Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten
Nationen im Sudan ({0}) auf Grundlage
der Resolution 1590 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 24. März 2005
und weiterer Mandatsverlängerungen durch
den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/4861 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Eine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen.
Wir kommen daher gleich zur Überweisung. Zwischen den Fraktionen wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4861 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 2:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Maßnahmen und Ziele der
Bundesregierung in der energetischen Gebäudesanierung
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Kabinett hat heute eine Verordnung zur
Energieeinsparung beschlossen und darin die Eckwerte
für den sogenannten Energieausweis festgelegt. Wir
müssen mehr tun für Energieeffizienz bei Gebäuden.
Hier schlummert ein gigantisches Potenzial, Energie einzusparen und etwas für den Klimaschutz zu tun, indem
wir CO2-Emissionen minimieren. Allein 40 Prozent der
im Gebäudebereich genutzten Energie entfallen auf
Strom, Warmwasserbereitung und sonstige Energieaufwendungen. Wenn es uns gelingt, unsere ehrgeizigen
Programme umzusetzen, können bis zum Jahre 2020 allein im Wohnbereich bis zu 40 Milliarden Euro an Energiekosten gespart werden. Für den Einzelnen bedeutet
das bei einer 80-Quadratmeter-Wohnung 500 Euro pro
Jahr.
Wir verfolgen zwei Wege. Der eine Weg - diesen haben wir heute beschlossen - ist der folgende: Wir haben
einen Energieausweis konzipiert, der bei Bestandsgebäuden Transparenz darüber schaffen soll, wie viel Energie
in einem Gebäude verbraucht wird. Der Mieter oder
Käufer kann sich an diesem Energieausweis orientieren.
Für den Fall, dass neu vermietet oder verkauft wird, ist
dieser Ausweis zwingend. Er wird mit einer sogenannten
Modernisierungsempfehlung verbunden. Hier kann der
Mieter oder Käufer ablesen, was zu tun ist, um das Gebäude oder die Wohnung auf den Standard eines Neubaus zu bringen.
Was ist ein Energieausweis? Es gibt zwei Arten von
Energieausweisen. Der eine Ausweis ist verbrauchsorientiert. Hierfür wird der tatsächliche Verbrauch gemessen und mit einer Witterungskorrektur versehen.
Dieser Ausweis gibt also Auskunft über den Energieverbrauch. Der andere Ausweis ist ein bedarfsorientierter.
Hierfür wird ingenieurmäßig der Energiebedarf des Gebäudes aufgrund der tatsächlichen baulichen Gegebenheiten berechnet.
Wir haben jetzt festgelegt, dass für alle nicht modernisierten Gebäude, die vor 1977, also vor der ersten
Wärmeschutzverordnung, gebaut wurden, der bedarfsRedetext
orientierte Ausweis zwingend gilt, wenn es in diesem
Gebäude weniger als fünf Wohnungen gibt. Für alle anderen Gebäude besteht Wahlfreiheit. Wir wollen Transparenz schaffen, etwas für den Klimaschutz und gleichzeitig natürlich auch etwas für den Geldbeutel tun.
Zu unserem zweiten Weg. Wir haben ein ehrgeiziges
CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufgelegt, das in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Der erste Weg schafft
Transparenz und stellt Forderungen an den Vermieter
oder Verkäufer. Die andere Seite bietet Unterstützung,
dass er tatsächlich sanieren kann. Im Jahr 2006 sind
1,5 Milliarden Euro über die KfW geflossen.
265 000 Wohneinheiten wurden saniert. Dadurch sparen
wir rund 1 Million Tonnen CO2-Emissionen ein. Dies
kommt natürlich auch dem Geldbeutel der Mieter zugute.
Dass die Wirtschaft prosperiert und die Baubranche
boomt, hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass wir mit
diesen 1,5 Milliarden Euro im Jahre 2006 rund 11 Milliarden Euro Investitionen in Gang gesetzt haben. Das tut
dem Mittelstand gut, es tut dem Klimaschutz gut, und
die Mieter freuen sich, dass sie mehr Geld im Portemonnaie haben. Es werden also mehrere Fliegen mit einer
Klappe geschlagen. Außerdem tun wir etwas für die
Bau- und Baustoffindustrie. Summa summarum sind wir
auf gutem Wege, indem wir besonders diesem Bereich
hohe Aufmerksamkeit widmen.
Ich wünschte, Sie hätten die Plakate mit den Gebäuden und den wunderschönen Pudelmützen zur Kenntnis
genommen. Dann wüssten Sie, dass wir auch etwas dafür tun, damit in der Öffentlichkeit das Thema Energieeffizienz von Gebäuden noch mehr in den Blickpunkt
rückt.
Vielen Dank.
Dann gebe ich zunächst dem Kollegen Hans-Kurt Hill
für Die Linke das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, vielen
Dank für Ihre Ausführungen. Trotz allem bleiben einige
Fragen offen, die uns natürlich sehr stark interessieren.
Wir sind der Meinung, dass die öffentliche Hand insbesondere hinsichtlich eines wirksamen Klimaschutzes
Vorbild für Eigenheimbewohner, Wohnungsbauunternehmen und dergleichen sein sollte. In diesem Zusammenhang halte ich die Regierung für relativ unglaubwürdig, insbesondere gegenüber den Eigenheimbesitzern,
weil sie von ihnen Dinge verlangt, die sie selbst nicht erfüllen wird. Deswegen meine Frage: Warum gilt der Gebäudeenergiepass für Behörden und andere öffentliche
Einrichtungen erst ab einer Fläche von 1 000 Quadratmetern?
Es ist nicht richtig, dass wir als öffentliche Hand in
diesem Bestreben nachlassen: Alle Immobilien des Bundes sind in dieser Kategorie. Wir haben den Gebäudeenergieausweis bereits im letzten Jahr fakultativ eingeführt. Besuchen Sie mich im Haus des BMVBS, dann
werden Sie ihn sehen. Darüber hinaus haben wir ein
120-Millionen-Euro-Umrüstungsprogramm für die Gebäude des Bundes aufgelegt. Wir haben uns außerdem
mit Contracting-Modellen beschäftigt. Wir haben schon
eine Reihe von Maßnahmen angeschoben, um Energieeffizienz auch bezahlbar zu machen, indem die Investitionen über eine lange Zeit abfinanziert werden; Sie kennen die Contracting-Modelle.
Außerdem stecken wir Geld in erheblichem Maße in
die Bauforschung, in die Erforschung neuer Baustoffe
und Technologien, um hier auch für öffentliche Gebäude
voranzukommen. Im Gegenteil, die öffentliche Hand ist
vorbildlich, sollte vorbildlich sein; denn in Schulen, in
Turnhallen, in Bürogebäuden und in Kasernen schlummert natürlich ein unglaubliches Potenzial.
({0})
Bitte schön.
Noch eine kurze Frage zum bedarfsorientierten Ener-
gieausweis, weil er nach unserer Einschätzung die
größte Effizienz mit sich bringt: Aus welchen sachlichen
Gründen wird nicht für alle Gebäude ohne Einschrän-
kung ein bedarfsorientierter Energieausweis verlangt?
Diese Verordnung, die heute im Kabinett beschlossen
worden ist, stellt eine ausgewogene Balance zwischen
zwei Zielen dar. Das ist auf der einen Seite ein Höchst-
maß an Transparenz und Akzeptanz; auf der anderen
Seite steht eine Kostenminimierung für diejenigen, die
für diesen Ausweis bezahlen müssen.
Wir haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir die
Kosten des bedarfsorientierten Ausweises minimieren
können. Sie sind in den Fällen noch relativ hoch, in de-
nen es Begehungen der Gebäude geben muss, bei denen
ein Energieberater oder ein diplomierter Bauingenieur in
ein Dorf, in eine kleine Gemeinde kommen muss, um ein
einzelnes Haus zu bewerten. Das heißt, zurzeit - wir
wissen noch nicht, wie der Markt reagiert - ist der be-
darfsorientierte Ausweis relativ teuer. Aus diesem Grund
wollen wir für die Gebäude, die nach 1977, also nach der
ersten Wärmeschutzverordnung, gebaut worden sind,
bzw. für die Gebäude, die älter sind, aber durch Sanie-
rungsmaßnahmen diesem Standard entsprechen, eine
Wahlfreiheit zulassen.
Andererseits ist meine Prognose - wir sollten uns in
zwei Jahren wieder unterhalten -, dass sich allein des-
halb der bedarfsorientierte Ausweis flächendeckend
durchsetzen wird, weil a) der Kunde, nämlich der poten-
zielle Käufer bzw. der Mieter, danach fragen wird und
weil b) derjenige, der Mittel aus einem Förderprogramm
des Bundes oder des Landes in Anspruch nehmen will,
zwingend den bedarfsorientierten Ausweis vorlegen
muss.
Man muss sich das so vorstellen, dass ein Mieter, der
sich an einem Samstagvormittag seine potenzielle neue
Wohnung anschauen will, vom Vermieter nicht nur verlangen kann, den Energieausweis und die Modernisierungsempfehlung vorzulegen, sondern sie gegebenenfalls auch als Kopie zur Verfügung zu stellen. Dadurch
wird gewährleistet, dass dieser Mieter, nachdem er am
Sonntagnachmittag zehn Wohnungen verglichen hat, die
Möglichkeit hat, sich zu entscheiden. Ein verbrauchsorientierter Ausweis, der unterschiedliche Nutzungen und
Energieverbräuche berücksichtigt, wird nicht die Aussagekraft eines Bedarfsausweises haben. Das wird sich herumsprechen. Aus diesem Grund rechne ich damit, dass
sich trotz höherer Kosten der bedarfsorientierte Ausweis
durchsetzen wird.
Wir gehen davon aus, dass ohne Begehung folgende
Kosten entstehen werden: Der Preis eines verbrauchsorientierten Ausweises wird sich zwischen etwa 40 und
60 Euro einpendeln, der des bedarfsorientierten Ausweises unter günstigen Voraussetzungen zwischen 80 und
120 Euro. Er ist zehn Jahre lang gültig, und er dürfte sowohl ohne als auch mit Begehung erschwinglich sein.
Kollege Dörflinger.
Herr Minister, schönen Dank für Ihren Bericht. - Es
ist in der Tat eine Win-win-Situation eingetreten. In der
vergangenen Woche haben Vertreter der Branche in meinem Wahlkreis Folgendes geäußert - diese Bemerkung
ist der Anlass meiner Frage -: Es wird in einer vermehrten Anzahl von Fällen festgestellt, dass die Firmen bei
der Ausführung nicht die gesetzlichen Vorgaben einhalten; das ist insbesondere dann der Fall, wenn Subunternehmen beschäftigt werden. Wenn anschließend eine
behördliche Kontrolle durchgeführt wird, die Konsequenzen nach sich zieht, wie will die Bundesregierung
sicherstellen, dass der Leidtragende nicht automatisch
und per se der Bauherr ist?
Wir haben das im CO2-Gebäudesanierungsprogramm
geregelt, indem wir zwingend vorschreiben, dass die
Einhaltung des Neubauniveaus nach Beendigung einer
Maßnahme von einem Sachverständigen bestätigt werden muss. Im Übrigen handelt es sich hierbei um einen
Subventionsbetrug im Sinne des § 264 Strafgesetzbuch.
Das heißt, dass wir wirklich scharfe Instrumentarien zur
Verfügung haben, um gegen eine Baufirma vorzugehen,
die vorgibt, die Standards eingehalten zu haben, diese
aber nicht eingehalten hat. Hier gibt es keinen Spielraum. In diesem Sinne könnten auch Sie in Ihrem Wahlkreis argumentieren.
Der Kollege Döring von der FDP-Fraktion.
Herr Minister Tiefensee, Sie haben in Ihrem einleitenden Bericht deutlich gemacht, dass die Bundesregierung
vielerlei Maßnahmen ergreifen will, um im Wohngebäudebereich CO2-Emissionen einzusparen. Sie selbst haben uns am 20. März dieses Jahres einen Bericht über
die energetische Situation im Hinblick auf die Gebäude
des Bundes vorgelegt, in dem Sie ausgeführt haben, dass
der CO2-Ausstoß der Bundesliegenschaften zwischen
1990 und 2004 leider gestiegen ist. Gleichzeitig haben
Sie darauf hingewiesen, dass nun das 120-MillionenEuro-Programm zur Sanierung bundeseigener Liegenschaften in Kraft tritt.
Können Sie mir sagen, inwieweit sich Ihre Kolleginnen und Kollegen schon dazu geäußert haben, das 120Millionen-Euro-Sanierungsprogramm für ihre eigengenutzten Gebäude in Anspruch nehmen zu wollen und inwieweit Sie selbst die Perspektive sehen, das Ausmaß
des CO2-Ausstoßes der bundeseigenen Gebäude stärker
an die Forderungen anzugleichen, die wir an private
Bauherren und Wohnungseigentümer richten?
Sie haben völlig recht: Wir müssen konstatieren, dass
der CO2-Ausstoß bei Bundesbauten gestiegen ist. Hauptursache dafür ist die Ausstattung mit elektrischen Geräten und deren Nutzung. Unter anderem haben die Computerisierung und der Gebrauch von Kopierern dazu
geführt. Wir sind gerade damit beschäftigt, die Anträge
der Ministerien zu bearbeiten. Es ist auf breiter Front
eine Bewegung in diese Richtung zu erkennen. Ich
denke, dass wir noch in diesem Jahr damit beginnen
können, die ersten Maßnahmen umzusetzen. Für mein
Haus, in dem gerade - sehr zu unserem Leidwesen - der
Gebäudeteil C saniert wird, kann ich sagen, dass auch
wir unser Augenmerk auf die Erhöhung der Energieeffizienz und die Einhaltung der Standards richten werden.
Auf der anderen Seite - Sie haben die Bundesbauten
angesprochen - nehmen wir auch andere öffentliche Gebäude in den Blick, insbesondere Schulen, Turnhallen,
Schwimmhallen usw. Wenn man sich vor Augen führt,
dass eine kleinere Schule rund 200 000 Euro Betriebskosten hat, man den Schülern und Lehrern aber nur
20 000 Euro an Lern- und Lehrmitteln auf den Tisch legen kann, dann kann man in etwa die Diskrepanz sehen
zwischen laufendem Betrieb, Energie und dem, was wir
tatsächlich in die Bildung stecken können.
Wenn es uns gelingt, mit dem 200-Millionen-EuroProgramm für öffentliche Gebäude außerhalb des Bundes und durch einen Investitionspakt, den wir zusammen
mit den Gemeinden und den Ländern anschieben wollen,
vorwärtszukommen - insbesondere bei Kindertagesstätten, Schulen und Turnhallen -, dann tun wir etwas für
das Klima und letztlich auch etwas für die Bildung, also
für mehr Potenzial, das wir dann tatsächlich in die Sache
stecken und nicht in die Luft blasen.
Herr Kollege Hettlich für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, wir hatten heute Morgen im Ausschuss
eine eineinhalbstündige Diskussion über die EnEV, ohne
als Fachausschuss die aktuelle Fassung der EnEV überhaupt in den Händen zu haben. Wie können Sie sicherstellen, dass wir in Zukunft - beispielsweise wenn wir
über die Novellierung der EnEV 2003 für Neugebäude
sprechen - zu einem vernünftigeren Verfahren zwischen
Parlament und Bundesregierung kommen?
Ich höre das zum ersten Mal. Ich gehe davon aus, dass
das ein Ausnahme- und kein Präzedenzfall ist. Sie sollten unbedingt informiert sein, damit Sie bei einer Befassung im Ausschuss über die Details in Kenntnis gesetzt
sind. Wir werden das in der Zukunft - so wie in den restlichen Fällen - sicherstellen, damit Sie Bescheid wissen.
Ich habe heute eine gemeinsame Erklärung der drei
befassten Häuser ins Kabinett eingebracht. Dabei geht es
darum - Sie sprechen die EnEV für Neugebäude an -,
dass wir noch in dieser Legislaturperiode die Standards
für Neugebäude anheben und die Energieeffizienz um
bis zu 30 Prozent verbessern wollen. Auf der einen Seite
müssen wir dabei für Transparenz sorgen; auf der anderen Seite müssen wir Bauherren, Bauausführende und
Mieter noch mehr dazu anhalten, beim Neubau besser zu
werden. Die Novellierung werden wir miteinander beraten und besprechen. Ich sichere Ihnen zu, dass Sie rechtzeitig vollumfänglich informiert werden.
Eine Nachfrage von Herrn Hettlich.
Ich habe noch eine Frage zur Sicherstellung der Qualität. Die Qualität des Energieausweises steht entscheidend im Zusammenhang mit demjenigen, der den
Energieausweis erstellt. Wir haben daher in unserem Antrag eine Zertifizierung gefordert. Die Gruppe von Leuten, die Energieausweise ausstellen sollen, ist ja sehr heterogen: von qualifizierten Bauphysikern bis hin zu
Energieberatern. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die Energieausweise, auf deren Basis dann
auch Sanierungsempfehlungen ausgestellt werden, über
die nötige Qualität verfügen, sodass es für den Aussteller
- das dient auch ein bisschen als Schutz für ihn - nicht
zu juristischen Konsequenzen kommt, weil der Bedarfsausweis fehlerhaft erstellt worden ist?
Das ist für uns im Vorfeld ein wichtiges Thema gewesen. Deshalb ist in einem Paragrafen der Verordnung
festgelegt, wer überhaupt ausstellungsberechtigt ist. Das
geht vom Diplom-Ingenieur für Bauwesen bis hin zu einem Handwerksmeister, der das entsprechende Zertifikat
hat, bzw. einem Energieberater, der über die Qualifikation verfügt. Ich denke, dass wir hier in Deutschland
- auch im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten - sehr hohe Standards anlegen und sehr hohe Voraussetzungen sowohl für diejenigen einfordern, die den
Energiepass ausstellen, als auch für diejenigen, die Modernisierungsempfehlungen bearbeiten.
Wir brauchen auch eine relativ große Zahl von damit
befassten Energieberatern. Warum? - Deutschland hat
eine sehr große Fläche. Der Preis der Energieausweise
wird in dem Maß steigen, je weniger Energieberater es
gibt und je längere Wege sie zurücklegen müssen, um
das einzelne Gebäude zu begutachten. Je dichter sie am
Kunden sind, umso günstiger wird es sein. Deshalb haben wir Wert darauf gelegt, den Kreis groß genug zu machen, aber nicht zu groß, damit nicht irgendwelche
Leute, die nichts davon verstehen, diesen Ausweis ausstellen. Vielleicht haben Sie Gelegenheit, einmal kurz
die Anlagen der Verordnung durchzublättern. Sie werden sehen, was für ein komplexes Werk das ist und wie
kompliziert es ist, einen solchen Ausweis zu berechnen;
im Internet kann man das entsprechende Prozedere nachlesen. Das kann nicht irgendwer, sondern das braucht
wirklich Sachverstand. Den werden wir sicherstellen.
Jetzt Frau Bulling-Schröter.
Sehr geehrter Herr Minister, für Gebäude mit fünf
oder mehr Wohnungen, die jünger als 30 Jahre sind oder
dem Wärmeschutzstandard von 1977 entsprechen, soll
ein Verbrauchsenergiepass ausreichen, der dann zehn
Jahre lang gültig ist.
Ich würde gerne wissen, wie groß der Anteil dieser
Gebäude am Gesamtbestand in Deutschland ist und welchen Anteil diese Gebäude an den CO2-Emissionen haben.
Es sind ungefähr 17 Millionen Wohngebäude. Etwa
70 Prozent davon wurden vor 1977 hergestellt. Ein Teil
davon entspricht schon jetzt dem Standard gemäß der
Wärmeschutzverordnung. Verzeihen Sie mir, dass ich
die Anzahl der Tonnen CO2 jetzt nicht im Kopf habe.
Das müssten wir nachreichen.
Bedenken Sie - ich habe vorhin in meinem Eingangsstatement versucht, das anzudeuten -, dass wir rund
1 Million Tonnen CO2 allein dadurch gespart haben,
dass wir im Jahre 2006 265 000 Wohneinheiten saniert,
also auf Neubaustandard gebracht haben. Daran kann
man in etwa die Dimension erkennen. Wenn wir von diesen 17 Millionen Gebäuden Prozent um Prozent abbauen, wenn also immer mehr Menschen dieses Programm in Anspruch nehmen und im Energieausweis
vom roten zum grünen Bereich kommen - sie müssen
den Energiebedarf also von rund 400 Kilowattstunden
pro Quadratmeter und Jahr auf 70 Kilowattstunden pro
Quadratmeter und Jahr reduzieren -, dann wird auch der
CO2-Ausstoß natürlich sinken.
Eine Nachfrage, bitte.
Würden Sie uns die Zahlen nachliefern? Sie haben
jetzt ja von den Gebäuden gesprochen, die wärmesaniert
werden. Es gibt aber auch viele Neubauten. In einigen
Ländern gibt es Landstriche, in denen sehr viel gebaut
wird, weil ein Zuzug stattfindet. Wie wird sich der CO2Ausstoß dort darstellen? Im letzten Jahr waren es ja wieder 5,1 Millionen Tonnen mehr, wie ich sehe.
Wenn ich Sie richtig verstehe, gibt es jetzt eventuell
noch eine Unklarheit hinsichtlich der Neubauten. Die
Neubauten müssen einen Höchststandard gemäß der
Einsparverordnung erfüllen. Dieser ist, wenn man so
will, die Benchmark. Wir werden in dieser Legislaturperiode noch darüber nachdenken, ob wir diese Parameter nicht noch verschärfen können. Wir wollen das. Die
drei Häuser haben sich dazu bekannt. Von daher ist die
CO2-Emission bereits auf diesem Standard festgeschrieben.
Bei dem Energieausweis und dem Gebäudesanierungsprogramm geht es darum, die Gebäude, die vor
1977 gebaut worden sind und nicht dem Standard gemäß
der ersten Wärmeschutzverordnung entsprechen, und die
Gebäude, die danach gebaut worden sind und nicht dem
jetzigen Standard entsprechen, auf dieses Niveau zu heben. Ich reiche Ihnen gerne nach, welche CO2-Einsparungen wir prognostizieren.
Bedenken Sie bitte, dass wir ungefähr 900 000 Energieausweise pro Jahr ausgeben werden. Dies werden
also auch entsprechende Modernisierungsempfehlungen
sein. Das wird die Vermieter und die Verkäufer wiederum anreizen, tatsächlich etwas zu tun und unsere Programme nachzufragen.
Der Kollege Fornahl für die SPD-Fraktion.
Herr Bundesminister, die Bundesregierung hat - ich
glaube, gemeinsam mit der dena - das Modellprojekt
„Niedrigenergiehäuser im Bestand“ aufgelegt. In meiner
Heimatstadt Leipzig ist auch ein großer Plattenbau mithilfe der Mittel aus diesem Modellprojekt umfassend saniert worden, sodass er nunmehr die Kriterien, die an ein
Niedrigenergiehaus gestellt werden, erfüllt.
Ist das Modellprojekt für die Bundesregierung insgesamt schon ausgelaufen? Gibt es Ergebnisse, die man
auswerten kann? Kann man die Ergebnisse, die dort erzielt worden sind, eventuell auch über 2009 hinaus in
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm integrieren?
Wir befinden uns mit den dena-Modellvorhaben bereits in der dritten Projektphase. Wir führen nicht nur in
Sachsen, sondern auch in allen anderen Bundesländern
solche Modellvorhaben durch, die mit einem Energiebedarf von circa 40 Kilowattstunden pro Quadratmeter und
Jahr im Übrigen vorbildlich sind. Wir wollen das auswerten und möglichst schnell ausweiten.
Wir wollten diese Modellvorhaben in das CO2-Gebäudesanierungsprogramm integrieren. Ich gehe dabei
davon aus, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
auch nach 2009 weitergeführt wird.
Die nächste Frage stellte der Kollege Günther von der
FDP-Fraktion.
Herr Minister, Sie haben vorhin die Kosten für einen
verbrauchs- bzw. bedarfsorientierten Ausweis dargelegt.
Die genannte Summe von 60 bis 100 Euro für den verbrauchsorientierten Ausweis war mir bekannt. Für den
bedarfsorientierten Ausweis kenne ich aus Fachkreisen
aber ganz andere Beträge. Diese liegen zwischen
200 und 300 Euro. Angesichts dessen frage ich, ob der
Ausweis in das Förderprogramm einbezogen werden
kann. Wenn dem nicht so ist, dann frage ich Sie, wie Sie
auf die wesentlich geringeren Kosten von 80 bis
140 Euro kommen.
Er ist durch das Programm finanzierbar, wenn auch
nicht hundertprozentig. Der Anteil der Kosten des Ausweises am Gesamtbauvolumen ist jedoch so gering, dass
ich davon ausgehe, dass es hier kein Problem geben
sollte. Ich will mich in dieser Frage aber durchaus noch
einmal sachkundig machen.
Wir haben in der letzten Zeit genau auf diese Frage
Wert gelegt. Wir brauchen einen möglichst unbürokratischen Weg hin zu diesem Energieausweis. Dabei muss
der Ausweis möglichst kostengünstig und aussagekräftig
sein. Das ist zum Teil die Quadratur des Kreises. In dem
Moment, in dem der Eigentümer einer Wohnung oder
eines Hauses über alle Unterlagen verfügt, die der
Energieberater braucht, um den Energieausweis aus der
Ferne auszustellen, wenn also die Art der Materialien,
die Art des Daches, die Qualität der Fenster, die Art der
Heizung und des Heizungseinbaus und dergleichen mehr
wie etwa der Kesseltyp bekannt sind, dann werden diese
Angaben dem Energieberater - dem Ausstellungsberechtigten oder dem Meister - auf elektronischem Weg
zur Verfügung gestellt. Dieser Energieberater kann den
bedarfsorientierten Ausweis dann aus der Ferne ausstellen.
Im Übrigen ist es für viele Vermieter durchaus möglich, sich selbst ein Bild zu machen, denn hier handelt es
sich um Vorgänge, die man auch selbst nachvollziehen
kann. Für diesen Teil der bedarfsorientierten Ausweise
gehen wir von einem Kostenaufwand von etwa 80 bis
120 Euro aus. In dem Moment, in dem der Ingenieur in
Gemeinden auf dem flachen Land fahren muss, wird es
teurer. In der Stadt werden die Kosten aufgrund der kurzen Wege und dergleichen mehr nicht wesentlich höher
sein. Hier werden wir also Unterschiede haben. Darauf
zielte auch die Frage von Herrn Hettlich. In dem Moment, in dem sich der Markt einspielt, wenn ich also
nicht - wie bei den Schornsteinfegern - abgesteckte
Claims habe, sondern meinen Energieberater von woanders holen kann, wird sich - so denke ich - ein Kostenaufwand einstellen, der etwa in diesem Bereich liegen
wird und erschwinglich ist.
Herr Günther hat noch eine Nachfrage.
Ich möchte jetzt nicht weiter über das Thema Ferndiagnose diskutieren. Ich habe aber eine Frage: Wenn
auf Basis des bedarfsorientierten Ausweises in nennenswerten Größenordnungen Modernisierungsempfehlungen kommen, können Sie dann sicherstellen, dass das
Programm der Bundesregierung so weit ausgeweitet
wird, dass diesen Empfehlungen auch Rechnung getragen wird?
Wir können mit unserem Bundesprogramm nur steuern und unterstützen. Es ist normalerweise die Aufgabe
des Vermieters oder des Verkäufers, dafür Sorge zu tragen, und zwar aus Kostengründen, mit Blick auf den
Geldbeutel seiner Mieter und aus Klimagründen. Wir
wollen mit unserer Kampagne unterstützen, dass dies ein
Interesse des Gemeinwesens und nicht nur der öffentlichen Hand sein muss.
Wir wollen in einem begrenzten Volumen Unterstützung geben. Wenn wir für dieses Programm für die gesamte Legislaturperiode 5,6 Milliarden Euro eingestellt
haben und damit ungefähr das vier- bis fünffache Volumen - also ungefähr 25 bis 28 Milliarden Euro - an Investitionen in Gang setzen, dann ist das ein gewaltiger
Brocken, der sich tatsächlich signifikant niederschlägt.
Ich wünsche, dass wir dieses Programm mit dem Ziel,
alle öffentlichen Gebäude in einer endlichen Zeit tatsächlich auf Neubaustandard zu bringen, über das
Jahr 2009 hinaus weiterführen. Das gilt besonders für
die Kindertagesstätten und Schulen, aber nicht nur für
diese. Es gilt, auch den privaten Investoren Anreize zu
bieten, auch außerhalb dieses Programms etwas für ihren
eigenen Geldbeutel zu tun.
Die Kollegin Dr. Flachsbarth für die CDU.
