keineswegs unkritisiert hingenommen wird - das ist ein gutes Zeichen für
die afrikanischen Staaten - und dass der Dialog zwischen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft als
notwendig betrachtet wird.
Gleichzeitig geht es um ökonomische Fortschritte.
Weil das immer wieder hinterfragt wird, will ich an dieser Stelle sagen: Wir halten die Zusage, die Mittel für die
Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika bis zum Jahr
2010 zu verdoppeln, ein. Das gilt gleichfalls für den in
Gleneagles beschlossenen Schuldenerlass.
({1})
Das sind wir den Menschen in den afrikanischen Ländern und unserer eigenen Glaubwürdigkeit schuldig.
Natürlich geht es aber auch darum, dass die Ressourcen der Partnerländer gestärkt werden. In diesem Zusammenhang will ich die Demokratische Republik
Kongo nennen. Die Steuern, die dort erwirtschaftet werden, gehören den Menschen in den betroffenen Ländern
und sollten nicht als Finanzpaket auf Nummernkonten
im Ausland aufbewahrt werden.
({2})
Deshalb müssen wir alles tun, damit die Einnahmen, die
mit der Rohstofferzeugung erwirtschaftet werden, tatsächlich in den Landeshaushalt, zum Beispiel des
Kongo, fließen und für den Wiederaufbau eingesetzt
werden können.
Ich will daran erinnern, dass die potenziellen Steuereinnahmen im Kongo allein im Rohstoffsektor
400 Millionen US-Dollar jährlich betragen, bisher aber
noch nicht einmal ein Zehntel dieser Summe tatsächlich
in den Haushalt einfließt. Wir haben uns vorgenommen,
auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm dazu beizutragen,
dass die Transparenzinitiativen im Bereich Rohstofferzeugung von allen G-8-Ländern unterstützt werden, und
zwar sowohl finanziell als auch politisch. Das ist ein aktiver Beitrag zur Förderung der Transparenz der
Finanzströme.
({3})
Es geht aber auch darum, das System der Mikrokredite voranzubringen. Die Kollegen, die mit in Afrika
waren, werden dieses Thema bestimmt aufgreifen. In
Kinshasa haben wir mit dem Team der Pro-Credit-Bank
gesprochen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat mit 1,4 Millionen Euro - das ist, verglichen mit
der Gesamtsumme, ein sehr geringer Anteil - dazu beigetragen, dass diese Bank zur größten Bank im Kongo
wurde. Diese Bank führt mittlerweile 22 000 Sparkonten
und hat seit 2005 3 000 neue Kleinkreditkunden. Dahinter stehen Tausende von Existenzen, Menschen, die eine
Zukunft haben. Wir haben dazu beigetragen, diese Hilfe
zur Selbsthilfe in Gang zu setzen. Das ist wunderbar.
Wir wünschen den Menschen den Erfolg, den sie verdient haben.
({4})
- Und das in anderthalb Jahren. Danke, Herr Fischer. Auf dem G-8-Gipfel wollen wir diesen Weg mit einer
zusätzlichen Initiative zur Stärkung der Mikrofinanzinstitutionen in Afrika fortsetzen.
Es geht aber auch um soziale Fortschritte. Wir sollten
die Erfolge nicht kleinmachen, sondern klarmachen. Ich
will an dieser Stelle noch einmal daran erinnern: Aufgrund des Schuldenerlasses, der im Jahr 1999 für die
ärmsten Entwicklungsländer beschlossen worden ist, gehen heute 20 Millionen Kinder zusätzlich in die Schule.
Das sind 20 Millionen Perspektiven, Hoffnungen und
Chancen mehr. Das ist ein wunderbares Ergebnis. Diese
Menschen haben nun Hoffnung und eine Zukunftsperspektive.
({5})
Wir haben uns vorgenommen, auf dem G-8-Gipfel
diesmal die Entwicklung der Gesundheitssysteme in den
Mittelpunkt zu rücken, insbesondere zusätzliche Finanzmittel für HIV/Aids vorzusehen.
Zum Schluss: Es gibt viele Vorurteile über Afrika, die
überhaupt nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit zu tun
haben. Für Afrikas Zukunft stehen nicht Diktatoren,
auch nicht Diktatoren im Endstadium, sondern viele kreative Menschen und Persönlichkeiten wie Desmond
Tutu, Nelson Mandela und Kofi Annan sowie eine neue
Generation von Politikerinnen und Politikern wie der
ghanaische Präsident Kufuor oder die liberianische Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf oder Donald Kaberuka,
Chef der Afrikanischen Entwicklungsbank.
Das Afrika der Vergangenheit hat Kolonialismus und
den Kalten Krieg erlitten. Das Afrika der Zukunft steht
für globale Partnerschaft. Wir wollen dazu beitragen,
dass diese Partnerschaft geschlossen wird. Ich möchte
auch da mit Kofi Annan enden, der, als er hier in Berlin
der Kanzlerin die Bewertungen der Umsetzung der Ziele
von Gleneagles übergeben hat, gesagt hat:
Ich glaube, dass Krieg in Europa heute undenkbar
ist, und das, obwohl dies ein Kontinent ist, der zwei
Weltkriege gesehen hat. Ich hoffe, dass meine Kinder oder ihre Enkelkinder morgen sagen werden,
dass Krieg in Afrika undenkbar ist.
Ich denke, wir sollten gemeinsam in diese Richtung arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika steht
derzeit tatsächlich sehr hoch im Kurs, die Präsenz von
Afrikathemen ist beachtlich: In Talkshows wird über
Afrika debattiert - da geht es um Malaria -, in den Printmedien werden ganze Serien zu Afrika gebracht, und
auch im Deutschen Bundestag haben wir in der Vergangenheit verstärkt über Afrika gesprochen.
Heute sprechen wir wieder einmal aus entwicklungspolitischer Sicht über Afrika. Wir messen damit dem
Thema den Stellenwert bei, der ihm zukommt.
({0})
Denn Afrika ist gerade für die deutsche, aber auch für
die europäische Entwicklungspolitik von größter Bedeutung. Das heißt nicht, dass wir andere Entwicklungsländer, in Lateinamerika oder in Südostasien, vergessen.
Aber Afrika ist die größte Herausforderung, und Afrika
liegt nun einmal direkt vor unserer Haustür.
Subsahara-Afrika ist dabei der Teil des Kontinents,
auf den wir unser Augenmerk richten müssen; ich denke,
darüber sind wir uns einig. Die nordafrikanischen Staaten sind größtenteils auf einem ganz guten Weg.
({1})
Viele der 45 Staaten in Subsahara-Afrika sind ebenfalls
auf einem hoffnungsvollen Weg. Doch manche erleben
finstere Zeiten.
Aber, Frau Ministerin, ich gebe Ihnen recht: Afrika
macht Mut, wir haben Anlass zur Hoffnung. Die Zahl
derjenigen, die finstere Zeiten durchleben, wird immer
kleiner. Die Zahl derjenigen, die positive Geschichte machen, ist viel größer als die Zahl der Simbabwes und Sudans. Côte d’Ivoire kann man eigentlich schon nicht
mehr dazuzählen; dort hat man sich ja geeinigt. Die gesamte Region weist Staaten in sehr unterschiedlichen
Stadien der Entwicklung auf. Dem müssen wir Rechnung tragen. Deshalb brauchen wir für jeden Staat eine
maßgeschneiderte deutsche Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Wir Liberale machen mit den heute von uns eingebrachten Anträgen deutlich, dass die deutsche Afrikaentwicklungspolitik von Taten und nicht von Worten geprägt sein sollte, dass wir die neuen reformerischen
Kräfte in Afrika, die sichtbar sind, unterstützen müssen
und dass wir uns in der Diskussion über eine verbesserte
entwicklungspolitische Strategie nicht in der Forderung
nach mehr Geld festfahren dürfen. Mehr Geld ist gut;
aber besser ist es, wenn das verfügbare Geld erst einmal
effizient eingesetzt wird.
({3})
Frau Ministerin, es ist erfreulich, dass Sie in den
Kongo fahren und dort 50 Millionen Euro für einen
Friedensfonds zusagen. Es ist richtig, dass der Kongo
dieses Geld dringend braucht, und 50 Millionen Euro
sind auch kein Pappenstiel. Aber noch besser wäre es gewesen, wenn direkt oder sehr bald nach der Wahl im
Kongo, die, von EUFOR unterstützt, erfolgreich durchgeführt worden ist, Konzepte für eine EZ verfügbar gewesen wären.
({4})
Denn wir glauben, dass, bevor dieses Geld fließen kann,
im Kongo die zuverlässigen Strukturen entstehen müssen, die nötig sind, damit es sinnvoll verwendet werden
kann. Das sehe ich im Kongo derzeit noch nicht.
({5})
Es ist nach unserer Auffassung wenig förderlich,
wenn wir unser Geld per Budgethilfe weiter in korrupte
Strukturen hineinbuttern. Frau Ministerin, Sie haben das
heute auch angesprochen. Ich denke, wir müssen das
noch viel häufiger und viel deutlicher ansprechen. Das
Wort „versickern“ ist mittlerweile zu einem halbwegs
politisch korrekten Terminus technicus für das Abhandenkommen, für das „Verdunsten“, für das Verschwinden von Geld geworden. Frau Kollegin Koczy hat uns
nach ihrer Rückkehr aus dem Tschad berichtet, dass dort
mal eben 500 Millionen Euro versickert sind. Das sind
erhebliche Summen, die für die Entwicklung von Afrika
gebraucht werden. Sie dürfen nicht auf irgendwelchen
Nummernkonten in anderen Ländern verschwinden. Das
müssen wir langsam wirklich entschieden angehen.
({6})
Die Entwicklungszusammenarbeit muss als Instrument zur Durchsetzung von guter Regierungsführung effektiver genutzt werden. Good Governance darf nicht
zu einem Schlagwort verkommen, sondern Bad Governance muss offen und deutlich angeprangert werden.
Wir tun das heute mit unserem Keniaantrag.
({7})
Er ist mittlerweile zwar nicht mehr ganz aktuell, aber zu
der Zeit, als wir ihn gestellt haben, passierten in Kenia
Dinge, zu denen sich die Bundesregierung nicht so geäußert hat, wie wir uns das gewünscht hätten.
In Fällen unzuverlässiger Regierungsführung macht
das Instrument der Budgethilfe keinen Sinn. Wir müssen
uns genau überlegen und wir müssen genau hinschauen,
in welchen Ländern - bei welcher Regierung - wir eine
Budgethilfe leisten können. Das müssen zuverlässige
und verantwortungsvolle Regierungen sein, und das darf
nicht einfach nach dem Motto geschehen: Die Budgethilfe mit der Gießkanne einfach drübergießen. Das wollen wir nicht.
({8})
Leider wird die Budgethilfe in der bilateralen deutschen und auch in der europäischen Zusammenarbeit zunehmend ausgeweitet. Ich befürchte, dass die Steigerung
der ODA-Quoten bis 2015 dazu führen wird, dass sie so
weit aufgeblasen wird, dass es den Ländern in Afrika
nicht mehr gut tut. Wie ich gerade gesagt habe, kann die
Budgethilfe nur in Ländern mit verantwortlichen Eliten
eingesetzt werden. Diese gibt es mehr und mehr. Wir
müssen sie aber genau aussuchen und von Hand verlesen.
Dabei muss sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und ärmsten Länder konzentrieren. Schwellenländer wie China, Brasilien, Mexiko und Südafrika müssen früher oder später aus der
Entwicklungszusammenarbeit herausfallen. China müsste
im Prinzip sofort herausfallen, weil es selbst Entwicklungshilfe leistet. Wir haben das schon oft genug gesagt.
Lassen Sie uns das Geld also lieber woanders sinnvoller
verwenden.
({9})
Es gibt in Afrika wahrlich Länder, die dieses Geld dringlicher brauchen.
Wir brauchen dann natürlich auch Anschlusskonzepte für die Länder, die irgendwann aus der Entwicklungszusammenarbeit herausfallen. Wir haben das gerade gesehen: Die Republik Kap Verde hat tolle
Entwicklungsfortschritte gemacht. Auf einmal hörte die
deutsche EZ auf. Das wünschen wir uns auch nicht. Wir
müssen dann Anschlusskonzepte für die Außenwirtschaft haben. Hier sind die Außenwirtschaftler gefragt.
Wir werden heute im weiteren Verlauf der Tagesordnung noch über das Thema Ressourcen sprechen. Das
werde ich dann zu diesem Zeitpunkt ansprechen.
Ich danke Ihnen jetzt für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
G-8-Gipfel in Heiligendamm rückt in greifbare Nähe.
Überall werden fieberhaft Entscheidungen vorbereitet
und wird um Dokumente gerungen.
Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen wollen natürlich auch wir den Gang der Dinge ein
bisschen beeinflussen. Dies wollen wir auch bei einem
Thema, das für uns ein besonderer Schwerpunkt ist,
nämlich der Politik gegenüber Afrika. Wir beide, die Afrikaner und die Europäer, brauchen diesen Erfolg; denn
die Entwicklung in Afrika - das wurde schon gesagt hat Licht und Schatten. Gott sei Dank gibt es immer
mehr Hoffnungsträger, nämlich nicht nur Südafrika,
Ghana und Mosambik, sondern es gibt auch neue Hoffnung im Kongo, in Liberia und anderswo.
16 Länder in Afrika hatten während der letzten zehn
Jahre stabile Wachstumsraten von über 4,5 Prozent.
Auch im Gesundheitsbereich, im Bildungsbereich sowie
im Bereich der Demokratie und anderswo gibt es, wie
schon erwähnt, große Fortschritte. Wir müssen aber natürlich auch sehen, dass 50 Prozent der Afrikaner nach
wie vor in absoluter Armut leben und dass Afrika eine
Region ist, in der die Armut in den letzten zwei Dekaden
zugenommen hat. Auch die fortschreitende Islamisierung macht uns Sorge.
Daneben müssen wir eine groteske Fehlentwicklung
im Bereich der Wirtschaft erkennen. Trotz Rohstoffhausse, trotz Rohstoffgewinnung auf Rekordhöhe, hat der
Anteil Afrikas am Welthandel abgenommen. Er ist auf
unter 2 Prozent gesunken. Auch die privaten Investoren
- von einigen Ausnahmen abgesehen - machen nach wie
vor einen großen Bogen um Afrika.
Natürlich ist es für uns Europäer wichtig - das hat
sich in den letzten Jahren herausgestellt -, zu erkennen,
dass der Erfolg oder Misserfolg der Entwicklung Afrikas
auch ökonomische, ökologische und sicherheitspolitische Auswirkungen auf uns hat.
Wir haben selbst - das müssen wir auch nach außen
betonen - ein vitales Interesse an der Stabilisierung des
Kontinents. Wir haben Interesse an einer ausgewogenen
Entwicklung zugunsten der breiten Bevölkerung in
Afrika. Wir haben ein Interesse daran, fundamentalistische und radikalistische Strömungen in Afrika zu dämpfen und dass die Menschen in Afrika auch in ihren Heimatländern eine Perspektive finden.
Deswegen ist es wichtig, dass wir nach all den vorangegangenen G-8-Gipfeln mit vielen Papieren und Erklärungen in Heiligendamm einen entscheidenden Schritt
vorankommen werden. Das heißt für mich vor allem,
dass die Frage im Mittelpunkt steht, wie wir die Selbsthilfekräfte der Afrikaner zur Lösung ihrer Probleme
stärken können, statt sie zu blockieren. Es ist in unserem
ureigenen Interesse, dass die Handelspolitik, die wir als
Europäer gegenüber Afrika betreiben, nicht dazu führt,
dass zarte Pflänzchen afrikanischer Märkte und Produktion abgewürgt werden.
({0})
Wir haben auch ein ureigenes Interesse daran, eine internationale und europäische Entwicklungspolitik zu be9884
treiben, die - auch mit Blick auf die Hilfe zur Selbsthilfe koordinierter, gezielter und effizienter wird. Wir sollten
in unserer Politik von der Fata Morgana Abstand nehmen, man könnte Afrika von außen sozusagen schlüsselfertig aufbereiten.
({1})
Wir sollten vielmehr versuchen, die afrikanischen Kapazitäten für Problemlösungen zu stärken. Dazu gehört
neben Bildung und Ausbildung, Wissenschaftstransfer
und ländlicher Entwicklung, dass wir - das haben wir
neulich in einem Hearing der Konrad-Adenauer-Stiftung
gelernt - als Parlamentarier die demokratischen Parteien
und die Demokratien in Afrika und auch die Zivilgesellschaft stärken.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Gabriele Groneberg [SPD]
Das bedeutet auch Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau
von Sicherheitsstrukturen. Darauf wird Hartwig
Fischer noch eingehen. Dazu gehört für mich auch, worauf Sie, Frau Ministerin, schon hingewiesen haben, nämlich dass man bei der Demobilisierung nach Beendigung
von Konflikten und Unruhen sehr schnell und auch unbürokratisch auf Instrumentarien zurückgreifen kann,
um den Kindersoldaten und den Armeeangehörigen die
Chance zu geben, sich wieder in ein normales Privatleben einzugliedern.
Dazu gehört auch - das wurde ebenfalls bereits angesprochen -, dass die großartigen Reichtümer Afrikas
professioneller erschlossen und zum Wohle der eigenen
Entwicklung der Länder Afrikas verwandt werden.
({2})
Von dem G-8-Gipfel muss auch ein Signal von unserer
Seite als wichtigste und reiche Rohstoffbezieher ausgesandt werden, dass auch wir viel stärker als bisher dazu
beitragen werden, dass die Reichtümer Afrikas nicht in
Wildwestmanier und auch nicht zum Schaden einer gesunden Entwicklung Afrikas ausgebeutet werden.
China wurde bereits angesprochen. Es muss auch ein
Signal an China ausgehen, dass mit neuer Macht auch
neue Verantwortung verbunden ist und dass mit dem
massiven Auftreten Chinas in anderen Kontinenten eine
größere Verantwortung für die friedliche Entwicklung
dieser Länder verbunden ist. Das müssen wir von der
Volksrepublik China einfordern.
({3})
Spiegelbildlich zu unserer Verantwortung gibt es auch
eine Verantwortung der Afrikaner. In unserem Antrag ist
von einer Partnerschaft auf Augenhöhe die Rede. Der
Schlüssel für die Entwicklung Afrikas liegt vor allem in
den Händen der Afrikaner selbst. Aus dieser Verantwortung können wir niemanden in Afrika entlassen. Das
heißt auch, dass es eine zutiefst afrikanische Aufgabe ist,
afrikanische Diktaturen und Massenmörder zu ächten.
({4})
Es ist auch eine zutiefst afrikanische Aufgabe, mit den
eigenen natürlichen Reichtümern nicht die eigenen Taschen zu füllen, sondern sie für die eigene Bevölkerung
und deren Entwicklung zu nutzen. Das heißt, dass der
Aufbau von Rechts- und Investitionssicherheit, einer
funktionierenden Verwaltung und regionaler Märkte sowie von Sozialsystemen eine zutiefst afrikanische Aufgabe ist. Hier müssen die Weichen von afrikanischen Politikern gestellt werden. Partnerschaft auf Augenhöhe
bedeutet nicht nur, dass wir unsere Hausaufgaben machen, sondern auch, dass wir von unseren afrikanischen
Partnern einfordern müssen, ihre Hausaufgaben zu erledigen.
Das ist eine große Aufgabe für den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Hier müssen wir einen Schritt vorankommen. Wir Entwicklungspolitiker haben unsere Hausaufgaben zumindest mit dem fraktionsübergreifenden
Antrag erfüllt. Wir hoffen, dass man auf dem Gipfel in
Heiligendamm zu einem guten Ergebnis für Afrika
kommt.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst
eine Anmerkung zu der gegenwärtigen Situation bezüglich der Kriminalisierung der G-8-Gegner, die in Heiligendamm demonstrieren wollen: Wir lehnen diese Kriminalisierung mit aller Schärfe ab.
({0})
Wir erwarten von allen anderen Fraktionen, sich diesbezüglich zu positionieren.
Wir leben in einer Welt der Extreme. Die 1 000
reichsten Menschen der Welt verfügen über 3 500 Milliarden Dollar. Die Hälfte davon reichte aus, um alle
Schulden der Entwicklungsländer zu tilgen. Auf der anderen Seite gibt es extreme Armut. In Afrika haben
40 Prozent der Menschen - darauf wurde bereits hingewiesen - weniger als 1 Dollar am Tag zum Leben zur
Verfügung. Die Zahl der Hungernden dort ist in den letzten Jahren auf über 200 Millionen gestiegen und steigt
weiter an. Sie von der Regierung finden sich damit ab.
Deshalb demonstrieren auch wir in Heiligendamm gegen
diese Politik.
({1})
Zugegeben, die Entwicklungszusammenarbeit in
Deutschland will dieses Elend beseitigen. Aber die Regierung tut es nur halbherzig. Alle Bemühungen werden
durch die Außenwirtschaftspolitik der EU und der USA,
aber auch Chinas systematisch hintertrieben. Nehmen
wir als Beispiel die Fischerei. Mit Millionenbeträgen
hat die EU-Kommission umfangreiche Fanglizenzen vor
Westafrika erworben. Die Folge ist: Heute stehen dort
70 Prozent der Fischbestände vor dem Kollaps. Die arHüseyin-Kenan Aydin
men Fischer in Senegal stehen vor dem Aus; denn die
schwimmenden Fabriken aus Europa und China lassen
kaum noch etwas für sie übrig. Ich sage: Die deutsche
Politik hat Mitschuld, dass die Menschen Westafrikas
hungern müssen.
({2})
Die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit
bleiben stumpf, wenn der IWF Konzerninteressen durchdrückt. So wurden vor Jahren den Tomatenbauern in
Senegal Traktoren, finanziert mit Entwicklungsgeldern,
geschenkt, was schön war. Doch 2001 erzwang der IWF
die Privatisierung der Tomatenverarbeitung in Senegal.
Damit beseitigte er die Abnahmegarantie, die die staatliche Verarbeitungsindustrie den einheimischen Gemüsebauern gewährte. Der IWF erzwang auch die Absenkung
der Agrarzölle. Damit machte er den Weg für subventioniertes Tomatenmark aus Italien und China frei. Welcher
Irrsinn! So werden die Gemüsebauern des Senegals ruiniert.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beschleunigt
solche verheerenden Entwicklungen noch. Kernstück ihrer Afrikapolitik ist der Abschluss sogenannter Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die ab 2008 eine weitere Marktöffnung in den armen Ländern vorsehen. Die
Folgen werden mehr Arbeitslosigkeit und mehr Hunger
sein und nicht weniger. Ist das das Zusammenspiel von
Entwicklungs- und Außenwirtschaftspolitik, von der die
Bundesregierung immer spricht? Das ist es nicht. Die europäischen Wirtschaftsminister hauen den afrikanischen
Bauern die Beine weg. Hinterher verteilen die Entwicklungsminister großzügig Almosen. Das reicht nicht.
({3})
Die Entwicklungspolitik in Deutschland und in Europa hat keinen Einfluss auf die Handelsvereinbarungen.
Wir fordern, dass die Entwicklungspolitik die Ursachen
der Armut bekämpft. Sie muss nachhaltig helfen, Armut
zu vermeiden.
Die Linke will die konsequente Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit auf folgende Kernbereiche.
Erstens: Hungerbekämpfung und Wasserversorgung.
Zweitens: Bildung, Gesundheit und Beschäftigung; Bildung nicht nur im quantitativen Sinn, damit man statistisch 20 Millionen Kinder ausweisen kann, sondern im
qualitativen Sinn.
({4})
Wir wollen drittens Infrastrukturmaßnahmen und Umweltschutz. Tatsächlich gibt es viele gute Projekte, die in
Afrika die fehlende sozialstaatliche Struktur auffangen.
Dazu gehört auch ein Projekt des Entwicklungsministeriums, mit dem Deutschland in Kenia den Aufbau einer
Krankenversicherung unterstützt, die auch für die Armen offen ist.
Leider sind solche Projekte in eine widersprüchliche
Gesamtstrategie eingebettet. Die Bekämpfung der Armut in Afrika ist keineswegs der Schwerpunkt. Stattdessen hält das Ministerium weiterhin am sogenannten Ankerländerkonzept fest.
In diesem Punkt stimme ich mit der FDP überein.
Wir müssen uns überlegen, ob China Mittel in Höhe
von 57 Millionen Euro aus dem Entwicklungstopf bekommen soll. Wenn es außen- und wirtschaftspolitisch
sinnvoll ist, sollte die Finanzierung über das Wirtschaftsministerium, nicht aber aus dem Topf des Entwicklungsministeriums erfolgen.
({5})
Das muss aufhören. Die Gelder müssen auf Länder
konzentriert werden, denen keine ausreichenden eigenen Mittel zur Verfügung stehen. Ohne ausreichende
Mittel ist keine Entwicklung möglich. Statt Tornados
nach Afghanistan zu schicken, geben Sie dieses Geld
für die Bekämpfung der Armut aus, meine Damen und
Herren!
({6})
Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien spiegelt die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Afrikapolitik wider. Sie fordern zwar die Verfolgung europäischer Firmen, die sich durch Bestechung in Afrika
Vorteile verschaffen, aber es bleibt dennoch folgenlos.
Frau Merkel stellt ihren Kampfgeist gegen die Korruption in diesen Tagen mit ihrem lauten Schweigen zur
Affäre Wolfowitz knallhart unter Beweis.
({7})
Zu solch einer Politik der leeren Worte sagen wir
Nein. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen, meine
Damen und Herren.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Thilo Hoppe, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde diese Rede am liebsten mit einem Zwillingsbruder halten und sie in verteilten Rollen vortragen.
Der eine übernimmt die Rolle des Optimisten. Er berichtet von erfreulichem Wirtschaftswachstum im Durchschnitt von 5,5 Prozent in den afrikanischen Ländern,
von beachtlichen Reformanstrengungen und auch von
Erfolgen im NEPAD-Prozess, von den Signalen des Aufbruchs und der Hoffnung.
Der andere Zwillingsbruder übernimmt nicht die
Rolle des Pessimisten, aber die eines doch sehr besorgten und bedrückten Menschen, der auf all das Elend hinweist, das es gerade in Afrika südlich der Sahara nach
wie vor gibt und das in einigen Sektoren sogar noch größer geworden ist. Insbesondere die Zahl der Hungernden
steigt. Man muss sich das vor Augen halten: Ein Drittel
aller Menschen in Afrika, in der Subsahara, sind in bedrohlicher Weise chronisch unterernährt.
Nach so einer doppelten Rede, vorgetragen von Zwillingsbrüdern, könnten wir darüber streiten, wer von beiden nun recht hat oder mehr recht hat. Die Antwort ist
einfach: natürlich beide.
Kontraproduktiv würde es werden, wenn der eine
Bruder auf die Idee käme, dem anderen Bruder den
Mund zu verbieten, wenn wir nur noch auf das Leid der
Aidswaisen, der Bürgerkriegsflüchtlinge, auf fortschreitende Wüstenbildung, auf die Rohstoffplünderung, auf
den Sumpf der Korruption und auf unfähige Regierungen hinweisen würden. Dann würden sich die Menschen
hier in Deutschland mit Grausen abwenden und sagen,
das ist ein verlorener Kontinent, man raubt den Menschen in Afrika die Würde, man degradiert sie zu reinen
Almosenempfängern. Aber auch die andere Einseitigkeit, mit der die wirtschaftlichen Erfolge, die Signale des
Aufbruchs überbetont werden, ist unmenschlich, weil sie
die Vergessenen, die Opfer ignoriert oder gar verhöhnt.
Sowohl auf Wirtschaftskongressen als auch auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und -konzerten kann man die
eine oder andere Einseitigkeit erleben.
Unser Antrag ist von beiden Zwillingsbrüdern geschrieben worden. Wir würdigen die Stärken, wir würdigen die Reformbemühungen, aber wir decken auch schonungslos die Missstände auf.
({0})
Beides macht auch die Koalition in ihrem Antrag,
aber es fehlt die Selbstkritik bei der Frage nach den
Ursachen der Missstände. Es werden vor allem die
Fehler benannt, die die afrikanischen Regierungen selber
produzieren. Die Folgen der Kolonialgeschichte, die verheerenden Zwangstherapien des IWF, ein gescheiterter
Liberalisierungskurs, illegitime Schulden oder schädliche Megaprojekte werden ausgeblendet. Lediglich die
negativen Auswirkungen der Agrarexportsubventionen
werden etwas kleinlaut zugegeben.
({1})
Da könnte man sehr viel drastischer argumentieren.
Gerade die Afrikapolitik der Europäischen Union ist
nach wie vor von großen Widersprüchen geprägt. Was
die eine Hand aufbaut, zerstört die andere Hand.
({2})
Wir haben das Beispiel der Tomaten aus dem Senegal
gehört. Ich hätte noch ein Beispiel aus Ghana. Dort hat
man einerseits den Anbau von Tomaten mithilfe der Entwicklungszusammenarbeit erfolgreich gefördert, andererseits ist aber alles wieder durch immense Einfuhren
von hochsubventioniertem Tomatenmark „kaputtgedumpt“ worden. Bei meiner letzten Reise - ich konnte
mit Horst Köhler fahren - haben mir Politiker aus Ghana
bestätigt, dass die Europäische Union indirekt damit gedroht hat, die Entwicklungshilfe einzustellen, sollte
Ghana auf die Idee kommen, den Außenschutz zu erhöhen, um sich gegen diese Dumpingeinfuhren zu wehren.
Das ist wirklich irrsinnig.
({3})
Das ist nur ein Beispiel dafür, dass es, obwohl viele
Probleme in Afrika verursacht werden und wir tatsächlich in vielen Fällen bei der Problemlösung helfen, auch
Sektoren gibt, auf denen die Europäische Union selber
ein Teil des Problems ist.
Wenn ich alle Anträge, die vorliegen und in der Diskussion sind, miteinander vergleiche, dann stelle ich
fest, dass es in der Tat viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber
aufgrund der knappen Redezeit möchte ich jetzt nicht
diese beleuchten, sondern mich auf die Unterschiede
konzentrieren. Gerade wenn ich unseren Antrag mit alten Afrikaanträgen vergleiche, die noch unter der rotgrünen Regierung gestellt wurden, dann stelle ich fest,
dass Bereiche fehlen, für die sich besonders die Grünen
stark eingesetzt haben. Die ökologischen Fragen werden
unterbelichtet, und das große Problem, dass die ländliche
Entwicklung vernachlässigt wurde und noch vernachlässigt wird, besteht nach wie vor. Es werden Strategien beschrieben, die auf die Metropolen zielen, es wird eine
Wirtschaftsstrategie beschrieben, wonach Wirtschaftskerne weiter gestärkt werden sollen, aber die abgehängten Menschen in der Peripherie, in den ländlichen Gegenden kommen nur in wenigen Zeilen vor.
Diese Politik, nämlich die Vernachlässigung der
ländlichen Entwicklung, ist in einer Studie von Oxfam
und der Welthungerhilfe kritisiert worden. In der Studie
wird deutlich gesagt, dass die G-8-Staaten immer mit
vollmundigen Versprechen und mit großen Verlautbarungen daherkommen. Wenn man aber genau rechnet,
dann sind die Leistungen der G-8-Staaten seit Gleneagles sogar um 5 Prozent zurückgegangen. Wenn die Versprechungen, die die Ministerin heute gemacht hat und
die ich unterstütze, wirklich mit Leben erfüllt werden,
dann müssen wir noch einen riesigen Schritt nach vorne
gehen. Ich sehe das aber noch nicht.
({4})
Ich möchte mich nicht in jeder Debatte wiederholen
- das wird irgendwann langweilig -, aber wo sind die innovativen Finanzierungsinstrumente, die schon seit Monaten und Jahren angekündigt werden? Ohne diese Finanzierungsinstrumente werden wir es nicht schaffen,
den Worten Taten folgen zu lassen.
Im Antrag der Linken findet sich berechtigte Kritik an
den wirtschaftlichen Zusammenhängen, aber einen Bereich blenden Sie völlig aus: die sicherheitspolitische Dimension. Sie fordern, dass die Menschenrechte unbedingt eingehalten werden müssen - d’accord -, aber sie
verschließen die Augen davor, dass dies beispielsweise
in Darfur ohne ein robustes Mandat einer UN-Friedenstruppe einfach nicht möglich ist. Ich hoffe, dass Sie diesbezüglich intern noch eine Debatte führen. Ich weiß,
dass es dafür Anzeichen gibt. Ich hoffe, dass Sie in der
Frage, wie der schleichende Völkermord in Darfur eingedämmt werden kann, zu neuen Erkenntnissen kommen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wie gesagt, es liegen viele Anträge vor. Ich glaube,
dass unser Antrag im Vergleich vorne liegt; denn unser
Ansatz ist wirklich kohärent und ganzheitlich. Er zielt
darauf ab, den Menschen in Afrika ein Leben in Würde
zu ermöglichen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Groneberg,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste! Wenn wir im Bundestag über den
afrikanischen Kontinent reden, dann geht es tatsächlich
oft um Krisen, um Kriege, um korrupte Regime, um
Hungersnöte oder um HIV/Aids. Diejenigen, die einen
intensiveren Kontakt zum afrikanischen Kontinent haben, nehmen Afrika aber auch ganz anders wahr. Sie sehen, es gibt dort Staaten mit Regierungen, die sich intensiv um demokratische Strukturen und um die Einhaltung
von Menschenrechten kümmern. Dort gibt es eine mutige Zivilgesellschaft. Es gibt dort Staaten, die auf den
Gebieten Gesundheitsversorgung und Bildung gute Ergebnisse vorweisen können. In der allgemeinen Wahrnehmung Afrikas sind diese Inseln des Fortschritts allerdings nicht zu finden, und das zu Unrecht.
Wir sind uns natürlich bewusst, dass unsere Bemühungen - wie die der anderen wichtigen Geber - zu guten und zu schlechten, das heißt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Entwicklung Afrikas geführt
haben. Insgesamt ist das nicht zufriedenstellend - das ist
richtig -; sonst würden wir hier nicht darüber reden.
Man fragt sich natürlich, warum wir unzufrieden sind.
Die Antworten darauf sind nicht einfach. Es gibt nicht
nur eine schlüssige Antwort, sondern mehrere, ganz differenzierte Antworten. Einige will ich geben. Vor allem
sind die vielen bewaffneten Auseinandersetzungen zu
nennen. Viele positive Ansätze und Entwicklungen in
der Vergangenheit sind durch die verheerenden Konflikte, die irgendwann wieder stattgefunden haben, zerstört worden. Erst seit der jüngsten Vergangenheit sind
wir uns alle - damit meine ich die Afrikaner genauso
wie den Rest der Welt - einig darüber, dass es nötig ist,
in der Bewältigung von Konflikten gemeinsam aktiv zu
werden, und dies mithilfe militärischer Einsätze, um Sicherheit in Konfliktregionen zu organisieren. Die Ministerin hat das Beispiel Kongo gerade genannt.
Die Afrikanische Union - kurz AU - bemüht sich seit
ihrer Gründung im Jahre 2002 aktiv um die Gestaltung
multilateraler Konfliktlösungsmechanismen in Afrika.
Elf afrikanische Staaten haben Ende 2006 zum Beispiel
ein Abkommen über Sicherheit, Stabilität und Entwicklung in der Region der Großen Seen mit einer Laufzeit
von 20 Jahren unterzeichnet. Es ist mittlerweile also gerade einmal fünf Jahre her, dass die AU diesbezüglich
aktiv ist. Wir, Deutschland, und weitere internationale
Geber unterstützen die AU und andere Staaten natürlich
in ihren Bemühungen. Aber auch wir in Europa haben
lange gebraucht, bis wir zu dieser Sicherheit und Stabilität gekommen sind. Wir sollten uns einmal daran erinnern, dass wir Afrika nicht mit unseren Maßstäben messen können.
({0})
In diesem Zusammenhang darf ich Herrn Nooke nach
seinen heutigen Bemerkungen einmal sanft daran erinnern, dass es bis zum Wegfall des Ost-West-Konflikts in
Europa doch eigentlich so gewesen ist, dass wir unsere
Konflikte stellvertretend auf dem afrikanischen
Kontinent ausgetragen haben. Wie viele gegenseitige
Blockaden hat es gegeben, und zwar zum Schaden einer
wirksamen Entwicklungspolitik! Das war manchmal
doch eher eine Entwicklungspolitik des gegenseitigen
Behinderns. Das sollten wir einmal ehrlich zugeben.
Auch das gehört zu einer ehrlichen Analyse. Über das
Stadium des gegenseitigen Behinderns sind wir Gott sei
Dank hinweg.
Selbstkritisch sollten wir feststellen, dass der Bereich
der Agrarpolitik mit ganz vielen eigenen Interessen verbunden ist. Thilo Hoppe, wir werden im Ausschuss noch
intensiv darüber reden.
Offensichtlich hat sich Herr Nooke wenig mit Entwicklungshilfe beschäftigt; sonst wüsste er nämlich,
dass wir unsere Hilfe seit Jahren vor allen Dingen an
guter Regierungsführung ausrichten. Eine gemeinsame internationale Strategie dazu ist eigentlich erst mit
der Millenniumserklärung entwickelt worden. Ich erinnere an die Millenniumsentwicklungsziele, die wir gemeinsam definiert haben. Diese Erklärung und die
MDGs haben eine neue globale Partnerschaft für Entwicklung eingeleitet, und das erst im Jahre 2000. Das ist
gerade einmal sieben Jahre her. Gute Regierungsführung, Good Governance, der Aufbau einer wehrhaften
und mutigen Zivilgesellschaft zur Kontrolle von Regierungen, der Aufbau demokratischer Strukturen sind ganz
wichtige Elemente und Kriterien unserer Entwicklungspolitik.
Zugegebenermaßen gibt es immer wieder Fälle, wo
wir nachbessern müssen, weil wir festgestellt haben,
dass Entwicklungshilfegelder nicht dorthin kommen,
wohin sie gehören. Aber das kann man eben nicht verallgemeinern, Herr Addicks. In diesen Fällen haben wir
entsprechend reagiert bzw. - siehe Kenia - sind wir dabei, zu reagieren. Deshalb ist Ihr Antrag überflüssig geworden. Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass wir in
diesem Zusammenhang auch einmal kritischer auf uns
selbst schauen sollten. Man muss ehrlich zugeben: Be9888
kannte Beispiele zeigen, dass Korruption auch bei uns
vorkommt. Insofern sollten wir uns an die eigene Nase
fassen und mit vernünftigem Maß messen.
({1})
Unabhängig davon leisten wir humanitäre und Nothilfe in Staaten, die sich durch Menschenrechtsverletzungen und Korruption auszeichnen, und das in negativem Sinne. Gerade ein Menschenrechtsbeauftragter
sollte sich überlegen, ob er das bestreiten möchte. Aber
sollte man deshalb tatsächlich darüber nachdenken, gar
keine Hilfe mehr zu leisten? Ich glaube nicht, dass das
im Sinne der Menschenrechte wäre und dass wir uns das
im Namen der Menschlichkeit erlauben könnten.
({2})
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich
seit der Gründung von NEPAD im Jahre 2001 26 afrikanische Staaten verpflichtet haben, im Rahmen des African Peer Review Mechanism die notwendigen Reformen
und die Grundsätze des Good Governance in Afrika
massiv voranzutreiben, und zwar im Erfahrungsaustausch zwischen den afrikanischen Staaten. Nun muss
darauf geachtet werden, dass die gegebenen Zusagen
eingehalten werden. Der eigentliche Fortschritt ist, dass
sich die Afrikaner jetzt dazu bekannt haben, die entsprechenden Maßnahmen durchführen zu wollen.
Sicherlich haben wir in der Vergangenheit einen großen Fehler gemacht: Wir haben versucht, die Probleme
Afrikas nach unserem europäischen Verständnis zu lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Das kann
nur begrenzt funktionieren. In den letzten Jahren wurde
es daher zum zentralen Bestandteil unserer Programme
und unserer Entwicklungshilfe, zum einen die Eigenverantwortlichkeit der afrikanischen Staaten einzufordern
und zum anderen gemeinsam mit ihnen nach Lösungen
zu suchen, die der afrikanischen Kultur gerecht werden
und die Bevölkerung einbeziehen. Nur so kann man
nachhaltige Prozesse einleiten.
Herr Addicks, das gilt auch für den Kongo und die geplante Einrichtung des Fonds. Dieser Fonds wird nicht
über die Regierung organisiert. Wir speisen diesen
Fonds, die KfW baut ihn auf, und die Abwicklung erfolgt über die NGOs im Land. Genau das wollen wir.
Deshalb verstehe ich Ihre Kritik an dem geplanten Fonds
nicht.
({3})
- Es gibt ein Konzept; sonst würden wir diesen Fonds
nicht in Zusammenarbeit mit den NGOs aufbauen. Darüber werden wir im Ausschuss noch intensiv reden.
({4})
Nun komme ich auf die demokratischen Strukturen
und auf die Beteiligung der Bevölkerung zu sprechen.
