Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns allen einen guten Morgen und
einen erfolgreichen Tag. Es gibt heute Morgen überhaupt
keine Ankündigungen, sodass wir in der glücklichen
Situation sind, ohne weiteren Verzug in die Tagesordnung einsteigen zu können.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten
Nationen im Sudan ({1}) auf Grundlage
der Resolution 1590 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 24. März 2005
und weiterer Mandatsverlängerungen durch
den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/4861, 16/5142 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Dr. Uschi Eid
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5143 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Lothar Mark
Michael Leutert
Alexander Bonde
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich will darauf hinweisen, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden, also irgendwann kurz nach 10 Uhr; denn diese
Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine Stunde betragen. - Ich höre dazu keinen
Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Irber das Wort. - Sie hat so früh noch nicht mit
ihrem Glück gerechnet.
({4})
Bitte schön, Frau Kollegin Irber.
({5})
Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns heute mit der Verlängerung des UNMIS-Mandates beschäftigen, ist konsequent und richtig. Es ist auch richtig, dass wir es
beschließen. Es gibt in diesem Zusammenhang einen interfraktionellen Entschließungsantrag zum Thema Darfur, der Ausdruck dafür ist, dass wir bei diesem Thema
nicht nur den Süden des Sudan betrachten dürfen, sondern den Gesamtsudan im Blick haben müssen. Ich freue
mich, dass wir hier an einem Strang ziehen und sich die
Fraktionen zu einem interfraktionellen Antrag entschließen konnten. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Niemand kann bestreiten, dass die 10 000 Soldaten
und 715 Polizisten - darunter maximal 75 deutsche Soldaten - wesentlich zur Stabilität im Südsudan beigetragen haben. Sichtbares Ergebnis sind die Flüchtlinge, die
wieder in ihre Heimat zurückkehren können und sich
dort eine Existenz aufbauen wollen. Ich selbst war in
Juba und habe mich von den Bemühungen überzeugt,
die dort unternommen werden. Ich möchte an dieser
Stelle den zivilen und militärischen Kräften, die sich
dort bemühen, meinen sehr herzlichen Dank aussprechen.
Redetext
({1})
Einer der entscheidenden Sätze aus dem Regierungsantrag ist für mich der folgende:
Die Entwicklung im Südsudan kann aber nicht losgelöst von der erschreckenden humanitären und
politischen Situation in Darfur gesehen werden.
Deshalb ist und bleibt es eines der wichtigsten Ziele
- dies kommt in dem Antrag zum Ausdruck -, dass der
unabhängige Allparteiendialog in Darfur und ein nationaler Dialog aller demokratischen Kräfte stattfinden
können. Diese Dialoge kann und muss die internationale
Staatengemeinschaft mit allen Mitteln unterstützen. Allerdings ist es dazu dringend erforderlich, dass die Waffen schweigen, und zwar auf allen Seiten.
Wir haben in den letzten Tagen und Wochen das unsägliche Leid von Millionen von Menschen, die
Anschläge auf die AMIS-Soldaten und den dreisten
Missbrauch der UN-Farben an Flugzeugen der sudanesischen Armee gesehen. Dieser Verstoß gegen
Art. 100 der UN-Charta ist besonders niederträchtig und
muss scharf verurteilt werden.
({2})
Mit der Zustimmung der sudanesischen Regierung zum
sogenannten „schweren Unterstützungspaket“ sind
große Hoffnungen verbunden. Die diplomatischen Bemühungen des UN-Generalsekretärs und seines Sonderbeauftragten Jan Eliasson scheinen Früchte zu tragen.
Wir sind damit einen kleinen Schritt in die richtige
Richtung weitergekommen. Ich kann nur hoffen, dass
damit auch die Chance besteht, die humanitäre Hilfe
wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
({3})
Anerkennenswert ist die Zustimmung Khartoums
zum zweiten Unterstützungspaket. Wir müssen aber
jetzt auch ein glaubhaftes politisches Signal setzen, damit sich Baschir keinen weiteren Wortbruch mehr leisten
kann.
({4})
Deshalb fordern wir die unverzügliche Umsetzung
dieser zweiten Stufe der vereinbarten AU/UN-Hybridmission. Jede Verzögerung wird zur Ausweitung von
UN-Sanktionen führen. Sollte dies im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen nicht durchsetzbar sein, fordern wir
die Bundesregierung auf, sich für einen Sanktionsmechanismus der EU einzusetzen.
Nur damit kein Missverständnis entsteht: Wir reden
hier nicht mehr von diffusen Ankündigungen, sondern
von konkreten Maßnahmen gegen Mitglieder der sudanesischen Regierung. Ankündigungen ohne Konsequenzen darf es nicht mehr geben.
Wir dürfen dabei aber auch eigene Fehler nicht aus
den Augen verlieren. Ich denke hier an die Kriegsgewinner, die Waffenschieber und Geschäftemacher. Kollege Wolfgang Wodarg hat es bereits während der letzten
Sitzung des Europarates am 19. April 2007 erwähnt. Es
kann nicht sein, dass parallel zu den Bemühungen für
den Frieden im Sudan europäische Unternehmen mit
Verbrechern paktieren.
({5})
An dieser Stelle müssen wir vor der Haustür Europas
mit eisernem Besen kehren. Wer sich auf solche Weise
bereichert und so Tod und Leid vieler Menschen in Kauf
nimmt, sollte mit allen rechtlichen Mitteln zur Verantwortung gezogen werden.
Ist Frieden im Sudan in Anbetracht der komplexen
Konfliktlage eine unlösbare Aufgabe? Wird dieses riesige Land 2008 oder 2009 ein stabiles Umfeld für Wahlen überhaupt gewährleisten können?
Im Zusammenhang mit den Wahlen im Kongo habe
ich mir ähnliche Fragen gestellt. Der Einsatz der internationalen Schutztruppe wurde kontrovers diskutiert.
Heute kann man sagen: Das Risiko hat sich gelohnt.
Alle Parteien im Sudan müssen an den Verhandlungstisch zurückkehren. Dies gilt für diverse Rebellengruppen ebenso wie für die sudanesische Regierung. Wir
brauchen einen gesamtsudanesischen Dialog, damit die
Zukunft dieses Landes gestaltet werden kann. Und wir
sollten die moderaten Kräfte in der Regierung in Khartoum unterstützen.
({6})
Die im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossene AU/UN-Hybridmission wird die Voraussetzungen dafür verbessern und die humanitäre Hilfe vor
Ort ermöglichen. Wie viel politischer Druck dafür aufgebaut werden muss, wird sich zeigen. Was notwendig ist,
um jetzt die zweite Umsetzungsphase zu realisieren, fordern wir in unserem Entschließungsantrag. Ich bitte Sie,
diesem heute zuzustimmen.
Ich bitte natürlich auch darum, dem UNMIS-Antrag
zuzustimmen, der ein unverändertes Mandat für die Zeit
bis zum 15. November 2007 mit bis zu 75 Soldaten ausstellt, wobei immer nur 38 oder 39 im Einsatz sind. Der
Einsatz kostet 800 000 Euro.
An dieser Stelle möchte ich unseren Militärs danken,
die sich dieser Aufgabe unterziehen. Es ist nicht leicht,
im Sudan unter diesen Umständen zu agieren, zu beobachten und dabei zu helfen, Frieden im Südsudan zu
schaffen und die Implementierung des Comprehensive
Peace Agreement voranzubringen, aber natürlich auch
dafür zu sorgen, dass die anderen Teile des Sudans dabei
nicht außer Acht gelassen werden.
Herzlichen Dank. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr leistet mit ihrer Beteiligung
am UNMIS-Einsatz im Südsudan trotz der sehr schwierigen Bedingungen vor Ort eine gute und sehr wertvolle
Arbeit. Ich möchte eines gleich zu Beginn deutlich machen: Wer diesen Einsatz als Symbolik bezeichnet, weiß
nicht, wie die tägliche Arbeit dort aussieht. Ich konnte
mich - genauso wie die Kollegin Irber und andere - in
Juba im Südsudan davon überzeugen, dass die Bundeswehr sehr hohes Ansehen genießt.
Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und schätzungsweise
2 Millionen Toten ist der Nord-Süd-Friedensvertrag
die einzige Chance auf dem Weg zu dauerhaftem Frieden. Die Umsetzung des Comprehensive Peace Agreements hinkt leider hinterher, gerade bei solchen wichtigen Institutionen wie der National Petroleum
Commission. Auch aufgrund der Spannungen um die
Region Abyei und der zunehmenden Sorge hinsichtlich
der Wahlen 2009 bildet der UNMIS-Einsatz einen wichtigen Stabilitätsfaktor. Trotz aller Schwierigkeiten vor
Ort gibt es deutliche Zwischenerfolge. Es ist deutlicher
denn je: Nur mit dem Comprehensive Peace Agreement
geht man den Weg zu dauerhaftem Frieden. Die FDPFraktion wird dem vorliegenden Verlängerungsantrag
zustimmen, weil wir diesen langfristigen Prozess unterstützen wollen.
({0})
Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich die Rahmenbedingungen des Einsatzes nicht verändert haben,
wie es im Mandatsantrag heißt. Ein Beispiel: Glücklicherweise kehren zunehmend mehr Flüchtlinge in den
Süden des Landes zurück. Aber wie geht es dort für die
Menschen weiter? Die entscheidende politische Frage
ist: Spüren die Menschen vor Ort die Friedensdividende?
Zudem hat die Bundesregierung zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation im Südsudan nicht losgelöst
von der Lage in Darfur betrachtet werden kann. Die Situation in dieser Krisenregion ist nach wie vor alarmierend. Die hoffnungsvollen Signale von Präsident Baschir
hat er leider kurz darauf wieder relativiert. Nun spricht
er nicht mehr von 3 000 UN-Blauhelmen, sondern nur
noch von Technikern und Ingenieuren. Diese gezielte
Verzögerungstaktik scheint sich also leider fortzusetzen.
Ich begrüße es daher und freue mich, dass sich die
Fraktionen im Deutschen Bundestag mit Ausnahme der
Linksfraktion nach intensiven Verhandlungen auf einen
interfraktionellen Entschließungsantrag geeinigt haben,
der den Druck verstärken kann.
({1})
Denn das ist ein deutliches Signal in Richtung Khartoum.
Ich vermisse allerdings von der Bundesregierung und
der EU-Ratspräsidentschaft bislang eine deutliche Reaktion auf einen aktuellen, sehr ernsten Vorgang. Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen hat der Sudan Flugzeuge weißlackiert, mit UN-Hoheitszeichen versehen
und hat damit illegal Waffen und Munition nach Darfur
transportiert und wohl auch zivile Ziele bombardiert.
Die „New York Times“ hat ein Foto von einer solchen
Maschine veröffentlicht. Der Missbrauch von UN-Kennzeichen zu Kriegszwecken ist nicht nur ein unglaublicher politischer Skandal, sondern auch ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht.
({2})
Herr Staatsminister Erler, Sie haben sich bei meiner
Frage danach im Auswärtigen Ausschuss darauf bezogen, dass dies eine UN-interne Angelegenheit sei, der
man nun nachgehe. Ich verlange von der EU-Ratspräsidentschaft allerdings etwas mehr als solche allgemeinen
Verweise.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Situation in Darfur ist unerträglich. Es geht heute Morgen eigentlich um zwei Bereiche. Diese möchte ich deutlich aufzeigen, weil wir in der Diskussion mit der Bevölkerung leider feststellen, dass dies nicht bekannt ist. Es
geht auf der einen Seite um die Absicherung des Friedensprozesses im Südsudan durch die Verlängerung des
UNMIS-Mandates. Es geht auf der anderen Seite um
friedenschaffende Maßnahmen mit AMIS und einer
eventuell verbreiterten Mission von UN und AMIS in
Darfur.
Nach 20 Jahren Bürgerkrieg im Südsudan gab es vor
zwei Jahren einen Friedensschluss. UNMIS ist die Voraussetzung für den Wiederaufbau und die Stabilisierung
des Friedens im Südsudan. Es wurde eine Übergangsregierung gebildet. Diese Übergangsregierung hat sich
eine Verfassung gegeben. Viele von uns kennen diese
Verfassung. Sie ist vorbildlich für die Entwicklung in
diesem Teil des Sudans. Das war die Grundvoraussetzung, um eine neue Infrastruktur mit der Weltgemeinschaft zu schaffen: Verwaltungsaufbau, Wasser, Straße,
Energie, Agrarstruktur, Bildung und Gesundheit.
Das war die Voraussetzung dafür, dass die Menschen
aus den Flüchtlingslagern, zum Beispiel in Kenia, zu9704
Hartwig Fischer ({0})
rückkommen konnten. In ein Flüchtlingslager in Kenia
sind vor 22 Jahren innerhalb weniger Wochen 40 000 Menschen geflohen. Innerhalb von 20 Jahren, in denen diese
Menschen nicht zurückkehren konnten, ist die Zahl der
Flüchtlinge in diesem Lager allein durch Geburten von
40 000 auf 120 000 gewachsen. Das heißt, es gibt eine
ganze Generation, die in einem Flüchtlingslager aufgewachsen ist, die jetzt im Südsudan in Sicherheit leben
will.
Mit UNMIS und 38 Beobachtern der Bundeswehr
kann ein entscheidender Beitrag geleistet werden. Fünf
Soldaten sind in Stabsverwendungen - wir haben uns
im Ausschuss am Mittwoch darüber informieren lassen -,
33 Soldaten sind in den Sektoren eingesetzt. Ich beschreibe die Aufgaben von einigen der fünf Soldaten:
Der Chief of Staff ist mit für die Überwachung des Friedensvertrages zuständig. Er koordiniert unter anderem
den Einsatz der UNMIS-Militärbeobachter. Der Chief J 2,
der in Khartoum im Hauptquartier sitzt, gibt die Sicherheitslage für die Gesamtmission entsprechend den eingehenden Einzelberichten weiter. Der Chief J 7 koordiniert
die Einsatzausbildung des Personals vor Ort. Er bildet
die neu eingetroffenen internationalen Militärbeobachter
anlassbezogen aus und nimmt gleichzeitig die Weiterbildung des Personals im Einsatz vor. Der sogenannte Senior Staff Officer Monitoring and Verification ist im
Bereich der weiteren Auswertung von Berichten und
Meldungen der Militärbeobachter eingesetzt.
In Richtung der Linken, die immer den Eindruck vermitteln wollen, wir seien dort mit Waffen unterwegs,
sage ich ausdrücklich: Alle 38 Militärbeobachter sind
unbewaffnet. Sie unterstützen die Gesamtmission mit
rund 9 500 UNMIS-Soldaten.
All dies ist die Grundlage für die Wahlen, die im
Jahr 2009 im Sudan stattfinden sollen. Es ist auch die
Grundlage für das Referendum, das 2011 stattfinden
soll. Es ist die Grundlage für eine dauerhafte Befriedung
des Südsudans. Deshalb wird unsere Fraktion dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung von UNMIS
zustimmen.
Hier mache ich den Schnitt zu AMIS und Darfur. Ich
bin ausgesprochen dankbar dafür, dass wir uns trotz
schwieriger Verhandlungen auf einen interfraktionellen
Antrag einigen konnten. An zwei, drei Punkten - ich
sage gleich etwas dazu - hätte ich mir eine Verschärfung
des Antrages vorstellen können.
({1})
- Herr Trittin, ich sage gleich etwas dazu.
Vier Jahre Krieg, Rebellen gegen Rebellen, vier Jahre
Krieg, Rebellen gegen Regierung, vier Jahre Krieg, Regierung mit Rebellen. Die Lage ist also vollkommen unüberschaubar. Gleichzeitig gibt es Waffenlieferungen
von der Regierung an die Rebellen. Das heißt, hier führen nicht nur Rebellen innerhalb des Volkes einen Krieg,
sondern auch die Regierung einen Krieg gegen das eigene Volk.
In der Bilanz bedeutet das: rund 3 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene, 250 000 bis 300 000 Tote,
täglich Flucht, Hunger, Durst, Misshandlung, Vergewaltigung und Mord. 400 000 Menschen - ich habe das
schon in der letzten Debatte gesagt - sind in Kutum seit
Monaten unversorgt. Natürlich sind wir alle froh, dass
die Regierung Baschir jetzt einer ersten UN-Mission zugestimmt hat. Ich zweifle aber immer noch sehr an den
Zusagen von Baschir. In den vergangenen Jahren haben
wir immer wieder erlebt, dass Zusagen im letzten Moment zulasten der Bevölkerung von Darfur zurückgezogen wurden.
Die UN-Berichte und die UN-Resolutionen sind eine
Chronik des Leidens in Dafur. Die Mission, die jetzt
fortgesetzt und verstärkt werden soll, ist dringend notwendig. Die 3 000 Soldaten, die im Rahmen einer sogenannten Hybridmission von Afrikanischer Union und
UN vorgesehen sind, reichen nicht annähernd aus, sind
aber ein erster Schritt. Sie wissen, dass Kofi Annan bereits im vergangenen Herbst 22 000 Mann gefordert hat.
Er hat gesagt, das sei die einzige Chance, dort einen
Friedensprozess einzuleiten.
Ich habe Herrn Staatsminister Erler letztens gesagt,
vielleicht kann das Auswärtige Amt zur Information eine
spezielle Internetseite aufbauen. Das ist nicht mehr nötig: Schauen Sie einmal bei Google Earth nach! Die haben etwas gemacht, worauf man stolz sein kann: Zeitnah
werden jede Woche Satellitenbilder von jedem größeren Flüchtlingscamp eingestellt, sodass man genau vergleichen kann, wie sich die Situation der Menschen dort
entwickelt. Dies bedeutet zusätzlichen öffentlichen
Druck. Ich sage auch vor dem Hintergrund von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland: So etwas ermöglicht
auch mehr Information für unsere Bevölkerung, die solchen Einsätzen oft sehr skeptisch gegenübersteht und
uns Politikerinnen und Politiker fragt, ob der Einsatz
denn notwendig ist.
Zu den schärferen Formulierungen im interfraktionellen Antrag sage ich für meine Fraktion ganz offen: Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass in der Flugverbotsfrage nicht nur ein Prüfauftrag erteilt wird.
({2})
Ich persönlich und die große Mehrheit meiner Fraktion
halten ein Flugverbot für absolut notwendig, gerade vor
dem Hintergrund dessen, was die Kollegin Schuster angesprochen hat: dass weiß angestrichene Maschinen der
Regierung Bomben bringen, während die Menschen unten meinen, sie bekämen Hilfsgüter. Es ist pervers, was
die dortige Regierung macht.
({3})
Ich danke allen, die an diesem interfraktionellen Antrag mitgearbeitet haben. Ich bitte Sie, sich bei Google
Earth über diese Dinge zu informieren. Sie können dort
mehr erfahren als auf allen anderen Wegen. Ich hoffe im
Interesse der Menschen in Darfur, dass wir eine große
Hartwig Fischer ({4})
und breite Zustimmung zu dem interfraktionellen Antrag
bekommen.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Knoche,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Linke hofft sehr, dass der Prozess der Friedensbildung im Sudan vorankommt.
({0})
UNMIS hat zweifelsfrei dazu beigetragen, das Friedensabkommen im Südsudan zu sichern. Diese positive
Bilanz würdigen wir. Denn obgleich man sich für diese
Militärpräsenz auf Kapitel VI und VII der UN-Charta
bezieht, zeichnet sich diese Mission durch Friedfertigkeit aus. Es wäre also töricht und, wie ich meine, politisch fahrlässig, die deutsche Kriegsbeteiligung in Jugoslawien oder die Tornadoeinsätze in Afghanistan nach
Kapitel VII in einem Atemzug mit der Mission im Sudan
zu nennen.
({1})
Deutsche Kriegsbeteiligungen sind und bleiben für uns
unannehmbar.
({2})
Im Sudan geht es aber um etwas anderes. Hier ist die
Frage zu beantworten, wie ein Umlenken von der militärischen auf eine rein zivile Konfliktbearbeitung erreicht werden kann. Wir Abgeordnete müssen genau hinschauen, was das Land Sudan jetzt am dringlichsten
braucht. Ich denke, die Bevölkerung, die Konfliktparteien müssen die Erfahrung machen, dass es sich lohnt,
Frieden zu schließen, in Frieden zu leben. Ihre vordringlichsten Probleme sind nämlich das Landrecht, der
Zugang zu Wasser und zu Weideland und die Wüstenbildung als Folge des Klimawandels. All das ist beständiger Quell von Auseinandersetzungen. Wie die Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen zwischen den
Volksgruppen aufgeteilt werden, beschwert ebenfalls
den Frieden und schürt Konflikte, auf die sich ethnische
und religiöse Konflikte aufsetzen.
„Frieden muss von innen wachsen“, sagt der Evangelische Entwicklungsdienst, Frieden brauche gesellschaftliche Beteiligung, gerade von jenen, die die Zivilgesellschaft ausmachen. Das verweist meines Erachtens
darauf, dass das deutsche Engagement eine starke Investition in den zivilen Friedensdienst sein muss.
({3})
Zwei Millionen Menschen waren von den grauenvollen Zuständen im Sudan betroffen. 250 000 neue Flüchtlinge sind zu versorgen. Es ist hochkompliziert, die Rebellen auf eine konsistente Position zu einen und die
Integration der ehemaligen Kämpfer zu bewerkstelligen.
Das sind schon für sich genommen immense Anforderungen. Hinzu kommt der Mangel an Schulen und Gesundheitsversorgung. Wer sich all das vor Augen führt,
stellt fest: Zur Lösung dieser Aufgaben bedarf es ganz
anderer Kräfte. UNDP, UNHCR und UNFEM, das sind
die richtigen Adressen. Da kann es Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen, die Sie heute ein weiteres
Mal die Bereitstellung von de facto 38 von 75 Militärbeobachtern beschließen, doch eigentlich nicht zufriedenstellen, dass sich der Beitrag Deutschlands auf ein zu
eng gefasstes Verständnis von Peacekeeping reduziert.
Zu UNMIS ist auch zu sagen: Wir sollten nicht vergessen, dass eine lang andauernde Militärpräsenz erhebliche negative Auswirkungen hat. Strukturen der
Fremdbestimmung und Abhängigkeit greifen Platz. Es
entwickelt sich eine an das Militär angedockte Ökonomie. Korruption und die Ausbreitung von Prostitution
sind sozusagen die Kollateralschäden eines militärischen
Friedenseinsatzes.
({4})
Wenn Sie gestern Abend der entwicklungspolitischen
Debatte gefolgt wären, hätten Sie bestätigt bekommen,
dass das die tatsächlichen Auswirkungen der Präsenz
jeglichen Militärs sind.
({5})
Deshalb spreche ich mich gegen die Engführung aus,
UNMIS als Blauhelmeinsatz zu bewerten. Für uns geht
es darum, dass gefestigte zivile Strukturen entstehen.
Wir wollen dafür sorgen, dass die Bevölkerung über die
Wahlen im Jahre 2009 hinaus bis zum Referendum im
Jahre 2011 die gelebte Erfahrung macht, dass die internationale Gemeinschaft all ihr Können darauf richtet, die
Ursachen der Konflikte zu bearbeiten. Hier muss selbstverständlich auch China einbezogen werden; denn dieses
Land investiert angesichts der aufgeteilten Ölmärkte der
Welt in hochriskante Staaten. Die Frage des Ressourcenzugangs ist auch eine Friedensfrage. Das müssen wir
immer im Blick behalten.
({6})
Das Land Sudan braucht zivile Infrastrukturarbeit, Mediation und eine gerechte Verteilung der Erdöleinnahmen.
Die Linke sagt: Es ist richtig, internationale Polizeikräfte einzusetzen. Demobilisierung und der Schutz ziviler Akteurinnen sind notwendig. Das kann Polizei leisten. Aber bei 100 Millionen Euro für 10 000 Soldaten,
750 Militärbeobachter und 700 Polizisten haben wir
schon den Eindruck, dass es sich um ein Missverhältnis
handelt.
Ich gebe gerne zu: Die 38 deutschen Soldaten, die im
Rahmen von UNMIS eingesetzt werden, schaden einem
zivilen Auftrag nicht. Aber es stellen sich die Fragen:
Was nützt mehr? Was ist effektiver? Was ist nachhalti9706
ger? Was ist besser? Welche Instrumente sind am wirkungsvollsten, um Stabilität und Friedensgewinn zu erzielen? Hier kommt die Linke zu einem anderen
Ergebnis als Sie. Denn die Annahme, dass Militär alles
Zivile auch leisten könne oder sogar zivile Schritte ersetzen könne, ist falsch.
({7})
Nicht militärisch, auch nicht militärisch-zivil, sondern zivil muss die Hilfe sein. Insofern sticht das Argument nicht, ohne Militärpräsenz hätte es keinen Friedensprozess gegeben. Niemand spricht sich generell
gegen Blauhelmeinsätze aus. Aber wir müssen darüber
diskutieren, worin der spezifisch deutsche Friedensbeitrag besteht.
Nicht zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen: Vielleicht hat sich die ehemalige rot-grüne Regierung erhofft, durch die Beteiligung an UNMIS bessere Chancen
auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu haben.
Diese Höhenflüge sind vorbei. Heute müssen wir uns genau ansehen, welches Engagement Deutschland im Sudan leistet. Wir Linken sind nicht der Meinung, dass die
Fortsetzung der Beteiligung Deutschlands an UNMIS
für den Frieden und für das innere Wachsen des Friedens
wirklich dienlich ist. Wir plädieren für einen ausgeprägten zivilen und humanitären Beitrag und stimmen dem
Antrag der Regierung nicht zu.
({8})
Kerstin Müller ist die nächste Rednerin für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
im Januar 2005 das Nord-Süd-Friedensabkommen im
Sudan abgeschlossen wurde, hatten wir alle große Hoffnungen - das ist hier schon zum Ausdruck gebracht worden -, dass es nach mehr als 20 Jahren Bürgerkrieg zu
einer friedlichen Entwicklung im Süden kommen und
dieser Prozess sogar positiv auf die anderen Konflikte
im Sudan ausstrahlen würde.
In dem jüngsten Bericht des UN-Generalsekretärs an
den Sicherheitsrat wird leider die umgekehrte Entwicklung aufgezeigt. Der Nord-Süd-Friedensprozess ist in einer absolut kritischen Phase. Fachleute sehen sogar die
Gefahr, dass er völlig entgleisen könnte. Der Friedensprozess im Osten des Sudans stagniert, und die Gewalt
im Westen des Landes, in Darfur, eskaliert. Im Süden ist
die Sicherheitslage angespannt. Zuletzt gab es in Malakal sogar wieder Kämpfe; ich glaube, Sie haben es erwähnt, Herr Kollege Fischer. Es gibt Probleme bei der
Grenzziehung in strittigen Provinzen, bei der Bildung integrierter Armeeeinheiten, bei der Demobilisierung der
Milizen und vor allem - das ist natürlich sehr schlecht auch bei der Vorbereitung der für 2009 geplanten gesamtsudanesischen Wahlen.
Meine Damen und Herren, auch liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, der PDS, vor diesem Hintergrund zu sagen, die unbewaffneten Beobachter, die
sich in dieser Mission befinden, würden „nicht schaden“,
empfinde ich erstens als eine unglaubliche Missachtung
der sehr wichtigen Arbeit, die sie dort leisten,
({0})
und zweitens als eine insgesamt wirklich unglaubliche
Ignoranz gegenüber den für diesen Friedensprozess erforderlichen Notwendigkeiten. UNMIS ist auch in Zukunft für den Friedensprozess nötig.