Herr Minister, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
ist ohne Zweifel eines der Erfolgsprojekte dieser
schwarz-roten Bundesregierung, und zwar nicht nur aus
umweltpolitischer, sondern auch aus wirtschaftspolitischer Sicht. Nicht zuletzt ist der zarte Frühling, der sich
auch im Baugewerbe andeutet, auf dieses Programm zurückzuführen. Wir müssen allerdings feststellen, dass
dieses Programm vor allen Dingen dort wirkt, wo Eigentümer ihre eigenen Häuser bewohnen. Dagegen lässt
sich der große Bestand der vermieteten Wohnungen
- das haben Sie eben angedeutet - noch nicht so in das
Programm einbeziehen, wie wir uns das wünschen.
Möglicherweise gibt es Probleme im Rahmen des Mietrechts.
Meine Frage an Sie lautet: Wie können wir über die
bisherigen Maßnahmen hinaus Anreize für die Vermieter
schaffen, in eine bessere Gebäudesanierung zu investieren? Letztendlich bleiben die Kosten bei den Vermietern,
und den Nutzen haben die Mieter. Den Mietern ist das sicherlich zu gönnen; denn jeder Cent, der in den Taschen
der Mieter, der Verbraucherinnen und Verbraucher
bleibt, ist ein guter Cent.
Es ist richtig, dass wir durch die Aufstockung der
Mittel für das Programm nicht in allen Segmenten gleichermaßen Nachfrage generiert haben. Das Jahr 2006
war ein sehr erfolgreiches Jahr. Sie entsinnen sich sicherlich, dass wir als Anschub für dieses Programm besonders günstige Zinsbedingungen geschaffen haben.
Wie Sie wissen, läuft das Programm so, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau den jeweiligen Hausbanken
zinsverbilligte Kredite gibt. Diese sind die Ansprechpartner für die Vermieter bzw. Eigentümer. Wir haben
die Konditionen natürlich angepasst; denn wir müssen
sehen, dass es keine Mitnahmeeffekte gibt, sondern dass
wir möglichst in der Breite aufgestellt sind.
Die öffentliche Hand muss sicherlich zulegen, insbesondere was die Schulen betrifft. Diese haben für die Sanierung nur begrenzte Zeiträume zur Verfügung, zum
Beispiel die Ferien. Deshalb bedarf es einer gewissen
Anlaufzeit. Ich hoffe, dass die Planungen so weit vorangetrieben wurden, dass das Geld 2007 abgerufen werden
kann. Das, was Sie angesprochen haben, können wir
durch verstärkte Werbung auch durch die KfW realisieren. Wir selbst wollen mit unserer „Mützenkampagne“
ebenfalls etwas dafür tun, dass das Programm von allen
Eigentümergruppen nachgefragt wird. Alles in allem
brauchen wir uns aber nicht über eine mangelnde Nachfrage zu beschweren. Es werden eher mehr Mittel nachgefragt, als wir zur Verfügung stellen können. Wenn es
Spielräume im Haushalt gibt, sollte man durchaus darüber nachdenken, ob man im Rahmen eines Investitionspaktes nicht aufstockt.
Der Kollege Roland Claus für die Linke hat nun das
Wort.
Das alles passt gut zusammen, Herr Minister. Ihnen
ist bekannt, dass alle Bundestagsfraktionen das CO2-Gebäudesanierungsprogramm energisch unterstützen. Ich
will Sie deshalb fragen: Halten Sie es nicht für zeitgemäß, die staatlichen Mittel im Rahmen des Gebäudesanierungsprogramms erheblich aufzustocken, das heißt zu
verdoppeln? Entsprechende Vorschläge einschließlich
einer soliden Gegenfinanzierung wurden Ihnen im Haushaltsausschuss unterbreitet.
Ich will festhalten, dass wir deutlich aufgestockt haben, und zwar von 300 Millionen auf 1,4 Milliarden
Euro pro Jahr. Wir werden sehen, ob wir Spielräume haben. - Diese Idee ist nicht neu und wird bereits propagiert. Wir versuchen selbstverständlich, den Mittelansatz
nicht nur zu verstetigen, sondern das Programm mit
mehr Geldmitteln auszustatten. Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an die Bundesländer und die
Kommunen. Auch diese müssen ihren Beitrag dazu leisten. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir den Bogen nicht überspannen und durch unsere Investitionen
die Preise für Baumaterialien erhöhen. Wir müssen hier
klug kalibrieren und ausbalancieren und dürfen die Förderung nicht überziehen. Beides werden wir im Auge
behalten und wird seinen Niederschlag - darin können
Sie sicher sein - im von der Großen Koalition vorgelegten Haushalt 2008 finden.
Ich schließe die Fragerunde zu diesem Thema ab.
Wir kommen nun zu einer Frage zu einem anderen
Themenbereich. Ich gebe das Wort dem Kollegen
Koppelin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe noch eine
Frage zur heutigen Kabinettssitzung. Wir konnten als
Leser heute den Zeitungen entnehmen, dass der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Peter Struck, einzelne Kabinettsmitglieder der Union angegriffen hat, unter anderem Frau von der Leyen. Ich darf zitieren: Peter Struck
erklärt, mehr als heiße Luft sei bei ihr noch nicht herausgekommen. Weiter hat er gesagt, Frau Merkel müsse
sich endlich entscheiden und sagen, was sie wolle. Darf ich fragen, ob dies in der heutigen Kabinettssitzung
eine Rolle gespielt hat?
Ich frage auch insofern das Kanzleramt, ob das eine
Rolle gespielt hat, als es im Oktober letzten Jahres ein
Interview der Kanzlerin in „Bild am Sonntag“ gab, in
dem sie erklärte, es reiche jetzt mit den unaufhörlichen
Angriffen von Herrn Peter Struck. Wenn es schon damals gereicht hat, dann hätte ich doch ganz gerne gewusst, wie der augenblickliche Stand bei der Kanzlerin
ist.
Herr Dr. Beus, Sie antworten?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Koppelin, das Kabinett hat sich heute mit der Tagesordnung befasst, die ihm
vorlag. Dazu gehörte dieser Punkt nicht. Deshalb ist er
im Kabinett nicht erörtert worden.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Ja.
Vielen Dank. - Herr Peter Struck hat erklärt: Frau
Merkel muss endlich sagen, was sie will. - Können Sie
mir sagen, ob die Kanzlerin bereit ist, dem nachzukommen?
Ich glaube, Herr Abgeordneter, diese Regierungsbefragung dient dazu, über die Kabinettssitzung zu berichten. Ich habe Ihnen eben gesagt, dass der Punkt, den Sie
ansprechen, nicht Gegenstand der Kabinettsberatung
war. Deshalb kann er auch nicht Gegenstand der Auskunft hier sein.
Ich beende damit die Befragung der Bundesregierung
und rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/5046, 16/5095 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 16/5095 auf.
Zur Beantwortung der dringlichen Frage der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage der Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann auf:
Inwiefern stehen die Äußerungen der Bundeskanzlerin Dr.
Angela Merkel - „Haushaltskonsolidierung hat Vorrang und
deshalb gibt es in der gegenwärtigen Situation keinen Spielraum für Steuersenkungen“ ({0}) - im Widerspruch zu den vom Kabinett auf
den Weg gebrachten Plänen zur Senkung von Unternehmensteuern?
Frau Kollegin Enkelmann, zwischen der Aussage der
Bundeskanzlerin und dem Regierungsentwurf zur Unternehmensteuerreform besteht kein Widerspruch. Das Ziel
der Haushaltskonsolidierung kann nur langfristig erreicht
werden. Ausgabenkürzungen sowie Einnahmeerhöhungen sind nur ein Baustein zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Ein angemessenes Wirtschaftswachstum wird
ebenfalls benötigt.
Mit der für 2008 geplanten Unternehmensteuerreform
soll das Erreichen des Konsolidierungszieles langfristig
unterstützt werden. Nach den im Regierungsentwurf
vorgelegten Zahlen wird die Unternehmensteuerreform
nur kurzfristig zu Steuermindereinnahmen führen. Langfristig ist mit Steuermehreinnahmen zu rechnen. Die Unternehmensteuerreform und die damit verbundene Entlastungswirkung verbessern die Standortbedingungen
für in- und ausländische Investitionen und sichern bestehende bzw. schaffen neue Arbeitsplätze. Der Erosion der
Einnahmebasis wird entgegengewirkt.
({0})
Frau Kollegin, Sie haben eine Nachfrage?
Ich habe zwei Nachfragen, wenn Sie, Frau Präsidentin, gestatten.
Damit jeder versteht, um welche Aussage der Bundeskanzlerin es ging, würde ich diese gerne zitieren. Es
ging um ein Interview am Wochenende, in dem die
Kanzlerin, Frau Angela Merkel, gesagt hat:
Haushaltskonsolidierung hat Vorrang und deshalb
gibt es in der gegenwärtigen Situation keinen Spielraum für Steuersenkungen.
Wenn in der gegenwärtigen Situation kein Spielraum für
Steuersenkungen besteht, warum wird dann mit der Unternehmensteuerreform eine Steuersenkung von immerhin 6 Milliarden Euro vorgenommen?
Frau Staatssekretärin, wir sind uns beide einig, dass
die Bundeskanzlerin die Richtlinienkompetenz hat.
Meine zweite Nachfrage ist deshalb: Wenn sie die Richtlinienkompetenz hat, bedeutet dann die klare Aussage, in
der gegenwärtigen Situation bestehe kein Spielraum für
Steuersenkungen, dass die Unternehmensteuerreform
mit Mindereinnahmen in Höhe von 6 Milliarden Euro
vom Tisch ist?
Frau Kollegin Enkelmann, ich will gerne auf Ihre beiden Fragen antworten. Sie haben die Bundeskanzlerin
richtig zitiert. Aber Sie wissen auch, vor welchem Hintergrund die Frau Bundeskanzlerin diese Aussage gemacht hat, nämlich dem, dass einzelne Politiker weiter
gehende Steuersenkungen über das hinaus gefordert haben, was schon in der Koalitionsvereinbarung verabredet
war und was sich im gesetzgeberischen Entwicklungsstadium befindet. Heute haben wir die erste Anhörung
zur Unternehmensteuerreform. Wir sind also mitten im
Gesetzgebungsverfahren.
Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie die Frau Bundeskanzlerin falsch zitiert haben,
({0})
aber Sie müssen sich das Wort „weiter gehende“ zu dem
Wort „Steuersenkungen“ hinzudenken, weil sich die
Aussage ganz konkret auf die Forderung nach darüber
hinausgehenden Steuersenkungen bezog.
Das, was wir hier im Rahmen der Unternehmensteuerreform machen, entspricht natürlich dem, was unsere
Koalitionsfraktionen verabredet haben, was wir gemeinschaftlich auf den Weg gebracht haben und was wir in
diesem Hause in zweiter und dritter Lesung - geplant ist
sie für den 25. Mai - sicherlich verabschieden werden.
Ich habe Ihnen schon etwas gesagt über die Wirkungsweise dieser Steuerreform und über den Grund dafür, dass die Koalitionsfraktionen der Auffassung sind,
dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um eine solche Steuerreform vorzunehmen, bei der im Übrigen
nicht die Entlastungswirkung im Vordergrund steht.
Es ist übrigens nicht richtig, von „6 Milliarden Euro
oder mehr“ zu sprechen; vielmehr werden in dem Jahr
der vollen Wirksamkeit, rein rechnerisch, 5 Milliarden
Euro Steuereinnahmeausfälle zu verzeichnen sein. Es ist
aber so, dass auch nach den Berechnungen des Bundesministeriums der Finanzen schon mittelfristig tatsächlich
wieder mehr Steuereinnahmen erzielt werden können.
Dies liegt insbesondere daran, dass wir die Steuerbasis
in der Bundesrepublik Deutschland mit einigen Maßnahmen sichern und festigen, sodass die Steuerreform, wie
ich schon eben sagte, gerade der Erosion der Steuerbasis
entgegenwirkt, weswegen durch die Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland mittelund langfristig auf jeden Fall höhere Steuereinnahmen
als vor dieser Reform zu erzielen sein werden.
Es ist also völlig klar, dass die Bundeskanzlerin die
Richtlinienkompetenz hat und dass die Koalition im
Rahmen der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin
dabei ist, abzuarbeiten, was schon vor knapp anderthalb
Jahren in der Koalitionsvereinbarung beschlossen worden ist. Wir bringen das nach und nach zielgerichtet auf
den Weg.
Es gibt eine weitere Nachfrage der Kollegin Dr.
Gesine Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade die Prognosen im Hinblick auf die
Einnahmeverluste angesprochen, die aus der Steuerreform resultieren. Wir wollen uns jetzt nicht darüber streiten, ob es 5 Milliarden oder 6 Milliarden Euro - das sind
Ihre Berechnungen - sind.
({0})
- Die Staatssekretärin sprach von 5 Milliarden Euro, der
Minister von 6 Milliarden Euro. Da die Staatssekretärin
anwesend ist, ist sie jetzt unsere Ansprechpartnerin, Herr
Kollege Tauss.
Nach den letzten Steuerreformen ist eines mit Sicherheit eingetreten - da werden Sie mir sicherlich zustimDr. Gesine Lötzsch
men -: Steuermindereinnahmen der öffentlichen Hand.
Meiner Erinnerung nach sind die Voraussagen betreffend
Mehreinnahmen nie bestätigt worden. Vielleicht können
Sie uns am Beispiel der letzten Steuerreform einmal darstellen, inwieweit vorausgesagte und wirkliche Steuereinnahmen übereinstimmten.
Frau Kollegin, es ist in der Tat so, dass wir nach der
letzten Steuerreform deutliche Einnahmeverluste zu verzeichnen hatten. Andererseits ist es so, dass seit dem
Jahr 2005 Körperschaftsteuereinnahmen und Gewerbesteuereinnahmen - dort ist dies schon länger der Fall erzielt worden sind, die über das hinausgehen, was vor
der Steuerreform im Jahr 2000 erzielt worden ist.
In der Tat, es hat eine Delle gegeben. Das ist nicht zu
bestreiten. Aber wir erzielen mittlerweile drei Jahre in
Folge Rekordeinnahmen bei der Gewerbesteuer. Auch
die Körperschaftsteuereinnahmen haben die Höhe, die
sie vor der letzten Reform im Jahr 2005 hatten, wieder
erreicht.
({0})
Im Übrigen geht es natürlich auch um die Festigung
des Standortes und um die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft. Dazu gibt es eine sehr überzeu-
gende Untersuchung von Professor Clemens Fuest aus
Köln und anderen. Sie kommen in dieser Untersuchung
zu dem Schluss, dass die Unternehmen ihre Investitio-
nen aufgrund der letzten Unternehmensteuerreform
deutlich ausgeweitet haben. Bedauerlicherweise wurde
dieser positive Effekt von der negativen weltwirtschaftli-
chen Entwicklung überlagert; das ist nicht zu bestreiten.
Insofern gehe ich davon aus, dass wir in dieser konjunk-
turell positiven Phase, in der wir strukturelle Änderun-
gen bei der Unternehmensbesteuerung zur Sicherung der
Steuerbasis in der Bundesrepublik Deutschland, aber
auch zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der inter-
national tätigen Unternehmen vornehmen, Wirkungen
erzielen, die dem entsprechen, was man vorausberechnet
hat.
Selbstverständlich beruht das immer auf Annahmen.
Wenn Annahmen, zum Beispiel infolge des endogenen
Schocks im Zusammenhang mit dem 11. September
2001 - die damaligen Geschehnisse fielen genau in diese
Phase - einfach nicht mehr stimmen, dann können auch
die Berechnungen nicht mehr stimmen.
Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beant-
wortet wurde, kommen wir jetzt zu den Fragen auf
Drucksache 16/5046, die ich in der vorgesehenen Rei-
henfolge aufrufe.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen.
Frage 1 der Abgeordneten Scheel wird schriftlich be-
antwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Frage 2 der Kollegin Tackmann wird ebenfalls schrift-
lich beantwortet.1)
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung steht der Kollege Kues bereit.
Es geht zunächst um die Frage 3 der Abgeordneten
Elke Reinke:
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu der vom
Deutschen Städte- und Gemeindebund erhobenen Forderung
({0}) ein, schnell
einen Vorschlag zur Bereitstellung von Bundesmitteln für
einen Ausbau der Kleinkinderbetreuung vorzulegen, um den
Kommunen Planungssicherheit zu geben und die bei den
Eltern geweckten Erwartungen nicht zu enttäuschen?
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend:
Sehr geehrte Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis
möchte ich die Fragen 3 und 4 der Abgeordneten Reinke
wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwor-
ten.
Dann rufe ich auch die Frage 4 der Abgeordneten
Elke Reinke auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den vom Deutschen
Städte- und Gemeindebund angedrohten Rückzug aus einem
gemeinsamen Finanzierungskonzept für den Ausbau der
Kleinkindbetreuung für den Fall, dass der Bund sich nicht an
der Finanzierung des Ausbaus beteilige?
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend:
Die Bund-Länder-Runde am 2. April 2007 hat ein
klares Signal für den Ausbau der Kindertagesbetreuung
gesetzt. Die Fachminister von Bund und Ländern sowie
Vertreter der kommunalen Spitzenverbände haben sich
darauf verständigt, für rund ein Drittel der Kinder unter
drei Jahren bis zum Jahr 2013 ein Betreuungsplatzange-
bot zu schaffen. Dies ist ein erster großer Schritt nach
vorn.
Am 16. April hat der Koalitionsausschuss der die
Bundesregierung tragenden Parteien auf der Grundlage
dieser Zielsetzung Frau Ministerin von der Leyen und
Herrn Minister Steinbrück gebeten, ein von unserem
Haus erarbeitetes Finanzierungskonzept zügig zu bera-
ten und die Frage der Beteiligung des Bundes an der
Finanzierung sowie der Gegenfinanzierung des Betreu-
ungsausbaus zu klären.
Die Beratungen auf der Bundesebene sind zunächst
ergebnisoffen. Wir können uns allerdings gemeinsam
darauf stützen, dass sowohl die Beschlüsse vom 2. April
als auch Äußerungen der Spitzen beider Koalitionspart-
1) Die Antwort lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird deshalb
zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
ner ein deutliches Signal für einen entschlossenen
Ausbau der Kindertagesbetreuung gesetzt haben. Wir erhalten für dieses Ziel nach wie vor eine breite Unterstützung aus der Gesellschaft, von Kirchen, Wirtschaft und
Gewerkschaften.
Frau Ministerin von der Leyen hat angekündigt, dass
sie sich für eine Kostenbeteiligung des Bundes starkmacht. Sie ist auch zuversichtlich, hier eine gemeinsame
Lösung zu finden.
Eine Nachfrage?
Vielen Dank. - Die Fragen sind hiermit - das muss
ich feststellen - leider nicht beantwortet. Vielleicht gelingt es Ihnen, die nächste Frage zu beantworten. Es geht
um die Finanzierung. Wie hoch ist nach Schätzung der
Bundesregierung der Finanzierungsbedarf des Bundes
bzw. der Länder für die jährlichen Betriebs- und Investitionskosten?
Es hat bei dem Gipfel am 2. April, den ich schon angesprochen habe, eine Verständigung gegeben. Wir werden jetzt im Einzelnen zu klären haben, wie die Verteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen erfolgt.
Insofern kann ich dazu noch keine abschließenden Aussagen treffen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja. - Ich hätte in diesem Zusammenhang schon gern
eine Zahl gehört. Ich hätte auch gern eine genaue Angabe dazu, was Sie unter „zügig“ verstehen. Wann können wir damit rechnen, dass wir Zahlen und genauere Informationen bekommen? Es gibt im Juni, glaube ich,
eine Zusammenkunft. Aber vorher, denke ich, könnte
man sicherlich schon eine Zahl nennen.
Danke.
Der Entwurf des Bundeshaushalts 2008 wird spätestens Ende Juni verabschiedet. Bis dahin wird auch Klarheit über die Finanzierung im Einzelnen herrschen.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes.
Die beiden Fragen der Kollegin Uschi Eid - das sind
die Fragen 5 und 6 - werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung.
Schriftlich beantwortet werden die Fragen 7 und 8 der
Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Ilja Seifert auf:
Wie viele schwerbehinderte Hochschulabsolventinnen und
-absolventen wurden im Jahr 2006 bei obersten Bundesbehörden als Praktikantin/Praktikant beschäftigt?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Seifert, ich muss Ihnen zu Ihrer Frage zunächst sagen, dass bei den obersten
Bundesbehörden in aller Regel nur Praktikantinnen und
Praktikanten beschäftigt werden, die nach den einschlägigen Studien- bzw. Ausbildungsordnungen Praktika zu
absolvieren haben. Praktika, die erst nach Abschluss
eines Studiums bzw. einer beruflichen Ausbildung geleistet werden, werden nur im Einzelfall und in Abhängigkeit von den zeitlichen und fachlichen Kapazitäten
ermöglicht, und das betrifft behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichermaßen.
Ein Problem besteht darin, dass der Status „Schwerbehinderung“ bei Praktikantinnen und Praktikanten nicht
systematisch abgefragt wird. Die Informationen, die
hierzu vorhanden sind, beruhen ausschließlich auf freiwilligen Angaben der Bewerberinnen und Bewerber.
Was nun das Jahr 2006 angeht, so waren insgesamt
41 Praktikantinnen und Praktikanten mit einem Hochschulabschluss bei den obersten Bundesbehörden tätig.
Praktika im Rahmen eines Aufbau- bzw. Masterstudiengangs sowie Praktika im Rahmen eines Stipendiums der
Robert-Bosch-Stiftung oder anderer Stiftungen sind
hierin eingeschlossen. Angaben über eine vorhandene
Schwerbehinderung wurden dabei von keiner der 41 Personen gemacht.
Eine Nachfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, meine Frage ist ja im Zusammenhang mit einer anderen von mir gestellten Frage zu sehen, die später noch beantwortet wird und bei der es um
die Auflösung bzw. Regionalisierung der zentralen Vermittlungsstelle für behinderte Akademiker geht. Eine
Möglichkeit, die Arbeitsmarktchancen für behinderte
Akademikerinnen und Akademiker zu verbessern, wäre
ja, ihnen wenigstens einen kleinen Einblick in die Praxis
zu geben, indem ihnen die Absolvierung von Praktika
ermöglicht wird, entweder während des Studiums oder
- darum ging es in der jetzt von mir gestellten Frage nach dem Studium. Demzufolge war die Frage, ob es
überhaupt Anstrengungen gibt, entsprechende Förderungsmöglichkeiten anzubieten, damit die Menschen,
die größere Schwierigkeiten haben, einen ihrer Qualifikation gemäßen Arbeitsplatz zu finden, bessere Chancen
bekommen, indem sie auf Praktika und damit auf entDr. Ilja Seifert
sprechende Berufserfahrung verweisen können. Deshalb noch einmal die Frage, wenn Sie schon keine Zahlen nennen können, ob es zumindest Überlegungen in
Ihrem Verantwortungsbereich gibt, so etwas zukünftig
zu tun.
Sie hatten ja nach der Zahl der Betroffenen gefragt.
Diese Frage haben wir auch beantwortet.
Ihre zweite Frage richten Sie nun konkret an die zuständigen Ministerien. Ich kann Ihnen nur für den Zuständigkeitsbereich des Bundesinnenministeriums sagen, dass solche Überlegungen selbstverständlich
berücksichtigt werden.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Seifert? Bitte schön.
Vielen Dank, dass Sie solche Überlegungen berücksichtigen. Das ist zunächst einmal eine positive Aussage.
Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob Sie diesbezüglich
irgendwelche Maßnahmen ergreifen wollen, also zum
Beispiel, indem Sie die obersten Bundesbehörden ermuntern, extra Ausschreibungen für die Betroffenen zu
machen, oder indem Sie den Sachverstand der zentralen
Vermittlungsstelle für behinderte Akademiker einholen
und dort fragen, was denn für den Berufseinstieg der Betroffenen wirklich hilfreich wäre.
Ich bitte noch einmal um Verständnis: Es geht ja um
die Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Wie aus
meiner Antwort hervorgegangen ist, handelt es sich ohnehin um eine sehr begrenzte Zahl von Betroffenen, weil
die Absolvierung solcher Praktika nur ausnahmsweise
zugelassen wird. Für den Bereich aller obersten Bundesbehörden haben wir zusammen insgesamt 41 Praktika
im letzten Jahr ermittelt. Das sind nicht sehr viele im
Vergleich zu den Praktika, die studienbegleitend durchgeführt werden. Ob man angesichts dieser geringen Zahl
über eine eigene Strategie nachdenken muss, darüber
wird sich die Bundesregierung gerne Gedanken machen.
Vielen Dank.
Schriftlich beantwortet werden die Frage 10 des Kollegen Wolfgang Wieland und die Fragen 11 und 12 der
Kollegin Ulla Jelpke.
Wir kommen nun zur Frage 13 des Abgeordneten
Jürgen Koppelin:
Wann wurde das vom Bundesministerium des Innern dem
Haushaltsausschuss des Bundestages anlässlich der Haushaltsberatungen zur Aufstellung des Haushalts 2007 zugeleitete „Programm zur Stärkung der Inneren Sicherheit“, PSIS,
im Bundeskabinett beschlossen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Koppelin, Sie fragen nach dem „Programm zur Stärkung
der Inneren Sicherheit“. Die damit zusammenhängenden
Fragen wurden im Kabinett im Zusammenhang mit den
vereitelten Bombenanschlägen mehrfach erörtert.
Was das Programm selbst angeht, so hat das Bundesinnenministerium im Rahmen seiner Ressortverantwortung für die innere Sicherheit dieses „Programm zur
Stärkung der Inneren Sicherheit“ für die Jahre 2007 bis
2009 initiiert. Nach einer Verständigung mit dem Bundesministerium der Finanzen wurde das PSIS im Rahmen der parlamentarischen Behandlung in Ergänzung
des Regierungsentwurfs des Einzelplans 06 zum Haushalt 2007 vorgelegt, was Sie als Mitglied des Haushaltsausschusses sicherlich auch wissen, und es wurde vom
Haushaltsausschuss und vom Innenausschuss sowie für
den Bereich des BfV im Vertrauensgremium eingehend
beraten. Im Ergebnis wurde das PSIS ohne Abstriche in
den Haushalt aufgenommen.
Der Umfang und der Inhalt des PSIS sind Ausdruck
der Wahrnehmung der Ressortverantwortlichkeit für die
innere Sicherheit und gehen über diese Verantwortung
nicht hinaus und erforderten daher aus Sicht des BMI
auch keine förmliche Befassung des Kabinetts.
Herr Koppelin, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, wollen Sie mir damit sagen, dass
eine so wichtige und bedeutende Sache - in diesem Paket sind ja auch Möglichkeiten zur Onlinedurchsuchung
enthalten - nicht im Bundeskabinett behandelt worden
ist?
Ich habe Anlass, darauf hinzuweisen - das habe ich ja
auch schon im Innenausschuss getan -, dass die Möglichkeiten zur Onlinedurchsuchung selbstverständlich
nicht durch dieses Paket eröffnet werden, sondern wir
dazu gesetzliche Grundlagen benötigen. Gesetzliche
Grundlagen werden in einem förmlichen Verfahren im
Kabinett beschlossen und dann dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt.
Sie haben noch eine Nachfrage, bitte schön.
In den Haushaltsberatungen ist mir von Ihren beamteten Staatssekretären zu diesem Punkt immer wieder gesagt worden, dass es für all das gesetzliche Grundlagen
gibt. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, was Sie jetzt
bestätigen. Darf ich in diesem Zusammenhang Folgendes fragen: Wenn das Paket im Haushaltsausschuss mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition verabschiedet worden ist, können dann aus Ihrer
Sicht die Sozialdemokraten sagen, dass sie gegen dieses
Programm sind?
Wir haben für dieses Programm sowohl im Haushaltsausschuss als auch im Innenausschuss eine parlamentarische Mehrheit der Koalitionsfraktionen gefunden. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Programm auch
weiterhin von den Koalitionsfraktionen mitgetragen
wird.
Im Übrigen darf ich auf ein BGH-Urteil zur Onlinedurchsuchung vom Ende letzten Jahres hinweisen, in
dem festgestellt worden ist, dass es im Bereich der StPO
keine ausreichende gesetzliche Grundlage gibt. Zu den
anderen Bereichen - insbesondere zur präventiven
Onlinedurchsuchung - gibt es bis zum jetzigen Zeitpunkt seitens des Bundesverfassungsgerichts keine derartige Feststellung.
Eine Nachfrage des Kollegen Tauss.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen - vielleicht würde das auch dem Kollegen Koppelin die Wahrheitsfindung ermöglichen -, dass es Diskussionen
darüber gibt, ob beispielsweise auch im Bereich der Geheimdienste, die Onlinedurchsuchungen vornehmen,
eine gesetzliche Grundlage zu schaffen ist? Könnten Sie
mir des Weiteren bestätigen, dass zunächst vom Bundeskriminalamt die Frage der technischen Durchführbarkeit
von Onlinedurchsuchungen geprüft wird - zumindest im
parlamentarischen Bereich liegen keinerlei Informationen vor, wie sie auch nur ansatzweise realisierbar wären,
ohne große Gefahren beispielsweise für die IT-Sicherheit insgesamt heraufzubeschwören - und dass dieses
Thema in weiteren Runden separat diskutiert werden
soll? Das ist zumindest mein Informationsstand.