Freie und fair gewählte Parlamente sind eine wichtige
Grundlage für den Entwicklungsprozess. Das Ziel von
uns Parlamentariern ist, den Austausch mit den dortigen
Parlamenten zu vertiefen und durch Kontakte ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Wir wollen, dass die Parlamente
über die Entwicklungshilfeleistungen und deren Höhe
informiert werden. Sie müssen in die Lage versetzt werden, vor Ort die notwendige Kontrolle ausüben zu können. Wir wollen die Kooperation mit den Parlamenten
auf allen Ebenen, bis hin zur kommunalen Ebene, verbessern.
Meine letzte Bemerkung: Der Bundestag wird prüfen,
ob es möglich ist, ein Parlamentarisches Patenschaftsprogramm für afrikanische Jugendliche einzurichten. Wir
sollten uns darum bemühen. Jugendliche sind unsere Zukunft. Das gilt vor allen Dingen für Afrika. Durch einen
solchen Austausch könnten wir die afrikanische Jugend
gezielt unterstützen. Deutschland hat ein sehr großes Interesse daran, die Kooperation mit Afrika insbesondere
in diesem Bereich fortzusetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Hartwig Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
danke Ihnen, Frau Dr. Merkel und Frau Wieczorek-Zeul,
dafür, dass es Ihnen in den letzten Monaten gelungen ist,
Afrika im Rahmen der EU-Präsidentschaft und der G-8Präsidentschaft Deutschlands in den Mittelpunkt der
Politik zu rücken.
({0})
Es ist selten genug der Fall, dass dieses Thema im Parlament zur Sprache kommt. Ich bedanke mich insbesondere deshalb, weil im Vorfeld der beiden Gipfel offene
Dialoge geführt worden sind - auf Ministerkonferenzen
und in Workshops der Ministerien, der Fraktionen, der
Stiftungen, der Kirchen, aber auch der NGOs. Es hat
also ein breit angelegter Begleitprozess stattgefunden.
Herr Aydin, Ihnen sage ich ganz offen: Nehmen Sie
an der Demonstration teil, aber leisten auch Sie Ihren
Beitrag, dass sie friedlich bleibt! Diesen Anspruch sollte
man haben.
({1})
Deutschland gilt in Afrika aufgrund seiner zielgerichteten Entwicklungspolitik als glaubwürdiger und vorHartwig Fischer ({2})
bildlicher Partner. Zu der Art und Weise, in der Sie, Herr
Aydin, das dargestellt haben, muss ich Ihnen allerdings
sagen: So können Sie, wenn Ihnen das gefällt, mit der
Ministerin sprechen. Aber so, wie Sie es vorgetragen haben, ist das ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die für
die Technische Zusammenarbeit, die Finanzielle Zusammenarbeit, die Durchführungsorganisation verantwortlich sind und die für ihre Professionalität und Effektivität
bekannt sind.
({3})
Es ist gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht der NGOs, der
Kirchen und der Stiftungen, die sich dort humanitär
engagieren, Capacity Building leisten und Hilfestellung
in Sachen Demokratie geben.
({4})
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Das, was sich in den letzten Monaten an Entwicklungsprozessen gezeigt hat, macht mir deutlich, dass Heiligendamm nicht nur eine Fortschreibung von Gleneagles sein
wird, sondern dass diese Präsidentschaft genutzt wird,
um Schwerpunkte zu setzen.
Man kann Schwerpunkte setzen, weil Deutschland
gute Regierungsführung unterstützt hat, weil Deutschland in der Vergangenheit Schwerpunkte bei der Bekämpfung der Korruption gesetzt hat, weil man mit der
EITI-Initiative und der Stärkung von Good Governance
richtige Schwerpunkte gesetzt hat, weil wir in der Frage
Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung Schwerpunkte gesetzt haben. Ein Fünftel der bilateralen EZ-Mittel in Afrika fließen in diesen Bereich.
2 Milliarden Euro unserer Mittel für Entwicklungszusammenarbeit sind bi- und multilateral in die Subsahara
geflossen, zurzeit jährlich 386 Millionen Euro allein in
den Energiesektor. Das sind vorbildliche Beispiele, die
man bei den Verhandlungen vorzeigen kann.
Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, den die Präsidentschaft über Frau Dr. Merkel und unsere Ministerin
für Entwicklungszusammenarbeit angedeutet hat: Das ist
die Frage des Verhaltenskodexes, wenn medizinisches
Personal abgeworben wird. Wir haben das gerade wieder
bei Besuchen in Afrika erlebt. Beispiel Malawi: Es gibt
in England mehr Fachärzte aus Malawi als in Malawi
selbst. Das ist ein Trend, der umgekehrt werden muss.
Meine Damen und Herren, es müssen aber auch
Schwerpunkte und Akzente insbesondere im Rahmen
der Kooperation und Partnerschaft zwischen EU und AU
und den afrikanischen Regionalorganisationen gesetzt
werden. Das kann man noch verstärken.
Herr Hoppe, Sie haben gesagt, wir konzentrierten uns
so sehr auf die großen Städte. Wir müssen uns auch auf
die großen Städte konzentrieren. Bei einer Stadt wie Lagos mit 16 Millionen bis 18 Millionen Einwohnern kann
man nicht daran vorbeisehen, was dort an Umweltverschmutzung, an Wasserverschmutzung, an Krankheiten
und Ähnlichem entsteht.
({5})
Aber wenn Sie sich die Programme ansehen, dann werden Sie merken, dass wir in den letzten Jahren im Aufwuchs gerade bei der Dezentralisierung stark geworden
sind. Wir haben die Mittel in die Dezentralisierung gesteckt, um die Menschen selbst in die Lage zu versetzen,
zu handeln. Ich komme darauf gleich noch zurück.
Wir haben bei der Rechtstaatlichkeit geholfen, beim
Aufbau von Justiz und Polizei. HIV und Aids will ich
heute nicht noch einmal ausdrücklich erwähnen, weil
wir dazu Extraerklärungen gehabt haben. Aber wir brauchen - da unterstütze ich Gabi Groneberg ausdrücklich Partnerschaft mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, gerade auch über AWEPA.
Ich stelle drei Schwerpunkte heraus und knüpfe zunächst an das an, was die Ministerin vorgetragen hat: an
Mikrofinanzen und das, was wir im Kongo erlebt haben,
was einige auch woanders erlebt haben. Wenn wir
Mikrofinanzprojekte vorantreiben, dann helfen wir damit Kleinstunternehmen und Kleinunternehmen aus allen Sektoren, Selbstständigkeit zu entwickeln, eigenverantwortlich zu handeln. Die Konsequenzen sehen wir
dort, wo es Mikrofinanzprojekte gibt. Sie bedeuten nicht
nur eigenes Einkommen, ein vermehrtes Einkommen
über dem Durchschnitt der Bevölkerung, was dann
breite Bevölkerungsschichten erreicht, sondern sie bedeuten gleichzeitig, dass die Familien - es sind vor allen
Dingen Frauen, die diese Kredite in Anspruch nehmen ihre Kinder zur Schule schicken können. Bildung bedeutet wiederum einen Rückgang von Aidsraten und Ähnlichem. Das heißt, wir müssen in diesem Bereich noch
stärker werden und einen zusätzlichen Schwerpunkt setzen.
Ich sage trotzdem: Wir müssen die Wirtschaft mit einbauen. Unsere Wirtschaft darf den afrikanischen Kontinent nicht anderen überlassen; denn wenn die ihre Standards setzen, werden wir in Zukunft außen vor sein. Wir
setzen damit gleichzeitig Wertemaßstäbe, für die es sich
lohnt, dort zu kämpfen.
({6})
Der zweite wichtige Schwerpunkt, den ich mir wünsche - und von dem ich den Eindruck habe, dass er einfließen wird -, betrifft die Frage von Rohstofftransparenz und Rohstoffökonomie, damit die Wertschöpfung
in den entsprechenden Ländern bleibt. Ich habe das im
Zusammenhang mit EITI angesprochen. Ich bin sehr
froh, dass auch wir uns des Themas fossile Brennstoffe
annehmen. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel ist
es ja wichtig, dass wir dafür sorgen, dass regenerative
Energien gefördert werden.
Der dritte Schwerpunkt ist die Krisenprävention.
Das ist natürlich mein großes Wunschthema, nachdem
ich die Krisenherde gesehen und mitbekommen habe,
wie viele Tausend Menschen gestorben sind. Wir als Europäer müssen die African Standby Force bei Logistikausbildung sowie Technik und Ausbildung stärker
unterstützen, um Afrika das Wahrnehmen von Eigenverantwortung zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern und den Partnern dort heißt, unsere
Hartwig Fischer ({7})
Interessen und die Beweggründe für unsere Politik deutlich zu machen. Vier davon will ich ganz kurz aufzählen.
Erstens: ethische und humanitäre Beweggründe.
Beide Bereiche hängen ganz eng mit unseren Grundwerten zusammen. Wir wissen, dass auf dieser Erde täglich
30 000 Kinder sterben und davon unglaublich viele in
Afrika. Deshalb müssen wir diese Partnerschaftspolitik
machen.
Zweitens: Rohstoffökonomie. Das heißt, dass wir
Rohstoffe zu Weltmarktpreisen kaufen und die Wertschöpfung aus der Förderung dieser Rohstoffe in den Ursprungsländern verbleibt.
Drittens: ein fairer Import und Export, bei dem dafür
gesorgt wird, dass nicht durch Subvention Märkte kaputt
gemacht werden. Da stimme ich mit den Kollegen, die
das angesprochen haben, überein.
Viertens: Die Migrationsbewegung aus Afrika - jeder Migrant hat ja ein besonders furchtbares Schicksal muss durch die Ermöglichung von eigenverantwortlichem Leben in diesen Ländern gestoppt werden.
Ergebnisse in diesem Sinne erhoffe ich mir auch von
dem Gipfel in Heiligendamm. Ich bin davon überzeugt,
dass unsere Kanzlerin mit unserer Entwicklungsministerin dafür kämpft.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5257 und 16/5243 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia auf den Prüfstand
stellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2363, den Antrag der
FDP auf Drucksache 16/965 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher und
autobahnmautrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 16/2718, 16/2935 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({1})
- Drucksache 16/5234 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({2})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5244 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Klaas Hübner
Dr. Claudia Winterstein
Anna Lührmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Zusammenhang mit der Einführung der Lkw-Maut haben sich im Mai 2003 Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung darauf verständigt, dem Straßengüterverkehrsgewerbe wegen der Wettbewerbsbedingungen im
europäischen Güterverkehr ein sogenanntes Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro jährlich zu gewähren. Die Bundesregierung steht zu dieser Vereinbarung und setzt sich, wie bisher, auch weiterhin für die
Realisierung geeigneter Maßnahmen ein.
Dem nach dem Mautkompromiss vom Mai 2003 vorrangig zu verfolgenden sogenannten Mautermäßigungsverfahren, das zusammen mit dem Gewerbe erarbeitet
worden war, hat die Europäische Kommission im Beihilfeprüfverfahren Ende Januar 2006 wegen einer De-factoDiskriminierung von Ausländern nicht zugestimmt. Eine
Anrechnung bereits gezahlter Mineralölsteuern auf die
Maut ist damit nicht möglich.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf soll nunmehr die
ebenfalls im Mai 2003 verabredete Änderung der Kraftfahrzeugsteuer umgesetzt werden. Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe wird entlastet, indem die Höchststeuer für schwere Nutzfahrzeuge auf das europarechtlich
zulässige Mindestniveau abgesenkt wird. Die Absenkung
hat ein Gesamtvolumen von 150 Millionen Euro jährlich.
Die den Ländern entgehenden Einnahmen aus der Kraftfahrzeugsteuer werden aus dem Mautaufkommen ausgeglichen. Das Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge wird entsprechend angepasst.
Die Gegenfinanzierung der Steuersenkung erfolgt
aus Mehreinnahmen bei der Lkw-Maut. Die Mautsätze
werden entsprechend angehoben. In den Kategorien A
und B wird der Mautsatz um 1 Cent je Kilometer und in
der Kategorie C um 1,5 Cent je Kilometer angehoben.
Bei der Erhöhung der Mautsätze wurde auch die Finanzierung des sogenannten Innovationsprogramms,
das ebenfalls im Mai 2003 verabredet wurde, berücksichtigt. Das Programm sieht die Förderung der Anschaffung besonders emissionsarmer schwerer Nutzfahrzeuge
vor. Unternehmen sollen zwischen einem zinsgünstigen
Kredit und einem einmaligen Direktzuschuss wählen
können. Das Innovationsprogramm selbst bedarf als Förderprogramm keiner gesetzlichen Regelung und ist somit
nicht Inhalt dieses Gesetzentwurfs.
Die Europäische Kommission hat das Innovationsprogramm Ende Januar 2007 beihilferechtlich genehmigt. Entsprechend der Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses des Bundestages soll die Anhebung
der Mautsätze, soweit sie das Innovationsprogramm betrifft, auf den 30. September 2008 befristet werden.
Diese Forderung ist vor dem Hintergrund der Auflage
der Europäischen Kommission zu verstehen, Fahrzeuge
mit Schadstoffnorm Euro 5 nur bis zum 30. September
2008 zu fördern. Die Bundesregierung beabsichtigt, die
Förderung von Euro-6-Fahrzeugen aufzunehmen, wenn
diese technologisch zur Verfügung stehen, sobald diese
Schadstoffnorm definiert ist. Das ist ja die Voraussetzung. Bis dahin wird die Förderung von sogenannten
EEV-Fahrzeugen - Enhanced Environmentally Friendly
Vehicle; überwiegend gasbetriebene Fahrzeuge - möglich sein.
Da die Einnahmen aus der Lkw-Maut gemäß § 11 Autobahnmautgesetz zweckgebunden zu verwenden sind,
bedarf es der Erweiterung der Zweckbindung, um das
Innovationsprogramm aus Mauteinnahmen finanzieren
zu können.
Mit der Absenkung der Kfz-Steuer und dem Innovationsprogramm wird also nur ein Teil des im Mai 2003 vereinbarten Harmonisierungsvolumens von 600 Millionen
Euro umgesetzt. Aus dem parlamentarischen Raum sowie von den Verbänden, also dem Gewerbe, wurden
jüngst verschiedene Maßnahmen steuerlicher Art vorgeschlagen, um die bestehende Harmonisierungslücke
von 350 bis 450 Millionen Euro - je nachdem, ob man
das Innovationsprogramm hinzuzählt oder nicht - zu
schließen. Die Bundesregierung prüft derzeit, ob diese
Maßnahmen geeignet und inwieweit sie mit den Beschlüssen der Bundesregierung zur Neuausrichtung der
Subventionspolitik vereinbar sind.
Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehe ich
auch die EU in der Verantwortung. Auf europäischer
Ebene muss eine Harmonisierung der Besteuerung der
Kraftstoffe erreicht werden. Die Europäische Kommission hat am 13. März 2007, also vor wenigen Wochen,
einen Richtlinienvorschlag für die Besteuerung von gewerblich genutztem Diesel vorgelegt. Mit der darin vorgeschlagenen Änderung würde für Deutschland die
Möglichkeit zur Absenkung des Steuersatzes für gewerblichen Diesel und damit die Möglichkeit einer Steuerspreizung zwischen gewerblich und privat verwendetem Diesel entstehen.
Das BMVBS begrüßt die Initiative der Kommission
ausdrücklich, die einen wichtigen Schritt zur Harmonisierung der Besteuerung der Kraftstoffe auf europäischer
Ebene darstellt. Damit würden wir die Möglichkeit erhalten, das deutsche Transportgewerbe, das sowohl
Maut als auch Mineralölsteuer zahlt, zu entlasten. Auch
könnte die Möglichkeit der Angleichung der Steuern auf
gewerblichen Diesel an das Steuerniveau der Nachbarländer einen wirkungsvollen Beitrag zur Eindämmung
des Tanktourismus in Deutschland leisten.
Das BMVBS wird die Kommission bei ihrem Richtlinienvorschlag unterstützen. Dieser kann - das wissen
Sie - allerdings nur dann wirksam werden, wenn alle
Mitgliedstaaten ihn akzeptieren. Es gilt also noch dicke
Bretter zu bohren.
Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir können noch nicht zufrieden sein, weil ein Teil - ich habe es
geschildert - fehlt. Ich bitte Sie, heute in zweiter und
dritter Lesung diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Horst Friedrich, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich komme ich heute mit zwiespältigen Gefühlen
hierher; denn ich weiß nicht, ob ich es begrüßen soll,
({0})
dass man wenigstens angefangen hat, das umzusetzen,
was man dem Gewerbe im Jahre 2003 versprochen hat,
nämlich dass mit Einführung der Maut ein Harmonisierungsbeitrag von 600 Millionen Euro zur Verfügung
steht.
Die Maut funktioniert in Deutschland seit zwei Jahren. Aber erst jetzt fängt man ein bisschen mit einer Lösung an.
({1})
Das ist das Positive. Das Negative ist: Sie sind nach wie
vor - das hat Ihre Rede, Herr Staatssekretär, deutlich gemacht - nicht in der Lage, dem Gewerbe belastbar und
planbar nachzuweisen, wie man die 350 oder 450 Millionen Euro, die noch ausstehen, aufbringen will.
Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie jetzt mit
dem Finger auf die EU zeigen und sagen, diese könnte
uns ja erlauben, die Mineralölsteuer für den Diesel für
die gewerbliche Nutzung zu senken. Wenn ich recht informiert bin, hat die Bundesregierung, die Sie schon mitgetragen haben - nämlich die rot-grüne -, mit der Ökosteuer begonnen, die bei uns schon immer vorhandene
Spreizung bei Mineralölsteuererhöhungen zwischen Ottokraftstoff und Dieselkraftstoff ganz bewusst aufzuheben.
({2})
Wir sind eines der wenigen Länder in der EU, das bereits jetzt über den Mindeststeuersätzen für Mineralöl
liegt, die die EU für das Jahr 2012 vorsieht. Was hindert
Horst Friedrich ({3})
Sie denn jetzt daran - Sie haben doch die Mehrheit! -,
als Abrundung des ganzen Programms die Mineralölsteuer für das Gewerbe zu reduzieren und damit den
Harmonisierungsbeitrag zu erfüllen?
({4})
Nein, Sie retten sich seit langer Zeit mit der famosen
Aussage, die Absenkung der Maut bei deren Einführung
um 600 Millionen Euro gegenüber dem Durchschnittssatz, den die EU uns für Autobahnen genehmigt hat, sei
ein Harmonisierungsbeitrag gewesen. Das hat Herr
Stolpe schon erzählt, Herr Tiefensee setzt das fort, und
Sie bringen es auch regelmäßig. Das gleichmäßige Absenken der Maut für alle ist doch kein Harmonisierungsbeitrag für das deutsche Gewerbe! Das war nie richtig
und wird auch nicht durch ständiges Wiederholen richtiger.
({5})
Deswegen setzen Sie jetzt etwas um, was die Opposition damals schon als Plan B rechtzeitig für den Fall
aufsetzen wollte, dass sich andeutet, dass die EU das Mineralölsteueranrechnungsverfahren, das Sie so hoch gehalten haben, nicht genehmigt. Nein, Sie haben es erst
einmal in Brüssel scheitern lassen müssen. Sie haben
dann einen zweiten Anlauf genommen, der wieder gescheitert ist. Die Begründung war, man könne doch nicht
einen Plan B aus der Schublade holen, weil man damit
seine Position in Brüssel beim Mautanrechnungsverfahren schwäche. Entschuldigen Sie, aber das ist doch Unsinn!
Das Problem ist, dass man dem Gewerbe mit Einführung der Maut eine Harmonisierungsleistung zugesagt
hat, die sich aus ganz anderen Kriterien ergibt. Ich habe
noch die Worte des ehemaligen Verkehrsministers
Bodewig bei einer Versammlung des Bundesverbandes
für Güterverkehr und Logistik, als es um die Harmonisierung ging, im Ohr. Er hat damals gesagt, dass wir in
Deutschland dann, wenn die anderen Länder in Europa
die Vorteile nicht umsetzen, die Harmonisierung einführen werden. Auf die Umsetzung dieser Zusage warte ich
eigentlich heute noch.
({6})
Als Antwort von Rot-Grün kam dann: Wir beteiligen
uns doch nicht an einem Wettlauf nach unten bei der Besteuerung; Europa ist gefordert. - Es bleibt also zwiespältig. Deswegen kann ich in Bezug auf das Gewerbe
sagen, dass es bei der Kfz-Steuer ein kleines Licht am
Ende des Tunnels gibt. Das Interessante an dem Gesetzentwurf mit den Investitionsanreizen ist Folgendes: Sie
erhöhen die Maut. Wenn sich aber bis zum 30. September 2008, wenn die Förderung auslaufen muss, weil die
EU für diesen Zeitpunkt den Euro-5-Motor gesetzlich
vorgeschrieben hat, nichts Neues in der Anschlussförderung ergibt, soll die Maut wieder reduziert werden. Das
kann man glauben - oder auch nicht!
Dem Gewerbe wurden per Handschlag im Kanzleramt 600 Millionen Euro Harmonisierungsbeitrag versprochen, wenn die Maut kommt. Das dauert nun vier
Jahre und ist zu 20 Prozent erfüllt. Wenn jetzt jemand,
der schon das versprochen hat, sagt, es stehe ja im Gesetz, dass, wenn das im Anschluss nicht kommt, die
Mautsätze wieder reduziert werden, dann kann ich nur
sagen: Das ist ein Zukunftsversprechen, an das ich erst
dann glaube, wenn es tatsächlich erfüllt worden ist.
({7})
Vor dem Hintergrund werden Sie Verständnis dafür
haben, dass wir Investitionsbeihilfen, die zeitlich immer
befristet sein werden, grundsätzlich nicht gegen eine unbegrenzt geltende Mautanhebung eintauschen werden.
Dieses Instrument ist untauglich; es gibt andere. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Wir
wollen uns nicht in Haft nehmen lassen, wenn die Bundesregierung gegenüber dem deutschen Transportgewerbe wieder wortbrüchig wird.
Danke sehr.
({8})
Ich erteile der Kollegin Dorothée Menzner von der
Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Lkw-Maut in diesem Land ist kein Ruhmesblatt: weder für die jetzige Bundesregierung noch für
die vorherige.
({0})
Es ist schon angesprochen worden: Mehr als zwei
Jahre ist es her, dass die Lkw-Maut eingeführt wurde.
Doch unsere Spediteure können erst jetzt mit einer teilweisen Mautkompensation rechnen, die ihnen vor langer, langer Zeit - auch das wurde schon angesprochen in Aussicht gestellt wurde.
Im Mai 2003, also vor genau vier Jahren, haben Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung den legendären
Mautkompromiss getroffen. Damals wurde vereinbart,
600 Millionen Euro aus den Mauteinnahmen zugunsten
des hiesigen Speditionsgewerbes als Ausgleich für die
Kfz- und die Mineralölsteuer zu verwenden, die ausländische Lkw hierzulande nicht entrichten.
Die Linke meint: Da sollte jetzt schnellstens Klarheit
geschaffen werden. Einerseits hat das Speditionsgewerbe Anspruch auf einen korrekten Ausgleich. Andererseits muss die Lkw-Maut schnellstens auf das EUrechtlich mögliche Maß erhöht werden. Das beträgt bekanntlich 15 Cent je gefahrenen Kilometer. Aber dem
steht dieser Mautkompromiss jetzt entgegen.
Die Koalition und die Regierung kneifen. Sie geben
den inländischen Spediteuren durch die Senkung der
Kfz-Steuer, wie eben angesprochen, nur 150 Millionen
Euro zurück. Da fehlen noch 350 Millionen bis 450 Millionen Euro. Statt Zusagen einzuhalten, wurschtelt die
Regierung weiter. Die Maut soll von zurzeit 12,4 Cent
um etwa einen Cent auf 13,5 Cent erhöht werden. Es ist
in Aussicht gestellt, dass sie ab Oktober 2008 um
0,45 Cent je Kilometer gesenkt wird. Wenn unserem
Verkehrsminister zwischenzeitlich noch eine andere Regelungsmöglichkeit einfällt, dann gibt es 2009 vielleicht
wieder eine Erhöhung. Das würde bedeuten, dass es innerhalb von 18 Monaten vier verschiedene Mautsätze
gibt.
Man muss wissen, dass Fachleute sagen - auch das ist
kein Geheimnis -, dass eine grundlegende Reform der
Maut anstehen würde. Nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern relativ zeitnah müssten unterschiedliche
Mautsätze je nach Abgasausstoß der Fahrzeuge eingeführt werden.
Wir könnten uns jetzt damit trösten, dass die im Gesetz ab Oktober 2008 festgelegten Mautsätze nach dem
Zeitplan der Bundesregierung vielleicht nie zur Anwendung kommen. Aber ich nehme diesen Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Anlass, einmal sehr ernsthaft
zu fragen, was wir hier eigentlich tun. Wir reden permanent vom Bürokratieabbau, aber gleichzeitig schaffen
wir mit solch unzulänglichen Gesetzen mehr Undurchsichtigkeit.
({1})
Dieses Gesetz - das muss man Ihnen lassen - ist
durchaus ein Meisterwerk, ein Meisterwerk getreu dem
Motto „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht
nass!“. Es hält allen Akteuren die Türen weiter offen, um
munter an den Stellschrauben zu drehen. Dass mit dieser
Pfennigfuchserei über die Notwendigkeiten hinweggetäuscht wird, finde ich wahrlich meisterlich.
Uns als Linke ist das zu wenig. Genau aus diesem
Grund können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Mit einer Senkung der Maut ab Oktober 2008 würden wir dazu beitragen, einen minimalen Anreiz - er ist
wirklich nur minimal - für eine bessere ökologische Bilanz des Lkw-Verkehrs wieder zu kassieren. Gerade
nach den Debatten und nach dem, was wir in den letzten
Tagen in den Zeitungen lesen konnten, entspricht dies
nicht den Zeichen der Zeit.
({2})
Angesichts des Klimawandels ist ein großer Wurf nötig - er ist nach EU-Recht auch möglich -, aber nicht
diese Flickschusterei, die uns hier vorgelegt wird.
Danke.
({3})
Nun erteile ich dem Kollegen Dirk Fischer, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Verkehrsleistung des Straßengüterverkehrsgewerbes betrug 2006 434 Milliarden Tonnenkilometer. Der Anteil des Gewerbes am Modal Split in
Deutschland beträgt rund 70 Prozent. Selbst die DB AG
mischt über ihre Lkw-Sparte Schenker, den größten
Lkw-Carrier in Deutschland und Europa, in diesem
Markt mit. Nebenbei gesagt: Bedauerlich ist nur, dass
dies in der Ökobilanz der DB AG, die gerade den Tageszeitungen beigelegt worden ist, keinen Niederschlag gefunden hat. Ein Schelm, der Böses dabei denkt!
In Deutschland hat das überwiegend mittelständisch
geprägte Straßengüterverkehrsgewerbe rund 600 000 Beschäftigte und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von
30 Milliarden Euro. Die Branche gehört nicht nur zu den
zentralen Wirtschaftszweigen am Standort Deutschland,
sondern leistet auch einen hohen Beitrag zur Bruttowertschöpfung in unserem Land und ist Garant für den Fortbestand der arbeitsteiligen Volkswirtschaften Europas.
Auch 14 Jahre nach Beginn des EU-Binnenmarktes
für Dienstleistungen gibt es immer noch keine vollständige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. Das
deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe leidet besonders
stark unter den fortbestehenden Wettbewerbsverzerrungen. Nach der EU-Erweiterung haben die Kostenunterschiede zwischen den alten und den neuen EU-Staaten
den ohnehin schon hohen Preisdruck deutlich verschärft.
Faire Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Betriebe sind eigentlich nur durch eine schnelle Harmonisierung innerhalb der EU zu erreichen.
Mit der Einführung der streckenbezogenen LkwMaut in unserem Lande ist eine gerechtere Wegekostenanlastung für das europäische Straßengüterverkehrsgewerbe in Deutschland erreicht worden. Die Union hat
stets die Auffassung vertreten, dass weitere Harmonisierungsmaßnahmen dringend erforderlich sind, damit
das deutsche Güterverkehrsgewerbe den Wettbewerb in
Europa erfolgreich bestehen kann.
({0})
Deswegen hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion 2003
im Vermittlungsverfahren zum Autobahnmautgesetz darauf gedrängt, das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe
mit einem Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen
Euro zu entlasten. Das war in der Tat ein Faustpfand,
Herr Kollege Friedrich, und keine Harmonisierung. Immerhin war es aber eine Kostenentlastung. Als Faustpfand haben wir damals vereinbart, dass der geplante
durchschnittliche Mautsatz nicht 15 Cent pro Kilometer
beträgt, sondern auf 12,4 Cent pro Kilometer gesenkt
wird, bis er dann mit der Durchsetzung einzelner Harmonisierungsschritte für das Gewerbe jeweils sukzessive erhöht werden kann. Damit haben wir damals eine richtige
Entscheidung getroffen.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition zu
dieser Zusage bekannt und das Ziel der Schaffung fairer
Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe festgeschrieben. Das zunächst prioritär
verfolgte Mautermäßigungsverfahren in Verbindung
mit in Deutschland gezahlter Mineralölsteuer wurde von
der EU-Kommission im Beihilfeprüfverfahren abgelehnt. - Herr Kollege Friedrich, an dieser Stelle muss
deutlich gesagt werden: Es war der Wunsch des Gewerbes, zunächst dieses Verfahren zu betreiben, wodurch
natürlich, da es gescheitert ist, ein Zeitverlust eingetreten
ist. - Nach Auffassung der Kommission hätte dieses
Dirk Fischer ({1})
Verfahren ausländische Spediteure benachteiligt, die seltener in Deutschland tanken.
Unabhängig von den Erfolgsaussichten einer Klage
gegen die Entscheidung der Europäischen Kommission
hat sich die Bundesregierung angesichts eines Zeitbedarfs von geschätzten sechs bis zehn Jahren bis zu einem
Endurteil in Abstimmung mit dem Gewerbe dafür entschieden, dieses Mautermäßigungsverfahren nicht weiter zu verfolgen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden jetzt alternative Harmonisierungsmaßnahmen angegangen. Die
Kfz-Steuer für schwere Nutzfahrzeuge wird auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau gesenkt. Das führt
zu einem Entlastungsvolumen von 150 Millionen Euro
gegenüber den ausländischen Wettbewerbern. Ferner
wird bis zum 30. September 2008 - länger ist es nicht genehmigt - ein Innovationsprogramm von 100 Millionen Euro aufgelegt, um die Anschaffung besonders emissionsarmer Lkws der Euro-5-Klasse zu fördern. Beide
Harmonisierungsmaßnahmen werden durch die Anhebung der Maut auf durchschnittlich 13,5 Cent pro Kilometer gegenfinanziert.
Gleichzeitig haben wir geregelt, dass die Mautsätze
mit dem Auslaufen des befristeten Innovationsprogramms
zum 1. Oktober 2008 wieder automatisch um 0,44 Cent
pro Kilometer gesenkt werden. Ob im Anschluss daran
ein Euro-6-Förderprogramm aufgelegt werden sollte,
was gemäß EU-Genehmigung innerhalb eines Zeitraums
von insgesamt bis zu sechs Jahren möglich wäre, hängt
nach unserer Auffassung natürlich zunächst einmal von
der Markteinführung solcher Fahrzeuge ab, aber auch
von der aktuellen Beurteilung der Investitionskraft des
Gewerbes. Man kann dem mittelständischen Gewerbe
nicht einen permanenten Investitionsstress aufoktroyieren, den es mangels Investitionsfähigkeit gar nicht bestehen kann. Dann würde gerade bei den mittelständischen
Betrieben eine Förderung völlig ins Leere laufen. Deswegen müssen wir das hinterher prüfen.
({2})
Das heute beschlossene Harmonisierungsvolumen in
der Höhe von 250 Millionen Euro, von denen nur
150 Millionen Euro nachhaltig sind, ist also nur ein erster Schritt zur Beseitigung von diskriminierenden Wettbewerbsverzerrungen. Der Bund bleibt gegenüber dem
Straßengüterverkehrsgewerbe in der Pflicht, weitere
Harmonisierungsschritte bis zum zugesagten Gesamtvolumen von 600 Millionen Euro zu erbringen. Er muss
daher alle Möglichkeiten prüfen, um die fortbestehende
Harmonisierungslücke zu schließen. Dazu gehört auch
die fachliche Prüfung und politische Beurteilung der
vom Gewerbe vorgeschlagenen steuerlichen Erleichterungen, zum Beispiel der Verkürzung der Abschreibungsfrist und der Einführung eines Steuerfreibetrages
für Fahrzeugveräußerungsgewinne.
Dazu gehört auch, dass wir wahrnehmen müssen,
dass die EU-Kommission es nicht untersagt hat, dass
Frankreich für seine Transportunternehmen die Gewerbesteuer abgesenkt hat. Das Gewerbe weist auch darauf
hin, dass Doppelbelastungen vermieden würden, wenn
die Kfz-Steuer und ein Teil der gezahlten Lkw-Maut
künftig nicht mehr aufwandsmindernd abgerechnet, sondern direkt von den Gewinnsteuern abgesetzt werden
könnten und damit teilweise zu durchlaufenden Posten
würden.
Dazu gehört auch - der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann hat es angesprochen; ich begrüße,
was Sie dazu gesagt haben -, dass Art. 4 der geänderten
EU-Energiesteuerrichtlinie die Möglichkeit vorsieht, den
Steuersatz für Gewerbediesel im Zusammenhang mit
der Maut zu senken, sofern der Mindeststeuersatz nicht
unterschritten wird, was bisher schon möglich ist, wenn
der Steuersatz nicht unter das Niveau vom 1. Januar
2003 abgesenkt wird.
Unter dem Strich: Für die CDU/CSU-Fraktion ist das
Thema Harmonisierung im Bereich des Straßengüterverkehrsgewerbes nicht erledigt. Wir sind und bleiben verpflichtet, die mit der Einführung der Lkw-Maut zugesagte Harmonisierung Zug um Zug zu erfüllen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nun hat Kollege Winfried Hermann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben es heute mit einem richtig großen Gesetz der Großen Koalition zu tun. Man könnte es
auch den dritten Versuch einer Harmonisierung im
Bereich des Güterverkehrs nennen. Zweimal ist man
gescheitert, zweimal hat man einen Vorstoß gemacht, der
nicht EU-kompatibel, der nicht mit dem Beihilferecht
der EU vereinbar war. Jetzt macht man einen dritten Anlauf. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben deutlich gemacht, dass es nur der Versuch einer Harmonisierung ist. Er ist nicht gelungen. Denn er ist, wie ich finde,
zu kurz gegriffen, weil nur die Perspektiven des Gewerbes und zu wenig andere Aspekte berücksichtigt werden;
so haben auch manche Kollegen argumentiert.
Es handelt sich um den mutigen Schritt, die KfzSteuer abzusenken und gleichzeitig die Maut um
1,1 Cent zu erhöhen. So weit, so gut. Dies ist ein kleines
Schrittchen, das in einem Jahr wieder zurückgenommen
wird, wenn die Lkw-Maut um 0,45 Cent gesenkt wird.
Am Ende bleiben von dem ganz großen Schritt
0,65 Cent an Erhöhung übrig. Dies wird als mutige Erhöhung dargestellt, obwohl wir die Chance hätten, im
Güterverkehr durch die Maut als Steuerungsinstrument tatsächlich lenkend in die Beförderungsleistung
von Straße und Schiene einzuwirken. Diese Möglichkeit
der Politik ist hier glatt verspielt worden.
({0})
In anderen Ländern geht man deutlich mutiger voran.
Die Schweiz ist inzwischen längst beim fünffachen Satz
der deutschen Maut. So schnell und so mutig müssen wir
nicht sein. Aber auch die Österreicher sind inzwischen
bei mehr als dem doppelten Satz. Deswegen meinen wir
Grüne, dass eine maßvolle Erhöhung der deutschen
Maut aus Klimaschutzgründen angemessen und an der
Zeit ist. Wir könnten ohne weiteres auf 15 Cent pro Kilometer erhöhen. Das wäre nicht mehr als billig.
({1})
Wir sind der Meinung, dass die Ausweitung auf die
kleinen Lkws bis 3,5 Tonnen, die bisher von der Maut
ausgenommen sind, ansteht. Wir glauben auch, dass die
überregionalen Bundesstraßen, die Autobahnen ähnlich sind, endlich in das Mautsystem einbezogen werden
müssen.
({2})
All das ist mehr als angemessen und notwendig. Das
Umweltbundesamt hat ebenso wie die Europäische
Union mehrfach die externen Kosten ausgerechnet. In
diesen Tagen hat die „Allianz pro Schiene“ eine neue
Untersuchung vorgelegt. All diese Untersuchungen belegen nicht nur eindeutig, dass die Belastung durch den
Schwerverkehr auf den Straßen für die Straßen groß ist,
sondern auch, dass die Folgen für Umwelt und Klima
gewaltig sind. Man kann die Belastung ausrechnen: Ihr
Volumen umfasst mehrere Milliarden Euro. Wenn man
das in Cent umrechnet - so sagt es zum Beispiel das
UBA -, wäre es angemessen, die Maut um 17 Cent zu
erhöhen.
({3})
- Ich sage, dass das aus ökologischen Gründen angemessen wäre; so argumentiert das UBA. Auch ich weiß, dass
das nicht möglich ist. Das deutet aber an, was ökologisch
zu rechtfertigen ist, was zwingend zu tun wäre und wie
klein der Schritt ist, der mit dieser Maßnahme gemacht
wurde.
Sie sehen: Mit diesem kleinen Gesetz werden kleine
Schritte unternommen. Es wirkt fast ein bisschen peinlich: einen Cent hoch und dann wieder runter. Das ist
aber typisch für diese Koalition: Sie ist groß und macht
ganz kleine Schritte.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Lkw-Maut hat im Bundestag
schon für viel Diskussionsstoff gesorgt. Jetzt kann insgesamt eine positive Bilanz gezogen werden: Die Maut
sorgt für mehr Gerechtigkeit. Das sage ich auch an die
Adresse der Grünen.
({0})
Das gilt sowohl für den Wettbewerb der Verkehrsträger als auch für die notwendige Beteiligung deutscher
und ausländischer Spediteure an den Kosten der Infrastruktur in Deutschland. Das sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Diese Beteiligung ist nach
Auffassung der SPD-Fraktion genauso gerechtfertigt wie
das Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro
jährlich.
Ohne EU-Kommission geht aber nichts. Dem Vorhaben der Bundesregierung vom Mai 2003 - damals war
übrigens Rot-Grün an der Regierung; die Grünen waren
also mit dabei - wurde, wie allgemein bekannt ist, von
der EU-Kommission im Januar 2006 nicht zugestimmt.
({1})
Deshalb erfolgt eine Absenkung des Kfz-Steuersatzes
für schwere Lkw auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau. Mehr geht nicht. Das ist aber kein Grund,
nicht neue Wege zu suchen. Diese Absenkung hat immerhin ein Volumen von 150 Millionen Euro. Nach unserer Auffassung ist das ein richtiger Schritt. Ich gehe
fest davon aus, dass der Bundesrat den Weg dafür in seiner nächsten Sitzung endgültig freimacht.
Damit sind wir bei der gemeinsamen Verantwortung
für die Infrastruktur in Deutschland. Die Koalition hat
bei den Haushaltsberatungen 2007 für eine Nachbesserung im dreistelligen Millionenbetrag gesorgt. Es heißt
immer: Jeder kann seinen Beitrag leisten. Mitunter ist
der Beitrag der Länder in diesem Bereich aber etwas
dürftig. Das gilt übrigens für jede Farbenlehre, auch für
die FDP, die in Niedersachsen an der Regierung beteiligt
ist, was den Anteil an Investitionen in Landesstraßen betrifft.
({2})
Güterverkehr gibt es auch auf Landesstraßen. Das ist
übrigens ein Grund, der allgemeinen Ausweitung der
Lkw-Maut auf Bundesstraßen nicht zuzustimmen. Eine
Möglichkeit der Umfahrung mautpflichtiger Straßen
würde sich dann nämlich an jeder Straßenkreuzung bieten. Das sollte man sich auch im Interesse des nachgeordneten Netzes gut überlegen.
({3})
Es ist immer richtig, einen Beitrag zur Reduzierung
der Emissionen zu leisten. Dazu dient das 100-Millionen-Euro-Programm zur Anschaffung emissionsarmer Nutzfahrzeuge. Es ist zwar zeitlich begrenzt, ich
gehe aber davon aus, dass es nicht das letzte Programm
dieser Art ist. Im Interesse der Umwelt müssen und werden wir diesbezüglich am Ball bleiben.
({4})
Das Transportgewerbe ist einer der größten Arbeitgeber
in unserem Land; der Kollege Fischer hat darauf hingewiesen. Wir sollten deshalb verdeutlichen: Die wirtschaftliche Entwicklung, der Aufschwung wäre ohne das
Transportgewerbe nicht möglich. Der Transport muss si9896
chergestellt werden. Es sind Menschen, die dafür sorgen,
dass die Transporte zu den Unternehmen und zu den
Menschen kommen. Ich bin dagegen, dass, wie es immer
wieder geschieht, ihnen der Schwarze Peter zugeschoben wird.
