Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen. Damit
wir uns der bevorstehenden Osterpause möglichst zügig
nähern, steigen wir ohne Verzug in die für heute vorge-
sehene Tagesordnung ein.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b sowie
den Zusatzpunkt 5 auf:
26 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Unternehmensteuerreformgesetzes 2008
- Drucksache 16/4841 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- Drucksache 16/4857 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Scheel, Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unternehmensteuerreform für Investitionen
und Arbeitsplätze
- Drucksache 16/4855 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück.
({3})
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe bei meinen
letzten Reisen ins Ausland, insbesondere nach Brüssel,
aber auch in andere europäische Hauptstädte und nach
New York und Washington, zunehmend die Erfahrung
gemacht, dass all meine Gesprächspartner überrascht
sind, wie gut sich die Wirtschaft in Deutschland entwickelt hat und wie deutlich die Arbeitslosigkeit abgenommen hat. Das Interesse an dem Wirtschaftsstandort
Deutschland hat in den letzten anderthalb Jahren deutlich erkennbar zugenommen.
Die meisten dieser Gesprächspartner beobachten sehr
genau - gelegentlich habe ich den Eindruck, sie wissen
besser Bescheid als diejenigen, die sich an der innenpolitischen Debatte beteiligen -, was mit der Agenda 2010
unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Politik
der Großen Koalition in Deutschland in Gang gesetzt
worden ist, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und
die Arbeitslosigkeit zu verringern.
({0})
Man muss sich vor Augen führen, dass die Wirtschaft
in Deutschland im letzten Quartal 2006 schneller gewachsen ist, als das in den USA der Fall war. Wer hätte
das je für möglich gehalten? Die Aussichten für die
Jahre 2007 und 2008 sind nicht sehr viel schlechter.
Redetext
Alle Gesprächspartner, vornehmlich in der Europäischen Union, sind sehr an der Frage interessiert, ob
Deutschland zu seiner alten Funktion als Wachstumslokomotive zurückfinden kann. Ich glaube, dass es dafür
gute Chancen gibt. Um das richtig einzuordnen: Die Politik ist gewiss nicht allein für diese Entwicklung verantwortlich. Das behauptet übrigens niemand von der Großen
Koalition oder von der Bundesregierung. Die Politik - das
gilt insbesondere für die Reformagenda Agenda 2010 und
die Maßnahmen der Großen Koalition der letzten anderthalb Jahre - ist aber zumindest beteiligt. Ich halte daran
fest, dass die Entscheidungen der Großen Koalition die
gute Entwicklung über die, wie ich es nenne, doppelte
Tonlage - auf der einen Seite zu konsolidieren und auf
der anderen Seite Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben - unterstützt haben.
({1})
Das spiegelt sich in einem erfreulichem Ergebnis wider: Sie alle wissen, dass wir ungefähr 825 000 Arbeitslose weniger haben als vor einem Jahr. Es gibt vor allem
450 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr,
was eine sehr gute Entwicklung ist. Ich freue mich für
die Menschen, die neue Arbeit gefunden haben, und für
die vielen, die nicht mehr so große Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen wie noch vor anderthalb Jahren.
({2})
Als Finanzminister, der auch Anwalt kommender Generationen sein muss - eine ganze Reihe junger Menschen hört uns zu -, und als Anwalt derjenigen, die den
Kapitaldienst der hohen Staatsverschuldung nicht als
derart großen Wackerstein im Gepäck haben sollen,
freue ich mich über den Rückgang der gesamtstaatlichen
Neuverschuldung. Von 2005 zu 2006 haben wir sie halbiert. Viele von Ihnen wissen, dass ich für dieses Jahr ein
Defizitkriterium in einer Größenordnung von 1,2 Prozent angeben kann. Das ist eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung.
Manche wirtschafts- und finanzpolitische Debatte des
letzten Jahres klingt mir aber noch in den Ohren. Herr
Solms, es wurden Horrorgemälde über die Auswirkungen unserer Politik, insbesondere der Mehrwertsteuererhöhung, gemalt. Die Begriffe „Unfug“, „Steuerirrsinn“
und ähnliche fielen in diesem Zusammenhang. Jetzt entpuppt sich vieles von dem, was damals gesagt wurde, als
Horrorszenario.
({3})
Es wäre nicht schlecht, wenn der Lerneffekt aus den
Erfahrungen des letzten Jahres derjenige wäre, in zukünftigen Debatten etwas abgewogener und seriöser, mit
einem etwas größeren Augenmaß und mit weniger Aufregung zu debattieren.
({4})
Dieses Augenmaß sollte auch unter dem Eindruck ganz
guter Zahlen walten. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass wir zu Übertreibungen neigen, nicht nur
dann, wenn es uns nicht so gut geht, sondern auch, wenn
es uns besser geht. Wenn sich unsere Wirtschaft schlecht
entwickelt, dann haben wir die Neigung, alles noch stärker schlechtzureden, als es ist. Bei der derzeit guten Entwicklung habe ich den Eindruck, dass es Übertreibungen
nach oben gibt, die jedes Maß verlieren. Ich rate dazu,
unter dem Eindruck guter Einnahmezahlen, guter
Wachstumsperspektiven und guter Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt das Bild nicht wieder so zu zeichnen, als
ob bereits alle Probleme gelöst seien. Nein, insbesondere
haushaltspolitisch haben wir noch dieselben Probleme
wie vor anderthalb Jahren.