({1})
Es geht um unbewaffnete Militärbeobachter. Das
müsste Ihnen ja eigentlich entgegenkommen. Das ist
auch kein symbolischer Beitrag; vielmehr ist unsere Unterstützung für UNMIS der größte Beitrag aller Europäer. Die Militärbeobachter leisten bei der Vertrauensbildung zwischen den Bürgerkriegsarmeen Wichtiges und
sorgen für die Einhaltung der Truppenrückzüge.
Ich will das hier einmal sagen: Nach meinen Informationen leisten unsere Soldaten dort einen sehr schwierigen, risikoreichen und strapaziösen Dienst. Sie sind bei
dieser Aufgabe, als Unbewaffnete dort zu vermitteln, auf
sich allein gestellt. Ich denke, ich spreche auch in Ihrem
Namen, wenn ich diesen Soldaten hier unseren Dank
ausspreche.
({2})
Wir werden der Verlängerung dieses Mandats daher natürlich zustimmen.
Zu Darfur. Die Gewalt in Darfur hat inzwischen negative Rückwirkungen auf den Nord-Süd-Friedensprozess und ist fast zur Hauptgefahr geworden, weil es immer noch nicht gelungen ist, das Morden in Darfur zu
stoppen. Seit Abschluss des Nord-Süd-Friedensvertrages
hat sich die Lage sogar noch verschlechtert.
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, vor dem
Hintergrund dieser Situation hier einen interfraktionellen
Antrag zustande zu bringen. Das ist vielleicht nur ein
kleiner Beitrag, aber ich hoffe, dass das ein starkes Signal an die sudanesische Regierung in Khartoum ist,
nämlich dass wir ein Ende der Gewalt fordern und dass
wir fordern, dass endlich eine robuste UNO-Truppe ins
Land gebracht wird, die die Menschen dort schützt.
({3})
Der interfraktionelle Antrag ist natürlich auch eine
Aufforderung an die Bundesregierung und eine Ermutigung: Setzen Sie sich mit den darin genannten Mitteln
für ein Ende der Gewalt in Darfur ein! Sorgen Sie dafür,
dass die sudanesische Regierung einen hohen Preis
zahlt, wenn sie ihr Katz-und-Maus-Spiel mit der internationalen Gemeinschaft fortsetzt und die Umsetzung der
Kerstin Müller ({4})
20 000-köpfigen gemeinsamen Friedensmission der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union weiter
verhindert!
Natürlich hätten auch wir uns an der einen oder anderen Stelle etwas schärfere Formulierungen gewünscht.
Ich will nur noch einmal zu bedenken geben - ich
glaube, das ist uns allen klar -, was die Zusagen des Sudans in der Vergangenheit wert waren.
Ich hoffe, die Zusage der zweiten Phase bei AMIS
- 3 000 Soldaten und sechs Kampfhubschrauber - wird
umgesetzt. Das ist zweifelsfrei ein wichtiger Schritt. Wir
wissen - das muss uns allen klar sein -: Zusagen des Sudans waren in der Vergangenheit leider auf die Dauer
nicht viel wert. Deshalb können wir uns nicht erleichtert
zurücklehnen. Der internationale Druck muss aufrechterhalten werden. Weiterhin muss uns klar sein, dass der
Sudan der dritten und entscheidenden Aufstockungsphase für AMIS mit 10 000 zusätzlichen Soldaten nicht
zugestimmt hat. Ebenso wenig hat er einer UNO-Kommandostruktur oder der Beteiligung nicht afrikanischer
Soldaten zugestimmt. Auch das wird nur geschehen,
wenn der internationale Druck aufrechterhalten wird.
Diese Instrumentarien sind im Antrag benannt. Wenn der
Sudan seine Zusagen nicht einhält, dann müssen klare
Fristen gesetzt und gezielte Sanktionen gegen die Verantwortlichen des Regimes verhängt werden, damit endlich Soldaten ins Land kommen und die Menschen vor
der Gewalt geschützt werden können, zumindest diejenigen, die in den Flüchtlingslagern sind.
({5})
Wir hätten uns gewünscht, dass diese Sanktionen
nicht nur für die zweite Aufstockungsphase, sondern
auch für die Gesamtmission gelten. Wir sind uns hier
aber einig, dass wir letztlich die Gesamtmission brauchen. Wir dürfen der sudanesischen Regierung kein
Schlupfloch für ihr zukünftiges Katz-und-Maus-Spiel
lassen.
Auch ich möchte noch einmal dieses schamlose Beispiel nennen. Auf der einen Seite wird gerade verhandelt,
und es gibt eine Zusage. Auf der anderen Seite ist man
dort so dreist, Flugzeuge, die Waffen nach Darfur transportieren, umzulackieren, mit dem UN-Logo zu versehen
und als UNO-Flugzeuge zu tarnen. So viel Dreistigkeit
angesichts des Bemühens der internationalen Gemeinschaft, entsprechende Vereinbarungen zu treffen, ist
wirklich nicht zu überbieten. Ich teile die Auffassung des
Kollegen Fischer: Dem Bestreben, über Darfur eine
Flugverbotszone zu verhängen, wurde mit diesem völkerrechtswidrigen Verhalten ein zusätzlicher Grund gegeben.
({6})
Auch uns ist natürlich klar: UNO-Truppen sind das
eine. Es braucht natürlich einen Friedensvertrag. Nur
Friedensgespräche werden zu einem dauerhaften Frieden
führen. Wir brauchen aber beides gleichzeitig: neue Friedensverhandlungen mit allen Konfliktparteien, die die
Europäische Union unterstützen kann, was sie mit dem
Sonderbeauftragten tut, und eine entsprechend Truppe,
die die Menschen schützt. Ich bin sehr froh darüber, dass
wir heute mit dem interfraktionellen Antrag ein klares
Signal nach Khartoum setzen und dass wir uns in einer
wichtigen Menschenrechtsfrage einig sind und gemeinsam handeln. Ich hoffe, dass dieses Signal in Khartoum
vielleicht doch noch gehört wird.
Vielen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung erhält nun der Staatsminister
Gernot Erler das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat am 28. März beschlossen, das
UNMIS-Mandat bis zum 15. November dieses Jahres
zu verlängern, um die Umsetzung des Nord-Süd-Friedensabkommens im Sudan weiter unterstützen zu können. Das Mandat bleibt unverändert. Wir erwarten den
Sicherheitsratsbeschluss für eine Verlängerung um sechs
Monate bis zum nächsten Montag. Unser Antrag sieht
dieses Mal eine Dauer von sieben Monaten vor, damit
wir bei der zu erwartenden nächsten Verlängerung durch
die Vereinten Nationen nach der UNO-Entscheidung im
Deutschen Bundestag unseren konstitutiven Beschluss
treffen können. Die Obergrenze liegt weiter bei 75 einzusetzenden Kräften. Im Augenblick - das ist erwähnt
worden - sind es 38 Soldaten und fünf Polizisten, die
dort ihren Dienst tun. Die Aufgabe lautet Beobachtung
und Kontrolle, um die weitere Umsetzung dieses wichtigen Friedensabkommens sicherzustellen.
Was ist der bisherige Stand des CPA? Es gibt Fortschritte beim Rückzug der Konfliktparteien. Das hat
UNMIS ermöglicht, sich aus dem Osten der Region
- aus Kassala - zurückzuziehen. Es vollzieht sich ein
Prozess der Rückkehr der Flüchtlinge; aber er ist noch
zögerlich. Es gibt einen wichtigen Fortschritt bei der Beendigung des Terrors, der von der LRA, der Lord’s Resistance Army, also von ugandischen Rebellen, ausgeht.
Es hat gerade gestern wieder Gespräche gegeben; die
Südregierung vermittelt erfolgreich.
Aber nach wie vor ist die internationale Unterstützung zur Umsetzung des Friedensabkommens notwendig. Es ist noch nicht gelungen - wir streben das an -, integrierte Verbände aus den früheren kämpfenden
Gruppen zu bilden. Es gibt immer wieder - Kerstin
Müller hat gerade wieder darauf hingewiesen - aufflammende Kämpfe, zum Beispiel im November letzten Jahres in Malakal.
Natürlich steht dies in einem Gesamtkontext zu der
Situation im Sudan. Ich kann nur sagen: Die Situation ist
nach wie vor beunruhigend, ja in Darfur sogar bestürzend.
({0})
Die nüchternen Zahlen lassen das Ausmaß des Elends allenfalls ahnen. Sie lauten: bis zu 300 000 Tote, mehr als
2 Millionen Flüchtlinge, allein im letzten Jahr 250 000
zusätzliche Flüchtlinge. 4 Millionen Menschen sind von
Hilfe von außen abhängig. 1 Million Menschen werden
von der Hilfe von außen gar nicht mehr erreicht. Jede
Woche gibt es Angriffe auf und Beraubungen von Helfern. Die Übergriffe der Aktivitäten auf den Tschad und
die Zentralafrikanische Republik haben längst zu einer
Regionalisierung der Instabilität geführt. Bisher ist es
leider nicht gelungen, auch hier eine UN-Mission wirksam einzusetzen.
Es ist zu begrüßen, dass nach langem Ringen mit der
sudanesischen Regierung nun eine Zustimmung zur zweiten Phase, zur Erweiterung der AMIS-Mission, also der
Mission der Afrikanischen Union, stattfinden kann. Aber
es wird noch schwierig sein, die 3 000 Soldaten, die
AMIS verstärken sollen, zu rekrutieren und die entsprechende Logistik und Finanzierung sicherzustellen. Vor
dem Spätsommer wird das nicht der Fall sein. Deswegen
gibt es keine andere Alternative, als die AMIS-Mission
- sie reicht leider nicht aus, um die Bevölkerung wirklich
zu schützen - fortzuführen. Es gehört zu den Erfolgen der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft, dass wir es - auch
durch das gute Beispiel Deutschlands, das 20 bis
25 Millionen Euro zur Verfügung stellen wird - geschafft
haben, die Finanzierung sicherzustellen.
Parallel dazu finden intensive Bemühungen statt, die
Rebellengruppen untereinander in einen Verständigungsprozess zu führen und sie möglichst dazu zu bringen,
dass sie das DPA, also das Darfur Peace Agreement, akzeptieren und sich damit gemeinsam auf eine Friedenskonzeption verständigen.
Insgesamt haben wir hier eine komplexe Aufgabe vor
uns. Sie umfasst mindestens sechs Felder bzw. Herausforderungen:
Einmal geht es darum, weiter Gespräche mit der sudanesischen Regierung zu führen, damit sie der dritten
Phase der hybriden, gemeinsamen Mission aus afrikanischen und UN-Kräften mit über 20 000 Soldaten zustimmt.
Zweitens ist nach wie vor Druck auszuüben. Das passiert in den Reihen der Vereinten Nationen mit der Debatte über Sanktionen. Ich darf Ihnen, Frau Schuster,
Frau Müller und Herrn Fischer, deutlich sagen: Natürlich
ist das ein unglaublicher Missbrauch der hochangesehenen UN-Symbole. Das kann so nicht bleiben.
({1})
Aber wir haben zu respektieren, dass sich die Vereinten
Nationen entschlossen haben, das erst einmal genau zu
untersuchen.
({2})
Dann wird es eine angemessene Reaktion geben, an der
natürlich auch wir uns beteiligen werden.
Drittens liegt die Arbeit mit den Rebellen vor uns, um
sie gemeinsam auf ein Friedenskonzept zu verpflichten.
Es gibt viertens die Aufgabe, AMIS weiter zu befähigen,
und fünftens die Aufgabe, das UN-Paket auch tatsächlich einsatzfähig zu machen. Man darf nicht unterschätzen, was das bedeutet. Das sechste Arbeitsfeld umfasst
die Fortsetzung der humanitären Hilfe zum konkreten
Schutz der in Not befindlichen, wehrlosen Bevölkerung.
Ich finde, diese Debatte sollte auch Anlass sein, unseren hohen Respekt vor und unseren Dank für den Mut
der zivilen Helfer, die in dieses Land gehen, zum Ausdruck zu bringen.
({3})
All das ist komplex und langwierig, und der Erfolg ist
keineswegs sicher. Aber gerade deswegen brauchen wir
UNMIS weiter. Deshalb bittet die Bundesregierung Sie,
der Verlängerung dieses Mandates zuzustimmen. Denn
alle diese Aufgaben lassen sich nur dann lösen, wenn es
wenigstens beim Nord-Süd-Konflikt gelingt, den Friedensweg weiterzugehen. Dazu ist die internationale
Hilfe mit UNMIS weiterhin notwendig. Wir bitten Sie
um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Knoche, eigentlich wollte ich
nicht näher auf das eingehen, was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle nur einen guten Rat geben, nämlich dem Beispiel Ihres Fraktionskollegen Paul Schäfer zu folgen und selber in den
Sudan zu fahren.
({0})
Dann sollten Sie noch einmal Ihre Rede lesen und sie dahin befördern, wo sie hingehört.
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass heute fast alle Fraktionen
unseren Bundeswehrsoldaten einen herzlichen Dank
für die Leistung aussprechen, die sie vor Ort in einer unbewaffneten Militärmission erbringen. Ich bin auch sehr
froh, dass diese Leistung zur Kenntnis genommen wird.
Leider lag in der Vergangenheit die nötige Wertschätzung an der einen oder anderen Stelle - sei es in Form
von finanzieller Unterstützung, sei es bei der Postversorgung oder Ähnlichem - im Argen. Insofern kann es
heute einen Schub bewirken, dass wir mit großem Interesse verfolgen, was unsere Soldaten vor Ort leisten.
Ich selber würde mich auch freuen, wenn wir viel
mehr Informationen und Berichte - auch schriftlich über die Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten vor
Ort bekommen können. Denn auch nach Auffassung der
FDP-Bundestagsfraktion handelt es sich bei diesem
Mandat um einen sinnvollen und wichtigen Beitrag zur
Implementierung des Friedensvertrages von Nairobi.
Wie fragil die Stabilität im Südsudan ist, konnte man
bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in Malakal
im November letzten Jahres beobachten. Leider kommt
die Umsetzung des Friedensvertrages viel langsamer
voran als notwendig. Weder die Rückverlegung der
Truppen noch die konsequente Entwaffnung der ehemaligen Konfliktparteien ist bisher erreicht worden, obwohl
diese Punkte essenzielle Bestandteile des Vertrages sind.
Den zu entwaffnenden Gefolgsleuten der ehemaligen
Konfliktparteien muss aber auch gleichzeitig eine Perspektive aufgezeigt werden, wie sie in Zukunft für ihren
eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Dabei ist die
verantwortliche Institution DDR heillos überfordert. Insofern wäre ich froh, wenn wir auch diesen Prozess seitens der internationalen Staatengemeinschaft viel stärker
unterstützen würden.
({2})
Dazu muss neben den zivilen Perspektiven auch die
Einbindung in die aufzustellenden integrierten Verbände zählen. Diese sollten aus den ehemaligen Soldaten der sich bekämpfenden Konfliktparteien gebildet
werden. Auch dieses Vorhaben kommt seit Monaten
nicht voran. Diese integrierten Verbände müssen aber in
Zukunft das Rückgrat einer sich selbst tragenden Stabilität im Sudan werden. Hier muss UNMIS deutlich größere Anstrengungen unternehmen.
Außerdem müssen die Grundlagen für das im Jahr
2011 anstehende Referendum über Teilung oder Einheit
des Sudans geschaffen werden. Diese werden nach unserer Auffassung nur auf der Grundlage einer belastbaren
Volkszählung Akzeptanz finden. Ohne diese droht das
Aufbrechen neuer Rivalitäten.
Im Hinblick auf diese politischen Herausforderungen
steht die Bundesregierung in der Pflicht, innerhalb der
Vereinten Nationen, aber auch im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft und des G-8-Vorsitzes diese dringend
notwendigen Prozesse zu beschleunigen. Deutschland
muss im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft darauf
hinwirken, dass die Rolle der Afrikanischen Union in
der Krisenprävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung gestärkt wird. Wir müssen eine angemessene Gesprächsgrundlage auch mit der sudanesischen
Regierung finden, damit wir unter Beweis stellen können, dass uns die Entwicklung im Sudan am Herzen
liegt.
({3})
Die nächsten Jahre werden von erheblicher Bedeutung dafür sein, ob es gelingen wird, in Zentralafrika
eine Stabilisierung herbeizuführen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich kann Sie nur ermuntern, sich
vor Ort selber ein Bild von der Situation zu machen. Vieles, was uns hier als sehr einfach erscheint, ist nämlich
vor Ort unglaublich schwierig und langwierig. Ich
denke, hier können wir als Parlamentarier persönlich
eine wichtige Unterstützung leisten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Hans Raidel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer den Menschen im Sudan, in Darfur, wirklich helfen will, muss dem Antrag der Bundesregierung
heute zustimmen. Der deutsche Beitrag war bisher notwendig. Er ist auch in der Zukunft weiterhin wichtig und
hilfreich. Auch ich danke der Bundeswehr sehr herzlich.
Ich freue mich als Verteidigungspolitiker, dass dieser
Einsatz hier so gelobt wird. Wenn Sie das bei den Haushaltsberatungen 2008 mit dem notwendigen Geld unterfüttern, hat die Sache Hand und Fuß. Ich bin gespannt.
Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, den Friedensprozess voranzutreiben, fraktionsübergreifend mit einem entsprechenden Antrag. Die Linken schließen sich weiter aus und erweisen sich damit
wieder einmal als Maulhelden; ich will das einmal so sagen.
({0})
Wer den Antrag ablehnt, untergräbt die Friedensbemühungen im Allgemeinen und damit auch die Autorität
der UNO, der AU, der EU und vielleicht auch der G 8.
Er schränkt vor allem deren Handlungsfähigkeit ein. Wir
wären durch eine Ablehnung in keiner besonders guten
Position, da man die Hilfswilligkeit Deutschlands kritisch betrachten und unter Umständen infrage stellen
würde. Weil wir derzeit den Vorsitz des EU-Rates und
auch der G 8 haben, beobachtet man genau, wie wir uns
in diesen Fragen verhalten.
Hier wurden positive Signale gesetzt. Ich will das gar
nicht kleinreden. Aber die internationalen Beobachter,
die internationale Presse sehen das etwas kritischer. Wer
den Antrag heute ablehnt, muss wissen, dass dem Genozid in Darfur dadurch weiter Vorschub geleistet wird.
Wer wegschaut, wenn Kinder, Frauen und Männer weiter wahllos getötet werden und Vergewaltigungen an der
Tagesordnung sind, erweist der Sache keinen guten
Dienst. Dörfer werden nach wie vor dem Erdboden
gleichgemacht, Viehherden werden gestohlen oder getötet, Ernten werden vernichtet und ganze Bevölkerungsgruppen werden vertrieben. Das ist die Realität.
Wer ablehnt, muss wissen, dass der Konflikt sich auch
auf die Nachbarregionen, zum Beispiel den Tschad, auszuweiten beginnt und dass damit eine Destabilisierung
der ganzen Region stattfindet. Dieser Brandherd droht
sich möglicherweise in ganz Afrika auszubreiten. Auch
das muss man zur Kenntnis nehmen.
Um was geht es eigentlich? Neben religiösen und ethnischen Fragen geht es - wie immer - um viel Geld, da
Öl, Kupfer, Uran und andere Bodenschätze reichlich
vorhanden sind. Es geht dabei natürlich auch um einen
gerechten Finanzausgleich zwischen Nord und Süd. Wir
wissen, dass es sich nicht um einen reinen Rebellenkrieg
handelt, sondern dass die Regierung an vielen Gräueltaten selbst beteiligt ist und dafür verantwortlich gemacht werden muss.
Wir wissen auch, dass diese Regierung alle Friedensbemühungen mehr hintertreibt, als dass sie sie fördert,
und dass nach wie vor eine mangelnde Kooperationsbereitschaft besteht. Im Prinzip sabotiert sie alle Friedenspläne und hält sich nicht an bereits geschlossene Abmachungen. Selbst wenn in Bereichen Fortschritte erzielt
worden sind, ist das Friedensabkommen weiter wackelig
und in vielen Punkten in seiner Wirksamkeit fraglich.
Die Überwachung des Friedensabkommens gestaltet sich also sehr schwierig. Das gilt auch für die Auflösung und Rückführung der Truppen. Unsere Bundeswehr leistet im ihr zugedachten Rahmen nach wie vor
einen wichtigen Beitrag bei Logistik und Beratung.
({1})
Wir wissen aber, dass ausländische Soldaten, zum Beispiel in Darfur, die Lage nicht beherrschen und die Sicherheit nicht garantieren können. Dafür ist Darfur viel
zu groß. Die Kongomission lässt grüßen. Der Frieden
muss also von innen kommen. Zunächst muss es für
Darfur eine politische Lösung geben.
({2})
Erst dann kann Militär helfen und zur Stabilisierung beitragen.
({3})
Natürlich sind wir dafür, dass politischer Druck ausgeübt wird und dass es zu Sanktionen über die UNO, die
EU, die G 8, die USA und auch andere kommen sollte
und müsste. Aber Somalia lässt grüßen. Wir dürfen, können und wollen uns ein zweites Somalia auf keinen Fall
leisten. Daraus müssen wir für unsere weiteren diplomatischen und sonstigen Bemühungen lernen.
Lassen Sie mich auch China und Russland ansprechen. Der Widerstand gegen verschärfte Maßnahmen
beispielsweise der UNO muss von diesen Ländern eingestellt werden. Sie müssen ihre wirtschaftlichen Interessen hintanstellen. Es darf nicht passieren, dass China
und Russland die Ausbeutung der Rohstoffe betreiben
und der Rest der Welt - insbesondere die UNO, die EU
und damit auch wir - für die humanitären Fragen von
der medizinischen Versorgung bis hin zur Welthungerhilfe zuständig ist. Auch darüber muss man in diesem
Zusammenhang reden.
Unser gemeinsames Anliegen muss es sein, Hilfe zur
Selbsthilfe für den Sudan, insbesondere für Darfur, zu
organisieren, aber langfristig auch für ganz Afrika anzubieten. Das heißt, die bisherigen Instrumentarien und
Hilfen sind zu überdenken, neu zu formulieren und effizienter zu gestalten. Good Governance wäre ein gutes
Stichwort dafür.
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass die Frau
Bundeskanzlerin in Heiligendamm das Thema Darfur
und das Thema Sudan auf die Tagesordnung nehmen
wird und hier neue Perspektiven aufzeigen will,
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- dass eine neue Afrikapolitik insgesamt auf den Weg
gebracht werden soll, mit der vielleicht neue Perspektiven für diesen Kontinent eröffnet werden können. Wir
unterstützen jede Initiative, die hier weiterhilft.
Wir bitten herzlich, dem Antrag der Bundesregierung
zuzustimmen. Die CDU/CSU stimmt diesem Antrag und
dem Entschließungsantrag selbstverständlich zu.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben viel Zeit gehabt, um uns mit der Situation im Sudan, im Südsudan
und in Darfur zu beschäftigen. Dazu ist auch schon viel
gesagt worden. Natürlich ist auch deutlich gemacht worden, dass die Diskussion für die Menschen draußen deswegen so verwirrend ist, weil es um zwei vollkommen
unterschiedliche Regionen geht, nämlich Südsudan und
Darfur.
Darfur steht für Krieg, Mord, Gewalt, Not, Hunger
und für Menschen, die seit Jahren aus ihrer Region vor
allem in die Nachbarländer flüchten. Die Nachbarländer
haben - Herr Raidel hat es schon angesprochen - damit
ihre eigenen Probleme. Lange Zeit galt dies auch für den
Südsudan.
Als wir uns mit unserer Entscheidung vom April 2005
entschlossen haben, uns an der friedenssichernden Mission UNMIS zu beteiligen, haben wir natürlich auch eine
Reihe von Aufgaben übernommen. Ich will deutlich herausstellen, was wir im Bereich der Folgearbeiten - darunter fallen der Wiederaufbau und existenzsichernde
Maßnahmen für die Bevölkerung - leisten.
Für uns ist es selbstverständlich, dass wir uns nicht
nur an den Einsätzen zur Absicherung des FriedensabGabriele Groneberg
kommens beteiligen. Für uns ist ebenfalls ganz wichtig,
die Bedingungen für die Menschen vor Ort zu verbessern, damit eine friedliche Entwicklung möglich sein
kann.
({0})
Ich muss ganz offen sagen: Es macht mich jedes Mal
geradezu fassungslos, wenn ich die Vertreter der Fraktion Die Linke zu diesem Thema sprechen höre. Wie
kann man einen zivilen Friedensdienst fordern, wenn
noch nicht einmal die Sicherheit vor Ort für diejenigen,
die diese Hilfe leisten wollen, gewährleistet ist?
({1})
Es ist doch verantwortungslos, Menschen dort hinzuschicken und zu sagen: „Dann macht mal!“, wenn die
notwendigen Bedingungen für die Arbeit vor Ort von
uns nicht gewährleistet werden. Ich finde das unverantwortlich; es tut mir leid. Ich bin mir sicher, die anderen
Kollegen sehen das ebenso.
({2})
Humanitäre Hilfe und Nothilfe werden von uns und
den anderen internationalen Gebern seit Jahren geleistet,
und das wohlgemerkt nicht nur für den Südsudan, sondern vor allen Dingen auch für die Region Darfur. Diese
Hilfe ist aber eben keine dauerhafte Aufbauhilfe; durch
sie wird zum Beispiel keine Infrastruktur geschaffen.
Einen kleinen Augenblick, bitte, Frau Kollegin
Groneberg.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die sich in den
letzten Minuten entschlossen haben, das Finale dieser
Debatte vor der Abstimmung noch mitzuerleben, bitten,
ihre Plätze aufzusuchen und dem Rest dieser Debatte
konzentriert zu folgen, bis wir zu den Abstimmungen
kommen.
Vielleicht warten Sie noch einen Augenblick, bis wir
das realisiert haben. - Bitte sehr, Frau Kollegin
Groneberg.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich setze meine Ausführungen fort. Wir haben die jahrelang praktizierte
Entwicklungszusammenarbeit, die wir aufgrund des
Bürgerkriegs eingestellt hatten, im Jahr 2005 wieder aufgenommen. Seitdem unterstützen wir mit 10 Millionen
Euro den Multi-Donor Trust Fund für den Südsudan.
Dieser Fonds, der von vielen Gebern gespeist wird, sorgt
für den Aufbau der dringend notwendigen Infrastruktur
in den Bereichen Agrar, Wasserversorgung, Bildung und
Gesundheit. Hiermit wird ein Leben und Arbeiten in einer total zerstörten Region erst überhaupt wieder möglich.
({0})
Zwei deutsche Experten kümmern sich vor Ort explizit
um die Koordination der Maßnahmen der Geber im Bereich Wasserversorgung.
Darüber hinaus kümmern wir uns auf Basis einer bilateralen Vereinbarung ebenfalls mit deutschen Experten
vor Ort um den Aufbau eines Staatswesens. Dieses Projekt unterstützen wir mit einer Summe von 3 Millionen
Euro. Natürlich ist es neben dem Aufbau der lebensnotwendigen Infrastruktur ganz wichtig, der Regierung im
Südsudan dabei zu helfen, rechtsstaatliche demokratische Strukturen und eine entsprechende Verwaltung aufzubauen. Nur dadurch kann dafür gesorgt werden, dass
die Menschen auf Dauer unabhängig von ausländischer
Hilfe werden und sich selber helfen können. Bis dies
möglich ist, wollen wir natürlich unseren Beitrag leisten.