({5})
Deutschland ist und bleibt die wichtigste Verkehrsdrehscheibe in Europa. Das Netz der Bundesautobahnen
hat die beeindruckende Länge von mehr als
12 000 Kilometern. Wir sollten das als Standortvorteil
begreifen. Gerade wir Verkehrspolitiker haben die Aufgabe, mit diesem Standortvorteil für Deutschland Werbung zu machen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahnmautrechtlicher
Vorschriften. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/5234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/2718 und 16/2935 ({0})
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil,
Gudrun Kopp, Christian Ahrendt, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Keine Verlängerung des Briefmonopols -
Wettbewerb auf dem deutschen und euro-
päischen Postmarkt ermöglichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Vollständige Öffnung der Postmärkte stop-
pen - Universaldienstverpflichtung absi-
chern
- Drucksachen 16/3623, 16/4044, 16/4600 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Werner Dreibus, Ulla
Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 16/4908 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 16/5276 Berichterstattung:
Abgeordneter Alexander Dobrindt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt für die
Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über
die Postdienstleistungen reden, müssen wir uns bewusst
machen, dass in Deutschland in diesem Bereich mehr als
200 000 Menschen beschäftigt sind. Nebenbei bemerkt:
Für viele kann es eine berufliche Chance bedeuten, zukünftig einen liberalisierten Postmarkt zu haben. Es gibt
Millionen Menschen in Deutschland, die sich täglich der
Postdienstleistungen bedienen, sie nutzen, Briefe verschicken und sonstige Dienstleistungen in Anspruch
nehmen.
({0})
Die Menschen beschäftigt letztlich die Frage: Hat der
Wettbewerb, hat der freie Markt, der kommen soll, für
mich positive oder negative Auswirkungen? Selbstverständlich müssen wir auf diese Frage eine Antwort geben. Genauso müssen wir klären, wann, wo und unter
welchen Bedingungen Wettbewerb bei den Postdienstleistungen entstehen soll. Darauf gebe ich die klare Antwort: Für mich ist der 1. Januar 2008 das Datum, zu dem
wir eine Liberalisierung des Postmarkts haben wollen.
({1})
Diese Öffnung soll natürlich in bestimmten Rahmenbedingungen passieren.
({2})
Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die Kunden, um die Rahmenbedingungen für die betroffenen
Arbeitnehmer und um die Rahmenbedingungen für die
betroffenen Unternehmen. Wir wollen Rahmenbedingungen, die so sind, dass wir in der Summe eine positive
Weiterentwicklung des Postdienstmarktes bekommen.
Meine Damen und Herren, es klingt immer ein bisschen
leicht dahergesagt: Betreiben wir einen freien Wettbewerb bei Postdienstleistungen. - In Wirklichkeit steckt
natürlich ein riesiger Markt in Europa dahinter. 90 Milliarden Euro werden in diesem Markt jährlich umgesetzt.
Eines der größten Projekte der Europäischen Union in
der nahen Zukunft ist es, hier einen echten Binnenmarkt zu forcieren. Wir erwarten uns von diesem Binnenmarkt und diesem verstärktem Wettbewerb letztlich
natürlich sinkende Preise für die Verbraucher, neue Produkte, in der Summe einen besseren Service und natürlich auch mehr Kundenzufriedenheit. Also noch einmal:
Es stellt sich die entscheidende Frage, ob diese Postdienstleistungen für die Menschen besser oder schlechter
werden.
Man kann darüber diskutieren, ob ein Markt einfach
besser ist. Ein Markt ist aus meiner Sicht nur dann besser, wenn er ein europäisch funktionierender Markt ist.
Wir erleben auch Märkte, bei denen wir große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken eingetreten
sind. Ich erinnere einmal an den Strommarkt. Wir hätten
es gerne, dass er besser funktioniert, als er es heute tut.
Ich erinnere auch gerne daran, dass wir schon in den
vergangenen Wahlperioden darüber diskutiert haben,
wie wir mit dem Thema Post umgehen können. Jeder
von Ihnen kann sich heute sicherlich noch an die Situation erinnern, als es um den Abbau von Briefkästen, die
Schließung von Postfilialen und Postämtern in Deutschland und vieles mehr ging. Wir hatten große Bedenken,
ob der Dienstleistungsmarkt für den Kunden so aufrechterhalten werden kann, wie er bisher war.
Wir müssen heute auch feststellen: Es gibt positive
Entwicklungen. Postpoint ist eine, die ich hier nennen
will. Durch dieses Format der Post werden heute in der
breiten Fläche - auch im ländlichen Raum; sicherlich in
reduzierter Form - postalische Dienstleistungen angeboten. Ich glaube, dass hier schon erkennbar ist, dass es
auch im Wettbewerb neue Formen geben wird, die letztlich dazu führen, dass die Menschen, die diese Postdienstleistungen in Anspruch nehmen, einen größeren
Nutzen haben.
Wir haben in den letzten Wochen die in den Medien
inzwischen sehr deutlich werdende Diskussion über die
Frage hören können - allerdings durchaus mit Sorge -,
ob es im alternativen Postbereich Lohndumping gibt.
Dies ist ein Thema, das wir heute mitdiskutieren müssen.
Ich sage Ihnen, dass wir das, was hier teilweise erkennbar ist, natürlich mit großem Unbehagen und großer
Sorge betrachten.
Es gibt eine Antwort der Bundesregierung auf eine
Anfrage der Grünen. In ihr steht, dass 1,4 Prozent der
600 000 Aufstocker, die es in Deutschland gibt - also
der Menschen, die zusätzlich zu ihrem Lohn weiteres
Geld vom Arbeitsamt erhalten -, im Rahmen von Postdienstleistungen beschäftigt sind. Wenn man rechnen
kann - Sie haben uns das in dieser Woche im Ausschuss
ja vorgerechnet -, dann kommt man auf eine Zahl von
circa 8 000 Menschen. Ich will jetzt nicht sagen, dass sie
nur im Rahmen von alternativen Postdienstleistungen
oder sonst wo beschäftigt sind, aber selbstverständlich
muss man sich die Frage stellen, ob es in Ordnung ist,
dass es Unternehmen gibt, die durch sehr, sehr niedrige
Löhne für einen erheblichen Teil ihrer Mitarbeiter versuchen, hier ein Geschäft zu machen.
({3})
Wir müssen ganz klar sagen: Wir haben den Auftrag
an alle erteilt, dafür zu sorgen, dass in den nächsten Monaten hier Abhilfe geschaffen wird und dass sichergestellt wird, dass diese Leute durch ihre Beschäftigung
eine ordentliche Entlohnung erzielen können.
({4})
Ich selber habe in den Gesprächen mit den Wettbewerbern festgestellt, dass sie sich bemühen, diese Arbeitssituationen zu schaffen. In Gesprächen mit den entsprechenden Sozialpartnern wollen sie dafür sorgen, dass es
hier zu einer deutlichen Besserung kommt. Ich möchte
erleben, dass es irgendwann in Deutschland nicht nur
fair gehandelten Kaffee, sondern auch eine fair gehandelte Briefmarke gibt. Wir wollen, dass auch in Zukunft
die Postdienstleistungen in ihrer bisherigen Güte möglich sind. Ich glaube daran, dass wir das auch innerhalb
Europas schaffen.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei
der Bundesregierung für ihr Bemühen bedanken, alle europäischen Länder in dieses Vorhaben mit einzubeziehen
und einen europäischen Gleichklang zu erreichen.
Nach dem bisherigen Stand - das sieht die europäische
Postrichtlinie vor - soll die Liberalisierung der Postmärkte bis zum 1. Januar 2009 erreicht werden. Es ist
aber auch davon die Rede, dass sie zu einem späteren
Zeitpunkt erfolgen kann. Entscheidend ist aber nicht, ob
es 2008, 2009 oder 2010 sein wird. Für uns ist die entscheidende Frage, ob möglichst viele Märkte in Europa
beteiligt sein werden, wenn es zur Liberalisierung des
Postmarktes in Europa kommt, und ob es zu einem europäischen Wettbewerb kommen wird, den wir gerne wollen.
Wir treten auch weiterhin dafür ein, die Märkte zu
öffnen. Wir wollen aber auch, dass sich alle anderen mit
uns gemeinsam bemühen, diesen europäischen Markt zu
schaffen. Ich glaube, dass wir dann die Chance haben,
für die Kunden, die Mitarbeiter und die Unternehmen
eine Marktsituation zu schaffen, die letztlich für alle profitabel ist, und einen neuen Postmarkt zu ermöglichen,
der neue Produkte, Anreize und Möglichkeiten für alle
Kunden bietet.
Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem guten Weg
sind. Auch wenn es zurzeit noch Probleme gibt, bleibt es
dabei, dass wir die Liberalisierung des Postmarktes zum
1. Januar 2008 wollen.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Auseinandersetzung um das Postmonopol ist fast so
alt wie das Postwesen selbst. Der Exklusivauftrag Kaiser
Friedrichs III. an den ersten Thurn und Taxis im Jahre
1451 war noch relativ unumstritten, da es außer den reitenden Boten noch keine Wettbewerber gab. Aber schon
bald wollten auch andere im Deutschen Reich - Fürstentümer, Reichsstände, Städte und Kaufmannschaften - am
einträglichen Postgeschäft mit verdienen. Sie gründeten
ihre eigene Post, die in Konkurrenz zu der Reichspost
trat.
Daraufhin erklärte Kaiser Rudolf II. die Reichspost
im Jahre 1597 zum kaiserlichen Privileg. Damit erlangte
die Post zum ersten Mal eine Monopolstellung. Doch
wieder regten sich die ersten Geister des Wettbewerbs.
So hat das Herzogtum Württemberg 1622 eine landeseigene „Post- und Metzgerordnung“ erlassen. Erst mit der
Gründung des Deutschen Reichs 1871 unter Bismarck
wurde das deutsche Postwesen endgültig unter einem
Dach zusammengefasst und war dann über 100 Jahre
lang verstaatlicht.
Wenn wir nun 18 bzw. 13 Jahre nach den von der FDP
mit durchgesetzten Postreformen - die Sie übrigens mitgetragen haben - heute zum wiederholten Male über die
Beseitigung der letzten Reste dieses staatlichen Monopols diskutieren, dann zeigt sich, wer in welcher Tradition steht.
({0})
SPD und Linke verteidigen das Staatsdenken zu Kaisers
Zeiten. Die liberale Fraktion steht in der Tradition derjenigen, die der staatlichen Wirtschaftsbetätigung schon
immer kritisch gegenüberstanden und für die der freiheitsstiftende Gedanke des Wettbewerbs seit jeher als
richtig galt.
({1})
Im Übrigen ist Ihre Politik auch völlig widersprüchlich. Erst haben Sie die Reformen mitgetragen. Jetzt
- kurz vor der Liberalisierung - glauben Sie, endlich ein
Thema für den Wettbewerb mit der Linkspartei gefunden
zu haben. Das Briefmonopol eignet sich aber nicht als
weitere Spielwiese für die Diskussion über Mindestlöhne.
Aber auch der Entscheidungsprozess ist für diese Koalition bezeichnend. Da verkündet der Wirtschaftsminister mannhaft: „Ich halte am Ende des Briefmonopols
fest“, während der Finanzminister gleichzeitig über eine
Verlängerung spekuliert.
Nach einem Gipfeltreffen von Frau Merkel und Herrn
Beck zu diesem Thema hieß es: Wir haben uns endgültig
geeinigt; das Briefmonopol fällt. - Wenige Tage später
nutzte dann der Vizekanzler die Gunst der Stunde, um
Herrn Beck wieder einmal vorzuführen. Gegen dieses
ewige Hin und Her ist ein Slalom eine gerade Linie.
({2})
Diese Debatte muss nun dringend beendet werden;
denn sie gibt nicht nur die Bundesregierung der Lächerlichkeit preis. Vielmehr verunsichert sie auch die Marktteilnehmer. Die Argumente sind weitgehend ausgetauscht. Ich möchte nur ganz kurz auf die wesentlichen
eingehen.
Erstens. Wir haben durch eine Liberalisierung die
Chance, eher zu einem Aufbau als zu einem Abbau von
Arbeitsplätzen zu kommen. Es gibt Schätzungen, die
bis zu 53 000 neuen Arbeitsplätzen reichen. Auch die
Furcht vor den ausländischen Anbietern ist unberechtigt.
Postunternehmen handeln global. Arbeitsplätze werden
aber vor Ort geschaffen. Die Wettbewerber der Post sind
weitgehend inländische Unternehmer. Deswegen liegt
eine Marktöffnung auch im deutschen Interesse. Selbst
wenn andere EU-Länder noch länger brauchen, werden
die Widerstände langsam zusammenbrechen. Zudem hat
bislang kein einziges Unternehmen aus einem Land, das
einer Marktöffnung skeptisch gegenübersteht, eine
Lizenz in Deutschland beantragt.
Zweitens. Der Vorwurf des Lohndumpings ist nicht
zutreffend. Das Postgesetz sieht vor, dass die von privaten Postunternehmen gezahlten Löhne das ortsübliche
Lohnniveau für vergleichbare Tätigkeiten nicht erheblich unterschreiten dürfen. Ich darf zu Ihrem Antrag sagen, meine Damen und Herren von der Linken: Es ist
erstaunlich, dass Sie sich auf Bundesebene so starkmachen, während Berlin, das letzte Land, in dem Sie Mitverantwortung tragen, seine Verwaltungspost durch einen Wettbewerber der Deutschen Post AG austragen
lässt.
({3})
Das zeigt doch, wie scheinheilig Ihre Politik und Position ist. Auf der einen Seite verfluchen Sie den Kapitalismus. Auf der anderen Seite nutzen Sie seine Vorzüge.
Ich kann abschließend die wenigen verbliebenen
marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker innerhalb der
Koalition deshalb nur bitten: Knicken Sie nicht schon
wieder ein! Die Widerstände innerhalb der EU gegen das
Ende des Briefmonopols brechen zusammen. Sie sind
zusammen mit der FDP von Verbündeten umgeben. Nutzen Sie wenigstens diesen Punkt, um dem Motto Ihrer
Regierung „mehr Freiheit wagen“ zumindest in einem
kleinen, aber nicht unwichtigen Punkt zum Durchbruch
zu verhelfen!
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Postpolitik erleben wir heute wieder in allen Facetten: den
reservierten Bereich aufheben oder ihn für alle Ewigkeit
aufrechterhalten, Portodiskussion, Arbeitsbedingungen.
Alles kommt vor. Tatsächlich hängt alles miteinander
zusammen. Aber, Herr Zeil, so einfach, wie es sich die
FDP macht - alles wird gut, wenn man liberalisiert -, ist
die Welt nicht. Mein Kollege Dobrindt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das wirkliche Leben gerade in
diesem Bereich anders ist.
In Europa ist die Situation - anders als Sie es behauptet haben - keineswegs geklärt. Die Mehrheiten
sind nach wie vor offen. Ich glaube nicht, dass sich zum
Beispiel die französische Haltung nach den Wahlen geändert hat. Das niederländische Parlament hat erst in diesen Tagen die Entscheidung über eine Liberalisierung
vertagt, und zwar aus denselben Gründen, über die wir
hier diskutieren. Wir sind von einem Konsens weit entfernt. Es bleibt dabei, dass wir die Bundesregierung bei
der zeitnahen Umsetzung des verbindlichen Zeitplans
unterstützen, wie wir ihn im Wirtschaftsausschuss beschlossen haben. Das wäre meiner Meinung nach der eigentliche Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums:
Anstatt innenpolitische Debatten gegen den Koalitionspartner zu führen, sollte es sich darum kümmern, dass
wir uns in der EU mit unserer Linie durchsetzen.
Zum reservierten Bereich in Deutschland. Auch diesbezüglich ist - anders, als es berichtet wurde - noch
keine Entscheidung in der Koalition gefallen. Wir sind
uns noch nicht einig geworden. Wir weisen einfach noch
einmal darauf hin - das hat Herr Dobrindt auch schon
getan -, dass dieser reservierte Bereich kein Selbstzweck
ist.
Es geht vielmehr - erstens - um die Wettbewerbssituation in Europa. Deutschland ist der zentrale Markt von der Bevölkerung her, von der Kaufkraft her und von
der geografischen Lage her. Deshalb kann man uns nicht
mit Vergleichen mit dem offenen Markt in Schweden, in
Finnland und in Großbritannien kommen. Diese liegen
abseits. Das Entscheidende ist, was in Deutschland passiert, wo sich dann der Wettbewerb abspielen wird. Daraus resultiert ein enormer Druck in diesem Wettbewerb
auf alle.
Im Übrigen - auch an die FDP gerichtet -: Der Wettbewerbsdruck, wenn er sich auf Deutschland konzentriert, betrifft doch nicht nur die Deutsche Post AG, sondern alle Wettbewerber in Deutschland; die müssen dann
diesen Druck aushalten.
Der Druck kommt aus Konzernen, Herr Zeil, da hilft
alles nichts. Der Wettbewerb wird nicht auf die Hartz-IVBoten in Ostdeutschland beschränkt bleiben oder auf ein
paar Verlage, die sich jetzt dort tummeln, sondern es
wird sehr schnell dazu kommen, dass vielleicht nicht die
französische Post selbst hier tätig wird, aber über Tochterunternehmen, Beteiligungen und Verflechtungen internationalisiert. Das ist eben der Charakter des europäischen Binnenmarktes. Das sind nicht die Hartz-IVBeschäftigten in den neuen Bundesländern.
Der Druck kommt - zweitens - über die Arbeitsbedingungen. Die Postboten in Deutschland sind, wie wir
alle wissen, nicht auf Rosen gebettet, auch nicht die bei
der Deutschen Post AG. Aber jetzt gibt es Wettbewerber,
die höchstens die Hälfte der Löhne bezahlen, die bei der
Deutschen Post AG üblich sind. Das heißt, es droht kein
Wettbewerb über mehr Dienstleistungen, höhere Qualität, mehr Volumen, sondern es droht eine Kannibalisierung der Unternehmen gegeneinander über die Arbeitsbedingungen.
({0})
Es wäre besser gewesen, man hätte damals auf uns
gehört und das Postgesetz wirklich umgesetzt, nämlich
dass Lizenzen zu versagen sind, wenn die wesentlichen
branchenüblichen Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden.
Anders, als es die FDP behauptet, weist das SäckerGutachten, das die Bundesnetzagentur in Auftrag gegeben hat, zwei Dinge nach: erstens, dass die sozialen
Lizenzbedingungen EU- und verfassungskonform sind
- das wurde immer bestritten -, und zweitens, dass die
Bundesnetzagentur ihren Pflichten leider nicht nachgekommen ist, weil es eben nicht darum ging, wie es immer behauptet wurde, dass das Gesetz auf Arbeitsverhältnisse abhebt, also auf die Frage, ob es sich um
geringfügige Beschäftigungen handelt, sondern darum,
dass es im umfassenden Sinn auf Arbeitsbedingungen
abhebt, nämlich im Wesentlichen, wie es auch der
Rechtsprechung entspricht, auf Lohn, Arbeitszeit und
Urlaub.
Diese Arbeitsbedingungen hätten festgestellt und
durchgesetzt werden müssen. Das heißt, die Rechtslage
ist völlig klar. Deshalb ist auch der Antrag der Fraktion
Die Linke, der uns zu diesem Thema heute vorliegt,
schlichtweg überflüssig.
Stattdessen weiß die Bundesnetzagentur von Amts
wegen bis heute nicht, was in der Branche tatsächlich los
ist. Die Öffentlichkeit weiß es. Wir wissen es aus Gutachten, die von anderer Seite in Auftrag gegeben worden
sind.
Das Tragische ist, dass die neuen Anbieter nicht dorthin gehen, wo die große Kaufkraft ist, wo im Postbereich
ein Geschäft mit höherwertigen Diensten, wie es im Gesetz steht, zu machen wäre, sondern dass sie dort sind,
wo die Arbeitslosenquote am höchsten ist, nämlich im
Wesentlichen in den neuen Bundesländern.
Sehen wir uns nur einmal die Lizenzdichte an. Diese
ist in den neuen Bundesländern dreimal so hoch wie zum
Beispiel in Bundesländern wie Bayern und BadenWürttemberg. Das heißt, sie korreliert unmittelbar mit
der Arbeitslosigkeit.
Dann macht aber Herr Professor Säcker - das macht
uns große Sorge - einen halsbrecherischen Salto rück9900
wärts. Er behauptet - das muss ich hier schon einmal zitieren -:
Für die Feststellung der üblichen Arbeitsbedingungen sind daher auch die Tarifverträge im Subunternehmerbereich und im Bereich von Personalleasingfirmen, die zur Briefbeförderung in der Lage
sind und als Verrichtungs- und Erfüllungsgehilfen
des Lizenznehmers eingesetzt werden können …
als Bezugspunkt der Üblichkeit heranzuziehen.
Auch die Arbeitsentgelte geringfügig Beschäftigter
… sind als übliche Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen …
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen - von lebenslang bezahlten und versorgten Professoren. Diese wollen die Minijobs zum Maßstab des
Postsektors und anderer Sektoren machen. Das wird mit
uns nicht zu machen sein.
({1})
Abgesehen davon, dass hier von Tarifverträgen die
Rede ist, die es gar nicht gibt, ist diese Logik pervers;
denn erst sagt der Herr Professor sinngemäß, eigentlich
dürfte es die Hungerlöhne von 5 Euro und die Hartz-IVAufstocker gar nicht geben; weil es sie aber jetzt gibt,
sind sie plötzlich der Branchenmaßstab. Das heißt,
8 000 Vollzeitbeschäftigte bei den privaten Wettbewerbern im 5-Euro-Bereich sind plötzlich der Maßstab für
90 000 Vollzeitbeschäftigte der Deutschen Post AG. Da
stimmt doch etwas nicht. Zwei Drittel von den
46 000 Beschäftigten der Lizenznehmer sind Minijobber
- 30 000 Leute -, und die sollen der Maßstab - Herr
Dobrindt hat es gesagt - für eine Branche mit 200 000
Menschen werden?
Üblich ist also, was schlecht und billig ist. Wenn der
Markt erst einmal ganz geöffnet ist, zahlen der Arbeitgeber und die Arbeitnehmer der Deutschen Post AG die
Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge dafür, dass
die in- und ausländischen Wettbewerber der Deutschen
Post AG ungestraft Lohn- und Sozialdumping betreiben
dürfen. Das kann doch nicht die Zukunft des Postmarktes in Deutschland sein.
({2})
Deswegen sagen wir ganz klar: Marktöffnung erst dann
und nur dann, wenn der Universaldienst gesichert ist,
wenn die Arbeitsbedingungen klar geregelt sind, nämlich durch Mindestlöhne und dadurch, dass Arbeitsbedingungen definiert, gesichert und kontrolliert werden,
({3})
und wenn der faire Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union möglich ist. All dieses ist bis heute nicht
absehbar. Deswegen möchte ich Sie als Berichterstatter
zu dem Thema bitten, der Ausschussempfehlung zu folgen, die vorliegenden Anträge alle aus den Gründen, die
ich genannt habe, abzulehnen und es der Koalition zuzutrauen, dass sie eine gute Lösung in diesem Bereich findet. Wenn ich mir vergegenwärtige, was Herr Dobrindt
heute gesagt hat, dann kann ich feststellen, dass wir auf
einem sehr guten Weg sind.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich muss erst einmal Herrn
Dobrindt korrigieren: Die Anfrage war von uns, und die
Zahlen habe ich Ihnen gestern schon genannt. Sie können sie heute offiziell im Netz nachlesen.
({0})
Über die 8 000 haben wir gestern schon diskutiert. Ich
musste Sie gestern korrigieren, als Sie von Einzelfällen
sprachen. Es sind 8 000.
({1})
Herr Zeil, Ihre Geschichtserklärung war sehr interessant.
({2})
Ich will Ihnen zur PIN AG nur sagen, dass Tarifverhandlungen geführt werden. Ich finde es richtig, dass man
dort eingegriffen hat. Rot-Rot hat im Koalitionsvertrag
eindeutig gesagt, dass öffentliche Aufträge nur dann vergeben werden, wenn Tarifverträge abgeschlossen werden.
({3})
Ich muss schon sagen: Es ist ein fürchterliches Schauspiel, das die Große Koalition seit Wochen rund um die
gelbe Post bietet.
({4})
Der Briefdienst gehört zu einer Branche - ich freue
mich, dass Sie, Herr Zeil, mir zustimmen -, in der Hungerlöhne voll auf dem Vormarsch sind. Manchmal erinnert das wirklich an frühkapitalistische Verhältnisse.
Briefträgerinnen und Briefträger arbeiten sogar teilweise
für Stundenlöhne von unter 1 Euro. Hinzu kommt - Herr
Barthel, ich bitte Sie, zuzuhören, damit Sie darauf antworten können -, dass es in dieser Branche bereits Tausende sind, deren Monatslohn so niedrig ist, dass sie ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Da geht
es nur um die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, es geht noch nicht einmal um die Minijobs.
({5})
Das lassen Sie zu mit Ihrer Politik gegen die Beschäftigten der Post AG, meine Damen und Herren der Großen
Koalition.
({6})
Was tun Sie? Sie reden und reden und reden. Da gebe
ich meinem Kollegen Zeil recht, der gesagt hat: Hin und
her, rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln. ({7})
Noch schlimmer, Sie wollen den Postmarkt im kommenden Jahr vollständig öffnen und nehmen einen Erdrutsch
von Billigjobs in Kauf. Sie sehen zu, dass hier Zehntausende von regulären Arbeitsplätzen in Gefahr sind. Deshalb fordert auch die Linke, dass das Briefmonopol über
2007 verlängert wird.
({8})
- Das ist richtig. Ich weiß das, Kollege Zeil.
Eine Studie der Gewerkschaft Verdi zeigt, dass der
durchschnittliche Stundenlohn neuer Briefdienstleister
in Ostdeutschland bei etwa 6 Euro und in Westdeutschland bei 7 Euro liegt. Die Deutsche Post AG zahlt noch
einen Stundenlohn von etwa 12 Euro. Aber auch sie beteiligt sich inzwischen durch Tausende Minijobs an dem
Lohn- und Sozialdumping im Briefdienst.
Wie ist es eigentlich zu dem Wettlauf um die billigsten Löhne gekommen? Die SPD hat das Thema Mindestlohn wiederentdeckt. Das ist vielleicht deshalb geschehen, weil sie einmal wieder mit den Gewerkschaften
reden will. Auf einem Flugblatt von Ihnen heißt es:
Lohndumping und prekäre Beschäftigungsverhältnisse
hängen mit der Öffnung des deutschen Postmarktes zusammen. Was ich von Ihnen höre, ist ein bisschen widersprüchlich. Sie wissen es also.
({9})
Es steht auf diesem Flugblatt, und Sie sehen es offensichtlich. Die Linke stimmt Ihnen da völlig zu. Wir fragen uns bloß - darauf habe ich von Ihnen, Herr Barthel,
keine Antwort bekommen -: Warum zieht die SPD daraus keine Konsequenzen?
({10})
- Nein, eben nicht. Sie haben noch keine Antwort gegeben. - Gegenwärtig sind 20 Prozent des Briefmonopols
liberalisiert. Bereits das hat zu einem beispiellosen Sozialdumping geführt. Die entsprechenden Zahlen liegen
auf dem Tisch. Wie können Sie angesichts dessen die
restlichen 80 Prozent dem freien Wettbewerb übergeben? Meine Damen und Herren in diesem Hohen Haus,
niedrige Löhne müssen bekämpft und dürfen nicht gefördert werden.
({11})
Sie dagegen fördern sie.
Um dem Sozialdumping im Briefdienst einen Riegel
vorzuschieben, schlägt die Linke vor, das Postgesetz zu
ändern. Sie müssen verbindliche Standards wie Lohn,
Arbeitszeit und Urlaub festlegen. Briefdienstleistern, die
diese unterlaufen, muss die Beförderung von Briefen untersagt werden.
({12})
Dafür muss nur ein Satz geändert werden. Das kann gar
nicht so schwer sein. Es kostet nichts. Sie müssen nur
Ihre Hand heben für die Beschäftigten der Post AG. Ich
hoffe, die SPD wird dies, entsprechend ihrem Flugblatt,
auch tun.
Handeln werden dagegen Zehntausende Beschäftigte
aus dem Postdienst am kommenden Montag, wenn sie
hier in Berlin gegen die geplante Liberalisierung auf die
Straße gehen. Die Linke wird dabei sein und die Beschäftigten unterstützen. Herr Barthel, sicher werden
auch Sie dabei sein und die Wahrheit sagen.
({13})
- Ja, das werde ich tun.
Diese Verabredung müssen Sie außerhalb Ihrer Redezeit treffen.
Genau. - In diesem Sinne werden wir uns sicherlich
sehen.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren hier über zwei Anträge. Letztlich diskutieren wir über die Aufhebung des Briefmonopols Ende 2007. Ich will für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ganz klar sagen, dass wir für die
Aufhebung des Briefmonopols zum Ende dieses Jahres
sind. Wir halten das für richtig. Hier sind Versprechungen gemacht und Investitionen seitens der Wettbewerber, der Anbieter getätigt worden. Es ist daher richtig,
das Briefmonopol aufzuheben.
({0})
Die Formulierungen von SPD und CDU/CSU, die wir
hier hören, lassen zumindest auf einen heißen Herbst in
dieser Sache schließen. Ich habe noch nicht den Eindruck gehabt, dass Sie sich absolut einig sind.
({1})
- Ja, es ist alles beschlossen. Aber wir kennen ja durchaus die Möglichkeit, dass beschlossene Dinge noch einmal verhandelt werden.
({2})
Ich will Folgendes sagen: Wettbewerb - ja, Liberalisierung - ja; aber wir brauchen einen Wettbewerb unter
ganz klaren Rahmenbedingungen. Wir sind absolut der
Meinung, dass es wichtig ist, über die Lohnstruktur im
Postgewerbe zu sprechen. Herr Zeil, Sie haben behauptet, das sei kein richtiges Problem und die Lohnstruktur
bei den privaten Anbietern sei letztlich nicht so dramatisch, wie es uns teilweise dargestellt werde. Diese Auffassung teile ich nicht. Tatsächlich ist das Lohngefüge
bei privaten Anbietern davon geprägt, dass es Aufstocker gibt und dass man mit aggressivem Lohndumping
in den Wettbewerb eintritt.
({3})
Das heißt für uns:
Erstens. Es ist ganz wichtig, dass die Gewerkschaften
mit den alternativen Postanbietern verhandeln. Das ist
jetzt angekündigt worden, und das ist auch richtig so.
Zweitens. Wir brauchen aber auch branchenabhängige Mindestlöhne, und wir brauchen eine Ausweitung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.
Herr Dobrindt, Sie haben unsere Anfrage angesprochen: In dieser Anfrage steht - das ist der entscheidende
Satz -, dass die Bundesregierung derzeit prüft, ob und
gegebenenfalls welche Maßnahmen im Niedriglohnsektor eventuell auch branchenbezogen ergriffen werden
sollen.
({4})
- Sie kennt das. - Das war eine Anfrage, in der es tatsächlich um die Mindestlöhne im Bereich des Postsektors geht. Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung für Liberalisierung und Wettbewerb einsetzt, dass
sie sich aber auch mit der Lohnstruktur bei den Anbietern auseinandersetzt. Denn Wettbewerb zu unfairen Bedingungen und Wettbewerb über Lohndumping, das ist
nicht korrekt.
({5})
Daher müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen für
den Wettbewerb schaffen.
({6})
Die Große Koalition ist allerdings völlig tatenlos.
Herr Müntefering hat angekündigt, die Frage existenzsichernder Löhne gesetzgeberisch zu klären. Aber das
macht man nicht, indem man Briefe an sich selber
schreibt. Die CDU/CSU blockiert und macht aus unserer
Sicht untaugliche Vorschläge wie die Festschreibung der
Aussage, dass sittenwidrige Löhne sittenwidrig sind; das
wissen wir schon. Wir sagen: Gehen Sie dieses Problem
an, und lösen Sie es. Sie haben noch ein halbes Jahr Zeit.
Dieser Schritt ist dringend erforderlich, um faire Rahmenbedingungen und fairen Wettbewerb gewährleisten
zu können.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
flächendeckende Versorgung. Natürlich muss es so
sein, dass ein Brief aus dem südbadischen St. Peter genauso schnell ins norddeutsche St. Peter-Ording gebracht wird wie von München nach Berlin. Wir müssen
uns über die Frage unterhalten, wie dieser Universaldienst aufrechterhalten und die Regelung zur Entschädigung der Anbieter ausgestaltet werden kann. Der Universaldienst muss gewährleistet sein.
Wir sagen: Die Liberalisierung wird nur dann ein Erfolg, wenn es die Regierung schafft, die Rahmenbedingungen für faire Löhne und flächendeckende Versorgung
zu schaffen. Unserer Meinung nach ist es falsch, zu sagen: Dafür brauchen wir noch ein Jahr mehr Zeit. - Sie
haben noch ein halbes Jahr Zeit. Gehen Sie dieses
Thema an. Dann können wir den Investoren im Mittelstand, die sich darauf eingestellt haben, dass das Briefmonopol im Jahre 2008 fällt, den versprochenen Markt
bieten.
Mein letzter Punkt. Eines sehe ich überhaupt nicht ein
- Herr Barthel, ich finde, in diesem Punkt war Ihre Darstellung nicht richtig -: Die Deutsche Post agiert als globales Unternehmen im europäischen Ausland. Sie aber
wollen nicht - das haben Sie geschildert -, dass die französische Post oder ein anderer europäischer Anbieter auf
dem deutschen Markt agiert. Das ist nicht mein Verständnis des europäischen Binnenmarktes.
({7})
Ich sehe überhaupt nicht ein, dass wir einem Unternehmen Wettbewerbsvorteile gewähren und sich dieses Unternehmen mit seinen Monopolgewinnen dann als globales Unternehmen etablieren kann.
({8})
Wir müssen weg von der Strategie der nationalen Champions und hin zu einer dezentralen und wettbewerbsorientierten Politik mit fairen Rahmenbedingungen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Verlängerung des Briefmonopols - Wettbewerb auf dem deutschen und europäischen Postmarkt ermöglichen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4600, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3623 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4600 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4044
mit dem Titel „Vollständige Öffnung der Postmärkte
stoppen - Universaldienstverpflichtung absichern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Postgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5276, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/4908 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung.
Ich rufe den Tagessordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche
({1}), weiterer Abgeordneter und Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Christoph Pries, Marco Bülow, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Schutz der Wale sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({2}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC stärken
- Drucksachen 16/4843, 16/5105, 16/5284 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Christoph Pries
Eva Bulling-Schröter
Markus Kurth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! In gut zwei Wochen
findet die 59. Jahrestagung der Internationalen Walfangkommission in Alaska statt. Sie wird sich auch in diesem
Jahr wieder mit der Gefährdung, mit der Nutzung und
vor allem auch mit dem Schutz der großen Wale beschäftigen.
Deutschland hat in der Vergangenheit immer auf der
Seite der Walfanggegner, der Walschützer gestanden und
wird diese Position auch in Zukunft mit großem Nachdruck vertreten.
({0})
Bei der letzten Jahrestagung gab es zum ersten Mal
eine knappe Mehrheit für die Walfangbefürworter. Die
hat zwar nicht gereicht, um das Walfangmoratorium
aufzuheben, weil dafür eine Dreiviertelmehrheit notwendig ist. Aber diese knappe Mehrheit hat deutlich gemacht, dass wir uns noch viel stärker engagieren müssen, um weitere Bündnispartner der Walschützer zu
finden.
Deshalb hat sich auch die Bundesregierung gemeinsam mit den Regierungen anderer Staaten in den letzten
Monaten intensiv dafür eingesetzt, weitere Mitgliedsländer für die Internationale Walfangkommission zu finden, Walschützer zu finden, die unsere Position unterstützen und damit auch bei Entscheidungen auf künftigen
Jahrestagungen der Internationalen Walfangkommission
stärken.
Diese Bemühungen waren erfolgreich. In diesem Jahr
werden voraussichtlich 74 stimmberechtigte Mitgliedstaaten an der Tagung teilnehmen. Trotzdem wird es aller Voraussicht nach nur eine knappe Mehrheit für den
Walschutz geben. Aber immerhin: Wir rechnen mit einer
knappen Mehrheit. Das zeigt jedoch ebenso deutlich,
dass wir auch in Zukunft in den Bemühungen nicht
nachlassen dürfen, dass wir uns weiter einsetzen müssen; denn zu dem absoluten Walschutz gibt es aus unserer Sicht keine Alternative.
({1})
Deshalb freuen wir uns sehr über das deutliche Votum
gestern im Umweltausschuss für diese deutsche Position, für den Walschutz. Ich bin sehr dankbar, dass hier
über alle Fraktionen hinweg eine Position gefunden werden konnte, die unsere Verhandlungsposition bei den anstehenden Konferenzen deutlich stärkt. Dafür will ich
ganz ausdrücklich danken.
Wir werden auch dem tödlichen sogenannten wissenschaftlichen Walfang eine klare Absage erteilen; denn
das ist nichts anderes als ein Unterlaufen der Walschutzbemühungen. Wir werden die Inuit und die Eskimos
nicht schwächen und ihnen den Walfang nicht untersagen; denn er gehört zur Erhaltung ihrer Kultur, er gehört
zu ihrer Erhaltung überhaupt. Das wollen wir weiter zulassen; dort werden wir nicht aktiv werden. Aber wir
werden sehr genau darauf achten, dass die Bemühungen
nicht über die Definition, wer Ureinwohner ist, unterlaufen werden, und dass wir keine Ausweitung der Definition bekommen, die sich nach Ansicht von manchen
Walfangbefürwortern auf alle Bewohner von Küstenstaaten erstrecken soll. Das kann aber nicht in unserem
Interesse sein; denn dadurch würden die Walschutzbemühungen deutlich unterlaufen.
({2})
Wir werden die anstehende Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens,
CITES, nutzen, um auch dort unsere Position deutlich zu
machen und um den Antrag von Japan abzulehnen, das
den Schutzstatus der Wale überprüfen will. Auch diese
Konferenz Anfang Juni wird ein wichtiger weiterer Meilenstein in unseren Bemühungen sein. Wir werden unsere
Rolle im Rahmen der Präsidentschaft nutzen, um Europa
dort mit einer starken Position in diesem Sinne zu vertreten.
({3})
Die Bundesregierung wird auch weiterhin jegliche
Initiativen ablehnen, die gerade im Nachgang zu der Erklärung von St. Kitts und der von Japan ausgerichteten
Normalisierungskonferenz auf eine Normalisierung - das
bedeutet in dem Fall eine Wiederzulassung des kommerziellen Walfangs nach IWC-Regeln - zielen. Wir werden
dort jegliche Initiativen in dieser Richtung ablehnen und
all jene Initiativen aktiv unterstützen und an diesen mitwirken, die auf den Walschutz gerichtet sind, und Resolutionen weiter voranbringen.
Wir brauchen diese Allianzen für den Walschutz. Damit verbinden wir die Zielsetzung, das Moratorium aufrechtzuerhalten und den sogenannten wissenschaftlichen
Walfang zu beenden.
In diesem Sinne wollen wir die Zusammenarbeit in
der IWC noch weiter ausbauen. Wir wollen auf die Verringerung von Konfrontationen unter den Mitgliedstaaten hinwirken; das heißt auch, den Schutz der Wale
durch mehr Meeresschutz, also nicht nur durch Beschlüsse für den Walschutz, sondern auch durch aktiven
Meeresschutz, zum Beispiel durch Anstrengungen zur
Vermeidung von Beifängen in der Fischerei, und die
Ausweisung von Walschutzgebieten im Verbund mit anderen Staaten voranzubringen. Dafür brauchen wir eine
politische Mehrheit. Dabei hilft uns das klare Votum des
Deutschen Bundestages. Dafür ein herzliches Dankeschön.
({4})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin
Angelika Brunkhorst.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wale
haben einen besonderen Symbolwert für den Schutz der
Meere und können als Indikator für den Gesamtzustand
der Ozeane angesehen werden. Darüber hinaus spielen
beim Walfang natürlich auch große Emotionen eine
Rolle.
Wir von der FDP haben zwar jetzt zu diesem Punkt
keinen gesonderten Antrag vorgelegt, aber wir haben
uns in einem aktuellen maritimen Antrag auch mit dem
Gesamtzustand der Meere, den äußeren Einflüssen und
den notwendigen Schutzmaßnahmen befasst. Trotz einiger Erfolge ist der Schutz der Meere nach wie vor eine
große Herausforderung. Die Erhaltung der Ökosysteme
und der biologischen Vielfalt der Meere dient dem
Schutz der gemeinsamen natürlichen Ressourcen. Davon
wollen letztendlich auch wir immer wieder profitieren.
Ich denke, das ist ein Ziel, das nur durch internationale
Vereinbarungen erreicht werden kann.