({5})
Wir leben in einer sehr schnelllebigen Welt. Sie ist
durch einen rasanten Wandel geprägt. Ich finde, dass die
Bundesrepublik Deutschland auf einem guten Weg ist.
Dies gilt auch mit Blick auf die Unternehmensteuerreform. Wir debattieren heute in erster Lesung über den
Gesetzentwurf. Mit dieser Reform stärken wir die
Wachstumsbasis in Deutschland. Vor allen Dingen bewirken wir eine Entwicklung, die darauf hinausläuft,
dass Unternehmensgewinne, die Wertschöpfung, die in
Deutschland erzielt wird, auch in Deutschland versteuert
werden, anstatt ins Ausland abzuwandern, und dass die
Verluste, die im Ausland gemacht werden, nicht steuermindernd in Deutschland wirken. Das ist die Kernzielsetzung der Unternehmensteuerreform.
({6})
Diejenigen, die die Unternehmensteuerreform kritisieren - sachlich, teilweise aber auch polemisch -, müssen die Frage beantworten, ob es der Bundesrepublik
Deutschland auf Dauer besser ginge, ob es für Deutschland günstiger wäre, wenn wir die Unternehmensteuerreform unterließen. Die Antwort lautet eindeutig: Wenn
wir keine Unternehmensteuerreform machen, wird
Deutschland weiter an Steuerbasis - die Technokraten
nennen es Steuersubstrat - verlieren, und die Staatseinnahmen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben werden
auf Dauer nicht mehr, sondern weniger. Das heißt, wir
hätten Nachteile aus einem Unterlassen. Die Verantwortung muss sich nicht nur bei der Frage stellen, was man
tut, was die Konsequenzen des Handelns sind, sondern
es muss politisch auch die Frage gestellt werden: Welche
Konsequenzen hat das Unterlassen von notwendigen
Maßnahmen, die die Steuerbasis in Deutschland stärken?
({7})
Die Unternehmensteuerreform ist in meinen Augen
übrigens durchaus ein Beleg für die Handlungsfähigkeit
und Gestaltungskraft der Großen Koalition. Ich füge mit
einer gewissen Befriedigung hinzu: Nicht zuletzt die erfreulich unaufgeregte Art ihres Zustandekommens ist ein
Beleg dafür, dass es der Politik außerordentlich gut tun
kann, wenn sie sich Zeit nimmt, um ein so komplexes
Werk zu erarbeiten, und diese Zeit auch bekommt. Ein
so komplexes Werkstück wie diese Unternehmensteuerreform muss reifen können, ohne mit täglichen Wasserstandsmeldungen medial zerrieben zu werden. Ich glaube,
dass ist uns über die Wegstrecke von zwölf Monaten gelungen.
({8})
Ich möchte deshalb an dieser Stelle all denjenigen
danken, die behilflich gewesen sind, insbesondere denen, die fachlich versiert in den Landesverwaltungen
von Hessen, von Bayern, von Rheinland-Pfalz insbesondere in den Bundesressorts tätig gewesen sind. Ich
möchte auch denjenigen danken - viele von ihnen sind
anwesend -, die mit mir in der politischen Arbeitsgruppe
zusammengearbeitet haben, namentlich Herrn Ministerpräsidenten Koch, der die Seite der Union dabei geleitet
hat. Ich glaube, das war ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken innerhalb dieser Großen Koalition.
({9})
Wir haben absichtlich keinen Systemwechsel vorgenommen. Sie wissen, dass wir am Beginn dieser Debatte
über die Unternehmensteuerreform von Sachverständigen aufgefordert wurden - dem Sachverständigenrat
genauso wie der Stiftung „Marktwirtschaft“ -, eine fundamentale Veränderung, einen richtigen Paradigmenwechsel, des Unternehmensteuersystems in Deutschland zu machen. Wir haben vorsätzlich darauf verzichtet,
weil eine solche fundamentale Veränderung eindeutig
mit unwägbaren Asymmetrien, mit Nebeneffekten verbunden gewesen wäre, die unkalkulierbar sind und zu einem unübersehbaren Nachjustierungsbedarf geführt hätten und im Übrigen auch zu Einnahmenverlusten in
zweistelliger Milliardenhöhe, die sich mit dem gemeinsamen Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht vertragen hätten.
Die wesentlichen Maßnahmen der Unternehmensteuerreform sind Ihnen so weit bekannt, dass ich aus Zeitgründen nicht im Einzelnen darauf eingehe. Aber ich
will die wichtigsten Punkte nennen. Wir tun etwas, was
von vielen - übrigens einem breitem Spektrum - in diesem Haus vor Beginn der Unternehmensteuerreform
immer für richtig erachtet worden ist: Wir senken die nominalen Steuersätze und erweitern dabei die Bemessungsgrundlage. Das heißt, wir schränken die Gestaltungsmöglichkeiten, die derzeit legalen Möglichkeiten
der Steuervermeidung, in Deutschland ein. Das war
eine der Zielsetzungen der Unternehmensteuerreform.