({1})
Alle Kolleginnen und Kollegen, die bereits vor Ort
gewesen sind - man muss natürlich einmal vor Ort gewesen sein, um beurteilen zu können, was da vor sich
geht -, sind davon überzeugt, dass der unbedingte Wille
der Menschen zum Aufbau vorhanden ist. Wir haben
Menschen erlebt, die mit aller Kraft daran arbeiten, ihrem Land eine rechtsstaatliche und demokratische Verfassung zu geben und ihrer Bevölkerung damit auch eine
Perspektive zum Leben, vor allen Dingen natürlich erst
einmal zum Überleben zu geben. Wir wollen unseren
Anteil dazu leisten. Ich sage das hier noch einmal ganz
deutlich.
Die positiven Entwicklungen machen Mut, Hilfe auch
in der Zukunft zu leisten. Das ist die positive und mutmachende Seite. Die andere Seite, das Elend in Darfur,
vergessen wir darüber natürlich nicht. Ich bin froh, dass
wir uns auf einen gemeinsamen Antrag verständigen
konnten. Hierzu wurde ja schon sehr viel gesagt, ebenso
zum konkreten Handlungsbedarf. Damit wird deutlich,
was wir noch zu leisten haben.
Ich bin Herrn Erler dankbar, dass er insbesondere auf
einen Punkt eingegangen ist: Im Zusammenhang mit den
schlimmen Dingen, die da passieren, findet häufig eine
Legendenbildung statt. Sie haben die Geschichte mit den
vermutlich als UN-Flugzeuge getarnten Waffentransporten erwähnt. Ich sage bewusst: vermutlich. Es gibt
nämlich Anzeichen dafür, dass es sich hierbei nicht um
Flugzeuge der Regierung des Nordens gehandelt hat,
sondern hier andere Umstände eine Rolle spielten. Ich
möchte das an dieser Stelle nicht erläutern, weil es untersucht wird. Ich bin froh darüber, dass wir uns darum
kümmern. Man muss auch vorsichtig sein, wenn man
solche Legenden bildet, weil es nicht hilft, bei den Menschen Verständnis dafür zu wecken, dass wir uns um solche Sachen intensiv kümmern und auch mit einer Regierung zusammenarbeiten müssen, um den Menschen dort
zu helfen.
Wir alle sind der festen Überzeugung, dass eine positive Entwicklung im Süden nicht nur die Voraussetzung
für einen dauerhaften Frieden in der Region ist; sie ist sicherlich ebenso ausschlaggebend für eine Lösung des
Darfurkonflikts. Wir stimmen der Verlängerung der Beteiligung an der Friedensmission natürlich zu.
Wir wollen das noch einmal verbinden mit einem von
Herzen kommenden Dank an alle dort tätigen internationalen Soldaten und Helfer, aber natürlich ganz speziell
an diejenigen darunter, die aus Deutschland kommen
und sich unter wirklich schwierigen Bedingungen bemühen, zu helfen.
Herzlichen Dank.
({2})
Bevor ich der Kollegin Anke Eymer das Wort als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile, bitte ich vor allem
die Kollegen im hinteren Teil des Saales noch einmal darum, Platz zu nehmen. Wir beginnen mit der Abstimmung erst nach Schluss der Aussprache.
Bitte, Frau Eymer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Am Beginn dieses Jahrhunderts blicken wir in Afrika auf viele positive Aufbrüche. Es gibt
mehr Demokratie, mehr Sicherheit und vor allen Dingen
mehr wirtschaftliches Wachstum. Der Blick auf die Krisen im Sudan zeigt allerdings auch einen der bedrohlichsten Gegensätze zu diesen guten Aufbrüchen und zu
dem, was der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki als
afrikanische Renaissance bezeichnet hat. Der Sudan ist
der flächengrößte Staat des Kontinents, mehr als siebenmal so groß wie Deutschland. Die Entwicklungen in dieser Region haben natürlich Auswirkungen rundherum.
Die schlimmen Menschenrechtsverletzungen und
Verbrechen im Westen des Landes, in Darfur, die Ausschreitungen im Osten des Sudans und der sogenannte
Nord-Süd-Konflikt zeigen, wie groß die Gefahr ist, dass
der Sudan zerreißen könnte. Millionen Menschen sind
auf der Flucht oder haben in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben bereits verloren.
Von den Entwicklungen im Sudan sind die Nachbarstaaten wie die Zentralafrikanische Republik oder der
Tschad längst betroffen. Auch hier ist mittlerweile die
Stabilität der staatlichen Strukturen gefährdet. Der
Druck durch große Flüchtlingszahlen oder durch bewaffnete Übergriffe aus dem Gebiet des Sudans stellt ein gefährliches Potenzial dar. Derart instabile Regionen, zerfallende Staaten oder ethnisch bzw. religiös geschürte
Krisen dienen dem internationalen Terrorismus, müssen frühzeitig erkannt und frühzeitig bekämpft werden.
({0})
Neben diesen sicherheitsstrategischen Überlegungen
ist es aber auch das Leid von Millionen von Flüchtlingen
und Gewaltopfern, das uns im humanitären Bereich
fordert. Es muss Hilfsorganisationen ermöglicht werden
- das klang heute Morgen in dieser Debatte schon mehrfach an -, ihre Arbeit geschützt zu tun. Wie schwierig
die Lage im Sudan ist, zeigt der Rückzug ganzer Hilfsorganisationen, die wegen mangelnder Sicherheit ihre
Arbeit nicht fortsetzen können. Daher hat die internationale Staatengemeinschaft mit der grundlegenden Resolution des Sicherheitsrats 1590 vom März 2005 den richtigen Weg beschritten.
Die weiteren Mandatsverlängerungen, die es seither
gegeben hat, zeigen nur die Konsequenz dieses notwendigen Engagements. Mit der United Nations Mission in
Sudan, der UNMIS, leistet die internationale Staatengemeinschaft einen wichtigen Beitrag dazu, das Friedensabkommen von Nairobi erfolgreich umzusetzen.
({1})
Ein über 20-jähriger Bürgerkrieg zwischen dem nach
Unabhängigkeit strebenden Südsudan und der Zentralregierung kann so beendet werden.
Auch wenn die Umsetzung hinter dem Zeitplan zurückbleibt, sind wesentliche Erfolge, insbesondere bei
der Rückverlegung der Truppen der Konfliktparteien, erzielt worden. In weiten Teilen des Südsudan können die
Menschen wieder in relativer Sicherheit leben und
Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Wie fragil der
Status quo ist, haben die aufflackernden Auseinandersetzungen im November vergangenen Jahres gezeigt. Die
Verlängerung von UNMIS ist daher eine notwendige
Konsequenz, um den Friedensprozess weiter zu unterstützen und abzusichern.
({2})
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nation wird das
UNMIS-Mandat daher in diesen Tagen ohne inhaltliche
Änderungen um weitere sieben Monate verlängern. Weder die Rahmenbedingungen noch Inhaltliches haben
sich wesentlich geändert. Vor diesem Hintergrund sehe
ich zur Verlängerung der deutschen Beteiligung an dem
Einsatz der Vereinten Nationen keine vertretbare Alternative.
Ein herzliches Dankeschön gilt noch einmal unseren
deutschen Soldaten. Sie leisten im Sudan einen wichtigen Beitrag zum politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau.
({3})
Wir wollen jetzt endlich abstimmen. Ich bitte noch
einmal um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, möchte
ich dem Kollegen Walter Kolbow zu seinem heutigen
Geburtstag herzlich gratulieren.
({0})
- Ich hoffe, dass die Breite der Zustimmung sich auch
im anschließenden Abstimmungsverhalten nieder-
schlägt. Jedenfalls würde das sicher einem seiner Ge-
burtstagswünsche entsprechen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 16/5142 zum Antrag
der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung deut-
scher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten
Nationen im Sudan“. Der Ausschuss empfiehlt, diesen
Antrag auf Drucksache 16/4861 anzunehmen. Es ist na-
mentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? -
Das scheint überall der Fall zu sein. Dann eröffne ich die
Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es noch jeman-
den, der hier ist und nicht abgestimmt hat? - Das scheint
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Wir geben das Ergeb-
nis der Abstimmung später bekannt.
Ich komme nun zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der
FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/5144. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Es wäre schon schön, wenn sich der eine oder andere un-
ter den Anwesenden an dieser Abstimmung beteiligte.
Ich frage noch einmal, wer für den Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
des Bündnisses 90/Die Grünen stimmt. - Jetzt bekommt
die Sache allmählich Volumen. Wer möchte dagegen
stimmen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das Erste
war die Mehrheit. Dann ist der Entschließungsantrag an-
genommen.
Ich bitte diejenigen, die an der weiteren Debatte nicht
teilnehmen können oder wollen, den Plenarsaal zügig zu
verlassen und insbesondere dringende Staatsgespräche
im Foyer fortzusetzen. - Auch die Beratung des nächs-
ten Tagesordnungspunktes findet im Sitzen statt, mit
Ausnahme der aufgerufenen Redner.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a, c und d sowie
den Zusatzpunkt 7 auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchens
- Drucksache 16/5049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ältestenrat
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksamen Schutz vor Passivrauchen im
Arbeitsschutzgesetz verankern
- Drucksache 16/4761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Passivrauchen im Deutschen Bundestag direkt umsetzen
- Drucksache 16/4957 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr ({3}), Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nichtraucherschutz praktikabel und mit
Augenmaß umsetzen
- Drucksache 16/5118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin Ulla Schmidt.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss gestehen, dass ich angesichts der Debatten der letzten Jahre manchmal nicht mehr geglaubt habe, dass ich
eines Tages hier stehen könnte, um einen Gesetzentwurf
zum Schutz der Nichtraucher und Nichtraucherinnen
einzubringen.
({0})
Deshalb bin ich sehr froh, dass dies heute der Fall ist.
Denn eines ist deutlich - man kann es nicht oft genug
betonen -: Tabak ist das Gesundheitsrisiko Nummer
eins. Dabei sind die Gefahren des Passivrauchens lange
Jahre unterschätzt worden. Erst in den letzten Jahren hat
hier ein Umdenkungsprozess eingesetzt. Vielleicht hat
auch das Vorgehen der anderen europäischen Länder mit
dazu beigetragen, dass die Diskussion über Nichtraucherschutz in Deutschland einen anderen Stellenwert erhalten hat.
Da immer noch davon gesprochen wird, dass mit einem Gesetz zum Schutz der Nichtraucherinnen und
Nichtraucher die Freiheit der Raucherinnen und Raucher
eingeschränkt wird, lassen Sie mich an dieser Stelle
noch einmal einige Fakten zum Passivrauchen nennen.
Die massive Gesundheitsgefährdung durch Passivrauchen ist eindeutig erwiesen. Die Zahlen des Deutschen Krebsforschungszentrums werden in keiner
wissenschaftlichen Diskussion in Zweifel gezogen. Bezogen auf die Todesfälle - nachgewiesenermaßen 3 300
pro Jahr - sind die Schätzungen eher konservativ, vor allem im Vergleich mit Ergebnissen und Studien der Vereinigten Staaten, des US-Departments of Health and
Human Services. Die kommen, bezogen auf die Bevölkerung der USA von 300 Millionen Menschen, auf circa
48 000 Todesfälle pro Jahr infolge Passivrauchens. Fakt
ist: Menschen sterben auch in Deutschland durch Passivrauchen, etwa 2 150 an koronaren Herzerkrankungen,
770 infolge eines Schlaganfalls, 260 an Lungenkrebs
und 60 infolge einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung. Das sind nur einige Beispiele von Menschen,
die sterben müssen, weil sie nicht genügend geschützt
werden. Ich könnte die Liste fortsetzen.
Was uns besonders erschrecken sollte, sind die Wirkungen auf Kinder. Im Jahr 2005 gab es nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes 298 Fälle von plötzlichem Kindstod. Etwa 60 Fälle davon gehen auf Passivrauchen im Haushalt sowie auf vorgeburtliche Schadstoffbelastungen zurück, weil die Mütter während der
Schwangerschaft rauchten. Auch der Anteil von Krankenhauseinweisungen bei Atemwegserkrankungen ist
bei Kindern, die in ihrer häuslichen Umgebung Tabakrauch ausgesetzt werden, 40 bis 60 Prozent höher als bei
Kindern, die in Haushalten aufwachsen, die nicht durch
Rauch belastet sind. Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir
handeln, zumal wir wissen, dass alle Wege, die wir in
den letzten Jahren beschritten haben und die auf Freiwilligkeit beruhten, nicht zum Erfolg und nicht wirklich
zum Schutz der Nichtraucherinnen und Nichtraucher
beigetragen haben.
({1})
Ich sage ganz deutlich: Im Mittelpunkt unseres Gesetzes steht der Schutz der Nichtraucherinnen und Nichtraucher. Wir wollen, dass das Rauchen grundsätzlich in
allen Einrichtungen des Bundes verboten ist, das heißt
in Behörden, Dienststellen, Gerichten, bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, zum Beispiel in Bussen,
Bahnen, Taxen oder Fahrgastschiffen, sowie in Personenbahnhöfen der öffentlichen Eisenbahn. Wir wollen
die Regelungen des Arbeitsschutzes verbessern und den
Jugendschutz verschärfen, indem das Alter für die Abgabe von Zigaretten von 16 auf 18 Jahre angehoben
wird. Ich bin wirklich sehr froh, dass der Bundestag entschieden hat, dass die Regelungen dieses Gesetzes auch
für ihn selbst gelten.
({2})
Eine Entscheidung, die den Bundestag auf Dauer ausgenommen hätte, hätte uns alle in der Öffentlichkeit unglaubwürdig gemacht. Deshalb halte ich das für einen
sehr wichtigen und positiven Schritt, den wir gegangen
sind.
({3})
Lassen Sie mich an dieser Stelle darauf hinweisen,
dass für uns der Nichtraucherschutz und die Fortsetzung
der Kampagne „Rauchfrei“ zwei Seiten einer Medaille
sind. Nichtraucherschutz ist das eine; das andere sind die
Prävention, damit junge Menschen erst gar nicht mit
dem Rauchen beginnen, und die Bemühungen, damit
diejenigen, die rauchen, den Weg finden, mit dem Rauchen aufzuhören. Das gehört ganz eng zusammen. Ich
bin sehr froh, dass aufgrund der Kampagne „Rauchfrei“,
die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, mittlerweile 60 000 Menschen komplett mit dem Rauchen aufgehört haben und dass sich binnen fünf Jahren die Quote
der rauchenden Jugendlichen um fast 30 Prozent - von
28 Prozent auf 20 Prozent - verringert hat.
({4})
Mit diesem Gesetzentwurf und den sich parallel in der
Diskussion befindenden Nichtraucherschutzgesetzen der
Länder ist Deutschland nicht länger Schlusslicht beim
Nichtraucherschutz in Europa, sondern arbeitet sich in
die Spitzengruppe vor. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nicht allen Bürgerinnen und Bürgern den
uneingeschränkten Schutz vor den Folgen des Passivrauchens bringen. Wir brauchen auch die Gesetze, die von
den Ländern auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen die eindeutigen Entscheidungen der Parlamente in
unseren Bundesländern.
({5})
Trotzdem werden Millionen Menschen profitieren: die
Beschäftigten des Bundes, die Bürgerinnen und Bürger
in den Bundesverwaltungen, die Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und auch diejenigen, die dieses
Hohe Haus besuchen.
Auch die Regelungen im Arbeitsschutz werden präzisiert, indem klargestellt wird, dass ein Rauchverbot für
einen gesamten Betrieb oder zumindest für Teile eines
Betriebes ausgesprochen werden kann. Das ist im Übrigen nicht nur ein sinnvolles, sondern auch ein kostengünstiges Instrument; die Arbeitgeber reden ja oft von
den Kostenbelastungen der verschiedenen Maßnahmen.
Die Arbeitsstättenverordnung regelt das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Deshalb waren
Regelungen zum Schutz Dritter, also der Gäste in Gaststätten, über die Arbeitsstättenverordnung nicht möglich.
Weitergehende Regelungen im Arbeitsschutz sind erst
dann denkbar, wenn die Länder ihre Gesetze zum Nichtraucherschutz erlassen haben. Ich sage deshalb noch einBundesministerin Ulla Schmidt
mal deutlich: Wir hoffen auf klare Regelungen in Bezug
auf Gaststätten; wir hoffen nicht auf Ausnahmeregelungen, die nachher die Regel werden. Erfahrungen und
Studien aus anderen Ländern wie zum Beispiel Irland
zeigen, dass sich der Gesundheitszustand der Beschäftigten in den Gastronomiebetrieben nach Einführung von
Rauchverboten in kurzer Zeit verbessert hat. Das, was
dort möglich ist, dürfen wir nicht versäumen, indem wir
keine klaren Regelungen für die Gaststätten haben.
({6})
Wir appellieren hier an die Länderparlamente. Sie
sind gefordert, gemeinsame Lösungen durchzusetzen.
Ich sehe in vielen Ländern Bemühungen, ich sehe aber
auch Zögerlichkeit und Unentschiedenheit. Angesichts
des Gesetzes, das wir heute auf den Weg bringen, und
der Debatten der letzten Monate und Wochen bin ich von
einem fest überzeugt: Die Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land werden es sich auf Dauer nicht gefallen
lassen, wenn es unterschiedliche Regelungen gibt.
({7})
Jeder, der in Land A lebt, wird den gleichen Gesundheitsschutz für sich in Anspruch nehmen wollen, wie ihn
die Menschen in Land B haben. Davon können wir ausgehen, und da sollte die Debatte hingehen.
({8})
Gemeinsam können Bund und Länder beweisen, dass
sie in der Lage sind, auf verschiedenen Ebenen für das
gleiche Ziel zu streiten. Wenn wir heute im Bundestag
ein eindeutiges Zeichen setzen, werden andere diesem
Zeichen folgen. Das hat uns die Debatte in den letzten
Wochen gezeigt. Ich glaube, wir sollten auf diesem Weg
gemeinsam und entschlossen weitergehen. Die Nichtraucherinnen und Nichtraucher werden es uns danken.
Danke schön.
({9})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelt
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der
Vereinten Nationen im Sudan“ bekannt: Abgegebene
Stimmen 552. Mit Ja haben gestimmt 497, mit Nein haben gestimmt 32. 23 Kolleginnen und Kollegen haben
sich der Stimme enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 552;
davon
ja: 497
nein: 32
enthalten: 23
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({1})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Anke Eymer ({2})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({10})
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({11})
Wolfgang Meckelburg
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({12})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({13})
Stefan Müller ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({16})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({18})
Andreas Schmidt ({19})
Ingo Schmitt ({20})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({21})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({22})
Gerald Weiß ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({24})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({25})
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({26})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({27})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({28})
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Iris Hoffmann ({29})
Frank Hofmann ({30})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung ({31})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel ({33})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({34})
Michael Müller ({35})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({36})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({37})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({38})
Silvia Schmidt ({39})
Renate Schmidt ({40})
Heinz Schmitt ({41})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({42})
Swen Schulz ({43})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({44})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({45})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({46})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({47})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Dr. Christel Happach-Kasan
Birgit Homburger
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({48})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Hans-Joachim Otto
({49})
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({53})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({55})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Krista Sager
Dr. Gerhard Schick
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({56})
Nein
DIE LINKE
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Elke Reinke
Volker Schneider
({57})
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich
fraktionslos
Henry Nitzsche
Enthalten
CDU/CSU
Norbert Schindler
SPD
Gregor Amann
Petra Hinz ({58})
FDP
Miriam Gruß
Jürgen Koppelin
Gisela Piltz
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Roland Claus
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Dr. Hakki Keskin
Dr. Gesine Lötzsch
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Paul Schäfer ({59})
Dr. Petra Sitte
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
fraktionslos
Gert Winkelmeier
Wir setzen die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 27 fort. Das Wort erhält der Kollege Detlef Parr,
FDP-Fraktion.
({60})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Auf zum
letzten Gefecht!“, so könnte man die heutige Debatte
zum Nichtraucherschutz überschreiben; denn vor Beginn
der Sommerpause 2006 setzte ein Kampagne ein, die zunächst nur das Sommerloch auszufüllen schien, sich
dann aber zu einer erbitterten Auseinandersetzung entwickelte - der Beitrag von Frau Ministerin Schmidt hat
das noch einmal bestätigt -: hochemotional, teils fanatisch, oft radikal.
({0})
Ich könnte Bände füllen mit E-Mails voller Beschimpfungen, bis hin zu Beleidigungen, nur weil die FDP andere Wege zum Nichtraucherschutz gehen will.
In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt:
Rechtfertigt das Thema wirklich diesen Stil der Diskus9718
sion, einen Stil, der bis hinein in den Alltag vieler Menschen wirkt, der polemisiert, diskriminiert und damit
eine Stimmungslage erzeugt, die unserer Gesellschaft
nicht guttut?
({1})
Alles andere als ein Sommermärchen war das.
Dabei ist völlig unbestritten: Rauchen ist gesundheitsschädlich. Das ist auf jeder Zigarettenpackung nachzulesen und prangt unübersehbar auf jeder Litfaßsäule, das
ungewollte Passivrauchen eingeschlossen. Diese Tatsachen sind den Menschen längst bekannt. Sie reagieren
auch darauf. Die aktuellen Zahlen der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung belegen eindrucksvoll in
den letzten Jahren einen kontinuierlichen Rückgang des
Rauchens auch und besonders bei Jugendlichen. Die
Raucherquote bei den 12- bis 17-Jährigen zum Beispiel
ist von 28 Prozent 2001 auf 20 Prozent 2005 gesunken.
Deshalb ist und bleibt es für die FDP zielführend, diesen
Weg der Eindämmung des Rauchens fortzusetzen und
mit dem Nichtraucherschutz eng zu verknüpfen.
({2})
Bedarf es dazu weiterer staatlicher Restriktionen und
Gängelungen des Einzelnen? Die laufende Diskussion
über Rauchverbote hat eher das Gegenteil bewirkt. Die
Deutschen rauchen unbeirrt weiter. Die Menge versteuerter Zigaretten stieg im ersten Quartal dieses Jahres sogar um fast 7 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal
2006. Bei Zigarren und Zigarillos ist ein Zuwachs von
46 Prozent zu verzeichnen. Eine ähnliche Entwicklung
ist im vermeintlichen Vorbildland Italien festzustellen.
Verbotspolitik zahlt sich also nicht aus.
({3})
Hier zitiere ich gerne Altbundespräsident Roman
Herzog:
Immer als Erstes an ein Verbot zu denken, ist typisch deutsch und typisch falsch.
({4})
Das gilt auch für die beabsichtigte Anhebung des
Abgabealters bei Tabakwaren von 16 auf 18 Jahre. Vor
dem Hintergrund der sinkenden Zahl jugendlicher Raucher mag ein solcher Eingriff das Gewissen mancher
Kollegen beruhigen. Erfolg versprechend ist es aber
nicht. Er ist vielmehr ein weiteres Beispiel für die Unberechenbarkeit des Handelns der Bundesregierung; denn
vor gerade erst vier Monaten sind die Zigarettenautomaten nach erheblichen Investitionen auf ein Chipsystem
umgestellt worden, das dem Jugendschutz dient und den
Zugang für Jugendliche erschwert. Zudem wird die Zahl
der Automaten drastisch reduziert. Statt die Auswirkungen zunächst einmal abzuwarten und zu bewerten, tut
die Bundesregierung nun übereilt den nächsten Schritt.
Das ist Aktionismus pur.
({5})
Angesichts einer solchen Unzuverlässigkeit der Regierung zeigen sich viele Gastronomen in unserem Land
verunsichert. Versetzen Sie sich doch einmal in die Lage
eines Ihrer Bekannten oder Freunde, der kürzlich ein
Bistro oder eine Gaststätte eröffnet hat! Die Debatte geht
nicht spurlos an ihm vorbei. Er denkt über Veränderungen nach. Eine Zielvereinbarung der Bundesregierung
mit seinem Berufsverband gibt ihm Zeit bis 2008, für
seine Gaststätte und seine Gäste eine einvernehmliche
Lösung zu finden. Nach einem Jahr kündigt die Regierung diese Vereinbarung einseitig auf und stoppt damit
einen gerade eingeleiteten Prozess neuer nichtraucherfreundlicher Regelungen. Würden Sie - selbst als gutwilliger Gastronom - jetzt noch an Investitionen in Umbauten oder Belüftungsanlagen denken, da ein radikales
Rauchverbot als Damoklesschwert über Ihnen schwebt?
({6})
Wohl eher nicht!
Aber weil es solche Möglichkeiten und die Bereitschaft, sie zu nutzen, gibt, Frau Bätzing, führt das
Gerede vom bundesweiten Flickenteppich beim Rauchverbot ins Leere. Auch hier will ich den Altbundespräsidenten Roman Herzog zitieren. Er hat recht, wenn er in
einem „Focus“-Interview „so was nur mit Lachen verfolgt“ und Spielräume lassen will. Auf die Frage, ob es
problematisch sei, wenn es von Land zu Land Unterschiede gebe, antwortet er:
({7})
Überhaupt nicht. Das gibt es doch in x anderen Bereichen auch. Wenn ich in fremde Wohnungen
gehe, muss ich doch auch die Hausfrau fragen, ob
ich rauchen darf. Alles andere ist doch bloß Prinzipienreiterei.
Genau das ist es.
({8})
Ich wünsche mir diese Gelassenheit des Exbundespräsidenten, die Sie nun wieder konterkarieren, in der Diskussion auch von Ihnen hier und in den Bundesländern.
Viele Rauchfreiexperten setzen sich - Frau Ministerin
Schmidt hat das gerade wieder getan - für ein totales
Rauchverbot in der Gastronomie ein, um die dort Beschäftigten zu schützen.
({9})
Dass auch in dieser Frage mehr Gelassenheit vonnöten
ist - hören Sie genau zu! -, zeigt ein Blick in den Report
der Cancer Research UK, European Cancer Leagues,
European Heart Network und anderen, überschrieben
„Lifting the Smokescreen“. Dort finden sich folgende
Fakten: 92 Prozent der geschätzten Todesfälle durch
Passivrauchen insgesamt gehen auf Belastungen zu
Hause zurück. In die Privatsphäre können wir mit Gesetzen ohnehin nicht hineinwirken.
({10})
- Stimmt, auch das Rauchen in Autos sollte ursprünglich
verboten werden.
Nun kommt die entscheidende Passage. Bei den
nichtrauchenden Servicekräften in der Gastronomie haben die Wissenschaftler, bezogen auf 25 Länder mit
400 Millionen Einwohnern, 325 Tote jährlich ermittelt,
für Deutschland 13. Ich überlasse Ihnen gerne das Hochrechnen der Gesundheitsrisiken.
Anstelle staatlicher Gängelung brauchen wir mehr
positive Anreize für Verhaltensänderungen. Ein aktuelles Beispiel: Die Helios-Kliniken, ein Gesundheitskonzern, belohnen Beschäftigte, die auf dem Klinikgelände
und während der Arbeitszeit nicht rauchen, mit einem
zusätzlichen Urlaubstag. Eine schriftliche Erklärung genügt; auf eine offizielle Kontrolle wird verzichtet und
auf Eigenkontrolle gesetzt.