({0})
Neben dem kommerziellen Walfang sind die Meeressäuger unterschiedlichsten Umwelteinflüssen ausgesetzt. Das wissen wir alle. Die Gleichgewichte in der
Nahrungskette verschieben sich, der CO2-Anstieg führt
zur Versauerung der Meere, und durch die Klimaerwärmung steigen auch die Wassertemperaturen, was die
Wale gar nicht mögen. Die Bedrohung der Wale durch
äußere Einflüsse ist nicht geringer geworden. Die schädlichen Einflüsse durch Eintrag von Schadstoffen und
durch Zunahme des Unterwasserlärms - das wird ein immer drängenderes Problem werden - bestehen fort. Auch
die Folgen der Überfischung sind nicht zu unterschätzen,
weil das zunehmend zur Nahrungsknappheit für die
Wale führt. Kleinwale und Delfine - wir haben im Deutschen Bundestag ja schon über einzelne diesbezügliche
Anträge debattiert - finden als Beifang aufgrund der
Fangmethoden häufig den Tod.
Der Schutz der Wale ist ein Anliegen aller Fraktionen;
das hat Frau Klug eben schon festgestellt. Es gab dazu
bereits im Jahre 2003 einen interfraktionellen Antrag,
nämlich von den Fraktionen der damaligen rot-grünen
Koalition zusammen mit der FDP. Ich denke, die Positionen, die dort vertreten wurden, haben heute noch Gültigkeit. Wir von der FDP freuen uns natürlich, dass sich
jetzt die CDU/CSU im Gegensatz zu damals dem Schutz
der Wale in gleicher Weise widmet.
Ich denke einmal, die Forderungen nach einem strikten Walfangverbot, nach Beschränkung des wissenschaftlichen Walfangs und nach Einschränkung des Handels mit Walprodukten sind Anliegen aller Initiativen.
Wir werden beiden vorliegenden Anträgen zustimmen.
Die FDP stimmt darüber hinaus in vollem Umfang der
Forderung zu, weitere Schutzgebiete auszuweisen bzw.
bestehende zu erweitern.
({1})
Das Walfangmoratorium zeigt erste Erfolge. Die
Walbestände erholen sich aber sehr langsam; das ist ganz
klar, denn die Reproduktionszyklen der großen Walarten
erstrecken sich über lange Zeiträume. Die Bestände können sich nicht in einigen Jahren, sondern nur im Laufe
von Jahrzehnten regenerieren. Deshalb ist die Einführung
eines funktionierenden internationalen Inspektions- und
Überwachungssystems notwendig, um sicherzustellen,
dass die Schutzgebiete auch wirklich beachtet werden. Es
besteht - Frau Klug hat es angesprochen - derzeit tatsächlich die Gefahr, dass das Walschutzmoratorium ins Wanken gerät, und zwar deswegen, weil es verschiedenste Initiativen der Pro-Walfang-Staaten Japan, Island, Norwegen
und Dänemark gibt, um eine Lockerung des Walfangverbotes zu erwirken.
Es ist zu befürchten, dass sich bei der schon angesprochenen IWC-Tagung und den Verhandlungen zum Washingtoner Artenschutzabkommen die Mehrheiten verschieben. Wir hoffen natürlich, dass sie sich nicht in die
falsche Richtung verschieben. Aber deswegen ist es
heute besonders wichtig, dass aus dem Deutschen Bundestag ein klares Signal kommt und dass die Fraktionen
sich einig sind.
In dem Sinne hätte ich mir gewünscht, dass ein interfraktioneller Antrag auf den Weg hätte gebracht werden
können. Ein kleiner Wermutstropfen bei der Geschichte
ist, dass die Koalitionsfraktionen den Antrag von den
Grünen vielleicht nicht befürworten. Aber möglicherweise haben Sie sich ja noch eines Besseren besonnen.
({2})
Ebenso wichtig ist, dass auch die Europäische Union
jetzt eine klare Linie vertritt und auf das Mitgliedsland
Dänemark einwirkt. Das ist sehr wichtig, und das müsste
auch zu schaffen sein.
Der Fortbestand des Moratoriums ist uns ein Anliegen. Wir werden uns gleichzeitig dafür einsetzen, dass
die indigenen Völker weiterhin nachhaltigen Walfang
für den eigenen Bedarf betreiben dürfen.
Zum Schluss möchte ich einen Appell an uns selbst
richten. Auch wir sind ja ein Land mit weiten Küstenabschnitten. Ich bin sehr dafür, dass die maritime Wirtschaft ihren Platz findet. Aber wir müssen natürlich bei
allen unseren Bestrebungen im Küstenbereich - Hafenausbau, Hafenerweiterung, Ausbau von Offshoreanlagen, Pipelineausbau - darauf achten, die sensiblen Lebensräume der Wale zu schützen, sie nicht zu
verkleinern, damit sie ihre Kinderstuben behalten können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Ingbert Liebing.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ende dieses Monats finden sich in Anchorage in Alaska
die Mitglieder der Internationalen Walfangkommission,
IWC, wieder zu ihrem jährlichen Treffen zusammen. Ich
bin sicher, dass diese Konferenz ein ungleich höheres internationales öffentliches Interesse hervorrufen wird als
die vorangegangenen Konferenzen. Schließlich ist das
Treffen im letzten Jahr besonders durch die unrühmliche
St.-Kitts-Deklaration aufgefallen, mit der sich erstmals
eine Mehrheit der Mitgliedstaaten der IWC für die Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs ausgesprochen hat. Zwar haben sie die notwendige Dreiviertelmehrheit verfehlt, um das seit 1982 bestehende
Moratorium gegen den kommerziellen Walfang aufzuheben; aber es war schon ein Alarmsignal.
Im Februar hat die japanische Regierung, die seit
Jahren unter zweifelhaftem Deckmantel sogenannten
wissenschaftlichen Walfang betreibt, ein ebenso fadenscheiniges Treffen der Walfangbefürworter in Tokio organisiert. Man sprach von einem Normalisierungstreffen, dem Deutschland sowie die anderen erklärten
Walschutzstaaten demonstrativ ferngeblieben sind. Die
Intention dieses Treffens bestand offenkundig nicht darin, den IWC-internen Konflikt zu lösen. Vielmehr sollte
der Konflikt in diplomatischer Rhetorik erstickt und der
Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs der Weg
bereitet werden. Deswegen ist es gut, dass sich unsere
Bundesregierung auf dieses Possenspiel nicht eingelassen hat.
({0})
Aber die Fronten sind klar, und es besteht weiterhin
die Gefahr, dass sich in Zukunft die notwendige Dreiviertelmehrheit findet, um das Walfangmoratorium aufzuheben. Gerade Japan wirbt sehr offensiv um neue
IWC-Mitglieder, deren unabhängiges Stimmverhalten
angezweifelt werden darf. Es heißt, dass hier Entwicklungshilfegelder an Stimmverhalten gekoppelt worden
seien. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann wäre
das ein absolut inakzeptables politisches Gebaren Japans.
In dieser Situation ist es besonders bedeutungsvoll,
dass ein klares Signal für den Schutz der Wale, der „Giganten der Meere“, aus Deutschland kommt. Wir können
bei weitem noch nicht von einer Erholung der Bestände
ausgehen, sodass eine Aufhebung des Walfangmoratoriums gerechtfertigt wäre. Die Bestände liegen teilweise
noch unter 20 Prozent des Ausgangsbestandes. Deshalb
müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um dem Schutz
der Wale gerecht zu werden.
({1})
Das gilt für die Beschlüsse der IWC im Mai in Anchorage, es gilt genauso für die Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzabkommens, CITES,
im Juni in Den Haag, und es wird auch im kommenden
Jahr in Bonn gelten, wenn die 9. Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt hier bei uns in Deutschland stattfindet.
Denn diese Konferenz legt Deutschland eine besondere
Verantwortung auf, insbesondere wenn es um den
Schutz der marinen Arten geht. Deswegen haben wir als
CDU/CSU-Fraktion die Initiative für einen Bundestagsbeschluss ergriffen, der Ihnen jetzt als Antrag der Koalitionsfraktionen vorliegt. Ich freue mich, dass diesem Antrag gestern im Umweltausschuss alle Fraktionen
zugestimmt haben.
({2})
Weil eine fraktionsübergreifende Beschlussfassung
ein gutes Signal ist, waren wir als Koalitionsfraktionen
gerne bereit, zwei Änderungsvorschläge von Bündnis 90/
Die Grünen zu übernehmen, um auch Ihnen die Zustimmung zu unserem Antrag zu ermöglichen. Ein solches
einstimmiges Votum ist ein ganz wichtiger Schritt und
ein deutliches Plädoyer für den Walschutz, der von
Deutschland ausgeht.
Unser Antrag enthält die Ablehnung jeglicher Vorschläge, die zur Wiederaufnahme des kommerziellen
Walfangs führen. Die Europäische Union müsste unserer Auffassung nach aber mit einer einheitlichen Position
vertreten sein. Wir wissen, dass es dabei noch ein Problem mit unserem Nachbarn Dänemark gibt. Aber das
lösen wir nicht, indem wir die Dänen an den Pranger
stellen. Die Sensibilität der Dänen habe ich gerade in der
vergangenen Woche erneut erlebt, als ich mit der Gruppe
der schleswig-holsteinischen CDU-Abgeordneten in Kopenhagen war. Hierbei ist diplomatisches Gespür nötig,
und ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung in
diesem Sinne wirksam vorgeht. Das ist auch der entscheidende Grund, weshalb wir dem Antrag der Grünen
nicht zustimmen können.
Ansonsten sind wir uns in der Sache ja sehr einig
- das ist gut -, auch in der Ablehnung des sogenannten
wissenschaftlichen Walfangs, wie er von Japan praktiziert wird. Unter diesem Vorwand sind seit 1986 etwa
26 000 Wale getötet worden. Für die daraus gewonnenen
Produkte gibt es nicht einmal in den walfangbetreibenden Staaten Absatzmärkte. Wesentliche wissenschaftliche Erkenntnis daraus gibt es genauso wenig.
Etwas ganz anderes ist unserer Auffassung nach der
Subsistenzwalfang, also jener traditionell betriebene
Walfang der Inuit-Gemeinschaften Alaskas und Russlands. Dafür sind zu Recht die entsprechenden Fangquoten freigegeben worden. Dabei handelt es sich - wenn
man es vernünftig definiert - um eine nachhaltige, den
Walbestand nicht gefährdende Art der Bejagung. Diese
Völker wissen, wie sie mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen umzugehen haben. Sie sägen gerade nicht
den Ast ab, auf dem sie sitzen.
Wir dürfen aber auch nicht aus den Augen verlieren,
dass es noch weitere Gefährdungen für die Wale gibt.
Über die Bedrohung der Meeresökologie durch Klimawandel, zunehmende Versauerung und Verschmutzung
der Gewässer, Unterwasserlärm sowie Überfischung und
Fischereipraktiken, die die marinen Ökosysteme dauerhaft schädigen, haben wir in der Vergangenheit bereits
mehrfach diskutiert. Dadurch werden die Wale in besonderem Maße in Mitleidenschaft gezogen.
Vor ein paar Tagen konnten wir in den Zeitungen lesen: Kanadische Grauwale vom Hungertod bedroht. Es
ist eine akute Hungersnot ausgebrochen, die sich zunächst selbst Walforscher nicht erklären konnten. Im
schlimmsten Fall könne diese für die betroffene Grauwalpopulation genau das einleiten, was wir mit dem
Walfangmoratorium eigentlich verhindern wollen, nämlich das Aussterben dieser Art. Mittlerweile ist geklärt,
dass diese Unterernährung auf ein Fehlen kleiner Krustentiere zurückzuführen ist, die den Walen als Nahrungsgrundlage dienen. Diese wiederum wurden aufgrund des
deutlich erwärmten Pazifikwassers stark dezimiert. Die
natürliche Nahrungskette ist unterbrochen worden.
({3})
Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, welche gravierenden
Auswirkungen der Klimawandel gerade auf die Meere
und die marinen Ökosysteme hat. Es zeigt, wie nötig der
Schutz der Meere ist.
Der Walfang ist eine Bedrohung für diese schützenswerten Arten. Wir wollen dieser Bedrohung kraftvoll
entgegentreten. Lassen Sie uns deshalb ein deutliches Signal nach Anchorage senden! Stärken wir unserer Bundesregierung den Rücken für den Schutz der Wale!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
85 Millionen Tonnen Fisch werden jährlich gefangen.
Mit in die Netze gehen 30 Millionen Tonnen Meerestiere, Jungfische, Seesterne, Muscheln, Krebse, Haie
und 60 000 Wale, die keiner will - Beifang, behandelt
wie Müll. Zu diesem Müll gehört auch der Grauwal, ein
Nomade der Meere. Im Laufe seines Lebens schwimmt
er eine Strecke bis zum Mond und wieder zurück. Nationalstaatliche Rechtsklüngeleien sind ihm wurscht; er
kennt keine Grenzen. Deshalb sind internationale Regeln
so wichtig, auch und gerade im Meer.
({0})
Nur sie können diesen gigantischen Säuger vor Fischund Walfang schützen, wie das Walfangmoratorium
von 1982.
Jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Japaner wünschen
sich eine „Normalisierung“ der Internationalen Walfangkommission, das heißt die Wiedereinführung des kommerziellen Walfangs. Bei der letzten IWC-Tagung waren
30 Mitgliedstaaten dafür. Ich halte das für eine Tragödie.
({1})
Aber noch lebt das Moratorium. Es muss weiterleben,
ohne Wenn und Aber.
Deshalb fordern wir:
Erstens. Keine als Wissenschaft getarnten Walfänge.
Zweitens. Keine Quotenfänge und deshalb kein Revised Management Scheme. Dieser geschwollene Begriff steht für Bewirtschaftungsverfahren und bedeutet
Quotenfang durch die Hintertür.
Drittens. Ein nationales Verbot für den Verkauf jeglicher Walprodukte - wo kein Absatzmarkt, da keine Gewinnaussichten.
({2})
Viertens. Kein internationaler Handel mit Walprodukten. Entsprechende Resolutionsvorschläge sind abzulehnen.
Fünftens. Kein Small-Type Coastal Whaling. Wer
hier so putzig von traditionellem oder subsistenzwirtschaftlichem Küstenwalfang spricht, der lügt. Küstenwalfang ist kommerzieller, gnadenloser Walfang. Deshalb stimmen wir beiden Anträgen zu.
Sechstens. Wale und Delfine sollen nicht nur vor dem
Fang geschützt werden. Dreck aus der Chemie- und Ölindustrie, Lärm, zerstörerische Fischfangflotten, Militär
und Munitionssprengungen gefährden die Säuger ebenfalls.
Meine Damen und Herren, alle weltweit bekannten
Walarten sind gefährdet, auch die vor der eigenen Haustür. Frau Staatssekretärin Klug, im April hat das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie in Clausthal-Zellerfeld eine Untersuchung der Erdgasvorkommen mit
seismischen Tests in der Nordsee genehmigt. Dass es in
der Nordsee Schweinswale gibt, ist bekannt. Seit wenigen Tagen weiß man auch, dass es am Testort sogar
Zwergwale gibt. Vielleicht nicht mehr lange: Schallimpulse mit 260 Dezibel donnern alle acht Sekunden und
24 Stunden täglich bis zum Herbst durch das Wasser - in
einem Naturschutzgebiet! Das ist qualvoller Lärm für
die Wale. Zum Vergleich: Wenn auf Ihrer Schulter ein
Feuerwerkskörper explodiert, dann ist das nur halb so
laut wie das, was den Walen angetan wird.
Ich frage mich schon, warum das Bergbauamt nicht
den Empfehlungen des Bundesamts für Naturschutz
folgt. Wir müssen auch hier die Wale schützen.
({3})
Deshalb fordert die Linke für die einheimischen Walarten erstens einen sofortigen Stopp der seismischen
Tests in der Nordsee, zweitens keine Genehmigung von
Munitionssprengungen in der Ostsee, drittens die Aufnahme von Großwalen in das ASCOBANS-Abkommen,
viertens die Ausdehnung und Erforschung weiterer Meeresschutzgebiete und fünftens Regeln, wie und wann
seismische Tests gemacht werden dürfen. Das, denke
ich, müssen wir jetzt angehen.
Danke.
({4})
Cornelia Behm ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie Staatssekretärin Klug eingangs festgestellt hat, ist es in diesem Jahr ganz besonders wichtig,
dass Deutschland weiterhin für einen strikten Walschutz
eintritt und deutlich macht, wie wichtig das Walfangmoratorium ist. Es gilt, die Mehrheit für das Moratorium
durch inhaltliche Überzeugungsarbeit und Anwerbung
neuer im Walschutz engagierter Mitgliedstaaten zurückzugewinnen. Daher fordert das Bündnis 90/Die Grünen
vor der diesjährigen Jahrestagung vom 28. bis 31. Mai in
Anchorage ein klares Signal der Bundesregierung zugunsten der Wale und gegen den Walfang.
({0})
Wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ihre Aktivitäten im
Walschutz zu verstärken. Wir Grüne begrüßen sehr,
dass auch die schwarz-rote Bundesregierung an der Ablehnung des Walfangs festhält. Dies war im Übrigen keineswegs selbstverständlich, wenn man erlebt hat, wie
walfangfreundlich die Union - Herr Liebing, ich muss es
leider sagen - in der letzten Legislaturperiode im Bundestag agiert hat. Zur Anhörung „Schutz der Walbestände“ hatte die Union - und im Übrigen auch die FDP Sachverständige unter anderem aus Norwegen und
Island bestellt, die versuchten, den Walfang als notwendig und sinnvoll hinzustellen und die Gefahren für das
Ökosystem Meer herunterzuspielen. Auch die gesamte
Fragestrategie der Union war darauf ausgerichtet, die
Argumente der Walschützer infrage zu stellen und die
der Walfänger zu stützen.
Offensichtlich hat der öffentliche Druck von Umweltund Tierschutzverbänden und der Druck von uns Grünen
die Union zu einer Kehrtwende bewegt. Dies begrüßen
wir, da uns, wie gesagt, sehr viel daran liegt, dass
Deutschland weiter zu den Walschutzländern gehört.
Deshalb und weil wir diesem Anliegen möglichst großen
Nachdruck verleihen wollen und da in Ihrem Antrag
keine Aussagen stehen, die wir Grüne ablehnen, stimmen wir dem Koalitionsantrag zu.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebing?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Behm, ich will zwar die traute Gemeinsamkeit heute Nachmittag bei diesem Thema nicht stören. Aber da Sie in die Historie zurückgegangen sind,
möchte ich Sie fragen, ob Sie von mir noch einmal hören
möchten, was die CDU-Kollegin Gitta Connemann seinerzeit in der Debatte, als es um das Thema Walschutz
ging, wirklich gesagt hat. Damals hat unsere Kollegin
Connemann ausgeführt -
Jetzt müsste aber eigentlich erst die Kollegin Behm
Gelegenheit haben, Ihre Frage, ob sie das wirklich hören
möchte, zu beantworten.
Ich würde Ihre Frage gerne beantworten. Ich möchte
nämlich das, was Sie jetzt zitieren wollen, nicht hören.
Das würde nur einen kurzen Ausschnitt der gesamten
Anhörungsdebatte wiedergeben und damit den Sinn mit
Sicherheit verfälschen. Deswegen verzichte ich auf Ihr
Angebot.
({0})
Zurück zu den Anträgen. Unser Antrag - so muss ich
Ihnen sagen - erledigt sich mit dem Koalitionsantrag
nicht; denn in unserem Antrag erheben wir Grüne mehrere Forderungen, die im Koalitionsantrag fehlen. Dazu
gehört die Aufforderung, einem Walfangmanagementsystem nicht zuzustimmen. Auch soll die Bundesregierung etwaigen Anträgen auf die Vergabe von Küstenwalfangquoten die Zustimmung verweigern. Es muss klar
sein, dass beides der Einstieg in die Wiederaufnahme des
kommerziellen Walfangs wäre.
Außerdem soll die Bundesregierung für den Widerruf
der St.-Kitts-&-Nevis-Deklaration eintreten. In unserem
Antrag wird konkret Dänemark als dasjenige EU-Land
benannt, das es zu überzeugen gilt, seine walfangfreundliche Haltung zu überdenken. Weiterhin hat es SchwarzRot versäumt, der Bundesregierung einen Auftrag zu geben, sich im Zusammenhang mit CITES dafür einzusetzen, dass sämtliche in Anhang I - dort sind die besonders zu schützenden Arten gelistet - aufgeführten
Walarten dort auch weiterhin verbleiben, damit mit diesen auch zukünftig nicht gehandelt werden darf. Wegen
dieser notwendigen Forderungen wäre es gut, wenn auch
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
unserem Antrag zustimmen würden. Wir empfehlen im
Übrigen, nicht mit der Keule nach Dänemark zu gehen.
Zum Schluss nur noch dies: In einem Nebensatz fordert die Koalition die Bundesregierung auf, für konkrete
Maßnahmen zum verbesserten Schutz aller Walarten vor
Lärm einzutreten. Zu diesem Problem hat Bündnis 90/
Die Grünen bereits einen weitergehenden Antrag eingebracht. Den werden wir, denke ich, bei anderer Gelegenheit hier gesondert beraten.
Danke schön.
({1})
Nun erhält der Kollege Liebing das Wort zu einer
Kurzintervention, vermutlich auch, um uns nun das Zitat
vorzutragen. Bitte schön.
({0})
Jeder mag selber bewerten, warum Sie das Zitat nicht
hören möchten. Aber da Sie mit Ihrer Darstellung der
Vergangenheit den Eindruck erweckt haben, als ob die
CDU/CSU-Fraktion seinerzeit in der Anhörung und im
Plenum die Position von Island und Norwegen quasi unkritisch übernommen hätte, möchte ich gerne zitieren,
was seinerzeit die Position der CDU/CSU-Fraktion gewesen ist. Damals hat Gitta Connemann für unsere Fraktion ausgeführt:
Deutschland ist 1982 der Internationalen WalfangKommission IWC beigetreten und hat sich seit
1986 für das Verbot des kommerziellen Walfangs
eingesetzt sowie die Schaffung von Walschutzgebieten unterstützt. Wir waren uns darin alle einig.
Uns verbindet die Erkenntnis, dass wir die Wale
schützen und sie vor der Ausrottung bewahren müssen.
Sie nimmt damit Bezug darauf, dass alle Bundesregierungen seit der Bundesregierung von Helmut Kohl
das Verbot des kommerziellen Walfangs aktiv unterstützt
haben.
Sie hat weiter ausgeführt:
Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass Wale
auch ohne Legalisierung des Walfangs durch Umweltveränderung bedroht sind wie nie zuvor. Dazu
gehören die Klimaerwärmung, die Verschmutzung
der Meere, aber auch die Bedrohung durch Lärm.
Wale leben in einer akustischen Welt, ihr Gehör ist
ihr wichtigstes Organ. Wir brauchen deshalb auch
das Einvernehmen der Nationen für einen besseren
Klima- und Umweltschutz. Wir brauchen gemeinsame Strategien gegen die Lärmverschmutzung.
Wir brauchen Einigkeit, um das seit 1994 bestehende Schutzgebiet Antarktis nicht zu verlieren,
sondern mehr zu gewinnen.
Dies sind deutliche Belege dafür, dass die CDU/CSUFraktion auch seinerzeit deutlich für den Walschutz eingetreten ist.
Vielen Dank.
({0})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir alle wünschen ausdrücklich nur den Mitgliedern der IWC in Anchorage Erfolg, die sich für den Walschutz einsetzen. In
diesem Fall, denke ich, ist es gut, nur einen Teil einer
Konferenz zu begrüßen.
Es wurde hier darauf hingewiesen, dass der Antrag im
Umweltausschuss beraten wurde, und es wurde gerade
die Frage gestellt, wie ein Mitglied des Ausschusses für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz für
Großwale zuständig sein kann. Auch im Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beschäftigen wir uns mit diesen Themen. Hier hat es ebenfalls eine einmütige Zustimmung zu unserem Koalitionsantrag gegeben.
Das, was Kollege Liebing bereits gesagt hat, ist richtig: Die Bestandszahlen der meisten Walarten nehmen
ab, und das trotz des Moratoriums. Es freut mich, dass
wir hier und heute einen so klaren Auftrag zum Schutz
der Wale ergehen lassen und damit unsere Bundesregierung bei der Tagung in Anchorage unterstützen.
Ich freue mich auch, dass es uns gelungen ist, die
Mehrheiten für den Walschutz auszubauen. Wir begrüßen Kroatien, Slowenien und auch Zypern auf der Seite
der Walschützer. Wir fordern unsere Bundesregierung
auf, weiterhin aktiv bei anderen Staaten für den Walschutz zu werben.
({0})
Wale - das wurde schon gesagt - werden nicht nur
durch den Walfang gefährdet. Ihre Lebenswelt und damit
sie selber werden immer stärker durch die Begleiterscheinungen unserer modernen Welt gefährdet: Meeresund Umweltverschmutzung, Klimawandel, Beifänge in
der Fischerei, Schiffsverkehr, Unterwasserlärm und
Offshoreaktivitäten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen sogenannten negativen anthropogenen Einflüssen - so nennt
man den Schaden, den wir Menschen erzeugen - konsequent entgegenzutreten.
Im September letzten Jahres haben wir hier den Antrag „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale
schützen“ einstimmig beschlossen und klargestellt, dass
wir eine Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen im
Ochotskischen Meer vor Sachalin - das ist eine Insel in
der Nähe von Japan, die zu Russland gehört - zulasten
dieser letzten Population - das kann auch zum Tod der
Tiere führen - nicht zulassen wollen. Das war konkreter,
praktizierter Walschutz.
Wir wollen aber - eine Kollegin hat das bereits erwähnt - nicht nur in die Ferne schweifen. Mit dem Abkommen zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ostsee haben wir auch den Schutz unserer heimischen Wale,
Schweinswale, Zwergwale, vorangetrieben. In der Doggerbank werden seit einigen Wochen seismische Messungen vorgenommen, ausgerechnet jetzt, wo viele
Schweinswale trächtig sind. Das ist eine massive Gefährdung. In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen:
Es ist erstaunlich, dass wir auf Bundesebene konsequent
Walschutz betreiben und uns in internationalen Gremien
für den Walschutz einsetzen, die Regierung in Niedersachsen es aber versäumt, Walschutz zu betreiben. In
diesem Zusammenhang könnte man fast von einer Wolfim-schwarzen-Schafspelz-Regierung sprechen. Es kann
nicht angehen, dass wir zwar global denken, aber lokal
nicht handeln.
({1})
Auch ich unterstütze ausdrücklich die Forderung des
Bundesamtes für Naturschutz nach begleitenden Forschungsarbeiten, mit der Option, diese seismischen Untersuchungen im Bedarfsfall einzustellen.
Hinzu kommt, dass die Doggerbank ein Flora-FaunaHabitat-Schutzgebiet ist und als solches an die Europäische Kommission gemeldet wurde. Mit der Ausweisung
dieser Gebiete wollen wir einen aktiven Beitrag zur Förderung der biologischen Vielfalt leisten; denn wir wollen
nicht, dass wir Wale bald nur noch in ausgestopfter Form
im Naturkundemuseum betrachten können. Daher freue
ich mich über die Aktivitäten der Bundesregierung und
über unsere internationalen Bemühungen. Ich hoffe, dass
wir in unserem föderalen System die Kraft haben, auch
in Niedersachsen aktiv Walschutz zu betreiben.
Dazu lade ich uns alle ein.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
mit dem Titel „Schutz der Wale sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/5284, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4843 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5284 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrages der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü9910
Präsident Dr. Norbert Lammert
nen auf Drucksache 16/5105 mit dem Titel „Am Walfangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das ist nicht mehr ganz so einmütig. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen. Der gegenteilige
Antrag ist damit nicht zum Zuge gekommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen
Arbeitnehmerüberlassung ({0})
- Drucksache 16/4805 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der
Bundesagentur für Arbeit, IAB, stellte im vergangenen
Jahr in einer Untersuchung zum Thema Leiharbeit fest,
dass Leiharbeit Lohndumping begünstigt und bei den
Beschäftigten zu erheblichen Einkommenseinbußen
führt. Leiharbeiter verdienen deutlich weniger als die
Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, die die gleiche
Arbeit verrichten, aber fest angestellt sind. Insbesondere,
so die IAB-Studie, bieten die Einstiegsentgelte in den
unteren Lohngruppen mit 5 bis 6 Euro pro Stunde für
Vollzeitarbeit kein existenzsicherndes Einkommen.
({0})
Einen Augenblick! - Darf ich bitten, die offenkundig
nicht alle diesem Thema gewidmeten Gespräche für einen Augenblick zurückzustellen und für das Maß an
Aufmerksamkeit zu sorgen, auf das der Redner Anspruch hat? - Danke schön.
Danke schön, Herr Präsident. Nicht nur ich, sondern
auch die Leiharbeiter haben Anspruch auf Aufmerksamkeit.
({0})
Was tut die Bundesregierung? Einerseits preist die
Bundesregierung in den verschiedensten Veröffentlichungen Leiharbeit als Beschäftigungsform der Zukunft. In der Tat hat Leiharbeit in den letzten Jahren
drastisch zugenommen, allein von 2005 auf 2006 um
mehr als 20 Prozent. Andererseits - das finde ich hochinteressant - gibt es eine ganze Reihe von offiziellen Äußerungen, auch von der Bundesregierung, in denen - ich
sage es einmal mit meinen Worten - die miserable Qualität von vielen Leiharbeiten und Leiharbeitsverhältnissen anhand von eigenen Untersuchungen bestätigt wird.
Beispielsweise steht im „Bericht der Bundesregierung
über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der
Arbeit … im Jahre 2005“:
Die Zeitarbeit ist in weiten Bereichen gekennzeichnet durch schlechte Arbeitsbedingungen, gering
qualifizierte Tätigkeiten, fehlende Partizipation und
im Durchschnitt schlechte Entlohnung …
Im Zehnten Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des AÜG heißt es:
Besonders bei Großbetrieben sind Tendenzen erkennbar, Stammpersonal durch Leiharbeitnehmer
zu substituieren. Zum Teil werden Mitarbeiter entlassen, um sie über hauseigene Verleihfirmen zumeist zu ungünstigeren Tarifbedingungen in den alten Betrieb zurück zu entleihen.
Ich habe in den letzten Tagen und auch heute eine
Reihe von Gesprächen geführt mit Betriebsräten sowohl
von Leiharbeitsunternehmen als auch von Unternehmen,
die solche Praktiken, Leiharbeit zum Lohndumping zu
benutzen, einsetzen. Die Meinung der Betriebsräte ist
einhellig: Hier ist dringender gesetzlicher Handlungsbedarf vorhanden.
({1})
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Prinzip
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder einführen.
Mit den Hartz-Gesetzen ist dieses Prinzip in einem ganz
zentralen Bereich durchlöchert worden, und zwar mit
den Ausnahmeregelungen, die 2005 eingeführt wurden.
Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf erreichen, dass
diese Ausnahmeregelungen zurückgenommen werden
und das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder für alle gilt.
({2})
Die unmittelbaren Vorteile der gleichen Entlohnung
von Leiharbeit liegen auf der Hand: Eine Regelung wie
die, die wir vor 2005 im Prinzip hatten und die wir mit
unserem Gesetzentwurf im Interesse sowohl der Leiharbeitsunternehmen als auch der Entleiher, vor allen
Dingen aber der Betroffenen wieder einführen wollen,
begrenzt Lohndumping und schützt reguläre Beschäftigungsverhältnisse.
({3})
Beim Thema „Lohndumping“ und „reguläre Beschäftigungsverhältnisse“ will ich noch auf einen Punkt hinweisen, der gleichzeitig mit weiteren Initiativen geregelt
werden muss: Offensichtlich nimmt das Bestreben zu,
dass Unternehmen eigene AÜG-Gesellschaften gründen
mit dem ausschließlichen Ziel, sichere Arbeitsplätze
- Stammarbeitsplätze - abzubauen und Lohndumping
zu betreiben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf
einen Artikel im „Betriebs-Berater“ vom November
2004, in dem zwei Rechtsanwälte unter der Überschrift
Absenkung des Tarifniveaus durch die Gründung
von AÜG-Gesellschaften als alternative oder flankierende Maßnahme zum Personalabbau
auf der Basis der Rechtsregelungen, die 2005 eingeführt
worden sind, einen ganzen Katalog von Maßnahmen
entfalten, wie man unmittelbar Lohndumping betreiben
kann.
Mit diesen Regelungen, mit diesen Möglichkeiten des
Unterlaufens muss Schluss gemacht werden. Deshalb
bitten wir darum, in den Ausschüssen und in der zweiten
und dritten Lesung für unseren Gesetzentwurf zu stimmen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Herr Dreibus, seit eineinhalb
Jahren kennen wir uns hier in diesem Hohen Hause. Seit
eineinhalb Jahren warte ich auf eine vernünftige Rede
von Ihnen. Seit eineinhalb Jahren werde ich enttäuscht.
({0})
Auch heute wieder, lieber Herr Dreibus, würde ich,
wenn ich Lehrer in einer Schule wäre, sagen: Sechs,
Thema verfehlt, setzen!
({1})
- Ja, das ist aber wahr.
Liebe Freunde von der Linksfraktion, mit Ihrem Antrag geben Sie den sozial Schwachen, den Arbeitslosen
und den Geringqualifizierten abermals Steine statt Brot.
Sie streuen ihnen Sand in die Augen. Sie wollen vermeintliche Wohltaten verkünden, die sich gerade eben
nicht als solche entpuppen.
Auch, wenn Sie es sich noch so wünschen, dass die
beiden Ausnahmen in § 3 und § 9 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes abgeschafft werden: Sie sind vor
wenigen Jahren bewusst und mit Intention eingeführt
worden. Eine Abschaffung dieser beiden Regelungen
würde zunächst bedingen, dass sie entbehrlich sind. Dies
sind sie gerade nicht. Sie hatten und haben ihre Berechtigung.
Zunächst zur Sechswochenfrist. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in derzeit gültiger Fassung ist vorgesehen, dass sich der Verleiher und
der Leiharbeitnehmer - der vorher arbeitslose Arbeitnehmer; das möchte ich ausdrücklich betonen - einmalig für
insgesamt sechs Wochen der Überlassung darauf einigen
können, dass der Leiharbeitnehmer lediglich ein Nettoarbeitsgeld in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes erhält. Damit soll dem Verleihunternehmen ein Anreiz gegeben werden, vormals Arbeitslose einzustellen.
Zugleich soll die Bereitschaft der Arbeitgeber erhöht
werden, ein Arbeitsverhältnis mit einem ursprünglich arbeitslosen Arbeitnehmer zu versuchen. Es geht darum,
dass die Leute - insbesondere die Langzeitarbeitslosen überhaupt erst einmal wieder einen Arbeitsplatz bekommen.
Ab dem ersten Tag der gleiche Lohn: Das klingt natürlich erst einmal gut, Herr Dreibus. Sie müssen aber
bedenken, dass es sich hier um eine Arbeitsförderungsmaßnahme handelt. Diejenigen, die hier vermittelt werden, sind zudem zu einem großen Anteil Hilfskräfte und
Geringqualifizierte.
Wozu würde Ihr Vorschlag führen? Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose hätten künftig nicht mehr
die Chance, über diese Arbeitnehmerüberlassung einen
festen Job zu bekommen. Sie verkennen in Ihrem Gesetzentwurf auch, dass jährlich etwa 30 Prozent aller
Mitarbeiter in Leiharbeitsfirmen - das sind etwa 200 000
Mitarbeiter - aus einem Zeitarbeitsvertrag heraus in ein
festes Arbeitsverhältnis übernommen werden.
({2})
Das verschweigen Sie den Leuten. Sie sollten das ehrlicherweise auch sagen.
({3})
Sie haben hier gerade an diesem Pult gesagt, die Leiharbeitnehmer würden weniger als Festangestellte verdienen. Das ist für die ersten sechs Wochen durchaus möglich und zumutbar. Allerdings muss man auch die
Chancen der Leiharbeitnehmer auf einen Übergang in
ein festes Arbeitsverhältnis sehen. Dafür ist diese Arbeitsvermittlungsmaßnahme durchaus sinnvoll.
Herr Dreibus, Sie selbst haben gerade die beiden
Rechtsanwälte mit ihrem Artikel aus dem „Betriebs-Berater“ zitiert, in dem sie gesagt haben: Die rechtlich zulässige Gestaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ist als Alternative zum Personalabbau auch in
Erwägung zu ziehen. - Wollen Sie denn lieber Gekündigte und Arbeitslose haben, oder wollen Sie die Möglichkeit, dass jemand über diese Regelung in ein Zeitarbeitsverhältnis und über dieses Zeitarbeitsverhältnis in
ein festes Arbeitsverhältnis kommen kann?
({4})
- Für sechs Wochen.
({5})
Zur anderen Alternative komme ich gleich. Ich komme
gleich zu den Tarifverträgen. Gedulden Sie sich, Herr
Dreibus! Wir kommen schon noch dazu.
Geringqualifizierte würden kaum mehr in die Zeitarbeit vermittelt werden, sondern nur noch die Hochqualifizierten und die Facharbeitskräfte. Viele andere fielen
aus dem Markt heraus. Ihre Forderung würde zu
Hartz IV statt einer Festanstellung führen. Das wäre in
vielen Fällen die Folge, die Sie mit der von Ihnen gewollten Änderung erreichen würden. Das kann nicht Ihr
Ernst sein, lieber Herr Dreibus. Ich habe Ihre polemischen Reden hier zumindest immer so verstanden, dass
Sie sich gerade für die gesellschaftlich Schwachen einsetzen wollen. Das tun Sie mit diesem heute eingebrachten Gesetzentwurf gerade nicht.
({6})
Sie fordern, vom ersten Tag an Equal Pay anzuwenden. Das ist in vielen Fällen schlicht unpraktikabel. Wie
soll zum Beispiel jemand bezahlt werden, der im ersten
Monat an die Firma A, im zweiten Monat an die Firma B
und anschließend vielleicht noch an die Firma C entliehen wird, in denen unter Umständen ganz unterschiedliche Lohnstrukturen existieren? Auch dazu geben Sie in
Ihrem Antrag keine Aufklärung.
Zum Tarifvorbehalt. Diesbezüglich wollen Sie § 9 des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ändern. Hiernach können in einem Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichende Regelungen grundsätzlich zugelassen
werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages
können auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelung individualrechtlich vereinbaren.
Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei - ich vermisse übrigens den Kollegen Lafontaine und auch etliche von Ihren Gewerkschaftern; sie werden schon wissen, warum sie nicht anwesend sind -, mit diesem
Gesetzentwurf zeigen Sie Ihren Frust bzw. Ihr fehlendes
Vertrauen in die Gewerkschaften, sich nach unseren tarifrechtlichen Bestimmungen auf einen Tarif einigen zu
können. Sie meinen, die Tarifvertragsparteien können
das nicht mehr, die Gewerkschaften seien ohnmächtig.
Mit diesem Vorschlag attestieren Sie ihnen die Ohnmacht. Deshalb muss der Bundesgesetzgeber jetzt alle
Regelungen, die früher die Tarifvertragsparteien ausgehandelt haben, schaffen. Das zeigt Ihr Verständnis der
Gewerkschaften. Ich nehme das erstaunt zur Kenntnis,
weil viele aus Ihrer Partei - ich glaube, es sind 50 Prozent - aus diesem Bereich kommen.
Die pauschale Unterstellung, dass die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von den Arbeitgebern zum Lohndumping missbraucht wird, entbehrt jeder Grundlage.
({7})
Entsprechend schwammig ist in Ihrer Vorlage auch nur
von praktischen Erfahrungen die Rede, ohne dass dem
irgendwelche konkreten Zahlen und Fakten zugrunde
gelegt werden.
({8})
- Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, oder beantragen Sie Redezeit, Frau Pothmer!
Mit Blick auf die Tarifabschlüsse der drei großen Verbände der Zeitarbeit wird schnell klar, dass diese Unterstellung unhaltbar ist. Wenn Ungelernte und Geringqualifizierte im Westen an die 7 Euro Stundenlohn und im
Osten an die 6 Euro pro Stunde erhalten, kann eine solche Bezahlung wohl kaum als Lohndumping bezeichnet
werden, erst recht nicht, wenn man die Bezahlung von
anderen Berufsgruppen mit abgeschlossener Ausbildung
berücksichtigt, die in einigen Branchen bei bestehenden
Tarifverträgen, an denen die Gewerkschafter in Ihren
Reihen zum Teil mitgewirkt haben, zwischen 4 und
5 Euro liegt.
Dagegen sprechen auch Statistiken der Bundesagentur für Arbeit über die Zeitarbeitsbranche. Als aufsichtführende Behörde fragt die Bundesagentur für Arbeit
halbjährlich bei den Zeitarbeitsunternehmern die Zahlen
über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Diese Zahlen belegen, dass Zeitarbeit auch für Höherqualifizierte
immer mehr zu einer Alternative wird.
({9})
Das wäre wohl kaum der Fall, wenn in dieser Branche
Dumpinglöhne bezahlt würden.
Sie tun sich mit der Zeitarbeitsbranche etwas schwer,
weil es ein neues Instrument ist, Herr Dreibus. Aber mir
ist jemand in Zeitarbeit lieber als ein Hartz-IV-Empfänger oder ein ALG I beziehender Mitbürger.