Die Zahlen, wie hoch der Betrag ist, der am deutschen
Fiskus „vorbeigestaltet“ werden kann, gehen auseinander. Das DIW hat kürzlich eine Zahl von 100 Milliarden
Euro genannt. Ein eher der Wirtschaft nahestehendes Institut redet von 30 Milliarden Euro. Egal wie hoch dieser
Betrag genau ist, er ist auf jeden Fall zu hoch. Diese Verschiebebahnhöfe müssen unterbunden werden.
({10})
Wenn wir nur einen Teil dieser legalen grenzüberschreitenden Verlagerung eindämmen können, dann sichern wir die Steuerbasis in Deutschland, und das langfristig. Ich möchte nicht, dass die Unternehmensführungen
vor allem in ihre Steuerabteilungen investieren, um
herauszufinden, welche die besten legalen Steuervermeidungsstrategien sind, sondern ich möchte, dass die Unternehmen in Arbeitsplätze und in Realkapital in Deutschland investieren.
({11})
Wir haben sehr darauf geachtet, dass insbesondere die
vielen kleinen und mittleren Unternehmen durch die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Deswegen wehre ich mich
gegen die Äußerung, dass es eine Mittelstandslücke gibt.
Übrigens hat gerade das sehr renommierte Zentrum für
Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim deutlich gemacht, dass der Mittelstand einer der Gewinner
dieser Reform ist.
Das liegt zum Teil daran, dass die Tarifsenkung bei
mittelständischen Unternehmen voll positiv wirkt, während sie von den Elementen der Gegenfinanzierung aufgrund von Freigrenzen und Freibeträgen, übrigens auch
aufgrund niedrigerer individueller Grenzsteuersätze, im
Gegensatz zu den großen Unternehmen nicht betroffen
sind. Es ist auch daran zu erinnern, dass der deutsche
Mittelstand durch die Maßnahmen der Vorgängerregierung und die Steuerreformen bereits zu Beginn dieses
Jahrzehnts um 13 Milliarden Euro entlastet worden ist.
({12})
Die Steuerreformschritte des Jahres 2000 und folgende
haben dazu geführt, dass die Effektivbesteuerung von
80 bis 85 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland inzwischen bei unter 20 Prozent
liegt.
Mit Blick auf die jetzigen Maßnahmen möchte ich
darauf hinweisen, dass insbesondere aufgrund der Verbesserung der Ansparabschreibung und der Thesaurierungsmöglichkeiten keine Mittelstandslücke existiert. In
Deutschland gibt es ungefähr 3 Millionen kleine und
mittlere Unternehmen. 1 Million von ihnen werden in
der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft betrieben. Sie
alle profitieren von der Absenkung des Nominalsteuersatzes. Darüber hinaus gibt es 2 Millionen Personengesellschaften in Deutschland. Von diesen 2 Millionen
Personengesellschaften haben lediglich 70 000 Unternehmen - mehr nicht - ein Eigenkapital von mehr als
210 000 Euro und können daher nicht die Möglichkeiten
der Verbesserung der Ansparabschreibung in Anspruch
nehmen.
Es sind also ungefähr 2 Prozent der Personengesellschaften, die von diesen Vergünstigungen nicht profitieren. Ich möchte deutlich darauf hinweisen, dass der weit
überwiegende Teil der Mittelständler durch die Thesaurierungsbegünstigung für ertragsstarke größere Personengesellschaften und durch die Möglichkeiten der
Ansparabschreibung im Rahmen der Unternehmensteuerreform begünstigt wird. Insgesamt kann man feststellen, dass der deutsche Mittelstand, was die Besteuerung
betrifft, im europäischen Vergleich im besten Drittel angekommen ist.
Um einen weiteren Punkt aufzugreifen: Gelegentlich
höre ich, dass darauf hingewiesen wird, wie schädlich
die Gewerbesteuer sei. Insbesondere aus den Reihen
der FDP wurde ein Plädoyer dafür gehalten, die Gewerbesteuer abzuschaffen. In der Wahrnehmung der politischen Arbeitsgruppe war dieser Vorschlag immer ein
Irrweg. Da ungefähr 60 Prozent der öffentlichen Investi9340
tionen von den Kommunen getätigt werden und diese Investitionen vornehmlich dem deutschen Mittelstand zugute kommen, muss man die Einnahmebasis und die
Investitionsfähigkeiten der Kommunen stärken. Das tun
wir mit der Unternehmensteuerreform.
({13})
Das bedeutet in meinen Augen nicht, dass die Kommunen irgendeinen Zuschlag bzw. einen Hebesatz aus den
Einnahmen der Einkommensteuer oder einen größeren
Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer bekommen müssen, sondern es bedeutet, dass sie eine
eigene wirtschaftskraftbezogene Steuereinnahme mit eigenem Hebesatzrecht brauchen. Dies ist im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform gelungen.
({14})
Eigentlich geht es um noch mehr: Wir halten nicht nur
die gute Perspektive im Hinblick auf die Einnahmesituation der Kommunen offen, sondern wir verstetigen auch
ihre Einnahmen in erkennbarem Umfang, zum Beispiel
durch Verbesserungen der Bemessungsgrundlage. Ich
weiß, dass es Kritik daran gegeben hat, nach dem Motto:
Ihr führt mehr ertragsunabhängige Elemente in die Bemessungsgrundlage ein, was dazu führt, dass die Unternehmen nicht mit der Konjunktur atmen können. - Ich
möchte darauf hinweisen, dass der Anteil der ertragsunabhängigen Elemente an der Besteuerung in Deutschland einer der niedrigsten in ganz Europa ist. Wo also ist
in diesem Zusammenhang das Problem? Es wird in meinen Augen jedenfalls deutlich übertrieben.