({0})
Können Sie das bestätigen?
Herr Kollege Tauss, ich kann Ihnen zunächst einmal
bestätigen, dass die Frage der gesetzlichen Grundlagen
im präventiven Bereich zurzeit juristisch geklärt wird.
Ich darf darauf hinweisen, dass der Innenminister eines
großen deutschen Bundeslandes, Herr Wolf, der von
einer auch in diesem Haus vertretenen Partei gestellt
wird, der Auffassung ist, dass er in Nordrhein-Westfalen
über eine ausreichende gesetzliche Grundlage verfügt.
Das wird zurzeit dort juristisch geklärt. Wir werden aus
den möglichen Entscheidungen auch im Hinblick auf
Nordrhein-Westfalen selbstverständlich entsprechende
Schlussfolgerungen für unseren Bereich zu ziehen haben. Das werden wir als Verfassungsministerium mit der
gebotenen Sorgfalt tun.
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, Herr Kollege
Tauss, dass schon die alte Bundesregierung der Auffassung war, dass Onlinedurchsuchungen unter bestimmten
Voraussetzungen notwendig und unverzichtbar sind
({0})
und dass sich nach meiner Kenntnis dieser Meinungsstand der Bundesregierung auch in den letzten Monaten
nicht geändert hat.
Die Fragen 14 bis 21 der Abgeordneten Jerzy
Montag, Jan Korte, Michael Leutert und Silke Stokar
von Neuforn zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Günther auf:
Bestätigt die Bundesregierung den Baubeginn des Jagdbergtunnels auf der Autobahn 4 bei Jena am 1. Juni 2007, obwohl durch die Novellierung der Richtlinien für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln, RABT, 2006 eine
neue Situation gegenüber dem Planungsverfahren entstanden
ist?
Zur Beantwortung der Frage steht die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth zur Verfügung.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Vielleicht gestatten Sie mir, die Frage 23 mitzubeantworten, weil
beide Fragen zusammengehören.
Ich rufe die Frage 23 auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, dass mit der Novellierung der RABT 2006 bis zu 1 600 Gefahrguttransporter auf
Umleitungsstrecken verwiesen werden müssen, die teilweise
Steigungen über 10 Prozent haben und durch mehrere Orte
führen?
Das Gesamtsicherheitskonzept eines Straßentunnels,
welches gemäß den neuen Richtlinien für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln - das ist die
RABT 2006 - zum Zeitpunkt des Planfeststellungsbeschlusses vorliegen sollte, kann nachgereicht werden.
Dies ist im Fall des Jagdbergtunnels vertretbar, weil das
Planverfahren zu diesem Tunnel bereits 2004 eingeleitet
wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die sich aus der Umsetzung der EU-Tunnelrichtlinie 2004/53/EG ergebenden Änderungen, die zur RABT 2006 geführt haben - es
ging dabei hauptsächlich um organisatorische Änderungen -, noch nicht bekannt.
Der Jagdbergtunnel wird jedoch eine betriebstechnische Ausstattung erhalten, die in vollem Umfang den
Anforderungen der Richtlinie RABT 2006 und damit
dem Stand der Technik entspricht. Insofern bestehen aus
der Sicht der Bundesregierung keine Bedenken gegen
den geplanten Baubeginn, sobald das Baurecht vorliegt
und alle vergaberechtlichen Fragen geklärt sind. Die erforderlichen Prüfungen im Zusammenhang mit der Vergabe der Bauarbeiten im Abschnitt Magdala bis JenaGöschwitz, zu welchen auch der Jagdbergtunnel gehört,
sind noch nicht abgeschlossen.
Des Weiteren ist der Planfeststellungsbeschluss zurzeit mit einem Eilantrag der Kläger zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beklagt. Das zuständige Bundesverwaltungsgericht hat sich ausbedungen,
dass mit dem Bau oder mit sonstigen Maßnahmen, die
dem Antrag der Kläger zuwiderlaufen, vor seiner Entscheidung über die Eilanträge noch nicht begonnen wird.
Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts steht
noch aus.
Zur Frage 23. Die gemäß RABT 2006 Abschnitt 9 erforderlichen Risikoanalysen dienen der Abwägung der
Fahrrouten für Gefahrguttransporte entweder durch den
Tunnel oder über eine Alternativroute im übrigen Straßennetz. Die Prüfung und Beurteilung der Frage, ob und
gegebenenfalls welche Gefahrguttransporte auf Umleitungsstrecken verwiesen werden müssen oder gegebenenfalls unter Auflagen durch den Tunnel fahren dürfen,
ist mithilfe einer Risikoanalyse für jeden Tunnel gesondert zu beantworten und fällt hier in die Zuständigkeit
der obersten Verkehrsbehörde des Landes Thüringen.
Nach einem Beschlussvorschlag von Thüringen, dem
die Verkehrsministerkonferenz am 18./19. April 2007
einstimmig zugestimmt hat, soll das Thema „Nutzung
von Tunneln durch kennzeichnungspflichtige Gefahrguttransporte“ im Rahmen eines neuen Länderarbeitskreises
unter Beteiligung des Bundes grundlegend bearbeitet
werden.
Herr Günther, haben Sie eine Nachfrage?
Frau Staatssekretärin, wenn man sich die Lage des
Tunnels auf der Landkarte anschaut und wenn man die
vom Land Thüringen - Sie haben vorhin dieses Stichwort benutzt - genannte Umleitungsvariante für Gefahrguttransporte betrachtet, dann kann man erkennen, dass
aufgrund dieses Tunnels bis zu 1 400 Fahrzeuge pro Jahr
durch kleine Ortschaften mit Steigungen von bis zu
10 Prozent fahren müssen. Diese Gefahrensituation ist
meines Erachtens noch nicht geklärt.
Da Sie dieses Problem angehen wollen, frage ich Sie:
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass man zumindest
eine Fahrspur der jetzigen Autobahn als Alternative für
Gefahrguttransporte offenhalten sollte?
Herr Kollege Günther, das Problem ist, dass die zur
Verfügung stehenden Fahrspuren natürlich den Standard
haben müssen, der für die risikofreie Nutzung durch die
Lkws erforderlich ist. An dieser Stelle muss es eine Abwägung geben.
Die Spur, von der Sie gesagt haben, dass man sie nutzen könnte, wird im Rahmen des Verfahrens herabgestuft und zurückgebaut. Sie kann also als Trasse nicht
genutzt werden. Das wäre ohnehin nicht möglich, weil
sie den Risikoanforderungen, die wir ausführlich im Zusammenhang mit dem Bau des Tunnels besprochen haben, nicht entspricht.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Günther?
Es schließen sich zu diesem Thema noch zwei weitere
Fragen an. Aber ich will schon an dieser Stelle sagen,
dass eine bestehende Trasse nicht zwangsläufig zurückgebaut werden muss, Frau Staatssekretärin.
Es geht doch darum, dass die jetzige Trasse aus der
Sicht der Straßenbauverwaltung den bestehenden Anforderungen - auch was die Sicherheit angeht - nicht genügt. Sie kann also nicht als Umleitung für bestimmte
Gefahrguttransporte genutzt werden. Deshalb ist es
wichtig, dass im Rahmen dieses Tunnelbaus folgende
Fragen in Thüringen beantwortet werden müssen: Welche Gefahrguttransporte dürfen den Tunnel befahren,
und welche Umleitungen gibt es?
Aber Ihr Vorschlag, die jetzige Trasse beizubehalten,
um auf ihr gefährliche Güter zu transportieren, kann aus
Sicht der Straßenverwaltung nicht umgesetzt werden,
weil diese den heutigen Anforderungen nicht entspricht.
Dann gibt es jetzt eine Nachfrage des Kollegen
Königshaus.
Frau Staatssekretärin, das klingt etwas merkwürdig.
Deshalb frage ich: Kann es tatsächlich sein, dass für
Bundesstraßen und Ortsdurchfahrten, die zum Teil eine
Steigung von mehr als 10 Prozent und gewundene Strecken haben, geringere Anforderungen gelten sollen als
für eine bestehende Autobahnstrecke, die bisher genutzt
wird? Sie müssten sie ja sofort schließen, wenn sie für
Gefahrguttransporte nicht zugelassen wäre. Halten Sie
das wirklich für eine konsistente Betrachtung?
Ich gehe davon aus, dass vor Ort geprüft wird, ob und
in welcher Weise diese Trasse genutzt werden kann; das
ist die entscheidende Frage. Es ist noch nicht geklärt, ob
alle Güter durch den Tunnel transportiert werden dürfen.
Das Thema ist ja: Was kann durch den Tunnel transportiert werden, und was muss gegebenenfalls über eine andere Strecke geleitet werden? Diese Frage muss vor Ort
geprüft werden.
Es ist auf jeden Fall so, dass die Einschätzung besteht,
dass, wenn bestimmte Lkws den Tunnel nicht durchfah9436
ren dürfen - es ist noch nicht geklärt, ob dies der Fall ist -,
auch die jetzige Trasse für sie nicht tauglich ist. Das geben die erhöhten Anforderungen der EU vor, die, wie Sie
wissen, aufgrund mehrerer Unglücke in verschiedenen
Tunnel festgelegt worden sind. Insofern ist, bezogen auf
die Neubauten von Tunnel, die Tunnelsicherheit, die wir
heute haben, natürlich viel höher. Die neue Richtlinie
dient dazu, eine möglichst hohe Sicherheit für die am
Verkehr Teilnehmenden zu gewährleisten.
Insofern bitte ich darum, dass wir zunächst einmal
prüfen: Wie sieht es erstens mit dem Tunnel aus? Das ist
die Risikoanalyse. Zweitens sollten wir, falls notwendig,
darüber nachdenken, in welcher Weise Gefahrgut-Lkws
geleitet werden.
Jetzt gibt es eine weitere Nachfrage des Kollegen
Manfred Grund.
Vielen Dank. - Diese Diskussion ist ja nicht nur vor
dem Hintergrund neu zu bauender Tunnel zu führen, wie
dies die Fragesteller bisher getan haben. Bei dieser Diskussion geht es auch um Tunnel, die aufgrund der Erkenntnisse nach den Unglücken in Alpentunnel sicherheitstechnisch hervorragend ausgerüstet worden sind, in
deren Bau und Nachrüstung die Erfahrungen und der
neue Erkenntnisstand geflossen sind und durch die trotzdem keine Gefahrguttransporte geführt werden.
({0})
Haben Sie irgendeine Vermutung, warum trotz sicherheitstechnisch hochgerüsteter und mit sehr viel Geld
umgerüsteter und aufgebauter Tunnelwarnsysteme und
-leitsysteme Gefahrguttransporte vor diesen Tunnel anzuhalten haben, auf Bundes- und Landstraßen ausweichen müssen und durch Orte bzw. Dörfer und über Brücken, die kaum gesichert sind, fahren müssen? Was ist
der Anlass dafür, dass diese Gefahrguttransporte nicht
durch diese Tunnel geleitet werden?
Frau Präsidentin, Herr Kollege, es ist klar, dass die
Risikoanalyse jeweils vor Ort von den Straßenbauverwaltungen vorgenommen wird. In welcher Weise Gefahrgut-Lkws geleitet werden, liegt in der Verantwortung
der Länder. Dass es hier offensichtlich Handlungsbedarf
gibt, zeigt sich daran, dass auf Länderebene im Rahmen
der Verkehrsministerkonferenz, die ja gerade getagt hat,
eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden ist, um sich dieses Themas genauer anzunehmen. Wir haben gemeinsam
ein Interesse daran, eine entsprechende Risikoanalyse
nicht nur für Tunnel, sondern auch für notwendige Umleitungen vorzunehmen.
Insofern liegen wir nicht weit auseinander. Die Frage
ist: Welche Parameter gelten für solche Umleitungen?
Dazu wird die genannte Arbeitsgruppe sicher entsprechende Informationen liefern und Entscheidungen vorbereiten.
Damit kommen wir zur Frage 24 des Kollegen Uwe
Barth:
Hat die Bundesregierung bei der Novellierung der Richtlinie für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunnel
2006 geprüft, ob die Einrichtung von Gefahrgutsammelstellen
für besondere Durchfahrtszeiten an den Tunneleingängen
möglich und sinnvoll ist?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Die Beurteilung der Notwendigkeit zur Einrichtung
derartiger Gefahrgutsammelstellen an Tunneleingängen
liegt in der Zuständigkeit der obersten Verkehrsbehörden
der Länder. Im Rahmen der Stellungnahmen der Länder
zu dem Entwurf der Richtlinie für die Ausstattung und
den Betrieb von Straßentunneln 2006, RABT, sind seinerzeit keine Vorschläge gemacht worden. Das Thema
Nutzung von Tunneln durch kennzeichnungspflichtige
Gefahrguttransporte wird vor dem Hintergrund einer Beschlussvorlage von Thüringen, der die Verkehrsministerkonferenz am 18. April einstimmig zugestimmt hat, im
Rahmen eines neuen Länderarbeitskreises unter Beteiligung des Bundes grundlegend bearbeitet werden.
Der Beschlussvorschlag von Thüringen lautet: Das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird gebeten, über Risikoanalysen für Gefahrguttransporte mit den Ländern in Erörterungen über Lösungsmöglichkeiten einzutreten und den Ländern in der
nächsten Verkehrsministerkonferenz am 9. und 10. Oktober 2007 zu berichten.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Ich würde gerne meine Nachfragen nach der Beantwortung meiner zweiten Frage stellen.
Wenn Sie das Thema gern im Zusammenhang bearbeiten möchten, dann rufe ich die Frage 25 auf:
Hält die Bundesregierung zur Vermeidung zusätzlicher
Belastungen der von einer Umgehung betroffenen Orte eine
Lösung dahin gehend für sinnvoll, eine Fahrspur der alten
Streckenführung der Autobahn 4 für Gefahrguttransporte oder
als Ausweichstrecke im Falle von Havarien im Tunnel aufrechtzuerhalten, und, wenn nein, welche Gründe sprechen dagegen?
Die Bundesregierung geht davon aus, dass Sie in Ihrer
Frage den Bereich Magdala bis Jena-Göschwitz mit dem
Jagdbergtunnel ansprechen. Im betreffenden Fall wird
die Trasse nach Norden verlegt und die alte Strecke vollständig zurückgebaut. Dieser Rückbau ist als zentrale
Ausgleichsmaßnahme Bestandteil des landespflegerischen Begleitplanes und im Planfeststellungsbeschluss
festgeschrieben.
Die Aufgabe der Bestandsstrecke erfolgt unter anderem aufgrund der extremen und langen Steigungsverhältnisse sowie der nicht mehr standardgemäßen Trassierung, wobei es mit schweren Lkw, insbesondere im
Winter, häufig zu Problemen kommt. Daher kann die
alte Trassenführung nicht für Gefahrguttransporte oder
als Ausweichstrecke im Falle von Havarien im Tunnel
aufrechterhalten werden.
Ich habe gerade in meiner Antwort ein wenig vorgegriffen, jetzt aber die Gründe noch einmal in aller Ausführlichkeit dargelegt.
Da nun die Fragen 24 und 25 beantwortet worden
sind, haben Sie die Möglichkeit zu vier Nachfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, nachdem ich Ihren Ausführungen gefolgt bin, drängt
sich mir die Frage auf, warum man sich an dieser Stelle
für einen Tunnel, der mit all den angesprochenen Problemen behaftet ist, und gegen einen Ausbau der bestehenden Strecke - ein solcher ist an vielen Stellen möglich,
schließlich wird die A 4 seit vielen Jahren sechsspurig
ausgebaut, und nur in sehr wenigen Fällen war es nötig,
völlig neue Streckenführungen vorzunehmen - entschieden hat. Was waren die ausschlaggebenden Gründe für
die Entscheidung zugunsten des Tunnels?
Es gab aufgrund der Linienführung und im Rahmen
des Planfeststellungsverfahrens Gründe, die vor allen
Dingen die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigen,
die zu dieser Entscheidung geführt haben. Ich habe ausgeführt, dass das Projekt beklagt wird. Der Tunnel ist sozusagen nicht unumstritten. Deshalb werden wir abwarten müssen, wie das Bundesverwaltungsgericht in der
Sache entscheiden wird. Im Rahmen der Planung hat
man sich vor allen Dingen deshalb für den Tunnel entschieden, weil er eine Leichtigkeit des Verkehrs gewährleistet.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Da ich Jenenser bin, fahre ich diese Strecke gelegentlich und hoffe, dass ich, wenn ich das hohe Alter erreiche, auch den Tunnel nach seiner Fertigstellung einmal
nutzen kann. Stimmen Sie meiner Behauptung zu, dass
es sich dem normalen gesunden Menschenverstand nicht
sofort erschließt, dass man eine bestehende Strecke, auf
der derzeit mehrere zehntausend Fahrzeuge, darunter
auch die gesamte Palette der kennzeichnungspflichtigen
Gefahrguttransporte, täglich rollen, aufgibt und sogar als
Ausweichstrecke als ungeeignet, weil zu gefährlich, definiert und stattdessen eine Trassenführung für die Umleitungsstrecke vorschlägt, die nicht nur enorme Steigungen hat, sondern auch durch bebaute Gebiete, durch
Ortschaften führt? Meinen Sie wirklich, dass das der
bessere Weg ist?
Herr Kollege Barth, ich hoffe, dass Sie noch lange im
Bundestag sein werden und auch bei der Tunneleröffnung dabei sein können. Ich denke, Sie sind jung genug.
Das sage ich bezogen auf Ihre Bemerkung, wie lange das
dauern kann.
Sie haben Ihre Frage selbst beantwortet, indem Sie
gesagt haben, dass die derzeitige Strecke ohnehin nicht
das Optimale ist; das ist ja die Begründung, warum man
den Ausweichverkehr auf dieser Strecke nicht führt.
({0})
- Sie haben aber gesagt, dass die jetzige Strecke nicht
optimal ist.
Jetzt geht es einfach darum, zu prüfen - auch im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens -, wie diese Trasse
hinsichtlich des Tunnels zu gestalten ist. Ich gehe davon
aus, dass die gesammelte Fachkompetenz, die auf Länderebene und auf unserer Seite vorhanden ist, gesehen
hat, dass wir hier etwas tun müssen. Deshalb gibt es die
Tunnelvariante.
Ich kann Ihnen sagen: Es gibt in Deutschland sehr
viele Neubauten von Autobahnen und Bundesstraßen,
bei denen es zu Tunnellösungen kam, weil es einfach
notwendig sein kann, Trassen mit Tunnel zu bauen. Insofern findet hier kein einmaliges Ereignis statt. Wichtig
sind erstens das Verkehrsaufkommen, zweitens die
Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs und drittens die
entsprechenden Alternativen. Wenn das nicht nötig gewesen wäre, wäre man nicht auf die Idee gekommen,
eine solch durchaus kostenintensive Lösung vorzubereiten.
Sie haben die Möglichkeit zu zwei weiteren Nachfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, könnten Sie mir bitte Ihre Einschätzung dazu geben,
wie sich der Um- und Ausbau dieser Umleitungsstrecke
im Weiteren auswirken wird? Sie haben ausgeführt, dass
auf dieser vorgesehenen Trasse entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Das ist in aller
Regel mit umfänglichen Eingriffen verbunden. Ich
denke gerade daran, dass die Abflachung größerer Steigungen auch nicht mit drei Schaufeln Sand getan ist.
Hier wird es also zu enormen Eingriffen kommen, die
gegebenenfalls weitere Ausgleichsmaßnahmen nach sich
ziehen werden. Ist denn dies alles in eine Kosten-Nutzen-Berechnung der Gesamtmaßnahme, also auch der
Entscheidung für den Tunnel und gegen den Ausbau der
bestehenden Strecke, einbezogen worden?
Frau Präsidentin, Herr Kollege, ich glaube, man sollte
nicht spekulieren nach dem Motto „Was wäre wenn?“.
Man muss erst einmal klären, welche Gefahrgüter durch
den Tunnel gefahren werden können. Diese Frage wird
geklärt. Danach muss geklärt werden, ob es überhaupt
notwendig ist, Ausweichstrecken zu organisieren. Ich
gehe davon aus, dass der Freistaat Thüringen das im
Rahmen seiner Kompetenzen hervorragend tut.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Königshaus das
Wort.
Frau Präsidentin, ich habe zu jeder der beiden Fragen
eine Nachfrage. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich
gleich beide nacheinander stellen.
Da Sie die Möglichkeit, einzugreifen, vorhin nicht
hatten, bitte.
Danke schön. - Frau Staatssekretärin, wenn Sie sagen, man solle nicht spekulieren, gebe ich Ihnen Recht.
Aber man sollte Vorsorge treffen. Meinen Sie nicht auch,
dass es beispielsweise ganz vernünftig ist, Risikoabwägungen anzustellen - das hat nichts mit Spekulation zu
tun -, bevor man eine Planung endgültig feststellt und
abschließt, wie es hier der Fall ist?
Frau Präsidentin, Herr Kollege, es ist ganz schlicht
und einfach so, dass das Land Thüringen die Vorschläge
gegenüber dem Bund macht und dann im Rahmen des
Planfeststellungsverfahrens die Planungen festgestellt
werden. Insofern verlassen wir uns auf die Kompetenz
des jeweiligen Landes, in diesem Fall die Kompetenz
des Freistaates Thüringen.
Ihre zweite Nachfrage.
Es ist nachvollziehbar, dass Sie dem Land Thüringen
eine hohe Kompetenz zuweisen. Das bedeutet aber nicht,
dass Sie Ihre eigene Kompetenz völlig zurückstellen.
Hier haben wir als Ergebnis gerade feststellen können,
dass Sie in Zukunft Gefahrguttransporte, die bisher auf
der Autobahn abgewickelt wurden, auf einer Trasse, die
Ihnen, obwohl sie durch unbewohntes Gebiet führt,
schon zu gefährlich erscheint, durch bewohnte Gebiete
und durch Ortschaften führen wollen, die dafür überhaupt nicht vorgesehen sind. Sie produzieren dadurch
eine enorme zusätzliche Gefahr. In diesem Fall müssen
Sie sich doch fragen, ob dieser Ausbau in dieser Form
überhaupt vertretbar und verantwortbar ist. Teilen Sie
meine Auffassung?
Damit ist die Frage gestellt. - Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin, Herr Kollege, ich habe gerade deutlich gemacht, dass die Frage, ob Gefahrguttransporte
überhaupt umgeleitet werden müssen, gar nicht geklärt
ist. Insofern sollten wir einfach das Ergebnis der Prüfung
abwarten.
Damit hat der Kollege Günther die Möglichkeit zu
einer Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Frage ist theoretisch geklärt, denn durch den Tunnel auf der A 38 - ebenfalls in
Thüringen liegend - dürfen diese Gefahrguttransporte
auch nicht durchfahren. Es ist für mich völlig unvorstellbar, dass sie jetzt durch den anderen Tunnel fahren dürfen, weil es da ein EU-Recht gibt. Wenn Sie hier schon
dargestellt haben, dass das Land Thüringen noch einmal
einen Bericht über Gefahrgutsammelstellen haben will,
wäre es da nicht angebracht, von vornherein so etwas für
den Fall einzuplanen, dass es keine andere Möglichkeit
gibt? Wäre dann nicht Ihr Einfluss als Bundesregierung
maßgeblich, dass das Planungsverfahren erst weitergeht,
wenn Gefahrgutsammelstellen eingerichtet worden sind?
Bitte.
Ich habe deutlich gemacht, dass die Frage der Gefahrgutsammelstellen nicht Sache des Bundes, sondern die
der Länder ist. Ich sage es noch einmal: Es ist mir wichtig, dass wir zunächst einmal das Verfahren abwarten,
um dann zu prüfen, was für das Land Thüringen möglich
und machbar ist. Dass eine Sensibilität vorhanden ist, sehen Sie schon allein daran, dass auf Initiative von Thüringen bis zum Oktober dieses Jahres entsprechende
Vorschläge gemacht werden sollen. Insofern: Warten wir
doch die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe ab, und reden
wir dann noch einmal darüber.
Ich gehe davon aus, dass dies die Nachfragen waren. Kollege Barth, jetzt waren Sie ein wenig zu langsam. Ich
habe vorhin extra geschaut, aber das geht jetzt gar nicht.
Wir sind immer noch beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen 26 und 27 steht aber der
Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann zur
Verfügung.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Frage 26 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Inwieweit hält die Bundesregierung die Kostenschätzung
für das Transrapidprojekt München des Sachstandsberichtes
vom 30. Juni 2004 in Höhe von 1,85 Milliarden Euro vor dem
Hintergrund gestiegener Sicherheits- und Brandschutzanforderungen noch für aktuell, und welche Kostenfortschreibungen hat die Bundesregierung vorgenommen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Dr. Hofreiter, die Bundesregierung geht davon aus, dass
im sogenannten Lastenheft der Deutschen Bahn AG, das
die Anforderungen für das Projekt München festlegt,
sämtliche sicherheitsrelevanten Aspekte hinreichend berücksichtigt worden sind und zudem bereits in die Planfeststellung und in die Kostenschätzungen eingeflossen
sind. Von daher gibt es keinen Anlass, ohne neue Erkenntnisse von den bisher vorliegenden Schätzungen der
Machbarkeitsstudie abzuweichen. Im Übrigen berücksichtigen die Kostenschätzungen nicht das Optimierungspotenzial, das dem Bund im Rahmen des Weiterentwicklungsprogramms geschuldet ist.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage. - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr
Staatssekretär, für die Beantwortung so weit. Habe ich
Sie also richtig verstanden, dass all die problematischen
Dinge, die im Moment diskutiert werden, unter anderem
von den Berufsfeuerwehren, in dieser Kostenschätzung
nicht berücksichtigt sind? Dabei wird davon geredet,
dass man weitaus größere Rettungsschächte brauche und
dass die Tunneltieflage mit 40 Metern sehr umfangreiche Umbauarbeiten erforderlich mache, die alle nicht berücksichtigt seien. Das heißt, all das ist in den 1,85 Milliarden Euro nicht berücksichtigt, sondern nur das alte
Lastenheft, hinsichtlich dessen führende Fachleute meinen, dass es nicht ausreichend sei? Sie planen auch nicht,
dies zukünftig zu berücksichtigen?
Herr Kollege Hofreiter, das alles habe ich nicht gesagt; das wissen Sie auch. Ich lese noch einmal den Satz
vor: Von daher gibt es keinen Anlass, ohne neue Erkenntnisse von den bisher vorliegenden Schätzungen der
Machbarkeitsstudie abzuweichen. Das bedeutet - wir
sind ja im Planfeststellungsverfahren -, dass wir, wenn
neue Erkenntnisse vorlägen, natürlich auf sie eingehen
müssten. Das, was Sie zitieren, sind Meinungen, die man
teilen kann, aber nicht teilen muss. Deshalb war mein
Petitum: Warten wir doch ab, ob wirklich neue Erkenntnisse vorliegen. Wenn sie vorliegen, dann stellen wir uns
diesen. Bis dahin gibt es keine Notwendigkeit, eine andere Summe zu unterstellen.
Ihre zweite Nachfrage.
Das heißt also, dass Feststellungen von Fachleuten
der Stadt München, zum Beispiel von der Berufsfeuerwehr, die teilweise schriftlich getroffen wurden, Meinungen und keine Erkenntnisse sind?
Herr Dr. Hofreiter, der Bundesregierung liegen diese
Unterlagen nicht vor, weil sie am Planfeststellungsverfahren nicht beteiligt ist. Von daher lege ich großen Wert
darauf, dass wir die Verantwortungen so belassen, wie
sie verteilt sind. Wir stellen uns diesem Thema dann,
wenn es für uns relevant wird. Ansonsten respektieren
wir den ganz normalen Ablauf des Planfeststellungsverfahrens. Die Anregungen und Einwendungen, die in diesem Rahmen geäußert werden, werden von der Planfeststellungsbehörde sauber aufgearbeitet und sicherlich
auch bewertet. Irgendwann gibt es ein Ergebnis. Dem
haben wir uns dann zu stellen.
Damit kommen wir zur Frage 27 des Kollegen
Dr. Anton Hofreiter:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung der
Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr, dass dem Transrapid keine Wintertauglichkeit zugeschrieben werden kann, und welche Auswirkungen hat das
auf das finanzielle Engagement des Bundes für das Transrapidprojekt München, das von einem ganzjährigen Fahrbetrieb ausgeht?
Bitte, Herr Staatsekretär.
Kollege Dr. Hofreiter, es ist vorgesehen, einen Zuschuss zum Bau des Projektes München zu gewähren.