({10})
Der Tarifvorbehalt soll Fehlentwicklungen vorbeugen. Auch das sollten Sie anerkennen, Herr Dreibus. So
wurde gegen das Diskriminierungsverbot bei der Leiharbeit immer wieder vorgebracht, dass ein positiver
Beschäftigungseffekt nicht zu erwarten sei - ich habe
eingangs darauf hingewiesen, dass 70 Prozent der Leiharbeitnehmer in ein festes Arbeitsverhältnis überführt
werden -; denn durch die Pflicht zur Gleichbehandlung
verteuere sich die Leiharbeit derart, dass sie für Entleihund Verleihunternehmen wirtschaftlich nicht mehr rentabel sei. Die Möglichkeit, Personalkosten zu reduzieren,
ist jedoch zentraler Beweggrund, Leiharbeitnehmer im
eigenen Betrieb zu beschäftigen, insbesondere wenn ein
Unternehmen durch einen Nachfrageüberhang kurzfristig mehr Personal braucht und eine Festanstellung aus
diesen Gründen nicht vornehmen will. Darüber hinaus
verursacht die Regelung einen administrativen Mehraufwand, wenn Leiharbeitnehmer zu einer Vielzahl von Arbeitseinsätzen in verschiedenen Betrieben überlassen
werden.
Diesen Bedenken begegnet die am 1. April 2004 eingeführte Neuregelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit der Möglichkeit des Abschlusses abweichender
Tarifverträge. Die sich hieraus ergebenden Chancen, die
Rahmenbedingungen der Leiharbeit im SpannungsverPaul Lehrieder
hältnis zwischen Arbeitnehmerschutz und wirtschaftlicher Notwendigkeit sozial ausgewogen zu bestimmen,
sind nicht zu unterschätzen.
({11})
Dies zeigen die bislang erfolgten Tarifabschlüsse, die
hinsichtlich des Arbeitsentgelts sowohl dem Entleiher
als auch dem Verleiher hinreichenden finanziellen Spielraum und dem Arbeitgeber Flexibilität bei kurzfristigen
Auftragsüberhängen einräumen.
Ich sehe aus diesen Gründen keine Veranlassung, im
Sinne der Linkspartei Änderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorzunehmen.
({12})
- Das ist nicht enttäuschend; es war vielmehr zu erwarten. - Sie können sicher sein, dass die Interessen der Arbeitnehmer ebenso wie die Interessen der Arbeitslosen in
den Händen der CDU/CSU und der SPD besser aufgehoben sind als bei den Populisten der Linkspartei.
({13})
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland erlebt derzeit einen Aufschwung, über den
wir uns freuen, zu dem allerdings die amtierende Bundesregierung und die sie tragende Koalition nichts, aber
auch gar nichts beigetragen haben.
({0})
Zu den Branchen, die besonders vom Aufschwung profitieren, gehört auch die Zeitarbeitsbranche. Sie hat sich
geradezu rasant entwickelt und zeichnet sich seit Jahren
durch hohe Wachstumsraten aus. Im Jahr 2006 hat die
Zahl der Leiharbeiter erstmals die Grenze von 500 000
überschritten.
So erfreulich der Aufschwung dieser Branche ist,
Herr Kollege Dreibus, so nötig ist es, auf folgenden Zusammenhang hinzuweisen: Die Zeitarbeitsbranche profitiert in hohem Maße davon, dass wir in Deutschland
einen noch immer viel zu reglementierten Arbeitsmarkt haben. Trotz der guten Konjunkturlage trauen
sich die Unternehmen nicht, selbst Beschäftigte einzustellen; denn feste Beschäftigungsverhältnisse bedeuten
relativ starre Kapazitäten. Unternehmen müssen aber im
globalen Wettbewerb oft flexibel reagieren. Sie tun dies
durch die Beschäftigung von Zeitarbeitern. Ich finde die
Einstellung von Zeitarbeitern gut; denn im Ergebnis
werden durch die Zeitarbeit Beschäftigungspotenziale
nutzbar gemacht, die ansonsten ungenutzt blieben. Die
Zeitarbeitsplätze verdrängen nicht, wie von der Fraktion
Die Linke oft angeprangert, reguläre Arbeitsplätze, sondern sie gehen diesen regelmäßig voraus.
({1})
Mit dem Boom der Zeitarbeitsbranche ist auch ein Imagewandel einhergegangen. Zeitarbeitsunternehmen werden nicht mehr - wie in der Vergangenheit oft der Fall in die Ecke der Schmuddelkinder gestellt oder als Arbeitgeber zweiter Klasse angesehen. Dadurch, dass sie
ihren Kunden die notwendige Flexibilität geben, die
diese bei der Personalplanung brauchen, haben Zeitarbeitsunternehmen gerade bei einem wirtschaftlichen
Aufschwung die Rolle eines Jobmotors inne, den es auf
Touren zu halten gilt.
Die Bundesregierung sollte die relativ gute konjunkturelle Ausgangslage, die wir derzeit haben, nutzen, die
dringend notwendigen Maßnahmen zur weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Deutschland zu ergreifen.
({2})
Es gibt gute Gründe, im Sektor Zeitarbeit weitere Reformen durchzuführen. Gerade für Arbeitslose und Berufseinsteiger ist die Zeitarbeit eine sehr gute Möglichkeit,
den Einstieg in eine Beschäftigung zu finden. Zeitarbeit
ist eine Brücke zurück in den ersten Arbeitsmarkt, die
sich für viele Arbeitslose als tragfähig erwiesen hat.
({3})
Ich will zwei Vorschläge zur weiteren Deregulierung
im Bereich der Zeitarbeit machen. Erstens. Zu überlegen
ist, ob das Verbot gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung in Betrieben des Baugewerbes für Arbeiten, die
üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, nicht
aufgehoben werden kann. Ich sehe aktuell keinen Grund
mehr, warum Zeitarbeit im Baugewerbe in Deutschland
nicht zugelassen ist bzw. nicht zugelassen sein soll. Dieses Verbot ist ein Wettbewerbsnachteil für die Baubranche und die Personaldienstleister in Deutschland, denen
damit ein Zugang zu einem wichtigen Kundenmarkt verwehrt wird.
({4})
Zweitens. Weil sich die Zeitarbeitsverhältnisse zu einem wichtigen und gleichrangigen Bestandteil des Arbeitsmarktes entwickelt haben, gibt es nach unserem
Dafürhalten ein besonderes Schutzbedürfnis von Arbeitnehmern in der Zeitarbeit gegenüber der Beschäftigung
bei anderen Arbeitgebern nicht mehr.
({5})
Es ist daher zu überprüfen, ob das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mittelfristig nicht ganz abgeschafft werden
sollte.
({6})
Das wäre der richtige Weg der Deregulierung. Fatal wäre
es aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion hingegen, die
Zeitarbeitsbranche unter das Dach des ArbeitnehmerEntsendegesetzes zu ziehen und damit für mehr Regulierung zu sorgen sowie einen Mindestlohn durch die
Hintertür einzuführen. Die Begehbarkeit der Brücke
würde eingeschränkt. Gerade Problemgruppen unter den
Arbeitslosen wären von einer solchen Maßnahme betroffen.
Mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in
erster Lesung beraten, will die Linksfraktion die im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vorgesehenen beiden
Ausnahmen von dem sonst geltenden Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ aufheben. Die FDP-Fraktion hatte schon im Gesetzgebungsverfahren 2001 die
Aufnahme dieses Grundsatzes abgelehnt. Das halte ich
heute noch für richtig, da die Zeitarbeitsunternehmen,
müssten sie ihren Leiharbeitnehmern tatsächlich dieselben Arbeitsbedingungen gewähren, die der Entleiher
vergleichbaren Arbeitnehmern bietet, mit einer erheblichen Verteuerung ihres Angebotes und verschlechterten
Marktchancen konfrontiert wären, von der zusätzlichen
Bürokratie ganz abgesehen. In der Praxis haben die Verleiher das Problem dadurch gelöst, dass sie von der
Tariföffnungsklausel im Gesetz Gebrauch machen und
dass die Tarifparteien in der Zeitarbeitsbranche eigene
Tarifverträge abgeschlossen haben. Die Linksfraktion
bewirkte vor diesem Hintergrund mit ihrem Gesetz im
Ergebnis, dass, würde diese legale Ausweichmöglichkeit
beendet, zwangsläufig zahlreiche Arbeitsplätze in der
Zeitarbeitsbranche verloren gingen. Herr Dreibus, ich
wundere mich, wie es die Fraktion Die Linke in ihren
Vorlagen immer wieder schafft, solche einfachen und
zwingenden Zusammenhänge schlichtweg auszublenden.
({7})
Zum Schluss: Die bisherigen Flexibilisierungen der
Arbeitnehmerüberlassung haben - wie eingangs erwähnt
- einen wichtigen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Bereich geleistet. Statt das Rad zurückzudrehen, wie es die Linksfraktion anstrebt, sollten
wir dort, wo noch Hemmnisse für Beschäftigung bestehen, über weitere Liberalisierungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nachdenken. Die Ansatzpunkte dafür
habe ich genannt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme,
SPD-Fraktion.
({0})
Ich habe keine gescheiten Vorlagen gefunden. - Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier das Wort des Tages der FDP zum
Neoliberalismus gehört. Ich sage ganz klar: Grundsätzlich und generell ist gegen Zeitarbeit nichts einzuwenden. Zeitarbeit ermöglicht es, Spitzenauslastungen der
Unternehmen abzudecken. Zeitarbeit bietet Unternehmen Flexibilität. Immerhin 30 Prozent der Leiharbeitnehmer erreichen eine Festeinstellung beim Entleiher.
Ich sage aber genauso klar: Sozialdumping muss ein
Riegel vorgeschoben werden. Wir wollen keine Zeitarbeit in der Schmuddelecke. Wir wollen, dass Zeitarbeit
zu fairen und zu annehmbaren Bedingungen durchgeführt wird.
({0})
Wir haben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz festgeschrieben, dass einem Leiharbeitnehmer für die Zeit
der Überlassung an einen Entleiher die im Betrieb dieses
Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des
Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen
einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren sind. Das
heißt, wenn ein Leiharbeitnehmer in einem Betrieb der
Metall- und Elektroindustrie arbeitet, dann hat er auch
Rechte wie nach dem Metalltarifvertrag, und das ist richtig so. Lediglich ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen. Das ist dem Grunde nach ebenfalls
richtig. Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Das ist Konsens in dieser Gesellschaft.
Wir haben als Gesetzgeber klar zum Ausdruck gebracht, dass wir die Gleichbehandlung der Zeitarbeitnehmer mit den Beschäftigten im Entleiherbetrieb wünschen. Auf dieser Basis haben alle Gewerkschaften
verhandelt; sie hatten den Gleichbehandlungsgrundsatz
als Unterstützung im Rücken.
Die christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit haben
dann in Nordbayern einen Tarifvertrag abgeschlossen,
der nur ein extrem niedriges Arbeitsentgelt vorsieht. Die
DGB-Gewerkschaften verhandelten zu diesem Zeitpunkt
noch. Sie hatten sich mit den Arbeitgeberverbänden in
einem Eckpunktepapier auf 11 Euro verständigt. Das
Vorgehen der christlichen Gewerkschaften war wirklich
sehr hilfreich! Nach diesem Tarifabschluss machten die
Arbeitgeberverbände iGZ und BZA natürlich nicht mehr
mit. Die christlichen Gewerkschaften haben die Verhandlungsposition des DGB kaputt gemacht.
Ich sage ganz klar: Die Tarifpolitik der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit gefällt
uns nicht.
({1})
Es ist nicht in Ordnung, dass die christlichen Gewerkschaften beispielsweise mit Allbecon Personaldienstleistungen einen Stundenlohn um die 5 Euro vereinbaren.
Dasselbe gilt beispielsweise für die AES, die Arbeits
Entlastungs Service GmbH in Düsseldorf. Wir haben
nicht den Eindruck, dass bei Tarifvertragsverhandlungen
durch die christlichen Gewerkschaften jemals Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteressen vertreten worden
sind.
({2})
Die Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit betreibt Lohndumping, sie macht Gefälligkeitstarifverträge. Das ist ein Skandal.
({3})
Ich bedauere sehr, dass das Bundesarbeitsgericht bei der
Christlichen Gewerkschaft Metall von deren Tariffähigkeit ausgeht.
Die Sprücheklopferei des neu gegründeten Arbeitgeberverbandes AMP „Wir sind noch billiger“ stellt nur
eine Abwandlung der Geiz-ist-geil-Mentalität dar. Das
hat auf dem Arbeitsmarkt nichts zu suchen.
Lassen Sie uns in der Zeitarbeit zunächst das machen,
was zeitnah möglich ist. Es ist gut, dass sich die DGBGewerkschaften und die Arbeitgeberverbände iGZ und
BZA zusammengesetzt und einen gemeinsamen bundesweiten Tarifvertrag mit Mindestbedingungen für die
Zeitarbeit vereinbart haben. Es wird Zeit, dass unser
Koalitionspartner mit uns die entsprechende Änderung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes beschließt.
({4})
Meine Damen und Herren der Union, ich befürworte
ausdrücklich, dass auch für die Leiharbeitsbranche die
Möglichkeit geschaffen wird, die Tarifverträge per
Rechtsverordnung - und nicht über das Tarifvertragsgesetz - für allgemeinverbindlich zu erklären. Es ist fast
unmöglich geworden, außerhalb des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Tarifverträge über den Tarifausschuss,
also über das Tarifvertragsgesetz, für allgemeinverbindlich erklärt zu bekommen. Die Arbeitgeberseite geriert
sich in unerträglicher Weise.
Bei dieser Gelegenheit: Die FDP hat als Regierungspartei ursprünglich dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
und dem ihm zugrunde liegenden Gedanken zugestimmt. Sehr vernünftig.
({5})
Mir fällt da nur eines ein: Die größten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.
({6})
Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden wir
inländische und ausländische Leiharbeitnehmer und
Leiharbeitnehmerinnen vor Lohndumping schützen. Wir
müssen uns auch auf die Zeit einstellen, wenn das
2+3+2-Abkommen abläuft.
Die Gewerkschaften berichten uns von Skandalen in
der Leiharbeitsbranche. Der Deutsche JournalistenVerband beispielsweise schreibt uns, dass Medienunternehmen, insbesondere Zeitungsverlage, eigene Leiharbeitsfirmen als Tochterfirmen gründen. Redakteurinnen
und Redakteure würden seit geraumer Zeit von den Zeitungsverlagen generell nur noch befristet eingestellt, und
zwar mit Verträgen mit einem oder nur zwei Jahren
Laufzeit. Nach Ablauf der Frist würden sie vor die Alternative gestellt, entweder den Verlag zu verlassen oder
am bisherigen Schreibtisch zu bleiben, allerdings als
Leiharbeitnehmer und selbstverständlich zu deutlich
schlechteren Konditionen. Immerhin für neun Zeitungsverlage sind solche Leiharbeitskonstruktionen bekannt
geworden.
Ich kann aber auch ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Bayreuth hat ein Klinikum in öffentlichrechtlicher Trägerschaft mit ungefähr 2 000 Beschäftigten. Die Geschäftsleitung intendierte zunächst, alle Mitarbeiter bis auf die Ärzte und die leitenden Kräfte in eine
Leiharbeitsfirma zu überführen. Ziemlich offen wurde
erklärt, das sei eine Maßnahme zur Reduzierung von
Lohnkosten. Der Betriebsrat hat errechnet, dass eine
Krankenschwester in der Arbeitnehmerüberlassungsfirma 40 Prozent weniger als nach dem ansonsten anzuwendenden TVöD verdient. Die Entscheidung ist dann
aufgrund politischen Drucks anders ausgefallen. Das
Klinikum hat sich entschieden, die befristeten Arbeitsverhältnisse bei sich auslaufen zu lassen und Neueinstellungen grundsätzlich nur noch über die Leiharbeitsfirma
zu tätigen und hierüber 10 Prozent der Belegschaft abzudecken. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass in der
Leiharbeitsfirma mittlerweile mehr als 200 Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Leider gilt auch, dass Firmen zunehmend nicht nur
Tochterunternehmen als Leiharbeitsfirmen einsetzen,
({7})
sondern auch sonstige Leiharbeitsunternehmen zur Umgehung des eigenen Tarifvertrages einschalten. Da werden Stammarbeitskräfte durch Leiharbeitskräfte ersetzt.
In der Zeitarbeitsbranche sind derzeit circa 2 Prozent
der Arbeitnehmer beschäftigt. Bei der Gelegenheit sei
erwähnt, in den Niederlanden sind es circa 4,5 Prozent
und in Großbritannien sogar 4,7 Prozent der Beschäftigten. Im Jahr 2005 griffen circa 2,5 Prozent der deutschen
Betriebe auf Leiharbeit zurück. Im Durchschnitt wurden
in jedem dieser Betriebe circa 6,7 Zeitarbeitnehmer eingesetzt. Wir brauchen dringend empirisches Zahlenmaterial über die Substitution von Stammarbeitern durch
Leiharbeitnehmer. Wir als SPD beobachten mit äußerster
Aufmerksamkeit diese skandalösen Prozesse, und wir
diskutieren intensiv über die verschiedenen Handlungsvarianten. Kurt Beck hat sich zur Thematik geäußert.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken,
als ich Ihren Gesetzentwurf das erste Mal gelesen habe,
fiel mir spontan ein: Willkommen in der fabelhaften
Welt. Sie formulieren Forderungen und gucken wie ein
Pferd mit Scheuklappen nicht nach rechts oder links. Sie
fordern eine Streichung der Ausnahmeregelungen bei
dem gesetzlich fixierten Grundsatz von Equal Pay und
Equal Treatment. Sie zeichnen sich immer durch eine
Arbeitshaltung aus, die da lautet: Hoppla hopp! Machen
wir doch mal eben etwas! - Es ist Ihnen schlicht egal, ob
und wie Ihre Regelungen umsetzbar sind. Es ist so wie
früher: Da muss nur einmal schnell der Rat beschließen,
und dann wird der Mehrjahresplan schon von den Kombinaten erfüllt werden.
({9})
Ich finde bei Ihnen keine Auseinandersetzung mit der
verfassungsrechtlichen Problematik, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur ziemlich intensiv diskutiert
wird. Ich sage nicht, dass eine solche Regelung verfassungswidrig ist, aber Überlegungen sind schon erforderlich. Ich finde bei Ihnen keine Abwägung von Alternativen. Die romanischen Staaten wie Frankreich und
Belgien lassen Leiharbeit beispielsweise nur bei einem
Sachgrund zu, ähnlich unseren Regelungen im Teilzeitund Befristungsrecht. Es wird nicht darüber nachgedacht, dass die Ablösung von vorhandenen Belegschaften durch eine gesetzliche Regelung unter Umständen
ausgeschlossen wird.
Wir akzeptieren kein Lohndumping in der Leiharbeitsbranche.
({10})
Wir brauchen dringend die Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Wir akzeptieren nicht, dass durch
Leiharbeitsfirmen Tarifflucht begangen wird.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({11})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig, was hier beschrieben worden ist: Die Leiharbeit
nimmt tatsächlich eine immer größere Bedeutung an.
({0})
1 Million Menschen war im Laufe des Jahres 2006 im
Bereich der Zeitarbeit tätig. 70 Prozent dieser Menschen
waren vorher arbeitslos oder nicht erwerbstätig, Herr
Dreibus. Ein erheblicher Teil von ihnen hat es tatsächlich geschafft, über Leiharbeit eine Festanstellung zu erreichen.
({1})
- Das sind nicht allzu viele; ich gebe Ihnen recht. - Das
ist die eine Seite der Leiharbeit. Sie ist ein Instrument
zur Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt. Es
bietet zudem den Unternehmen mehr Flexibilität. Das
wollen wir durchaus. Auf der anderen Seite, Herr
Lehrrieder - ({2})
- Herr Lehrieder! Sie kommen für mich immer so als
Lehrer daher. ({3})
Andererseits wird dieses Instrument zur gezielten Verschlechterung der Arbeitsbedingungen genutzt. Das
müssen Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Wenn Sie sich konstant weigern, Untersuchungen zu
diesem Thema zu lesen, dann sollten Sie sich nicht hierhin stellen und der Bundesregierung unterstellen, dass
sie keine wahrheitsgemäßen Aussagen macht. Das Problem, dass Leiharbeit zu Lohndumping führt und zur
Verschlechterung von Arbeitsbedingungen genutzt wird,
existiert. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort
auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion sehr deutlich
festgestellt. Sie werden doch Ihrer eigenen Bundesregierung nicht widersprechen wollen. Das gehört sich nicht,
Herr Lehrieder, jedenfalls nicht in Ihren Reihen.
({4})
Herr Dreibus, Sie sehen: Ich leugne dieses Problem
nicht. Aber ich finde, dass Sie es sich in Ihrer Vorlage zu
einfach machen. Wenn wir diesem Gesetzentwurf zustimmten, liefen wir Gefahr, dafür zu sorgen, dass die
Leiharbeit die Funktion einer Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zukünftig nicht mehr ausfüllen könnte. Ich
meine, dass wir darauf nicht verzichten sollen.
Wir wollen doch den Missbrauch bekämpfen. Der
Missbrauch entsteht in erster Linie dadurch, dass die
derzeitigen Leiharbeitsregelungen Lohndumping zulassen.
({5})
- Aber dann lassen Sie uns doch einen anderen Weg gehen. - Frau Kramme hat hier doch auf die unmöglichen
Zustände in der Leiharbeit hingewiesen. Wir könnten
das Lohngefälle dadurch mildern, dass wir die Leiharbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen.
Diese Möglichkeit hat diese Branche inzwischen längst
geschaffen.
Frau Kramme, Sie stellen sich hierhin und weinen
Krokodilstränen.
({6})
Sie sagen: Wir wollen diese Situation nicht länger hinnehmen. Sie gehen auf die Straße und sammeln Unterschriften für Mindestlöhne. Sie haben hier im Hause
eine Mehrheit dafür, Mindestlöhne einzuführen. Wir
würden sehr gerne einen Antrag von Ihnen mittragen,
der fordert, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz entsprechend zu ändern.
({7})
Tun Sie mir einen Gefallen: Geben Sie mir ein Mal die
Möglichkeit, einer Initiative von Ihnen zuzustimmen.
({8})
Das wäre schön für mich. Das wäre gut für die Leiharbeit. Ich glaube, das täte auch der sozialdemokratischen
Seele gut.
Ich danke Ihnen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/4805 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes
- Drucksache 16/4691 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 16/5238 Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
heute zu behandelnde Entwurf eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes soll die Voraussetzungen für die Ergänzung der Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über die Lenk- und Ruhezeiten
im Straßenverkehr schaffen.
Hierzu ist Folgendes erforderlich: erstens die Ergänzung einer Verordnungsermächtigung, zweitens die Regelungen zum Datenschutz im Zusammenhang mit der
Einführung eines digitalen Kontrollgeräts, drittens eine
einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben
und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten, danach Löschung der Daten und Vernichtung der Scheiben, es sei
denn, sie sind nach den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes oder der Abgabenordnung weiterhin aufzubewahren, viertens die Bußgeldbewehrung für die Verantwortung der Beförderungskette für Verstöße gegen die Lenkund Ruhezeiten, fünftens die Ahndung von im Ausland
begangenen Verstößen und sechstens die Übergangsregelung zu den Bußgeldverfahren.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält die entsprechenden Regelungen. So wird eine ausdrückliche Ermächtigung für Auskünfte aus dem Kontrollgerätkartenregister an die zuständigen Behörden und Stellen
geschaffen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass
festgestellt werden kann, ob und wie viele Fahrerkarten
zur Bedienung des digitalen Kontrollgerätes einer Person bereits ausgestellt wurden. Es geht also, obwohl sich
die ersten Sätze meiner Rede sehr bürokratisch anhörten,
um ein zentrales Thema: die Verkehrssicherheit.
Die Anpassung der Fristen zur Aufbewahrung der
Daten aus dem Massespeicher des digitalen Kontrollgerätes an die europäische Grundregelung - ein Jahr - bedeutet eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Um dem Unternehmer die Möglichkeit zu geben, diese Daten auch für
andere vom Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz bzw. in
der Abgabenordnung vorgeschriebenen Zwecke zu verwenden, wird ihm nun ermöglicht, die Daten erst dann
zu löschen, wenn er sie für die vorgenannten - rechtlichen - Zwecke nicht mehr braucht. Gleiches gilt in Zukunft auch für die aufzubewahrenden Tachografenscheiben des mechanischen Kontrollgerätes und deren
Vernichtung.
Der Gesetzentwurf enthält weiterhin eine Bußgeldbewehrung der Verantwortung in der Beförderungskette. Die dort Beteiligten müssen die Beförderungszeitpläne so vereinbaren, dass für die Fahrer die Einhaltung
der Lenk- und Ruhezeiten möglich ist. Daneben wird in
Ergänzung der Verordnung klargestellt, dass Ordnungswidrigkeiten künftig auch dann geahndet werden können, wenn sie nicht im Geltungsbereich des Fahrpersonalgesetzes begangen wurden.
Letztendlich enthält der Gesetzentwurf eine punktuelle Aufhebung der Meistbegünstigungsklausel im
Hinblick auf Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeiten
bis zum 10. April 2007. Bis zu diesem Zeitpunkt waren
die Lenk- und Ruhezeiten in der Verordnung Nr. 3820/85
geregelt, also in einer anderen Verordnung der Europäischen Gemeinschaft. Diese wurde dann am 11. April
2006 ersetzt. Nach § 4 Abs. 3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes ist bei einer Gesetzesänderung, die zwischen
der Begehung der Handlung und der Entscheidung in
Kraft tritt, zugunsten des Betroffenen das mildere Gesetz
anzuwenden. Danach ist die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit unzulässig, wenn die Tat in der Zeit zwischen
ihrer Begehung und der gerichtlichen Entscheidung einmal nicht mit einer Geldbuße bedroht war.
Da das geänderte Fahrpersonalgesetz am 11. April
2007 noch nicht in Kraft getreten war, hätten in der Zwischenzeit bis zum Inkrafttreten alle vor dem 10. April
2007 noch nicht geahndeten Verstöße nicht weiterver9918
folgt werden können. Dieses Prinzip der Meistbegünstigung hat einfachgesetzlichen Charakter und kann daher,
wie im vorliegenden Fall, durch ein anderes Gesetz
punktuell aufgehoben werden. Es werden dadurch keine
Handlungen rückwirkend unter Strafe gestellt, sondern
es wird lediglich das Prinzip der Meistbegünstigung aufgehoben. Dies stellt, auch unter Aspekten des Vertrauensschutzes, keine unzumutbare Beeinträchtigung dar;
denn die Fahrer, die bis zu diesem Zeitpunkt Verstöße
gegen die Lenk- und Ruhezeitenvorschriften begangen
haben, mussten mit einer Bestrafung rechnen.
Der Bundesrat hat am 16. Februar 2007 keine grundsätzlichen Einwände gegen den Regierungsentwurf erhoben, allerdings manche Änderungen bzw. Ergänzungen
gewünscht. Einige dieser Vorschläge sind annehmbar.
Die Bundesregierung konnte ihnen in ihrer Gegenäußerung zustimmen. Im Ergebnis wird dieses Gesetz einen
Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur
Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fahrer leisten.
Noch ein Wort zu den Zahlen, die immer wieder gehandelt werden, was dem Staat an Einnahmen durch die
leider eingetretene Verzögerung angeblich entgangen ist:
Das Bundesamt für Güterverkehr hat im gesamten
Jahr 2006 11 Millionen Euro an Bußgeldern und Verwarnungen vereinnahmt. In diesem Fall geht es um acht
Wochen. Ich weiß also nicht, wie man auf dreistellige
Millionensummen kommt, von denen man in der Presse
immer wieder lesen konnte.
Wir sind mit der Vorlage rechtzeitig im Dezember im
Kabinett gewesen. Aber es hat einer langen Abstimmung
bedurft, weil es eine sehr komplizierte Gesetzgebung
war. Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, das, was
die Europäische Gemeinschaft als Richtlinie beschlossen
hat, mit entsprechenden Bußgeldern zu bewehren. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Patrick Döring für die FDP-Fraktion ist
der nächste Redner in dieser Debatte.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erste Bemerkung. Am Ende Ihrer Rede, Herr Staatssekretär Großmann, haben Sie darauf hingewiesen, dass
der Gesetzentwurf, nachdem die Frist verstrichen und
die Verordnung in Kraft ist und es ein amtsgerichtliches
Urteil aus Schleswig-Holstein gibt, auf einmal ganz
schnell in der letzten Sitzungswoche im Ausschuss war
und die Bundesregierung sich mehrfach dafür entschuldigt hat, dass die Ressortabstimmung so furchtbar lange
gedauert hat; aber nun müsste man ja ganz schnell zu
Potte kommen. Natürlich gab es dann ganz schnell Änderungsvorschläge aus der Koalition. Mit einem Mal
ging’s.
In Wahrheit war diese Misere, die zu dem Urteil geführt hat, und die nicht mehr gegebene Möglichkeit der
Verfolgung solcher Verstöße gegen Lenk- und Ruhezeiten das Produkt - ich sage es einmal vorsichtig - unprofessioneller Regierungsarbeit.
({0})
Damit haben Sie jedenfalls dem Gewerbe, auch wenn
das Ganze vielleicht in einem anderen Haus verschuldet
wurde, keinen Gefallen getan.
({1})
Zweite Bemerkung. Egal, ob die Zahlen, die dort genannt werden, überzogen sind oder nicht, wahr ist, dass
das Signal fatal ist, dass es gerade die Bundesrepublik
Deutschland in Europa nicht schafft, diese Verordnung
rechtzeitig in deutsches Recht zu überführen, dass gerade wir während unserer Ratspräsidentschaft Schwierigkeiten bekommen, europäische Regelungen für dieses
Gewerbe in Kraft zu setzen. Auch das möge man bedenken.
({2})
Zum Inhalt selbst. Ich habe in der Ausschussberatung
für meine Fraktion beim Thema Meistbegünstigungsklausel nachgefragt, ob das Ganze hinsichtlich der seinerzeit am OLG Stuttgart entschiedenen Frage, ob man
diese Klausel einfachgesetzlich außer Kraft setzen dürfe,
inzwischen mit dem BMJ abgeklärt ist. Es war übrigens
1998 beim Bundesnaturschutzgesetz unter der Umweltministerin Dr. Angela Merkel das erste Mal der Fall,
dass die Meistbegünstigungsklausel einfachgesetzlich
außer Kraft gesetzt worden ist. Das hat das OLG Stuttgart damals für verfassungskonform gehalten. Seitdem
ist relativ viel Zeit ins Land gegangen. In der heutigen
Ausgabe der „Deutschen Verkehrszeitung“ wird uns auf
einer ganzen Seite von einer Kanzlei für Verkehrsrecht
dargelegt, dass diese Aufhebung wahrscheinlich verfassungswidrig ist.
({3})
Ich hatte in der Ausschusssitzung darum gebeten, das zu
klären, damit uns das nicht noch einmal passiert. Sie,
Herr Staatssekretär, haben das in Ihrer Rede bestätigt.
„Wir werden sehen“, sage ich einmal. Aber sollte das
passieren, wäre das das zweite Gesetz aus Ihrem Haus
- neben einem großen Gesetzentwurf -, das wahrscheinlich verfassungswidrig ist. Damit führen Sie die Rangliste vermutlich an.
({4})
Zu unserem Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wir hätten uns gewünscht - wenn das
ganze Verfahren so gelaufen wäre, wie es hätte laufen
sollen -, als Verkehrspolitiker in der Diskussion klären
zu können, ob die eine oder andere Regelung, die mit der
EU-Verordnung unmittelbar nichts zu tun hat, für das
Gewerbe tatsächlich noch Sinn macht. Da geht es insbesondere um die seit 1971 gültige Regelung für Fahrzeuge zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen. Wir hören von den
Handwerkskammern vor Ort - sicher auch in Ihrem Wahlkreis -, dass die seit 1971 gültige 50-Kilometer-Regelung, für die wir eine gesetzliche Sonderregelung haben
- das hat nichts mit Europa zu tun -, nicht mehr praktikabel ist.
Deshalb hätten wir mit einer längeren und ruhigeren
Beratung für mittelständische Betriebe das tun können,
was hier in der Kernzeit in Sonntagsreden von anderen
Ministern immer wieder vorgetragen wird, nämlich unpraktikable und bürokratische Regelungen abzuschaffen
bzw. auf den Prüfstand zu stellen und den Grenzwert zu
übernehmen, der nach der europäischen Verordnung
möglich ist, nämlich die 100-Kilometer-Grenze.
Ich finde es bemerkenswert, dass ein anderer Staatssekretär aus Ihrem Hause, der geschätzte Kollege
Kasparick, wenige Tage bevor die europäische Verordnung beschlossen wurde, in der Fragestunde des Deutschen Bundestages noch sagt: Wahrscheinlich wird eine
Ausweitung der 50-Kilometer-Regelung in Europa nicht
beschlossen. Tatsächlich ist es europarechtlich nun möglich, Fahrten im Umkreis von 100 Kilometern zu erlauben. Diese sind mit Fahrzeugen zwischen 2,8 und
3,5 Tonnen europarechtlich ohnehin möglich.
Wir hätten uns gewünscht, dass der Verkehrsausschuss ein Signal für Bürokratieabbau gegeben und eine
mittelstandsfreundliche Regelung umgesetzt hätte. Dazu
waren Sie in diesem Verfahren nicht bereit. Ich kann das
zwar zum Teil nachvollziehen, glaube aber zugleich,
dass man hier eine Chance hat verstreichen lassen. Deshalb werden wir dieser Gesetzesänderung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir hoffen, dass wir an anderer Stelle Gelegenheit erhalten, die Fehler, die im
jetzigen Gesetzgebungsverfahren entstanden sind, auszubügeln. Ich bin sicher, wir werden damit noch befasst,
wenn das Verfassungsgericht entschieden hat.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Wilhelm Josef Sebastian.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Europäische Union hat die Lenk- und Ruhezeiten in einer Verordnung neu geregelt. Damit hat sie für
alle Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt, wie lange
Fahrer am Steuer sitzen dürfen. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz werden wir die Dinge so regeln,
dass für alle möglichst schnell wieder Rechtssicherheit
gegeben ist.
Durch die neue Verordnung sind eine Reihe von Änderungen notwendig. Das Fahrpersonalgesetz müssen
wir deswegen ändern, weil es auf einer alten EU-Verordnung basiert, die am 10. April außer Kraft gesetzt wurde.
Darüber hinaus wurden zwei weitere europäische Verordnungen geändert, auf die es ebenso aufbaut.
Bevor ich zum Inhalt des Fahrpersonalgesetzes
komme, lassen Sie mich etwas zu den neuen Lenk- und
Ruhezeiten sagen. Wozu erlässt die EU jetzt neue
Grenzwerte für Lenk- und Ruhezeiten? Dahinter steht
das Bestreben der EU nach mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Im Weißbuch Verkehr von 2001 hat sie sich
zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten im Straßenverkehr zwischen 2001 und 2010 zu halbieren. Von 2001
bis 2005 ging die Zahl der tödlichen Unfälle im Durchschnitt um mehr als 17 Prozent zurück. Das ist sicherlich
sehr erfreulich, aber dieser Rückgang ist immer noch zu
gering. Es bleibt für uns alle noch viel zu tun.
Meine Damen und Herren, Lenk- und Ruhezeiten
sind natürlich nicht der alleinige Faktor. Wir lesen immer wieder von großen Unfällen. Es gibt manchmal
auch Fehlverhalten von Menschen: Sei es, dass der
Druck oder die Vorgabe zu groß ist, oder aus welchem
Grunde auch immer. Ich komme darauf aber gleich noch
einmal zurück.
Neben einer ausgefeilten Fahrzeugtechnologie und einer guten Straßenverkehrsinfrastruktur ist, wie ich eben
sagte, das Verhalten der Menschen entscheidend. Die
neue Lenk- und Ruhezeitverordnung setzt hier an und
wird einen großen Beitrag zu mehr Sicherheit leisten.
Seit dem 11. April gelten diese neuen Lenk- und Ruhezeiten unmittelbar auch für Deutschland.
Im Wesentlichen beinhaltet der Gesetzentwurf folgende Punkte: Die Verordnungsermächtigung wird ergänzt; der Datenschutz wird im Zusammenhang mit der
Einführung des digitalen Kontrollgerätes verbessert; die
einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben
und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten wird neu geregelt; die Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen die
Lenk- und Ruhezeiten in der Beförderungskette wird
ausgedehnt - das ist ein sehr wichtiger Punkt -; die Ahndung von im Ausland begangenen Verstößen wird erleichtert.
Im Detail bedeutet dies, dass der Verweis auf die alte
Verordnung aus dem Fahrpersonalgesetz durch den Verweis auf die nun aktuelle Lenk- und Ruhezeitverordnung
ersetzt wird. So wird die Verordnungsermächtigung ergänzt und die Ahndung von Verstößen gegen die Lenkund Ruhezeiten erst legitim.
Für einen verbesserten Datenschutz werden die von
der Kontrollbehörde abgerufenen Daten gleich nach der
Überprüfung der Fahrerkarten gelöscht. Außerdem wird
sichergestellt, dass die Daten nur zu Kontrollzwecken
abgerufen werden dürfen.
Die Aufbewahrungsfristen werden neu geregelt, und
zwar folgendermaßen: Ein Unternehmer hat die von der
Fahrerkarte und den Massenspeichern kopierten Daten
und die Schaublätter im Regelfall ein Jahr lang aufzubewahren, es sei denn, sie sind nach Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes oder der Abgabenordnung länger aufzubewahren. Danach sind die Daten unverzüglich zu
löschen bzw. die Schaublätter unverzüglich zu vernichten.
„Unverzüglich“ ist - das hat sich in den Beratungen
herausgestellt und ist im Ausschuss fraktionsübergrei9920
fend als richtig angesehen worden - realitätsfremd. Es
würde bedeuten, dass der Unternehmer ständig den genauen Zeitpunkt überwachen müsste, zu dem die Jahresfrist abläuft, um dann die Daten zu löschen und die
Schaublätter zu vernichten. Dies kann man nicht verlangen, weil es viel zu bürokratisch und aufwendig wäre.
Deswegen schlagen wir in unserem Änderungsantrag
vor, dass dieser Vorgang bis zu einem gewissen Stichtag
im Jahr erledigt sein muss. Dies soll der 31. März des
Kalenderjahres sein, das auf das Kalenderjahr folgt, in
dem die Aufbewahrungsfrist endet.
Nebenbei bemerkt bietet die Umstellung auf das digitale Kontrollgerät auch für das Transportunternehmen
viele Vorteile. Zusammen mit entsprechenden Softwarelösungen lassen sich die Lenk- und Ruhezeiten auch
für betriebliche Dinge durchaus sinnvoll nutzen. Bewegungsprofile, Geschwindigkeiten und Bremsverhalten
lassen sich auch in anderen Unternehmensbereichen einsetzen, bis hin zur Lohnbuchhaltung. Nicht zuletzt warnt
die Elektronik schon die Disponenten, die eine Fahrt planen, vor Überschreitung der Lenkzeiten.
Ich habe schon eben angesprochen, dass mancher
Fahrer durch Vorgaben unter Druck gerät, weshalb er die
eine oder andere Pause auslässt. Deshalb ist auch geregelt, dass die Haftung zukünftig auf die gesamte Kette
ausgedehnt wird. Fahrer, Verlader, Speditionen, Subunternehmer und Fahrervermittlungsagenturen werden für
Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeitenverordnung in
die Pflicht genommen, also nicht nur das letzte Glied in
der Kette, der Fahrer.
Zudem können die Kontrollbehörden ab Inkrafttreten
dieses Gesetzes auch alle im Ausland begangenen Verstöße ahnden. Bisher konnte das Bundesamt für Güterverkehr nur ermitteln, wenn ihm entsprechende Hinweise aus dem Ausland zugingen. Die Neuregelung ist
bei dem mittlerweile zum Alltag gehörenden grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr längst überfällig. Jedoch kann sie empfindliche Mehrkosten nach sich ziehen. Was bei uns 100 Euro kostet, kann woanders ein
Vielfaches kosten.
Bei der Beratung des Gesetzentwurfs haben wir festgestellt, dass dieser in einem weiteren wichtigen Punkt
ergänzungsbedürftig war. Zusammen mit dem Ministerium haben wir Abhilfe geschaffen, indem wir eine tragbare Übergangsregelung für die vor dem 11. April begangenen, aber noch schwebenden Bußgeldverfahren
geschaffen haben. Der Kollege Döring sprach eben an,
ob das Gesetz verfassungskonform sei. - Nach meinem
Kenntnisstand ist es übrigens ein Urteil des OLG Stuttgart gewesen, das bezüglich der Umweltfragen geurteilt
hat. - Wir sind davon überzeugt, dass ansonsten eine
nicht hinnehmbare Besserstellung der Fahrer die Folge
gewesen wäre. Wir mussten davon ausgehen, dass nach
dem Prinzip der Meistbegünstigung aufgrund der wegfallenden Verordnungen sämtliche nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr hätten geahndet
werden können. Dies wären alle Verfahren, die vor dem
10. April zwar eingeleitet wurden, aber noch nicht abgeschlossen sind.
Die in den Medien dargestellte Summe der ausfallenden Bußgelder erscheint mir zu hoch. Auch Staatssekretär Großmann hat das schon angesprochen. Er hat auch
dargelegt, in welchem Zeitabschnitt welche Einnahmen
zu verbuchen sind. Aber ob die Staatskasse unbedingt
darunter leidet, wenn es einmal eine straffreie Zeit gibt,
ist an anderer Stelle zu beurteilen.