Es ist richtig, dass sich mit dieser Unternehmensteuerreform Mindereinnahmen verbinden. Aber noch einmal: Nichtstun würde dauerhaft zu größeren Mindereinnahmen führen. Man muss sehen, dass man diese
Mindereinnahmen bei einer vollen Jahreswirksamkeit
auf 5 Milliarden Euro begrenzen kann. Das heißt, zu
dem Zeitpunkt, wo alle entlastenden und alle belastenden Elemente in einem Jahr wirken, haben wir die häufig
genannten 5 Milliarden Euro. Richtig ist, dass wir im
ersten Kassenjahr mit Mindereinnahmen von 6,5 Milliarden Euro zu rechnen haben. Aber entscheidend ist, wie
sich die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren
tatsächlich entwickeln, unter Berücksichtigung, dass wir
Steuersubstrat zurückgewinnen, und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung. Alle Indikatoren
weisen darauf hin, dass wir bei der Gewerbesteuer nach
zwei Jahren und bei der Körperschaftsteuer nach drei
Jahren auf demselben Einnahmeniveau sind wie 2007.
Ich will an dieser Stelle dem Verdacht begegnen, wir
hätten dort Selbstfinanzierungseffekte eingerechnet. Wir
haben definitiv keine Selbstfinanzierungseffekte in diese
Berechnungen einfließen lassen, sondern wir gehen von
den Wachstumsmöglichkeiten, von den Wachstumsperspektiven aus und, in einem sehr bescheidenen Ausmaß,
davon, dass wir über solche Verbesserungen die Steuerbasis, die in Deutschland verloren zu gehen droht, erhalten können.
Ein weiterer Vorwurf lautet - um zum Schluss zu
kommen -, dass sich mit dieser Unternehmensteuerreform Bürokratiekosten verbinden. Ich möchte darum
bitten, die Proportionen nicht aus den Augen zu verlieren: Richtig ist, dass dieser Gesetzentwurf mit Nachweispflichten und Meldevorschriften zusätzlichen Aufwand für die Unternehmen nach sich zieht, somit
Bürokratiekosten entstehen. Aber dies ist im Interesse
des deutschen Fiskus notwendig, sonst verlieren wir Einnahmen.
Entgegengehalten wird auch, dass der Normenkontrollrat mit Blick auf die Anlageverzeichnisse für geringwertige Wirtschaftsgüter, für Wirtschaftsgüter bis
1 000 Euro, mit Bürokratiekosten von 180 Millionen
Euro rechnet. Aber ich bitte, auch hier im Blick zu behalten, dass sich diese 180 Millionen Euro, die dafür
aufgewandt werden müssen, auf 5 Millionen Unternehmen erstrecken. Das heißt, pro Unternehmen und Jahr
sind es 36 Euro Mehraufwand, 3 Euro pro Monat. Das
sind die Proportionen, die wir im Blick behalten müssen.
Das heißt, diese bombastische Zahl - nach dem Motto:
Was inszenieren die da wieder für eine Bürokratie? rückt sich doch zurecht, wenn man bereit ist, zu bedenken, dass diese Summe auf die in Rede stehende Anzahl
der deutschen Unternehmen umzulegen ist.
Mit dieser Unternehmensteuerreform setzt die Große
Koalition ihre erfolgreiche Arbeit am Wirtschafts- und
Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland fort. Die
Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass der Mut zu
grundsätzlichen Reformen, zu Strukturreformen, am
Ende mit mehr Wachstum und mit weniger Arbeitslosigkeit belohnt wird. Dies sage ich auch für diese Unternehmensteuerreform voraus. Man braucht einen langen
Atem dafür. Helfen wird eine gute Lunge; das Rauchverbot ist in diesem Zusammenhang vielleicht ganz hilfreich.
({15})
- Der Fraktionsvorsitzende der SPD ist dort anderer
Auffassung. - Ich will darauf hinaus: Diese Steuerreform ist kein Geschenk an irgendjemanden, sondern bedeutet eine Investition in den Standort Deutschland, in
die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn das so bewertet werden könnte.
Vielen Dank.
({16})
Für die FDP-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege
Dr. Hermann Otto Solms.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe den Aufruf des Bundesfinanzministers zu Augenmaß als einen Aufruf in seine eigenen Reihen verstanden.
({0})
Denn die Oppositionstätigkeit innerhalb der Koalitionsfraktionen und zwischen den Koalitionsfraktionen ist
sehr viel reger als das, was die Opposition gegenwärtig
leisten kann.
({1})
Wir können uns ja kaum noch Gehör verschaffen, weil
Sie die Oppositionsrolle mit übernommen haben.