Zuschüsse für den Betrieb sind weder vorgesehen noch
erforderlich. Das Betriebskonzept der DB Magnetbahn
GmbH, das Bestandteil des Lastenheftes ist, berücksichtigt die Anforderungen, die an den Betrieb der Anlage
im Winter zu stellen sind.
Ihre erste Nachfrage.
Wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung
des TÜV, dass die Anlage, so wie sie in Lathen steht,
nicht wintertauglich ist und dass auch im Hinblick auf
den Bau der Anlage in München keine Wintertauglichkeit gegeben ist? Die Wintertauglichkeit könnte nur
durch eine Einhausung erreicht werden. Das hätte aber
komplett andere Kosten zur Folge.
Auch wenn die Temperaturen im Emsland vergleichsweise mild sind, konnten in der Vergangenheit während
verschiedener Dauerfrostperioden Erfahrungswerte gesammelt werden. Es hat sich beispielsweise bestätigt,
dass die Selbsträumeigenschaft des Transrapid bei
Schnee greift. Im Hinblick auf das Transrapidprojekt in
München ist geplant, die Magnetschwebebahn in einem
10-Minuten-Takt verkehren zu lassen. Dass sich Eis und
Schnee innerhalb dieser Zeit überhaupt in kritischen
Mengen auf dem Fahrweg ablagern können, ist gerade
aufgrund der oben genannten Selbsträumeigenschaft unwahrscheinlich. Das heißt, dass die Erfahrungen, die wir
bisher gemacht haben, die Schlüsse, die Sie vorgetragen
haben, nicht zulassen.
Trotzdem ist es so, dass der Transrapid nach den Ausführungsunterlagen natürlich über Umgebungseigenschaften verfügen muss, die deutschlandweit gelten.
Dazu zählt, dass ein Fahrbetrieb bei einer Lufttemperatur von minus 25 Grad bis plus 40 Grad möglich ist und
dass die Schneehöhe auf dem Fahrwegtisch maximal
zehn Zentimeter betragen darf. Auch hier gibt es also
Hinweise bzw. genaue Festlegungen, was erforderlich
und nötig ist.
Ihre zweite Nachfrage.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie davon ausgehen, dass der Transrapid rund um die Uhr im 10-Minuten-Takt fährt? Man kann sich ja nicht darauf verlassen,
dass es nur in den Zeiträumen, in denen er im 10-Minuten-Takt fährt, schneit.
({0})
Es sind weitere Sicherheitsvorkehrungen eingebaut;
das wissen Sie. So wird zum Beispiel dann, wenn der
Transrapid nicht im 10-Minuten-Rhythmus fährt, zwi-
schendurch gemessen.
Das waren Ihre zwei Nachfragen und die Antworten.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen 28 und 29 des Kollegen
Peter Hettlich. Diese werden schriftlich beantwortet.
Auch die Fragen 30 und 31 der Abgeordneten Pau
werden schriftlich beantwortet, da die Fragestellerin im
Moment erkennbar einer anderen Tätigkeit nachgeht.
Damit kommen wir zu den Fragen 32 und 33 des Kol-
legen Jan Mücke. Auch diese Fragen werden schriftlich
beantwortet.1)
1) Die Antworten lagen bei Redaktionsschluss nicht vor und werden
deshalb zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Veronika Bellmann
auf:
Wie steht die Bundesregierung zur Erweiterung des prioritären Projektes 22 des transeuropäischen Verkehrsnetzes,
TEN-T, von Prag nach Norden über Dresden-Berlin-Nord-/
Ostseehäfen im Zuge der nächsten Revision der Leitlinien für
das transeuropäische Verkehrsnetz 2009/2010, und wie
schätzt die Bundesregierung die infrastrukturelle und wirtschaftliche Entwicklung des ost- und mitteldeutschen Raumes
ein, wenn diese Erweiterung nicht vorgenommen wird?
Sehr geehrte Frau Kollegin Bellmann, im Rahmen der
für 2010 vorgesehenen Revision der TEN-Leitlinien
wird sehr sorgfältig zu prüfen sein, ob eine Verlängerung
des Vordringlichen Vorhabens Nr. 22 über Dresden hinaus beantragt werden sollte, obwohl die entsprechenden deutschen Bauprojekte bis dahin unter Umständen
bereits begonnen wurden oder deren Finanzierung gesichert ist.
So sind zum Beispiel der Ausbau der Strecke
Berlin-Dresden Bestandteil des Investitionsrahmenplans
und die Fortführung des Ausbaus der Strecke
Berlin-Rostock ein mögliches Projekt im Rahmen des
EFRE-Bundesprogramms 2007 bis 2013. Die Vergrößerung des Umfangs der Vordringlichen Vorhaben führt
nur zu weiterer Konkurrenz um die sehr begrenzten
Mittel der Haushaltslinie für transeuropäische Netze,
verringert damit die Wahrscheinlichkeit der Zuschussgewährung und vermindert die Möglichkeit, durch Konzentration auf wenige Vorhaben eine maximale und damit effektive Förderung zu erreichen. Auf eine
Förderung aus der Haushaltslinie für transeuropäische
Netze gibt es keinen Rechtsanspruch. Dies gilt auch für
Vorhaben, die als vordringlich ausgewiesen sind. Daher
wäre es äußerst bedenklich, die Realisierung von Projekten von TEN-Zuschüssen abhängig zu machen oder ihre
Realisierung durch die Ausweisung als vordringliches
Vorhaben erreichen zu wollen. Die Entwicklung des ostund mitteldeutschen Raumes ist daher nicht abhängig
von einer Verlängerung des vorrangigen Vorhabens über
Dresden hinaus. Entscheidend für die Verbesserung der
Schieneninfrastruktur ist die Finanzierbarkeit aus dem
Bundeshaushalt und die Prioritätenreihung gemäß der
Bundesverkehrswegeplanung.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Sie haben eben die Strecke Berlin-Dresden angesprochen; ich zähle auch noch die Sachsen-Franken-Magistrale hinzu. Ich möchte einmal unabhängig von dem
Thema TEN nachfragen: Inwiefern gedenken Sie denn
Ihren Einfluss auf die Deutsche Bahn geltend zu machen, die sich trotz der Vorgaben, die wir zum Beispiel
durch die Einstufung der Strecke Berlin-Dresden als
vordringlichen Bedarf gemacht haben, mit Investitionen
- um das einmal vorsichtig zu formulieren - relativ zurückhält?
Sie können sich nur auf einen Presseartikel beziehen,
den auch ich am Montag in meiner Postmappe gefunden
und auf den ich mit Unverständnis reagiert habe. Es ist
Ihnen sicher bekannt, dass zwischen dem sächsischen
Verkehrsminister, Herrn Jurk, und Minister Tiefensee
Gespräche stattgefunden haben. Ich selber habe mit dem
Netzvorstand der DB AG verhandelt. Wir werden im
Investitionsrahmenplan 2006 bis 2010 weitere Investitionen für die Sachsen-Franken-Magistrale vorsehen.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Ich glaube, bei der Sachsen-Franken-Magistrale sind
die verkehrspolitischen Entscheidungen getroffen, auch
was die Finanzierung betrifft. Aber auch bei der Strecke
Berlin-Dresden, die im Rahmen der Nord-Süd-Verbindung wichtig ist - Rostock-Berlin-Dresden-Prag-Wien
und weiter zu den Häfen in Südosteuropa -, ist die Bahn
unheimlich zurückhaltend, was Instandsetzung und Investitionen betrifft. Sie schiebt das immer wieder auf die
fehlenden Zuweisungen vom Bund.
({0})
Damit hat sie nicht ganz unrecht. Es ist kein Geheimnis, dass ich dem Parlament in vielen Debatten immer
wieder gesagt habe, dass für die Schieneninfrastruktur
mehr Geld bereitgestellt werden muss. Wir stellen pro
Jahr etwa 3,4 bis 3,5 Milliarden Euro für die Bahn zur
Verfügung. Bei den hohen Ansprüchen, die wir haben
- hier sitzen viele Kolleginnen und Kollegen, die mir
wahrscheinlich schon dazu Briefe geschrieben haben,
welches Bahnprojekt für sie wichtig ist -, und bei den
vielen Notwendigkeiten, die wir sehen, würde ich mir
schon wünschen, dass wir etwas mehr zur Verfügung
hätten. Insofern kann man wirklich nicht alles bei der
Bahn abladen. Ich darf nur daran erinnern, dass wir 2003
im Vermittlungsausschuss der Bahn mehrere Milliarden
Euro weggenommen und das langsam, auch in der Großen Koalition, wieder korrigiert haben.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
Rachel.
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Dr. Keskin auf:
Welchen Handlungsbedarf erkennt die Bundesregierung
nach dem aktuellen Bericht des UN-Bildungsexperten Vernor
Muñoz für den strukturellen Aufbau des deutschen Schulsystems?
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Keskin!
Sie stellen die Frage, welchen Handlungsbedarf die Bundesregierung nach dem aktuellen Bericht des UN-Bildungsexperten Muñoz für den strukturellen Aufbau des
deutschen Schulsystems erkennt. Deutschland gehört
dank seines leistungsfähigen Bildungssystems zu einer
der stärksten Wirtschaftsnationen und zu einer der stabilsten Demokratien der Welt. Die Bildungsbeteiligung
und das allgemeine Bildungsniveau haben sich bei
wachsender Nachfrage nach höherwertigen Bildungsabschlüssen in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht und
sind auch im internationalen Vergleich hoch.
({0})
Nach unserer verfassungsmäßigen Ordnung ist das
Recht auf Bildung gewährleistet. Die Verantwortung für
die Umsetzung im Bereich der Schulen tragen allerdings
die Länder. Gegenwärtig werden in den Ländern unterschiedliche Konzepte zur Weiterentwicklung einzelner
Schulformen diskutiert, die darauf abzielen, ein Höchstmaß an Mobilität, aber auch an Förderung für den einzelnen Schüler zu erreichen.
Herr Kollege, Sie haben eine Nachfrage.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
leider kann ich Ihre Bewertung nicht so ohne Weiteres
hinnehmen. Wie Sie wissen, sagt das nicht nur Herr
Muñoz, sondern es wird auch durch eine Reihe von
PISA-Studien mit aller Deutlichkeit belegt, dass das
deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich
ganz erhebliche Qualitätsdefizite aufweist.
Insbesondere Schüler aus sozial benachteiligten Familien bleiben im Bildungssystem hinsichtlich der Bildungschancen leider auf der Strecke. Ich möchte Sie also
noch einmal ganz konkret fragen: Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung die Bildungschancen von
Schülern aus sozial benachteiligten Familien verbessern
helfen?
Herr Kollege, die Frage der Zuständigkeit für die
Schulpolitik ist nach der Föderalismusreform noch einmal präzise beantwortet worden. Sie liegt ausschließlich
bei den Bundesländern. Insofern liegen auch die Veränderungen im Schulsystem selber in der Zuständigkeit der
Bundesländer. Diese Fragen sind also dort zu beantworten.
Die nächste Nachfrage hat der Kollege Tauss.
Herr Staatssekretär, ungeachtet dessen, dass es in diesem Bildungssystem natürlich Defizite gibt - das wollen
wir ja gar nicht schönreden -, habe ich an dieser Stelle
die Frage: Können Sie mir bestätigen, dass die Bundesregierung vorhat - das hat sie ja wohl vor -, das sehr erfolgreiche Ganztagsschulprogramm im Umfang von
4 Milliarden Euro fortzuführen, was wir in der Koalition
festgeschrieben haben? Die Schaffung von Ganztagsschulen war ja eine Antwort auf die PISA-Studien. Die
zweite Antwort gibt die gegenwärtige konkrete Debatte
über die Betreuung, die wir nicht als Betreuung, sondern
als frühkindliche Bildung ansehen sollten. So könnten
genau die hier beklagten sozialen Defizite ausgeglichen
werden.
Meine Frage lautet also: Können Sie bestätigen, dass
diese erfolgreichen Programme der Bundesregierung
nicht nur fortgeführt, sondern, wie die aktuellen Debatten zeigen, auch neu aufgegriffen werden?
Lieber Herr Kollege Tauss, es fällt mir recht leicht,
Ihnen genau dies zu bestätigen.
Unabhängig von der originären Zuständigkeit für die
Schulen bei den Ländern haben die Große Koalition und
die Bundesregierung beschlossen, das bisherige Ganztagsschulprogramm, das vor Vollzug der Föderalismusreform beschlossen wurde, auszubauen und bis zum Jahr
2009 fortzusetzen. Mit erheblichen Mitteln werden Bauinvestitionen in verschiedenen Teilen Deutschlands getätigt, mit dem Ziel, dort, wo ein Bedarf dafür besteht,
weil dies aus unterschiedlichen Gründen - aus familiären Gründen oder aufgrund einer Berufstätigkeit beider
Elternteile - den Familien nicht möglich ist, Kindern
auch am Nachmittag eine individuelle Förderung zu bieten.
Eine andere Frage, die den Bereich des Familienministeriums betrifft, ist die frühkindliche Förderung.
Hier besteht die bildungspolitische Einschätzung - diese
teilt das Bundesbildungs- und Forschungsministerium -,
dass die Kindergartenzeit und auch die frühkindliche Betreuung sehr wohl genutzt werden können und auch sollten, nicht nur die wichtige Phase des Spielens zu ermöglichen - diese hat weiterhin ihren Stellenwert -, sondern
auch Elemente der frühkindlichen Bildung zu integrieren.
({0})
Insofern müssen wir einen fließenden Übergang vom
Kindergarten in die Schule gewährleisten.
Der Kollege Keskin hat eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie nicht so verstanden haben, dass die Bundesregierung im Bildungsbereich keinerlei Kompetenzen besitzt, sodass nur die Bundesländer für diese Aufgabe zuständig sind. Ansonsten
bräuchten wir ja kein Ministerium für Bildungswesen
auf Bundesebene.
Deshalb möchte ich Sie erneut fragen. Eine weitere
grundsätzliche Kritik am Bildungssystem lautet, dass
wir hier in Deutschland ein zu stark gegliedertes Schulsystem haben. Nun ist in aller Munde, dass wir eine Art
integrative Gemeinschaftsschule bzw. ein entsprechendes Schulsystem benötigen. Wie ist die Haltung der Bundesregierung zu dieser Konzeption?
Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst möchte ich noch
einmal bestätigen, dass nach unserer verfassungsmäßigen Kompetenzzuordnung die Bundesländer für Fragen
der Schulpolitik originär zuständig sind. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat seine Zuständigkeit im Bildungssektor vor allem im Bereich der
beruflichen Ausbildung, im Bereich der Ausbildung insgesamt, im Bereich der Bildungsforschung und im Bereich der Hochschulen. Dies umfasst sowohl die Universitäten als auch die Fachhochschulen.
Zu den von Ihnen angesprochenen integrierten bzw.
mehrgliedrigen Schulsystemen möchte ich die Kultusministerkonferenz zitieren. Die Kultusministerkonferenz
hat nämlich in der Folge der Muñoz-Debatte noch einmal darauf hingewiesen, dass keines der Large-ScaleAssessments einen Hinweis darauf gibt, dass es einen
Zusammenhang zwischen dem Schulerfolg auf der einen
Seite und der Schulförderung und dem Schulsystem oder
der Schulstruktur auf der anderen Seite gibt.
Die Kultusministerkonferenz stellt richtig fest:
Während im internationalen Raum die Schulen am
besten abschnitten, die ein integriertes System haben, spiegelt sich dieser Zusammenhang in unserem Lande - der Bundesrepublik Deutschland nicht wider.
Ich ergänze an dieser Stelle: Dies hat auch die PISA-Studie gezeigt.
Die KMK führt weiter aus:
Gegenwärtig werden in Ländern unterschiedliche
Konzepte zur Weiterentwicklung einzelner Schulformen erprobt, die darauf abzielen, ein Höchstmaß
an Durchlässigkeit und an individueller Schülerförderung zu erreichen. Die Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland haben sich darauf verständigt, die notwendigen inhaltlichen Schulreformen
nicht durch eine Änderung des Schulsystems überlagern zu lassen.
So die Kultusministerkonferenz, in deren Hauptverantwortung dies liegt.
Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich gestehe, dass ich etwas verwirrt bin. Sie sprachen gerade davon, dass Ihr Ministerium unter anderem für Bildungsforschung zuständig ist.
Jetzt teilen Sie uns noch einmal mit, dass die Kultusministerkonferenz resistent gegen die Erkenntnisse ist, die
bereits vorliegen. Sie nimmt sie sozusagen per Beschluss
nicht zur Kenntnis; denn wenn ich den Bericht von
Herrn Muñoz sowie den Sonderbericht, den er über die
Situation von behinderten Schülerinnen und Schülern
genannt hat, einigermaßen richtig gelesen habe, muss ich
sagen: Er kritisiert gerade den hochgradig selektiven
Aspekt unseres Schulsystems. Die Erkenntnis ist ja vorhanden; sie müsste eigentlich auch in Ihren Forschungseinrichtungen vorhanden sein. Wenn diese Erkenntnis
also vorhanden ist und sich nur noch die Frage der Umsetzung stellt, dann möchte ich fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn vonseiten des Bundesministeriums zumindest eine öffentliche Kampagne ausginge, die darauf
abzielte, dieses hochgradig selektive Bildungssystem zugunsten eines möglichst langen gemeinsamen Lernens
aller Schülerinnen und Schüler zu überwinden.
Herr Kollege, Ihre Darstellung und Einschätzung integrativer Systeme wird von mir nicht geteilt. Im Übrigen haben die zuständigen Bildungsminister der Länder
diese Schlussfolgerung von Herrn Muñoz, der wörtlich
gesagt hat, das Thema der frühen Aufteilung der Kinder
sei noch einmal zu überdenken, anders eingeschätzt. Das
deckt sich auch nicht mit den wissenschaftlichen Ergebnissen der allgemeinen Studien - einschließlich der
PISA-Studie. Wahr ist, dass gerade Schulen der gegliederten Schulsysteme verschiedener Bundesländer im
Rahmen der PISA-Studie besonders gut abgeschnitten
haben. Insofern erfordert dies einen genaueren Blick.
Zur Frage der behinderten Kinder, die Sie angesprochen haben, können wir hier feststellen, dass es in
Deutschland sehr unterschiedliche und den Bedürfnissen
der Kinder entsprechende Angebote gibt. Insofern trifft
nicht zu, dass Kinder mit Behinderungen ausgegrenzt
werden, was Herr Muñoz in seinem Bericht angedeutet
hat. Im Gegenteil: Die curricularen Abstufungen zwischen einer integrativen Beschulung und einer Beschulung in Förderschulen erlauben gerade, das Recht von
behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern
und Jugendlichen auf eine ihren persönlichen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung und Erziehung
zu verwirklichen.
Die Fragen 36 und 37 der Kollegin Cornelia Hirsch
werden schriftlich beantwortet.
Damit komme ich zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Gerd
Andres bereit.
Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Dagmar
Enkelmann auf:
Mit welchem Konzept und zu welchem Zeitpunkt will die
Bundesregierung eine Angleichung des Rentenniveaus Ost an
West erreichen, wobei laut einem Bericht des MDR-Magazins
„Umschau“ die Einkünfte ostdeutscher Rentnerinnen und
Rentner um 20 Prozent unter denen in den alten Bundesländern liegen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Enkelmann, die Leistungen der gesetzlichen
Rentenversicherung sind vor allem darauf gerichtet, das
während des Berufslebens versicherte Einkommen in bestimmtem Umfang zu ersetzen. Die Angleichung der
Renten in den neuen Bundesländern an die Renten in den
alten Bundesländern ist deshalb von der tatsächlichen
Angleichung der Löhne und Einkommen der aktiv Beschäftigten abhängig. Bis zum 30. Juni 2007 beträgt der
aktuelle Rentenwert Ost 22,97 Euro. Damit ist er um
12 Prozent niedriger als der aktuelle Rentenwert West
mit 26,13 Euro. Bei den Löhnen ist der Unterschied
noch größer. Nach der aktuellen volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes betrugen die Bruttolöhne in den neuen Bundesländern im
Jahre 2006 im Durchschnitt 21 340 Euro. Damit sind die
Löhne um 22 Prozent geringer als die in den alten Bundesländern. Diese betrugen durchschnittlich 27 554 Euro.
Da die Renten grundsätzlich den Löhnen folgen, ist von
daher bereits eine Besserstellung der Ostrentner gegeben.
Richtig ist, dass die Renten in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Rentenüberleitung
eine deutlich stärkere Dynamik aufwiesen. Dies lag jedoch an den wesentlich stärkeren Lohnsteigerungen in
den ersten Nachwendejahren. Wir dürfen jedoch nicht
vergessen, dass sich die Löhne von einem recht niedrigen Niveau aufwärts entwickelt haben. Wenn die Löhne
und Gehälter der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern nun nicht mehr entsprechend einem in der Vergangenheit gewohnten Tempo steigen, kann sich für die
Rentenbezieher in den neuen Bundesländern keine günstigere Einkommensentwicklung ergeben.
Zu den durchschnittlichen Nettoeinkommen der Senioren im Alter ab 65 Jahren ist Folgendes anzumerken:
Die gesetzliche Rentenversicherung ist nach wie vor das
am weitesten verbreitete Alterssicherungssystem. Nach
den Erkenntnissen der Studie zur Alterssicherung in
Deutschland 2003 erhalten in den alten Bundesländern
91 Prozent der Männer im Alter ab 65 Jahren eine eigene
Rente der gesetzlichen Rentenversicherung. Bei den
Frauen sind es 82 Prozent. In den neuen Bundesländern
beträgt der Anteil jeweils 99 Prozent. Daneben beziehen
Haushalte von Senioren oft Einkünfte aus anderen
Sicherungssystemen, zum Beispiel Pensionen, Betriebsrenten, berufsständische Versorgung, Einkünfte aus Vermögen, zum Beispiel Zinsen, Vermietung, Lebensversicherung, und Sozialtransfers, zum Beispiel Wohngeld,
Sozialhilfe, Grundsicherung oder Kindergeld. Das daraus resultierende durchschnittliche Nettoeinkommen
der Senioren im Alter ab 65 Jahren ist zwischen 1999
und 2003 um 11 Prozent gestiegen. Es liegt bei
1 641 Euro im Westen und bei 1 477 Euro im Osten.
Seniorenhaushalte in den neuen Bundesländern haben
also 2003 bereits 90 Prozent des Westniveaus erreicht.
1992 waren dies erst 63 Prozent.
Frau Dr. Enkelmann, haben Sie eine Nachfrage?
Zwei Nachfragen.
Bitte schön.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es in meiner Frage
darum geht, dass nach einem Bericht des MDR-Magazins „Umschau“ das Einkommen der Rentnerinnen und
Rentner in Ostdeutschland um etwa 20 Prozent unter
dem in Westdeutschland liegt. Es wäre möglicherweise
hilfreich gewesen, meine Frage in einer Kurzfassung
vorzutragen.
Ich habe folgende Nachfragen. Erstens. Das Verdienst
des MDR ist, deutlich gemacht zu haben, dass nur das
Alterseinkommen einen realistischen Vergleich zulässt.
Daraus geht hervor - das haben Sie gerade so etwas nebenbei gesagt -, dass es im Wesentlichen drei Säulen
beim Alterseinkommen gibt, dass aber zwei Säulen, insbesondere die Betriebsrenten und die private Vorsorge,
im Osten Deutschlands sehr schwach sind. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Tatsache?
Zweitens. Für dieses Jahr ist angekündigt, dass die
Renten um 0,54 Prozent steigen sollen. Erstmals seit der
Wende gibt es keine unterschiedlichen Steigerungssätze
in Ost und West. Die hat es bis zur letzten Nullrunde gegeben. Heißt das, dass die Bundesregierung sich von der
Angleichung der Rentenwerte in Ost und West verabschiedet hat?
Zunächst einmal, Frau Abgeordnete Enkelmann: Ich
habe nichts nebenbei erwähnt oder erläutert, sondern ich
habe Ihnen erklärt, wie Unterschiede zustande kommen.
Dafür gibt es Gründe. Ich habe die Frage korrekt beantwortet. Ich habe nicht die Absicht, Ihre Frage zu wiederholen. Das können Sie wollen, aber ich mache es nicht.
Wie die Bundesregierung Ihre Fragen, die Sie gestellt
haben, beantwortet, obliegt der Bundesregierung. Ich
habe richtig und ordentlich geantwortet.
({0})
Zu der zweiten Frage darf ich Ihnen sagen: Nach der
Lohnentwicklung hätte es in den alten Bundesländern
eine Anhebung der Renten um 0,54 Prozent geben müssen, während es in den neuen Bundesländern nach der
Lohnentwicklung eine Anhebung um 0,04 Prozent hätte
geben müssen. Da wir aber gesetzlich festgelegt haben,
dass die Renten in den neuen Bundesländern im gleichen
Umfang wie in den alten Bundesländern erhöht werden,
gibt es dieselbe Anpassung der Renten. Sie sehen also
schon in meiner Antwort: Eigentlich hätte es nach der
Lohnentwicklung in den neuen Bundesländern nur eine
Erhöhung um 0,04 Prozentpunkte geben dürfen. Da wir
aber gesetzlich festgelegt haben, dass es keine Unterschiede geben darf, ist die Anpassung in der gleichen
Höhe erfolgt wie in den alten Bundesländern.
({1})
Eine Nachfrage der Kollegin Bellmann. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben deutlich dargelegt, dass die Lohnentwicklung in Ost und West immer
noch unterschiedlich ist und die durchschnittlichen Bruttolöhne in Ostdeutschland bei 75 Prozent der westdeutschen Bruttolöhne liegen. Meine Nachfrage bezieht sich
auf die aktuelle Diskussion zu dem Thema gesetzliche
Mindestlöhne. Müsste diese unterschiedliche Entwicklung Ihrer Meinung nach Auswirkungen auf die Festlegung möglicher gesetzlicher Mindestlöhne haben?
({0})
Das hat mit den gesetzlichen Mindestlöhnen überhaupt nichts zu tun, Frau Kollegin.
Es gibt eine Nachfrage des Kollegen Dr. Seifert.
Herr Staatssekretär, in Anbetracht der Tatsache, dass,
wie ich lese, die Produktivitätsentwicklung inzwischen
in Ostdeutschland höher ist als die in Westdeutschland,
müssten eigentlich auch die Löhne in Ostdeutschland
stärker gestiegen sein. Deshalb müsste die Entwicklung,
die Sie hier vorgestellt haben, zumindest für die kommenden Jahre umgekehrt sein. Ich hoffe, dass dem so ist.
Meine Frage ist aber eine andere. Sie haben die ganze
Zeit über die Rentenhöhe gesprochen. Die Frage bezog
sich aber auf das Einkommen im Alter. Sie haben selber
darauf hingewiesen, dass sich das Einkommen im Alter
aus verschiedenen Quellen speist. Könnten Sie sagen, ob
die Bundesregierung irgendeinen Plan oder ein Konzept
hat,
({0})
die Gesamteinkünfte im Alter, nicht nur die Renten, so
anzugleichen, dass die Menschen im Osten wenigstens
die Chance haben, gleiche Lebensverhältnisse wie die
Menschen im Westen zu haben?
Herr Abgeordneter Seifert, die Bundesregierung hat
sehr umfassende Konzepte in den letzten Jahren durchgesetzt, um mehrere Säulen in der Altersversorgung zu
entwickeln und zu fördern. Ich habe zunächst auf die
Frage der Abgeordneten Enkelmann hin dargelegt, dass
es für die Alterseinkünfte verschiedene Quellen gibt.
Wir haben gegenwärtig die Situation, dass in den neuen
Bundesländern 99 Prozent der Männer bzw. Frauen über
65 eine gesetzliche Rente bekommen, während es in den
alten Bundesländern ein deutlich geringerer Prozentsatz
ist, weil hier über viele Jahre auch andere Versorgungssysteme entwickelt worden sind.
({0})
- Ich war noch dabei, die Frage von Herrn Seifert zu beantworten.
Ich nehme an, Sie beantworten die Frage weiter.
Das darf ich weiter tun.
Wie Sie sich erinnern, haben wir vor zwei Legislaturperioden umfassende Konzepte entwickelt, um die betriebliche Altersversorgung voranzubringen. Wir haben
die Rente bzw. die Altersversorgung so umgebaut, dass
eine auf einem Kapitalstock basierende zusätzliche
Säule eingeführt wurde, die sogenannte Riesterrente.
Das alles sind Angebote, die in Ost und West gleichermaßen gelten. Sie können in den nächsten Jahren natürlich aufgebaut und entwickelt werden.