Ganz anders wären die Folgen eines gesetzlichen
Rauchverbotes: Bußgelder sind zwingend, Kontrollen
erforderlich. In einigen Bundesländern wird sogar der
Einsatz einer Raucherpolizei erwogen. Ich sehe schon
die Herren in Trenchcoat, mit hochgeschlagenem Kragen und Schlapphut auf uns zukommen. Eine tolle Vorstellung.
„Der Freie beugt und bindet sich aus Einsicht“, so
Verfassungsrichter Udo Di Fabio vorgestern Abend bei
der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die FDP bleibt dabei:
Wir setzen weiterhin auf Aufklärung, präventive Maßnahmen und Selbstverantwortung, auf einen sich auf
lange Sicht selbst tragenden Prozess, bei dem der Einzelne sein Verhalten aus eigenem Antrieb ändert, statt es
gedankenlos durch staatliche Verbotspolitik verändern
zu lassen. Wir brauchen mehr Vorbilder als Vorschriften.
({11})
Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung mit ihrem
Gesetzentwurf einen gemäßigten Kurs ansteuert. Es ist
interessant, in den Gesetzentwurf hineinzuschauen. Sie
rennen bei uns in vielen Bereichen offene Türen ein. Ich
kenne keine S-Bahn, in der ich rauchen darf. Manche
Passage könnte sogar unseren Positionspapieren entnommen worden sein. Nach dem blamablen Scheitern
der ersten gesetzgeberischen Bemühungen der Bundesregierung - Sie erinnern sich, dass die Große Koalition
die Folgen der Föderalismusreform schlicht übersehen
hat - scheint sie sich nun am EU-Parlament zu orientieren.
Der Blick nach Brüssel ist interessant. Das EU-Parlament musste das totale Rauchverbot lockern, weil die
Akzeptanz im EU-Parlament fehlte. Bei uns im Bundestag soll das Rauchen in abgetrennten Räumen möglich
bleiben und dem effektiven technischen Nichtraucherschutz als Mittel innovativer Gesundheitsförderung
Raum gegeben werden. Solche Ausnahmeregelungen
werden von der FDP begrüßt. Sie helfen, den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Lassen Sie uns bei der Diskussion den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit wahren und Wege jenseits der Radikalität und Totalität gehen! Lassen Sie uns der Vernunft
Vorfahrt geben! Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen hierüber eindringlich miteinander diskutieren
können. Ich freue mich auf die weiteren Diskussionen
im Plenum und in den Ausschüssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nächster Redner ist der Bundesminister Horst
Seehofer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe schon nicht mehr gehofft, dass wir dieses Ziel noch erreichen würden; denn das Thema besserer Schutz der Nichtraucher beschäftigt uns in Deutschland seit sage und schreibe 15 Jahren. Herr Parr, es ist
schon eigenartig, dass Sie von Hektik, Hysterie und Unüberlegtheit reden, wenn nach 15 Jahren eine Entscheidung getroffen wird.
({0})
Ich bin 1992 Gesundheitsminister geworden. In diesem Jahr hat uns das Thema zum ersten Mal im Deutschen Bundestag beschäftigt. Ich denke, es ist höchste
Zeit, dass wir eine klare Entscheidung treffen.
Ich möchte heute noch einmal fünf Punkte festhalten.
Erstens. Es geht nicht um die Diskriminierung der Raucher, sondern um den Schutz der Nichtraucher.
({1})
Wir beurteilen und bewerten keine Lebensstile, aber es
ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Herr
Parr, die Nichtraucher dort, wo Menschen zusammentreffen, zu schützen, insbesondere die Kinder und die
Schwangeren in unserem Lande.
({2})
Zweitens. Es gibt keinen gefährlicheren Stoff für die
Gesundheit der Menschen als Tabakrauch, insbesondere in Innenräumen. Das ist unbestritten. Ich möchte einen Vergleich anstellen: In der Risikoklasse der gefährlichsten Stoffe ist Tabakrauch vergleichbar mit Asbest.
Asbest haben wir 1993 in Deutschland verboten. Viele
Tausend Menschen sind daran gestorben. Es gibt zwar
viele Institute und Einrichtungen in Deutschland, aber
das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg ist
das seriöseste. Die Studien stützen sich auf die Erkenntnisse dieses Forschungszentrums.
({3})
Ich halte fest: Tabakrauch ist der gesundheitsschädlichste Stoff in Innenräumen, er führt zu vielen Tausend
Todesfällen.
Herr Parr, Sie haben behauptet: Eine bessere Lüftung,
und dann ist das Problem gelöst. Ich bitte Sie, lesen Sie
noch einmal die Studie: 70 Stoffe im Tabakrauch sind
krebsauslösend, halten sich so lange, dass sie aus Innenräumen auch durch eine bessere Belüftung nicht entfernt
werden können. Eine bessere Belüftung löst das Problem
also nicht.
({4})
Wir diskutieren hier im Parlament im Bereich der Ernährung, im Bereich der Agrarwirtschaft oft über abstrakte Gefahren, so im letzten Jahr über den H5N1Virus, und betreiben Vorsorge. Über konkrete Gesundheitsschädigungen mit tödlichem Ausgang reden wir
hingegen zu wenig.
({5})
Deshalb ist es wichtig, dass wir ins Bewusstsein rufen:
Tabakrauch ist gesundheitsschädlich, in vielen Fällen
tödlich.
({6})
Drittens. Auch ich bin ein Anhänger von Freiwilligkeit in einem freien Staat. Aber wir müssen sehen, dass
wir seit einem Dutzend Jahren Freiwilligkeit propagieren im Hinblick auf Gastronomie, auf Krankenhäuser,
auf öffentliche Gebäude.
({7})
- Wir müssen feststellen, es gibt gute Beispiele, aber einen Durchbruch haben wir nicht geschafft. ({8})
In ganzen 2 Prozent der deutschen Krankenhäuser existiert ein wirkungsvoller Nichtraucherschutz. Dabei sind
Krankenhäuser Einrichtungen, von denen man eigentlich
annehmen möchte, dass das Bewusstsein dort so entwickelt ist, dass man sich in Gegenwart kranker Menschen mit dem Rauchen zurückhält. Doch nein, so etwas
erfolgt nicht.
({9})
Ich habe 1998 im Bundestag eine Rede gehalten und
für Freiwilligkeit geworben, aber schon damals gesagt:
Wenn die Freiwilligkeit in der Praxis nicht zu verändertem Verhalten führt, müssen wir an ein Gesetz denken.
Ich stelle fest - das muss man zugeben, auch wenn man
ein Anhänger von Freiwilligkeit ist und der Eigenverantwortung den Vorrang gibt -: Die Freiwilligkeit ist gescheitert.
({10})
Herr Parr, wir sollten Freiheit richtig definieren: Die
Schranke der Freiheit ist die Verantwortung. Die Freiheit
des Rauchers endet dort, wo der Schutz des Nichtrauchers beginnt. Das ist die Definition von Freiheit.
({11})
Viertens. Von Bürokratie kann keine Rede sein. Denken Sie etwa an die Fortschritte, die die Fluglinien erreicht haben! Da gibt es keine Raucherpolizei oder Ähnliches.
({12})
Das wird eine gesamtgesellschaftliche Übereinkunft
werden.
({13})
Mir haben viele Wirte und Gastronomen gesagt: Wenn
der Gesetzgeber das festlegt, ist es für sie leichter, einfacher in der Praxis, als wenn sie in ihrer Gastronomie in
jedem Einzelfall für Nichtraucherschutz kämpfen müssen. Das ist der Punkt.
({14})
Fünftens. Wir haben uns auf die öffentlichen Gebäude
konzentriert, auf die Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Ich bin froh, dass sich die Haltung der
Länder in der heißumstrittenen Frage der Gastronomie
anzugleichen beginnt, dass die Länder, die das auf der
Bund-Länder-Konferenz noch anders gesehen haben,
mittlerweile mit uns übereinstimmen, dass es nur dann
praktikabel ist, wenn man eine klare Regelung trifft,
nämlich ein Rauchverbot in Gaststätten,
({15})
rauchen nur in sauber abgeschlossenen Nebenräumen.
Das ist eine klare Regelung. Ich appelliere an die Bundesländer, in ihren Parlamenten möglichst einheitliche
Regeln zu verabschieden. Alles andere würden die Menschen nicht verstehen.
Ein Letztes: Ich betrachte das, worüber wir heute debattieren und was wir hoffentlich in absehbarer Zeit verabschieden, als einen Quantensprung für den Gesundheitsschutz in der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin
froh, dass ich nach einiger Diskussion jetzt die Zustimmung des Personalrats in meinem eigenen Ministerium
habe.
({16})
Liebe Kollegin Schmidt, auch das Verbraucherschutzministerium ist jetzt wie das Gesundheitsministerium
eine rauchfreie Behörde. Das ist eine gute Entwicklung.
({17})
An die Adresse der FDP möchte ich noch einmal sagen: Sie werden feststellen, dass sich die Menschen,
wenn dieses Gesetz mit klaren Regelungen verabschiedet worden ist und die Länderparlamente gehandelt haben, in wenigen Jahren die Debatte, die wir in Deutschland über dieses Thema 15 Jahre lang geführt haben,
nicht mehr erklären können. Dann wird das eine Selbstverständlichkeit sein.
({18})
Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Seehofer, auch wenn ich Ihnen in vielem,
was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, zustimmen kann, als
Quantensprung würde ich den Gesetzentwurf, der heute
vorgelegt wurde, nicht bezeichnen.
Der Akt der Gesetzgebung zum Schutz vor Tabakrauch und zur Herstellung europäischer bzw. internationaler Normalität auch in Deutschland hätte zu einer
Sternstunde des Parlaments werden können, wenn hier
und heute ein Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments vorgelegt worden wäre, der konsequent für einen
wirklich umfassenden Schutz in allen öffentlichen Räumen und auf allen Ebenen, vom Bund bis in die Kommunen, gesorgt hätte.
({0})
Stattdessen diskutieren wir über einen Gesetzentwurf
und drei Anträge sowie über einen Gruppenantrag, durch
den ein konsequenter Schutz gewährleistet würde, der
sich allerdings noch in der Tiefe des parlamentarischen
Raums befindet.
Das Rauchen hat in Deutschland, wie in vielen Ländern, eine lange Tradition. Hier wie überall wirkt Nikotin auf die Psyche. Insofern wird diese Debatte natürlich
hochemotional geführt, auch in meiner Fraktion. Trotz
allem sollten wir aber nicht vergessen: Es geht um die
Rechte der 73 Prozent der Bevölkerung, die Nichtraucherinnen bzw. Nichtraucher sind. Es geht vor allen Dingen um die Kinder und Jugendlichen. Es geht um die
Vermeidung von Leid durch Tod und schwere Erkrankungen. Es geht um die Minderung der horrenden Kosten, die für das Gesundheitssystem entstehen, und um
die Senkung anderer Folgekosten. Nicht zuletzt geht es
um den Willen von 70 Prozent der Wählerinnen und
Wähler. Auch das sollten wir immer bedenken.
Für den Schutz vor Schadstoffen - Herr Minister
Seehofer hat das ausgeführt - gilt in Deutschland Bundesrecht, beispielhaft konsequent umgesetzt im Hinblick auf Asbest. Warum sieht es beim Schutz vor dem
Schadstoff Rauch, der mindestens ein vergleichbares
Gefahrenpotenzial aufweist, anders aus, und das, obwohl
Millionen Menschen, insbesondere Frauen, am Arbeitsplatz mit diesem Schadstoff konfrontiert sind?
Der Arbeitsschutz und die Arbeitsstättenverordnung
sind Bundesrecht. Aber es soll juristisch nicht möglich
sein, dass der Bundestag den Weg für einen umfassenden
Nichtraucherschutz vom Bund bis in die Kommunen ebnet? Ich denke, es wäre eine Bankrotterklärung vor dem,
was wir beschlossen haben, wenn wir nicht nach einem
möglichen Weg suchen. Gesetze sind keine Naturereignisse, sondern sie werden von Menschen gemacht. Man
sollte sie, wenn das Erfordernis besteht, auch ändern
können.
({1})
Ich denke allerdings, dazu fehlt der tatsächliche
Wille. Ein beredtes Beispiel ist der Bundestag selbst.
Am 8. März dieses Jahres haben wir auf Antrag des
Bündnisses 90/Die Grünen eine Debatte über das geplante Rauchverbot im Bundestag geführt. Der Ältestenrat beeilte sich, noch an diesem Tag zu vermelden, dass
es im Bundestag genauso geregelt werde, wie es im Gesetz vorgesehen werde, und dass das parallel geschehe.
Aber bis heute ist noch keine Regelung getroffen worden. Die Frau Ministerin sagt zwar, das sei geklärt. Aber
ich frage: Wo? Mir ist keine schriftliche Regelung bekannt. Es sind lediglich Änderungsanträge zum vorliegenden Gesetzentwurf angekündigt. Also hat der Bundestag es nötig, die Pflichten, die dieses Gesetz mit sich
bringt, formal auf sich übertragen zu bekommen. Das
hätten wir beispielgebend in der Zeit von Anfang März
bis heute selbst auf den Weg bringen müssen.
({2})
Nun möchte ich noch auf eine ewige Debatte eingehen und klarstellen: Der Schutz vor dem Schadstoff Tabak ist nicht identisch mit dem Verbot des Rauchens. Zu
rauchen oder nicht zu rauchen, ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen, die auch ich respektiere, Herr Parr.
Mit dem Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen
sollen Nichtraucher und Raucher davor geschützt werden, den mit dem Rauchen einhergehenden Belastungen
nicht permanent und unausweichlich ungewollt ausgesetzt zu sein.
Natürlich erschöpft sich der Gesundheitsschutz in Sachen Tabakrauch nicht im Rauchverbot für öffentliche
Einrichtungen. Ich plädiere selbstverständlich für einen
Dreiklang: erstens alles zu tun, um Kinder und Jugendliche von dem Einstieg abzuhalten, zweitens Nichtraucherinnen und Nichtraucher vor dem Tabakrauch zu schützen
und drittens Raucherinnen und Raucher zu motivieren,
auszusteigen und ihnen beim Entzug zu helfen. Insofern
tragen Sie mit Ihrem Antrag - ich spreche die FDP an 9722
Eulen nach Athen. Ich denke, eigentlich geht es Ihnen darum, ein konsequentes Rauchverbot zu verhindern.
Sie haben Helios-Kliniken als Beispiel angeführt. Die
Helios-Kliniken praktizieren es. Für die Kliniken besteht
ein Rauchverbot, und sie motivieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aufzuhören; denn es ist erwiesen,
dass Verbote und Ächtungen an der einen Stelle und die
Prävention an der anderen Stelle das Nichtrauchen erleichtern und den Mainstream verändern helfen. Ich
denke, das ist ein Gesamtansatz.
({3})
Nun liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor: ein Rauchschutz mit eingeschränkter Reichweite
auf Bundesebene. Die Länder werden uns peu à peu die
Farben des Flickenteppichs präsentieren. Hier und heute
wird mit der Gesetzgebung für die Bundesrepublik begonnen. Damit wird für lange Zeit festgezurrt, wie der
Schutz vor Tabakrauch in Deutschland aussieht.
Der Gruppenantrag, mit dem wir mehr wollten, hat
sich unseres Erachtens damit erledigt. Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Linksfraktion, ziehen unsere Unterschriften zurück, damit die Initiatoren
- wie Herr Binding das beispielsweise auch gegenüber
meinem Kollegen Spieth erst neulich dokumentiert hat den Wählerinnen und Wählern nicht nach wie vor Sand
in die Augen streuen, wonach in nächster Zeit noch eine
umfassende Lösung möglich ist.
({4})
So schnell kommt die Gelegenheit, die es heute gibt,
nicht wieder.
({5})
Seit den 90er-Jahren - Herr Minister Seehofer hat es
angesprochen - quält sich der Deutsche Bundestag mit
dem Nichtraucherschutz. Jetzt werden zwar endlich Nägel mit Köpfen gemacht, aber leider in völlig unzureichender Weise. Es schmerzt mich, dass wir uns international so blamieren und Chancen für Besseres vergeben
haben.
Ich danke.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Bärbel Höhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach einer Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg sterben in Deutschland jedes Jahr
3 300 Menschen an den Folgen des Passivrauchens. Mitarbeiter in Gaststätten haben ein 30 bis 50 Prozent höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, als andere
Menschen in dieser Gesellschaft. Das müsste eigentlich
Anlass genug sein, ganz umfassend, ganz konsequent
und ganz schnell etwas gegen das Passivrauchen zu tun
und für den Nichtraucherschutz einzutreten. Mein Vorwurf ist, dass Sie das versäumt haben.
({0})
Passivrauchen ist in der Tat nicht nur eine bloße Belästigung, sondern auch eine schwerwiegende Gesundheitsgefahr. Es ist wirklich beschämend, dass Deutschland in diesem Punkt in der EU auf dem letzten Platz
steht. Frau Merkel hat immer gesagt, Deutschland solle
Nummer eins sein. Das Deutschland bei diesem Punkt
der letzte Platz gebührt, ist auch dieser Bundesregierung
zu verdanken, weil sie nur dann etwas unternommen hat,
wenn sie durch den Druck der Öffentlichkeit dazu getrieben wurde. Diesen letzten Platz hätte sie gut korrigieren
können, wenn sie mutig nach vorne gegangen wäre. Das
ist unser Vorwurf.
({1})
Liebe Frau Schmidt und lieber Herr Seehofer, der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, ist eine einzige Enttäuschung.
({2})
Er ist nämlich lückenhaft und von Mutlosigkeit geprägt;
denn genau die Bereiche, die wirklich ernsthaft angegangen werden müssen, die Gastronomie, die Diskotheken
und die Bars, bleiben vollkommen ausgeklammert. Das
zeigt auch den Geist, der momentan in der Koalition
herrscht: Eigentlich will man das Thema nicht angehen.
Sie haben hier also keinen konsequenten Nichtraucherschutz, sondern ein Nichtraucherschutz light vorgelegt. Dieser hat genau denselben Makel wie die Lightzigaretten: Den Menschen soll ein gutes Gefühl gegeben
werden, aber es ist tatsächlich hochgradig gesundheitsgefährdend. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf keine gute
Lösung.
({3})
Am schwersten wiegt, dass die Bundesregierung die
wirklich am stärksten durch Rauch belasteten Bereiche
nicht geregelt hat, sodass ein Flickenteppich droht. Nordrhein-Westfalen hat schon angekündigt, dass kleine
Kneipen vom Rauchverbot ausgenommen werden und
dass die Gastwirte selber entscheiden sollen, was sie machen.
({4})
Ich muss ehrlich sagen: Die Gastwirte werden zum
Sündenbock der Politik, die nicht bereit ist, zu entscheiden. Das ist das Problem, das wir zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen erleben. Die Gastwirte sind zu Recht
empört darüber, dass die Politik nicht bereit ist, hier konsequent vorzugehen. Liebe Frau Schmidt, Sie beklagen
den Flickenteppich, den Sie selbst verursacht haben,
denn im Rahmen der Arbeitsstättenverordnung hätten sie
selbst auf Bundesebene agieren und eine bundesweit einheitliche Regelung erreichen können.
({5})
Nicht nur Nordrhein-Westfalen plant Sonderwege.
Wer in Halle ein Bier trinkt, der muss mit Beeinträchtigungen seiner Gesundheit rechnen, die in der Nachbarstadt Leipzig verboten sind. Hier gibt es ganz dicht
nebeneinanderliegende Städte, die unterschiedliche Regelungen haben. In Berlin, Brandenburg und Thüringen
soll in Raucherräumen Selbstbedienung gelten. In den
übrigen Ländern werden die Beschäftigten weiter zum
Bedienen in den blauen Dunst geschickt. Das ist ein
Chaos, das die Bundesregierung zu verantworten hat. Es
fehlt der politische Wille, hier einen echten bundesweiten Nichtraucherschutz zu installieren.
Deshalb haben wir, die Grünen, von Anfang an eine
klare Position vertreten.
({6})
Wir haben klar und deutlich gesagt, welches die Instrumente sind. Wir haben gesagt: Von Düsseldorf bis
Dresden wollen wir denselben Schutz der Gesundheit
der Bevölkerung. Wer will eigentlich verantworten, dass
wir in Deutschland im Bereich der Gesundheit in Bars,
Gaststätten und Diskotheken einen unterschiedlichen
Schutz der Bevölkerung haben? Das ist keine Lösung,
die in irgendeiner Art und Weise akzeptiert werden kann.
Deshalb sage ich: Gehen Sie noch einmal in sich! Sie
haben heute die Anhörung beschlossen. Ändern Sie Ihren Gesetzentwurf, schaffen Sie eine klare Lösung, oder
stimmen Sie dem Antrag der Grünen zu! Wir haben gezeigt, wie es geht.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann es kaum glauben, aber die aktuelle Debatte
ist schon wieder ein Jahr alt. Seit über einem Jahr diskutieren wir über das Passivrauchen und über Maßnahmen
zum Schutz vor den wissenschaftlich nachgewiesenen
Gesundheitsgefahren. Ausgelöst wurde die Debatte durch
das Scheitern der Dehoga-Selbstverpflichtung, durch
Veröffentlichungen des Deutschen Krebsforschungszentrums sowie durch den daraufhin von SPD-Abgeordneten
initiierten Gruppenantrag zum Schutz vor Passivrauchen,
für den wir breite Unterstützung erfahren haben. Für
diese Unterstützung möchte ich den Kolleginnen und
Kollegen an dieser Stelle noch einmal danken.
({0})
Trotz dieser intensiven und monatelangen Debatte haben viele leider immer noch nicht verstanden, worüber
wir bei der Frage des Nichtraucherschutzes eigentlich reden.
({1})
Es geht nämlich nicht um stinkende Räume, um verrauchte Kleidung oder um vergilbte Vorhänge. Es geht
auch nicht nur um unangenehme Belästigungen der
Nichtraucher. Es geht um eine eindeutig nachgewiesene
Gesundheitsgefährdung.
({2})
Betroffen sind nicht nur die Raucher, sondern auch all
diejenigen, die in öffentlichen Gebäuden, am Arbeitsplatz und auch in Gaststätten, Kneipen und Discos zum
Mitrauchen gezwungen sind.
({3})
Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Passivrauchen
das Risiko für chronische Erkrankungen, die tödlich enden können, erhöht. Ein Blick in die wissenschaftlichen
Publikationen zeigt: Wir reden nicht nur von Augenbrennen, sondern auch von Herzerkrankungen, Schlaganfällen und Lungenkrebs.
({4})
Die Ministerin hat die Zahlen genannt.
Diese traurige Tatsache kann man auch angesichts der
gerade in diesem Haus immer wieder vorkommenden
Relativierungen und der Verharmlosungen, insbesondere
der Tabakindustrie, gar nicht oft genug erwähnen. Wir
alle kennen diese Floskeln. Da wird von Freiwilligkeit,
Genuss und Toleranz gesprochen. Leider hat Rauchen
für die überwiegende Zahl der Raucher mit Freiwilligkeit so viel zu tun wie Schokolade mit Abnehmen, nämlich gar nichts. Es handelt sich um eine Sucht, und die
allermeisten Raucher rauchen, weil sie abhängig sind.
Deshalb laufen auch alle Regelungen, die nur auf Freiwilligkeit beruhen, ins Leere. Aus diesem Grund ist an
dieser Stelle der Gesetzgeber gefragt.
({5})
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchens machen wir den
ersten wichtigen Schritt hin zu einem wirksamen Nichtraucherschutz. Damit rücken wir auch auf europäischer
Ebene, Kollegin Höhn, wieder auf die vorderen Plätze
vor. Frau Höhn, man kann ja monieren, dass man das alles hätte früher haben können. Natürlich hätten wir das
gern früher umgesetzt. Aber mir ist aus Ihrer Zeit als Ministerin in Nordrhein-Westfalen keine Initiative bekannt,
mit der Sie dies angeschoben hätten.
({6})
Neben der Anhebung der Altersgrenze für die Abgabe
von Tabakwaren und für das Rauchen in der Öffentlichkeit von 16 auf 18 Jahre wird es in öffentlichen Einrichtungen des Bundes und in bestimmten Einrichtungen des
öffentlichen Personenverkehrs generelle Rauchverbote
geben. Das Gleiche muss natürlich für uns alle hier im
Deutschen Bundestag gelten.
({7})
Es wird allerhöchste Zeit, dass wir insoweit auch in unserem Haus Klarheit schaffen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf
dem richtigen Weg. Die Erfahrungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dass sich der Gesundheitszustand
von Angestellten nach Einführung von Rauchverboten
innerhalb ganz kurzer Zeit erheblich verbessert. Das gilt
insbesondere für Angestellte in der Gastronomie.
Hier sind wir bei dem zweiten entscheidenden Schritt
- dies ist schon mehrfach angeklungen -, der nun möglichst bald von den Bundesländern umgesetzt werden
muss: ein umfassendes, einheitliches Rauchverbot in
den Gaststätten. Denn es kann nicht sein, dass die Angestellten, die den Gefahren des Passivrauchens bislang
am stärksten ausgesetzt waren, von diesem Schutz ausgenommen werden; ganz zu schweigen von den Gästen,
darunter auch Kinder und Jugendliche.
({8})
Einige Länder haben inzwischen Gesetzentwürfe auf
den Weg gebracht. Selbst Herr Wulff - lange Zeit als
vorderster Kämpfer für den Raucher-Status-quo bekannt scheint jetzt erkannt zu haben, dass er mit seiner Position
auf verlorenem Posten steht.
({9})
Nur, Ankündigungen sind natürlich noch keine Gesetze.
Solange diese Gesetzentwürfe noch nicht verabschiedet
worden sind, ist Vorsicht angebracht. Das hat uns die Erfahrung aus den letzten Monaten und Jahren gelehrt.
Nach über einem Jahr Diskussion muss man sagen:
Es wird nun endlich Zeit, dass wir auf der Bundesebene
durch das Gesetz zum Schutz vor Passivrauchen für alle
Bundesbehörden, im öffentlichen Personenverkehr und
auch im Deutschen Bundestag sowie auf Landesebene
durch Gesetze, die Angestellte und Gäste in Gaststätten
vor den Gefahren des Passivrauchens wirksam schützen,
klare Regelungen schaffen. Das sind längst überfällige
Maßnahmen - das haben wir hier häufig gehört -, die
durch zahlreiche wissenschaftliche Studien gestützt und
im Übrigen, Herr Parr, von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange hat
es gedauert. Aber inzwischen ist immerhin eine breite
Mehrheit in diesem Haus der Auffassung, dass es zum
Schutz vor Passivrauch auch staatlicher Regelungen
bedarf; das ist schon etwas. Nur die FDP spricht noch
von staatlicher Gängelung. Ich muss Ihnen, Herr Kollege
Parr, wirklich sagen: Sie wissen genauso gut wie ich,
dass Rauchen bzw. Nikotinabhängigkeit eine Suchterkrankung ist. Wir alle wissen, dass derjenige, der auf
diese Weise erkrankt ist
({0})
und dadurch nur noch eingeschränkt die Fähigkeit zur
Eigenverantwortung hat,
({1})
nicht das beste Beispiel für die Fähigkeit und Bereitschaft ist, Verantwortung für die Gesundheit anderer zu
übernehmen.
({2})
Das zeigt die Erfahrung; denn sonst gäbe es diesen Regulierungsbedarf nicht.