Ich will zum Schluss noch auf etwas aufmerksam machen, das nach meinem Ermessen von uns nicht außer
Acht gelassen werden kann. Wir verlangen verlängerte
Ruhezeiten, damit die Sicherheit erhöht wird, aber oftmals haben die Fahrer große Schwierigkeiten, an unseren Autobahnen entsprechende Parkplätze zu finden,
um die Ruhezeiten einzuhalten.
({0})
Wir als Gesetzgeber können über diese Schwierigkeiten
nicht einfach hinwegsehen. Wir sind aufgefordert, Vorsorge zu treffen, damit es zu Verbesserungen kommt, sodass die geforderten Ruhezeiten auch eingehalten werden können.
Zum Schluss will ich ein Zitat aus einer Veröffentlichung in einer Verkehrszeitung aufgreifen. Ich zitiere:
Am 11. April haben Unternehmen die Reise in ein
neues Zeitalter angetreten. Seitdem gelten in der
Europäischen Union neue Lenk- und Ruhezeiten.
Die Fahrt führt allerdings ins Ungewisse.
Mit der heutigen Beschlussfassung hat das ein Ende.
Durch die Zustimmung des Bundesrats in wenigen Wochen ist diese Fahrt ins Ungewisse beendet.
Vielen Dank
({1})
Es spricht jetzt die Kollegin Dorothée Menzner für
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die neuen Regelungen zum Fahrpersonalgesetz dienen der weiteren Humanisierung des
Arbeitsplatzes hinter dem Lenkrad. Nur ausgeruhte und
fitte Fahrer sorgen für mehr Sicherheit auf unseren Straßen.
Verbesserungen sind zum Beispiel die Erhöhung der
Ruhezeiten sowie die Pflicht zu einer Pause von mindestens 45 Stunden alle 14 Tage. Jeder wird einsehen,
dass Verstöße gegen diese Vorschriften mit Bußgeldern
geahndet werden müssen. Dies betrifft Unternehmen,
Reiseveranstalter und Disponenten. Doch auch der Fahrer ist und bleibt in der Verantwortung, die vorgesehenen
Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten.
Trotzdem ist Kritik angebracht. Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, darf die tägliche Lenkzeit zweiDorothée Menzner
mal in der Woche auf zehn Stunden angehoben werden.
Die Begründung dafür ist, dass kein Wettbewerbsnachteil gegenüber ausländischen Fuhrunternehmen entstehen dürfe. Eine generelle Begrenzung der täglichen
Lenkzeit auf acht - als Ausnahme höchstens neun Stunden, wie ursprünglich geplant - wäre durchaus sinnvoller gewesen.
Wie kann es aber sein - das wurde schon angesprochen -, dass eine neue EU-Regelung in Kraft tritt, es
aber vom Bundesverkehrsministerium versäumt wird,
das Bundesrecht rechtzeitig anzupassen, sodass Verstöße gegen das Fahrpersonalgesetz nicht weiter geahndet werden konnten? Inzwischen werden Lkw-Fahrer
vom Vorwurf der Überschreitung der Lenkzeiten freigesprochen, weil es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt.
Ich verweise nur auf das Urteil des Amtsgerichts Itzehoe.
Deshalb darf ich hier die Fraktionen der Koalition,
vor allem den verehrten Kollegen Dirk Fischer, dafür loben, dass sie schnell nachgebessert haben. Dies war nötig, um diese Verstöße wieder ahnden zu können.
({0})
Wir müssen einmal beleuchten, was der Grund dafür
ist, dass auf einmal ein rechtsfreier Raum entstand. Hat
das vielleicht etwas damit zu tun, dass wir uns langsam
daran gewöhnen, dass Änderungsanträge und Vorlagen
den Fachpolitikern häufig erst am Abend vor den Ausschusssitzungen zugeleitet werden und damit eine
gründliche Analyse nicht mehr möglich ist? Diese Art
und Weise, Abgeordnete zu unterrichten und eine Debatte zu organisieren, hatte durchaus ernste Folgen. Die
weicheren alten Vorschriften des Fahrpersonalgesetzes
gelten ein halbes Jahr länger. Bescheide sind anfechtbar,
nur weil im Ministerium geschlafen wurde. Einige Millionen Euro - über die Höhe mag ich mich gar nicht
streiten - an Verlusten von Einnahmen sind dem Fiskus
dabei entstanden.
Das ist keine solide Regierungsarbeit. Wenn mein
Sohn - er geht in die dritte Klasse - Hausaufgaben
schlampig anfertigt, dann gibt es einen sogenannten
Hausaufgabenstrich und ich als Mutter bekomme eine
Mitteilung.
({1})
Was das Ministerium hier abgeliefert hat, ist schlampig
und, um im Bild zu bleiben, einen Hausaufgabenstrich
wert. Ich finde, der Wähler sollte das wissen.
Es liegt - darauf möchte ich noch kurz eingehen - ein
Änderungsantrag der FDP vor, der Lkw unter 3,5 Tonnen
von der Fahrtschreiberpflicht ausnehmen will. Damit
würden Tür und Tor geöffnet, dass im Güterverkehr bei
kleinen Lastern jegliche Dokumentationspflicht entfällt.
Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung wollen
die Liberalen Gesetzesverstöße legalisieren
({2})
und ermöglichen, dass der ohnehin sehr wenig geschützte Fahrer unter Druck gesetzt wird, die Lenkzeiten
zu überschreiten. Der geringe Schutz der Fahrer soll also
weiter minimiert werden. Das ist in unseren Augen
Steinzeitliberalismus. Den FDP-Antrag lehnen wir deswegen allemal ab.
({3})
Ich danke.
({4})
Es spricht jetzt Toni Hofreiter für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass die wichtigsten Punkte in diesem Bereich
nicht in dem vorliegenden Gesetz, sondern in der entsprechenden EU-Verordnung geregelt werden. Letztendlich
steht das, worauf es ankommt, in der EU-Verordnung.
Was müssen wir letztendlich umsetzen? Wir müssen umsetzen, dass die EU-Verordnung vor Ort durchgesetzt
wird, das heißt, dass die Polizei kontrollieren kann, Bußgelder verhängen kann usw.
Man muss sagen, dass es eigentlich nicht kompliziert
war, diese Verordnung umzusetzen. Komischerweise ist
es dieser ach so Großen Koalition nicht einmal gelungen, eine relativ einfache EU-Verordnung fristgerecht in
nationales Recht umzusetzen. Da fragt man sich natürlich: Was würde diese Große Koalition machen, wenn es
um komplizierte und komplexe Sachen geht? Man weiß
es, man befürchtet es: Es würde noch mehr schiefgehen.
Das ist das eigentlich Tragische an dieser Geschichte,
nicht dass Sie wieder einmal einen Monat vertrödelt haben. Das kann man ja verstehen; so etwas passiert in Ministerien. Das Schlimme ist aber: Sie trödeln sogar bei
simpelsten Sachen. Das ist es, was hier anzuprangern ist.
({0})
Wir freuen uns darüber, dass die Aufbewahrungsfristen jetzt unbürokratischer geregelt worden sind. Wir hatten diesbezüglich einen Änderungsantrag eingebracht,
der von den beiden Koalitionsfraktionen dankenswerterweise flott übernommen wurde. Es ist schön, dass zumindest die Fraktionen noch lernfähig sind; beim Ministerium haben wir da aufgrund der Erfahrungen aus anderen
Gesetzgebungsverfahren unsere Zweifel.
Letztendlich muss man sagen: Die EU-Verordnung ist
ein Fortschritt. Es ist gut, dass das Gesetz jetzt umgesetzt wird. Dem Änderungsantrag der FDP können wir
wirklich nicht zustimmen, auch wenn wir der FDP im
Verkehrsbereich manchmal wohlgesonnen sind ({1})
allerdings eher, wenn es um die Bahn geht. Das, was die
FDP hier vorlegt, ist die übliche Klientelpolitik. So ken9922
nen wir die FDP; sie ist eine nette Lobbyistenpartei. Wir
sind in diesem Fall aber nett und enthalten uns einfach,
weil wir euch in anderen Fällen ab und zu mal brauchen.
({2})
Ich ziehe das Resümee: Dieses Gesetz ist ein Beitrag
zu mehr Verkehrssicherheit. Die Hauptarbeit hat allerdings die EU geleistet. Immerhin, mit einem guten Monat Verzögerung hat unser Ministerium die Umsetzung
geschafft. Darüber freuen wir uns einfach.
({3})
Als Nächste hat die Kollegin Rita SchwarzelührSutter für die SPD das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe gedacht, jetzt freuen sich einige, dass wir die Bußgeldverordnung endlich auf den Weg bringen und vor allem,
dass wir dabei die ganze Kette in die Pflicht nehmen.
Wenn ein Auftrag erteilt wird, den die Fahrer nur unter
Missachtung der Lenk- und Ruhezeiten erfüllen könnten, so sind jetzt auch die Spediteure, die Reiseveranstalter und die Fahrvermittlungsagenturen haftbar. Das ist
doch ein wirklicher Fortschritt.
Die Regelarbeitszeit - ich rede jetzt von allen Branchen - beträgt heute acht Stunden am Tag. Das war früher einmal anders. Zu Zeiten der Industrialisierung waren es im Durchschnitt zwölf Stunden und länger. Es
hatte handfeste wirtschaftliche Gründe, dass man dies
geändert hat: Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, wenn
man zu lange arbeiten muss. Die Menschen können sich
nicht mehr regenerieren. Die Qualität der Arbeit verschlechtert sich. Dies führt zu Sicherheitsrisiken. Mit
den Verordnungen zur Verlängerung der Ruhezeiten und
zur Verkürzung der Lenkzeiten wird dies aufgegriffen
und umgesetzt.
Sicherheitsaspekte sind insbesondere dort von Bedeutung, wo Menschen mit Maschinen arbeiten, zum Beispiel im Straßenverkehr, wo durch eine unaufmerksame
Sekunde das Leben Dutzender gefährdet werden kann.
Es muss sichergestellt sein, dass das nicht passiert und
die Fahrer in der Lage sind, sich zu regenerieren und die
geforderte Leistung tatsächlich zu erbringen.
({0})
Sie wissen genau, dass diese Zeiten in dieser Branche,
die einem starken Wettbewerb ausgesetzt ist, oftmals
nicht eingehalten wurden. Dem wollen wir mit der Änderung des entsprechenden Gesetzes begegnen.
Einige Busunternehmen haben gegen die EU-Vorlagen protestiert. Sie sehen sich in ihrer Wirtschaftlichkeit
bedroht. Sie sagen - damit haben Sie recht -, dass Busfahren bereits heute eine sehr sichere und klimafreundliche Art, zu reisen, ist. Aber ich erinnere an die schlimmen Busunfälle in den Jahren 2002 und 2003. Damals
haben wir uns alle vorgenommen, die Sicherheit zu verbessern. Dazu gehört eine entsprechende Begrenzung
der Lenkzeiten. Ich kann die Sorgen der Unternehmen
zwar nachvollziehen. Aber ich sage auch ganz klar: Sicherheit muss oberste Priorität haben.
({1})
Die neuen Regelungen zu Lenk- und Ruhezeiten können von den Reiseunternehmen auch positiv genutzt
werden. Es gibt einen Anbieter von Studienreisen, der
schon vor Inkrafttreten der EU-Verordnungen diese umgesetzt und nur Verträge mit Unternehmen geschlossen
hat, die diese Lenk- und Ruhezeiten auch einhielten. Sicherheit kann man auch als Gütesiegel begreifen; mit
ihm kann man auch werben.
({2})
Wenn wir den Gesetzentwurf gleich beschließen,
kann das Änderungsgesetz im Juli in Kraft treten. Ab
dann werden dann tatsächlich Verstöße gegen die neuen
Lenk- und Ruhezeiten geahndet.
Herr Döring, wir haben eine Demokratie. In einer Demokratie gibt es parlamentarische Verfahren. In diesem
Fall war es nicht das Ministerium, sondern der Bundesrat, der Änderungen gewünscht hat.
({3})
Darüber haben wir diskutiert. Deswegen hat das Verfahren etwas länger gedauert. Ich denke, das sind wir unserer Demokratie schuldig.
Der Gesetzentwurf, über den wir jetzt entscheiden,
findet eine breite Zustimmung; darüber bin ich froh. Weniger Zustimmung findet der Antrag der FDP. Auch bei
Handwerkern hat Sicherheit oberste Priorität. Wenn ein
Handwerker mehr als acht Stunden auf einer Baustelle
war und noch drei Stunden hin- und drei Stunden zurückfahren muss, dann gefährdet auch das die Straßensicherheit. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Fahrpersonalgesetzes. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4691
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die GrüVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
nen ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Fraktion
der FDP und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenergebnis wie vorher angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5281. Wer stimmt
für den Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Koalition und der Linken und bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Entwicklung nutzen
- Drucksachen 16/4054, 16/5273 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christian Ruck
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Walter Riester für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es gibt in diesem Parlament kaum ein Mitglied, das dem Antrag von der Überschrift her gesehen
nicht sofort zustimmen würde. Viele Inhalte haben wir
- Gott sei Dank! - in dieser Legislaturperiode schon beschlossen, und viele sind bereits umgesetzt.
Es gibt in dem Antrag ein paar Positionen, denen ich
persönlich besonders zustimme. Das ist zum Beispiel die
auch an mich herangetragene Kritik hinsichtlich der
Koordinierungsstelle für die Umsetzung der OECDLeitlinien; das muss ein Thema sein. Nun mögen Sie fragen: Warum kann man dem Ganzen dann nicht zustimmen?
Es gibt zumindest zwei Punkte, die ich dafür anführen
möchte. Herr Hoppe, Sie haben heute früh hinsichtlich
des Afrikaantrages, wie ich finde, nicht ganz zu Unrecht
kritisiert, dass die historische Belastung, unter der die
jetzigen Regierungen Afrikas zu leiden haben, zu wenig
angeführt ist. Diese Frage wird in diesem Antrag überhaupt nicht thematisiert. Aber im Antrag steht im Kern
nicht zu Unrecht, dass korrupte Eliten in demokratische
Prozesse eingebunden werden müssen als Voraussetzung
dafür, dass Rohstoffgewinne in nachhaltige Entwicklung
umgesetzt werden.
Im letzten Absatz ist aufgeführt - auch dem stimme
ich zu, aber es trifft das Problem nicht -, dass die Verantwortung nicht nur bei den korrupten Machteliten liegt,
sondern auch bei den Abnehmern. Wie die korrupten
Machteliten entstanden sind, müssen wir der Ehrlichkeit
halber aufzeigen. Ich weiß ja, wie man solche Anträge
formuliert und wie die Diskussionen ablaufen. Sie fordern von unserer Kanzlerin, dieses Thema beim G-8Treffen einzubringen. Mindestens vier große Länder bei
diesem G-8-Treffen haben historisch viel Schuld bei der
Entwicklung Afrikas auf sich genommen. In vielen Bereichen ist die Schuld mit großen materiellen Interessen an Rohstoffen verbunden gewesen. Der Prozess hat
nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart. Das macht mich etwas nachdenklich.
Der zweite Punkt. Sie führen die Demokratische Republik Kongo und Angola an. Zur Demokratischen Republik Kongo kann ich wenig sagen, außer dass ich als
junger Mensch erlebt habe, dass der erste Versuch, nach
der Überwindung der Kolonialherrschaft demokratische
Wahlen durchzuführen, damit geendet hat, dass Patrice
Lumumba von gekauften Söldnern europäischer Unternehmen umgebracht wurde. Der zweite Anlauf, demokratische Wahlen durchzuführen, liegt nur wenige Wochen zurück.
Über Angola kann ich ein bisschen mehr sagen. Ich
will Ihnen gerade in Bezug auf die Rohstofffrage schildern, welche Erfahrungen ich gemacht habe und wo ich
mich auch korrigiert habe. Ich bin mit einem ähnlichen
Bild, wie es im Antrag formuliert ist, nach Angola gefahren, also vor dem Hintergrund der Informationen, die
ich hier aus der Presse hatte, und eines mich sehr beeindruckenden Films mit dem Titel „Reiches Land, armes
Volk - Angola und das Öl“, den ich auf Arte gesehen
habe und in dem genau diese Rohstofffrage angesprochen wurde.
Wir kamen in ein Land, das durch 32 Jahre Bürgerkrieg zerstört ist. Die ganze Infrastruktur ist kaputt.
Wir hatten dort ein Gespräch mit dem Außenminister. Er
sagte uns: Wir haben versucht, über eine Geberkonferenz Europa zu bewegen, uns zu helfen, die Infrastruktur
aufzubauen, weil ohne die Entwicklung der Infrastruktur
Armutsminderung überhaupt nicht möglich ist. Unsere
Bitte war umsonst. Wir haben uns jetzt auf Abkommen
mit der chinesischen Regierung eingelassen, die uns in
vielen Punkten nicht gefallen. Die einzige Möglichkeit
für uns war, die kaputte Infrastruktur wieder aufzubauen.
Der nahezu einzige Rohstoff, den sie dafür einsetzen
können, ist Erdöl. Das hat mich dazu gebracht, über
meine Meinung, die ich mir hier vorschnell gebildet
habe, bevor ich die Bedingungen vor Ort kannte, nachzudenken.
Ich habe eine zweite Erfahrung gemacht. Jetzt gehe
ich über den Antrag hinaus. Was heißt Nachhaltigkeit?
In den Gesprächen, die wir in Angola geführt haben, ist
uns geschildert worden, dass das Land nie die Chance
hatte - das ist gut nachvollziehbar -, die in den Rohstoffen liegenden Werte über Veredelungsprozesse in Wertschöpfung umzusetzen. Sie haben immer den Rohstoff
verkauft. Die Wertschöpfung liegt aber, wie wir alle wissen, nicht im Rohstoff, der im Boden liegt, sondern in
der Weiterverarbeitung.
Wenn ich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit
einen progressiven Ansatz wählen müsste, würde ich sagen: Versuchen wir, wirtschaftliche Unterstützung so zu
gestalten, dass nachhaltige Wirtschaftsprozesse aufgebaut werden können, dass der Reichtum des Landes zumindest über einige Etappen des Wertschöpfungsprozesses im Land bleibt.
Die Kollegen, die an dieser Reise teilgenommen haben - ich sehe den Herrn Fischer -, und ich hatten die
Möglichkeit, ein Gespräch mit einer Delegation des Vorstandes der Commerzbank zu führen, die gleichzeitig in
Angola war. Das war eine sehr beeindruckende Erfahrung. Diese Delegation verhandelte mit der Regierung
über einen ungebundenen 1-Milliarde-Euro-Kredit der
Commerzbank, der also nicht über Hermesbürgschaften
abgesichert ist. Auf unsere Frage, wie er wirtschaftlich
abgesichert sei, sagten uns die Herren: Über 20 Jahre
Erdgaslieferungen aus Angola.
Meine Position dazu: Ich bin dafür, dass sich
Deutschland engagiert. Ich bin dafür, diesen Aufbauprozess in Angola zu unterstützen. Wir haben dann aber die
Frage diskutiert: Wie können wir uns mit anderen, nachhaltigeren Projekten in diesen Prozess einbringen, mit
Projekten, die über das hinausgehen, was von China kritisiert wird? Ein nachhaltiger Ansatz wäre in diesem Zusammenhang die Unterstützung der industriellen Entwicklung und die Förderung der Qualifikation der
Menschen. Diese Punkte fehlen mir in Ihrem Antrag.
({0})
- Das steht nicht drin. Ich habe den Antrag sehr genau
gelesen, Frau Koczy. Er enthält viele Punkte, die ich sofort unterstreichen würde. Das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, ist ja auch nicht Teil der alltäglichen Diskussion über diese Fragen. Ich möchte aber dazu ermuntern,
dass wir uns mit diesen Fragen ein bisschen eingehender
beschäftigen, dass wir die Diskussion nicht nur unter
dem Motto „korrupte Machteliten verkaufen an gierige
Entnahmeländer“ führen.
Welche Chance zur Entwicklung hat Angola im Moment, abgesehen von dem Weg, den es jetzt wählen
muss, weil Europa den anderen Weg nicht mitgegangen
ist? Welche nachhaltigen Angebote, so frage ich mich,
können wir tatsächlich bieten? Wir können welche bieten; davon bin ich fest überzeugt. Hier müssen wir, so
denke ich, ansetzen.
Wir sollten nicht nur einen moralischen Appell aussprechen - auch wenn das richtig ist -: Ihr Industrienationen, die ihr nicht zuletzt für die Entwicklung Afrikas
eine große historische Schuld auf euch geladen habt
- das wird in dem Antrag gar nicht gesagt -, solltet euch
fragen, was ihr einbringen könnt, um die Entwicklung
nachhaltig positiv zu gestalten! Mir ist der Appell zu wenig, wenn der Kauf von Rohstoffen oder sogar die Gabe
von Entwicklungshilfe von dem Aufbau demokratischer
oder demokratieähnlicher Strukturen abhängig gemacht
werden soll. Ich bin sehr dafür, dass wir eine Entwicklung in Richtung Demokratie anstreben, ich bin aber dagegen, dass wir holzschnittartig vorgehen. Aus diesem
Grunde kann ich nicht empfehlen, diesen Antrag anzunehmen.
Herzlichen Dank.
({1})
Jetzt spricht für die FDP-Fraktion der Kollege
Hellmut Königshaus.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, so glaube ich, ein deutliches Signal, dass wir in
diesen Bereichen weitgehend übereinstimmende Analysen und wahrscheinlich auch weitestgehend gemeinsame
Forderungen haben. Vorhin war die Rede davon - ich
glaube, Frau Pothmer hat das gesagt -, dass man endlich
einmal einem Antrag der anderen Seite zustimmen will.
Dieser Antrag kommt dem ganz nahe - auch wenn wir
ihm nicht ganz folgen können.
Wir wissen alle um die Probleme, die der Hunger
nach Energie, insbesondere nach den entsprechenden
Rohstoffen, mit sich bringt, und wir kennen die damit
verbundenen Ausbeutungstendenzen. Wir wissen aber
auch, dass letzten Endes nicht die Nachfrage allein das
Problem ist, sondern das, was mit den Gewinnen aus
dem Verkauf dieser Rohstoffe passiert. Die nachhaltige
Entwicklung im Land selbst, für die wir uns einsetzen,
und der Aufbau entsprechender Strukturen werden mit
diesen Gewinnen häufig nicht gefördert. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen sind für den
afrikanischen Kontinent - Sie haben das angesprochen oftmals eher Fluch als Segen, sie führen zu Zerstörung,
weil sie zur Finanzierung kriegerischer Auseinandersetzungen verwendet werden, die in diesem Umfang sonst
nicht möglich wären.
Sie von den Grünen nennen in Ihrem Antrag als Beispiel Nigeria. Zu Recht: Nirgendwo sonst gibt es so
viele Ölfelder, nirgendwo sonst wird die Entwicklung
der Förderung in Zukunft so stürmisch sein. Nigeria ist
also im Grunde genommen von der Natur verwöhnt, dieses Land könnte sich selbst entwickeln. Wir sehen aber,
dass dieses bedauerlicherweise nicht passiert. Die politische Elite ruiniert das Land, sie versteht es nicht, diesen
natürlichen Reichtum zu nutzen. Sie verscherbelt die
Ressourcen, und das erlangte Geld wird der Versickerung überlassen.
Das Beispiel Angola, das Sie angesprochen haben,
zeigt den gleichen unseligen Mechanismus. Auch wenn
dort andere Verantwortlichkeiten mit hineinkommen,
muss man natürlich darüber reden, dass diese Länder,
statt ihre Rohstoffe nur zu exportieren, Wertschöpfung
vor Ort aufbauen sollten. Dafür haben wir eine Verantwortung.
Wofür ich nicht bin, ist, dass wir Entwicklungshilfe
oder Entwicklungszusammenarbeit koppeln mit einer
historischen Verantwortung für die Ausbeutung des
Kontinents, die im Übrigen mehr durch andere und weniger durch Deutschland stattgefunden hat. Unsere Entwicklungszusammenarbeit muss nach vorne gerichtet
sein, sie muss sich am Bedarf orientieren und nicht an
historischer oder politischer Verantwortlichkeit.
({0})
Afrika ist also noch immer auf unsere Unterstützung
angewiesen - andere Länder der Dritten Welt sind es
auch -, und zwar deshalb, weil die Bodenschätze verkauft werden, die Einnahmen aber durch die gierigen
Eliten veruntreut werden. Nigeria, Angola, Sudan sind
nur einige Beispiele, dass trotz hoher Exporteinnahmen
keine nennenswerten Entwicklungserfolge vorgewiesen
werden können. Korruption - das zeigt sich auch hier ist ein zentrales Problem; nur so kann dieses Versickerungssyndrom ermöglicht werden. Deshalb dürfen wir
Good Governance nicht bloß propagieren, sondern müssen sie zur Voraussetzung der Entwicklungszusammenarbeit machen. Wir sind schließlich den Steuerzahlern
gegenüber verantwortlich für das, was wir für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass Good Governance die Grundlage der
Zusammenarbeit ist. Andernfalls nehmen wir billigend
in Kauf, dass die Mittel versickern, anstatt dass sie dafür
verwendet werden, wofür sie gebraucht werden.
({1})
Die Grünen haben - für uns in diesem Zusammenhang überraschend - eine unseren eigenen Einschätzungen weitgehend entsprechende Analyse vorgenommen;
die unsrige haben wir in zahlreichen Anträgen, wenngleich breiter gefächert, formuliert. Sie stellen völlig zu
Recht fest, dass die Ölexporte der Entwicklungsländer
nicht zu mehr Demokratie und Transparenz geführt haben, dass Korruption und fehlende staatliche Strukturen
entscheidende Merkmale dieser erdölexportierenden
Länder sind. Die daraus hergeleiteten Forderungen greifen unsere Positionen auf. Deshalb würden wir gerne zustimmen. Doch wir können Ihnen nicht zustimmen, weil
in manchen Bereichen wieder das Kind mit dem Bade
ausgeschüttet wird.
Weil mir die Zeit wegläuft - Frau Präsidentin, ich
habe es gesehen, und ich beeile mich auch, zum Ende zu
kommen -, möchte ich hier als Beispiel einfach nur anführen, dass Sie auch fordern, dass die Weltbank und die
Entwicklungsbanken überhaupt keine Kredite mehr für
die Erdöl- und Erdgasprojekte vergeben. Das geht zu
weit.
Herr Kollege, möglicherweise geht es jetzt auch bei
Ihnen zu weit.
Ich bin sofort fertig. - Heute Morgen haben wir beklagt, dass beispielsweise Länder wie China im eigenen
Interesse Projekte entwickeln. Dann dürfen wir sie ihnen
eben nicht vor ihren Rachen werfen, sondern dann müssen wir natürlich eine entsprechende Finanzierung ermöglichen.
Herr Kollege!
Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Wir werden uns enthalten.
Danke schön.
({0})
Jetzt hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Das
Erfreuliche an dem Politikfeld, das wir hier gemeinsam
beackern, ist, dass es jenseits aller Wurzeln und Details
im Kern einen Konsens darüber gibt, was wir wollen.
Hier geht es um die entwicklungsorientierte Verwendung der Einnahmen der Entwicklungsländer aus den
Rohstoffquellen. Das ist ein zentrales Anliegen zur Förderung der Stabilität in diesen Ländern. Weil es diesen
Konsens gibt, erlaube ich mir an dieser Stelle, dieses
Thema auch einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, nämlich aus der Perspektive der nationalen
deutschen Interessen.
Ich glaube, dass es auch den Entwicklungspolitikern
gut ansteht, diese nationalen Interessen ab und zu in den
Vordergrund zu stellen; denn es geht natürlich auch um
die Akzeptanz der Entwicklungshilfe bei unseren
Wählerinnen und Wählern in der Bundesrepublik
Deutschland. Ich glaube auch, dass es uns deshalb gut
ansteht, das zu tun, weil diese Interessen gar nicht gegenläufig sein müssen. Ein Interesse unserer Seite an
Good Governance in den Entwicklungsländern entspricht natürlich auch dem Interesse der Bevölkerung
vor Ort. Insofern wird es auch hier aus meiner Sicht keinen Dissens, sondern einen Konsens geben.
Wenn ich mir die Situation in Deutschland anschaue,
dann stelle ich fest, dass wir hinsichtlich der Rohstoffe
ein hohes Maß an Importabhängigkeit haben und dass
deshalb die Themen Entwicklung und Außenpolitik im
Zusammenhang mit Rohstoffen und Energie jetzt plötzlich einen neuen und, wie ich meine, auch besonders
positiven und wichtigen Stellenwert bekommen. Ich
meine auch, dass wir mit unserem Verhalten und beim
Umgang mit den Ressourcen ein Vorbild sein müssen.
Wir müssen zeigen, dass wir auf der einen Seite Wohlstand schaffen und vergrößern und auf der anderen Seite
im Interesse der Umwelt und des Klimas Ressourcen
schonen können.
Nur dann, wenn es uns gelingt, zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander vereinbar sind, haben
wir auch eine Chance, dass uns die Entwicklungs- und
die Schwellenländer bei diesem Prozess unterstützen
und dass sie mitmachen und mit in dieses Boot kommen,
in das sie unbedingt müssen, wenn wir zum Beispiel im
Interesse des Klimaschutzes wirklich etwas bewegen
wollen.
({0})
Nun sehe ich auch die Probleme, die wir haben: Rohstoffverknappung wegen neuer Wettbewerber - Indien
und China - und ein Großteil der Ressourcen in politisch
instabilen Ländern sowie der Versuch, dies machtpolitisch zu missbrauchen. Deshalb müssen wir hier in unserem Land folgenden Weg gehen: Diversifizierung der
Rohstoffquellen und Rohstoffarten, Sicherung der Rohstoffversorgung durch den Einsatz erneuerbarer Energien und Sicherung der Ressourcenversorgung durch
Pflege der Beziehungen zu Anbieter und Konkurrenten
sowie durch Unterstützung stabiler Verhältnisse auf der
Anbieterseite. Allerdings darf sich das eigene Interesse
nicht darauf richten, wer am schnellsten und billigsten
an Ressourcen aus Entwicklungsländern kommt. Horst
Köhler hat in diesem Zusammenhang gesagt, es wäre
eine Tragödie für die Menschheit, wenn nach der Sklaverei, dem Kolonialismus und dem Kalten Krieg jetzt
ein neuer Megatrend - nämlich die Nachfrage nach Rohstoffen und Öl - afrikanische Bemühungen um Demokratie, gute Regierungsführung und Armutsbekämpfung
unterlaufen würde.
Ob diese Tragödie letztendlich eintritt, hängt in weiten Teilen nicht nur von den afrikanischen Ländern ab,
sondern auch davon, wie wir uns verhalten und ob wir es
schaffen, in diesem Bereich für Transparenz zu sorgen
und verschiedene Fragen zu beantworten. SubsaharaAfrika zum Beispiel hat im Jahr 2006 Erdöleinnahmen
in Höhe von 64 Milliarden US-Dollar erzielt. In diesem
Zusammenhang stellt sich die Frage, wo dieses Geld geblieben ist. Das meine ich mit Transparenz. Das muss
auf beiden Seiten beobachtet werden. Dazu sind Kontrollmechanismen und ein Verhaltenskodex notwendig.
Es ist sicherlich positiv, dass Deutschland als Mitinitiator an vorderster Front steht. Ich denke zum Beispiel an
den Kimberleyprozess zur Zertifizierung von Rohdiamanten, den „Forest Law Enforcement and Governance
Process“ zum Schutz des Waldes und die „Extractives
Industries Transparency Initiative“ im Zusammenhang
mit Öl, Gas und Bergbau. Mit all diesen Maßnahmen haben wir einen Weg eingeschlagen, der in die richtige
Richtung führt.
Doch auch wenn wir durchaus auf dem richtigen Weg
sind, kommt es entscheidend darauf an, dass sich insbesondere die Schwellenländer China, Brasilien, Indien
und beispielsweise auch Russland endlich beteiligen
und vermehrt als Investoren auftreten. Insofern ist es
positiv, dass mit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm ein
entsprechender Dialog in Gang kommt und dass Rohstoffe und Good Governance zentrale Themen dieses
Gipfels sein werden.
Im Zusammenhang mit der Transparenz möchte ich
noch einen Randaspekt ansprechen, nämlich die Zertifizierungssysteme. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir die Entwicklung im Bereich der Biomasse bei uns
nur dann verteidigen und ausbauen können, wenn es uns
gelingt, die Rohstoffe, die aus dem Ausland kommen
bzw. kommen müssen, zu zertifizieren und zu belegen,
dass sie aus nachhaltigem Anbau kommen und nicht beispielsweise zulasten der Regenwälder angebaut werden.
({1})
Lassen Sie mich noch einen letzten Aspekt ansprechen. Nicht alle Entwicklungsländer verfügen über Rohstoffvorkommen. Deshalb sollte man auch deren Situation beleuchten. Wie Sie alle wissen, stellen steigende
Rohstoffpreise ein entscheidendes Problem für die Entwicklungsländer dar. Sie haben gravierende Folgen für
deren Devisenausgaben. Kenia zum Beispiel hatte durch
den Anstieg des Ölpreises von 2002 bis 2006 zusätzliche
Devisenausgaben in Höhe von 800 Millionen US-Dollar
zu verzeichnen. Das ist sehr viel Geld. Wir laufen
Gefahr, wieder in die Verschuldungsproblematik der
70er-Jahre zurückzufallen. Das darf nicht passieren. Ich
meine, das ist ein entscheidender Punkt, den man berücksichtigen sollte.
Deshalb sollte Deutschland Energieversorgung nicht
als Einbahnstraße betrachten, um sich mit Rohstoffen zu
versorgen; vielmehr sollten wir auch die Chance sehen,
durch deutsche Technologie Impulse zu geben, damit
auch in den Ländern, die nicht über Rohstoffvorkommen
verfügen, energieeffizient gewirtschaftet wird und die
erneuerbaren Energien eine größere Rolle spielen. Das
ist, glaube ich, entwicklungspolitisch von entscheidender Bedeutung.
Den Antrag, den wir heute beraten, finde ich zwar inhaltlich gut, aber er ist insofern überflüssig, als dieses
Thema bereits Bestandteil des Regierungshandelns der
Großen Koalition ist.
({2})
- Das glauben Sie nicht? Ich behaupte es einfach. Sie haben anschließend die Chance, das zu widerlegen.
Außerdem gibt es von den Koalitionsfraktionen einen
weitergehenden Antrag, der sich zwar in der Überschrift
sehr stark auf das Thema Energie bezieht, der aber das
ganze Rohstoffthema beinhaltet. Deshalb brauchen wir
Ihren Antrag nicht. Aber wir nehmen zur Kenntnis, dass
Sie unserer Meinung sind.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Heike Hänsel hat jetzt das Wort für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste! Wir sehen, dass Ihr Antrag, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Grünen, einige gute Forderungen enthält. Allerdings halten wir sie für nicht ausreichend. Wir
sprechen heute über die entwicklungspolitische Verwendung von Rohstoffeinnahmen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag unter anderem auf die Initiative EITI, eine
Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der
Rohstoffindustrie. Diese will die Bundesregierung beim
G-8-Gipfel in Heiligendamm voranbringen. Es geht vor
allem darum, Schwellenländer wie China in diese Initiative einzubinden. Der chinesischen Regierung wird fast
täglich vorgeworfen, unlauteren Wettbewerb beim
Kampf um Rohstoffe zu betreiben. Die deutsche Wirtschaft erhofft sich von dieser Transparenzinitiative einen
Vorteil für die eigenen Unternehmen. Deshalb muss ich
die grundsätzliche Frage stellen: Was steht bei dieser
Transparenzinitiative eigentlich im Vordergrund? Geht
es um Entwicklung und Armutsbekämpfung, oder geht
es unter anderem darum, unbequeme Wettbewerber zu
bremsen? Wenn es um ernsthafte Armutsbekämpfung
geht, dann reicht diese Transparenzinitiative überhaupt
nicht aus.
({0})
Sie ist eine rein freiwillige Initiative ohne Sanktionsmöglichkeiten. Sie sagt auch nichts über die Verwendung der Rohstoffeinnahmen, geschweige denn über die
Verteilung der Gewinne aus. Das Mindeste wäre - das
fordern wir -, eine international bindende Konvention
daraus zu machen.
({1})
Davon hält aber unter anderem der BDI, der Bundesverband der Deutschen Industrie, nicht viel, der nach wie
vor auf die Freiwilligkeit dieser Initiative pocht. Er hat
vor ein paar Wochen seinen zweiten Rohstoffkongress
mit hohem Besuch durchgeführt. Kanzlerin Angela
Merkel hat dort eine „enge und koordinierte Zusammenarbeit bei der deutschen Rohstoffsicherung“ zugesagt
und gleich die Einrichtung eines vom BDI gewünschten
interministeriellen Ausschusses für Rohstoffpolitik angekündigt, an dem auch das BMZ beteiligt sein wird.
Der BDI formuliert seine Ansprüche an die deutsche
Entwicklungspolitik so:
Die Entwicklungspolitik bietet viel mehr Möglichkeiten, zur Sicherheit unserer Rohstoffversorgung
beizutragen, als gemeinhin angenommen wird, sie
kann in Entwicklungsländern hinwirken auf Rechtssicherheit, Investitionsschutz, Abbau von Exportbeschränkungen oder Unterbindung des illegalen Exports von Rohstoffen …
Und jetzt zur Verwendung und Verarbeitung der Rohstoffe in den betreffenden Ländern. Sämtliche Freihandelsabkommen der EU enthalten mittlerweile die Forderung nach Abbau von Exportbeschränkungen, Herr
Riester. Das verhindert die inländische Verarbeitung der
Rohstoffe. Der BDI schließt zudem nicht aus, dass die
Sicherheit der Rohstoffversorgungswege im Extremfall
auch die Sicherheitspolitik betreffen kann. Das heißt im
Klartext: Ein militärischer Einsatz zur Sicherung der
Rohstoffversorgung wird nicht ausgeschlossen. Ähnliche Sätze finden wir auch im neuen Weißbuch der Bundeswehr. Wir lehnen diese Politik ab.
({2})
Wenn wir über Rohstoffe reden, dann dürfen wir nicht
nur über Bedingungen von Erschließung, Handel und
Verbrauch reden, sondern müssen auch über Machtund Besitzstrukturen im globalen Energie- und Rohstoffsystem sprechen. Die Gewinne landen meistens
noch immer bei den multinationalen Konzernen. Wir
wollen ganz andere Ansätze, die dazu führen, dass die
Rohstoffeinnahmen in den betreffenden Ländern verbleiben und für eine nachhaltige Entwicklung eingesetzt
werden. Solche Ansätze gibt es in Lateinamerika, zum
Beispiel in Bolivien oder Venezuela. Bolivien hat durch
die Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorräte im
letzten Jahr seine Einnahmen verdoppelt und verwendet
diese Gelder nun für soziale Programme. Das ist für
mich eine entwicklungspolitisch sinnvolle Verwendung.
({3})
Ecuador hat vorgeschlagen, Rohstoffe wie Erdöl erst
gar nicht zu fördern und dafür Kompensationszahlungen
zu bekommen. Das wären aus meiner Sicht Ansätze, die
man auch bei den Vereinten Nationen ins Auge fassen
könnte, zum Beispiel Kompensationszahlungen für nicht
gefördertes Erdöl vorzunehmen. Das sind langfristige,
richtig gute Ansätze, die wir fördern müssen, anstatt uns
ausschließlich auf freiwillige Initiativen zu begrenzen.
Abschließend noch einmal: Der Antrag der Grünen ist
gut gemeint, aber die herrschenden Machtstrukturen
werden überhaupt nicht infrage gestellt. Im Gegenteil:
Sie wenden sich sogar noch an die G 8 und fordern, dass
ausgerechnet die G-8-Staaten, die größten Klimakiller
und rohstoffhungrigsten Länder, einen Aktionsplan zum
Umgang der Entwicklungsländer
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
mit ihren Rohstoffeinnahmen entwickeln sollen. Das
lehnen wir absolut ab.
Ich kann nur sagen: Wir unterstützen soziale Bewegungen, die gegen diese Ausbeutung der Rohstoffländer
kämpfen. Diese kommen nämlich nach Heiligendamm
zum G-8-Gipfel. Dort können sie viel lernen. Wir werden auch dort sein.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Ute Koczy für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Gäste! Ich bin Herrn Riester sehr dankbar, dass er
diesen nachdenklichen Ton in die Debatte eingebracht
hat, weil dadurch die Debatte eine ganz andere Richtung
genommen hat als das, was wir das letzte Mal, als wir
über diesen Rohstoffantrag zusammen mit dem Antrag
der Koalition diskutiert haben, besprochen haben.
Sie haben ein Thema angesprochen - historische
Schuld und Gegenwart - und haben gesagt, der grüne Antrag sei holzschnittartig. Ich möchte darauf reagieren und
sagen, dass wir uns aus ganz bestimmten Gründen auf bestimmte Punkte konzentrieren wollten, weil wir der Meinung sind, dass wir in die Zukunft blicken müssen, dass
sich Entwicklungen abzeichnen, die wir jetzt mit bestimmten Rahmensetzungen, mit dem Einrammen von
Pflöcken begrenzen müssen, und dass wir darauf reagieren müssen.