Herr Seifert, Sie haben selbstverständlich recht: Die
Produktivität in Ost und West bzw. in Nord und Süd
kann sich sehr unterschiedlich entwickeln. Für die Rentenentwicklung ist aber die Entwicklung der Löhne maßgeblich. Die Lohnentwicklung ist eine Angelegenheit
der Tarifvertragsparteien. Da mischt sich die Bundesregierung gegenwärtig nicht ein. Wir halten es für ziemlich
wichtig, dass die Lohnfindung Angelegenheit der Tarifvertragsparteien ist.
Wir kommen jetzt zur Frage 39 des Kollegen Dr. Ilja
Seifert:
Welche Auswirkungen hat aus Sicht der Bundesregierung
die Auflösung bzw. Regionalisierung der Vermittlungsstelle
für schwerbehinderte Akademiker bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung, ZAV, zum 1. Mai 2007 ({0}) für arbeitsuchende
schwerbehinderte Akademikerinnen und Akademiker?
Herr Seifert, die Überprüfung der Aufgabenfelder der
Zentralstelle für Arbeitsvermittlung hat zu dem Ergebnis
geführt, dass für die Vermittlung schwerbehinderter
Akademiker eine qualifizierte ortsnahe Kundenbetreuung die fachlich überzeugendere Lösung darstellt. Nach
einer Entscheidung des Vorstandes der Bundesagentur
für Arbeit werden daher schwerbehinderte Akademiker
mit einem Grad der Behinderung von 80 Prozent und
mehr, schwerbehinderte Führungskräfte mit einem Grad
der Behinderung von 50 Prozent und mehr ab 1. Mai
2007 ausschließlich durch die örtlich zuständige Agentur
für Arbeit betreut. Damit entfallen bisherige Doppelzuständigkeiten und Koordinierungsbedarfe. Insgesamt gehen die Bundesregierung und die Bundesagentur für Arbeit davon aus, dass schwerbehinderte Akademiker mit
der Neustrukturierung einen verbesserten Marktzugang
erhalten.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Kollege?
Ich habe wahrscheinlich sogar zwei Nachfragen.
Meine erste Nachfrage. Es wird doch auch von behinderten Akademikerinnen und Akademikern verlangt,
mobil zu sein. Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung
- „Team 213“ genannt - hat bisher die Koordinierung
bestimmter Leistungen übernommen, zum Beispiel das
Stellen von Anträgen zum Erhalt von Fahrzeugen, von
neuen Wohnungen, von entsprechend angepassten Wohnungen, und hat Weiteres gemacht. Halten Sie es für
möglich, dass eine Arbeitsvermittlerin oder ein Arbeitsvermittler in einem x-beliebigen Arbeitsamtsbezirk das
kann, wenn eine behinderte Bewerberin oder ein behinderter Bewerber sich woanders bewerben muss, um der
eigenen Qualifikation entsprechend arbeiten zu können?
Wir glauben das. Wir sind der Meinung, dass es unmittelbar vor Ort eine bessere Kenntnis des Arbeitsmarktes gibt.
({0})
Eine zweite Nachfrage, Herr Dr. Seifert. Bitte schön.
Da es jedem selbst überlassen ist, zu glauben, will ich
das nicht kommentieren.
Tatsache ist doch, dass die Vermittlung behinderter
Menschen in den ersten Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit den Argen und im Zusammenhang mit anderen
Umstrukturierungen, die beim Übergang von der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen waren, ohnehin bereits jetzt wesentlich
schwieriger geworden ist, weil die entsprechenden Fachkräfte vor Ort nicht mehr bzw. gar nicht vorhanden
waren. Woraus schöpfen Sie Ihre Hoffnung, dass die entsprechenden Fachleute in Zukunft überall und in ausreichender Anzahl vorhanden sind?
Herr Seifert, erstens teile ich Ihre Einschätzung, die in
der Vorbemerkung zu Ihrer Frage enthalten war, nicht.
Zweitens muss ich Ihnen sagen: Ich glaube, dass eine
qualifizierte ortsnahe Kundenbetreuung eine vernünftigere Lösung ist. Die Bundesagentur hat sich für diese
Lösung entschieden. Es wird noch koordinierende strategische Aufgaben geben, die bei der ZAV verbleiben. Ich
denke, dass eine entsprechende Vermittlung ansonsten
genauso möglich ist.
Sie können mich ja einmal fragen, wie erfolgreich die
ZAV bei der Vermittlung dieses Personenkreises eigentlich gewesen ist. Wenn Sie der Meinung sind: „Die Mitarbeiter vor Ort können das gar nicht“, dann bin ich
gerne bereit, mich mit Ihnen auch darüber auseinanderzusetzen, inwieweit die ZAV das konnte und welche Erfolge hier erzielt wurden.
({0})
Das haben Sie mich aber nicht gefragt. Deswegen antworte ich jetzt auch nicht in die Richtung.
Leider hat der Kollege Seifert auch keine weitere
Nachfragemöglichkeit; das ist jetzt ganz schlecht.
Wir kommen zur Frage 40 der Kollegin Veronika
Bellmann:
Welche Informationen liegen der Bundesregierung darüber vor, welche EU-Länder Mindestlohnregelungen eingeführt haben und gleichzeitig über einen annähernd mit der
Bundesrepublik Deutschland vergleichbar geregelten Arbeitsmarkt - wie zum Beispiel die vielen Schutzvorschriften für
Arbeitnehmer, Stichwort „Kündigungsschutzrecht“ - verfügen?
Frau Bellmann, 20 von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügen über allgemeine Mindestlohnregelungen. Von diesen Mitgliedstaaten haben zumindest
Frankreich, Belgien, die Niederlande, Spanien, Portugal
und Griechenland im Hinblick auf das Kündigungsschutzrecht einen im Wesentlichen vergleichbar geregelten Arbeitsmarkt. Weitere fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügen über Mindestlohnregelungen,
die über Tarifkonstruktionen oder über gleichgestellte
Regelungen entwickelt worden sind. Von daher muss
man festhalten, dass nur die Bundesrepublik Deutschland und Zypern keine Mindestlohnregelung haben.
Frau Bellmann, Sie haben eine Nachfrage.
Nun ist bekannt, dass in diesen 20 Staaten, die bisher
Mindestlohnregelungen haben, die Mindestlöhne sehr
unterschiedlich hoch sind; das wissen auch Sie. Sie haben jetzt zum Kündigungsschutzrecht und zur Flexibilität am Arbeitsmarkt geantwortet. Meine ergänzende
Frage dazu: Ist Ihnen bekannt, ob diese Staaten, vor allen
Dingen unmittelbar vergleichbare Staaten, Kombilohnmodelle haben und wie dort Dauer und Höhe der Arbeitslosengeldzahlung sind?
Nein; das kann ich Ihnen aus dem Stand heraus
nicht - ({0})
Frau Kollegin Bellmann, ich kann Ihnen das gegenwärtig nicht beantworten, weil Sie zu Kombilohnregelungen
und anderen Dingen nicht gefragt haben.
({1})
Sie haben zu Mindestlohnregelungen und zum Kündigungsschutz gefragt. Ich möchte Ihnen dazu antworten:
Es gibt in den Ländern keinen Zusammenhang zwischen
Mindestlohn und Kündigungsschutz. Sie können sogar
feststellen, dass Länder wie Großbritannien, die erst
kürzlich einen Mindestlohn eingeführt haben,
({2})
damit außerordentlich erfolgreich waren und einen Aufbau von Beschäftigung verzeichnen. Das alles, muss ich
sagen, finde ich ziemlich gut.
Herr Staatssekretär, danach habe ich nicht gefragt. Ich
habe gefragt, ob Ihnen da Kombilohnmodelle bekannt
sind. Sie haben gesagt, Sie könnten das nicht beantworten. Deshalb bitte ich um schriftliche Beantwortung dieser Nachfrage.
({0})
Frau Präsidentin, wenn es erlaubt ist, möchte ich
meine zweite Nachfrage in diesem Zusammenhang anschließen. - Wir haben kürzlich im EU-Ausschuss die
Vorlage des Grünbuchs zum Arbeitsrecht diskutiert. Ich
möchte wissen, inwiefern sich da die Bundesregierung
einbringt. Hauptaugenmerk beim Grünbuch ist nicht nur
das Arbeitsschutzrecht, sondern auch die Harmonisierung von Arbeitsmarktregeln - dazu würde ja auch der
Mindestlohn zählen - auf EU-Ebene allgemein.
Herr Staatssekretär.
Ich will zunächst festhalten: Die Bundesregierung hat
das Grünbuch ganz ausführlich beantwortet. Die Europäische Kommission hat in 13 verschiedenen Fragestellungen ganz unterschiedliche Tatbestände gefragt. Ich
weiß aus den europäischen Räten selbstverständlich,
dass es bei Diskussionen über das Thema „gute Arbeit“
auch um die Frage geht, wie eine Arbeit entlohnt wird.
Eine Arbeit, die schlecht oder ausbeuterisch entlohnt
wird, kann man nicht unbedingt als eine gute Arbeit bezeichnen.
Wir haben uns als Bundesregierung bemüht, in der
Beantwortung des Grünbuchs die Positionen aufzunehmen, auf die wir uns als Bundesregierung verständigen
konnten. Ich finde, das ist eine ziemlich kompetente und
gute Beantwortung des Grünbuchs geworden.
Damit kommen wir zur Frage 41 des Kollegen Volker
Schneider ({0}):
Bestehen nach Auffassung der Bundesregierung neben
den Lohnverhandlungen der Tarifparteien darüber hinaus andere Möglichkeiten, eine schnellere Angleichung des Lohnniveaus der neuen Bundesländer, das mit 0,49 Prozent deutlich hinter demjenigen der alten Bundesländer mit
0,98 Prozent zurückgeblieben ist, zu erreichen ({1}),
und, wenn ja, mit welchen Maßnahmen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter Schneider, die Lohnfindung in der
Bundesrepublik obliegt den Tarifparteien. Die Bundesregierung schafft Rahmenbedingungen zur Erhöhung des
Wirtschaftswachstums in den neuen und in den alten
Ländern und mischt sich nicht in die Tarifautonomie ein.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, bedeutet dies, dass Sie sich vor
diesem Hintergrund völlig außerstande sehen, in diesem
Punkt in irgendeiner Form etwas für die Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost und West zu tun?
Meine zweite Nachfrage bezieht sich auf etwas, das
Sie eben gesagt haben, was für mich sehr erstaunlich
war. Sie sind der Auffassung, dass die Frage des Mindestlohns in keiner Weise die Angleichung der Lohnniveaus berührt. Wenn ich mathematisch nun nicht ganz
falsch liege, ist es doch so: Wenn sich in einer Grundgesamtheit von zwei Grundgesamtheiten in den niedrigen
Lohngruppen deutlich mehr Personen befinden als in der
anderen, dann muss ein Mindestlohn zwangsläufig dazu
führen, dass in dieser Grundgesamtheit der Lohn deutlicher steigt als in der anderen, in der dieser Anteil niedriger ist.
Damit haben wir gleich zwei Nachfragen zu dieser
Frage.
Ich muss zunächst einmal sagen, dass das sehr entscheidend davon abhängt, welchen Betrag man für einen
solchen Mindestlohn festsetzt. Darüber sagen Sie natürlich gar nichts.
({0})
- Die Frage war, ob man das mit der Einführung eines
Mindestlohns erreicht. Wenn Sie nicht dessen Höhe definieren, kann man eine diesbezügliche Aussage nicht
treffen.
Die Frage stand auch im Zusammenhang mit der Entwicklung des Rentenniveaus. Die Frage von Frau
Bellmann ging ja dahin, ob sozusagen die Einführung eines Mindestlohns dazu führt, dass das Rentenniveau
steigt. Auch das hängt von der Höhe eines solchen Mindestlohns ab. Das ist doch logisch, nachdem Sie mich
schon auf Logik angesprochen haben.
({1})
- Zur ersten Frage kann ich noch einmal, wie ich es
schon bei den Fragen zur Rente getan habe, sagen, dass
es kräftige Anstrengungen gegeben hat, das Lebensniveau in beiden Teilen Deutschlands stärker anzugleichen. Ich finde auch, dass wir da in den letzten 17 Jahren
tolle Erfolge erreicht haben. Es gibt noch Nachholbedarf; das ist schon wahr. Dieser Nachholbedarf hängt
aber im Wesentlichen mit Entlohnungsfragen zusammen. Bezüglich der Strukturfragen und anderer Dinge
nehmen die staatlichen Ebenen ihre Verantwortung
wahr.
Dass es natürlich, um das Beispiel noch einmal aufzugreifen, in den neuen Bundesländern eine geringer ausgeprägte private Altersvorsorge als in den alten Bundesländern gibt, ist eine selbstverständliche Binsenweisheit;
denn in den alten Ländern konnte man ja schon viel früher dafür sorgen. Indem wir aber in den letzten Jahren
die gesetzlichen Bedingungen geändert haben und neue
Möglichkeiten, die Sie nur zu genau kennen, für die betriebliche Altersvorsorge und für den Aufbau privater
Altersvorsorge - hier gibt es verschiedene staatliche Fördermodelle - geschaffen haben und darüber hinaus auch
in den kommenden Jahren eine zusätzliche Kinderkomponente einführen werden - das ist im Koalitionsvertrag
festgelegt -, unternehmen wir eine Menge Anstrengungen, die es den Leuten ermöglichen, dies Schritt für
Schritt zu tun.
Eine Angleichung erreichen Sie nur, wenn das Lohnniveau auf beiden Seiten 100 Prozent aufweist. Damit
komme ich auf Ihre Ausgangsfrage zurück: Da wir der
Auffassung sind, dass das Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, sind diese hier entsprechend gefordert.
Das waren jetzt die zwei Antworten auf die zwei
Nachfragen. Bevor wir zur Frage 42 kommen, hat die
Kollegin Bellmann eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, zunächst eine kurze Korrektur zu
Ihrer Antwort auf die Nachfrage des Kollegen: In meiner
Frage zu den Mindestlöhnen hatte ich nicht auf das Rentenniveau Bezug genommen, sondern gefragt, ob bei einer Entscheidung für allgemeine gesetzliche Mindestlöhne diese Ihrer Meinung nach in Ost und West eine
unterschiedliche Höhe aufweisen sollten.
Meine Frage aber ist folgende: Sie haben eben sehr
deutlich gesagt, dass die Lohnfindung in der Bundesrepublik den Tarifvertragsparteien obliegt. Schließt diese
Aussage die Einführung von allgemeinen gesetzlichen
Mindestlöhnen aus?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Diese schließt erst einmal überhaupt nichts aus. Man
könnte sich ja vorstellen, gesetzliche Mindestlöhne als
sogenannte Einkommensuntergrenze einzuführen, unter
der gar nichts geht, und darüber hinaus Mindestlohnregelungen beispielsweise über Entsendegesetze den Tarifvertragsparteien zu überantworten. Die Tarifvertragsparteien könnten sich in Verhandlungen für bestimmte
Branchen auf einen Mindestlohn verständigen und diesen, wie es jetzt beispielsweise im Gebäudereinigungshandwerk gemacht wird, über das Entsendegesetz für
allgemeinverbindlich erklären. Das ist in sich überhaupt
kein Widerspruch.
Danke. - Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Grund das Wort.
Vielen Dank. - Dummerweise bezieht sich meine
Nachfrage auf die Nachfrage meiner Kollegin Bellmann.
Frau Bellmann hat nach einem allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohn, nicht nach einem tarif- bzw. branchenspezifischen Mindestlohn gefragt. Schließt Ihre Aussage
„Tarifentlohnung ist Sache der Tarifparteien“ die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns
aus?
Nein. Ich habe doch versucht, das zu erklären. Sie
können beides machen. Es ist beides möglich.
Danke, Herr Staatssekretär.
Damit kommen wir zur Frage 42 des Kollegen Volker
Schneider ({0}):
Wie müssten sich nach Einschätzung der Bundesregierung
die Beschäftigung und die Konjunktur entwickeln, um eine
Angleichung bis 2020 zu ermöglichen?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Die weitere Entwicklung von Beschäftigung und
Konjunktur in den alten und neuen Ländern wie auch in
den einzelnen Regionen und Branchen wird von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Je
stärker sich das Wirtschaftswachstum in den neuen Ländern im Vergleich zu den alten Ländern entwickelt,
umso eher erfolgt auch eine Lohnangleichung. Eine genaue Aussage über das benötigte Wirtschaftswachstum
ist nicht möglich, weil nicht bekannt ist, wie die zukünftigen Lohnabschlüsse ausfallen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Ihre Antwort war äußerst allgemein gehalten. Nichtsdestotrotz möchte ich etwas präziser nachfragen: Wie sehr müsste das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern über dem des Westens
liegen, sodass, wie erhofft, eine Angleichung des Lohnniveaus stattfindet?
Sie haben gefragt, ob eine Angleichung bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt möglich ist. Ich bin kein Prophet.
Je höher die Wachstumsraten sind und je mehr Möglichkeiten unterschiedlicher Lohnabschlüsse es gibt, umso
eher kann eine Angleichung erfolgen. Ich habe vorhin
schon in meiner Beantwortung Ihrer Frage festgestellt,
dass damit die Angleichung des ostdeutschen Lohnniveaus an das westdeutsche erreicht wird. Ich bin aber
kein Prophet und kann den Zeitpunkt nicht voraussagen.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nachfrage.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, ich
meine, mich erinnern zu können, dass das Thema, über
das wir sprechen, einst ein Versprechen an die Menschen
in den neuen Bundesländern war, die nun auf die Einlösung Ihres Versprechens warten. Darf ich Ihre heutigen
Aussagen, dass Sie kein Prophet sind, dahin gehend verstehen, dass Sie keine Ahnung und auch kein Konzept
haben, wie dieses Ziel jemals erfüllt wird?
Nein, das dürfen Sie nicht, Herr Kollege.
({0})
Weder das eine noch das andere trifft zu.
Ich habe jetzt eine Frage mit einem einfachen Nein
beantwortet. Ich könnte das zwar noch etwas genauer
ausführen, aber ich denke, zu der knappen Frage passt
diese knappe Antwort.
Es steht Ihnen frei, welchen Umfang Sie zur Beantwortung der Frage wählen.
Wir kommen jetzt zur Frage 43 des Abgeordneten
Kai Gehring:
Wie erklärt die Bundesregierung die Tatsache - auch angesichts der Vorbildfunktion öffentlicher Einrichtungen -,
dass sie einerseits durch die Schirmherrschaft des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, bei der Initiative „Fair Company“ eine adäquate Aufwandsentschädigung für Praktikantinnen und Praktikanten unterstützt ({0}) und andererseits den eigenen
Praktikantinnen und Praktikanten innerhalb der Bundesregierung keinerlei Vergütung zahlt ({1}),
und wie gewährleistet die Bundesregierung in ihrer Funktion
als Schirmherrin, dass die Kriterien von „Fair Company“ auch
tatsächlich von den Praktikumsgebern eingehalten werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterstützt die Zusammenarbeit der Initiativen „Neue Qualität der Arbeit“ und „Fair Company“; denn der verantwortliche Umgang mit Freiheit und sozialer
Verantwortung ist Kennzeichen einer modernen Unternehmensführung. Mitarbeiterorientierung und ein fairer
Umgang mit den Beschäftigten im Unternehmen zahlen
sich aus.
In den Bundesressorts - so auch im BMAS - werden
regelmäßig nur Praktikantinnen und Praktikanten beschäftigt, die im Rahmen einer schulischen oder hochschulischen Ausbildung nach den einschlägigen Ausbildungsordnungen vorgeschriebene Praktika absolvieren
müssen. Für die Praktika gelten die rechtlichen Regelungen der jeweiligen Ausbildungs- bzw. Prüfungsordnung.
Unstrittig ist: In diesen Fällen wird ausgebildet und nicht
etwa eine Arbeitskraft zur Verfügung gestellt.
Über das Ausbildungsverhältnis ist diese Personengruppe auch während der praktischen Ausbildung im Sozialversicherungssystem erfasst. Eine materielle Absicherung des Lebensunterhalts erfolgt über den
normalen Unterhalt des oder der Auszubildenden, über
BAföG etc.
Das Engagement für „Fair Company“ ist für das
BMAS aber Anlass, auch innerhalb der Bundesregierung
für das Anliegen der Initiative zu werben und eventuelle
Mehraufwände der Ausbildungspraktikanten künftig
grundsätzlich abzugelten, ohne dabei zu verkennen, dass
der Hauptaufwand ohnehin bei der Vermittlung von
Kenntnissen und Fertigkeiten an die Praktikanten liegt.
Die Einhaltung der Regeln von „Fair Company“ ist
eine Selbstverpflichtung, die von zurzeit 736 Unternehmen unterschrieben wurde. Jeder Praktikant ist aufgerufen, die Unternehmen, die sich nicht an die Regeln halten, an „Fair Company“ zu melden. Bei einem
nachweisbaren Verstoß wird das Unternehmen verwarnt.
Bei einem weiteren Zuwiderhandeln wird das Unternehmen ausgeschlossen. „Fair Company“ hat bereits zwei
Unternehmen von der Initiative ausgeschlossen; etwa
zehn wurden verwarnt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage. Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Meine Frage war
auch dahin gehend gerichtet, inwieweit Bundesminister
Müntefering als Schirmherr von „Fair Company“ selber
die Regeln dieser Initiative für den Umgang mit Praktikantinnen und Praktikanten in Unternehmen im eigenen
Haus praktiziert. Von daher frage ich präziser nach, inwieweit den Praktikantinnen und Praktikanten - seien es
Schüler, Studierende, Auszubildende oder auch Hochschulabsolventen und -absolventinnen - im Bundesministerium eine adäquate Aufwandsentschädigung gezahlt
wird.
Darüber hinaus möchte ich Sie fragen, ob die Bundesministerien und auch das Kanzleramt faire Bedingungen
für alle Praktikantinnen und Praktikanten anbieten und
welche Mindeststandards dort gelten oder künftig gelten
sollen.
Ich habe in meiner Antwort schon gesagt, dass wir
Praktikanten nur im Rahmen der Ausbildung einsetzen.
In einem solchen Falle gibt es keine zusätzliche Vergütung; die materielle Absicherung des Lebensunterhaltes
erfolgt beispielsweise über das BAföG. Wenn wir darüber hinausgingen, würden wir die Regeln von „Fair
Company“ selbstverständlich einhalten. Schließlich werben wir dafür.
Ihre zweite Nachfrage.
Vielen Dank. - Inwieweit halten Sie die Regeln und
den Kriterienkatalog, den es bei „Fair Company“ gibt
und den sich die Bundesregierung offensichtlich vollständig zu eigen macht, für ausreichend, um der Ausnutzung von Praktikantinnen und Praktikanten zum Beispiel
durch den Einsatz als vollwertige Arbeitskräfte entgegenzuwirken? Halten Sie eine maximale Praktikumsdauer für Studierende, insbesondere für Hochschulabsolventinnen und -absolventen, sowie Arbeitsverträge und
Zeugnisse für sinnvolle Kriterien, was faire Praktika angeht?
Wir unterstützen „Fair Company“ öffentlich in Kampagnen. Wir finden es vernünftig, dass sich Firmen
solchen Regeln unterwerfen. Sie wissen, dass die Bundesregierung, insbesondere unser Haus, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, umfassende Informationen für Praktikanten ins Netz gestellt hat und sie
auf ihre rechtlichen Möglichkeiten hinweist.
Wenn Praktikanten als Arbeitskräfte eingesetzt werden, müssen diese nach unserem Verständnis auch wie
Arbeitskräfte bezahlt werden. Deswegen habe ich in der
Beantwortung Ihrer Frage ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir Praktikanten nicht als Arbeitskräfte
beschäftigen, sondern als Auszubildende im Zusammenhang mit bestimmten Ausbildungsgängen. An diese Bedingungen, denen wir uns verpflichtet fühlen, halten wir
uns.
Über die Frage, ob weitergehende Kriterien und Verpflichtungen aufgenommen werden sollen, muss man
mit „Fair Company“ verhandeln.
Damit kommen wir zur Frage 44 des Kollegen Kai
Gehring:
Wie lautet der konkrete Zeitplan der Bundesregierung für
die Entwicklung von Vorschlägen für eine gesetzliche Lösung
zum Schutz von Praktikantinnen und Praktikanten, und welche konkreten Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus
der Anhörung des Petitionsausschusses des Bundestages zu
diesem Thema am 26. März 2007?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Bundesregierung prüft noch, ob und gegebenenfalls welche gesetzgeberischen Aktivitäten zum Schutz
von Praktikantinnen und Praktikanten ergriffen werden
müssen. Die Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages am 26. März 2007 hat keine neuen
Erkenntnisse über die tatsächliche Situation der Praktikantinnen und Praktikanten erbracht.
Die Bundesregierung lässt die Ergebnisse der von der
Hochschul-Informations-System GmbH, HIS, erstellten
Studie „Generation Praktikum - Mythos oder Massenphänomen?“ in ihre Bewertung einfließen. Weitere Erkenntnisse werden von einem von der Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegebenen
Forschungsvorhaben „Was ist gute Arbeit? - Anforderungen aus Sicht der jungen Generation“ erwartet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär. - Sie hatten die Studie der Hochschul-Informations-System GmbH, HIS, bereits angesprochen. Die
Ergebnisse dieser empirischen Erhebung über die Generation Praktikum sind vor wenigen Tagen veröffentlicht
worden. Aus unserer Sicht kann es in diesem Punkt keinen Anlass zur Entwarnung geben.
In der Anhörung wurde darauf verwiesen, dass man
nach einer Auswertung der Ergebnisse möglicherweise
zu gesetzlichen Klarstellungen kommt. Daher möchte
ich Sie, wie schon bei meiner ersten Frage, fragen, bis
wann wir mit konkreten Vorschlägen der Bundesregierung rechnen können und welche Konsequenzen Sie aus
den Ergebnissen der HIS-Studie ziehen. Denn im Rahmen dieser Studie haben 20 Prozent der Absolventen,
die ein Praktikum machen, gesagt, dass sie sich ausgenutzt fühlen.
Kollege Gehring, ich bin zwar ein geduldiger
Mensch, wie ich schon bei der Zulassung der Nachfragen zur vorherigen Frage bewiesen habe. Aber ich bitte
jetzt wirklich darum, eine Frage zu stellen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Studie, und
bis wann liegen konkrete Vorschläge seitens der Regierung zu gesetzlichen Klarstellungen vor?
Ich habe Ihnen erstens geantwortet, dass wir gegenwärtig dabei sind, die Studie auszuwerten. Deshalb können Sie von mir noch keine Ergebnisse erfahren. Auch
Schlüsse kann ich noch nicht ziehen, weil wir noch bei
der Auswertung sind.
Zweitens habe ich Ihnen dargelegt, dass wir eine weitere Arbeit in Auftrag gegeben haben, deren Abschluss
wir abwarten. Dann werden wir uns das anschauen und
entsprechende Schlüsse ziehen.
Sie haben die Möglichkeit, eine zweite Nachfrage zu
stellen, wenn Sie eine Frage stellen wollen. - Das ist
nicht der Fall.
Dann danke ich dem Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Dr. Hakki Keskin
auf:
Welche Initiativen plant die Bundesregierung im Rahmen
ihrer EU-Ratspräsidentschaft, um die Republik Zypern zu einer besseren Kooperation in der Frage der Aufnahme direkter
Handelsbeziehungen mit Nordzypern zu bewegen?
Herr Kollege Dr. Keskin, der Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen hat am 22. Januar
dieses Jahres beschlossen - ich darf zitieren -:
Arbeiten im Hinblick auf die Annahme des Kommissionsvorschlags für eine Verordnung des Rates
über Sonderregelungen für den Handel mit den
Landesteilen der Republik Zypern, in denen die
Regierung der Republik Zypern keine tatsächliche
Kontrolle ausübt,
- das ist die Bezeichnung für Nordzypern müssen unverzüglich wieder aufgenommen werden.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat daraufhin
mit Beteiligung der EU-Kommission unverzüglich Gespräche mit der Regierung der Republik Zypern auf der
Grundlage des Verordnungsentwurfs der EU-Kommission aufgenommen. Am 27. Februar 2007 erfolgte dann
die formelle Wiederaufnahme der Arbeiten in der zuständigen Ad-hoc-Ratsarbeitsgruppe Zypern.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird die Arbeiten entsprechend dem Mandat des Rats für Allgemeine
Angelegenheiten und Außenbeziehungen vom Januar
dieses Jahres intensiv fortsetzen. Die politische Führung
der türkisch-zyprischen Gemeinschaft wurde in mehreren Gesprächen über den Stand der Arbeiten unterrichtet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für die Beantwortung. - Eine kurze
Nachfrage: Inwieweit glauben Sie, noch in der Zeit der
EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht zu einem Ergebnis zu gelangen?