Ganz besonders abwegig finde ich - auch das sage ich
in Richtung der FDP - das Hohelied auf den Flickenteppich der Regelungen in den Ländern.
({3})
- Herr Kollege Parr, in welcher historischen Situation
befinden wir uns? Vielleicht in der Zeit vor der Schaffung des Deutschen Bundes, als es zwischen den Ländern noch Zollschranken gab? Sie vergleichen die Situation eines Bundeslandes allen Ernstes mit der eines
Privathaushaltes, den man nicht regulieren kann.
({4})
Aber glücklicherweise, Herr Kollege, gibt es auf der
Rheinbrücke zwischen Mannheim und Ludwigshafen
keine Zollschranken und Ähnliches mehr.
({5})
Damit gibt es auch einen Bedarf, dass überall gleiche
Regeln bestehen. Eigentlich müsste das eine Partei wie
die Ihre auch deswegen verstehen, weil das etwas damit
zu tun hat, dass Unternehmer, die zum Beispiel eine
Gaststätte oder einen anderen Betrieb eröffnen wollen,
16 unterschiedliche Gesetzbücher studieren müssen, um
sich zu entscheiden, wo sie ihren Betrieb eröffnen. Das
kann doch wohl nicht wahr sein.
({6})
Jetzt zur Koalition. Der bekundete Wille freut uns ja;
aber leider, Frau Ministerin Schmidt, fehlt es an der
Konsequenz. Ich lese zum Beispiel fast jeden Tag beim
Frühstück in der Zeitung:
({7})
Jetzt hat die Koalition beschlossen: Der Bundestag wird
rauchfrei. Keine zwei Stunden später begebe ich mich
zur Sitzung des Gesundheitsausschusses. Was sehe ich
dort? Auf dem Weg in den Sitzungssaal muss ich die
Qualmwolken durchqueren, die die rauchenden Kollegen aus dem Gesundheitsausschuss verbreiten.
({8})
Insofern frage ich Sie: Was sollen dann diese Bekundungen?
Wir könnten es schnell erreichen - unser Antrag dazu
liegt vor -, dass die Hausordnung des Bundestages geändert und ein allgemeines Rauchverbot beschlossen wird,
auch für die Gastronomie.
({9})
Wenn Sie angeblich dafür sind, stellt sich die Frage, was
uns dann noch daran hindert, dies zu tun.
Stattdessen wollen Sie unseren Antrag erst einmal an
den Ausschuss überweisen und reden jetzt darüber, den
Nichtraucherschutz im Bundestag in dem Gesetz zu berücksichtigen, das aber erst im Herbst in Kraft treten
soll. Warum beabsichtigen Sie das? Neulich war die Einbeziehung des Bundestages noch ein verfassungsrechtliches Problem, Frau Ministerin Schmidt. Ich kann mich
nicht erinnern, dass seitdem die Verfassung geändert
worden ist. Also ist es offenbar ein Problem des politischen Willens.
In vielen anderen Punkten des Gesetzentwurfs - zum
Beispiel beim Arbeitsschutz - sind Sie ebenfalls nicht
konsequent. Ich glaube, dass wir Ihnen bei diesem
Thema noch einigen Dampf machen werden.
({10})
Wir freuen uns schon auf die weitere Debatte.
Danke.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Seehofer, bereits Anfang der
90er-Jahre habe ich den Entwurf eines Nichtraucherschutzgesetzes im Deutschen Bundestag unterstützt, damals ohne Erfolg. Heute bin ich davon überzeugt, dass
der Gesetzentwurf, den wir heute in den Bundestag einbringen, mit großer Mehrheit verabschiedet wird. Denn
der Nichtraucherschutz ist in Deutschland in den letzten
Monaten ein gutes Stück vorangekommen.
Die große Mehrheit der Bevölkerung erwartet, dass
der Gesetzgeber endlich handelt und die Menschen besser vor den Gefahren des Passivrauchens schützt. Die
große Zahl von Briefen, die auch mich als Drogenbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion erreichen, beweist, Herr
Parr, dass den Menschen dieses Thema sehr am Herzen
liegt.
({0})
Fast 70 Prozent der deutschen Bevölkerung sind
Nichtraucher. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle
für Suchtfragen sind 55 Prozent der Nichtraucher unfreiwillig dem Tabakrauch ausgesetzt. Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat ermittelt, dass fast die Hälfte der
erwerbstätigen Nichtraucher in Deutschland am Arbeitsplatz und knapp ein Drittel aller Nichtraucher in der
Freizeit davon betroffen sind.
Dass Rauchen und Passivrauchen Krebs erregen, ist
unbestritten. Das wurde heute schon mehrfach betont,
aber man kann nicht oft genug darauf hinweisen. Der Zigarettenkonsum ist auch das größte Gesundheitsrisiko
für viele andere Erkrankungen. Die durch das Rauchen
verursachten Gesundheitskosten betragen nach Berechnungen des Deutschen Krebsforschungszentrums rund
17 Milliarden Euro. Auf die dadurch verursachten Todesfälle wurde schon mehrfach hingewiesen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
haben in Ihrem Antrag geschrieben und auch hier betont,
dass ein generelles Rauchverbot nicht notwendig ist. Sie
müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass der jahrelange
Appell, freiwillig etwas für den Nichtraucherschutz zu
tun, kaum gefruchtet hat. Zwar wurden in manchen Bereichen Nichtraucherzonen eingerichtet, die Untersuchungen des Deutschen Krebsforschungszentrums belegen jedoch, dass die Belastung mit krebserregenden
Stoffen auch dort gefährlich hoch ist, weil keine räumliche Trennung erfolgt. Auch die freiwillige Vereinbarung mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband
hat nichts gebracht. Die Vorgaben wurden bei weitem
nicht erreicht.
({1})
Daher ist es folgerichtig, dass zwei Drittel der Bevölkerung einen gesetzlichen Nichtraucherschutz fordern.
Der Bund kann ihn jedoch nur in den Bereichen regeln,
für die er zuständig ist, Frau Höhn. Ende Februar beschloss das Bundeskabinett die Einführung eines generellen Rauchverbots in bundeseigenen Einrichtungen,
öffentlichen Verkehrsmitteln und Personenbahnhöfen.
Der vorliegende Gesetzentwurf - nicht mehr und nicht
weniger - wird heute eingebracht. Alles andere müssen
die Länder besorgen, Frau Höhn.
({2})
Dieser Gesetzentwurf schafft die Möglichkeit, gesonderte und entsprechend gekennzeichnete Räume vorzuhalten, in denen das Rauchen gestattet ist, wenn
insgesamt eine ausreichende Anzahl von Räumen zur
Verfügung steht.
Aber wichtig ist - gerade für mich -, dass es sich
nicht um Arbeits- oder Diensträume handeln darf. Die
genauen Kriterien, beispielsweise für die Einrichtung
von Raucherräumen, müssen in einer Rechtsverordnung festgelegt werden. Dabei geht es um die baulichen
Anforderungen sowie die Art und Weise der Belüftung
dieser Raucherräume. Verstöße gegen die Bestimmungen des Gesetzes können als Ordnungswidrigkeit mit
Bußgeldern bis zu 1 000 Euro geahndet werden.
Nun gibt es verschiedene Organisationen, die in ihren
Stellungnahmen Zweifel äußern, ob dieses Gesetz tatsächlich greift, und auf Vorschriften anderer Länder verweisen. Meine Damen und Herren von der Opposition,
wir werden diese Einwendungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens natürlich eingehend prüfen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
enthält auch Regelungen zur Verbesserung des
Arbeitsschutzes. Durch Erweiterung des § 5 Abs. 1 der
Arbeitsstättenverordnung wird klargestellt, dass insbesondere ein allgemeines Rauchverbot für den gesamten
Betrieb dem Schutz der nichtrauchenden Beschäftigten
dient. Weitergehende Regelungen für den Gaststättenbereich, wie sie die Grünen in ihrem Antrag fordern, können aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht getroffen
werden.
({3})
- Der Petitionsausschuss hatte darüber beraten und das
eindeutig festgestellt. Lesen Sie das bitte im Protokoll
nach.
({4})
Regelungen zum Nichtraucherschutz in der Gastronomie
fallen unter das Gaststättenrecht. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Länder dafür zuständig sind und
der Bund hier keine Regelungskompetenz hat.
({5})
- Frau Höhn, ich muss Sie fragen: Die Grünen waren
sieben Jahre in der Regierung,
({6})
warum haben Sie nichts getan? Heute reden, aber vorher
nichts tun!
({7})
Zu Recht erwarten unsere Bürgerinnen und Bürger, in
allen öffentlichen Einrichtungen, Diskotheken, Theatern
und in der Gastronomie vor dem Passivrauchen geschützt zu werden. Ich appelliere an die Länder, die
dazu notwendigen Regelungen zügig umzusetzen und
keinen Flickenteppich an Vorschriften zu hinterlassen.
Für mich ist die italienische Regelung nach wie vor
beispielhaft. Sie beinhaltet ein generelles Rauchverbot in
öffentlichen Gebäuden, Theatern, Kinos und in der Gastronomie. Die Wirte haben dort die Möglichkeit, separate, durch eine selbstschließende Tür abgetrennte Raucherräume zu errichten, in denen allerdings nicht bedient
werden darf. Das heißt, die Arbeitnehmer in der italienischen Gastronomie sind - genau wie alle anderen Arbeitnehmer auch - umfassend vor den Gesundheitsgefährdungen des Passivrauchens geschützt. Herr Parr,
ich konnte mich davon überzeugen, dass diese Regelung
ohne großen bürokratischen Aufwand funktioniert. Herr
Minister Seehofer hat es bereits gesagt. Es ist eine
Selbstregulierung. Die Bevölkerung passt sozusagen selber auf, dass dieses Gesetz eingehalten wird. Auch die
Angestellten in der deutschen Gastronomie haben ein
Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz.
({8})
Selbstverständlich muss für den Deutschen Bundestag das Gleiche gelten wie für die Angestellten in den
Bundesbehörden. Der Beschluss der Koalitionsspitzen
vom Dienstag ist eindeutig. Er besagt, dass der Gesetzentwurf, der heute beraten wird, „voll und ganz auf den
Deutschen Bundestag Anwendung findet“.
({9})
Danach ist Rauchen zukünftig in den Gebäuden des
Deutschen Bundestages generell verboten und nur noch
in abgetrennten und gekennzeichneten Raucherräumen
gestattet. Ich halte es für richtig - ich habe das vorher
von Herrn Koschyk bestätigt bekommen -, dass die Regelung zum Nichtraucherschutz im Bundestag möglichst
zeitgleich mit der Regelung für die Bundeseinrichtungen
in Kraft tritt,
({10})
also mit diesem Gesetz. Eine schnelle Umsetzung, wie
die Grünen sie fordern, ist damit gewährleistet.
({11})
Rauchverbote schützen nicht nur die Nichtraucher,
sondern führen auch zu einem Rückgang des Zigarettenkonsums. Herr Parr, den von Ihnen genannten Zahlen kann ich eine andere Zahl entgegensetzen. Nach Angaben der „Ärzte-Zeitung“ haben ein Jahr nach der
Einführung des italienischen Nichtraucherschutzgesetzes bereits 500 000 Italiener gänzlich mit dem Rauchen
aufgehört. Das ist doch was!
({12})
Wir Erwachsene sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Angesichts der Tatsache, dass Jugendliche heute bereits im Alter von durchschnittlich 11,8 Jahren erstmals
zur Zigarette greifen, sind die Erwachsenen gefordert,
einen Verzicht auf Zigaretten vorzuleben. Daher begrüße
ich, dass Zigaretten nach diesem Gesetzentwurf künftig
erst ab 18 Jahren abgegeben werden dürfen.
({13})
Ganz wichtig ist auch die Prävention. Wir begrüßen
es daher sehr, dass es an den Schulen mittlerweile regelmäßige wirkungsvolle Aktionen gibt. Durch frühzeitige
Aufklärung und durch gutes Vorbild müssen junge Menschen vor der Tabaksucht unbedingt bewahrt werden.
Wir sind auf einem guten Wege, auch in Deutschland
endlich einen umfassenden Nichtraucherschutz zu verwirklichen. Wir werden den Gesetzentwurf zügig beraten, damit er fristgerecht, wie vorgesehen, zum 1. September dieses Jahres umgesetzt werden kann.
({14})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Dr. Margrit Spielmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ein altes Sprichwort besagt: „Aller guten
Dinge sind drei.“ Nach zwei erfolglosen Anläufen zur
Verbesserung des Nichtraucherschutzes, die wir in den
letzten zehn Jahren - oder sogar in den letzten 15 Jahren,
wie ich erfahren habe - gemacht haben, beraten wir
heute in erster Lesung ein Gesetz zum Schutz vor den
Gefahren des Passivrauchens. Herr Minister Seehofer,
ich denke auch, wir erleben in diesem Problemfeld einen
Quantensprung.
Wir wissen alle, diesem Gesetzentwurf sind vielfältige Bemühungen vorausgegangen. Der Entwurf ist für
mich sozusagen eine Antwort unter anderem auf den
öffentlichen Druck, der in letzter Zeit durch die Medien
ausgeübt wurde.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes erwarten
von uns - Herr Parr, 72 Prozent haben sich für einen
Schutz vor Passivrauchen ausgesprochen - eine schützende gesetzliche Regelung.
({1})
In besonderer Weise haben die Institute - ich nenne
beispielsweise das Deutsche Krebsforschungszentrum in
Heidelberg - durch ihre Forschungsergebnisse - immerhin sterben pro Jahr 3 200 Menschen an den Folgen
des Passivrauchens - zu dieser durchaus positiven öffentlichen Diskussion beigetragen. Ich denke, wir sollten
diesen Instituten einmal für ihren Beitrag zur heutigen
Debatte danken.
({2})
Auch dieses persönliche Wort sei mir gestattet: Hilfreich
war auch das Engagement unseres Kollegen Lothar
Binding.
({3})
Vor uns liegt ein erster Entwurf. Viele von uns - dazu
zähle auch ich - hätten sich zum Schutz vor Passivrauchen ein wenig mehr gewünscht. Mir ist der Gesetzentwurf nicht umfassend genug. Aber wir haben eine Anhörung vereinbart und sollten diese auch für entsprechende
Veränderungen nutzen.
Wir müssen uns noch mehr Gedanken machen, ob wir
die Arbeitsstättenverordnung ändern können, um einen
wirklichen Arbeitsschutz zu gewährleisten.
({4})
Wir müssen über die verlängerte Frist für die Automatenhersteller reden. Es wurde schon gesagt: Wenn wir
den Jugendschutz ernst nehmen, dann sollten wir dafür
sorgen, dass die Heraufsetzung der Altersgrenze zeitgleich auch für die Abgabe von Zigaretten an Automaten
erfolgt und nicht erst 22 Monate später.
({5})
Ich denke, das Datum 1. Juli 2009 ist für uns nicht hinnehmbar.
Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir gegen
Verstöße gegen das Gesetz vorgehen.
({6})
Herr Parr, ich will dafür keine Polizei mit hochgestelltem Kragen. Ich könnte mir durchaus andere Regelungen vorstellen.
({7})
Wir müssen uns überlegen, wie wir den Bundestag
explizit in das Gesetz einbeziehen; denn der Bundestag
als öffentliches Gebäude kann nicht von den Regelungen
des Gesetzes ausgenommen werden. Dazu gehört auch,
dass sich alle Abgeordneten daran halten.
({8})
- Frau Bender und liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, wir werden
Ihren Antrag natürlich in die Diskussion einbeziehen
und positiv würdigen.
({9})
Es ist auch zu prüfen, ob wir die Definition von
Raucherräumen im Gesetz ändern müssen. Es kann
nicht sein, dass eine gesetzliche Definition so wie die
vorliegende zu den Raucherräumen auf Lobbydruck entsteht.
({10})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einen für mich als Gesundheitspolitikerin wichtigen Aspekt erwähnen. Parallel zum Gesetz sollten wir verstärkt Konzepte
unterstützen, die den Menschen helfen, mit dem Rau9728
chen aufzuhören. Lassen Sie uns in der Anhörung und in
der folgenden Debatte auch über Maßnahmen zum Beispiel zur zielgruppenspezifischen Prävention, also insbesondere über Präventionsmaßnahmen für Kinder und
Jugendliche, diskutieren. Wir sollten diese Aufklärungsangebote - das wäre mir ein großes Anliegen - unter
Einbeziehung verschiedener Berufsgruppen konzipieren;
hier möchte ich in besonderer Weise die Pädagogen und
die Ärzte erwähnen.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5049, 16/4761 und 16/5118 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4957. Die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache, die übrigen Fraktionen wünschen Überweisung, und zwar federführend an den
Ältestenrat und mitberatend an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie an
den Ausschuss für Gesundheit.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Überweisung ist
damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen beschlossen.
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 16/4957 nicht ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Deutschland braucht Mindestlöhne
- Drucksache 16/4845 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache nicht
teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen, damit die übrigen der Aussprache folgen können. - Vielen Dank.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als erstem
Redner das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in wenigen Tagen eine Wahl.
({0})
Vor Wahlen neigen die politischen Parteien zu einem bestimmten Verhalten: Sie geben Versprechen ab.
({1})
Nun ist das mit Versprechen häufig so, meine Damen
und Herren, dass diejenigen, denen Versprechen gegeben
werden, diese im Gedächtnis behalten, diejenigen aber,
die die Versprechen abgeben, dazu neigen, die Versprechen sehr schnell wieder zu vergessen.
So ist das auch vor dieser bremischen Wahl. Ich beginne nicht bei der Erklärung der SPD, sondern mit einem Plakat der CDU, das einem doch die Sprache verschlägt.
({2})
Vor der Wahl plakatiert die CDU: Gegen Lohndumping für 7,50 Euro Mindesteinkommen.
({3})
- Die besondere Schlauheit, die Sie auf dieses Plakat gebracht zu haben meinen, besteht darin, dass Sie von einem Mindesteinkommen pro Stunde sprechen. Wer
kann sich ein solch unsinniges Konstrukt überhaupt erklären? Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn
Sie hier versuchen, mit „7,50 Euro pro Stunde“ die Wählerinnen und Wähler in die Irre zu führen, dann ist das
dummer, dreister Wahlbetrug. Nichts anderes ist dazu zu
sagen.
({4})
Eine Milderung ergibt sich auch dann nicht, wenn
beispielsweise Ihr Spitzenkandidat in der Sprache nicht
sauber ist und noch immer von gesetzlichem Mindestlohn spricht. Insofern sollten Sie hier mit sich zu Rate
gehen, inwieweit Sie sich nicht einfach einmal dazu
durchringen, den Wählerinnen und Wählern das zu sagen, was Sie wirklich meinen.
Wir reden heute aber auch über eine Erklärung der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die mit einer
Unterschriftenaktion verbunden ist und die wir im Inhalt
natürlich in vollem Umfang unterstützen.
({5})
Ich lese einmal die wesentlichen Passagen vor:
Deutschland ist gemessen an der gesamtwirtschaftlichen Leistung so reich wie nie zuvor.
Das stimmt wirklich.
Trotzdem arbeiten viele Menschen den ganzen Tag,
können aber sich und ihre Familien vom erarbeiteten Lohn nicht ernähren. Armutslöhne sind ungerecht und unsozial. Sie missachten die Leistung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist ein
Skandal.
({6})
Wer voll arbeitet, muss davon leben können. Deshalb werden wir Schluss machen mit dem Lohndumping.
Wenn man solche Worte liest, dann denkt man doch:
Hier ist eine Truppe zusammengekommen, um ihren
Worten endlich Taten folgen zu lassen. Wir werden aber
sehen, dass auch hier Ihren Worten wieder keine Taten
folgen werden. Das ist eine Schande.
({7})
In Deutschland diskutieren wir schon viele Jahre über
den gesetzlichen Mindestlohn. Das ist keine neue Entwicklung. Spätestens seit dem Fall der Mauer sind immer wieder Fälle hochgekommen, in denen in Deutschland Hungerlöhne gezahlt worden sind. Ich erinnere
mich noch gut daran, dass 1990 Bauarbeiter hier für
1 DM pro Stunde beschäftigt worden sind. So lange diskutieren wir das Thema schon! Es wird geschwätzt, geschwätzt und geschwätzt, aber nichts geschieht.
({8})
Die Menschen werden in die Irre geführt. Das ist nun
wirklich empörend.
Die Begründung ist ganz einfach. Alle anderen Staaten in Europa diskutieren seit vielen Jahren über dieses
Thema, und die meisten haben den Mindestlohn eingeführt. Wenn Sie heute das „Handelsblatt“ lesen, meine
Damen und Herren, dann werden Sie dort finden, dass
der zuständige Kommissar der Europäischen Gemeinschaft gesagt hat: Mindestlöhne kosten keine Arbeitsplätze, sondern sie helfen, Arbeitsplätze aufzubauen. Nehmen Sie die Erfahrung in der Europäischen Gemeinschaft doch einmal zur Kenntnis, und handeln Sie danach!
({9})
Das Plakat der CDU ist jetzt heruntergefallen. Es verdient auch nichts anderes. Am besten sollte es von allen
Masten fallen, auf denen es aufgeklebt ist, damit diese
Irreführung im Wahlkampf keine Wirkung zeigt.
({10})
Nun sind wir natürlich gespannt, was die Sozialdemokraten machen werden. Wir haben die Sorge, dass es so
sein wird wie immer in den letzten Jahren.
({11})
- „Wer hat uns verraten?“, tönt es hier auch noch von der
Regierungsbank. Verehrter Staatssekretär, dann sagen
Sie auch noch den zweiten Satz! Der stimmt nämlich,
wenn man die Menschen in Deutschland betrachtet, die
hier seit vielen Jahren zu Armutslöhnen arbeiten müssen.
Es ist nicht so, dass Sie in den letzten Jahren nicht die
Möglichkeit gehabt hätten, daran etwas zu ändern. Genauso wie andere Staaten hätten Sie den Mindestlohn in
Deutschland längst einführen können.
({12})
Die Wirklichkeit ist die: Wir haben hier im Deutschen
Bundestag eine Mehrheit zumindest für Schritte hin zu
einem Mindestlohn, was die Tarifverträge angeht und
was den gesetzlichen Mindestlohn angeht.
({13})
Das Problem ist, dass das nicht geschieht, und zwar aus
reiner Koalitionstreue - oder wie immer Sie das bezeichnen wollen -, obwohl man Ihnen um die Ohren schlägt,
Sie schadeten Deutschland. Das ist ein einmaliger Sachverhalt. Sie schadeten Deutschland, habe ich vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU gehört. Nein, Sie schaden den Menschen, die zu Hungerlöhnen arbeiten, wenn
Sie nicht endlich wahrhaftig werden und dem Mindestlohn zustimmen und damit Ihrer eigenen Erklärung folgen. Wer der eigenen Erklärung nicht zustimmt, macht
sich lächerlich.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Faktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Häufig
sind die, die laut schreien, heiser, wenn sie selbst bekennen müssen: An diesen Spruch hat mich Ihre Tirade, die
Sie hier vorgetragen haben, wieder einmal in eindrucksvoller Weise erinnert, Herr Kollege Lafontaine.
({0})
Da, wo Sie schon die Möglichkeit hatten, Verantwortung
zu übernehmen, haben Sie es nie getan;
({1})
vielmehr sind Sie immer nach dem Motto verfahren: Auf
und davon, wenn es ernst wird!
({2})
Welchen Wert hat Arbeit tatsächlich? Diese Frage
habe ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, hier in diesem Haus im Juni letzten Jahres gestellt.
Sie reklamierten damals für sich, die einzig wahre Antwort zu kennen: 8 Euro sollten es sein. Nur einige
Monate vorher hatten Sie - wiederum mit Anspruch auf
Absolutheit - verlangt, es müssten mehr als 8 Euro sein.
Heute nun präsentieren Sie dem verblüfften Publikum
einen Antrag ganz ohne Angabe. Jetzt verlangen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn, der sich am Niveau vergleichbarer europäischer Länder orientieren soll.
({3})
Welches Land mit uns vergleichbar sein soll, dazu
schweigen Sie.
({4})
Dabei wäre eine Antwort auf diese Frage nach Ihrem
Antrag entscheidend; denn die gesetzlichen Mindestlöhne in Europa reichen von 9,08 Euro in Luxemburg bis
zu 0,53 Euro in Bulgarien.
({5})
Welcher Vergleichsmaßstab soll nun gelten? Sie beantworten diese Frage nicht. Die Arbeitslosenquote?
Dann wären wir bei Estland. Estland hat einen Mindestlohn von 1,33 Euro. Das können Sie nicht wirklich wollen. Dieses Beispiel zeigt aber auch die Beliebigkeit Ihres Antrages. Es geht Ihnen nie um die Sache.
Ihre Politik gleicht einer Mogelpackung: Wenn man
die Schachtel auspackt, stellt man fest, dass nichts, wirklich gar nichts darin ist.
({6})
Das Verwerfliche dabei ist, dass Sie mit jedem dieser
Pseudoanträge Angst schüren, und das bei einem Thema,
das die Menschen in diesem Land wirklich bewegt: die
Sorge um ihren Lebensunterhalt. Dieses Thema bewegt
Arbeitslose ebenso wie Arbeitnehmer. Gerade bei diesen
wächst doch die Angst, da sie sich zunehmend mit
Schlagwörtern wie „Hungerlöhne“ und „Armut“ konfrontiert sehen. Wer würde da keine Angst bekommen?
({7})
Aber wie viele Arbeitnehmer sind tatsächlich betroffen? Unser Bundesminister Franz Müntefering hat uns
gestern die Zahl genannt: Von den mehr als
26,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigen in Deutschland sind es 500 000.
({8})
Diese Männer und Frauen arbeiten im sogenannten
Niedriglohnbereich. Sie arbeiten in Vollzeit und können
ihren Lebensunterhalt trotzdem nicht allein bestreiten.
({9})
Wie können wir ihnen helfen? Als ein möglicher Weg
wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn
vorgeschlagen. In vielen Ländern Europas ist er bereits
Realität. Warum also nicht bei uns?
Die Antwort ist einfach: In diesen Ländern herrschen
vollkommen andere soziale und wirtschaftliche Grundbedingungen. Nehmen wir zum Beispiel das vielzitierte
Großbritannien: Dort ist ein Mindestlohn von
7,36 Euro festgelegt. Es wird angeführt, dass die Beschäftigung dort zugenommen hat, selbst in den Branchen, in denen es einen Mindestlohn gibt. Das mag stimmen, aber die dortigen Bedingungen sind mit unseren
eben nicht vergleichbar:
Erstens. Es gibt in Großbritannien nur einen minimalen gesetzlichen Kündigungsschutz. Den will hier wohl
niemand, unsere Fraktion jedenfalls nicht.
Zweitens. Die britischen Arbeitnehmer arbeiten im
Durchschnitt einen Monat länger im Jahr als die deutschen. Auch das wird hier keiner wollen.
Drittens. Es gibt dort - anders als bei uns - nur eine
verschwindend geringe soziale Absicherung. Wollen Sie
diese Bedingungen wirklich um den Preis des gesetzlichen Mindestlohnes auf Deutschland übertragen?
({10})
Werfen wir einen Blick auf das angebliche Vorbildland Frankreich. Dort gibt es einen Mindestlohn von
8,27 Euro.