({2})
Das Zweite, was ich dazu sagen wollte: Sie haben
eine sehr wortreiche Verteidigungsrede für dieses Modell der Unternehmensteuerreform vorgetragen. Aus vielen Worten wird aber noch kein schönes Gedicht, Herr
Finanzminister; denn die Frage lautet: Welchen Maßstäben muss eine solche Unternehmensteuerreform gerecht
werden? Sie muss doch offenkundig dem Maßstab gerecht werden, die internationale Wettbewerbsfähigkeit
hinsichtlich des Forschungsstandorts Deutschland, des
Investitionsstandorts Deutschland - und damit des Arbeitsplatzmarkts Deutschland - und schließlich auch des
Finanzplatzes Deutschland im Bereich der Steuern zurückzugewinnen. Hier sind wir international enorm zurückgefallen. Daran gibt es keine Zweifel.
Eine Unternehmensteuerreform ist aus Sicht der FDP
überfällig. Sie muss mit Entlastungen der Unternehmen verbunden sein. Wenn ich mir die Diskussion innerhalb der Reihen der SPD gegenwärtig anhöre und das
betrachte, was die Fraktion der Linken vorträgt, dann
kann ich mich nur wundern. Der Volkskongress Chinas,
einer der letzen kommunistischen Staaten dieser Welt
- und zwar kein kleiner -, hat vor 14 Tagen beschlossen,
dass alle Unternehmen jedweder Rechtsform nur noch
mit 25 Prozent besteuert werden sollen.
({3})
Das hat man in Deutschland noch nicht verstanden. Das
ist der Maßstab, der gesetzt wird.
({4})
Die Frage ist, wie wir dagegen bestehen wollen. Sie
diskutieren darüber, ob 30 Prozent niedrig genug sind.
Ganz egal, ob Sie das gut oder schlecht finden: Diesen
Maßstäben können Sie sich in einem globalisierten Wettbewerb nicht entziehen. Die Reform, die Sie uns vorschlagen, ist bedauerlicherweise völlig unzusammenhängend und ein Bündel von Einzelmaßnahmen, die sich
teilweise widersprechen. Sie ist unsystematisch, ungerecht und verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Darauf will ich eingehen.
({5})
Zunächst einmal begrüßen wir die Senkung der nominalen Steuersätze. Kommt denn aber wirklich eine Steuersenkung bei der Wirtschaft an, oder fangen Sie die
positiven Effekte durch Ihre Gegenfinanzierungsmaßnahme nicht gerade wieder ein? Sie gaukeln der Wirtschaft vor, sie würde entlastet, sagen aber nicht öffentlich, dass die Wirtschaft die Entlastung selbst bezahlen
muss. Noch viel schlimmer ist aber, dass Sie die Wirtschaft mit Ihren Maßnahmen nicht gleichmäßig treffen.
Es mag richtig sein, dass der Vorwurf einer Mittelstandslücke nicht genau trifft; allerdings stimmt es, dass
Sie die gewinnschwachen, kapitalschwachen und forschungsintensiven Unternehmen zusätzlich belasten,
während Sie die ertragsstarken, international tätigen Unternehmen entlasten. Sie erzeugen genau die falsche
Lenkungswirkung.
({6})
Das ist eine Steuerreform für Siegerunternehmen.
({7})
Sie müssten dagegen die forschungsintensiven, die
neuen und die noch kapitalschwachen Unternehmen
stärken, damit sie im internationalen Wettbewerb überleben können und neue wirtschaftliche Tätigkeit entstehen
kann. Das ist offenkundig nicht in Ordnung.
Darüber hinaus ist die Reform verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich, weil Sie die Grundprinzipien der Besteuerung über Bord geworfen haben. Ich erinnere die
Kollegen von der CDU/CSU und besonders den Kollegen Wolfgang Schäuble an die Steuerreformkommission
des Jahres 1996 unter dem Vorsitz von Theo Waigel. In
der ersten Sitzung ist die Frage gestellt worden, ob wir
an den Grundprinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und dem objektiven Nettoprinzip festhalten wollen. Niemand hat sich dagegen ausgesprochen.
Alle waren selbstverständlich dafür. Diese Prinzipien
sind ja verfassungsrechtlich fundiert. - Heute spielt das
keine Rolle mehr.
Umso mehr habe ich mich darüber gewundert, dass
Ministerpräsident Koch aus Hessen zusammen mit Herrn
Steinbrück durch das bekannte Koch/Steinbrück’sche
Papier damit begonnen hat, die Grundprinzipien der Besteuerung sozusagen zur Beliebigkeit zu erklären.
({8})
Gegenwärtig wird ein Gutachten beim Bundesfinanzhof eingereicht - alle Fraktionen dieses Hauses sind darüber informiert und tragen dies mit -, in dem der Verfassungsrechtler Professor Waldhoff noch einmal darauf
hinweist, dass diese Prinzipien Verfassungsrang haben.
Ich will nur zwei Sätze zitieren:
Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit her, das sich als Gebot der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erweist.
Und an anderer Stelle:
In § 2 Abs. 2 EStG hat das objektive Nettoprinzip
insofern seine Verwirklichung gefunden, als dass
Einkünfte nur Reineinkünfte sind, das heißt der Gewinn bzw. der Überschuss der Einnahmen über die
Werbungskosten. Durchbrechungen dieses Prinzips
bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung.