Herr Kollege, eine Prognose ist etwas schwierig; denn
die Standpunkte liegen leider noch ziemlich weit auseinander. Nach wie vor macht die zyprische Regierung
geltend, dass die Direkthandelsverordnung eine Art Aufwertung der nordzyprischen Regierung sei. Sie schließt
eine Zustimmung zur Umsetzung der Direkthandelsverordnung aus bzw. knüpft daran Bedingungen, die nicht
sehr leicht zu erfüllen sind, zum Beispiel dass dann der
ganze Handel über südzyprische Häfen verlaufen solle.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
({0})
Die Fragen 46 und 47 des Kollegen Jürgen Trittin, die
Fragen 48 und 49 der Kollegin Marieluise Beck ({1}) und die Fragen 50 und 51 des Kollegen Volker
Beck ({2}) zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes werden aufgrund Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien
für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Das heißt,
dass wir uns den dort erfragten Themen im Laufe der
Sitzungswoche bei anderen Tagesordnungspunkten zuwenden.
Damit kommen wir zur Frage 52 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke:
Wie bewertet die Bundesregierung die Erklärung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, dem Ahtisaari-Plan
zum künftigen Status des Kosovo nicht zustimmen zu wollen?
Herr Kollege Gehrcke, es geht um das Statusproblem
des Kosovo. Stabilität auf dem Balkan - und damit die
Lösung der Statusfrage des Kosovo - liegt im unmittelbaren deutschen und europäischen Sicherheitsinteresse.
Die Bundesregierung unterstützt dabei den Sondergesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen,
Martti Ahtisaari, sowie den von ihm erarbeiteten Lösungsvorschlag.
Der Bundesregierung ist eine abschließende offizielle
Äußerung des russischen Außenministers, dem
Ahtisaari-Plan zum künftigen Status des Kosovo nicht
zustimmen zu wollen, nicht bekannt. Der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen befasst sich seit dem 3. April
dieses Jahres aktiv mit dem Statusvorschlag des Sondergesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.
In diesem Zusammenhang wird sich der Sicherheitsrat
unter anderem noch in dieser Woche in Belgrad und
Priština über die Lage im Kosovo informieren. Die
Dauer der weiteren Befassung des Sicherheitsrats ist zurzeit nicht abzuschätzen, somit auch nicht der Zeitpunkt
einer Abstimmung über eine neue Resolution und deren
konkreten Inhalt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke sehr, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
gestern hat der stellvertretende Außenminister Russlands, Titow, der für diesen Bereich zuständig ist, noch
einmal erklärt, dass Russland erwägt, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen, wenn der Ahtisaari-Plan abschließend behandelt wird. Wenn ein Veto eingelegt
wird, gibt es keinen Beschluss des Weltsicherheitsrates
und damit auch keine Lösung der Kosovoproblematik.
Gibt es für einen solchen Fall Überlegungen der Bundesregierung, wie sie damit umzugehen gedenkt?
Herr Kollege Gehrcke, diese Äußerungen passen zu
den Äußerungen, die wir bisher von der russischen Seite
gehört haben. Es wird von russischer Seite immer wieder
angedeutet, dass ein Griff zum Instrument des Vetos unter Umständen in Erwägung gezogen wird. Auf der anderen Seite gibt es einen Kooperationsprozess. So gab es
den Vorschlag der russischen Seite, eine Fact Finding
Mission nach Belgrad und Priština zu unternehmen. Diesem ist der Sicherheitsrat nachgekommen und damit der
russischen Seite entgegengekommen.
All das sind Versuche, doch noch zu einer Verständigung über eine zeitnahe Entscheidung über den Status
des Kosovo auf der Basis des Ahtisaari-Plans zu kommen. Wir setzen auf ein gutes Ergebnis, weil alle Alternativen - das wissen auch Sie sehr gut - sehr problematisch und gefährlich sind.
Ihre zweite Nachfrage.
Die ganze Lage ist sehr problematisch und höchst gefährlich; das kann ich nur unterstreichen.
Ich verstehe, dass Sie keine Informationen über einen
möglichen Alternativplan herausgeben möchten. Kann
die Bundesregierung ausschließen, dass es im Falle eines
Scheiterns des Ahtisaari-Plans von einigen Staaten, namentlich von den USA, zu einer einseitigen Entscheidung kommt, den Kosovo als eigenständiges Staatengebilde anzuerkennen, um auf diese Weise zum Beispiel
diplomatische Bewegungen in Gang zu setzen?
Das, was Sie sagen, Herr Kollege Gehrcke, ist ein
wichtiger Punkt unseres Dialogs mit der Russischen Föderation. Man muss bedenken, was das, was Sie andeuten, bedeuten würde. Im Ahtisaari-Plan ist eine sehr
weitgehende Berücksichtigung der Minderheitenrechte
der serbischen Bevölkerung im Kosovo festgeschrieben,
die auch durch internationale Kontrolle in einem Status
eingeschränkter Souveränität für längere Zeit garantiert
sein soll. Das sind Sicherheitsgarantien, die nicht automatisch in Kraft treten würden, wenn zum Beispiel nach
einem möglichen Scheitern einer Konsensbildung im Sicherheitsrat die kosovarische Seite eine einseitige Unabhängigkeitserklärung abgeben würde, die dann von manchen Staaten - einige haben tatsächlich angedeutet, das
zu tun - völkerrechtlich anerkannt würde. Dann wäre die
Lage der serbischen Minderheit zumindest sehr unsicher
und unklar. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die
27 Mitgliedstaaten der EU, die zum Teil durchaus Fragen zum Ahtisaari-Plan hatten, am Ende doch einstimmig beschlossen haben, diesen Plan zur Grundlage zu
machen und ihm die Unterstützung der EU zukommen
zu lassen.
Damit kommen wir zur Frage 53 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke:
Ist die Bundesregierung bereit, die Forderung des russischen Außenministers nach weiteren Verhandlungen über den
künftigen Status des Kosovo positiv aufzugreifen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Gehrcke, die Bundesregierung ist davon
überzeugt, dass der Sondergesandte des Generalsekretärs
der Vereinten Nationen, Martti Ahtisaari, alles getan hat,
um eine einvernehmliche Lösung zwischen den Parteien
zu erreichen. Nach über einjährigen Verhandlungen in
Direktgesprächen zwischen den Parteien und vor Ort in
Belgrad und Priština konnte keine konsensuale Lösung
erreicht werden. Auch weitere Verhandlungen würden,
so auch die Überzeugung von UN-Vermittler Ahtisaari,
nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Das Verfahren
liegt jetzt in der Hand des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen.
Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatsminister, über die Gefährlichkeit der Situation sind wir uns im Klaren gewesen. Serbien hat den
Plan abgelehnt; damit ist eine Konfliktpartei außen vor.
Welche Argumente soll es geben, die Serbien dazu
bewegen, von dem in der UNO-Resolution 1244 festgelegten Rechtsstatus, wonach der Kosovo völkerrechtlich
gesehen integraler Bestandteil der Republik ist, abzurücken?
Es ist ja leider gerade das Ergebnis des Verhandlungsprozesses, dass es nicht gelungen ist - auch nicht in den
Schlussverhandlungen im Februar dieses Jahres, vor denen auf serbische Interessen noch einmal Rücksicht genommen wurde, indem die Parlamentswahlen und deren
Ergebnis abgewartet wurden -, Serbien zu einer Zustimmung zum Ahtisaari-Konzept zu bringen. Wenn das
richtig ist - wir sehen das so -, bedeutet das, dass auch
weitere Verhandlungen nicht zu einer Annäherung führen würden. Warum sollte das passieren, nachdem über
ein Jahr verhandelt wurde und noch nicht einmal eine
Annährung der Standpunkte stattgefunden hat? Wie können dann weitere Verhandlungen die Lösung sein? In so
einem Fall gibt es keine andere Möglichkeit, als den Sicherheitsrat entscheiden zu lassen. Dabei kommt es auf
die 15 Stimmen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Herr Staatsminister, ich finde Ihre Argumentation
nicht ganz logisch. Deswegen muss ich noch einmal
nachfragen. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass
auf Vorschlag des russischen Außenministers Lawrow
der Weltsicherheitsrat das Verfahren jetzt noch einmal
aufgenommen und eine Fact-Finding-Mission in den
Kosovo geschickt hat. Wenn das Ergebnis, zu dem sie
kommt, sowieso bekannt ist, und weitere Verhandlungen
keinen Sinn machen, macht auch eine Entscheidung zu
solchen Schritten keinen Sinn. Sind Sie nicht doch der
Auffassung, dass weiterverhandelt werden muss, um einen Status zu finden, den auch Serbien akzeptiert?
Weder die Bundesregierung noch die Vereinten Nationen sind dieser Auffassung. Denn die Entsendung dieser
Delegation des Sicherheitsrats nach Pristina und Belgrad
hat nicht etwa den Charakter einer Weiterführung der
Verhandlungen, sondern soll den aktuellen Sicherheitsratsmitgliedern die Möglichkeit geben, sich ein eigenes
Bild von der Situation vor Ort zu machen, bevor sie eine
solche völkerrechtlich verbindliche Entscheidung - praktisch in einer Abwandlung der jetzt gültigen Grundlage
der Sicherheitsratsresolution 1244 von 1999 - zur Zukunft des Kosovo treffen. Es handelt sich also nicht um
einen Verhandlungsprozess.
Dieser Vorschlag wurde akzeptiert, weil man hinsichtlich einer solchen tatsächlich sehr weittragenden
Entscheidung argumentieren kann, dass man sich vorher
ein Bild von der Situation vor Ort machen sollte. Das
darf man aber nicht mit einer Fortführung der Verhandlungen verwechseln.
Danke, Herr Staatsminister.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15.35 Uhr, das heißt
für wenige Minuten. Dann beginnen wir mit der Aktuellen Stunde.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Absichten
des Bundesministers des Innern, Dr. Wolfgang
Schäuble, im Zusammenhang mit dem sogenannten Kampf gegen den Terrorismus
Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion
Die Linke statt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorratsdatenspeicherung, Antiterrordatei, Videoüberwachung, Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit,
Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz und Rasterfahndung - das sind nur einige Dinge, die wir in den
letzten Monaten beschlossen haben. Hinzu kommt die
allwöchentlich stattfindende Leier vom Bundeswehreinsatz im Inneren. Anderes ist noch in der Diskussion.
Heute durften wir nun im Innenausschuss erleben,
dass uns offiziell mitgeteilt wurde, dass die allseits debattierte Onlinedurchsuchung - besser als staatliches
Hacking bezeichnet - bereits seit 2005 praktiziert wird.
Dies geschah also unter einer rot-grünen Bundesregierung, per Dienstvorschrift von Innenminister Schily.
({0})
Das ist ein nicht zu beschreibender Skandal. Dies geschieht ohne eine Rechtsgrundlage, ohne eine Information des Parlaments, geschweige denn der Öffentlichkeit.
Das ist nicht nur einer der tiefsten Eingriffe in Persönlichkeitsrechte, sondern es ist auch antidemokratisch,
wie dieses Verfahren stattfindet.
({1})
Bereits im Oktober 2006, im Zuge der letzten Haushaltsberatungen, hat die Fraktion Die Linke im Innenausschuss hinsichtlich des Programms zur Stärkung der
inneren Sicherheit darauf aufmerksam gemacht, dass in
dessen Rahmen Mittel für Onlinedurchsuchungen zur
Verfügung gestellt werden - auch dies ohne eine Rechtsgrundlage, ohne irgendeine weitergehende Information
des Parlaments. Deswegen muss heute die Botschaft hier
im Plenum sein: Stoppen Sie, Herr Schäuble, umgehend
- am besten noch heute - die Onlinedurchsuchungen!
Sie sind undemokratisch, und sie haben keine Rechtsgrundlage.
({2})
In diesem Tempo machen Sie jetzt mit der berühmten
Salamitaktik weiter. Jede Woche wird eine andere sicherheitspolitische Sau durch das Dorf getrieben. Die
Frage, wofür genau diese Maßnahmen eigentlich notwendig sind, wird von der Bundesregierung nicht beantwortet. Es findet keine wirkliche Evaluierung statt. Dem
Parlament werden keine stichhaltigen Gründe genannt,
wofür die verschiedenen Maßnahmen eigentlich gut
sind. Wir brauchen eine tatsächliche Evaluierung. Es
darf nicht sein, dass das Bundesinnenministerium sein
eigenes Gesetz evaluiert. Denn dabei käme natürlich
„überraschenderweise“ heraus, dass es ein gutes Gesetz
ist.
({3})
Ich will auf eines aufmerksam machen: Was bedeutet
eigentlich ein stetig steigender Überwachungsdruck für
die Bevölkerung? Er hat zur Folge, dass die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land anfangen, sich konform zu
verhalten. Das bedeutet, dass sie nicht mehr den aufrechten Gang gehen, sondern genau darauf achten, was von
staatlicher Seite erwartet wird und wie sie verhindern
können, in bestimmte Dateien aufgenommen zu werden.
Die Folge ist ein Weniger an Demokratie und Freiheit.
Das ist ein Skandal. Das muss endlich gestoppt werden.
Deswegen ist die heutige Aktuelle Stunde wichtiger
denn je.
({4})
Ich glaube, dass wir keinen präventiven Sicherheitsstaat, wie er der Bundesregierung vorschwebt, brauchen.
Welche Auffassung die SPD in dieser Frage vertritt, lässt
sich überhaupt nicht mehr sagen: Mal gehen ihr die Vorschläge von Herrn Schäuble zu weit, mal nicht. Herr
Benneter hat gesagt, dass der Bundesinnenminister das
größte Sicherheitsrisiko ist;
({5})
ich bin gespannt, was Sie uns heute dazu sagen. Diese
Position teile ich ausnahmsweise. Denn die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land sind kein potenzielles Sicherheitsrisiko. Wir wollen mündige Staatsbürger.
({6})
Was für ein Gesellschaftsbild steht eigentlich hinter dieser Einschätzung? Das würde ich gerne von Ihnen wissen.
Jede Woche kündigen Sie eine neue Maßnahme an,
die im Kampf gegen den internationalen Terrorismus Ihrer Meinung nach notwendig ist; das ist bereits in mehreren Debatten deutlich geworden. Hier stellen sich die
Fragen: Wann ist die Grenze erreicht? Wann ist Ihr Datenhunger eigentlich gestillt? Wie weit wollen Sie gehen? Absolute Sicherheit kann es nicht geben,
({7})
weder in einem demokratischen Rechtsstaat noch - hier
erst recht nicht - in einer Diktatur. Daher müssen wir die
Freiheitsrechte bewahren.
Man muss sich darüber im Klaren sein, was geschehen soll, wenn alle technischen Möglichkeiten ausgereizt sind bzw. wenn sie irgendwann nicht mehr greifen,
weil sich Terroristen zum Beispiel nicht mehr im Internet verabreden, wie es derzeit angeblich der Fall sein
soll, sondern sich im Wald zu einer Besprechung treffen,
um dort ihre kriminellen Handlungen zu planen. Was
machen Sie dann?
Es ist an der Zeit, den Marsch in einen Überwachungsstaat, wie er Ihnen vorschwebt, auf außerparlamentarischem und auf parlamentarischem Wege zu stoppen. Es ist an der Zeit, für eine freie, offene,
demokratische und soziale Gesellschaft zu streiten und
diese zu verteidigen. Wir müssen für das eintreten, was
die Terroristen bekämpfen wollen. Freiheit kann nicht
durch die Einschränkung von Freiheit gesichert werden.
Das funktioniert nicht.
({8})
Daher sage ich für die Fraktion Die Linke - ich hoffe,
viele außerparlamentarischen Akteure der Zivilgesellschaft schließen sich dem an -: Angesichts der von Ihnen
geplanten Maßnahmen, die Sie uns Woche für Woche
vorlegen, ist es an der Zeit für eine neue Bürgerrechtsbewegung in der Bundesrepublik.
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bosbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst war ich der Fraktion Die Linke dankbar,
dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Ich hatte
die Hoffnung, dass diese Debatte am heutigen Nachmittag zur Versachlichung der aufgeregten Diskussion der
letzten Tage beitragen könnte. Diese Hoffnung habe ich
aber schon nach wenigen Sekunden begraben.
({0})
Eines muss ich sagen: Es ist bemerkenswert, dass jemand fünf Minuten lang unter Verzicht auf ein einziges
sachliches Argument ununterbrochen reden und schimpfen kann.
({1})
Das ist rhetorisch sicherlich beachtlich, zeigt aber, dass
das, was der Bundesinnenminister vorgeschlagen hat,
diese Kritik nicht verdient. Maßlos und in jeder Hinsicht
überzogen sind nicht die Vorschläge des Bundesinnenministers zur Erhöhung der Sicherheit in Deutschland
und zum Schutz von 82 Millionen Menschen. Maßlos
und überzogen ist einzig die Kritik an Wolfgang
Schäuble.
({2})
Wir wollen keinen Polizeistaat. Wir wollen keinen
Überwachungsstaat. Ich gebe sofort zu, dass Sie uns,
dem bürgerlichen Teil dieses Hauses, beim Thema Polizeistaat, Überwachungsstaat wahrscheinlich überlegen
sind.
({3})
Wir sind heilfroh, dass wir auf deutschem Boden vor
17 Jahren einen Überwachungsstaat abgeschafft haben.
({4})
Keiner denkt daran, auf deutschem Boden wieder einen
neuen Überwachungsstaat zu etablieren.
Man darf vor allen Dingen nicht Freiheit und Sicherheit gegeneinander ausspielen. Es ist geradezu absurd, so
zu tun, als würden die Menschen besonders viel Freiheit
genießen, wenn die Sicherheit besonders gering wäre.
({5})
Sicherheit und Freiheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wir möchten zum Schutze aller Menschen
in unserem Lande angesichts der Bedrohungslage so viel
Sicherheit wie nötig und so viel Freiheit wie möglich.
Maß und Mittel bei der Bekämpfung von Terror und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen wird immer
das Markenzeichen dieser Koalition sein und bleiben.
({6})
Wie absurd die Debatte der letzten Tage war, kann
man doch an den Vorwürfen erkennen, die dem Bundesinnenminister beim Thema Unschuldsvermutung gemacht worden sind - so als hätte er vorgeschlagen, beim
Kampf gegen den Terror die Unschuldsvermutung abzuschaffen. Das ist nicht das, was Wolfgang Schäuble im
„Stern“-Interview gesagt hat; das ist das genaue Gegenteil.
({7})
Wolfgang Schäuble hat in dem „Stern“-Interview darauf hingewiesen, dass man die Unschuldsvermutung
des Strafrechts und des Strafprozessrechts nicht verwechseln darf mit den Notwendigkeiten der Prävention
und der Gefahrenabwehr.
({8})
Er hat das anhand von zwei Beispielen erläutert, die
präzise und richtig waren.
Unschuldsvermutung bedeutet: In einem demokratischen Rechtsstaat darf niemand als Täter bezeichnet
oder behandelt werden, bevor er nicht vom Gericht in einem ordentlichen Verfahren rechtskräftig verurteilt worden ist.
({9})
Das war so, das ist so, das bleibt so. Unschuldsvermutung kann aber nicht bedeuten, dass die Polizei tatenlos
zusieht, wenn Verbrechen verabredet oder begangen
werden,
({10})
und dass sie nicht zum Zwecke der Gefahrenabwehr eingreift, weil die Verdächtigen, die sogenannten Störer,
noch nicht zugeschlagen haben. Das bedeutet Unschuldsvermutung nicht.
({11})
Beispiel Onlinedurchsuchung: Es ist absurd, auch nur
annäherungsweise den Eindruck zu erwecken, dieser Innenminister oder die Koalition planten nun, sich über
jede Festplatte jedes Bundesbürgers zu beugen, um mitlesen zu können, was dort geschrieben wird. Es geht um
die Sicherung sogenannter flüchtiger Beweise. Wir können heute schon - das ist seit Jahrzehnten die geltende
Rechtslage - Computer, Laptops und Festplatten beschlagnahmen und können die dort gespeicherten Texte
zum Zwecke der Beweissicherung sichtbar machen. Das
ist seit Jahrzehnten das geltende Recht.
({12})
Wenn Sie sagen, dass man früher keine PCs beschlagnahmen konnte, dann haben Sie recht; das gilt allerdings
nur für die Zeiten, als es noch keine PCs gab. Insofern ist
das tatsächlich eine neue Eingriffsbefugnis. Wir hatten
vor der Erfindung des Telefons übrigens auch nie Telefonüberwachungen; da haben Sie völlig recht.
Beweise in Papierform müssen Sie schreddern, verstecken oder verbrennen, wenn Sie sie vernichten wollen. Wenn wir heute Beweise haben, die auf einer Festplatte gespeichert sind, dann liegt zwischen der
Überführung des Täters und dem Kapitulieren vor dem
Verbrechen ein Mausklick. Ein Mausklick genügt, und
schon ist der Beweis vernichtet und Sie können ihn nicht
mehr sichtbar machen.
({13})
Es gibt heute hochwirksame Verschlüsselungsprogramme, die die Ermittlungsbehörden daran hindern,
den Text sichtbar zu machen. Es gibt Festplatten, von denen wir nicht wissen, wo sie stehen, sodass wir sie nicht
beschlagnahmen und auslesen können. Deswegen müssen wir die Rechtslage der Bedrohungslage anpassen.
Wir müssen den Behörden, denen wir unsere Sicherheit
anvertrauen, auch die Instrumente geben, die sie in die
Lage versetzen, Gefahren zu erkennen und abzuwehren.
({14})
Dass wir dabei die Grenzen des Rechtsstaates beachten
müssen - nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip muss
jede Maßnahme notwendig und geeignet sein und hat
sich an den Grundsätzen der Verfassung zu orientieren -,
ist ganz selbstverständlich.
Die innere Sicherheit des Landes ist bei Innenminister
Wolfgang Schäuble in besten Händen.
({15})
Der Rechtsstaat Bundesrepublik auch.
({16})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Gisela Piltz
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Unsere Freiheit ist jeden Tag bedroht. Wir
müssen uns immer wieder fragen, von wem eigentlich.
Zunächst einmal wird sie von den Terroristen bedroht,
für die Freiheit Teufelszeug ist und die unsere freiheitlich-demokratischen Werte um alles in der Welt zerstören wollen. Sie wird aber auch von Kriminellen bedroht,
für die Freiheit vor allen Dingen bedeutet, Dinge zu tun,
mit denen sie sich auf Kosten von anderen besserstellen.
Die Freiheit kann aber auch durch zu viel Überwachung aufgegeben werden. Lieber Herr Schäuble, lieber
Herr Innenminister, man schützt die Freiheit nicht, indem man sie aufgibt.
({0})
Das Motto der schwarz-roten Innenpolitik scheint mir zu
sein: Überwachung ist Freiheit.
Werner Maihofer, einer der liberalen Vorgänger im
Bundesinnenministerium, hat es so ausgedrückt: „Absolute Sicherheit heißt absolute Unfreiheit.“ Er hat noch
angefügt:
Absolute Freiheit heißt absolute Unsicherheit. Die
liberale Position: die richtige Mitte. Und im Konflikte zwischen Sicherheit und Freiheit: in dubio
pro libertate. Im Zweifel für die Freiheit.
Das ist auch heute noch das Motto der FDP-Bundestagsfraktion.
({1})
Nach dem von mir für Sie gesetzten Motto „Überwachung ist Freiheit“ sind Ihre Maßnahmen natürlich folgerichtig. Viele sind hier schon genannt worden: Vorratsdatenspeicherung, zentraler Onlinezugriff auf Passfotos,
Zugriff des Staates auf die Mautdaten, zentrale Speicherung der Fingerabdrücke, Onlinedurchsuchung von
Computern, Zugriff auf Bankdaten und Bankkonten,
Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Ich könnte diese
Liste fortführen; dazu reicht die Zeit aber leider nicht.
Die SPD hat mit diesen Maßnahmen unter dem Bundesinnenminister Schily begonnen.
({2})
Die SPD hat damit begonnen - mit den Grünen, muss
man leider sagen -, die Bürgerrechte auszuhöhlen.
({3})
Total unglaubwürdig ist für mich im Moment die Haltung der SPD. Nur weil Sie gerade in den Umfragen
nicht so gut dastehen, haben Sie sich überlegt, die Bürgerrechte jetzt zum Thema zu machen.
({4})
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie verkaufen es als Erfolg, dass Fingerabdrücke jetzt doch nicht zentral gespeichert werden.
({5})
- Weder so noch so. - Das war ein Vorschlag in der Debatte, das stand noch in keinem Gesetz. Da Sie noch am
gleichen Abend von den Kollegen der CDU zurückgepfiffen wurden,
({6})
war das nicht wirklich erfolgreich.
Im Innenausschuss wurde Ihre zweifelhafte Rolle als
innenpolitischer Sprecher der SPD heute noch deutlicher. Sie haben behauptet, dass die Onlinedurchsuchung
für Sie erst seit Dezember 2006 ein Thema ist.
({7})
Sie vertun sich hinsichtlich Ihrer Rolle. Nur weil Sie
über etwas reden, heißt das noch nicht, dass das auch für
den Rest des Bundestages kein Thema ist.
({8})
Der Rest des Bundestages hat sich schon im Oktober
2006 mit dem Thema beschäftigt.
Ich möchte nur Ihren Kollegen Michael Hartmann zitieren, der in der Sitzung des Innenausschusses am
8. November 2006 gesagt hat: Gut sei, dass nunmehr
auch die technischen Voraussetzungen für Onlinedurchsuchungen weiterentwickelt würden. Insgesamt stimme
die Fraktion der SPD diesem Paket zu.
({9})
Das ist die wahre Haltung der SPD zur Onlinedurchsuchung. Davon kommen Sie jetzt auch so schnell nicht
wieder herunter.
({10})
Sie wollen einen neuen elektronischen Pass einführen, weil er sicherer sein soll. Das sagen Sie. Ich möchte
nur zu bedenken geben, dass höchstens an 55 Prozent aller Grenzübergänge überhaupt Lesegeräte stehen, mit
denen diese Pässe gelesen werden können. Das heißt,
dass das für die Sicherheit in der Regel noch gar nichts
bringt. Im Moment ist auch überhaupt noch nicht klar,
wie Sie eine Eins-zu-eins-Identifizierung erreichen wollen, weil es im Innenministerium noch keinen Plan dafür
gibt, mit welchen Herstellern und welchen Mitteln Sie
diese Identifikation sicherstellen wollen. Nach Auskunft
des BMI dauert das bis 2012. Das hat mit Sicherheit
nichts zu tun.
Jeder erhält also einen Pass mit biometrischen Daten.
Von Fachleuten und Datenschützern gibt es erhebliche
Bedenken. Ehrlich gesagt erinnert mich die Aussage der
Bundesregierung an Herrn Blüm: Die Pässe sind sicher.
({11})
Deshalb wundert es mich doch sehr, dass ausgerechnet
der Chef des BKA, Herr Ziercke, am Montag bei der Anhörung zum Passgesetz seinen eigenen Pass in einer
kunststoffbeschichteten Hülle mit sich führte
({12})
und dann auch noch sagte, so sei das sicherer.
Ich war letzte Woche Montag beim BKA,
({13})
und mir ist gesagt worden, das sei alles sicher. Wenn Sie
sich keine Hülle kaufen wollen, dann empfehle ich Ihnen, simple Alufolie zu nehmen.
({14})
Das hat nämlich ein anderer Sicherheitsexperte auch getan. Meine Damen und Herren, wer öffentlich Sicherheit
predigt, aber heimlich Alufolie kauft, der ist in Sachen
Sicherheit wirklich nicht glaubwürdig.
({15})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion erwarten vom Innenminister drei Dinge: moderne und effektive Maßnahmen, die sich nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger
richten. Das bedeutet mehr Personal und mehr fachlich
geschultes Personal. Wir erwarten eine umfassende Evaluierung der Sicherheitsarchitektur, damit wir wissen,
was in Zukunft notwendig ist. Wir erwarten, dass er bei
allem, was er tut, die Bürgerrechte und die Verfassung
im Auge hat.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dieter
Wiefelspütz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will Ihnen zunächst einmal einen Beschluss der Großen Koalition nahebringen, den wir bis jetzt vertraulich
behandelt haben.
({0})
- Warten Sie doch einmal ab! - Wir haben beschlossen,
({1})
dass die Osterpause für Innenpolitiker der Großen Koalition abgeschafft wird, damit wir keine Gelegenheit zu
vielfältigen Interviews haben. Das gilt für Herrn
Schäuble, für mich und für Herrn Benneter. Ich muss
einräumen, Herr Bosbach hat wenig gesagt. Sie waren
wahrscheinlich zur Kur.
({2})
Auch Herr Veit hat nichts gesagt. Ich meine, wir sollten
zur Sacharbeit zurückkehren.
Herr Bundesinnenminister, ich will Ihnen sagen: Die
SPD-Bundestagsfraktion arbeitet gerne mit Ihnen zusammen, aber nur, wenn Sie auch gerne mit uns zusammenarbeiten, Herr Schäuble. Das ist nicht anstrengend,
sondern reizvoll und spannend.