({11})
Dort herrscht aber auch eine Jugendarbeitslosigkeit, die
um 50 Prozent höher als bei uns in Deutschland ist.
Diese Jugendlichen haben keinerlei Chance, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Wollen Sie das wirklich auch
in Deutschland um den Preis des gesetzlichen Mindestlohnes?
Diese Beispiele zeigen: Man kann Äpfel nicht mit
Birnen vergleichen.
({12})
Betrachten wir also die soziale Marktwirtschaft, in
der wir leben. Dazu passt eines sicherlich nicht: Lohnwucher. Er ist schlichtweg unanständig, sittenwidrig,
strafbar.
({13})
Es gibt ihn. Aber jemand, der schon heute ein Gesetz
bricht, wird sich niemals einem gesetzlichen Mindestlohn beugen. Dies zeigen die Erfahrungen aus der Baubranche: Wer das Arbeitnehmer-Entsendegesetz unterlaufen will, tut dies auch - durch falsche Angaben zur
Arbeitszeit, Scheinselbstständigkeit, Schwarzarbeit.
Den Behörden gelingt es nur teilweise, diese schwarzen Schafe zu finden. Wir haben häufig das Problem:
Wo kein Kläger, da kein Richter. Hier sollten wir als Gesetzgeber prüfen, ob eine Definition der Sittenwidrigkeit den Arbeitnehmern nicht aus diesem Dilemma helfen kann.
({14})
Lohnwucher ist aber nicht mit Niedriglöhnen zu verwechseln. Jeder von uns kennt die Beispiele. Eines der
bekanntesten: Eine Friseurin in Thüringen erhält im ersten Gesellenjahr 3,82 Euro die Stunde ({15})
Tariflohn; von der Gewerkschaft abgesegnet. Kann diese
Frau damit eine Familie ernähren?
({16})
Sicher nicht. Hilft ihr der gesetzliche Mindestlohn?
({17})
Sicher nicht. Die Befürworter zeichnen folgendes Idyll:
Der Saloninhaber wird verpflichtet, 7,50 Euro zu zahlen;
er erhöht die Preise, und der Verbraucher zahlt diese mit
Freude. - Idyll, aber nicht Wirklichkeit. Dies zeigt: Die
Kunden wollen und können manchmal auch nicht mehr
zahlen. Deshalb müssen die Betriebe sparsam sein, deshalb reicht für diese Arbeitnehmer der Lohn kaum zum
Leben, deshalb müssen sie selbst wieder auf jeden Cent
achten usw.
({18})
Das ist die Wirklichkeit. Dazu gehört übrigens auch
die Erkenntnis: Löhne sind Preise für Arbeit. Löhne
orientieren sich an der Produktivität, nicht an der Sicherung des Lebensunterhalts.
({19})
Letztere ist Aufgabe des Sozialsystems.
Diese Erkenntnis mag kalt, theoretisch, wissenschaftlich klingen. Aber sie bleibt wahr. Nachfrage und Angebot bestimmen den Preis, Herr Kollege Lafontaine. Wir
können uns eben nicht wie Pippi Langstrumpf die Welt
machen, wie sie uns gefällt;
({20})
zwei mal drei macht eben nicht vier, Herr Kollege
Lafontaine.
({21})
Wer seinen Lohn nicht erwirtschaftet, wird arbeitslos.
Wer also gesetzliche Mindestlöhne fordert, nimmt in
Kauf, die Arbeitslosigkeit zu zementieren.
({22})
Das ist das zentrale Problem unserer Gesellschaft: die
immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit. Ihre Bekämpfung
muss unser oberstes Ziel sein. Die Einführung von gesetzlichen flächendeckenden Mindestlöhnen wäre dabei
eine Hürde.
Es ist deshalb klug, die Lohnfrage dort zu lassen, wo
sie hingehört: in den Tarifverhandlungen.
({23})
Ich persönlich glaube, dass die Tarifvertragsparteien
den Markt am besten kennen. Die Tarifautonomie hat
sich bewährt.
({24})
Nur dort, wo Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam feststellen, dass sie über einen Niedriglohn nicht hinauskommen, ist der Staat gefordert. Hier muss er, müssen wir ein - das betone ich, Herr Kollege Lafontaine Mindesteinkommen sichern.
({25})
Mindestlohn und Mindesteinkommen sind nicht zu verwechseln. Wenn Sie es mir nicht glauben, schauen Sie in
den Bericht des Sachverständigenrates. Aber Wissenschaft liegt Ihnen offensichtlich nicht nahe.
Ein zu geringes Vollzeitarbeitseinkommen muss aufgestockt werden, damit der Satz gilt: Wer hart arbeitet,
muss ein anständiges Auskommen haben. - Nur dort
darf der Staat eingreifen zugunsten der Arbeitnehmer,
wie im Falle des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zugunsten der Arbeitgeber. Die Voraussetzungen für dessen mögliche Ausweitung sind übrigens im Koalitionsvertrag klug und klar beschrieben: Erstens bedarf es
einer sozialen Verwerfung, zweitens einer Entsendeproblematik, drittens eines Tarifgefüges und viertens der
Zustimmung von Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Der Koalitionsvertrag achtet also die Tarifautonomie
und damit das Grundgesetz. Die Väter dieses Gesetzes
verzichteten übrigens bewusst darauf, einen angemessenen Lohn staatlich definieren zu wollen. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid
({26})
begründete dies wie folgt - ich zitiere -:
Es ist gut, dass die Bundesrepublik darauf verzichtet, hierbei durch staatlichen Zwang einzugreifen.
Wir liefen sonst Gefahr, dass das, was am besten
dem Austrag durch die unmittelbar Betroffenen
überlassen bleibt, unter dem Anschein der Objektivität zum Gegenstand eines Machtanspruchs jener
würde, deren Interessen das Ohr der jeweiligen Parlamentsmehrheit finden.
Auch heute ist diesen Worten nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({27})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich
Kolb von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steter Tropfen höhlt den Stein,
({0})
und stetes Debattieren schärft die Wahrnehmung von
Positionen. Deswegen bin ich froh, dass am Ende dieser
Sitzungswoche eines klar ist: Eine Fraktion in diesem
Haus möchte ohne Wenn und Aber die Einführung von
Mindestlöhnen,
({1})
und eine Fraktion in diesem Haus möchte ohne Wenn
und Aber, dass es keine Mindestlöhne gibt.
({2})
Wir glauben, dass sie beschäftigungsfeindlich sind und
die Beschäftigungschancen gerade von geringqualifizierten Menschen in diesem Land reduziert.
({3})
Dazwischen gibt es ein mehr oder weniger großes
Geeiere. Das gilt auch für die Grünen, Frau Pothmer.
({4})
Ich hatte gestern in der Debatte leider nicht genügend
Zeit, Ihren Antrag zu würdigen.
({5})
Aber wenn man sich durchliest, was Sie da schreiben,
dann sieht man, dass auf Ihren Fahnen ähnlich wie bei
der Union steht, dass Sie den Mindestlohn wollen; aber
dem Kleingedruckten entnimmt man: Wasch mir den
Pelz, aber mach mich nicht nass!
({6})
Die Mindestlöhne, die eingeführt werden sollen, sollen
so nach Branchen und Regionen differenziert sein, dass
am Ende bei der Beschäftigung nichts passieren kann.
({7})
Aber das geht nicht. Einerseits glauben Sie, per Mindestlohn in die Lohnfindung eingreifen zu müssen, womit
Sie den schlichten ökonomischen Grundsachverhalt bestreiten, dass Löhne letztendlich die Produktivität widerspiegeln müssen, andererseits wollen Sie die negativen
Auswirkungen des Mindestlohns verhindern. Ihr Antrag
führt dazu, dass nichts geschehen wird, und Sie hätten
ihn besser gelassen. Wenn Sie, Frau Pothmer, geschwiegen hätten, wären Sie eine Philosophin geblieben. Das
haben Sie nicht getan.
({8})
Bei der Union ist das etwas anders. Bei ihr deutet sich
seit gestern an, wohin die Reise geht. Man sperrt sich
nicht gegen eine Ausweitung des Entsendegesetzes. Ich
will doch noch eines zu dem anmerken, was Sie, Frau
Connemann, gesagt haben. Wenn ich das richtig verfolgt
habe, dann ist mittlerweile nicht mehr die Zustimmung
beider Tarifvertragsparteien zwingend erforderlich,
({9})
um das Entsendegesetz für eine Branche zur Anwendung
zu bringen, sondern der federführende Minister, Herr
Müntefering, kann auch gegen den Widerstand zum Beispiel der Arbeitgeber in einer Branche einen Tarifvertrag
für allgemeinverbindlich erklären.
({10})
Ich sehe insgesamt die Gefahr, dass Zug um Zug, von
Branche zu Branche das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit abgeschafft wird. Das kann nicht sein.
({11})
Wir bekennen uns zur Tarifautonomie. Aber zur Tarifautonomie gehört zwingend, dass ein Unternehmen
oder ein Arbeitnehmer sagen kann: Ich will nicht unter
diesen Tarifvertrag fallen. Für mich sollen andere, abweichende Bedingungen gelten. - Deswegen sehe ich
die Tendenz, mit der Ausweitung des Entsendegesetzes
eine Lösung herbeizuführen, kritisch.
Gestern hat der Minister in der Debatte zwischen
einem Mindestlohn und einem Auffanglohn unterschieden. Das läuft darauf hinaus, dass die Union einem
gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland in Höhe von 7,50 Euro nicht zustimmen wird, aber
- das ergibt sich auch aus der heutigen Berichterstattung
der Presse - am Ende ein Auffanglohn von circa 6 Euro
- Herr Brauksiepe lächelt dazu - auf dem Papier stehen
könnte.
({12})
Dazu sage ich: Halb zog es sie, halb sanken sie hin. Die Union ist auf dem Weg, wieder einmal bei einer zentralen arbeitsmarktpolitischen Frage einzuknicken. Das
sehen wir mit großer Sorge.
({13})
Ich will zum Schluss sagen: Es ist immer schön,
Deutschland mit dem europäischen Ausland zu vergleichen. Es gibt aber gerade sieben Länder in einer Spitzengruppe, deren Mindestlohn tatsächlich in etwa das Niveau hat, das sich viele in diesem Hause für einen
deutschen Mindestlohn vorstellen, nämlich 7,50 Euro. In
14 weiteren europäischen Ländern gibt es zwar einen
Mindestlohn; der liegt aber unter 3,90 Euro in der
Stunde.
({14})
- Das sind aber Konkurrenten in einem gemeinsamen
Binnenmarkt, Herr Schaaf. Das können Sie nicht unter
den Tisch kehren. - Ich will auf Folgendes hinweisen:
Die Kombination, die entstehen würde, wenn man in
Deutschland auch noch einen gesetzlichen Mindestlohn
einführte, wäre in der Tat einmalig; denn wir haben mit
Hartz IV, ob man das gut findet oder nicht, faktisch einen Mindestlohn in Deutschland.
({15})
Wir haben eine im Vergleich mit dem europäischen Ausland überdurchschnittlich hohe Arbeitsmarktregulierung, und wir würden noch ein Drittes oben draufsetzen.
Was in Großbritannien mit niedriger sozialer Sicherheit funktioniert hat, wird in Deutschland genauso wenig
funktionieren, wie das in Frankreich der Fall gewesen
ist. Das sage ich Ihnen voraus. Deshalb - damit Sie das
noch einmal mit ins Wochenende nehmen können -: Die
FDP wankt nicht, sie steht!
({16})
Wir sind gegen Mindestlöhne, gegen gesetzliche und tarifliche, auch gegen die Ausweitung des Entsendegesetzes. Wir glauben, dass die Menschen in Deutschland
dann die besten Chancen auf mehr Arbeit haben, wenn
man den Tarifpartnern weiterhin das Recht auf Lohnfindung lässt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal eine Bemerkung vorab: Mindesteinkommen ist nicht gleich Mindestlohn!
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, wir
hätten Ihnen natürlich den Spaß verderben und ignorieren können, dass Sie unseren Kampagnenaufruf für den
Mindestlohn schlicht abgeschrieben haben.
({1})
Ich frage mich tatsächlich, warum Sie das gemacht
haben. Mir fallen da nur zwei Varianten ein. Die erste
Möglichkeit ist, dass Sie austesten möchten, ob wir Sie
als Koalitionspartner mögen.
({2})
Ich sage da ganz klar: Nein! Bloß nicht!
({3})
Zur Politik gehören nämlich Seriosität, Verlässlichkeit
und der Wille zur Gestaltung in der Regierungsarbeit
({4})
anstelle eines tosenden Oppositionsgehabes.
({5})
Die zweite Variante ist: Sie sind sich unsicher in Ihrem politischen Handeln.
({6})
Schließlich stellen Sie innerhalb weniger Wochen einen
komplett neuen und inhaltlich abweichenden Antrag
zum Mindestlohn.
({7})
Sie haben Recht damit, sich an die große Volks- und Arbeitnehmerpartei SPD anzulehnen. Damit können Sie
nichts falsch machen.
({8})
Herr Lafontaine, der Sie da immer in der Ecke sitzen
und motzen, zu Ihnen fällt mir nur eines ein: Wendehals!
({9})
Wer in den 80er-Jahren die 35-Stunden-Woche ohne
Lohnausgleich gefordert hat, der kann heute nicht glaubwürdig Arbeitnehmerinteressen vertreten.
({10})
Meine Damen und Herren, eines ist klar: Wir brauchen einen Mindestlohn in diesem Land. Es ist ein Skandal, wenn Menschen in diesem Land für 2 oder 3 Euro
pro Stunde und ähnliche Beträge arbeiten. Vollzeitarbeit
muss Existenzsicherung vermitteln.
({11})
Derzeit gibt es Forderungen, anstelle eines Mindestlohnes die Sittenwidrigkeit eines Lohnes im Sinne von
§ 138 Abs. 2 BGB zu definieren. Der objektive Tatbestand des Lohnwuchers nach § 138 Abs. 2 BGB ist
erfüllt, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen
Leistung und Gegenleistung vorliegt. Dabei ist für die
entsprechende Feststellung grundsätzlich der Tariflohn
der jeweiligen Wirtschaftsbranche maßgeblich. Hilfsweise ist vom allgemeinen Lohnniveau auszugehen.
Wann ein auffälliges Missverhältnis vorliegt, ist nicht
abschließend geklärt. Viele Stimmen nehmen ein auffälliges Missverhältnis bei zwei Dritteln des Tariflohns an,
andere erst bei der Hälfte des Tariflohns.
Ich sage ganz klar: Es reicht nicht aus, gesetzlich festzulegen, dass Lohnwucher vorliegt, wenn ein Arbeitnehmer nur zwei Drittel des Tariflohns bzw. des hier ortsüblichen Lohns erhält. Zwei Drittel des Lohns von 3 Euro das ist eine Beleidigung der Würde aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land!
({12})
Wir brauchen eine absolute Untergrenze, die kein Unternehmen unterschreiten darf. Eine Veränderung des
§ 138 BGB kann nur ein zusätzliches Element gesetzgeberischen Handelns sein, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass eine der Qualifikation des Arbeitnehmers
angemessene Vergütung erfolgt. Aber auch hier gilt:
Zwei Drittel des Tariflohns sind zu wenig.
Ich bin recht zufrieden, dass es uns mit der Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes gelungen ist,
zumindest eine weitere Branche gesetzlich abzusichern.
({13})
Ich möchte daran erinnern, dass das nicht gegen die Arbeitgeber geschehen ist. Insbesondere der Bundesinnungsverband des Gebäudereinigerhandwerks hat sich
dafür starkgemacht. Lassen Sie mich aus einem Positionspapier dieses Verbandes zitieren:
Erstens. Der gesetzliche Mindestlohn ist effizienter
als der tarifliche Mindestlohn.
Zweitens. Der gesetzliche Mindestlohn stabilisiert die
Sozialversicherungssysteme in Deutschland.
Drittens. Der gesetzliche Mindestlohn vernichtet
keine Arbeitsplätze.
Viertens. Hartz IV ist kein Mindestlohnmodell.
Fünftens. Der gesetzliche Mindestlohn führt nicht zu
Schwarzarbeit.
({14})
Ich kann diese Liste noch fortsetzen.
({15})
Ich kann nur sagen: Alle Achtung! Die haben es verstanden. Ich wünschte mir, dass es so viel arbeits- und wirtschaftspolitischen Sachverstand auch bei der FDP gäbe.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kolb, Sie haben recht, wenn Sie unsere Vorschläge als
differenziert bezeichnen. Sie sind deswegen so differenziert, weil die Wirklichkeit so differenziert ist. Herr
Kolb, leider ist die Welt nicht so einfach, wie es uns die
FDP immer wieder weismachen möchte.
({0})
Wir diskutieren in diesem Parlament seit ungefähr
15 Monaten über die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns.
({1})
Ich habe zunehmend das Gefühl, dass diese Diskussion
zu einer Gespensterdebatte wird.
({2})
Wenn ich mir die Debatten von gestern und heute ansehe, muss ich sagen: Ganz offensichtlich sind die Verhandlungen gescheitert. Das sollten Sie den Menschen
nun öffentlich sagen. Monatelang haben Sie versucht,
den Eindruck zu erwecken, als kämen Sie sich inhaltlich
nahe. Das Einzige, worauf Sie sich verständigen konnten, ist, wann der nächstmögliche Verzögerungstermin
bekannt zu geben ist. Inhaltlich hat sich aber leider
nichts getan.
({3})
Das hat auch etwas damit zu tun, dass Ihre Konzepte in
der Arbeitsmarktpolitik genauso weit auseinanderliegen,
wie sie in der Gesundheitspolitik auseinandergelegen haben.
({4})
Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Mindesteinkommen und Mindestlohn. Die Union will den
Staat mithilfe des Kombilohns dazu verpflichten, Teile
der Löhne zugunsten der Unternehmer zu übernehmen.
({5})
- Genau, es sind die Steuerzahler, die das bezahlen. Die SPD sagt - wie ich finde: vollkommen zu Recht -,
dass das in einer Marktwirtschaft Aufgabe der Unternehmer sein soll und auch bleiben soll.
({6})
Was sich dahinter verbirgt, sind grundlegende Unterschiede bei der Auffassung darüber, welche Aufgaben
der Staat und welche der Markt hat.
({7})
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte
der Wahrheit ist leider, dass sich die Koalitionspartner in
dieser Koalition gegenseitig nicht das Schwarze unter
dem Fingernagel gönnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, euer Koalitionspartner, die CDU/CSU,
hat nur das Ziel, dass die Sozialdemokraten am 1. Mai
mit leeren Händen dastehen. Das Drama ist, dass die
Union dieses Ziel leider erreicht hat. Ich sage „leider“
nicht aus tiefempfundenem Mitleid mit euch. Sicherlich
tut ihr mir ein bisschen leid.
({8})
Das wirkliche Drama ist aber, dass die Betroffenen für
Hungerlöhne arbeiten müssen. Ich frage mich inzwischen, welches eigentlich das Ziel dieser Koalition der
großen Möglichkeiten ist. Gibt es überhaupt noch eine
Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen und den
Erfordernissen der Zeit? Ist das Handeln noch zukunftsorientiert oder geht es nur noch um Programme, die eigene Klientel und Parteimitglieder, Wahltermine sowie
Auftritte zum 1. Mai? Was Sie hier aufführen, ist nicht
Politik als Kunst der Staatsführung, sondern Politik als
Kunst, die Menschen an der Nase herumzuführen. Damit
sollten Sie jetzt aufhören.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Andrea Nahles von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pothmer, wir tun uns nicht leid, wir regieren.
({0})
Wir verhandeln. Wir befinden uns auf der Schlussgeraden dieser Verhandlungen. Am Ende - das kann ich klar
sagen - wird die Tür für branchenbezogene Mindestlöhne in diesem Land weit offen stehen.
({1})
Das ist das, was man tut, wenn man regiert.
Wir regieren - das ist richtig - mit der CDU/CSU. An
dieser Stelle wird zum ersten Mal deutlich, dass wir gemeinsam einen Regelungsbedarf sehen.
({2})
Frau Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, zurzeit nicht.
({0})
Herr Pofalla sagte gestern hier im Plenum: Keiner
will Lohndumping zu menschenunwürdigen Bedingungen. - Wir haben also eine Gemeinsamkeit, was den
Regelungsbedarf angeht. Ich sage aber auch ganz klar:
Wenn dem so ist, muss man es am Ende des Tages auch
regeln wollen, und zwar konkret.
({1})
Ich wünsche der CDU/CSU noch ein bisschen mehr
Mut, um mit uns in den nächsten Wochen die konkreten
Schritte zu machen.
({2})
Was tun Sie? Sie haben einen schönen Gag gemacht.
Die Frage ist nur: Was nützt es den Menschen am Ende
des Tages? Wenig.
({3})
Ich sage Ihnen ganz offen: Ihnen geht es um die Schlagzeilen im „Neuen Deutschland“ zum 1. Mai. Uns geht es
darum, dass wir die Branchen, bei denen das dringend
nötig ist, mit einem Mindestlohn versehen. Wir haben
auch eine Mehrheit dafür.
({4})
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen unseren
Fraktionen.
({5})
Sie sagten, dass wir hier Gespensterdebatten führen.
Dazu sage ich Ihnen: Ich bin der Ghostbuster!
({6})
Ich werde Ihnen jetzt noch einmal klarmachen, worüber
wir hier diskutieren. Sie wollten doch die Gespenster
vertreiben!
Erster Punkt. Welchen Anteil vom Lohn zahlen die
Arbeitgeber, die davon profitieren, dass Menschen billig
für sie arbeiten, die damit Gewinne machen, und welchen Anteil vom Lohn zahlt der Staat in diesem Niedriglohnbereich? Das wollen wir erst einmal klären. Die
SPD sagt klipp und klar: Es muss doch wohl ordnungspolitisch korrigiert werden, wenn die Löhne so niedrig
sind, dass der Staat ständig Staatslohn drauflegen muss,
obwohl die Arbeitgeber aufgrund der niedrigen Löhne
höhere Gewinne machen. Das kann doch nicht richtig
sein. Das ist das erste Problem, das gelöst werden muss.
({7})
Der zweite Punkt. Es geht um fairen Wettbewerb.
Das sage ich auch in Richtung FDP.
({8})
Mich hat ein Unternehmer angeschrieben, der ein tarifgebundenes Dienstleistungsunternehmen in der Textilbranche mit 1 400 Mitarbeitern betreibt. Sie bezahlen
9 Euro pro Stunde. Dieser Unternehmer schrieb mir:
Mein persönliches Ziel ist es, die Ausgangsbedingungen
für alle Unternehmen der Branche vergleichbar zu machen und dafür zu sorgen, dass zumindest ansatzweise
faire Löhne gezahlt werden. Ein Mindestlohn wäre hierfür meines Erachtens ein sehr gutes Instrument. - Diese
Zuschrift ist kein Einzelfall. An diesen Zuschriften von
ehrlichen, vernünftigen und fairen Arbeitgebern merken
wir, dass wir Rückenwind für unsere Position bekommen. Auf der Seite dieser Arbeitgeber stehen wir und
fordern einen Mindestlohn.
({9})
Letzter Punkt. Es geht um die Menschen, die Menschenwürde. Was ist es eigentlich für eine Botschaft,
wenn ich für meine Schufterei, für das, was ich den ganzen Tag leisten muss, am Ende des Tages 4 Euro pro
Stunde mit nach Hause nehme? Das entwertet doch mein
ganzes Selbst. Das entwertet die Menschen. Sie haben
ursprünglich die Bereitschaft, zu arbeiten und sich nicht
zu Hause hinzusetzen, um auf den nächsten Scheck vom
Sozialamt oder wie das heute genannt wird - die Leute
sagen immer noch Sozialamt dazu - zu warten. Die
Frage ist doch: Was ist meine Arbeit wert? Deswegen
freue ich mich, dass der DGB sagt: Ihr verdient mehr.
Deswegen keine Sorge, Frau Pothmer, es wird einen
Mindestlohn geben.
Vielen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dirk Niebel.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Nachdem schon gestern vonseiten der Regierung und der SPD-Fraktion
nicht der Unterschied zwischen einem Auffangmindestlohn und einem gesetzlichen Mindestlohn erklärt werden
konnte - weil ein hohes Maß an Transparenz wahrscheinlich deutlich gemacht hätte, dass das Gleiche gemeint ist -, war es auch heute wieder nicht möglich, von
den Rednern der SPD auf eine Frage, die die Menschen
bestimmt interessiert, eine Antwort zu bekommen. In der
gestrigen Debatte hat der Minister für Arbeit und Soziales gesagt:
Da kamen Arbeitgeber aus der Wachdienstbranche
zu mir und sagten: Wir wollen unseren Leuten anständige Löhne, 7 Euro, zahlen. Was sollen wir aber
machen, wenn ein anderes Unternehmen die Arbeit
für 2,50 Euro macht?
Nun hat der Kollege Volker Wissing, unser Obmann
im Finanzausschuss, die Bundesregierung gefragt, wie
sie denn als Arbeitgeber bei der Bewachung der Ministerien in der Bundeshauptstadt damit umgeht.
({0})
Hier erfahren wir, die Bundesregierung, der Arbeitsminister fordert einen Mindestlohn von 7,50 Euro - und
zahlt für den Wachschutz 5,25 Euro.
({1})
Was Sie hier vertreten, ist schlichtweg unglaubwürdig,
heuchlerisch. Sie sind Pharisäer.
({2})
Sie belügen und betrügen die Menschen,
({3})
vor der Wahl bei der Mehrwertsteuer, nach der Wahl
beim Mindestlohn - den ich nach wie vor für falsch
halte. So können Sie mit den Menschen in diesem Land
nicht umgehen.
({4})
Frau Kollegin Nahles, bitte schön.
Herr Niebel, mein Gott, muss es der FDP in Bremen
schlecht gehen, denke ich mir, wenn ich Ihre Reden so
höre. Das ist wirklich Wahlkampf pur.
Ich will Ihnen aber in der Sache gerne antworten. Sie
fragen da ja sehr penetrant immer wieder nach, und wir
sind um Antworten nicht verlegen. Es ist schlichtweg so,
dass wir uns ganz klar dafür ausgesprochen haben, dass
branchenbezogene Mindestlöhne Priorität haben.
({0})
Wir halten es für wichtig, dass wir den Tarifpartnern so
viel Wertschätzung entgegenbringen, wie das richtig ist.
Das heißt, wenn die Tarifpartner in einer Branche einen
Tarif vereinbaren, dann gilt dieser auch für den Gesetzgeber, für uns auf der politischen Ebene. Es ist aber absehbar, dass es Branchen geben wird, die, vor allem weil
die Arbeitgeber sich verweigern, von einem branchenspezifischen Mindestlohn nicht erfasst werden.
({1})
- Herr Göhner, machen Sie keine Zwischenrufe, melden
Sie sich! - Beispielsweise haben die Arbeitgeber des Friseurhandwerks in Rheinland-Pfalz seit 2000 keinen
Tarifvertrag mehr abgeschlossen; sie weigern sich. Mittlerweile werden im Friseurhandwerk von sechs Bundesländern keine Tarifverträge mehr abgeschlossen.
({2})
Uns sind die Menschen, die in den Branchen arbeiten,
in denen die Arbeitgeber blockieren, genauso viel wert
wie die in den Branchen, in denen es am Ende einen
branchenbezogenen Mindestlohn gibt.