Jetzt möchte ich gerne von Herrn Koch hören, wie er
verfassungsrechtlich begründet - er ist ja ein anerkannter
Jurist -,
({9})
dass das objektive Nettoprinzip nun offenkundig keine
Rolle mehr spielt, weil Verluste und Kostenbestandteile
in die steuerliche Bemessungsgrundlage aufgenommen
worden sind. Das ist in unseren Augen überhaupt nicht
akzeptabel.
({10})
Das ist im Übrigen wirtschaftlich auch gar nicht notwendig. Verfassungsgrundsätze können sich nicht an der
politischen Tagesnotwendigkeit orientieren, sondern sie
müssen gelten. Es ist aber auch deshalb nicht notwendig,
weil es nicht stimmt, was Sie hinsichtlich der Gewinnverschiebungen ins Ausland behaupten. Es wurde ja gerade nachgewiesen, dass die international tätige Wirtschaft etwa 75 Prozent ihrer Gewinne im Ausland
erzielt, trotzdem aber über 50 Prozent der Steuern in
Deutschland abliefert. Das heißt, der deutsche Fiskus hat
einen überproportionalen Anteil an der Gewinnbesteuerung der deutschen international tätigen Unternehmen.
Es gibt also überhaupt keinen Anlass, diese Gewinnverschiebungen zu unterstellen. Deswegen bin ich der Meinung, dass in diesem Bereich eine Korrektur notwendig
ist.
Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn Sie diese verfassungsrechtlich bedenklichen Vorschriften im Gesetzgebungsverfahren nicht korrigieren, dann werden Sie
zwangsläufig - auf wessen Initiative hin auch immer vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichtes landen.
({11})
Aber was erreichen Sie damit eigentlich politisch? Sie
versuchen, um Deutschland herum eine Steuermauer
hochzuziehen, und zwar aus Angst, die Steuerpflichtigen
würden Deutschland verlassen. Was erreichen Sie denn
damit, wenn Sie eine Mauer bauen? Die DDR hat es Ihnen doch vorgemacht!
({12})
Kein Ausländer wird mehr hierher kommen, um hier zu
investieren, und alle Inländer, die schnell und clever
sind, werden das Land verlassen. Das ist die Konsequenz, wenn Sie eine solche Steuermauer aufbauen.
({13})
Oder wie es Manfred Schäfers von der „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ schon im Sommer letzten Jahres
geschrieben hat:
Wenn Unternehmen mit ihren Gewinnen nicht zurückkommen, sperrt man wenigstens die ein, die
noch da sind. Das sind sozialistische Rezepte.
Das kann nicht funktionieren. Wenn Sie die Gewinne in
Deutschland einsperren wollen, dann werden die Unternehmen ihren Sitz nach und nach ins Ausland verlegen.
Genau das Gegenteil ist aber die Politik, die wir für
Deutschland brauchen.
Herr Steinbrück, die Österreicher haben es uns doch
vorgemacht: Sie haben eine exzellente Unternehmensteuerreform gemacht, die, im Gegensatz zu dem, was
Sie hier bieten, auch europarechtsfähig ist.
({14})
Und was haben die Österreicher erreicht? Sie haben einen riesigen wirtschaftlichen Erfolg, dort liegt die Arbeitslosenquote nur halb so hoch wie in Deutschland, es
gibt Wachstum und Auslandsinvestitionen - verhältnismäßig betrachtet, Österreich ist ja ein relativ kleines
Land - in einem Ausmaß, wie wir es uns nur erträumen
können.
Schließlich ein Wort zur Gewerbesteuer. Natürlich
ist die Gewerbesteuer ein Fremdkörper. Reden Sie doch
nicht drum herum! Es geht doch nicht darum, den Gemeinden die Finanzierungsgrundlage zu entziehen. Es
geht darum, ein modernes, wettbewerbsfähiges, flexibles
Unternehmensteuerrecht zu schaffen. Dabei hat die Gewerbesteuer nichts verloren.
({15})
Über die Abschaffung der degressiven AfA will ich
gar nicht erst reden. Sie haben die degressive AfA für
zwei Jahre angehoben und glauben, das wäre es gewesen, sie könnten die AfA jetzt abschaffen, die Wirtschaft
boomt und das geht so weiter. Ich sage: Nein, beim
nächsten Konjunktureinbruch wird sich das rächen. Sie
werden sehen, dass die degressive AfA auch in Zukunft
notwendig sein wird. Die Länder um uns herum machen
es doch genauso. Wir sind doch nicht auf einer einsamen
Insel.
Zusammenfassend möchte ich sagen, Herr Steinbrück:
Wir brauchen eine Steuerreform. Die FDP hat ihre Vorschläge in Gesetzestextform vorgelegt. Wir sind bereit,
darüber zu reden. Eine Senkung der Unternehmensteuerbelastung ist zwingend notwendig. Aber sie muss sich an
den internationalen Maßstäben orientieren. Sie muss zudem auf der Basis der Prinzipien unserer Verfassung gestaltet werden. Eine Alternative dazu kann es nicht geben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Ich erteile das Wort dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch.