Der Bundesinnenminister hat dem „Stern“ ein Interview gegeben, das Anlass für die heutige Debatte ist. Ich
habe es heute noch einmal gelesen. Ich finde es nicht besonders aussagekräftig. Die Redakteure des „Sterns“ haben Sie sehr aggressiv gefragt, und Sie haben spitzig geantwortet. Das kann ich verstehen.
Sie haben etwas über die Unschuldsvermutung gesagt, was ein Jurist im zweiten Semester lernt, wenn er
denn lernt. Herr Wieland, manche spielen auch Tennis
oder gehen in der Zeit zum Skifahren.
({3})
Das ist eine simple Selbstverständlichkeit. Allerdings
hätte ich mir gewünscht - Sie haben nicht das Gegenteil
gesagt, aber es war zumindest missverständlich -, dass
Sie zum Ausdruck gebracht hätten, dass natürlich auch
bei der Terrorismusbekämpfung strenge rechtsstaatliche
Regeln gelten. Es ist ja nicht so, dass man im Bereich
der Terrorismusbekämpfung in Deutschland - ({4})
- Herr Minister, das ist eine Selbstverständlichkeit, aber
wir Juristen haben eines gemeinsam: Wir sind Besserwisser; jedenfalls ich bin einer. Das hätte man an dieser
Stelle doch etwas präziser sagen können. Ich denke aber,
wir sollten zur Sacharbeit zurückkehren.
Ich will auf etwas hinweisen, was ich gerade schon
den Kollegen von den Grünen gesagt habe. Herr
Schäuble, die Stichworte, die gegenwärtig eine Rolle
spielen und uns beschäftigen, haben fast alle etwas mit
der Kontinuität der Sicherheitspolitik zu tun, zu der wir
als SPD in dieser Bundesregierung stehen.
({5})
Sie haben fast alle etwas mit Rot-Grün, manchmal auch
nur etwas mit Rot zu tun. Als Beispiel nenne ich das
Stichwort Rasterfahndung. Dieses Wort hat der beste
Präsident des Bundeskriminalamtes, den wir jemals hatten, Herr Horst Herold, ein Sozialdemokrat, in schwierigen Zeiten geprägt.
({6})
Dieses Stichwort spielt auch heute noch eine Rolle.
({7})
Man muss sich damit auseinandersetzen.
Wir sprechen über die Onlinedurchsuchung. Diese ist
begonnen worden
({8})
unter Rot-Grün. Wir haben eine neue Lage, weil wir alle
miteinander klüger geworden sind. Sie vielleicht nicht,
ich aber schon. Ich sage, wir haben gegenwärtig nirgends - auch nicht in Nordrhein-Westfalen, Frau Piltz eine verfassungskonforme Rechtsgrundlage für Onlinedurchsuchungen. Ich erwarte von der Bundesregierung,
dass es gegenwärtig keine Onlinedurchsuchungen gibt,
und zwar in keinem Bereich, weil es keine verfassungskonforme Grundlage gibt.
({9})
Wir werden darüber diskutieren, ob wir das wollen. Ich
persönlich glaube, wir brauchen das. Ich spreche an dieser Stelle aber nur für mich selbst; denn die SPD-Bundestagsfraktion hat die Diskussion darüber erst begonnen.
Man wird darüber auch erst dann Entscheidungen fällen können, wenn Texte vorliegen, weil es sich um sehr
komplexe juristische Fragen handelt. Der Onlinezugriff
auf eine Festplatte ist ein außerordentlich gravierender
Grundrechtseingriff. Wenn überhaupt, ist ein solcher
Eingriff nur mit dem großen Lauschangriff vergleichbar.
Es werden schwerwiegende, wichtige Grenzen eingebaut werden müssen. Das kann man, wenn man es will.
Aber mit der Willensbildung werden wir erst beginnen,
wenn Texte vorliegen. Dann kann man es beurteilen.
Wir haben als Innenpolitiker - salopp gesagt - eine
gewisse professionelle Deformation. Wir reden sehr viel
über Sicherheit
({10})
und manchmal vielleicht, Herr Minister, etwas zu wenig
über Freiheit. Die Ordnung des Grundgesetzes ist eine
Freiheitsordnung. Im Zweifel ist die Freiheit - Herr
Bosbach, vielleicht sind wir hier einer Meinung - noch
ein bisschen wichtiger als die sehr wichtige Sicherheit.
Das kann doch gar nicht anders sein. Im Gegensatz zu
dem, wofür Sie stehen,
({11})
ist unser Kennzeichen die Freiheit. Sie ist das Lebenselixier unserer Gesellschaftsordnung. Die ersten 19 Artikel
des Grundgesetzes sind Freiheitsrechte, nicht Sicherheitsrechte, bei allem Respekt davor, dass Freiheit und
Sicherheit ständig aufs Neue ausbalanciert werden müssen. Hier gibt es allerdings keine ewigen Antworten.
Ich bin der Auffassung, dass wir die Sicherheitsarchitektur maßvoll weiterentwickeln müssen. Allerdings ist
die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland kein löchriger Käse. Man wird immer wieder Millimeterarbeit leisten können. Mehr muss auch nicht sein.
Seien Sie mir bitte nicht böse, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutscher Bürger Opfer eines terroristischen Anschlages wird, ist zum Glück tausendmal geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass wir, jeder von uns,
in einer Stunde beispielsweise Opfer eines Straßenraubes, eines Diebstahls oder eines Betrugsdelikts werden.
Wir dürfen die Gewichte an dieser Stelle nicht in unzulässiger Weise verschieben und nicht dauernd Sicherheit
mit Kampf gegen den Terrorismus identifizieren.
Ich rate dazu, zu einer Diskussion mit Augenmaß zurückzukehren, unsere Pflicht in Verantwortung für unser
Land zu tun sowie Sicherheit und Freiheit immer wieder
neu auszubalancieren. Dazu sind wir vonseiten der SPD
gerne bereit, auch in der Zusammenarbeit mit Ihnen,
Herr Minister Schäuble.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({12})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der Linkspartei, ich bin kein Tennisspieler.
Ich denke, ich habe im zweiten Semester einigermaßen
aufgepasst.
({0})
Herr Wiefelspütz, ich muss Ihnen nun Folgendes sagen: Herr Bosbach hat Fairness im Umgang mit dem
Bundesinnenminister eingefordert und gesagt, man solle
nicht maßlos und überzogen reagieren. Schauen wir uns
einmal an, was Herr Schäuble zur Unschuldsvermutung
gesagt hat. Er hat auf die Frage nach der Unschuldsvermutung geantwortet: „Oh, die gilt im Strafrecht.“ So
weit, so richtig. Er meinte natürlich: und sonst nicht.
Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Dann hat
er sie definiert und gesagt:
Die Unschuldsvermutung heißt im Kern, dass wir
lieber zehn Schuldige nicht bestrafen, als einen Unschuldigen zu bestrafen.
Das ist gequirlter Unsinn. Das hat mit der Unschuldsvermutung gar nichts zu tun.
({1})
Das wäre möglicherweise eine Folge des In-dubio-proreo-Grundsatzes. Aber einen Schlüssel von zehn zu eins
gibt es auch hier nicht. Die Unschuldsvermutung verhindert keinerlei Zwangsmaßnahmen: Man kann in U-Haft
kommen. Die Wohnung kann durchsucht werden.
({2})
Sie führt nur zu einer Beschleunigung. Herr Bosbach hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung im Grunde nur bedeutet, dass letztinstanzlich ein
Gericht entscheidet, ob jemand unschuldig ist oder nicht.
Nichts anderes besagt die Unschuldsvermutung.
({3})
Warum sagt nun ein nicht minderbegabter Jurist wie
Wolfgang Schäuble einen solchen Satz in einem Interview? Er will natürlich sagen: Neben dem Feld des
Strafrechts haben wir das Feld des Gefahrenabwehrrechtes und dort gelten die Regeln des Freistilringens. Dort
gibt es keinerlei Begrenzungen mehr. Dort gehen wir
vom Gefahrenbegriff und vom Störerbegriff weg. Hier
dürfen die Sicherheitsbehörden und die Polizei alles. Der
Bürger steht nackt da und muss sich kontrollieren lassen,
muss sich das alles gefallen lassen.
({4})
Das soll das Endprodukt sein, auf das dieser Innenminister zusteuert.
({5})
Nun ein Wort zur SPD, die seit Montag eine Bürgerrechtspartei ist. So hat es der Parteivorstand beschlossen
und was der SPD-Vorstand beschließt, das wird sein.
Aber da müssen Sie noch üben, insbesondere der Kollege Wiefelspütz. Sich hinsichtlich der Kontinuität ausgerechnet auf Horst Herold zu berufen, dessen Datenhunger geradezu sprichwörtlich war, was dazu führte,
dass seinerzeit der „Stern“ „SOS. Freiheit in Deutschland“ titelte, weil dieser Horst Herold an alle Daten heranwollte - an die BfA-Daten und andere - und diese
miteinander verknüpfen wollte und nur mühsam wieder
gestoppt werden konnte, ist bedenklich. Das ist ein ganz
schlechter Kronzeuge. Das bestärkt uns in unserem
Misstrauen, das wir sowieso haben. Wir fragen uns, welchen Grad der Härte Sie in Zukunft als Bürgerrechtspartei denn haben werden.
({6})
- Doch, Herr Edathy, ich habe die Sorge.
({7})
Hinsichtlich der Mautdaten hat der Kollege Wiefelspütz
das Umfallen schon angekündigt und gesagt, es sei sogar
verfassungswidrig, dass sie nicht herangezogen werden
dürften.
({8})
Hinsichtlich der Onlinedurchsuchungen befürchten
wir, dass es Ihnen nur um eine Rechtsgrundlage geht.
Die müsste es natürlich geben, gar keine Frage. Aber wir
als Grüne wollen sie gar nicht. Wir sagen: Der Staat darf
nicht als Hacker auftreten. Da gibt es eine Grenze, wo er
in den Privatbereich eindringt. Der ist klar vom Bundesverfassungsgericht definiert. Wir wollen diese Methode
nicht. Das ist der grundsätzliche Unterschied, und deswegen lehnen wir diese Art des staatlichen Hackens ab.
({9})
Schließlich - das hat Frau Piltz schon gesagt - stellt
sich die Frage der biometrischen Daten. Wir hatten am
Montag die Anhörung. Niemand, auch nicht Herr
Ziercke, der Präsident des BKA, konnte trotz ständigen
Nachfragens sagen, ob es Probleme mit dem Bundespersonalausweis gibt: Wer verfälscht zu welchem Zweck in
welchem Umfang? Es wurde gesagt, es habe mehr als
100 Fälle in zweieinhalb Jahren gegeben. Das ist nun
nicht sonderlich bedrohlich. Gleichzeitig wird man mit
den Fingerabdrücken und mit dem Onlinezugriff auf die
Passfotos neue Gefahrenquellen eröffnen, insbesondere
im Hinblick auf die mögliche Verwendung der Daten in
dubiosen Drittstaaten, in sogenannten Schurkenstaaten.
Es gibt für diese Maßnahme kein Sicherheitsargument.
Es gibt nur die große Gefahr, dass neue Gefahrenquellen
eröffnet werden.
Abschließend: Es lohnt sich, über diesen Bundesinnenminister zu diskutieren. Er hat drei Langfristziele.
Das erste ist die Verschmelzung von innerer und äußerer
Sicherheit mit dem Ziel, am Ende eine Nationalgarde zu
haben. Das zweite ist die Verschmelzung von Geheimdiensten und Polizei mit dem Ziel, am Ende ein Bundessicherheitsamt zu haben. Das dritte Ziel ist die Verknüpfung möglichst aller Daten der Bürgerinnen und Bürger
und der Zugriff auf diese mit dem Ziel, am Ende den gläsernen Bürger zu haben.
({10})
Das ist dann allerdings nicht mehr die Welt des Grundgesetzes, sondern die schöne neue Welt des
Dr. Schäuble.
({11})
Da zählen Taten, nicht Worte, meine Damen und Herren
von der neuen Bürgerrechtspartei, dies zu verhindern.
({12})
Das Wort hat der Bundesminister des Innern,
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Wieland, vorab eine Bemerkung:
Biometrische Pässe hat die Vorgängerregierung eingeführt.
({0})
Wenn ich es richtig weiß, sind Sie damals Koalitionspartner gewesen.
({1})
Worüber wir im Augenblick bei der Beratung des Passgesetzes, das schon lange in der parlamentarischen Beratung
ist - das völlig einvernehmlich von der Bundesregierung
eingebracht worden ist -, reden, ist, für die biometrischen
Pässe die notwendige gesetzliche Grundlage nachzuliefern. Wir befinden uns insofern in einer Kontinuität, als
wir eine gesetzliche Grundlage für das schaffen, was Sie
eingeführt haben.
Aber jetzt zur Sache selbst. Wir reden über ernste
Dinge. Die terroristische Bedrohung ist nämlich leider
keine Kleinigkeit. Wir haben Ende vergangener Woche
den Hinweis der amerikanischen Sicherheitsbehörden an
in Deutschland lebende US-Bürger vernommen, besonders wachsam zu sein. Unsere Sicherheitsbehörden teilen
die Sorge, dass eine konkrete Gefahr besteht. Vor einigen
Wochen wurden Drohungen gegen die Bundesrepublik
Deutschland und auch gegen Österreich ausgesprochen,
auch im Zusammenhang mit zwei Deutschen, die im Irak
entführt worden sind, und im Zusammenhang mit dem
Engagement vieler, auch vieler Nichtregierungsorganisationen, für die Stabilisierung und den Aufbau Afghanistans. Auch das ist keine Kleinigkeit.
Wir hatten im vergangenen Jahr das Glück, dass Kofferbomben nicht explodiert sind. Die Explosion dieser
Bomben hätte schweren Schaden anrichten können. Die
Briten haben ungefähr zur selben Zeit im vergangenen
Jahr durch Maßnahmen der elektronischen Wohnraumüberwachung Vorbereitungen für Anschläge gegen eine
Reihe von Flügen mit Passagierflugzeugen über den Atlantik aufgedeckt, woraufhin diese Anschläge verhindert
werden konnten.
Die entscheidende Frage ist nicht die der Wahrscheinlichkeit. Es gilt für uns alle, den freiheitlichen Verfassungsstaat mit aller Entschiedenheit zu verteidigen. Der
freiheitliche Verfassungsstaat muss sich dadurch bewähren, dass er in der Gewährleistung der freiheitlichen Verfassung das größtmögliche Maß an Sicherheit für die
Bürgerinnen und Bürger gewährleistet. Das folgt aus
dem staatlichen Gewaltmonopol und aus der Begrenzung von staatlicher Macht durch die Verbürgung der im
Grundgesetz verankerten Grundrechte. Das gilt. Daran
kann es überhaupt keinen Zweifel geben, und das sollte
niemand verwischen.
({2})
Die technische Entwicklung bringt es mit sich, dass
wir uns in einem ständigen Wettbewerb befinden. Das ist
in der Menschheitsgeschichte übrigens immer so gewesen. Meistens sind die Verbrecher den Sicherheitsbehörden einen Schritt voraus, und die Sicherheitsbehörden
haben ihre Schwierigkeiten. Wolfgang Bosbach hat zu
Recht gesagt: Solange es kein Telefon gab, musste man
sich mit der Überwachung von Telekommunikation
nicht beschäftigen. Genauso ist es mit Onlinedurchsuchungen.
Herr Kollege Wieland, die Wahrheit ist doch: Alle haben lange geglaubt, dass die Grundlagen der Strafprozessordnung - ich beziehe mich noch auf den Bereich
der Strafverfolgung - sowohl für die Telekommunikationsüberwachung als auch, also analog, für Onlinedurchsuchungen gelten. Die Bundesanwaltschaft hat Anträge gestellt, denen der Ermittlungsrichter beim
Bundesgerichtshof stattgegeben hat. Beim darauffolgenden Fall hat der Bundesgerichtshof festgestellt: Nein, es
braucht eine eigene Rechtsgrundlage.
({3})
Eine solche Grundlage muss man sorgfältig prüfen. So
viel zum Bereich der Strafverfolgung, in dem das Prinzip der Unschuldsvermutung gilt.
Im Bereich der Gefahrenabwehr - das ist etwas völlig
anderes - gelten natürlich alle Verfassungsrechte; dort
gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das ist überhaupt keine Frage. Das hat auch niemand infrage gestellt. Darüber muss niemand einen anderen belehren,
und diesbezüglich muss niemand Sorge haben.
Aber ich will hinzufügen: Es ist das erste Mal, dass
der Bund eine originäre Zuständigkeit für die polizeiliche Gefahrenabwehr hat. Unser Grundgesetz sah nämlich lange Zeit vor, dass die Länder für die polizeiliche
Gefahrenabwehr zuständig sind. Mittlerweile wurde zur
besseren Bekämpfung der größten Gefahr, mit der wir es
aktuell zu tun haben - ich meine den internationalen Terrorismus -, im Zuge der Grundgesetzänderung im Rahmen der Föderalismusreform I eine Präventivbefugnis
des Bundeskriminalamtes eingeführt,
({4})
und sie muss gesetzgeberisch umgesetzt werden. Das
Bundeskriminalamt braucht gesetzliche Instrumente, um
diese Gefahrenabwehr nach Recht und Gesetz und auf
der Grundlage des Grundgesetzes so durchführen zu
können, wie es bisher die Länderpolizeien getan haben.
Ob das entsprechende Landesgesetz in NordrheinWestfalen der derzeitigen verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhält oder nicht - der nordrhein-westfälische
Innenminister ist Mitglied der FDP; ich schätze ihn sehr -,
wird man sehen. Natürlich haben die Polizei und die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen diese Befugnis. Sie brauchen sie auch. Im Zuge der Gesetzgebung
werden wir über die Voraussetzungen dieser Befugnis
diskutieren, auf welchen verfassungsrechtlichen Grundlagen diese Befugnis beruht und wo ihre Grenzen sind.
Wenn es richtig ist, was manche Verfassungsrechtler
meinen, nämlich dass Onlinedurchsuchungen auch den
Schutzbereich von Art. 13 berühren könnten - andere sagen, Sie berührten nur Art. 2 -, dann lassen Sie uns doch
überlegen, ob wir nicht auch Art. 13 entsprechend ergänzen sollten, um eine einwandfreie verfassungsrechtliche
Grundlage zu haben. Aber zu sagen: „Wir machen es
ohne Rechtsgrundlage“, ist nicht in Ordnung. Deswegen
braucht es Klarheit. Ich bin dafür, dass wir sie schaffen.
Wir brauchen es, unter klaren Bedingungen; daran kann
es gar keinen Zweifel geben.
Dann will ich etwas zum „Stern“-Interview hinzufügen. Herr Kollege Benneter, Sie haben unsere persönliche Zusammenarbeit vielleicht ein bisschen strapaziert,
aber ich bin nicht nachtragend.
({5})
- Gut. - Ich will Ihnen aber doch vorhalten: Da die Länder die Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr haben, ist
vielleicht interessant, was der Vorsitzende der Konferenz
der Innenminister der Bundesländer zu dieser Debatte
gesagt hat.
({6})
Der Berliner Innensenator Körting, SPD, hat gesagt: Es
gibt keinen Satz des Bundesinnenministers, den nicht jeder von uns Landesinnenministern unterschreiben
könnte.
({7})
- Ja, weil wir im Bereich der Gefahrenabwehr sind.
Jetzt mache ich eine letzte Bemerkung. Ich bin einer,
der auch austeilen kann. Als Innenminister hält man sich
aber ein bisschen zurück; das ist in Ordnung.
({8})
Ich werbe aber dafür, dass wir noch etwas bedenken:
Erstens. Der Overkill richtet sich selber.
Zweitens. Die Menschen erwarten vom freiheitlichen
Verfassungsstaat, dass er kein Nachtwächterstaat ist,
sondern Sicherheit gewährleisten kann. Wem es ernst damit ist, dass das Grundgesetz stabil ist, dass das Grundgesetz auch die Unterstützung der großen Mehrheit der
Bevölkerung behält, dass der Extremismus, ob von links
oder von rechts, keine Chance in diesem Land hat, der
muss dafür sorgen, dass das Grundgesetz auch in Zeiten
der Gefahren die notwendige Sicherheit gewährleistet.
({9})
Wer diesem Staat angesichts der Bedrohungen die Möglichkeit nehmen würde, auf verfassungsrechtlich einwandfreier Grundlage die mögliche Sicherheit zu gewährleisten - hundertprozentige gibt es nicht -, würde
die Freiheitsordnung unseres Grundgesetzes gefährden,
({10})
und das ist mit dem Bundesinnenminister Wolfgang
Schäuble nicht zu machen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat, Herr Innenminister, das Thema verdient eine ernsthafte Debatte. Die Auseinandersetzung
mit dem Fundamentalismus oder mit menschenrechtsverachtenden Systemen aller Art wird nicht mit Tornados und nicht mit der Einschränkung von Freiheitsrechten gewonnen; sie wird gewonnen oder eben verloren
über die Glaubwürdigkeit unserer Werte. Darüber entscheidet sie sich!
({0})
- Ihnen widme ich zum Schluss noch 30 Sekunden, Herr
Kollege.
({1})
- Nicht mehr. Mehr wirklich nicht.
({2})
Herr Innenminister, wenn wir der Versuchung erliegen
- Sie tun das -, die in unserer Verfassung garantierten
Freiheitsrechte einzuschränken, die rechtsstaatlich gebotene strikte Trennung zwischen Armee, Polizei und Nachrichtendiensten zu verwischen und zu beseitigen - übrigens: damit fallen Sie hinter die alte römische Republik
zurück; da durfte die Armee den Rubikon nicht überschreiten und nicht in das Staatsgebiet eindringen, wie
Sie vielleicht wissen sollten -, wenn wir uns an internationalen Interventionskriegen beteiligen und damit die
Gefahr des Terrorismus erhöhen, das heißt: wenn wir das
Gesicht unserer Gesellschaft und die Gebote unserer
Verfassung beschädigen und infrage stellen, dann werden wir unseren Gegnern ähnlicher, und dann werden
wir in der westlichen Welt die Auseinandersetzung mit
dem Fundamentalismus verlieren. Das ist der ernste Hintergrund dieser Debatte.
({3})
Ich muss gestehen, Herr Kollege Wiefelspütz: Ich war
ziemlich fassungslos über Ihren Auftritt. Ich habe vor
meinem geistigen Auge noch einmal all die verbalradikalen Äußerungen aus den Reihen der SPD vorüberziehen lassen, die ich in der Sache auch für berechtigt gehalten habe. Die Menschen, die das gelesen haben und
heute diese Debatte verfolgen, werden jeden Glauben an
die Wahrhaftigkeit in der Politik verlieren. Was Sie hier
abgeliefert haben, war nach dem Knut-Kiesewetter-Lied
„Ich will lieber wieder lieb sein“, nach dem Motto: Mich
zu ändern, das verspreche ich ganz fest. Ich konnte gar
nicht glauben, dass in einen Menschen Ihres Körpergewichtes so viel Kreide hineinpasst.
({4})
- Ja, das war doch jetzt eine völlig andere Melodie, als
wir die letzten Tage gehört haben.
({5})
Dann sagt noch der Innenminister - das müssen Sie
sich einmal überlegen! -, er sorge nur dafür, dass jetzt
eine gesetzliche Grundlage für das geschaffen werde,
was der Innenminister der rot-grünen Regierung schon
die ganze Zeit gemacht habe. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen!
Man sollte sich auch überlegen, in welchem Verhältnis das, was Sie, Herr Wiefelspütz, jetzt machen, zu dem
steht, was Sie davor geäußert haben und was ich, wie gesagt, für berechtigt halte. Das geht doch nicht zusammen.
Man muss sich, wie ich glaube, allmählich Sorgen um
das Erbe der Väter und Mütter des Grundgesetzes machen. Wir Linken - ich glaube, wir haben damit recht stellen immer wieder fest, dass Sie das Sozialstaatsgebot
des Grundgesetzes mit den Gesetzen, die nach dem verurteilten Straftäter Dr. Hartz benannt sind, schwer beschädigen. Wir müssen darüber hinaus leider feststellen,
dass Sie, Herr Innenminister - das war der Kern Ihrer
Aussage, auch wenn Sie elegante juristische Zirkel zur
Unschuldsvermutung gemacht haben -, eigentlich alle
Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der von Ihnen sogenannten Gefahrenabwehr unter Generalverdacht stellen.
({6})
Sie sollten sich überlegen, welche Wirkungen Sie damit
in unserer Bevölkerung auslösen.
Das Thema ist zu ernst, als dass es sich für dieses nun
bis zum Überdruss geübte Koalitionstheater eignet - ich
sage das sehr deutlich -, das folgendermaßen geht:
Schäuble provoziert, bekommt den üblichen Beifall als
knallharter Antiterrorkämpfer, die SPD übt sich als
Scheinlinke, 150 Prozent werden gefordert, anschließend erfolgt der Aufruf zur Sachlichkeit, 80 Prozent der
Forderungen von Schäuble werden durchgesetzt, und anschließend ist der Koalitionsfriede wieder hergestellt.
Auch mit dieser Methode kann man an einer Verfassung
herumsägen und herumnagen.
({7})
Vor diesem Hintergrund erwähne ich zum Schluss:
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar - wohlgemerkt kein ehemaliger DDR-Minister, sondern der
Bundesdatenschutzbeauftragte - hat die Pläne von Bundesinnenminister Schäuble zur Ausweitung staatlicher
Überwachungsmaßnahmen als maßlos kritisiert. Er
fürchte um unseren Rechtsstaat, hat er gesagt.
({8})
Die Freiheit gehe Stück für Stück verloren. Das sagt Ihnen der Bundesdatenschutzbeauftragte! Sie liefern hier
aber so eine Vorstellung ab und sagen im Fazit, indem
Sie an die Ängste unserer Bevölkerung appellieren: Im
Kampf gegen den Terrorismus, wie Sie ihn nennen, sind
viele Dinge erlaubt, die die, die unsere Verfassung gemacht haben, nie wollten. Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
Ich wiederhole das, was Ihnen unsere Fraktionsvorsitzenden oft gesagt haben: Jede Beteiligung am Krieg in
Südafghanistan erhöht die Terrorgefahr für unsere Bevölkerung um ein Vielfaches mehr, als Sie an Sicherheit,
die Sie mit Ihren Sicherheitsillusionen und -vorstellungen hier beschwören, erreichen können.
({9})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Nur ein Satz zu dem, was Herr
Maurer gesagt hat: Er hat am Schluss seiner Rede eine
etwas seltsame Wendung eingefügt,
({0})
als er sagte, unser Engagement in Afghanistan verschärfe die Sicherheitslage in Deutschland. Ich glaube,
wir wären eine armselige Demokratie, wenn das Parlament seine Entscheidungen darüber, was es für außenpolitisch geboten hält, davon abhängig machen würde,
wie Terroristen möglicherweise darauf reagieren. Wir
wären dann eine armselige Demokratie.
({1})
- Ich kommentiere das nicht, Herr Maurer.
({2})
Das ist selbst unter Ihrem Niveau.
Wir haben in Deutschland - das muss man, wie ich
glaube, in einer solchen Debatte sehr klar sagen - eine
gut strukturierte und auch eine funktionierende Sicherheitsarchitektur. Wenn öffentlich der Eindruck entstanden sein sollte, wir hätten in dem Bereich erheblichen
Nachholbedarf oder würden erst seit wenigen Wochen
oder Monaten über die Herausforderungen des internationalen Terrorismus sprechen, dann müsste man dem
entgegentreten und schlichtweg sagen: Dieser Eindruck
ist falsch.
({3})
Der Bundesinnenminister hat das Glück, aber vielleicht auch die Hypothek, dass er einen ausgesprochen
starken Vorgänger hatte. Otto Schily hat - insbesondere
im Nachgang zum 11. September 2001 - im Großen und
Ganzen die sicherheitspolitischen Hausaufgaben in unserem Land geleistet. Das meiste ist abgearbeitet. Man
kann allenfalls das Bestehende punktuell weiterentwickeln.
({4})
Das haben wir übrigens auch getan. Die Große Koalition
ist innenpolitisch absolut handlungsfähig. Gegenteilige
Behauptungen sind schlichtweg falsch.
Ich nenne drei Beispiele: Wir haben das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz - übrigens geräuscharm
- effizient weiterentwickelt. Wir haben die Antiterrordatei eingerichtet.
({5})
Wir haben ein 132-Millionen-Euro-Programm verabschiedet, damit der Bundesinnenminister in die personelle und materielle Ausstattung der Sicherheitsbehörden in Deutschland investieren kann. Das ist übrigens
der entscheidende Punkt. Wer glaubt, man könnte den
internationalen Terrorismus militärisch bekämpfen,
macht meines Erachtens einen gedanklichen Fehler. Wir
können ihn nur dann wirksam bekämpfen und aufklären,
wenn wir möglichst früh möglichst viel wissen. Dafür
brauchen wir gut ausgestattete Nachrichtendienste, die
wir in Deutschland mittlerweile haben. Insofern sind wir
hervorragend aufgestellt.