({3})
Deswegen wollen wir die Menschen auffangen. Dafür
brauchen wir auch in diesen Branchen eine untere
Grenze. Das ist, mit Verlaub, der Auffanglohn, von dem
die ganze Zeit die Rede ist. Damit möchten wir die Arbeitgeberblockade beim Mindestlohn aufheben.
({4})
Lassen Sie mich abschließend die Bemerkung machen: Herr Kollege Niebel, den politischen Gegner des
Lügens und Betrügens zu bezichtigen, gehört nicht zum
parlamentarischen Sprachgebrauch.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht wird. - Frau Kollegin
Enkelmann, bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Linksfraktion verlangt sofortige Abstimmung.
({0})
Wir sind der Auffassung, die Positionen zu diesem
Thema sind wirklich in ausreichendem Maße ausgetauscht worden. Inzwischen hat die Linksfraktion schon
ihren dritten Antrag in Sachen Mindestlohn vorgelegt.
Es ist daher an der Zeit, endlich eine Entscheidung zu
treffen. Unser Antrag ist kurz, knapp und sehr übersichtlich. Jeder kann ihn, ohne eine intellektuelle Höchstleistung vollbringen zu müssen, verstehen. Wir haben sehr
lange über dieses Thema diskutiert. Die Fakten liegen
auf dem Tisch. Lassen Sie uns abstimmen. Schluss mit
der Eierei in diesem Parlament!
({1})
Die Situation ist übersichtlich: Die FDP hat heute erneut ihr Nein zum Mindestlohn bestätigt und deutlich
gemacht, dass sie den Kündigungsschutz einschränken
möchte. Das ist, wie ich denke, eine klare Ansage. Das
muss man so akzeptieren.
Was die CDU/CSU betrifft, ist es etwas schwieriger:
Es gibt offenkundig eine klare Mehrheit gegen die Einführung von Mindestlöhnen. Dennoch führt zum Beispiel die CDA eine Unterschriftensammlung durch.
Darüber hinaus habe ich in dieser Woche einen Artikel
von Norbert Blüm gelesen, in dem er sich für die Einführung eines Mindestlohns ausgesprochen hat. Offensichtlich ist dieses Thema für Sie nicht gerade einfach.
Nichtsdestotrotz könnte sich die Mehrheit heute entscheiden.
({2})
- Das ist zur Geschäftsordnung.
({3})
Das Bündnis 90/Die Grünen hat gefordert, dass
schnell gehandelt werden soll. Das können wir mit einer
sofortigen Abstimmung tun.
({4})
Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD,
({5})
der Text unseres Antrags dürfte Ihnen sehr vertraut sein,
sodass Sie sich nicht weiter damit auseinandersetzen
müssen. Das haben Sie nämlich dank Ihrer Unterschriftenkampagne bereits getan.
({6})
Sie fordern im Rahmen Ihrer Unterschriftenkampagne
ein klares Ja zur Forderung unseres Antrags. Ich finde,
das sollten Sie heute deutlich machen. Lassen Sie Ihren
Worten endlich Taten folgen. Stimmen Sie unserem Antrag heute zu. Die sofortige Abstimmung ist möglich.
Das sollten wir auch tun.
Danke.
({7})
Zur Erwiderung auf diesen Geschäftsordnungsantrag
hat sich der Kollege Klaus Brandner gemeldet, bitte
schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um es klar zu sagen: Wir wollen Mindestlöhne. Wir wollen Armutslöhne in diesem Land verhindern.
({0})
Wir wollen gute Bezahlung für gute Arbeit.
({1})
Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Wir sagen ganz
deutlich: Dort, wo die Tarifautonomie nicht zu den erhofften Ergebnissen führt, sondern zur Folge hat, dass
gar keine oder unbefriedigende Tarifverträge geschlossen werden, ist der Gesetzgeber gefordert, tätig zu werden. Auch daran gibt es keinen Zweifel.
({2})
Wir befinden uns in guten Gesprächen und führen
Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner,
({3})
der in der gestrigen Debatte erneut erklärt hat, dass er
gegen Lohndumping ist. Wir sind auf dem Weg zu einem
fairen Kompromiss.
Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich darauf hinweisen, dass diese Debatte mit Blick auf den bevorstehenden 1. Mai stattfindet. Das Motto des 1. Mai lautet zu
Recht: „Du hast mehr verdient!“
({4})
Die Menschen in diesem Land haben es verdient, dass
wir eine ehrliche, faire und angemessene Debatte über
dieses Thema führen.
({5})
Weil wir verantwortungsbewusst handeln müssen,
dürfen wir keine Schnellschüsse organisieren.
({6})
Der vorliegende Antrag muss an die Fachausschüsse
überwiesen und dort angemessen beraten werden. In den
Ausschüssen werden wir die richtigen Antworten finden.
Deshalb bitte ich Sie, diesen Antrag an die zuständigen
Ausschüsse zu überweisen.
({7})
Zunächst möchte ich fragen: Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? - Das ist, wie ich
sehe, nicht der Fall.
Die Fraktion Die Linke hat soeben beantragt, über ihren Antrag auf Drucksache 16/4845 mit dem Titel
„Deutschland braucht Mindestlöhne“ heute in der Sache
abzustimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales und mitberatend
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die
Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Überweisung ist somit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen beschlossen. Damit stimmen wir heute nicht über den Antrag auf
Drucksache 16/4845 ab.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Sicherung der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus und in einer
Entziehungsanstalt
- Drucksache 16/1110 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus und in einer
Entziehungsanstalt
- Drucksache 16/1344 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/5137 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({1})
Jörg van Essen
Jörn Wunderlich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich zunächst
diejenigen, die an der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen und die Gespräche außerhalb fortzusetzen.
({2})
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben im letzten Monat hier im
Deutschen Bundestag ein wichtiges Gesetz beschlossen,
nämlich das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht.
Die Führungsaufsicht dient der Überwachung, Leitung,
Lenkung und Hilfe nach einer Straftat oder der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik.
Mit dem Gesetz, das wir heute hier beschließen, setzen wir einen Schritt früher an. Wir verbessern nämlich
die fachgerechte Behandlung psychisch kranker oder
suchtkranker Straftäter während des Maßregelvollzugs.
Diese Reform ist aus zwei Gründen notwendig: Erstens
wollen wir es den Ländern ermöglichen, die Kapazitäten
des Maßregelvollzugs effizienter zu nutzen, um die hohe
Qualität der in Deutschland vorhandenen Behandlung
weiter sicherzustellen, und zweitens wollen wir den
Rechtsschutz derer verbessern, die einstweilig untergebracht sind.
Mehr Effizienz erreichen wir vor allem dadurch, dass
wir mehr Flexibilität schaffen. Bei der Unterbringung in
einer Entziehungsanstalt soll von der starren Reihenfolge - erst Maßregel-, dann Strafvollzug - in Einzelfällen abgewichen werden können; denn wie lange jemand
in einer Entziehungsanstalt bleiben muss, muss sich
nach Dauer seiner Therapie richten, also nach der Antwort auf die Frage, wie krank er ist, und nicht danach,
welche Freiheitsstrafe er bekommen hat. Alles andere
würde nämlich die unnütze Blockade eines wertvollen,
benötigten und auch teuren Therapieplatzes bedeuten.
Es kann deshalb sinnvoll sein, mit dem Strafvollzug
- und nicht, wie heute, mit dem Maßregelvollzug - zu
beginnen und die Therapie hinterher anzuschließen. Das
gilt im Übrigen auch für ausreisepflichtige Ausländer. Es
macht keinen Sinn, eine Therapie zu beginnen, von der
man weiß, dass man sie nicht abschließen wird.
({0})
- Weil es keinen Sinn macht, eine Therapie anzufangen,
die man nicht abschließen kann; das ist doch logisch.
Dann bringt sie nämlich nichts. Dies wäre vergeudeter
Platz und vergeudetes Geld. Wir brauchen also mehr
Flexibilität bei der Reihenfolge der Vollstreckung.
Auf Anregung des Bundesrates haben wir eine Regelung aufgenommen, die das Verbot der sogenannten
Reformatio in Peius betrifft, also den Grundsatz, wonach die Entscheidung bei Einlegung eines Rechtsmittels nicht zulasten des Betroffenen verschärft werden
soll. Das ist ja eine Schutzvorschrift für den Verurteilten.
Lassen Sie mich nur ganz kurz etwas dazu sagen, weil
das im Rechtsausschuss durchaus streitig war. Wenn
nach dem Urteil ein Angeklagter wegen Schuldunfähigkeit in der Psychiatrie untergebracht wird, er gegen das
Urteil Revision einlegt und in einer erneuten Hauptverhandlung dann festgestellt wird, dass er gar nicht schuldunfähig war, sondern schuldfähig ist, dann würde die
groteske Situation entstehen, dass er aus der Unterbringung entlassen werden muss, aber nicht mehr bestraft
werden kann, weil dann die Reformatio in Peius gelten
würde. Ich glaube, das kann nicht richtig sein. Es ist
rechtsstaatlich nicht geboten. Deswegen hat sich der
Rechtsausschuss insgesamt dazu verstanden, hier eine
Korrektur vorzunehmen.
Ein wichtiges Ergebnis für die Betroffenen - das habe
ich eben schon einmal gesagt - sind die Rechtsmittel
bei der einstweiligen Unterbringung. Künftig wird
nach sechs Monaten vom Oberlandesgericht darüber entschieden. Das ähnelt jetzt den Vorschriften zur Haftprüfung bei der Untersuchungshaft und wird dazu führen,
dass die Verfahren mit der gebotenen Schnelligkeit behandelt werden.
Meine Damen und Herren, mit dem heutigen Gesetzesbeschluss bringen wir eine Debatte zum Abschluss,
die mehr als zehn Jahre gedauert hat. Im Rechtsausschuss ist es uns gelungen, die Vorstellungen der Bundesregierung und des Bundesrates zu einer vernünftigen
Synthese zusammenzufügen. Dafür möchte ich mich bei
allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Dieser Dank
schließt neben den Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen auch die Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP ein.
Ich würde mich freuen, wenn wir das Gesetz hier im
Deutschen Bundestag mit einer ähnlichen Mehrheit wie
im Rechtsausschuss verabschieden würden; denn die
Gerichte und Kliniken warten seit längerer Zeit auf diese
Reform des Maßregelrechts. Wir brauchen mehr Flexibilität, um mit den vorhandenen Plätzen effizienter umgehen zu können. Das verbessert die Situation für die zu
Behandelnden, und das gibt zugleich mehr Sicherheit für
die Bevölkerung.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen
von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ja, ich gehe davon aus, dass wir diese
Neuregelung des Maßregelvollzugs heute mit großer
Mehrheit beschließen werden. Ich finde, das ist gut so,
weil viele der Dinge, die Sie angesprochen haben, ein
wirklicher Fortschritt sind.
Wir haben nun nach sechs Monaten ein Prüfungsverfahren beim Oberlandesgericht. Wie wir bei vielen
spektakulären Entscheidungen der Oberlandesgerichte
zur Untersuchungshaft sehen konnten, ist das dringend
notwendig. Ein Beispiel ist das Oberlandesgericht
Hamm. Dort haben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu lange gedauert. Deshalb ist es gut, dass es jetzt
Druck gibt und dass da, wo Menschen vorläufig die Freiheit entzogen wird, nach einem halben Jahr geprüft wird,
ob das weiter verantwortet werden kann oder nicht. Ich
halte es auch für einen besonderen Fortschritt, dass die
Erfolgsaussicht des Maßregelvollzugs in Zukunft strenger geprüft wird. Ich glaube, auch das ist richtig.
Trotz der von mir angesprochenen Fortschritte darf
vielleicht auch ein kritisches Wort gesagt werden. Die
Verantwortung für diesen Punkt liegt bei vielen, nicht
nur bei der jetzigen Regierung: Das Ganze hat eindeutig
zu lange gedauert. Diese Neuregelungen des Maßregelvollzugs hätten früher geschehen können und müssen;
({0})
denn wenn man sich die entscheidenden Urteile des
Bundesverfassungsgerichts anschaut, dann stellt man
fest, dass es da eines von 1985 und eines von 1994 gibt.
Daran sieht man, wie viel Zeit ins Land gegangen ist, die
eigentlich hätte besser genutzt werden können. Hier wird
ein wirklicher Fortschritt erzielt.
Trotz der grundsätzlichen Zustimmung will ich kurz
auf drei Punkte eingehen, weil wir als FDP-Bundestagsfraktion hier eine andere Auffassung haben.
Einen Punkt haben Sie bereits angesprochen: Das ist
§ 358 Abs. 2 StPO. Hier gibt es tatsächlich das mögliche
Problem der Reformatio in Peius. Frau Ministerin, Sie
haben den Sachverhalt dargestellt. Es ist richtig, dass
dies nur in wenigen Fällen zum Tragen kommen wird.
Wenn wir das anders regeln würden, dann hätte das zur
Konsequenz, dass die Staatsanwaltschaften in all diesen
Fällen Rechtsmittel einlegen müssten und die Justiz so
erheblich belasten würden. Ich glaube, das ist auch deshalb zu verantworten, weil in jedem Fall eine Strafe verhängt worden wäre; denn es ist festgestellt worden, dass
sich jemand grundsätzlich schuldig gemacht und gegen
die Gesetze verstoßen hat. Ich glaube, das Ganze ist deshalb so zu regeln, wie das im Gesetzentwurf tatsächlich
geschehen ist.
Ein Punkt, bei dem nicht nur wir als FDP Bedenken
hatten, war § 67 Abs. 2 StGB. Dort ist die Mindestdauer
beschrieben, zu der jemand verurteilt werden muss, bevor eine Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge stattfinden kann. Hier haben die Sachverständigen darauf
hingewiesen, dass die im Gesetz vorgesehenen drei
Jahre möglicherweise zu kurz sind. Das Ergebnis kann
sein, dass die Gefahr besteht, dass jemand länger in Freiheitsentzug ist, als das eigentlich von den Richtern vorgesehen war.
Ich bin sehr dankbar, dass wir in den Berichterstattergesprächen jetzt eine Lösung gefunden haben. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass dieser Fall
nicht eintreten darf und nicht eintreten wird. Ich glaube,
dass es außerordentlich gut und richtig ist, dass wir als
Opposition darauf gedrungen haben, dass ein solches Ergebnis nicht eintreten darf. Herr Kollege Montag, Sie haben dies auch unterstützt.
In der Sachverständigenanhörung hat ein Gesichtspunkt eine besondere Rolle gespielt, der in § 67 a Abs. 2
Satz 2 StGB geregelt ist. Es geht um die Frage, was wir
mit Sicherungsverwahrten machen. Ich unterstütze die
Sorge der angehörten Klinikleiter, die gesagt haben, man
dürfe Sicherungsverwahrte, die therapieunwillig seien
oder bei denen kein Therapieerfolg erzielt werden
könne, nicht in den Maßregelvollzug geben, der ohnehin
schon überlastet ist.
Es ist ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier die
Länderjustizverwaltungen in der Verantwortung sind.
Für psychisch kranke Sicherungsverwahrte, die den Zielen des Maßregelvollzuges nicht genügen, muss in einem Justizvollzugskrankenhaus eine entsprechende Abteilung eingerichtet werden. In Nordrhein-Westfalen
- ich komme aus Nordrhein-Westfalen - tun wir dies.
Ich halte dies für den richtigen Weg. In der Begründung
wurde auch auf diesen Sachverhalt hingewiesen.
Ich muss sagen, dass die Anregungen, die die FDPBundestagsfraktion gemacht hat, sich zumindest in der
Begründung wiederfinden, sodass wir dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen können, der - das will ich
unterstreichen - zu einem wesentlichen Fortschritt beim
Maßregelvollzug führen wird.
Allerdings sind auch die Länder - diese Bemerkung
muss zum Schluss ebenfalls gemacht werden - in der
Verantwortung. Probleme im Maßregelvollzug gibt es
unter anderem auch deshalb, weil nicht ausreichend
Plätze zur Verfügung stehen und er nicht ausreichend mit
Personal ausgestattet ist. Auch das sollte in einer solchen
Debatte gesagt werden.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
dem Kollegen van Essen in einem Punkt durchaus recht:
Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen werden,
hat eine lange Geschichte. Aber am Ende wird manchmal etwas, was lange dauert, auch gut.
Es fing im Jahre 1989 mit einer Beschlussempfehlung
des Deutschen Bundestages und der Aufforderung an die
Bundesregierung an, eine Novelle zur Änderung des
Maßregelvollzuges - das betraf die §§ 63 und 64 des
Strafgesetzbuches - vorzulegen. Eine Bund-LänderKommission wurde eingerichtet. Im Jahr 1997 präsentierte das Bundesjustizministerium den ersten Referentenentwurf und im Jahr 2000 den zweiten.
Dann zogen die Länder nach. Im Jahr 2001 präsentierte der Freistaat Bayern den ersten durchkonzipierten
Entwurf eines Gesetzes zum Maßregelvollzug. Dieser
Gesetzentwurf des Freistaates Bayern wurde vom Bundesrat übernommen und ist dann irgendwo hängen geblieben. Auf einer Konferenz der Länderjustizminister
und des Bundesjustizministers im Jahr 2002 wurden auf
der Grundlage dieses bayerischen Gesetzentwurfes gewisse Empfehlungen abgegeben. Dann dauerte es wieder
eine Weile - denn man muss manches auch in sich aufnehmen und verarbeiten -, bis im Frühjahr 2006 der
Bundesrat und die Bundesregierung fast zeitgleich differenzierte Gesetzentwürfe vorgelegt haben.
Warum schildere ich das so detailliert? Um klarzustellen, dass die Länder an diesem Gesetzgebungsverfahren
in der gleichen Weise beteiligt waren wie der Bund. Am
Ende kann man aber nicht zwei Gesetzentwürfe verabschieden, sondern nur einen. Das bedeutet aber nicht,
dass die Arbeit der Länder umsonst gewesen ist. Denn
wenn man die Gesetzentwürfe vergleicht, wird man sehr
schnell feststellen, dass insbesondere nach der Sachverständigenanhörung vieles von dem, was in den Länderentwürfen enthalten war, in den Entwurf der Bundesregierung übernommen worden ist. Es ist in der Tat gut,
was am Ende herausgekommen ist; die Frau Bundesjustizministerin hat dies dankenswerterweise schon angesprochen.
Nicht alles, was die Länder wollten, wurde übernommen. Die Änderung, § 63 Strafgesetzbuch - Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt - aufzuweichen,
wollten wir nicht übernehmen. Aber einen Änderungsvorschlag zu § 64 - Unterbringung in einer Entziehungsanstalt - hielten wir für durchaus sinnvoll. Bisher war
das eine Mussvorschrift. Es wird jetzt eine Sollvorschrift
werden. Das heißt, dass man den Richtern dort, wo die
Siegfried Kauder ({0})
Therapieaussicht relativ schwach ist, die Möglichkeit
gibt, die Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht anzuordnen. Das ist in Extremfällen
der Fall: Wenn beispielsweise ein ausländischer Staatsbürger die deutsche Sprache überhaupt nicht beherrscht,
wird es schwierig, bei ihm einen Therapieerfolg herbeizuführen. Das gilt auch dann, wenn das Therapieergebnis aus anderen Gründen „wackelig“ erscheint.
Wie schon gesagt wurde, sind die Maßregeleinrichtungen mehr als ausgebucht. In den Jahren 1996 bis
2006 war sowohl bei der Unterbringung in der Psychiatrie als auch in Entziehungsanstalten eine Steigerungsrate von jeweils über 100 Prozent zu verzeichnen. Darum müssen wir helfend eingreifen.
Ein Punkt - das wurde zu Recht schon angesprochen stellt eine deutliche Verbesserung dar. Das ist der teilweise Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor einer
Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 des Strafgesetzbuches. Diese Regelung ist wohlüberlegt. Es ist wenig sinnvoll, einen Straftäter zuerst erfolgreich einer Therapie zu unterziehen,
wenn ein Überhang bei der Freiheitsstrafe nach der Maßregel angeschlossen werden müsste.
Man kann lange darüber debattieren, wann die richtige Einstiegsschwelle erreicht ist, um den Vorwegvollzug für sinnvoll zu halten. Kollege Montag wird sicherlich die entsprechende Vorschrift des § 67 Abs. 2 des
Strafgesetzbuches kritisieren. Erlauben Sie mir dazu einen Hinweis: Auch das ist als Sollvorschrift ausgestaltet.
Stellt der Tatrichter fest, dass ein Vorwegvollzug zusammen mit der Maßregel zu einer Verlängerung der gesamten Haft führen wird, dann muss er den Vorwegvollzug
nicht anordnen.
§ 67 d Abs. 5 des Strafgesetzbuches ist ebenfalls eine
außerordentlich wichtige Vorschrift. Bisher konnte das
Gericht erst nach einem Jahr der Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt prüfen, ob die Fortsetzung sinnvoll
ist oder ob die Unterbringung abgebrochen werden
muss. Das wird schon früher möglich sein. Das Gericht
kann dann jederzeit feststellen, ob eine Therapiemaßnahme greift, und sie gegebenenfalls abbrechen und den
Täter in den Vollzug überführen.
Ein Wechsel von einer Therapiemaßnahme in die andere ist nach dem Gesetzentwurf ebenfalls möglich. Das
ist außerordentlich sinnvoll. Des Weiteren wurden unter
Beachtung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
- Band 91, S. 1 ff. - einige weitere Vorschriften eingeführt. Die Entscheidung stammt zugegebenermaßen aus
dem Jahr 1994; insofern besteht dringend Regelungsbedarf.
Die Zeit im Maßregelvollzug muss also auch dann auf
die Strafe angerechnet werden, wenn die Ursache für
den Therapieabbruch in der Persönlichkeit und im Verhalten des Untergebrachten liegt. Bisher durfte eine
Anrechnung nur dann nicht erfolgen, wenn der Untergebrachte therapieunwillig war. Soweit er therapieunfähig war, durfte die Anrechnung nicht versagt werden. Insofern gab es Regelungsbedarf unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Ein Kritikpunkt, der ebenfalls schon andiskutiert worden ist, bleibt noch offen: § 358 Abs. 2 der Strafprozessordnung. Jetzt wacht auch der Kollege Montag auf.
({1})
Wir haben dieses Thema schon im Rechtsausschuss beraten. Es geht um das sogenannte Verbot der Schlechterstellung. Legt nur der Angeklagte gegen ein Urteil
ein Rechtsmittel ein, gilt der Grundsatz, dass er sich eigentlich nicht verschlechtern darf, sondern sich nur verbessern können muss. Aber das Verbot der Reformatio in
Peius hat keinen Verfassungsrang. Das Rechtsstaatsgebot gebietet ein Verbot der Reformatio in Peius nicht.
Deswegen gibt es schon nach geltendem Recht Durchbrechungen. Darin wird mir der Kollege Montag sicherlich recht geben. Ein Blick in die §§ 331 Abs. 2 und
358 Abs. 2 der Strafprozessordnung in der bisherigen
Fassung zeigt, dass es dort schon Durchbrechungen gibt.
Legt nämlich ein Angeklagter gegen ein Urteil ein
Rechtsmittel ein, kann er sich in der Rechtsmittelinstanz
schon nach jetzigem Recht verschlechtern, wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass neben der Strafe eine
Maßregel nach §§ 63 oder 64 des Strafgesetzbuchs anzuordnen ist.
Das heißt, schon nach geltendem Recht kann ein
Richter die Unterbringung eines Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt oder einer psychiatrischen Klinik anordnen, auch wenn dieser nur zu seinen Gunsten Rechtsmittel eingelegt hat. Wenn dieser Weg erlaubt ist, stellt
sich die Frage, warum nicht auch der umgekehrte Weg
möglich sein soll; denn sonst hätten wir in der Tat das
unerquickliche Ergebnis, dass eine Maßregel der Unterbringung nach § 63 des Strafgesetzbuchs in der psychiatrischen Klinik aufgehoben würde und nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht das Gericht erster
Instanz keine andere Entscheidung treffen könnte. Das
wäre unbillig. Deswegen ist auch in diesem Punkt das
Verbot der Reformatio in Peius zu durchbrechen.
Das Gesetzeswerk insgesamt hat zwar lange gedauert,
aber wie Sie sehen, ist es im Ergebnis gut. Deswegen
kann man dem Gesetzentwurf guten Gewissens zustimmen, worum ich bitte.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält einen wichtigen Grundgedanken: Gefängnisse machen krank. Dieser
Gedanke wird leider nicht vertieft. Die Konsequenz
wäre nämlich: Therapie statt Strafe, psychisch- und
suchtkranke Täter therapieren und nicht bloß einsperren.
Es läge auch im Interesse der Öffentlichkeit, dass kranke
Täter im Knast nicht noch kränker werden und weitere
Straftaten begehen können.
Den Gesetzentwurf durchziehen leider vorwiegend
ökonomische Überlegungen. Die Einrichtungen des
Maßregelvollzugs sollen effektiver arbeiten. Das ist ein
gutes Vorhaben, aber das, was die Regierung plant, schadet den Therapiebedürftigen und der Öffentlichkeit. Man
kann nicht nur mit kurzfristigen Kosteneinsparungen
argumentieren, sondern muss auch längerfristige Überlegungen anstellen. Das vermissen wir.
Eine wichtige Änderung sieht jetzt die Möglichkeit
vor, bei Strafen über drei Jahren erst einen Teil der Haftstrafe abzusitzen. Danach soll therapiert werden. Der
Grund: Ein Gefängnisaufenthalt nach der Therapie gefährde den Therapieerfolg. Mit anderen Worten: Knast
macht krank. Deswegen wurden die Insassen im Zweifelsfall länger im Maßregelvollzug belassen. Aber das ist
der Regierung nun zu teuer geworden. Nicht aus fachlichen, sondern aus rein finanziellen Erwägungen wollen
Sie die alte Regel umkehren.
({0})
Sie wissen, was Experten - auch in der Anhörung - gesagt haben: Gefängnis wirkt sich negativ auf die Therapiewilligkeit eines Menschen aus. An Drogen kommt
man im Knast gut ran; auch das wissen Sie. Ob das die
richtige Grundlage für eine Therapie ist, Herr Kauder,
wage ich zu bezweifeln.
Ich will noch einen anderen kritischen Punkt nennen;
die Ministerin hat ihn angesprochen. Für Menschen ohne
deutschen Pass soll in Zukunft gelten: erst Knast, dann
keine Behandlung, dann Abschiebung. In der Gesetzesbegründung ist von durchreisenden Drogenkurieren, die
selbst drogenabhängig sind, die Rede. Diese mag es ja
geben, aber es gibt auch drogenkranke Menschen aus
Einwandererfamilien, die hier in der dritten Generation
leben. Ich meine, dass sie hier behandelt werden müssen
und nicht in dem Land, aus dem sie ursprünglich kommen. Es ist meiner Meinung nach ziemlich zynisch,
diese Aufgabe anderen Gesellschaften aufzudrücken und
diesen Menschen hier nicht zu helfen. Denn sie sind
krank.
({1})
Der Gesetzentwurf enthält einige richtige Überlegungen, etwa über die regelmäßigen Begutachtungen der im
Maßregelvollzug Untergebrachten. Wir sind jedoch der
Meinung, dass diese Begutachtungen häufiger geschehen sollten. Aber das lassen wir einmal dahingestellt.
Nur: Damit werden Sie das Problem der Überbelegung, die hier schon angesprochen wurde, nicht lösen.