Das, was Sie, Herr Riester, gefordert haben, ist offenkundig nicht konsensfähig. Ein Teil davon ist im Koalitionsantrag enthalten, aber eben nicht alles. Deshalb
müssten Sie Ihren Antrag einer Nacharbeit unterziehen.
Ich möchte das an einem Punkt festmachen. Sie haben
gesagt, wir hätten das Thema Bildung nicht angesprochen. Wir haben es ganz kurz erwähnt, nämlich mit dem
Satz:
Aufgrund von Windfall Profits durch die hohen
Rohstoffpreise auf den Weltmärkten existieren
überdies kaum Anreize für Investitionen in Bildung
und Forschung.
Das haben wir sehr wohl deswegen hineingeschrieben,
weil es so ist und weil dieser Punkt angesprochen werden muss.
Wir haben vier konkrete Forderungen, die uns wichtig
sind und die wir in den 13 Punkten unseres Antrages
ausführlich erläutert haben. Was sind das für vier
Punkte? Es geht einmal um die OECD-Leitlinien, die
hier niemand kennt, die aber sehr wichtig sind. Sie würden das ja unterstützen. Ich würde mich freuen, wenn
das das nächste Mal in Ihrem Antrag stehen würde.
Wir haben gefordert: keine Kredite der Weltbank oder
der Entwicklungsbanken an Erdöl-, Gas- und - wenn
man so will; wenn man dem Salim-Bericht folgt - an Extractive-Industries-Projekte. Diese Forderung wurde
schon im Salim-Report aufgestellt; darüber wurde auch
im Bundestag öffentlich diskutiert. Was erleben wir? Die
Weltbank erhöhte 2005, 2006 massiv die Investitionen in
diese Bereiche. Das ist nicht nachhaltig. Das wollten wir
in unserem Antrag klipp und klar festhalten.
({0})
Der nächste Punkt. Wir haben in unserem Antrag gefordert: Wir wollen mehr Transparenz hinsichtlich der
Bürgschaftsentscheidungen der Bundesregierung. Auch
darüber müssen wir hier diskutieren. Das wird im Bundestag normalerweise nicht eingefordert. Deswegen ist
es in dem Antrag ebenfalls enthalten.
Der aus meiner Sicht wichtigste Punkt betrifft die
Konfliktrohstoffe. Die Konfliktrohstoffe sind auch deswegen ein Anliegen der Nichtregierungsorganisationen,
weil wir, in die Zukunft gerichtet, feststellen müssen,
dass wir durch die Verknappung der Rohstoffe vor der
Situation stehen, durch die Förderung von weiteren Rohstoffen Konflikte zu schaffen.
Ich möchte einmal kurz zitieren, was die Große Koalition in ihrem Antrag geschrieben hat. Ich meine, Sie
müssten über die Konfliktrohstoffe intensiver diskutieren. Sie wollen zwei Regionen in das engere Blickfeld
nehmen, die Länder Zentralasiens und die Staaten Nordafrikas und der Subsahara. Sie schreiben:
Deutschland hat ein vitales Interesse daran, die
wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung
dieser rohstofffördernden Staaten und Regionen allgemein zu unterstützen und damit letztlich die eigene Energieversorgung und -preisentwicklung zu
stabilisieren.
Wir wissen, dazu gehört das Land Turkmenistan.
Welche Bank verwaltet die Gelder von Turkmenistan?
Es ist die Deutsche Bank. Damit schließt sich der Kreis,
und damit kommen wir zu dem, was wir in unseren Antrag geschrieben haben.
({1})
Es geht darum, zu verhindern, dass solche Gelder bei
der Deutschen Bank, bei unseren Investitionsinstitutionen angelegt werden und damit unmöglich gemacht
wird, dass Gerechtigkeit in diesem Land Einzug hält.
Wir wissen, wie der Diktator dort geherrscht hat. Deswegen ist es so wichtig, dass die Gelder, die aus den Verkäufen von Rohstoffen, die dem Volk geraubt werden,
stammen, auf internationaler Ebene geächtet werden und
darauf hingewirkt wird, dass so etwas nicht mehr geschieht.
Unser Antrag ist in die Zukunft gerichtet. Deswegen
haben wir nicht die ganze Vergangenheit aufgearbeitet.
Wir haben uns nicht so sehr auf die Gegenwart bezogen,
sondern wir haben deutlich gemacht, was wir tun müssen. Wir müssen jetzt handeln. Dafür ist der Antrag das
geeignete Mittel. Sie können eigentlich nur zustimmen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Rohstoffeinnahmen
für nachhaltige Entwicklung nutzen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5273, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4054 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China
- zu dem Antrag der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China
- Drucksachen 16/4559, 16/855, 16/5146 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Volker Beck ({1})
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in
China vollzieht sich in einer beeindruckenden Geschwindigkeit. China ist in jeder Hinsicht zu einem Global Player geworden. Die Volksrepublik ist heute ein
wichtiger Akteur und Partner mit Verantwortung in der
internationalen Politik und in unserer globalisierten
Wirtschaft. Ein Land mit dieser Bedeutung steht natürlich auch im besonderen Fokus der Weltöffentlichkeit
und hat auch besondere Aufmerksamkeit verdient. Dies
meine ich zunächst durchaus in positivem und anerkennendem Sinne. Doch diese Aufmerksamkeit muss alle
Bereiche in der gesellschaftlichen Entwicklung in diesem großen Land gleichermaßen betreffen. Wir wollen
mit diesem Antrag die Bereiche, in denen diese Entwicklung noch nicht das Tempo erreicht hat, das erforderlich
wäre, konkret beleuchten. Wir wollen dabei keine Bereiche aussparen. Ich denke, China ist sich dessen bewusst
und sollte dies auch akzeptieren.
Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland
und der Volksrepublik China sind in ihrer Geschichte
selten besser gewesen als heute. Wir haben ein Interesse
daran, das Verhältnis so zu gestalten, dass es stark und
belastbar genug ist, dass auch kritische Fragen thematisiert werden können. Es geht uns dabei um eine konstruktive bilaterale Zusammenarbeit, auch und gerade in
Fragen der Menschenrechte. Wir wollen diese Diskussion rational führen. Es geht uns nicht um eine pauschale
Verurteilung, und wir tun dies auch nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Es geht um ganz konkrete Missstände, die wir in unserem Antrag benennen und die zum
Wohl der Menschen einer Veränderung bedürfen.
Lassen Sie mich Folgendes an dieser Stelle mit der gebotenen Nüchternheit sagen: Die Auseinandersetzung mit
gravierendsten Menschenrechtsverletzungen, wo auch
immer auf dieser Welt sie geschehen, ist eine Notwendigkeit in allen nationalen Parlamenten. Sie ist eine Erfüllung
völkerrechtlicher Verpflichtungen, und sie ist - darüber
sind wir schon lange hinweg - keine Einmischung in die
inneren Angelegenheiten eines Landes, sondern eine Erfüllung international geltender Normen.
({0})
Das Europäische Parlament hat vor zwei Wochen in
Straßburg den Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage in der Welt und zur Menschenrechtspolitik in der
Europäischen Union verabschiedet. Darin heißt es - dem
stimme ich uneingeschränkt zu -, dass der Menschenrechtsdialog auf dieser Ebene mit der Volksrepublik
China fortgesetzt werden muss; Themen wie „Zwangsarbeit, Meinungs- und Religionsfreiheit, die Rechte religiöser und ethnischer Minderheiten und das Lagersystem
Laogai sollten im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008
in Peking verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt
werden“.
In der kommenden Woche findet der nächste
EU-China-Menschenrechtsdialog in Berlin unter der
deutschen Ratspräsidentschaft statt. Deshalb war das
Ansinnen der chinesischen Botschaft, das zu überdenken
und eine Beschlussfassung auszusetzen, nicht wirklich
zielführend. Wir wollen, dass diese Position des Deutschen Bundestages bei der Führung des nächsten Menschenrechtsdialoges Bestandteil der Verhandlungen ist.
Ich glaube, das ist die richtige Antwort auf all das, was
uns hier in diesen Tagen vorgehalten wird.
({1})
In den letzten Jahren - das verkennt keiner bei uns ist in China durchaus ein Fortschritt bei wirtschaftlichen
und kulturellen Rechten zu beobachten. Bei der Umsetzung der individuellen Freiheits- und Menschenrechte ist
aber noch ein ganz großer Rückstand aufzuholen. Gerade bei Reformen im Justizwesen, vor allem im Bereich
des Strafrechts, herrscht akuter Nachholbedarf.
Trotz wiederholter Forderungen aus dem In- und Ausland, das System der Laogai-Lager abzuschaffen, wird
diese Form der Straf- und Arbeitslager weiter im großen
Maßstab genutzt. Dieses Straflagersystem wurde erstmals 1957 flächendeckend eingesetzt. Seit Jahrzehnten
und noch heute wird das System harter Arbeit als Umerziehungsmethode für Systemabweichler jeder Art, für
Kleinkriminelle, für Angehörige von Religionsgemeinschaften, für Homosexuelle und für politische Kritiker
genutzt. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen von
Wanderarbeitern, Obdachlosen und unterprivilegierten
Bevölkerungsgruppen.
Ohne rechtsstaatliche Verfahren werden die Betroffenen inhaftiert und „politisch umerzogen“. Umerziehung
durch Arbeit - Lao Jiao - heißt eine Form der Administrativhaft, durch die politische Dissidenten als „antisozialistische“ und „parteifeindliche Elemente“ ohne gerichtliche
Überprüfung bis zu vier Jahren in solche Arbeitslager
verbracht werden können. Die Entscheidungen werden
von Komitees aus Vertretern der lokalen Verwaltung und
der Büros für öffentliche Sicherheit getroffen.
Die Haft- und Arbeitsbedingungen sind katastrophal.
Körperliche und psychische Demütigung und Folter sind
nicht selten. Die Vorschriften zur Verhängung der Haft
sind nur teilweise öffentlich einsehbar, und ihre Formulierungen sind oftmals derart vage und vieldeutig, dass
sie einer eigenmächtigen Auslegung Tür und Tor öffnen.
Nach offiziellen Angaben der chinesischen Behörden
sitzen circa 220 000 Menschen in solchen Umerziehungslagern ein. Schätzungen von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen gehen
allerdings von einer vielfach höheren Zahl inhaftierter
Menschen aus. Wegen der restriktiven Informationspolitik der Regierung ist es schwierig, zu sagen, wie viele
Umerziehungslager es tatsächlich in jeder Provinz gibt.
Eine, wie ich finde, legitime Forderung in unserem Antrag ist deshalb, die Regierung der Volksrepublik China
aufzufordern, die genaue Zahl und die genaue Lage dieser Lager anzugeben und Besuche internationaler Beobachter zu gestatten. Der Kollege Haibach wird eine
Delegation unseres Ausschusses im Herbst in die Volksrepublik China anführen. Wir werden darauf bestehen,
dass wir Zugang zu einem solchen Lager haben. Ich
glaube, auch das gehört zur Vertrauensbildung in der internationalen Gemeinschaft.
({2})
Es ist an der Zeit, diesem menschenrechtswidrigen
System ein Ende zu setzen. Ein solches Unrechtsregime
verhindert die weitere Entwicklung Chinas zu einem
freiheitlichen, toleranten und demokratischen Rechtsstaat. Das System der Arbeitslager muss deshalb mittelfristig abgeschafft werden, und kurzfristig müssen die
Lebens- und Arbeitsbedingungen in diesen Lagern spürbar verbessert werden.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen - wie wir es auch
in den Dialogen tun -, an China zu appellieren, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte, der von China bereits 1998 gezeichnet wurde,
endlich zu ratifizieren.
({3})
Ich möchte auch daran erinnern, dass die Volksrepublik als Mitgliedstaat der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO, Konventionen über die
Rechte von Arbeitern und Arbeitsbedingungen unterzeichnet hat. Die chinesischen Behörden haben den Willen bekundet, das System der Administrativhaft umzugestalten. Wir spüren auch in den Dialogen, die wir
führen, dass eine entsprechende Bereitschaft zur Veränderung des Strafrechts- und des Verwaltungsrechtssystems durchaus besteht. Wir sind sehr gespannt darauf, ob
die Ankündigungen auf der jüngsten Tagung des Nationalen Volkskongresses, dass in China eine Reform der
Administrativhaft eingeführt wird und im Jahr 2008 Geltung erlangt, Wirklichkeit werden. Angesichts der bisherigen Ankündigungen und ihrer Folgen muss ich allerdings sagen: Ich habe meine Zweifel. Aber ich denke,
wir sollten an dieser Stelle weiterarbeiten.
Meine Damen und Herren, die Theorie ist die eine
Seite der Medaille, die Praxis die andere. Neben den Bekundungen der Regierung bleibt das Problem der Implementierung und bleiben die Schwierigkeiten bei der
Kontrolle der Umsetzung bestehen. Insbesondere die
Menschen auf dem Land haben unter der Willkür der lokalen Bürokratien und der Parteisekretäre zu leiden, die
es zu kontrollieren gilt. Daneben berichten Amnesty International und Human Rights Watch, dass im Vorfeld
der Olympischen Spiele im Sommer 2008 die Anwendung der Administrativhaft, des Systems der Umerziehung durch Arbeit durch Behörden genehmigt wird, um
Peking einerseits von Landstreichern, Kleinkriminellen
und politisch Andersdenkenden „zu befreien“ und andererseits öffentliche gerichtliche Verfahren zu umgehen.
Wir alle freuen uns auf die Olympischen Spiele. Sie
mögen ein beeindruckendes Fest des Friedens und der
Völkerverständigung werden. Aber oft genug sind große
Sportveranstaltungen schon zu Propagandazwecken
missbraucht worden. Deshalb ist es im Vorfeld dieses
Events die Verpflichtung aller, insbesondere von Politik
und Sport, nicht die Augen vor den Geschehnissen in
diesem Land zu verschließen, sondern dieses Ereignis
und die damit verbundene Aufmerksamkeit zu nutzen,
um auf eine deutliche Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China hinzuwirken.
Herzlichen Dank.
({4})
Florian Toncar spricht jetzt für die FDP.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das, was hier gerade stattfindet, ist eine menschenrechtliche Sensation. So hat es jedenfalls die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in einer Meldung vom Dienstag dieser Woche bezeichnet. Auch ich
möchte meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass
es möglich war, den Antrag, den die FDP im letzten Jahr
eingebracht hat, als Grundlage zur Erarbeitung eines
fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrages zu verwenden.
({0})
Im Wesentlichen sind es drei Punkte, die wir an den
sogenannten Laogai-Lagern zu kritisieren haben. Der
erste Aspekt betrifft das Prinzip der Administrativhaft:
dass eine lokale Behörde und nicht etwa ein Richter anordnen darf, dass ein Mensch bis zu vier Jahre lang festgehalten wird. Das ist ein klarer Verstoß gegen Art. 9 des
Internationalen Pakts über bürgerliche und politische
Rechte. Wie berechtigt die Kritik, die in Europa an der
Administrativhaft geäußert wird, ist, zeigt sich daran,
dass die Administrativhaft für die chinesische Legislative eines der zentralen Reformprojekte der nächsten
Jahre darstellt. Wir können davon, wie ich glaube, keine
Abschaffung dieser Lager erwarten. Aber das macht
deutlich, dass die Notwendigkeit einer Reform bzw. die
Notwendigkeit, dieses System zu überprüfen, selbst in
China erkannt wird. Daher glaube ich, dass unsere Kritik
gar nicht so falsch sein kann.
({1})
Zweiter Punkt. Die Arbeitsbedingungen in den LaogaiLagern sind menschenunwürdig. Zwangsarbeit darf es
nicht geben. Das gilt auch für Gefangene. Überall auf
der Welt haben Menschen ein Anrecht darauf, dass ihre
Arbeitskraft nicht ausgebeutet wird, indem sie gezwungen werden, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten, ohne
auch nur einen freien Tag im Jahr zu haben. So etwas
dürfen wir nicht akzeptieren.
Dritter Punkt. Die Laogai-Lager werden im Gegensatz zu manch anderen Gefängnissen als Instrument des
politischen Kampfes genutzt. Dieses System richtet
sich nicht nur gegen Kleinkriminelle, sondern auch gegen sogenannte asoziale Elemente. Dazu gehören ausdrücklich auch die Gruppe der politischen Dissidenten,
der sogenannten antisozialistischen oder parteifernen
Elemente, und religiöse Minderheiten wie Falun Gong.
Von den Häftlingen, die in diesen Lagern untergebracht sind, ging keine Gefahr für das chinesische Recht
aus. Diese Menschen haben keine Straftaten wie Diebstahl oder Körperverletzung begangen. Sie sollen
schlicht und ergreifend aufgrund ihrer Weltanschauung
oder Religion unterdrückt oder umerzogen werden. Dieser Aspekt macht deutlich, warum die Laogai-Lager ein
ganz besonders berüchtigtes und schlimmes System darstellen, das abgeschafft werden muss.
({2})
Es ist keine Frage der Zeit, bis die Laogai-Lager der
Vergangenheit angehören, sondern es ist eine Frage des
politischen Willens. Es stimmt, dass sich im Zuge einer
zunehmend positiven Entwicklung eines Landes auch
die Situation im Bereich der Menschenrechte von allein
verbessert. Aber es gibt Menschenrechte, die so elementar sind, dass wir sie nicht einfach der Entwicklung des
Landes überlassen und sie zehn Jahre lang ignorieren
können. Wenn es um die Einhaltung elementarer Menschenrechte geht, muss eine Verbesserung sofort eintreten. Daher müssen wir sie heute einfordern. Das tun wir
mit unserer heutigen Initiative.
Ein Punkt, der mir noch besonders wichtig ist: Wir
sollten alles dafür tun, zu vermeiden, dass in den LaogaiLagern hergestellte Produkte auch auf den deutschen
Markt kommen. Ich bin mir sicher, dass unsere heimischen Verbraucher selber solche Produkte nicht wollen.
Kontrollen von Zollbehörden können die Herkunft eines
solchen Produktes zwar manchmal, aber oft eben auch
nicht aufdecken, zumal wenn es sich nur um Komponenten, um einzelne kleine Teile von importierten Produkten
handelt. Wer soll das herausfinden? Wie soll man das erkennen? Deswegen ist es wichtig, dass wir auf die Hersteller und die Importeure zugehen, dass wir sie motivieren, sich genau darüber zu informieren, wo sie ihre
Komponenten beziehen, mit wem sie auf chinesischer
Seite zusammenarbeiten und ob sich nicht vielleicht
doch auch eine Laogai-Einrichtung hinter einer gewöhnlichen Fabrik verbirgt.
Beispielhaft möchte ich - weil es wirklich ein gutes
Beispiel ist - eine Initiative der deutschen Spielwarenindustrie nennen. Die hat in den letzten Monaten über den
Branchenverband eine Liste von 125 deutschen Spielwarenherstellern erstellt. Da fehlt praktisch keiner von denen, die man kennt. Diese Hersteller haben sich verpflichtet - es sind viele, die auch in China produzieren -,
sich darüber zu informieren, ob alle Spielwaren unter
menschrechtskonformen Bedingungen hergestellt worden sind. Ich glaube, was die deutsche Spielwarenindustrie geschafft hat, das können auch andere Branchen. Ich
halte diese Initiative ausdrücklich für vorbildlich und
nachahmenswert.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für nötig, dass wir uns auch mit der chinesischen Seite über
dieses Thema auseinandersetzen, und zwar auch außerhalb der institutionalisierten Menschenrechtsdialoge, die
stattfinden. Deswegen finde ich es zunächst einmal richtig, dass wir auf unsere Initiative auch von chinesischer
Seite eine Reaktion bekommen. Die Frage ist nur, ob
man mit einer „Kaltfront“ oder mit einer sehr pauschalen, schnellen Drohung hinsichtlich der Qualität der Beziehungen in der Sache unbedingt weiterkommt.
Die Chinesen haben jedes Recht der Welt, ihre Meinung zu unserem Antrag zu äußern. Aber sie täten auch
gut daran, uns zu ermöglichen, beispielsweise diese Lager zu sehen. Es ist doch bezeichnend, dass es entgegen
aller internationalen Übung, entgegen sämtlichen Standards nicht gelingt, die UN-Sonderberichterstatter in
diese Lager zu lassen, dass es nicht gelingt, das Rote
Kreuz in diese Lager zu lassen. Ein allererster Beitrag
dafür, dass man sich auch mit der chinesischen Seite
sachlich über dieses Thema auseinandersetzen könnte,
wäre die Schaffung von Transparenz. Lassen Sie uns
diese Lager besichtigen! Lassen Sie uns ein Urteil vor
Ort fällen! Dann können wir mit der chinesischen Seite
objektiver über die Situation in diesen Lagern diskutieren. Die pauschale Drohung hinsichtlich der Qualität der
Beziehungen hilft mit Sicherheit nicht weiter.
Einen Erfolg - ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin - hat unsere Initiative mit Sicherheit schon jetzt
gehabt: Sie hat dafür gesorgt, dass ein in Europa bisher
kaum bekanntes Thema auf die Tagesordnung gekommen ist und dass es im öffentlichen Bewusstsein ist.
Vielleicht ist das ein Beitrag - neben dem, was wir im
Antrag verlangen -, dass die Laogai-Lager schon bald
der Vergangenheit angehören werden.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Erika Steinbach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „China
droht dem Bundestag mit Kaltfront“ titelt heute die „Tageszeitung“. Der Deutsche Bundestag lässt sich nicht
drohen, von niemandem. Wir sind auch Anwalt von
Menschen, die in ihren Ländern keinen Anwalt haben.
Menschenrechte bedürfen des Anwaltes. Der Deutsche
Bundestag nimmt diese Themen auf, ob sie China oder
andere Länder betreffen. Das mag letzten Endes auch
China akzeptieren.
({0})
Genauso wie die russischen Gulags längst zum Inbegriff für … systematische Menschenverachtung
geworden sind, sollte auch das chinesische Wort
Laogai in jedes Wörterbuch aufgenommen werden.
Das ist ein Zitat von Harry Wu, dem Vorsitzenden der
Laogai-Stiftung und vielen von Ihnen als sehr engagierter Kämpfer gegen das chinesische Laogai-Zwangsarbeitersystem bekannt. Von ihm wissen wir sehr viel.
Sein Wunsch hat sich inzwischen erfüllt. Der Duden
hat den Begriff Laogai mittlerweile in seinen Wortschatz
aufgenommen. Ich wünsche mir allerdings, dass dieses
Wort eines Tages wieder daraus verschwinden kann,
nämlich dann, wenn der Schrecken, den es bezeichnet,
auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet sein wird,
wo er hingehört.
19 Jahre hat der Katholik Harry Wu als sogenannter
rechter Abweichler in einem der chinesischen LaogaiLager eingesessen. Er selbst bezeichnet diese Lager als
ein „ausgeklügeltes System für die physische, geistige
und psychische Vernichtung eines Menschen“. In der Tat
handelt es sich derzeit um das weltweit größte System
von Umerziehungs- und Arbeitslagern - eine moderne
Form der Sklaverei. Bis zu 50 Millionen Menschen, so
schätzt man, haben seit der Einführung des Laogai-Systems unter Mao Zedong ihr Leben in diesen Lagern gefristet.
Unabhängige Schätzungen gehen davon aus, dass gegenwärtig 4 bis 6 Millionen Chinesen - die Zahl ist nicht
genau bekannt, aber wir wollen das irgendwann auch
einmal wissen - in bis zu 1 000 Lagern einsitzen. Dazu
gehören politisch Inhaftierte genauso wie Angehörige
von ethnischen oder religiösen Minderheiten wie Tibeter, Mongolen, Uiguren und Falun-Gong-Praktizierende;
aber auch Drogensüchtige und Homosexuelle werden oft
jahrelang in Lagerhaft genommen.
Das chinesische Strafgesetzbuch sieht vor, dass jeder
arbeitsfähige, rechtskräftig verurteilte Verbrecher eine
- wie es da heißt - Reform durch Arbeit durchlaufen
soll. Nicht alle Laogai-Insassen sind jedoch nach rechtsstaatlichen Verfahren - selbst nach chinesischen Maßstäben von Rechtsstaatlichkeit, die der unseren durchaus
nicht entspricht - bzw. Verfahren, die in China für
rechtsstaatlich gehalten werden, verurteilt worden. Die
sogenannte Administrativhaft macht es möglich, dass
missliebige Personen einfach so per Polizeiverfügung
bis zu drei Jahre eingesperrt werden können. Davon wird
in der Praxis sehr rege Gebrauch gemacht. Die Betroffenen haben dann überhaupt kein Recht auf Verteidigung
oder Berufung. Nicht selten werden Aussagen, die durch
Folter erpresst wurden, als Geständnis deklariert.
Die Lager - das wurde auch schon deutlich - sind an
Fabriken, Minen oder Farmen angeschlossen. Hier werden die Häftlinge bis zu 18 Stunden täglich zur unentgeltlichen Arbeit gezwungen. Wer das Arbeitspensum
nicht schafft, dem droht dann auch noch Nahrungsentzug mit der Folge, dass er noch schlechter arbeiten kann.
Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind menschenverachtend. Misshandlungen, Mangelernährung,
auch sexueller Missbrauch sind dort trauriger Alltag.
Angewandte Foltermethoden sind seit jeher aus kommunistischen und anderen Lagersystemen bekannt, nämlich
Hiebe, Schlafentzug, Stromschläge oder psychische Folter. All das kennen wir aus anderen Lagersystemen.
Neben Zwangsarbeit ist Gehirnwäsche, die sogenannte Gedankenreform - man muss sich das Wort Gedankenreform einmal vorstellen -, eine zweite Komponente des Laogai-Systems. Die Lagerinsassen müssen
ihre realen oder auch vermeintlichen Missetaten gestehen, Selbstkritik üben und schließlich Reue zeigen. Ziel
ist es, ihren Willen zu brechen und ihre Selbstachtung zu
untergraben, um sie so zu treuen Anhängern des Sozialismus chinesischer Prägung umzuerziehen.
Ein besonders schockierender Auswuchs dieses Systems hat uns in den letzten Monaten immer wieder beschäftigt, nämlich ein blühender Organhandel. Es ist
längst kein Geheimnis mehr, dass toten Häftlingen Organe entnommen und diese gewinnbringend für Transplantationszwecke weiterverkauft werden. Dies alles geschieht laut offizieller chinesischer Lesart mit der
angeblich freiwilligen Zustimmung der Gefangenen
bzw. deren Familienangehörigen. In einem solchen Lagersystem muss allerdings jede angeblich freiwillig abgegebene Erklärung als höchst fragwürdig betrachtet
werden. Ich traue dem Ganzen nicht über den Weg. Besonders erschütternd sind Berichte, die man immer wieder einmal hört, über Tötungen ausschließlich zum Zwecke der Organentnahme. Dabei sollen durch zuvor
stattfindende Reihenuntersuchungen geeignete Personen identifiziert werden, die dann erst bei Bedarf getötet
werden.
Die chinesische Regierung hat inzwischen angekündigt - das ist immerhin ein Fortschritt -, den illegalen
Handel mit Organen gesetzlich zu unterbinden. Die Gesetzesänderung ist offensichtlich eine Reaktion auf den
anhaltenden internationalen Druck von Politikern und
Menschenrechtsorganisationen. Das macht auch deutlich, wie wichtig es ist, dass wir im Bundestag über diese
Themen sprechen. Organentnahme ohne Einwilligung
des Spenders soll nunmehr strafrechtlich verfolgt werden. Das wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung.
Ob jetzt nur Papier beschrieben wurde oder sich die Praxis tatsächlich ändert, wird sich zeigen.
Geschäfte werden jedoch nicht nur mit den Organen
der Häftlinge gemacht, sondern auch mit ihrer kostenlosen Arbeitskraft. Was die Aufklärungsarbeit erschwert,
ist ein mangelnder Überblick unsererseits über Produktionsstätten und Produktionsmethoden. Daher ist es nicht
ganz einfach, nachzuvollziehen, welche Produkte tatsächlich aus Zwangsarbeiterlagern kommen. China verweigert - mit ganz wenigen Ausnahmen - internationalen Delegationen regelmäßig einen Besuch in den
Lagern. Unsere Ausschussvorsitzende musste das kürzlich selbst erfahren, als sie China besuchte. Vielleicht haben die Kollegen beim nächsten Besuch mehr Erfolg; ich
hoffe es sehr.
({1})
- Ich drücke die Daumen.
Nur der Aufklärungsarbeit von Menschen wie Harry
Wu ist es zu verdanken, dass wir etwas Licht in das Dunkel bekommen haben und dass wir immer wieder auf die
Menschenrechtsverletzungen hingewiesen worden sind.
Die chinesische Regierung bestreitet offiziell den Export von Laogai-Produkten. De facto werden sie aber in
alle Welt exportiert. So werden beispielsweise 20 Prozent der chinesischen Kohleproduktion durch LaogaiHäftlinge gefördert, und es ist zu vermuten, dass ein
Drittel des chinesischen Weltmarkttees aus diesen Lagerproduktionen stammt.
Mit dem Laogai-System stehen dem chinesischen
Regime Millionen von kostenlosen Arbeitskräften für
zahllose Produkte zur Verfügung. Damit bekommt die
Aussage „Made in China“ einen besonders bitteren Beigeschmack.
Allen internationalen Protesten zum Trotz hat China
Anfang dieses Jahres angekündigt, die Laogai-Lager und
die Administrativhaft nicht abzuschaffen, sondern lediglich zu verbessern. Berichten zufolge wird über eine
Umwandlung der Laogai-Lager in ein System von
Erziehungsanstalten nachgedacht. Ich halte es für
wichtig, dass man sie nicht umbenennt, sondern ganz
einfach abschafft, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
China hat kürzlich angekündigt, dass es auch in Zukunft keine unabhängige Justiz geben wird. Das lässt für
die Bekämpfung von Folter nichts Gutes erahnen, da
China zwar Fortschritte bei der Gesetzgebung macht,
aber bei der Durchsetzung von Recht nach wie vor die
Kommunistische Partei die Entscheidung über Urteile
fällt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der große
Chinese Konfuzius sagte: „Einen Fehler begangen haben
und ihn nicht korrigieren: Erst das ist ein Fehler.“ - Der
chinesische Drache ist ein Symbol für Weisheit. So können wir vielleicht gemeinsam hoffen, dass China seine
menschenverachtende Politik in Weisheit endlich korrigiert.
({2})
Michael Leutert hat jetzt das Wort für die Linke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin!
Auch für uns besteht kein Zweifel, dass dieses LaogaiLagersystem keiner menschenrechtlichen Betrachtung
standhält, dass es verurteilt und abgeschafft gehört.
({0})
Trotzdem möchte ich auf zwei Punkte des Antrags kritisch eingehen.
Der erste Punkt ist, wie ich vermute, ein Lapsus, aber
doch etwas zynisch: Den US-Kongress als Kronzeugen
der Menschenrechte heranzuziehen, wenn es um ein Lagersystem geht, das wir verurteilen wollen, halte ich nun
wirklich für verfehlt und zynisch.
({1})
Gerade die USA, die mit Guantánamo ein Lagersystem
- das ist ja bekannt - aufgebaut haben! Von den Amerikanern habe ich bis heute noch kein Zeichen, ob ich
meine Reise nach Guantánamo antreten darf. Der Botschaftsrat hat uns in Vorbereitung auf unsere Delegationsreise nach China immerhin angekündigt, unser Vorhaben zu unterstützen, dieses Lager zu besuchen.
({2})
- Diesen Vergleich muss man sich schon gefallen lassen,
wenn man die USA im Antrag erwähnt.
({3})
Ich bin der Meinung, man sollte das Angebot des Botschaftsrats annehmen und entsprechend handeln.
Punkt zwei; das ist der inhaltlich stärkere Kritikpunkt.
Uns geht der Antrag bezüglich der Kritik an der Zwangsarbeit einfach nicht weit genug. In diesem Antrag wird
Zwangsarbeit nur mit Blick auf die Laogai-Lager verurteilt. Die Zwangsarbeit bei den „Normalarbeitsverhältnissen“ wird nicht angesprochen. Das führt meines
Erachtens zu einer Verharmlosung der Situation in der
übrigen Arbeitswelt in China.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Ich bin erstaunt, dass
niemand sonst dieses Beispiel genannt hat. Wir reden im
Forderungskatalog von einer Selbstverpflichtung der
deutschen Wirtschaft. Kollege Toncar, Sie hatten die
Spielwarenindustrie angesprochen.
Ich nenne einmal ein anderes Beispiel. Die „taz“ titelte am 8. Mai 2007 - es ist also kein alter Bericht -:
Teuer bezahlte Aldi-Schnäppchen
Darunter heißt es:
Aldi ist der achtgrößte Textilhändler der Republik.
Viele Hemden und Hosen kommen aus China, wo
die Näherinnen oft sieben Tage die Woche schuften,
neben den Fabrikhallen schlafen und weniger als
den gesetzlichen Mindestlohn verdienen.
Weiter heißt es:
Morgens um acht haben sie an der Maschine zu sitzen, abends um neun endet ihr Werktag …
Das ist also ein Dreizehnstundentag.
In manchen Fabriken gilt die 7-Tage-Woche …
Um noch eins draufzusetzen:
Wer kündigen will, braucht dafür die Erlaubnis des
Arbeitgebers …
Nichts anderes schreiben wir zu dem Laogai-Lagersystem. Es gibt dort eine Siebentagewoche, einen Sechzehnstundentag; die Leute sind eingesperrt und Repressalien ausgesetzt. Wenn man seinen Arbeitgeber fragen
muss, ob man kündigen darf, ist man natürlich ebenso
eingesperrt. Wenn dazu kein Satz in diesem Antrag steht,
ist das für mich natürlich ein Problem. Das zeigt uns
doch zumindest eines: Mit reiner Selbstverpflichtung
der deutschen Wirtschaft ist es nicht getan. Es muss hier
eine Verpflichtung her und nicht nur eine Selbstverpflichtung.
({4})
Letzter Punkt. Ich freue mich, dass es bei der CDU/
CSU einen Erkenntnisgewinn gibt. Denn Sie können den
Antrag nur dann mit einreichen, wenn Sie Ihr Motto
„Sozial ist, was Arbeit schafft“, das Sie einmal aufgestellt haben, korrigieren.
({5})
Denn dieses Beispiel dürfte uns zeigen - die Internationale Arbeitsorganisation und die entsprechenden Normen sind angesprochen worden -: Sozial ist Arbeit nur,
wenn sie unter humanen Bedingungen und für einen gerechten Lohn geleistet wird.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt spricht Thilo Hoppe für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Leutert, Sie vermischen da ganz verschiedene Themen, die alle gesondert diskutiert werden
müssten. Natürlich müssen wir Debatten über notwendige ökologische und soziale Mindeststandards sowie
über Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen führen.
Aber dies mit der jetzigen Debatte zu vermengen, halte
ich für völlig unangebracht.
({0})
Denn das, was in den Laogai-Lagern geschieht, ist noch
einmal zehn Nummern schärfer und kann mit prekären
Arbeitsverhältnissen in anderen Bereichen nicht verglichen werden.
Auch zu Guantánamo gab es kritische Worte aus vielen Fraktionen. Aber es geht heute um die Laogai-Lager.
Darauf sollten wir uns konzentrieren und gemeinschaftlich und fraktionsübergreifend einen scharfen Protest
zum Ausdruck bringen.
({1})
Die chinesische Wirtschaft boomt. Fast 20 Prozent
des Außenhandels der Volksrepublik werden mit den
EU-Ländern getätigt, und Deutschland ist auf Platz fünf
im Außenhandelsranking. Ministerpräsident Jürgen
Rüttgers forderte kurz nach seiner Chinareise, den Handel mit China kräftig zu erweitern. Das ist legitim. Aber
wir müssen viel stärker der Frage nachgehen, was denn
der Hintergrund von den vielen Billigimporten aus
China ist und unter welchen Bedingungen sie produziert
wurden. Das ist die Kehrseite der verlockenden Geiz-istgeil-Angebote.
Leider ist es noch immer so, dass die Boomwirtschaft
China sich sehr wenig um soziale Mindeststandards und
Menschenrechte kümmert. Billigprodukte sind oft deshalb so billig, weil sie aus den Laogai-Arbeitslagern
kommen. Der geringe Preis kommt dadurch zustande,
dass der Faktor Arbeit in diesen Lagern nichts kostet.
Die Menschen - es sind mindestens zwei Millionen werden unter unsäglichen Bedingungen ausgebeutet; das
ist schon von vielen Rednerinnen und Rednern vor mir
gesagt worden, und ich muss es nicht wiederholen. Es
gibt Demütigungen - vereinzelt auch Folter -, und Menschen werden auf eine unmenschliche Art und Weise
ausgebeutet.
Die Laogai Research Foundation schätzt, dass seit der
Regierungszeit von Mao Zedong 40 Millionen bis
50 Millionen Menschen in diesen Arbeitslagern umgekommen sind. Kein Wunder also, dass die chinesische
Botschaft viel unternommen hat, um die Debatte, die wir
heute führen, zu unterbinden. Die Aussage der chinesischen Botschaft, die Umerziehung durch Arbeit sei ein
legitimes Mittel, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, klingt zynisch und muss nicht weiter kommentiert
werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt, frei übersetzt:
„Wenn Du nicht willst, dass Dein Handeln jemand erfährt, dann handele einfach nicht so.“
Wir erkennen an, dass es im Menschenrechtsdialog
mit China in einzelnen Sektoren Fortschritte gibt. Die
chinesische Regierung muss aber aushalten, dass hier
auch über die Schattenseiten, über die prekären Verhältnisse offen und schonungslos debattiert wird.
({2})
Sie muss aushalten, dass wir Menschenrechte und Wirtschaftsfragen nicht miteinander aufwiegen. Die Drohungen, die im Vorfeld dieser Debatte ausgestoßen wurden,
haben mich doch mehr als irritiert.
Frau Kollegin Steinbach hat darauf hingewiesen, dass
uns sehr erschreckende Meldungen über illegale Organentnahmen bei Menschen, die hingerichtet wurden oder
hingerichtet werden sollen, erreicht haben. Es gibt auch
Berichte von einem ehemaligen kanadischen Staatssekretär und von einem Menschenrechtsanwalt, dass auch
Falun-Gong-Anhänger Opfer dieser illegalen Organentnahmen geworden sind. Die Berichte, die wir gehört haben, klingen schier unglaublich. Der Wahrheitsgehalt
dieser Berichte kann so schnell nicht verifiziert werden,
aber wir bitten die Bundesregierung, diesen Vorwürfen,
diesen Anschuldigungen sehr sorgsam und gründlich
nachzugehen.
({3})
Wir müssen auch bei der Ausbildung von Medizinern
aufpassen - es gibt ja eine deutsch-chinesische Kooperation auf diesem Gebiet -, dass wir nicht unbewusst zu
Komplizen bei der illegalen Organentnahme werden.
Das wäre gar nicht auszuhalten.
Ich bin sehr froh, dass wir hier weitgehend fraktionsübergreifend die unmenschlichen Bedingungen in den
Laogai-Arbeitslagern scharf verurteilen. Wir erwarten
jetzt von der Bundesregierung, dass dieser gemeinsame
Protest der chinesischen Regierung gegenüber klar und
deutlich zum Ausdruck gebracht wird.
({4})
Die Initiative der Spielwarenindustrie wurde von Ihnen, Herr Toncar, schon angesprochen. Wir fordern, dass
sich auch andere Sektoren der deutschen Wirtschaft stärker für Transparenz einsetzen und dass sich die Verbraucherschutzverbände dieses Themas annehmen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Die Konsumentinnen und Konsumenten müssen die
Möglichkeit erhalten, die Augen aufzumachen und Produkte aus diesen Arbeitslagern zu boykottieren.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der
FDP und von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für
die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in
China“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5146, den
Antrag auf Drucksache 16/4559 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfeh-
lung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktionen
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Linken angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5146 empfiehlt der Ausschuss, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/855 mit
dem Titel „Für die Verurteilung des Systems der Laogai-
Lager in China“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung ein-
stimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Cornelia Pieper, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit
schützen - Entschiedenes Vorgehen gegen Zer-
störungen von Wertprüfungs- und Sortenver-
suchen sowie von Feldern mit gentechnisch
veränderten Pflanzen
- Drucksachen 16/2835, 16/4474 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, Undine
Kurth ({1}) und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen auf dem Gelände des Instituts für
Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
in Gatersleben
- Drucksache 16/4904 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch veränderten Mais MON863 anordnen
- Drucksache 16/4905 9936
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Max Lehmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Gäste! In meinem kurzen Vortrag möchte
ich Stellung nehmen zum Antrag der FDP und zu den
Anträgen des Bündnisses 90/Die Grünen, die teilweise
schon im Ausschuss thematisch besprochen und vorbehandelt wurden.
Zunächst einmal zum Antrag der FDP-Fraktion
„Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen“.
Die Feldzerstörungen sind in jedem Falle auf das
Schärfste zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen.
Darüber, glaube ich, sollten wir uns alle einig sein.