({6})
In dieser Debatte ist sicherlich Wachsamkeit gegenüber der Herausforderung notwendig; wir brauchen aber
nichts weniger als Hysterie und sollten uns davor hüten,
ohne Grund auch nur ansatzweise in der Bevölkerung
Besorgnis zu schüren. Das heißt auch, deutlich zu sagen,
dass wir das abstrakte Risiko nicht auf Null reduzieren
können. Das ist in einer Demokratie grundsätzlich nicht
möglich. Es kommt darauf an, immer eine vernünftige
Balance zwischen der Wahrnehmung von Sicherheitsbelangen unseres Landes und dem Schutz von Bürgerrechten im Blick zu behalten.
({7})
Wir würden den Gegnern der Demokratie bzw. den Terroristen geradezu in die Hände spielen, wenn wir anfangen würden, Kernelemente unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Kampf gegen den
Terrorismus zur Disposition zu stellen.
({8})
Bürgerliche Freiheitsrechte sind nicht verhandelbar.
({9})
Das heißt auch, dass man nicht alles machen muss,
nur weil es technisch möglich ist. Man sollte das, was
technisch möglich ist, nur dann machen, wenn es vernünftig, zielführend und verhältnismäßig ist. Dazu gehört auch die Diskussion über die anstehende Beschlussfassung zum Passgesetz. Wir halten es in der Koalition
natürlich für sinnvoll, die Fälschungssicherheit von Reisedokumenten zu erhöhen. Wir halten es aber nicht für
sinnvoll - wie manche aus den Reihen der Union meinen -, dass die Fingerabdruckdateien bei den Ämtern
gespeichert werden. Das würde mittelfristig eine flächendeckende erkennungsdienstliche Behandlung der
Gesamtbevölkerung bei unbegrenzter Speicherfrist bedeuten und ist insofern unverhältnismäßig.
({10})
Ja, wir wollen sichere Pässe, aber wir wollen auch, dass
der Grundsatz gilt: Die Fingerabdrücke gehören den
Bürgern und nicht dem Staat, es sei denn, die Bürger unterliegen einem Straftatverdacht. Dann können die Fingerabdrücke natürlich erhoben und gespeichert werden.
({11})
Ich glaube, wir brauchen verantwortungsbewusst geführte Debatten. Dazu gehört nach meinem Dafürhalten
auch, dass wir behutsam sein sollten, wenn es darum
geht, Änderungen des Grundgesetzes zu fordern. Ich
habe meine Bedenken. Ich glaube, wir haben eine hervorragende Verfassung, auf die wir alle stolz sein können.
({12})
Insofern ist es nicht unbedingt sinnvoll, wenn alle paar
Wochen eine Änderung des Grundgesetzes vorgeschlagen wird, sei es zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren, zum Umgang mit entführten Passagiermaschinen
({13})
oder zur Onlinedurchsuchung. Ich glaube, dass uns allen
ein bisschen mehr Behutsamkeit im Umgang mit der
Verfassung gut zu Gesicht stehen würde.
({14})
Ich denke, eine Konsequenz für die Koalition wird
sein, dass wir stärker darauf achten müssen, erst die interne Verständigung voranzubringen, bevor an die Öffentlichkeit gegangen wird. Alles andere führt - wie wir
feststellen konnten - nicht nur zu internen, sondern auch
zu öffentlichen Irritationen.
Erlauben Sie mir noch eine abschließende Bemerkung. Wir sprechen in unserem Land gelegentlich von
Zwangsehen. Das ist immer schwer zu quantifizieren.
Die einzige Zwangsehe, die ich bisher kennengelernt
habe, ist die Große Koalition.
({15})
Aber darüber können wir uns nicht beklagen, weil sie
von den Wählerinnen und Wählern arrangiert und uns
aufgezwungen worden ist.
({16})
Das heißt, wir sind in der Verantwortung, und wir sind
gewillt, dieser Verantwortung Rechnung zu tragen, um
bei der Weiterentwicklung der Innenpolitik zu guten Ergebnissen zu kommen.
Aber zur Innenpolitik gehört nicht nur Sicherheitspolitik, sondern auch eine Politik der Demokratiestärkung und Demokratieweiterentwicklung. Ich fände es
gut, wenn wir in diesem Hause nicht nur über Sicherheitspakete sprechen würden, sondern beispielsweise
auch über die Einführung von Elementen direkter Demokratie. Für uns als Sozialdemokraten ist in der Innenpolitik die Sicherheit, aber auch der Freiheitsgedanke wich9464
tig. Wir werden darauf achten, dass Letzteres nicht zu
sehr in den Hintergrund gerückt wird.
Danke schön.
({17})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Stephan
Mayer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer die Debatte in den vergangenen Wochen zum Thema innere Sicherheit in Deutschland verfolgt hat, dem wurde in der österlichen Zeit ein
paradoxes Schauspiel präsentiert. Da wurde unserem
Bundesinnenminister, der kraft Amtes zuvorderst die
Aufgabe hat, die innere Sicherheit in Deutschland zu gewährleisten, vorgeworfen, er sei ein Sicherheitsrisiko, er
sei ein Überzeugungstäter, er sei ein eifriger Kämpfer
gegen die Verfassung, und er würde einen Kontroll- und
Überwachungsstaat propagieren.
({0})
Abgesehen davon, dass die Wortwahl in der Debatte
insbesondere vonseiten der Opposition
({1})
mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, das unangemessen
und falsch ist, ist diese Wortwahl beleidigend und vielfach unerträglich.
({2})
Ich bin der Meinung, dass diese Streitkultur der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland nicht dienlich
ist.
Die Hysterie und die Angst werden nicht vom Bundesinnenminister geschürt. Sie wurden vielmehr leider
Gottes von vielen Vertretern der Opposition und insbesondere auch von vielen Teilen der SPD in den vergangenen Tagen und Wochen geschürt.
({3})
Die Bevölkerung in Deutschland ist verunsichert worden. Deutschland war, ist und wird kein „präventiver Sicherheitsstaat“ und schon gar kein „Überwachungs- und
Kontrollstaat“. Auch die 82 Millionen Bundesbürger
werden keineswegs einem Generalverdacht ausgesetzt.
({4})
Wie sieht denn dieser „Überwachungs- und Kontrollstaat“ tatsächlich aus? Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit kann ein rechtschaffener und unbescholtener
Bürger davon ausgehen, dass er niemals Gegenstand einer heimlichen Telekommunikationsüberwachung oder
einer heimlichen Onlineüberwachung wird.
({5})
Im Jahr 2005 beispielsweise ist bei insgesamt
5 Millionen Ermittlungsverfahren die Telekommunikationsüberwachung gerade einmal 5 000-mal angeordnet
worden. Das entspricht einem Anteil von 1 Promille. Die
Anzahl der akustischen Wohnraumüberwachungen tendiert mittlerweile infolge der sehr restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen null.
Zum Passgesetz ist schon einiges ausgeführt worden.
Auch hier möchte ich noch einmal deutlich machen, um
was es tatsächlich geht. Wenn in der Vergangenheit ein
Personalausweis beantragt wurde, mussten zwei Passbilder abgegeben werden. Das eine war für den Personalausweis vorgesehen, und das andere wurde dezentral
beim zuständigen Einwohnermeldeamt hinterlegt.
({6})
Damit konnte die Identität des Personalausweisinhabers
im Zweifelsfall geklärt werden.
Nichts anderes fordern wir vonseiten der Union jetzt
für den digitalen Fingerabdruck, den es ab November
dieses Jahres in Deutschland geben wird. Der digitale
Fingerabdruck soll zum einen auf dem Chip des Personalausweises gespeichert werden und zum anderen dezentral beim jeweils zuständigen Einwohnermeldeamt
als „Doppel“ hinterlegt werden, um nach den Vorgaben
des Passgesetzes die Identität des Personalausweisinhabers im Zweifelsfall klären zu können.
Natürlich haben die Bürger kein Verständnis dafür,
wenn diese digitalen Fingerabdrücke im Ernstfall - es
geht wirklich nur um sehr wenige Ausnahmefälle - nicht
verwendet werden würden, um zum Beispiel einen am
Ort eines Kapitalverbrechens, eines Totschlages oder eines Sexualdeliktes entdeckten Fingerabdrucks mit den
vorhandenen Datensätzen in einem eng umgrenzten Bereich zu vergleichen. Die Bürger haben kein Verständnis
dafür, dass sich der Staat teilweise bewusst dumm stellt.
Das gilt auch für die Nutzung von Daten der LkwMaut in Einzelfällen. Es gab vor zwei Jahren den dramatischen Fall in Baden-Württemberg, dass ein Parkplatzwächter vorsätzlich von einem Lkw-Fahrer überfahren
wurde. Dieser Fahrer konnte leider Gottes nicht ermittelt
werden, weil auf die Datensätze der Lkw-Maut nicht zurückgegriffen werden konnte. Der Bürger hat dafür kein
Verständnis.
({7})
Zum demokratischen Verfassungsstaat ist schon einiges gesagt worden. Die Union ist zuvorderst ein Vorkämpfer dafür, dass unsere Grundrechte - das sind die
schon erwähnten Rechte in Art. 1 bis 19 des Grundgesetzes - geschützt und gewahrt werden. Uns muss aber
auch eines klar sein: Die besten Freiheits- und Grundrechte, die wir in Deutschland haben - ich nenne beiStephan Mayer ({8})
spielsweise Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit
und Vereinigungsfreiheit -, sind nichts wert, wenn die
Bürger nicht mehr in Sicherheit leben können. Es geht
jetzt darum, dass wir unsere Sicherheitsarchitektur für
die Zukunft so gestalten, dass sie den derzeit an sie gestellten Anforderungen auch gerecht wird.
({9})
Kein vernünftiger Bürger wird doch der Polizei zumuten, einen Schwerverbrecher mit einem 75-PS-Kleinwagen verfolgen zu müssen. Um das Gleiche geht es bei
den wichtigen Themen der Onlinedurchsuchung von
PCs, der Rasterfahndung und der Nutzung des Richterbandes.
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in Bälde wieder zu einer sachlichen, unaufgeregten und vor allem
nicht beleidigenden Diskussion zurückkommen. Ich bin
der Meinung, dass wir die nächsten Tage nutzen sollten,
um die vom Bundesinnenminister gemachten Vorschläge
auf ihre Praktikabilität zu überprüfen und über sie zu diskutieren. In diesem Sinne sollten wir alle etwas mehr
Zurückhaltung wahren.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Anlass dieser Debatte ist die Tatsache, dass Kollege
Schäuble die nachrichtenarme Zeit dazu genutzt hat, uns
ein amerikanisches Prinzip vorzuführen, ein Prinzip, das
in der „Frankfurter Rundschau“ als „Deniability“ beschrieben wird. Das ist ein Prinzip der Abstreitbarkeit.
Dies ist dort so beschrieben: Dies ist die - ich darf
zitieren Möglichkeit, sich jederzeit von den eigenen Aussagen distanzieren zu können, ohne dabei das Gesicht
zu verlieren. Die Kunst ist es, entschlossen zu klingen, in der Sache aber diffus zu bleiben.
Das ist Ihre Methode, Herr Kollege Schäuble; so jedenfalls habe ich Sie verstanden.
Kollege Mayer hat gesagt, Sie hätten Vorschläge gemacht. Nicht ein Vorschlag war zu hören. Das waren
Schlagwörter, Überschriften.
({1})
Wenn wir uns in der Koalition in einer nachrichtenarmen
Zeit über solche Überschriften und solche Schlagwörter
streiten, dann ist es kein Wunder, wenn der Eindruck
entstehen muss, als ob wir in Sicherheitsfragen einen riesigen Nachholbedarf hätten.
Eines ist richtig: Kollege Schäuble ist sicher einer von
uns 614 Bundestagsabgeordneten, dem keiner zutrauen
wird, dass er irgendetwas Unbedachtes täte. Wenn Sie,
Herr Kollege Schäuble, immer die Pausen nutzen - beim
letzten Mal war es die Weihnachtspause; jetzt ist es die
Osterpause;
({2})
wir müssten sie alle abschaffen, um Ihrem Vorschlag zu
folgen, Herr Kollege Wiefelspütz -, um Überschriften zu
setzen und den Eindruck zu erwecken, wir hätten in Sachen Rasterfahndung, Mautdaten, Onlinedurchsuchung
und großer Lauschangriff Nachholbedarf, dann gehen
Sie, Herr Kollege Schäuble, als derjenige für die Sicherheit zuständige Minister meiner Meinung nach fehl. Ein
für die Sicherheit zuständiger Minister darf die terroristischen Gefahren nicht überbetonen. Er muss ein Gleichgewicht herstellen, wenn es darum geht, auch die anderen Kriminalitätsgefahren, die Alltagskriminalität, die
Bandenkriminalität, den Menschenhandel usw., im Auge
zu behalten. Kollege Wiefelspütz hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass für jeden von uns die Gefahr, Opfer
von Alltagskriminalität zu werden,
({3})
sehr viel größer ist als die Gefahr, Opfer von Terrorakten
zu werden.
({4})
- Wieso denn? Bei Herrn Körting ging es lediglich um
die Frage der Unschuldsvermutung. Wir können uns darum streiten, ob dieses Thema im ersten oder im zweiten
Semester behandelt wird.
({5})
- Ich habe ein Interview von Herrn Körting gelesen, in
dem er sich sehr wohl von dem abgesetzt hat, was Herr
Schäuble in Überschriften und in Schlagwörtern als
Nachholbedarf skizziert hat.
Ich bitte darum, einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir eine funktionierende Sicherheitsarchitektur haben.
Herr Kollege Schäuble, Sie selber haben es doch beschrieben: Die Warnungen in der letzten Woche und die
schnelle Aufklärung im Zusammenhang mit den Kofferbombenattentätern im letzten Jahr, all dies ist darauf zurückzuführen, dass wir eine Sicherheitsarchitektur geschaffen haben, die wirkt und funktioniert.
({6})
Ich darf daran erinnern: Wir haben den Straftatbestand der terroristischen Vereinigung auf Auslandsvereinigungen ausgedehnt. Wir haben die Möglichkeiten der
Abschöpfung von Verbrechensgewinnen der terroristischen Vereinigungen erweitert und den Strafrahmen für
Unterstützer erhöht. Im Zusammenhang mit der Terrorismusfinanzierung haben wir den Vortatenkatalog bei
der Geldwäsche erweitert, und wir haben die Möglichkeiten zum Einfrieren von Vermögen geschaffen. Wir
haben die Verdachtsanzeigepflicht für die Banken eingeführt. Der automatische Abruf von Kontenstammdaten
ist heute möglich. Darüber hinaus haben wir neue Auskunfts- und Informationsgewinnungsmöglichkeiten für
die Nachrichtendienste geschaffen. All diese gesetzlichen Möglichkeiten haben zu den rechtzeitigen Warnhinweisen beigetragen. Deshalb, denke ich, muss ein für
die Sicherheit zuständiger Minister immer darauf achten,
dass er die Balance hält, auch wenn er von angeblichem
Nachholbedarf im Sicherheitsbereich spricht.
Genau so habe ich das auch beschrieben, Herr Kollege. Ich habe Sie - ich bitte Sie, mir das abzunehmen,
Sie können das auch nachlesen - nicht einfach als Sicherheitsrisiko bezeichnet. Ich hatte vielmehr darauf
hingewiesen, dass ich es für ein Risiko halte, wenn ein
für die Sicherheit zuständiger Minister Terrorgefahren
hier überbetont und somit Terrorangst schürt. Damit, so
meine ich, verfehlt er seine Aufgabe.
Wir verfügen in Sachen Sicherheit über eine gut aufgestellte Architektur. Wir haben ein offenes und sicheres
Haus. Das wollen wir auch behalten. Wir wollen keinen
Bunker und auch keine Bunkermentalität. Darum ging es
mir.
({7})
Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Niemand kann etwas dafür, wenn die Kollegen aus der
SPD-Fraktion, die Donnerstagabend mit dem Bundesinnenminister über diese Themen gesprochen haben, den
Kollegen Benneter nicht unterrichten. Offensichtlich
hielten sie es auch nicht für notwendig. Deshalb hat Herr
Benneter so reagiert, wie er reagiert hat. Es kann einem
leidtun, dass die Kommunikation innerhalb der SPD
nicht funktioniert.
Bei allen Themen, die der Bundesinnenminister genannt hat, besteht Handlungsbedarf. Er ist zum Teil
durch gerichtliche Entscheidungen und zum Teil durch
die Entwicklung der Sicherheitslage begründet. Darüber
wurde schon gesprochen. Ebenso wurden die Maßnahmen angeführt, deren Einführung angedacht ist.
Lieber Kollege Benneter, allein die Tatsache, dass Sie
ein Informationsdefizit haben, rechtfertigt nicht, dass Sie
den Bundesinnenminister als Sicherheitsrisiko bezeichnen.
({0})
Das ist eine Wortwahl, die strikt zurückzuweisen ist.
({1})
Es ist auch keine Begründung dafür, dass Sie fundamentale Kenntnisse, über die man in der Rechtswissenschaft
verfügt, schlichtweg ignorieren. Zum Thema Unschuldsvermutung kann man noch einmal kommen, aber die
Aussagen, die Sie dazu getroffen haben, sind eigentlich
eines Menschen, der ein zweites juristisches Staatsexamen sein Eigen nennt, nicht würdig.
Sie haben das Beispiel der Kofferbomben erwähnt.
Das war kein Problem, das man mit gesetzlichen Regelungen hätte lösen können. Hier haben wir verdammtes
Glück gehabt, dass diese Kofferbomben nicht losgegangen sind. Sonst gäbe es in der Bundesrepublik Deutschland eine ganz andere Diskussion, als wir sie heute führen.
({2})
Der Bundesinnenminister hat die Sicherheitslage, in
der wir uns befinden, geschildert. Insofern will ich uns
allen raten, wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückzukommen; denn es gibt in dieser Republik Handlungsbedarf. Viele Bereiche sind aufgezeigt worden. Es
hilft der Diskussion nicht weiter, sondern nur der Bedienung der eigenen Interessen, wenn man „gläserne Bürger“ formuliert oder so seltsame Reden wie die Linken
führt. Das verunsichert die Bürger eher, als dass es uns
insgesamt nutzt.
({3})
Frau Kollegin Piltz hat natürlich recht, wenn sie sagt,
dass die Freiheit täglich bedroht ist. Vielleicht muss man
aber öffentlich hinzufügen, dass sie nicht durch die Sicherheitsbehörden und nicht durch den Bundesinnenminister bedroht wird, sondern von terroristischen Aktivitäten, die in unser Land hineinstrahlen.
({4})
Wir haben in unserem Grundgesetz eine Freiheitsordnung, aber in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 auch die Schutzpflicht
des Staates normiert. Dieser Schutzpflicht müssen wir in
Abwägung mit den Freiheitsrechten nachkommen. Das
macht der Bundesinnenminister aus meiner Sicht in hervorragender Weise.
({5})
Im Übrigen ist der Kollege Wolf aus Nordrhein-Westfalen auch der Auffassung, dass es noch Sicherheitslücken gibt. Sonst hätte er die Onlinedurchsuchung nicht
ins Polizeirecht geschrieben. Wir werden auch für das
Bundeskriminalamt ein Polizeirecht schaffen müssen.
({6})
Wenn im Rahmen der Föderalismusreform entschieden
wurde, dass das Bundeskriminalamt Abwehrbefugnisse,
präventive Befugnisse hat, dann ist es eine pure Selbstverständlichkeit, dass das Bundeskriminalamt die polizeilichen Befugnisse haben muss, die jede einzelne Länderpolizei hat. Insoweit rate ich zu einer nüchternen
Debatte. Man sollte die derzeitige Verfassungslage zur
Kenntnis nehmen.
Zur Onlinedurchsuchung will ich nur noch eines sagen. Kollege Montag - er ist nicht mehr anwesend hatte einen Zwischenruf dazu gemacht. Wenn es richtig
ist, dass die Onlinedurchsuchung derzeit weder unter
Art. 13 des Grundgesetzes noch unter Art. 10 des Grundgesetzes zu subsumieren ist, sondern ausschließlich unter das Auffanggrundrecht des Art. 2 des Grundgesetzes
fällt, kann man sich doch, wenn man seriös darüber
nachdenkt, die Frage stellen: Macht es nicht Sinn, die
Durchsuchung einer Festplatte mit einer Wohnungsdurchsuchung zu vergleichen und diesen bisher nicht
geregelten Fall dem Art. 13 des Grundgesetzes unterzuordnen? Das ist der Vorschlag, den der Bundesinnenminister macht. Dieser Schutz, der beansprucht wird und
geplant ist, ist aus meiner Sicht stärker als der Schutz,
den wir derzeit haben. Rot-Grün hat die Rechtsgrundlage für die Onlinedurchsuchung geschaffen.
({7})
- Herr Wieland, Sie können das gerne bestreiten.
({8})
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass am
21. Juli 2005 - das war noch in Ihrer Regierungszeit - den
Nachrichtendiensten diese Befugnis eingeräumt worden
ist. Deswegen verstehe ich das Geschrei von Rot und
Grün nicht.
({9})
Wenn man selber eine solche Regelung eingeführt hat,
dann kann man doch später nicht andere dafür verantwortlich machen, dass es diese Regelung gibt.
({10})
Insoweit bitte ich, in den nächsten Tagen und Wochen
wieder zu einer sachlichen Debatte zu kommen. Lassen
Sie uns ernsthaft über die Fragen diskutieren, die jetzt
auf der Tagesordnung stehen. Lassen Sie uns gemeinsam
die Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürger tragen. Der Bundesinnenminister tut dies schon in besonders herausragender Weise.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In schöner Regelmäßigkeit bedient Bundesinnenminister
Dr. Schäuble die Medien und setzt innenpolitische Provokationen. Jetzt ist es das Rütteln am Prinzip der Unschuldsvermutung. Früher ging es um Rasterfahndung,
Fingerabdruckspeicherung und um den Einsatz der Bundeswehr. Der Bundesinnenminister provoziert nicht nur
die Opposition, sondern auch Teile unseres Koalitionspartners. Der Hinweis auf die mögliche Verfassungswidrigkeit der Vorschläge wird beantwortet mit der Feststellung, dass man dann eben das Grundgesetz ändern
müsse - das hat man jetzt wieder gehört -, so als ob es
um die Änderung einer Fußnote in einem Aufsatz geht
und nicht um das zentrale Korsett unseres Staates.
Dann schmückt sich der Innenminister, zum Beispiel
im „Stern“-Interview, mit dem Spruch, dass Sicherheit
Freiheitsschutz ist und nichts anderes. In diesen ritualisierten Debatten, die wir zur inneren Sicherheit führen,
wird dem Innenminister vorgeworfen, er schleife die
Freiheitsrechte und man könne die Freiheit auch zu Tode
schützen. In herausragender Weise tut dies Uli Maurer.
Das wiederum ruft die Unterstützer des Innenministers wie den Kollegen Bosbach auf den Plan. Sie drohen,
die politischen Gegner vorzuführen, wenn es zu einem
Anschlag in Deutschland komme. Sie verweisen auf
Umfragen, nach denen der Bürger seine Sicherheit geschützt haben will und er keine Sorgen vor Eingriffen in
seine Freiheitsrechte habe, denn er habe sich ja nichts
zuschulden kommen lassen. Ich möchte die Kollegen
von der CDU/CSU, auch Herrn Göbel, auf Folgendes
hinweisen: Sie wissen angeblich jetzt schon, wer Schuld
hat, wenn es hier zu einem Anschlag kommt, nämlich
die SPD, weil sie nicht genügend Gesetze gemacht hat.
Das weise ich entschieden zurück! Das haben Sie, Herr
Göbel, jetzt auch wieder gemacht. Das weise ich zurück!
({0})
Soll so in den nächsten Jahren die Diskussion zur
deutschen Sicherheitspolitik aussehen? Wem hilft die Art
und Weise, in der wir diskutieren, tatsächlich? Dem Bürger? Der Sicherheit? Der Freiheit? Wir können uns Zitate
von John Locke, Benjamin Franklin und Alexander von
Humboldt an den Kopf werfen. Unsere Sicherheitsprobleme lösen sie nicht. Solche semantischen Kategorien
sind vielleicht akademisch reizvoll, führen aber in der
Sache nicht weiter. Wir sollten uns auf politische Sacharbeit konzentrieren und nicht mit abstrakten Terrordiskussionen Ängste in der Bevölkerung schüren. Richtig ist,
dass eine erhöhte Terrorgefahr besteht und wir deshalb
unsere Hausaufgaben sorgfältig machen wollen und sollen.
Frank Hofmann ({1})
Ich nenne drei Beispiele, die zeigen, dass das noch
nicht geschehen ist:
Erstes Beispiel: Digitalfunk. Ich brauche keine näheren Ausführungen dazu zu machen. Hierbei geht es nicht
darum, Grundrechte zu schleifen. Es geht vielmehr darum, dass wir Geld einsetzen müssen, und zwar möglichst schnell.
({2})
Zweites Beispiel: Luftsicherheit. Die Sicherheitskontrollen an vielen Flughäfen sind unzureichend. Ich erinnere an das, was die Polizei bei Realtests festgestellt hat:
Bei fast vier von zehn nachträglichen Durchsuchungen
sind Gegenstände wie Messer, Pistolen oder Sprengsätze
gefunden worden. Dieser Zustand ist darauf zurückzuführen, dass, zum Beispiel in Frankfurt, Leute eingesetzt
werden, die dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, weil
sie ein niedriges Ausbildungsniveau haben. Hier zeigt
sich, dass Sicherheitsinteressen möglicherweise aus ökonomischen Gründen hintangestellt werden.
({3})
In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Prinzipien des Rechtsstaats, aber um die Beseitigung von offensichtlichen Sicherheitslücken. Auf diesem Gebiet ist
sofortiges Handeln möglich und nötig. Wir brauchen
keine Interviews zu diesem Thema, sondern Entscheidungen.
({4})
Das dritte Beispiel ist aktuell: Passgesetz. In den sogenannten E-Pässen befindet sich ein RFID-Chip, auf
dem neben dem Lichtbild nun auch der Fingerabdruck
gespeichert werden soll. Dieser Chip ist in bestimmten
Konstellationen - so sagen es uns die Sachverständigen gegen unberechtigtes Auslesen nicht geschützt.
({5})
Das hat sich aus meiner Sicht in der Sachverständigenanhörung am Montag gezeigt. Vier der Experten bewahren ihren eigenen Pass in einer abstrahlsicheren Hülle
auf, um ihn so vor unberechtigtem Auslesen zu schützen.
Soll der Bürger einen neuen Pass erhalten, den er selbst
gegen unbefugtes Auslesen sichern soll? Ich sage: Das
kann nicht wahr sein.
({6})
Die Debatte über die Unschuldsvermutung war für
mich Anlass für weitergehende Überlegungen. Die Unschuldsvermutung reduziere ich nicht auf die Bereiche
Strafrecht und Gefahrenabwehr. Die Unschuldsvermutung ist vielmehr eine Konkretisierung der Menschenwürde. Sie ist ein Konstitutionsmerkmal des Rechtsstaates, das ihn vom Polizeistaat abgrenzt. Die Vermutung,
dass das Verhalten des Bürgers rechtstreu ist, widerspricht grundsätzlich dem Selbstverständnis eines Polizei- oder Überwachungsstaates. Diese Architektur unserer rechtsstaatlichen Ordnung dürfen wir auch in Zeiten
einer erhöhten Terrorgefahr nicht aufgeben. Wir müssen
sie bei der weiteren Sicherheitsgesetzgebung berücksichtigen.
Herr Göbel, ich komme auf die Frage der Fingerabdrücke zurück.
({7})
- Das Lichtbild war es. - Wir werden nicht die Fingerabdrücke eines jeden unschuldigen Bürgers bei den Passbehörden auf Vorrat speichern und den Bürger so unter
Generalverdacht stellen, wie dies von Teilen der CDU/
CSU gefordert wird. Ein demokratischer Rechtsstaat
darf seine Bürger nicht sozusagen auf die Daktyloskopiebank zwingen und somit kriminalisieren.
({8})
Der Weg in einen Polizei- und Überwachungsstaat
kann mit der SPD auch bei Terrorgefahr nicht eingeschlagen werden. Wir werden uns an der Schürung von
Ängsten bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht beteiligen
({9})
und weiterhin unsere Maxime der Sicherheitspolitik mit
Augenmaß fortsetzen; wenn es geht, gerne mit dem Innenminister, wenn es nicht geht, dann auch gegen den
Innenminister.
({10})
Vielen Dank.
({11})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 26. April 2007,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen erfolgreichen Tag,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Sitzung ist geschlossen.