Die Belegungszahlen in den therapeutischen Einrichtungen haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Warum ist das so? Darauf hat die Regierung leider keine
Antwort gegeben. Ich gebe zu: Auch wir haben darauf
keine einfache Antwort. Aber wir haben eine Einsicht.
Der Zusammenhang zwischen sozialer Not und Suchtkrankheit ist ja bekannt. Zu fragen wäre also, ob Perspektivlosigkeit als Folge neoliberaler Politik - ich sage
nur Hartz IV, Armut per Gesetz - immer mehr Menschen
in psychische Krankheiten und in die Sucht treibt.
({2})
Deswegen lautet mein Vorschlag, Nägel mit Köpfen
zu machen und diesen Gesetzentwurf nicht vorschnell
aus Kostengründen durchzupeitschen.
({3})
Stimmen Sie heute gegen den Gesetzentwurf. Fangen
wir die Debatte noch einmal von vorne an.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist im Kern
und im Grundsatz gut. Er ist durch die Beratung im Parlament und durch die Arbeit im Rechtsausschuss in einigen wesentlichen Punkten noch verbessert worden. Ich
will an dieser Stelle zu Ihnen, Frau Kollegin Jelpke, sagen: Ich bin fast geneigt, zu bewundern, wie Sie es
schaffen, nun wirklich jedes Thema in diesem Hause mit
Hartz IV in Verbindung zu bringen.
({0})
Was nun der Maßregelvollzug mit dem psychiatrischen
Krankenhaus und mit der Entziehungsanstalt mit
Hartz IV zu tun hat, erschließt sich niemandem außer Ihnen.
({1})
Natürlich hat es viel zu lange gedauert, bis dieser Gesetzentwurf vorlag. Ich will an dieser Stelle daran erinnern: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1994
entschieden, dass in eine Entziehungsanstalt nur derjenige verbracht werden kann, bei dem konkrete Heilungschancen bestehen, und dass ein solcher Aufenthalt
zu beenden ist, wenn sich zeigt, dass eine Heilung nicht
möglich ist. Warum es eigentlich 14 Jahre gedauert hat,
bis diese Einsicht heute gesetzlich verankert wird, ist im
Nachhinein nur schwer nachzuvollziehen. Jeder, der daran beteiligt war - auch wir -, sollte sich da an die eigene Nase fassen.
Für die Verzögerung hat es natürlich Gründe gegeben.
Darüber habe ich aber eine etwas andere Auffassung als
der Kollege Kauder. Die Verzögerung hängt zum Teil
auch damit zusammen, dass in vielen wichtigen Punkten
die Vorschläge der Länder und die Vorschläge des BunJerzy Montag
des in einem unversöhnlichen Gegensatz standen. Deswegen mussten alle Vorschläge der Länder, die im Widerspruch zu den bundespolitischen Rechtsauffassungen
standen, abgelehnt werden. Aus dieser Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern resultiert unter anderem die Länge des Verfahrens.
({2})
Ich will einige Punkte nennen, die die Vorteile dieses
Gesetzentwurfs deutlich machen. Ein Aufenthalt in einer
Entziehungsanstalt nur bei konkreter Heilungsaussicht
ist ein Fortschritt. Dass die Einweisung in eine Drogenentziehungsanstalt Ausländern, die sprachunkundig sind,
nicht verweigert werden kann, ist ebenfalls ein Fortschritt, der durch dieses Gesetz bewirkt wird. Dieser
Punkt war bisher durchaus streitig. Ich halte es für notwendig, dass bei Freiheitsstrafen über drei Jahren - wir
hätten gerne eine Grenze von vier Jahren gehabt ({3})
der Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe angewendet
wird. Denn: Wenn zum Schluss noch eine Behandlungsbedürftigkeit besteht, dann hat der Betroffene die Möglichkeit, nach dieser Behandlung in einer Entziehungsanstalt sofort in Freiheit zu kommen. Es ist gut, dass wir
festgehalten haben, dass dem Betroffenen durch die
recht komplizierten Anrechnungen kein Nachteil erwachsen soll.
Ich will noch Folgendes klarstellen: Wenn die nachfolgende Maßregel bei ausreisepflichtigen Ausländern
wegfallen würde, wie Sie, Frau Ministerin Zypries, gesagt haben, dann würden die Grünen diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir haben im Rechtsausschuss
genau diese Vorschrift geändert. Jetzt heißt es, dass eine
solche Möglichkeit der Versagung der Maßregel nur besteht, wenn ein Ausländer ausreisepflichtig ist und die
Ausreise sicher zu erwarten ist. Damit ist sichergestellt,
dass all diejenigen, bei denen Ausreisehindernisse bestehen - das sind sehr viele; diese Menschen sind zwar ausreisepflichtig, aber sie können nicht ausreisen und bleiben im Lande -, selbstverständlich in den Genuss einer
Drogenentziehungsmaßnahme kommen können.
Zum Schluss will ich noch eines sagen: Natürlich ist
auch dieser Gesetzentwurf mit einem Fehler bemakelt.
Ich beziehe mich auf § 358 Abs. 2 der Strafprozessordnung. Die Bundesregierung war einmal der Meinung:
Der Vorschlag höhlt das Verschlechterungsverbot, einen fundamentalen Grundsatz des Strafprozessrechtes,
der zu einer fairen Prozessgestaltung beiträgt, in unvertretbarer Weise aus.
({4})
Dieser Satz stammt aus dem Hause Zypries. Anderthalb
Jahre später heißt es aus dem gleichen Hause: Die Bundesregierung steht der Prüfung des Vorschlags der
Durchbrechung des Verschlechterungsverbots aufgeschlossen gegenüber.
Wir haben gesagt, dass wir das nicht wollen, und haben deshalb einen Änderungsantrag gestellt. Er ist von
Ihnen leider abgelehnt worden. Aber das hindert uns
nicht daran, dem Gesetzentwurf zur Reform des Maßregelrechts zuzustimmen; denn es ist ein guter Gesetzentwurf geworden.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich dem Kollegen Joachim Stünker von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Notwendigkeit und Einrichtung des Maßregelvollzugs
folgt aus dem ehernen Grundsatz, dass es keine Strafe
ohne Schuld gibt. Darum ist es notwendig, bestimmte
Täter, die straffällig geworden sind, ohne dass man ihnen
einen Schuldvorwurf machen kann, in einem entsprechenden Vollzug, entweder in einem psychiatrischen
Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt, zu therapieren. Schließlich gibt es ja auch noch die Möglichkeit,
beides sozusagen nebeneinander anzuordnen.
Dass es diese Möglichkeiten geben muss, steht, Frau
Jelpke, wie ich glaube, seit gut 100 Jahren im StGB, das
heißt also schon zu Zeiten, als über Hartz IV und solche
Dinge noch kein Mensch in diesem Land gesprochen
hat.
({0})
Das hat sich ganz einfach und notwendigerweise aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und Bedingungen ergeben. Es gab auch Zeiten, zu denen die entsprechenden
Einrichtungen stärker belegt waren als heute. Ich weiß,
worüber ich rede; denn ich habe fast 25 Jahre im Bereich
des Strafrechts gearbeitet. Bezüglich der Zahl der Betroffenen kann man eine Wellenbewegung mit Tälern
und Höhen konstatieren. Hier nun aber einen Zusammenhang mit Hartz IV herzustellen, ist wirklich absurd.
Ich warte nun wirklich seit fast zwei Jahren darauf, in
einer rechtspolitischen Debatte einmal eine gehaltvolle
Rede von der Fraktion Die Linke hier im Deutschen
Bundestag zu hören.
({1})
Sie entziehen sich ja nun wirklich laufend der Fachdiskussion. Vorschläge werden überhaupt nicht unterbreitet.
Die Personen, die bei Ihnen handeln, wechseln ständig.
Wenn Sie wirklich ernsthaft mitdiskutieren wollen, dann
tun Sie es bitte, aber nicht so, wie Sie es heute hier wieder versucht haben.
Aus dem Grundsatz, den ich eben genannt habe, ergibt sich ein zweiter Ansatz: Herr Kollege Montag, Sie
müssen es doch der deutschen Öffentlichkeit irgendwie
deutlich oder begreifbar machen, was Sie mit jemanden,
der einen Totschlag begangen hat, aber bei dem nach
§ 20 die Schuldunfähigkeit festgestellt wurde und dessen
Unterbringung angeordnet wurde, dann, wenn bei einer
von ihm eingelegten Revision festgestellt wird, er war
nicht schuldunfähig, sondern schuldfähig, geschehen
soll. Wollen Sie den nun laufen lassen, oder was wollen
Sie mit ihm machen?
({2})
- Nein, ich möchte zum Schluss kommen. - Das heißt
also, die von Ihnen hier begonnene Grundsatzdiskussion
geht ein Stück weit an den Notwendigkeiten vorbei.
Deshalb haben wir uns auf Anregung der Länder sehr
wohl dazu entschieden, die Durchbrechung des Verschlechterungsgrundsatzes in diesem Fall zu gestatten.
Herr Kollege Stünker, der Kollege Montag wollte
eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich hatte schon gesagt, ich würde gerne zum
Schluss kommen, weil ich gleich einen Termin habe.
Deshalb habe ich heute Mittag einfach nicht mehr die
Zeit dazu. Es tut mir leid.
Schließlich möchte ich noch anmerken, dass es sehr
lange gedauert hat - das ist richtig -, bis diese Novellierung erfolgt ist. Vielleicht bedurfte es erst der Großen
Koalition, um vernünftige Gespräche mit den Ländern
darüber führen zu können. Im Ergebnis können wir feststellen, dass sich jetzt einiges aufeinander zubewegt hat,
was über einen langen Zeitraum sehr unversöhnlich gegenüberstand.
Die Praxis wird froh sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit diesen Regelungen ihr ein flexibleres
Vorgehen ermöglichen. Das wird die Anwendung dieser
Maßnahme in der Praxis wesentlich erleichtern.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die faire und sachliche Beratung und freue mich, dass diesem Gesetzentwurf eine breite Mehrheit zustimmen wird.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Jerzy Montag.
Danke, Herr Präsident. - Lieber Kollege Stünker,
nachdem Sie mich persönlich mit einer rhetorischen
Frage angesprochen haben, hätte ich es schon für gut befunden, wenn Sie mir auch Gelegenheit gegeben hätten,
darauf zu reagieren. So will ich es nun auf diese Art und
Weise tun.
Ich gebe Ihnen recht: Es ist nicht einfach, in einer
Diskussion Rechtsunkundigen klarzumachen, warum
wir alle gemeinsam immer noch im Grundsatz der Auffassung sind, dass die Position von jemandem, der vor
Gericht stand und über den ein Urteil gesprochen wurde,
dann, wenn dieser bei der höheren Instanz Beschwerde
einlegt, nicht verschlechtert werden soll. In den hier zu
diskutierenden Fällen führt das ja zu dem Ergebnis, dass
dann, wenn seiner Beschwerde vor Gericht stattgegeben
wird, er freigelassen werden muss, obwohl er schuldig
geworden ist.
Wir haben noch etliche andere Grundsätze im deutschen Strafrecht und Strafprozessrecht, zum Beispiel den
Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten. Der Herr
Bundesinnenminister Schäuble, der das mit der Unschuldsvermutung verwechselt hat, hat letzte Woche in
der Öffentlichkeit gesagt: Wir stehen hier auf dem
Standpunkt: Es ist besser, zehn Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen einzusperren. - Ich frage
Sie: Wie wollen Sie den Menschen eigentlich erklären,
dass wir ein Rechtssystem haben und verteidigen, in
dem es möglich ist, dass man zehn Schuldige laufen
lässt?
({0})
Es gibt im Strafrecht schwierige Fragen. Manchmal
muss man auch gegen die Vox populi anargumentieren.
Aber dass jemand, der sich bei Gericht beschwert, deswegen nicht schlechtergestellt werden soll, ist ein
Grundsatz, den wir nicht verlassen sollten.
({1})
Herr Kollege Stünker zur Erwiderung, bitte.
Es wäre ein bisschen kollegialer gewesen, Herr
Montag, wenn Sie mir vorhin zugehört hätten. Aber
okay, dann muss ich es noch einmal sagen.
Das Problem ist ein ganz einfaches. Sie sagen nicht
die volle Wahrheit. Natürlich kann der Rechtsstaat ein
solches Ergebnis nicht hinnehmen. Wenn wir dieses Instrument, über das wir hier reden, nicht schaffen würden,
würde das bedeuten, dass die Staatsanwaltschaft in jedem dieser Fälle ebenfalls Revision einlegen würde. Das
ist ein Beispiel für Bürokratie. Mehr wird das im Ergebnis nicht bringen.
({0})
Man muss sich bei diesen Dingen eben ein bisschen
auskennen. Das wird ein Annex sein. Jeder Staatsanwalt
wird bei einer Verurteilung nach § 20 StGB einfach sagen: Ich lege das Rechtsmittel der Revision ein. - Er
kann es gar nicht anders machen.
Herr Montag, bauen Sie also nicht einen Popanz auf!
Das gehört hier nicht hin. Es lohnt sich nicht.
({1})
Jetzt schließe ich die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5137, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/1110 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion der FDP, der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5137, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1344
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
31 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Volker Beck ({1}), Grietje Bettin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Leben und Arbeiten mit Kindern möglich
machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Krista Sager, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken - Rechtsanspruch
auf Kindertagesbetreuung ausweiten
- Drucksachen 16/453, 16/552, 16/1673, 16/3219 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Caren Marks
Ina Lenke
Diana Golze
Ekin Deligöz
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Carl-Ludwig Thiele, Sibylle Laurischk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sofortprogramm für mehr Kinderbetreuung
- Drucksache 16/5114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Eva Möllring von der CDU/CSU
das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin sehr dankbar dafür, dass ich als Erste das Wort habe,
obwohl es um Anträge der Oppositionsfraktionen geht.
({0})
Das zeigt deutlich, dass wir bei diesem Thema die Meinungsführerschaft übernommen haben.
({1})
Das kann man auch an so einer formellen Stelle einmal
klarmachen. - Vielen Dank.
In die Debatte ist - das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, weil Sie alle an dem Thema interessiert sind - in
den letzten Monaten eine unglaubliche Bewegung gekommen. Da hat sich in kurzer Zeit mehr getan als in
den Jahren zuvor. Ich selber habe in der Kommune lange
Jahre Verantwortung getragen und verzweifelt für mehr
Kinderbetreuung gekämpft. Die Uhren haben mehr oder
minder stillgestanden. Jetzt haben wir etwas erreicht.
Das begrüßen natürlich auch die Kollegen der SPDFraktion. Das weiß ich, und da sitzen wir alle in einem
Boot. Ich danke der Familienministerin dafür, dass wir
hier auf einem so guten Weg sind.
({2})
Sie hat eine Lawine losgetreten, und nicht nur das: Sie
hat auch Nägel mit Köpfen gemacht; was sie getan hat,
war ein erster Meilenstein. Sie hat die Vertreter von
16 Ländern und vor allen Dingen die Vertreter der Kommunen an einen Tisch gebracht. Wir, die CDU, haben
immer gesagt: Kinderbetreuung fällt in erster Linie in
die Verantwortung der Kommunen. Deswegen ist es
so wichtig, dass man die Kommunen zwecks Klärung
der Finanzierungswege an den Tisch holt.
Die Ministerin hat das Ziel - die Zahlen brauche ich
Ihnen nicht zu nennen; jeder hier kennt sie auswendig -,
die Notwendigkeit und die Aufgabenverteilung geklärt.
Deswegen müssen wir heute nicht mehr darüber diskutieren - dafür bin ich dankbar -, ob Angebote zur Betreuung unserer Kinder - damit meine ich auch die Kinder bis zu drei Jahren - in Deutschland notwendig sind.
Gott sei Dank ist diese Frage geklärt.
({3})
Der nächste Schritt muss jetzt sein, die Frage zu beantworten, wie wir die Aktivitäten und die Mittel so
steuern können, dass die Familien diejenigen Angebote
bekommen, die sie für ihre Lebensplanung brauchen.
Wie wir alle wissen, ist der Bedarf vor Ort völlig unterschiedlich.
Ich möchte das einmal anhand meines Wahlkreises
- er ist ziemlich groß; ich weiß, dass auch andere Kollegen große Wahlkreise vertreten - erläutern.
Dort gibt es Eltern, deren Arbeitgeber groß ist. Diese
Eltern wollen, dass sich die - staatlichen - Kinderbetreuungsplätze möglichst unweit der Bundesstraße befinden,
auf der sie zu ihrem Arbeitsplatz fahren. Noch lieber
wäre ihnen, wenn die Kinderbetreuung in demjenigen
Betrieb wäre, in dem sie arbeiten.
({4})
Dafür hat ihr - womöglich sehr sozialer - Betrieb bisher
allerdings noch nicht gesorgt.
({5})
- Frau Lenke, Sie erklären nachher, was für ein Betrieb
das ist. - So viel zur Problematik der Betriebskindergärten.
Außerdem gibt es Familien, die in kleinen Gemeinden
auf dem Land leben. Dort kann man gar keine staatlichen Krippenplätze vorhalten, weil der Bedarf vollkommen unterschiedlich ist und rasch wechselt. Dort will
man Tagesmütter, Stundenkontingente und Flexibilität
haben. Man muss sich dafür einsetzen, dass Kinderbetreuung ohne bürokratischen Aufwand möglich ist und
nicht durch Auflagen vollkommen überfrachtet wird.
Last, not least gibt es Eltern, die Landwirte sind. Deren Kinder sind in der Regel ganztägig in der Familie
und auf dem Hof. Ich sage Ihnen: Auch sie leisten ihren
Anteil an der Erziehung, und deswegen möchte ich sie
an dieser Stelle nicht vergessen.
({6})
Für alle diese Familien und nicht nur für einen Teil
müssen wir ein Angebot vorhalten.
Hinzu kommt, dass auch im Hinblick auf die Betreuungszeiten völlig unterschiedliche Bedürfnisse bestehen.
Die meisten Mütter mit kleinen Kindern wollen Teilzeit
arbeiten. Viele brauchen einen Ganztagsplatz, und andere brauchen eine Kinderbetreuung nur zu Randzeiten,
weil sie andere Hilfen haben und die verschiedenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten kombinieren wollen. Wir
brauchen also einen Markt der Möglichkeiten und
nicht nur ein Angebot. Deshalb ist es wichtig, dass die
Kommunen jetzt klug vorgehen und überlegen, was sie
vor Ort tun können, um den Familien einen solchen
Markt zu eröffnen, damit sie entscheiden können - bisher können sie das nicht -, was für ihr Kind gut ist und
was für die Berufstätigkeit der Eltern richtig ist.
Wir in Niedersachsen haben jetzt ein neues Modell
geschaffen. Für dieses Modell sind 100 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt worden. Wie ich gern mit einem
Schmunzeln feststelle: Das ist für ein Bundesland wie
Niedersachsen eine Menge Geld. Mit diesem Geld sollen
die Kommunen neue Modelle ausprobieren können. Ziel
ist, dass Tagesmütter - ich erlebe es - gestärkt, qualifiziert und vernetzt werden können.
Es klappt in den verschiedenen Regionen schon ganz
gut, und es wird noch besser. Ich denke, das ist der Weg,
den wir einschlagen müssen. Um einen Markt der Möglichkeiten zu schaffen, müssen wir die Eltern mit ins
Boot nehmen. Die Eltern müssen die finanziellen Mittel
haben, um Erziehung durch andere Personen zu gestalten und zu organisieren. Die Nachfrage wird zeigen,
welche Angebote notwendig sind. Aber die Eltern müssen sie auch bezahlen können.
Deswegen bin ich der Meinung: Lassen Sie uns die
Eltern bitte nicht außen vor lassen; lassen Sie uns sie
nicht vergessen; lassen Sie uns sie stärken! Ein Rechtsanspruch ist sicherlich gut gemeint, gibt den Eltern aber
Steine statt Brot. Denn es muss ein ganz klares Angebot
definiert werden und dadurch engen Sie die Möglichkeiten der Eltern schon ein. Damit machen Sie den Markt
der Möglichkeiten schon im Vorfeld kaputt.
Wenn wir erreicht haben, dass Kinder gut aufgehoben
sind, dass sie gefördert werden, dass die Eltern Auswahlmöglichkeiten vor Ort haben und dass sie die Preise bezahlen können, dann sind wir ein gutes Stück vorangekommen.
Eines möchte ich noch anfügen: Das Kindergeld werden wir nicht antasten.
({7})
Danke schön fürs Zuhören.
({8})
Es gibt einen Antrag zur Geschäftsordnung von der
Kollegin Schewe-Gerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Bitte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über das Thema Kinderbetreuung, ein
Thema, das in den letzten Monaten im Zentrum der Politik gestanden hat. Hier liegen Anträge von zwei Fraktionen vor, über die zu diskutieren ist. Ich sehe, dass die
Ministerin an dieser Debatte nicht teilnimmt. Wir haben
im Vorfeld keine Information darüber bekommen, dass
die Ministerin unabkömmlich ist. Darum bitte ich Sie,
nach § 42 unserer Geschäftsordnung über die Herbeizitierung der Ministerin abstimmen zu lassen.
({0})
Zur Geschäftsordnung hat sich ebenfalls der Kollege
Koschyk gemeldet.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im
zuständigen Bundesressort, Herr Kues, anwesend.
({0})
Die Ministerin ist aufgrund anderweitiger Termine verhindert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, wir haben, wenn wir die Plenartagesordnung festlegen, immer das Einvernehmen, dass Sie
uns als Oppositionsfraktionen sagen, wenn Sie zum Beispiel wollen, dass bei bestimmten Tagesordnungspunkten die Ministerin oder der Minister anwesend ist.
({1})
- Doch.
({2})
Das Wort hat der Kollege Koschyk.
Die Ministerin ist aufgrund anderer Termine entschuldigt, und der Staatssekretär ist anwesend. Ich finde, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
es wird dem Thema nicht gerecht, wenn Sie jetzt einen
Antrag auf Herbeizitierung der Ministerin stellen. Konzentrieren Sie sich auf die Sachdebatte, und lassen Sie
diese Schaukämpfe, die diesem Thema nicht gerecht
werden!
({0})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege
Jürgen Koppelin.
Die Fraktion der FDP unterstützt den Antrag auf Herbeirufung der Ministerin.
({0})
Herr Kollege, Ihre Argumente können nicht gelten. Wir
haben heute einen Sitzungstag, und da kann die Ministerin nicht entschuldigt sein; bei unserer Fraktion ist sie jedenfalls nicht entschuldigt, uns ist das nicht bekannt. An
einem Sitzungstag kann die Ministerin keine anderen
Termine haben; es sei denn, sie sind wirklich wichtig.
Erstens aus diesem Grund lasse ich Ihre Argumente
nicht gelten.
Zweitens. Der Herr Staatssekretär, dessen Anwesenheit Sie hier loben, hat sich nicht einmal auf die Rednerliste setzen lassen. Das ist ein Armutszeugnis bei einem
so wichtigen Thema.
({1})
Ein dritter Punkt, Herr Kollege. Es kann einfach nicht
sein, dass diese Ministerin von Interview zu Interview
hechelt, aber den Plenarsaal meidet.
({2})
Ich vermute, warum sie den Plenarsaal meidet: weil sie
den Sozialdemokraten nicht über den Weg laufen will. In
dem Zusammenhang darf ich mit Genuss zitieren, was
Peter Struck in dieser Woche gesagt hat. Nach seinen
Worten ist dieses „Gewürge ein Offenbarungseid“ für
Familienministerin Ursula von der Leyen, CDU. „Mehr
als heiße Luft ist bei ihr bisher noch nicht herausgekommen.“ So Peter Struck. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Wir bleiben dabei: Wir beantragen die Herbeirufung
der Ministerin.
({3})
Auch Frau Kollegin Kumpf hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet. Bitte schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen Parlamentarische
Geschäftsführer! Ich kann verstehen, dass Sie jetzt, zum
Ende der Woche, ein bisschen Zirkus machen wollen. Es
gibt einen parlamentarischen Brauch. Wir sind das Parlament, und wir sollen über diesen Antrag debattieren. Für
mich als Abgeordnete ist es zunächst einmal gar nicht relevant, ob die Ministerin auf der Regierungsbank sitzt
oder ob wir uns auseinandersetzen.
({0})
Ich glaube, wir sind Manns und Frau genug, uns inhaltlich zu streiten.
({1})
- Ein bisschen langsam! - Wir sind heute dabei, Anträge
zu beraten. Ich weiß gar nicht, warum Sie so autoritätsgläubig sind. Hier ist heute der Platz, diese Debatte zu
führen. Warum suchen Sie Ihre Mutter? Ich glaube, wir
können hier auch ohne Mutter debattieren, und wir haben genügend Zeit, diese Debatte ordentlich, auch ohne
die Ministerin, fortführen zu können.
Noch ein Wort: Alle reden davon, dass es im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung ein großes Problem
gibt, nämlich die Männer. Ich sage immer: Bei der Frage
der Kinderbetreuung schwächeln die Männer. Sie nehmen ihre Pflichten nicht wahr. Es ist gut, dass der Staatssekretär unsere Anregungen in der Debatte entgegennimmt. Die Ministerin ist bei ihren Terminen gut
aufgehoben.
({2})
Ich bitte um Aufmerksamkeit. Wir kommen zur Abstimmung. Wer für die Herbeizitierung der Ministerin
stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? ({0})
Das Präsidium hat eine unterschiedliche Betrachtungsweise.
({1})
Das ist nicht ganz überraschend. Deswegen kommen wir
jetzt zum Hammelsprung.
({2})
Ich bitte Sie alle, den Saal zu verlassen und die Türen zu
schließen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen Bedarf
an Schriftführern. Können sich einige Schriftführer, die
an den Türen zählen, bei Herrn Kollegen Winkler melden?
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, den
Plenarsaal zu verlassen.
Ich will daran erinnern, worüber jetzt beim Hammelsprung abgestimmt wird. Es geht um den Antrag der Oppositionsfraktionen auf Herbeizitierung der Ministerin
Frau von der Leyen. Wer diesem Antrag zustimmen will,
muss durch die Ja-Tür gehen, wer dagegen stimmt,
durch die Nein-Tür, wer sich enthalten will, durch die
dritte Tür.
Ich eröffne die Abstimmung.
({1})
Liebe Gäste, ich fordere Sie auf, solche Aktivitäten zu
unterlassen und sofort die Zuschauertribüne zu verlassen.
({2})
Ich bitte all diejenigen, die sich noch außerhalb des
Plenums befinden, endlich durch eine der Türen zu gehen und abzustimmen.
Darf ich die Schriftführerinnen und Schriftführer fragen, ob sich noch Abgeordnete außerhalb des Plenarsaals befinden, ob wir die Abstimmung beenden können?
Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen, damit ich sehen
kann, ob alle Abgeordneten in den Plenarsaal gekommen
sind.
({3})
Der Hammelsprung ist beendet. Ich teile das Ergebnis
der Abstimmung mit: Für den Antrag haben 76 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, 192 haben dagegen gestimmt.
({4})
Damit ist der Antrag auf Herbeirufung der Ministerin abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung ist die Beschlussfähigkeit des Hauses nur dann gegeben, wenn mehr als die
Hälfte seiner Mitglieder anwesend ist. Ich stelle also
fest, dass das Haus nicht beschlussfähig ist und hebe die
Sitzung damit auf.
Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.