({0})
Roland Koch, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Unternehmensteuerreform ist ein wichtiger
Baustein zur Verbesserung der wirtschaftlichen Chancen
in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist aber nicht der
einzige Baustein. Sicherlich muss sie im Zusammenhang
mit den Fragen betreffend den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland, wie es in den letzten
Monaten mehr und mehr - auch als eine Konsequenz aus
dem 25-Milliarden-Euro-Programm, das die Große
Koalition national aufgelegt hat und das die Länder ergänzen müssen - deutlich wurde, und manch anderer
Maßnahme gesehen werden. Wenn ich lobend über die
Unternehmensteuerreform als eine Chance spreche,
dann will ich nicht verhehlen, dass aus meiner Sicht die
offene Flanke bleibt, dass man ohne die notwendige
Flexibilisierung des Arbeitsrechts die Attraktivität des
Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht alleine durch
eine Unternehmensteuerreform sichern kann. Es bleibt
also auch in Zukunft noch etwas zu tun.
({2})
Das darf und soll aber nicht mindern, was wir hier gemeinsam erreichen können.
Der Gesetzentwurf, den Herr Kollege Steinbrück für
die Bundesregierung eingebracht hat, ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung, den Koalitionsfraktionen und einem großen Teil
der Bundesländer. Wir sind für diese Zusammenarbeit,
die zu einem frühen Zeitpunkt begann und in die der
Sachverstand der Landesfinanzverwaltungen einbezogen
wurde, außerordentlich dankbar. Es war in der Tat wichtig, dass ein solches Thema nicht von Anfang an in die
Mühlsteine ideologischer Auseinandersetzungen geraten
ist. Wir sehen jeden Tag, dass diese Gefahr besteht. Ich
bin Herrn Kollegen Steinbrück dankbar, dass wir auf
beiden Verhandlungsseiten ein Klima geschaffen haben,
das es uns ermöglicht, weitergehende Schritte zu machen, als es viele in den Reihen der Großen Koalition für
möglich gehalten haben.
Herr Kollege Solms, es stimmt, dass diese Unternehmensteuerreform zu einer veränderten Unternehmensbesteuerung führt. Aber wir müssen zum Beispiel von Österreich lernen. Eines der wesentlichen Hindernisse im
deutschen Steuerrecht, die wir in der Vergangenheit als
Problem mit uns herumgeschleppt haben, war, dass alle
steuerlichen Systeme so eng miteinander vernetzt waren,
dass die mit der Funktion des sozialen Ausgleichs belegte individuelle Einkommensteuer unmittelbare Konsequenzen für die Unternehmensbesteuerung im Ganzen
hatte. Das bedeutet nüchtern gesehen, dass man, wenn
man die Funktion des sozialen Ausgleichs der individuellen Einkommensbesteuerung nicht aufgeben will, die
Unternehmensbesteuerung in ein enges Korsett zwängt.
Dadurch haben wir zunehmend an internationaler und
europäischer Wettbewerbsfähigkeit verloren.
Das Unternehmensteuerrecht, das nun geschaffen
wird, ermöglicht uns zwei Dinge getrennt zu sehen: die
individuelle Besteuerung persönlichen Einkommens und
die Belastung der Unternehmenserträge im internationalen Vergleich. Dies ist die einzige Chance, mittelfristig
mit Nachbarländern wie den Niederlanden und Österreich sowie den großen Wettbewerbern in der Welt zu
konkurrieren. Deshalb ist diese Unternehmensteuerreform ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
({3})
Die Entscheidung der beiden Koalitionsfraktionen
und derjenigen, die den Gesetzentwurf begleitet haben,
Zinserträge zu unternehmerischen Erträgen und nicht
mehr zu privaten Erträgen zu rechnen, das heißt, sie in
die Pauschalierung durch eine Abgeltungsteuer einzubeziehen, ist für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das nicht nur viel Kapital braucht, sondern das
auch eine außerordentlich große Kompetenz darin hat,
Kapital zu verwalten, ein wichtiger Schritt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Konzert
zu erhalten.
({4})
Ich, der ich das Bundesland Hessen vertrete und aus
Frankfurt komme, das mit London im Wettbewerb steht,
kann nur sagen: Wir haben aufgrund bestimmter Fehler
im Investmentbanking nicht mehr ganz die Nase vorne,
wohl aber im Asset Management. Um das Asset Management auf Dauer in Deutschland zu halten, ist es außerordentlich wichtig, ein einfaches und überschaubares
Steuerrecht - auch bei der Besteuerung von Zinserträgen
und Unternehmenserträgen - zu haben. Ich erlaube mir,
an dieser Stelle zu sagen: Auch wegen des Verhetzungspotenzials, das bei solchen Reformen bestehen kann, ist
das eine Aufgabe, die eine große Koalition erledigen
muss. Ich bin froh darüber, dass sich die beiden Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag entschlossen
haben, diese Aufgabe zu leisten. Sie wird weit über die
Jahre einer solchen Regierung hinaus Bedeutung für die
deutsche Wirtschaft haben.