({0})
Hierin stimmen wir auch mit Ihnen von der FDP überein; daran gibt es keine Zweifel.
Eine Entscheidung über die Zukunft von Wissenschaftsdisziplinen - hierbei geht es um eine wichtige
Wissenschaftsdisziplin - kann nur auf der Basis transparenter und reproduzierbarer Versuchsergebnisse gefunden werden.
({1})
Zerstörung kann keinesfalls ein Mittel der Auseinandersetzung über strittige Wissenschaftsdisziplinen sein.
({2})
Im Rahmen der notwendigen Forschungen zur Grünen Gentechnik sind Freilandversuche unverzichtbar,
auch wenn teilweise das Gegenteil behauptet wird.
CDU/CSU und SPD haben bereits bei ihren Koalitionsverhandlungen die Bedeutung der Forschung für diese
innovative Technologie erkannt und deshalb in den Koalitionsvertrag die Absicht aufgenommen, die Forschung in der Grünen Gentechnik zu fördern.
Freilandversuche sind die Voraussetzung dafür, verlässliche, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu folgenden Fragen, die durchaus noch nicht alle geklärt sind,
zu erlangen: erstens Erkenntnisse zur Koexistenz, also
zu Anbauabständen, Nachbarkulturen, Mantelsaaten,
zweitens Erkenntnisse zu den Auswirkungen auf das Bodenleben, drittens Basisdaten und Fakten für die gute
landwirtschaftliche Praxis und letztlich viertens eine biologische Datengrundlage für praktikable Haftungsregeln.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass
ein Hauptargument der Gentechnikgegner immer war,
die Gentechnik sei nicht genug erforscht und es gebe zu
wenig Versuchsergebnisse, um die ökologischen Auswirkungen durch den Anbau von GVO-Pflanzen umfassend beurteilen zu können. Genau dem wollen wir abhelfen. Wir tun also etwas zur Beruhigung unserer Gegner.
({3})
Eine wichtige Frage dabei ist: Wie kann man wirksam
gegen Feldzerstörungen vorgehen? Das Eckpunktepapier sieht vor, dass im öffentlichen Teil des Standortregisters zukünftig nur noch die Gemarkung angegeben
wird. Das ist sicher eine Möglichkeit, aber keine umfassende, um in jedem Fall zu vermeiden, dass das Standortregister als Wegweiser für Genfeldzerstörer verwendet wird. Dies geschieht deswegen, um dem
Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu entsprechen
und dabei gleichzeitig - das ist sehr wichtig - weitere
Feldzerstörungen zu verhindern. Aber jedem, der ein berechtigtes Interesse an der genauen Lage eines entsprechenden Grundstücks darlegt, wird diese mitgeteilt. Das
gilt insbesondere für Nachbarn und Imker in der umliegenden Region.
In diesem Zusammenhang kurz einige Sätze zum Problemkreis „Akzeptanz und Kommunikation“. Die
Ängste in der Bevölkerung gegenüber modernen Technologien müssen wir auf jeden Fall ernst nehmen.
Ängste basieren meist auf fehlenden verständlichen Informationen. Das ist gerade bei der Grünen Gentechnik
der Fall. Die Bürger unseres Landes müssen endlich
sachlich aufgeklärt werden und wissenschaftlich fundierte Fakten über die Grüne Gentechnik und die Zielsetzungen gerade der Freilandversuche erhalten.
({4})
Viele Ängste wurden und werden immer noch durch
sehr einseitige und überzogene Risikodarstellungen von
Organisationen verursacht, die bewusst und absichtlich
die Grüne Gentechnik ablehnen, ja diese sogar bekämpfen. Eine Abwägung zwischen Chancen und Risiken
kann aber nur in einem angst- und ideologiefreien Klima
stattfinden. Ich denke, das ist unbestritten.
Ich muss also feststellen: Wir stimmen in vielen
Punkten mit dem Antrag der FDP überein. Wesentliche
Punkte wurden aber schon erfüllt oder werden, wie im
Eckpunktepapier vorgesehen, noch erfüllt. Deshalb halten wir den Antrag in der vorgelegten Form für überflüssig. Außerdem ist für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland und damit für die Unversehrtheit
der Versuchsfelder nicht der Bund, sondern sind die Länderbehörden zuständig.
Nun zum Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zum
Problemkreis „Keine GVO-Freisetzungen in Gatersleben“. Konkret geht es bei diesem Antrag um zwei verschiedene Freisetzungsversuche: zum einen um einen
Versuch mit Weizen und zum anderen um einen mit Erbsen. Beide sind durch das BVL genehmigt. Entscheidender Punkt dabei ist: Der Leiter der angeblich betroffenen
Genbank, Herr Professor Dr. Andreas Graner, sieht seinerseits als Experte keinerlei Risiko für die pflanzengenetischen Ressourcen der Genbank. Ein besseres Argument ist nicht vorstellbar. Ich sage ausdrücklich: Auch
uns sind der Erhalt und die Sicherheit der Genbank ein
ausgesprochen großes Anliegen.
({5})
Auch das BVL kam in seiner der Genehmigung vorausgegangenen Sicherheitsbewertung zu dem Schluss,
dass von dem Freisetzungsversuch keine schädlichen
Einflüsse auf Menschen und Tiere sowie auf die Umwelt
zu erwarten sind. Es hat aber trotzdem vorsorglich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen verfügt. Das LeibnizInstitut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung wird während der Freisetzung keine zum Sortiment der Genbank gehörenden Erbsen im Freiland kultivieren, sodass Auskreuzungen in das Erbmaterial der
Genbank vermieden werden. Zu Flächen außerhalb des
Institutsgeländes, auf denen konventionelle Erbsen angebaut werden, wird ein Abstand von mindestens
1 000 Metern eingehalten. Bei den Weizenpflanzen ist es
ein Abstand von 500 Metern. Da sowohl bei den Weizen- als auch bei den Erbsenpflanzen überwiegend
Selbstbestäubung stattfindet, ist die Wahrscheinlichkeit
einer Auskreuzung ohnehin äußerst gering.
Für die Entscheidung des BVL wurden Stellungnahmen des Bundesamtes für Naturschutz, des Bundesinstituts für Risikobewertung und des Robert Koch-Institutes
eingeholt. Gleichzeitig wurden Stellungnahmen des unabhängigen Wissenschaftler- und Sachverständigengremiums, der Zentralen Kommission für die Biologische
Sicherheit und der Biologischen Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft in die Entscheidung einbezogen.
Darüber hinaus wurde das BVL durch die fachliche Stellungnahme des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt.
Ich halte als Fazit fest: Von der Freisetzung gehen
nach Erkenntnissen aller Wissenschaftler und Experten
keine Risiken aus,
({6})
weder für die Genbank noch sonst für Mensch, Tier oder
Umwelt.
({7})
Folglich lehnen wir diesen Antrag ab.
Nun zum zweiten Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zum Einfuhrverbot für Produkte aus Mais
MON 863. Über dieses Thema haben wir schon mehrfach diskutiert. Dieser Antrag bezieht sich auf eine
Gruppe französischer Wissenschaftler, die neue Zweifel
an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit des gentechnisch veränderten Maises MON 863 geäußert hat. Zur
Erläuterung: MON-863-Mais besitzt eine Resistenz gegen den Maiswurzelbohrer und wird in Nordamerika angebaut. Er ist in der EU als Lebens- und Futtermittel zugelassen.
Die französischen Wissenschaftler stützten sich auf
eine erneute Auswertung aller Unterlagen aus den Fütterungsversuchen, die im Vorfeld der Zulassung von dem
Unternehmen Monsanto durchgeführt wurden. Die
Gruppe sieht Anzeichen dafür, dass Leber und Nieren
der mit MON 863 gefütterten Versuchstiere geschädigt
wurden. Nach der von Greenpeace finanzierten erneuten
Analyse der Monsanto-Unterlagen - ich denke, das allein ist schon ein sehr bemerkenswerter Vorgang kommt Professor Séralini zu dem Ergebnis, dass neue
Fütterungsversuche über einen längeren Zeitraum erforderlich seien, bevor die gesundheitliche Unbedenklichkeit beurteilt werden könne.
({8})
Laut EFSA wurde die von Monsanto durchgeführte
Fütterungsstudie an Ratten entsprechend dem Qualitätssicherungsstandard und den OECD-Richtlinien durchgeführt, und sie umfasst wissenschaftlich profunde toxikologische Untersuchungen, Frau Tackmann,
({9})
sowie korrekte statistische Auswertungen der Versuchsergebnisse. Darüber können Sie sich als wissenschaftlich
geschulte Kollegin informieren.
Schon vor der Zulassung von MON 863 in Europa
wurde über die Interpretation der Daten aus der Fütterungsstudie diskutiert. Es hat im Blutbild der mit
MON 863 gefütterten Tiere statistisch auffällige Abweichungen gegeben. Die Experten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit hatten diese Auffälligkeiten aber als biologisch nicht relevant eingestuft, da
sie sich im Rahmen normaler biologischer Streuung bewegten.
({10})
Auch bei weiteren Untersuchungen haben die Behörden
keine Hinweise auf mögliche gesundheitliche Gefährdungen gefunden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
Nach Ansicht des BfR liefert die französische Analyse der Daten ebenfalls keine Belege, welche die früheren Bewertungen der 90-tägigen Rattenstudie infrage
stellen. Deshalb lehnen wir auch diesen Antrag ab, ebenfalls das beantragte Moratorium, das jeglicher EU-rechtlichen Grundlage entbehrt.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Happach-Kasan spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich darüber, dass sich die SPD, die Grünen
und auch Die Linke nun entschlossen haben, an dieser
Debatte aktiv teilzunehmen.
({0})
Ich bedanke mich vor allem beim Kollegen Lehmer, dass
er mir die Stange gehalten hat und von Anfang an gesagt
hat, dass er reden wird. Das finde ich ausgesprochen
nett.
({1})
- Frau Präsidentin, habe ich das Wort?
({2})
- Frau Präsidentin, habe ich das Wort, oder habe ich es
nicht?
Sie haben das Wort.
Ich habe in einer der letzten Ausgaben des „Stern“
dieses wunderschöne Foto von Tomaten gefunden. Es
hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es waren transgene,
allergenfreie Tomaten abgebildet. Wer im Internet
forscht, findet auch transgene, allergenfreie Apfelsorten.
Diese Zuchtlinien gibt es inzwischen. Sie sind in Europa
erforscht worden, zum Beispiel in Wien, in Deutschland
oder den Niederlanden.
Den Allergikern müssen wir aber leider sagen: Sie
werden diese Sorten nicht essen können; denn sie werden bei uns nicht angebaut werden. Somit wird diese
Forschung, da bin ich mir sicher, in die USA gehen.
75 Prozent der Allergiker in den USA freuen sich bereits
auf solche Sorten. Ich hoffe sehr, dass sie sie auch erhalten werden; denn Äpfel und Tomaten schmecken richtig
gut, auch den Allergikern.
Die Hightechstrategie der Bundesregierung ist mit
sehr vielen Worten angekündigt worden. Sie wurde zwar
hoch gelobt, aber es fehlt ihr etwas: Es fehlt die Novelle
des Gentechnikgesetzes. Kollege Lehmer, auch Sie
mussten heute leider wieder nur von den Eckpunkten
sprechen. Sie konnten keine Novelle des Gentechnikgesetzes vorlegen, mit der der Anbau und die Forschung
tatsächlich gefördert würden. Bundesminister Seehofer,
der Ankündigungsminister, steht mit leeren Händen da.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat dagegen bereits eine
Novelle des Gentechnikgesetzes vorgelegt und dafür
Lob und Anerkennung derer erfahren, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt haben.
({1})
Wir beraten heute über einen Antrag der FDP, der sich
mit der Zerstörung von Feldern befasst. Kollege Lehmer
hat einiges dazu gesagt. Kollege Lehmer, ich stimme Ihnen nicht zu: Dieser Antrag ist nicht überflüssig.
({2})
Wer sich im Internet informiert, stellt fest, dass sich
Gentechnikgegner wieder einmal sammeln, um weitere
Zerstörungsaktionen durchzuführen. Wer das sieht,
weiß, dass dieser Antrag nicht überflüssig ist. Es ist
wichtig, dass wir darüber beraten. Damit machen wir
deutlich, dass die Zerstörung von Feldern ein krimineller
Akt ist, der bestraft werden muss. Im Übrigen sind die
Täter auch bestraft worden.
({3})
Die Zerstörung von Feldern ist zum einen Ausdruck
von Dummheit. Das muss man angesichts der Tatsache
sagen, dass in Bayern Mineralöl auf einen Acker gekippt
wurde. Zum anderen ist die Zerstörung Ausdruck eines
Demonstrationstourismus. Wer einmal bei einem solchen Happening dabei gewesen ist, weiß, dass das Freizeitgestaltung ist und mit Engagement überhaupt nichts
zu tun hat.
({4})
- Kollege Kelber, sagen Sie doch bitte, dass Sie eine
Zwischenfrage stellen möchten, anstatt dazwischenzurufen.
({5})
- Wenn Sie eine Frage stellen möchten, tun Sie das.
Oder lassen Sie sich Redezeit geben! Das wäre viel besser.
Ich habe mir die Rede einer Demonstrantin durchgelesen. Ich bin betroffen davon, dass diese Frau ohne jeden Grund Angst hat. All diejenigen, die den Menschen
Angst einjagen, ob von den Grünen, der SPD oder der
Linken,
({6})
machen sich schuldig. Sie vermiesen dieser Frau das Leben durch Ängste, die völlig überflüssig sind.
({7})
Die FDP lehnt den Antrag der Grünen zum Thema
Gatersleben ab. Ich finde ihn absolut überflüssig. Dass
die Grünen gegen die Gentechnik sind, wissen wir. Ich
glaube, dass das, was der Leiter der Genbank gesagt hat,
viel aussagekräftiger ist, dass nämlich von den Freisetzungsversuchen keinerlei Gefährdung für die Gendatenbank ausgeht. Das ist das Entscheidende, und er ist der
Fachmann, nicht die Grünen.
({8})
Im Übrigen möchte ich einmal daran erinnern, dass
Auskreuzungen bei allen Pflanzen passieren, ob sie gentechnisch verändert sind oder nicht. Das heißt, die Gendatenbank wäre, wenn Ihre Annahme zuträfe, von jedem
Anbau, ob es Weizen ist oder ob es Erbsen sind, betroffen. Sie liegen daher mit Ihrem Antrag total falsch.
({9})
In der letzten Ausschusssitzung haben wir das Vorgehen des BVL beraten. Man sollte sich noch einmal ganz
klar vor Augen führen, was da passiert ist. Nach dem
Gentechnikgesetz muss der Anbau von gentechnisch
verändertem Mais angekündigt werden. Das ist irgendwann im Januar geschehen. Was ist daraufhin passiert?
Nichts. Es wurde veröffentlicht. Was ist daraufhin passiert? Nichts. Der Mais ist ausgesät worden. Was ist daraufhin passiert? Auch nichts. Aber eine Woche nach der
Aussaat erließ das BVL eine Anordnung, nach der die
weitere Aussaat verboten wurde. Das ist doch komisch.
({10})
Das ist so, als ob man das Angeln in Teichen verbieten
würde, aus denen das Wasser gerade abgelassen wurde.
Das ist eine Symbolhandlung. Damit hat Bundesminister
Seehofer wieder einmal seine Möglichkeiten verstärkt,
CSU-Vorsitzender in Bayern zu werden. Er handelt verantwortungslos gegenüber den Menschen in diesem
Lande. Er sollte sich einmal durchlesen, was die DFG
über die Abwanderung von Wissenschaftlern schreibt!
Er sollte sich einmal durchlesen, welche Beschäftigungspotenziale der Ausbau der Biotechnologie in
Deutschland hat: 600 000 Arbeitsplätze! Er sollte sich
einmal anschauen, was er mit seinem Handeln an Verunsicherung der Menschen in diesem Lande verursacht! Er
wird seiner Aufgabe als Minister nicht gerecht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvira DrobinskiWeiß, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung der Freisetzungsversuche in Gatersleben auf dem
Gelände des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und
Kulturpflanzenforschung, IPK, hat schon im letzten Jahr
hohe Wellen geschlagen. Tausende uralter Sorten werden in der dortigen Genbank bewahrt und zur Erhaltung
immer wieder im Freiland angebaut.
Seit durch die Presse ein Schreiben der zuständigen
Genehmigungsbehörde, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, bekannt
wurde, in welchem dem IPK nahegelegt wird, die Vermehrungsflächen der Genbank zu verlagern, ist die Aufregung groß. Das lässt sich zum Teil auf eine Fehlinterpretation des BVL-Schreibens zurückführen: Anders als
im Antrag der Grünen behauptet geht das BVL nicht davon aus, dass die Freisetzungsversuche eine Gefährdung
für die Genbank darstellen. Vielmehr ging es darum,
durch eine räumliche Trennung der Erhaltungsflächen
und der Versuchsflächen die öffentliche Diskussion zu
entschärfen und den vielen Einwendungen Rechnung zu
tragen. Ob der Weg, die neuen, relativ kleinen Versuchsflächen am Standort zu belassen und die wesentlich größeren Erhaltungsflächen, die sich dort seit langem befinden, zu verlagern, richtig ist, darüber werden wir im
Ausschuss sicherlich ausführlich diskutieren. Mir ist bisher nicht bekannt, wie sich das IPK zu den Empfehlungen des BVL verhält.
Mich persönlich haben die Einwendungen nachdenklich gemacht. Auskreuzungen von den Versuchsfeldern
mit gentechnisch verändertem Weizen lassen sich nicht
zu hundert Prozent ausschließen. Wenn es aber zu solchen Auskreuzungen kommt, dann kann hier ein Stück
biologische Vielfalt verloren gehen. Dabei sollte der
Schutz der biologischen Vielfalt angesichts des Klimawandels Priorität haben.
({0})
Auch für die Gentechnologie ist der Schutz der biologischen Vielfalt von grundlegender Bedeutung; denn sie
ist das Reservoir, aus dem die Gentechnik schöpft. Wer
den Verlust von Arten riskiert, beschneidet auch die
Möglichkeiten der Gentechnik.
Hinzu kommt, dass sich in Bezug auf die Weizenversuche die Frage stellt, ob dieses Weizenkonstrukt noch
zeitgemäß ist, finden sich hier doch alle Eigenschaften
versammelt, die die Grüne Gentechnik in Verruf gebracht haben: zwei Antibiotikaresistenzgene - nach EUVorgaben soll darauf verzichtet werden, um Resistenzen
zu vermeiden - sowie eine Resistenz gegen das Totalherbizid Basta. Insgesamt soll sich dieser gentechnisch veränderte Weizen durch einen erhöhten Proteingehalt auszeichnen, alles in allem eine Entwicklung, deren Vorteile
zweifelhaft, zumindest aber schwer vermittelbar sind.
({1})
Weizen als Nahrungsmittelpflanze Nummer eins ist
besonders emotional besetzt. Gentechnisch veränderter
Weizen ist darüber hinaus ein großes wirtschaftliches Risiko für die Landwirte und die Lebensmittelproduzenten.
In einem Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks vom
27. Oktober 2006 zu diesem Thema äußerte ein konventionell arbeitender Müller, dass er beim Einkauf ein Gebiet, von dem er wisse, dass dort GVO-Weizen angebaut
werde, meiden würde - und er wisse, dass seine Kollegen ebenso verfahren würden.
Wir werden dieses Thema, wie ich bereits sagte, im
Ausschuss ausführlich diskutieren. In diesem Zusam9940
menhang liegt uns darüber hinaus ein Antrag auf ein
Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch veränderten Mais MON 863 vor.
Auch wir haben uns mehrfach für Transparenz bei
den Sicherheitsprüfungen, eine Veröffentlichung der
Studien und die stärkere Ausrichtung auf Langzeitbeobachtungen eingesetzt; denn nur mit Transparenz
kann man Vertrauen schaffen. Nachher spricht ja noch
der Kollege Röspel, der dazu auch noch etwas sagen
wird.
Des Weiteren liegt uns die Beschlussempfehlung unseres Ausschusses zum FDP-Antrag zu den Feldzerstörungen vor, mit dem wir uns auch an dieser Stelle mehrfach ausführlich befasst haben.
({2})
Solche Zerstörungen sind Straftaten - das wurde heute
Abend auch von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen
gesagt -, die auch wir ganz entschieden verurteilen.
Den Antrag der FDP lehnen wir ab,
({3})
da sich ein Zusammenhang - wie immer wieder gerne
behauptet wird - zwischen Feldzerstörungen und dem
öffentlichen Standortregister nicht herleiten lässt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Die Skepsis gegenüber und die
Ablehnung der Agro-Gentechnik sind nach wie vor
groß - nicht hier im Bundestag, aber draußen in der richtigen Welt.
({0})
Dies wurde durch eine Studie der GfK Marktforschung vom Dezember 2006 erneut belegt. 74,9 Prozent
von 1 023 Befragten lehnen die Entwicklung und Einführung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln ab.
Nur 6,7 Prozent befürworten sie, und 18,3 Prozent ist
das Thema egal. Dieses Votum können wir nicht ignorieren. Möglicherweise ist das ja auch ein Votum gegen
Zwangsbeglückung.
({1})
Zunächst zu den Anträgen der FDP. Wir halten die sogenannten Feldbefreiungen für keine geeignete Protestform. Sie erreichen damit auch gar nicht das angestrebte
Ziel. Es lohnt sich aber, darüber nachzudenken, warum
Menschen zu solchen Protestformen greifen. Das sage
ich ausdrücklich vor dem Hintergrund meiner ostdeutschen Biografie.
({2})
Ich habe gelernt, nicht nur über Protestformen nachzudenken, sondern auch über Protestgründe. Die FDP setzt
mit ihrer Definition von Forschungsfreiheit die Existenzen Dritter aufs Spiel.
Wer fordert, dass Verschleppungen aus Genfeldern
bis zu einem Grenzwert von 0,9 Prozent toleriert werden
müssen, der steht eben nicht auf der Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher
({3})
und auch nicht an der Seite der Landwirte, die keine
Agro-Gentechnik anwenden wollen. Uns ist der Schutz
ihrer Rechte deutlich wichtiger als Monsanto, Pioneer
und Co.
({4})
Auch der angebliche Zusammenhang zwischen der
Feldbefreiung und dem öffentlichen Standortregister ist
nicht belegbar. Die Linke lehnt Zugangsbeschränkungen
zum Standortregister ab, weil der von der FDP völlig zu
Recht geforderte öffentliche Dialog zu der Problematik
nur dann stattfinden kann, wenn es Transparenz gibt.
Aus unserer Sicht geht die FDP mit ihrem Antrag daher
in die falsche Richtung. Deshalb wird er abgelehnt.
({5})
Zum zweiten Antrag. Über 30 000 Menschen haben
gegen die Freisetzung von genverändertem Weizen in
Gatersleben Einspruch erhoben. Wer schon einmal Unterschriften gesammelt hat, der weiß, wie gigantisch
diese Zahl an Unterschriften ist. Gebracht hat es bis jetzt
allerdings nichts. Die nicht auszuschließende Gefährdung der 150 000 alten Kultursorten in der dortigen
Genbank wird ignoriert. Der Gipfel der Absurdität ist:
Das BVL untersagt nicht den Freisetzungsversuch mit
gentechnisch verändertem Weizen und gentechnisch veränderten Erbsen, sondern es empfiehlt die Verlagerung
der Genbank.
Ich habe der Gaterslebener Institutsleitung letzte Woche einen Brief geschrieben und eindringlich die Frage
gestellt: Was ist, wenn Sie das Verschleppungsrisiko unterschätzen? Die Antwort lautete: Das kann nicht passieren. - Es gibt aber kein Null-Risiko. Es gibt keine NullIrrtumswahrscheinlichkeit. Warum sollten wir also unnötige Sicherheitsrisiken für diese Genbank eingehen?
Ich bleibe dabei: Die Vernunft gebietet die sofortige Beendigung und Aussetzung dieser Freisetzungsversuche.
Null-Risiko für die Genbank!
({6})
Antrag drei. Die Schlagzeile „Rattengift im Popcorn“
ist sicherlich daneben. Worum geht es aber? Französische Wissenschaftler - das wurde schon genannt - haben
bei einer Neuauswertung der Daten festgestellt - den Zugang zu diesen Daten mussten sie sich übrigens gerichtlich erstreiten -, dass durch den gentechnisch veränderten Mais MON 863 bei Versuchstieren Schädigungen
von Leber und Nieren verursacht wurden. Die Veränderungen blieben zwar innerhalb der biologischen Variabilität, aber vielleicht lag das ja auch daran, dass nur drei
Monate lang getestet wurde. Es ist jedoch ein statistisch
signifikanter, also nicht zufälliger Unterschied zwischen
den Versuchs- und den Kontrollgruppen. Beim Zulassungsverfahren für MON 863 wurde dieser Befund ignoriert. Man kann nun trefflich darüber diskutieren, ob das
Ergebnis biologisch relevant ist, aber ignorieren darf
man es nicht.
({7})
Was auch immer man von dieser Studie hält: Die
Bundesregierung muss aus unserer Sicht nach dem Vorsorgegrundsatz handeln und die neuen Hinweise prüfen. Bis zur Neubewertung muss aus unserer Sicht nach
Art. 23 der Freisetzungsrichtlinie - der sogenannten
Schutzklausel - die Inverkehrbringung ruhen. MON 863
darf bis zur Klärung der Fragen nicht mehr als Futteroder Lebensmittel genutzt werden. Das ist das Mindeste,
was die Verbraucherinnen und Verbraucher von uns erwarten können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was die Vorwürfe des Kollegen Lehmer und
der Kollegin Happach-Kasan angeht, frage ich mich, wo
sie eigentlich leben. In den Anweisungen des Bundesministers Seehofer und des in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Bundesamtes für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit zu MON 810, dem Bt-Mais,
heißt es: Da berechtigter Grund zu der Annahme besteht,
dass der gentechnisch veränderte Mais eine Gefahr für
die menschliche Gesundheit oder Umwelt darstellt, wird
die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet. Dabei geht es um das Verbot des Verkaufs. Heißt das,
dass Sie Herrn Seehofer, der Ihrer Fraktion angehört, der
Ideologie beschuldigen oder gar Schlimmeres? Das
Gleiche gilt dann vielleicht auch für das Verwaltungsgericht Augsburg.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Happach-Kasan?
Ja.
Liebe Kollegin Höfken, wir haben in der letzten Ausschusssitzung am Mittwoch das Thema „Bescheid des
BVL“ beraten, und wir haben beide unseren Unmut darüber geäußert, dass der Bescheid erst Ende April ergangen ist, obwohl dem Bundesministerium bereits seit Januar bekannt war, auf welchen Feldern gentechnisch
veränderter Mais ausgesät werden würde. Gleichwohl
hat das Ministerium bis Ende April damit gewartet, den
Bescheid zu erlassen.
Sie haben sicherlich auch gehört, dass ich dem Staatssekretär Dr. Müller die Frage gestellt habe, welche
neuen Erkenntnisse diesen Bescheid rechtfertigen.
Dr. Müller konnte die Frage aber nicht beantworten. Er
hat uns nicht bestätigt, dass es neue Erkenntnisse gibt.
Es gibt offenbar keine neuen Erkenntnisse. Haben Sie
das nicht gehört, oder wie muss ich Ihre Einlassung zu
diesem Thema verstehen?
Ich danke Ihnen für die Frage. Wir sind uns durchaus
einig darin, dass die Anweisung und das Verbot des weiteren Verkaufs viel zu spät erfolgt sind. Ich habe einen
ganzen Ordner mit Argumenten gegen MON 810 gefüllt,
den ich auch in den Ausschuss mitgebracht hatte, und
darauf hingewiesen, dass wir als Grüne drei Gutachten
erstellt haben, die die gesundheitlichen, ökologischen
und rechtlichen Bedenken gegen diese Zulassung noch
einmal begründet haben. Das heißt, der Minister hätte
ebenso wie die Landesbehörden, die ich alle einzeln angeschrieben habe, sehr viel früher handeln müssen. Da
das Ganze aber inzwischen auch im Amtsblatt veröffentlicht wurde, kann ich es Ihnen noch weiter vorlesen.
In der Begründung heißt es: Erst mit jüngeren Untersuchungen wurde deutlich, dass und in welchem
Ausmaß das Bt-Toxin über die Pflanze in höhere Nahrungskettenglieder gelangt. Die Exposition von Nichtzielorganismen höherer Nahrungskettenglieder usw. mit
dem Bt-Toxin ist damit belegt.
Weiter heißt es zu den Risiken für den Boden: Bei BtPflanzen sind die Wirkung und die Verweildauer des in
Pflanzen gebildeten Toxins im Boden derzeit ungeklärt,
sie bergen jedoch ein relativ hohes Potenzial für ökologische Folgen.
Es werden also in vielerlei Hinsicht auf die Wirkungen des verwendeten Bt-Toxins als Pestizid hingewiesen
sowie eine Reihe von Gefahren aufgezeigt. Das hat dazu
geführt, dass mit sofortiger Wirkung der weitere Verkauf
dieses Maises verboten wurde. - Jetzt bin ich mit der Beantwortung Ihrer Zwischenfrage fertig, Frau HappachKasan.
({0})
- Das stand nicht im Amtsblatt.
Frau Kollegin, Nachfragen lässt nach wie vor die Präsidentin zu oder nicht zu. Es tut mir leid.
Ich werde gerne nachfragen, Frau Happach-Kasan,
wie das zu bewerten ist.
Auf jeden Fall ist eines klar geworden: Der Minister
selbst hat mit Verweis auf Art. 23 der Freisetzungsrichtlinie eine nationale Schutzmaßnahme ergriffen, ich
denke: aus gutem Grund, wie Sie sicherlich bestätigen
werden. Das ist eine Erkenntnis, die zu Konsequenzen
führen muss; denn es kann von uns nicht im Ernst erwartet werden, dass wir das angebaute Zeug tatsächlich in
unsere Nahrungskette gelangen lassen. Nicht nur der
Verkauf muss verboten werden. Vielmehr brauchen wir
ein Moratorium für die weitere Verwendung von solchen gentechnisch veränderten Maisprodukten oder gentechnisch veränderten Pflanzen insgesamt. Genauso ist
es nötig, den weiteren Anbau und die Verwendung der
daraus entstehenden Produkte sofort zu stoppen.
({0})
Sie glauben doch nicht wirklich, dass man das noch an
Tiere verfüttern kann oder in die Nahrungskette gelangen lassen darf!
Das Augsburger Verwaltungsgericht hat gesagt - es
ist Ihrer Meinung nach vielleicht ebenfalls von ideologischen Sichtweisen umschattet -, es könne nicht sein,
dass die Produkte der Landwirtschaft kontaminiert werden, und hat auf Antrag eines Imkers per Eilentscheid
effektive Schutzmaßnahmen verlangt und sehr strenge
Auflagen gemacht; das ist richtig. Das ist eine wichtige
Entscheidung im Hinblick auf den Schutz der gentechnikfreien Erzeugung.
({1})
Minister Seehofer hätte sich also eine Menge Ärger ersparen können, wenn er vorausschauend gehandelt hätte
und unseren Forderungen frühzeitig nachgekommen
wäre.
Diese Erkenntnisse müssen dreimal mehr gelten,
wenn es um MON 863 geht, wozu wir einen Antrag vorgelegt haben; denn MON 863 ist nicht nur im Hinblick
auf die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken
ähnlich wie MON 810 zu bewerten. Darüber hinaus enthält MON 863 die bereits erwähnten Antibiotika, die
laut EU-Beschlüssen gar nicht mehr verwendet werden
sollen. Deswegen verlangen wir einen sofortigen Stopp
des Importes dieses Maises, um zu verhindern, dass er in
unsere Futter- und Lebensmittelkette gelangt.
({2})
Ein letztes Wort zu Gatersleben: Ich kann meinen
Vorrednern von SPD und Linken nur zustimmen. Es
kann nicht sein, dass wir ein Kulturgut wie die Genbank
in Gatersleben gefährden, die ihre Sorten weiter vermehren muss. Angesichts der Erkenntnisse über den Bt-Mais
MON 810 ist es das Gebot der Stunde, zu handeln und
einen sofortigen Stopp der Freisetzungen in der Nähe
dieser Genbank zu erlassen.
Danke schön.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege René
Röspel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Happach-Kasan, ich bin froh - darum habe
ich ausdrücklich gebeten -, heute reden zu dürfen; denn
sonst hätte ich mein Gekrakel ordentlich aufschreiben
und dann zu Protokoll geben müssen. Das wäre viel
mehr Aufwand gewesen und hätte sich im Hinblick auf
den vorliegenden FDP-Antrag, über den wir hier mindestens zum fünften Mal zu diskutieren haben, nicht
gelohnt. Ich gebe gern wieder zu Protokoll, dass die
SPD-Bundestagsfraktion natürlich die Beteiligung an
Straftaten ablehnt. Das ist für uns aber eine Selbstverständlichkeit.
Der eine Antrag der Grünen bezieht sich auf das Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung.
Das ist unter anderem eine Genbank, in der über
120 000 oder 130 000 Saatgutarten und -varietäten aufbewahrt werden. Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß
aus meiner Fraktion hat zu Recht gesagt: Es ist ein kulturelles und landwirtschaftliches Gedächtnis und Vermächtnis. Es ist ein Erbe alter Arten und Sorten. Es ist
von großer Bedeutung, diese Gen- bzw. Saatgutbank zu
erhalten, weil sie noch heute ein Lieferant für Saatgut ist.
Das ist vor allen Dingen eine Zukunftschance.
Wenn wir irgendwann, vielleicht in einigen Jahren,
eine alte Art, die wir schon längst vergessen haben - eingeräumt in die Schublade dieser Genbank, dieser Saatgutbank -, doch wieder entdecken, weil sie Eigenschaften hat, die wir vorher nicht gekannt oder nicht genutzt
haben, dann ziehen wir die Schublade auf und wir können dieses Saatgut wieder verwenden.
Voraussetzung für eine funktionierende Genbank, für
dieses Gedächtnis und Vermächtnis, ist eben, dass die
Saatgutarten rein vermehrt werden können. Wenn gentechnisch veränderte Pflanzen, sogar gleicher Sorten und
Arten, in unmittelbarer Nähe und auf den Flächen des
IPK angepflanzt werden, halte ich das ausdrücklich für
falsch. Das werden wir im Ausschuss noch einmal interessiert diskutieren.
Bei dem zweiten Antrag der Grünen geht es um einen
gentechnisch veränderten Mais, MON 863, der ein
Insektengift produziert. Er ist im Jahr 2002 in das Zulassungsverfahren gegangen, und zwar mit einer 1 000-seitigen Stellungnahme des Herstellers über Fütterungsstudien an Ratten. Er ist mittlerweile als Futter und
Lebensmittel zugelassen.
Im Jahr 2003 gab es die erste Kritik an dieser Zulassung. Im Jahr 2004 hat Greenpeace - man kann dazu steRené Röspel
hen, wie man will - die Herausgabe dieser Studie verlangt. Monsanto als Hersteller hat dagegen geklagt und
verloren.
Im Jahr 2007 kam dann eine weitere Studie. Séralini
und andere haben sich diese 1 000 Seiten mit Daten zu
Gemüte geführt und sie anders ausgewertet.
Wenn man in diese Studie hineinschaut - veröffentlicht in einem wissenschaftlichen Organ über Gutachtersysteme -, dann stellt man Differenzen fest. Es sind gentechnisch veränderte und gentechnisch nicht veränderte
Maiskörner an Ratten verfüttert worden, die sogenannte
Kontrolle. Es gibt Veränderungen: bei den Leberwerten,
bei den Triglyceriden, um die 40 Prozent, bei den Nierenwerten um 35 Prozent, bei Eosinophilen und Retikolozyten, bestimmten Zellarten des Knochenmarks, um
50 Prozent.
Wenn Ihr Arzt so eine Abweichung von den Normwerten feststellen würde, würde er Sie ganz schnell zu
sich rufen. Nun sind das Tierversuche. Nun sind das
zweifelsohne ganz bestimmte Versuche. Dennoch wird
man sie interpretieren können. Das Bundesinstitut für
Risikobewertung bleibt ja bei seiner Einschätzung, dass
es eben nicht aus der Reihe schlagen würde. Trotzdem
sage ich: So einfach vom Tisch wischen - es gibt Indizien darüber, dass man sich wenigstens Gedanken machen muss, ob wir den richtigen Weg gehen -, das kann
man auch nicht machen.
Je länger ich mich damit beschäftigt habe - auch mit
den Möglichkeiten und den Verfahrensweisen, wie die
Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen geprüft
wird -, desto größer sind meine Zweifel geworden. Ich
stelle nämlich fest, dass nicht wie üblich wissenschaftlich standardisierte Methoden angewandt werden, sondern dass die Kontrollverfahren durchaus zweifelhaft
sind, dass die Auswertungsmöglichkeiten sehr breit sind
- das zeigt die Studie - und dass eine ganze Reihe von
Parametern und Kriterien in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen, die ich wissenschaftlich nicht
für haltbar halte.
({0})
Morgen wird Greenpeace eine Studie über eine andere gentechnisch veränderte Pflanze, MON 810, veröffentlichen, bei der auf sehr interessante Weise die unterschiedliche Konzentration dieses Insektengiftes und die
teilweise mangelhafte Beurteilung dieser Pflanzen deutlich werden wird oder zumindest interpretiert werden
kann.
Ich habe in meiner letzten Rede - damit komme ich
zum Schluss, weil die Zeit drängt - dargestellt, dass es
sehr viele Gutachten mit Pro und Kontra zur Gentechnik
gibt und dass ich die Lösung noch nicht gefunden habe.
Aus meiner Sicht sind aber die Zweifel größer geworden. Wenn es diese Zweifel gibt, dann ist es - es sind
eben sehr wichtige Entscheidungen - richtig, dass man
ihnen nachgeht und versucht, sie auszuräumen oder zu
bestätigen und Konsequenzen zu ziehen.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden das in den
Antragsberatungen und darüber hinaus genau prüfen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen Entschiedenes Vorgehen gegen Zerstörungen von Wertprüfungs- und Sortenversuchen sowie von Feldern mit
gentechnisch veränderten Pflanzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4474, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/2835 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU
gegen die Stimmen der FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkte 14 b und c: Interfraktionell wird
die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 16/4904
und 16/4905 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Deutsche Bundesbank
- Drucksache 16/4971 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/5286 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Leo Dautzenberg
Die Kollegen Leo Dautzenberg, Jörg-Otto Spiller,
Frank Scheffler, Dr. Herbert Schui, Dr. Gerhard Schick
sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara
Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ich
weise vor der Abstimmung darauf hin, dass der Kollege
Hans Eichel eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung abgegeben hat.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/5286, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/4971 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der
SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltungen der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim-
menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bildungszugang von Kindern und Jugendlichen stärken - Finanzierung von Schülerund Schülerinnenbeförderung im SGB II ermöglichen
- Drucksache 16/4486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen - Bildungsteilhabe für alle Kinder und Jugendlichen sichern
- Drucksache 16/5139 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Dr. Thea Dückert, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche
aus armen Haushalten fördern
- Drucksache 16/5253 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Kollegen Karl Schiewerling, Wolfgang Grotthaus,
Markus Kurth sowie die Kolleginnen Gesine Multhaupt,
Miriam Gruß und Cornelia Hirsch haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4486 und 16/5139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/5253 zu Tagesordnungspunkt 16 c soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage
auf Drucksache 16/4486 überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung medizinprodukterechtlicher
und anderer Vorschriften
- Drucksache 16/4455 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksache 16/5280 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Die Kollegen Jens Spahn, Daniel Bahr, Frank Spieth
und die Kolleginnen Dr. Marlies Volkmer, Elisabeth
Scharfenberg sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Rolf Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
medizinprodukterechtlicher und anderer Vorschriften.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4455 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, der CDU/
CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Stimmenergebnis wie in
der zweiten Beratung auch in dritter Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Energieeinsparverordnung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen
- Drucksachen 16/4787, 16/5235 Berichterstattung:
Abgeordneter Rainer Fornahl
Die Kollegen Volkmar Vogel, Rainer Fornahl,
Joachim Günther, Hans-Kurt Hill, Peter Hettlich sowie
die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel „Energieeinsparverordnung zügig verabschieden - Energieausweis als Bedarfsausweis einführen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/5235, den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4787 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/
CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe
({6})
- Drucksache 16/1994 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kollegen Dirk Manzewski, Wolfgang Nešković,
Jerzy Montag sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach und die Kollegin Mechthild
Dyckmans sowie die Justizministerin Niedersachsens,
Elisabeth Heister-Neumann, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1994 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte,
Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
({8})
- Drucksache 16/3139 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Kollegen Norbert Geis, Dr. Carl-Christian
Dressel, Jörg van Essen, Jan Korte und Volker Beck
({10}) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weg vom Öl im Kunststoffbereich - Chance
der Novelle der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunststoffen echte Kreisläufe
schließen
- Drucksache 16/3140 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die Kollegen Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst
Meierhofer sowie die Kolleginnen Eva Bulling-Schröter
und Sylvia Kotting-Uhl haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3140 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Zuschauern auf der Tribüne noch einen schönen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2007, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.