({5})
Wir befinden uns doch in einer Situation, in der wirklich niemand auf den Gedanken kommen kann, man
könnte in dieser Frage eine Mauer ziehen. Das hat Konsequenzen: Man muss sicherstellen, dass Menschen, die
überall auf der Welt unternehmerische Entscheidungen
treffen, die Frage, ob sie denn hier in der Bundesrepublik
Deutschland unternehmerisch aktiv sein wollen, positiv
beantworten können. Wenn ich einem Unternehmer
sage, dass der Spitzensteuersatz zwar grob 25 Prozent
mehr - 40 statt 30 Prozent - als in jedem anderen Land
in Europa und in der Welt beträgt, in dem sie ihre unternehmerischen Entscheidungen treffen könnten, und dann
hinzufügen muss: „Nimm das aber nicht so tragisch;
denn wenn man alle Verrechnungs-, Ausgleichs- und
Abschreibungsmöglichkeiten berücksichtigt, dann sieht
Ministerpräsident Roland Koch ({6})
man, dass die Realbesteuerung viel niedriger ist“, dann
muss dieser Unternehmer über die Frage entscheiden:
Nehme ich ein Land mit einem einfachen Steuergesetz
und einem niedrigen Steuersatz, oder nehme ich ein
Land mit einem hohen Steuersatz und beschäftige einen
guten Steuerberater? Warum soll er die zweite Alternative wählen? Wir geben ihm in Zukunft die Möglichkeit,
die erste zu wählen, meine Damen und Herren. Das ist
ein wichtiger Teil internationaler Wettbewerbsfähigkeit.
({7})
Es sei auch klar gesagt: Natürlich verursacht eine solche Steuerreform am ersten Tag einen Ausfall, schon
deshalb, weil die niedrigeren Sätze am ersten Tag gelten,
die Gegenfinanzierungsmechanismen aber erst langsam wirken, und auch deshalb, weil ein Unternehmen
sich überhaupt erst entscheiden muss, hierherzukommen
- das dauert - und sich anzusiedeln - das dauert -, und
für das erste Jahr Steuern zahlen muss - das dauert noch
einmal -, bis wir tatsächlich Wirkungen feststellen. Es
ist aber ein entscheidender Schritt, dass man in einem internationalen Standortwettbewerb sagen kann: Wir kommen jetzt auf einen Steuersatz, der dem durchschnittlichen Steuersatz internationaler Konzerne - wo immer
auf der Welt sie angesiedelt sind - entspricht; es gibt keinen Grund mehr, einen Bogen um Deutschland zu machen. Das ist eine wichtige Botschaft, die wir mit dieser
Unternehmenssteuerreform senden.
({8})
Es gibt aber auch die andere Seite. Herr Kollege
Solms, hier bin ich wirklich anderer Meinung als Sie.
Wir haben bei dieser Steuerreform mit den Länderfinanzverwaltungen etwas gemacht, was nicht selbstverständlich ist: Wir haben sehr viele Steuerakten gezogen,
sehr viele Realvergleiche gemacht, über den letzten
Sommer sehr viele Basistests gemacht und uns Unternehmen angeschaut, sodass wir jetzt einen ziemlich präzisen Überblick darüber haben, was in den Unternehmen
in der Bundesrepublik Deutschland wirklich steuerlich
geschieht. Zu sagen, dass es keine Verlagerung ins Ausland gebe, widerspricht jedem Gespräch, das doch auch
Sie mit Beteiligten in den Wirtschaftskreisen geführt haben, in dem mit stolz geschwellter Brust über die Optimierungsmöglichkeiten der steuerberatenden Gesellschaften in den letzten Jahren geredet wurde.
Wir haben es hier mit konkreten Fällen zu tun. Ich
sehe ja, wer jetzt zu mir kommt, wer Probleme hat und
wo er die Schwierigkeiten sieht. Das ist alles geltendes
Recht. Wenn ich eine Investition in einem anderen europäischen Land oder in Amerika tätige und meine Erträge, die ich dort erziele - die aber sehr hoch sind, weil
ich die Kosten nicht in diesem Land geltend gemacht
habe -, vollständig in diesem Land versteuere und nach
dem Doppelbesteuerungsabkommen am Ende steuerfrei
nach Deutschland transferiere, gleichzeitig aber hier in
Deutschland die vollen Kreditkosten geltend gemacht
habe, weil ich sie in Deutschland verrechnet habe, dann
ist das geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist niemandem übel zu nehmen. Es ist wahrscheinlich in einer Kapitalgesellschaft sogar Untreue,
wenn man es nicht so machen würde. Aber wenn der
durchschnittliche Steuersatz dem Weltsteuersatz entspricht, dann kann ich erwarten, dass die Allokationen
wieder da stattfinden, wo die wirtschaftlichen Erträge
sind. Ein Unternehmen, das 60 Prozent des Umsatzes in
Deutschland macht und 40 Prozent der Produktion in
Deutschland hat, kann nicht 98 Prozent der Zinskosten
in Deutschland haben. Das geht nicht.
({9})
Das ist kein ganz theoretischer Fall.
Es ist eine notwendige Balance, auf der einen Seite
internationale Steuersätze zu haben und auf der anderen
Seite diesen Schritt in einer solchen Weise zu ermöglichen. Wir werden eine solche Steuerreform immer zwischen den unterschiedlichen Triebkräften der Wirtschaft
balancieren müssen. Hier geht es auch um einen Wettbewerb von internationalen Konzernen. Ich glaube, das
sollte man auch nicht bestreiten; denn wenn wir die internationalen Konzerne nicht mehr in Deutschland haben, dann werden Millionen von Arbeitsplätzen in mittelständischen Unternehmen, die eng mit diesen
Konzernen vernetzt sind, nicht mehr da sein. Ich kann
ein großes internationales Unternehmen, etwa einen Automobilkonzern, nicht unter dem Motto betrachten: Da
sind die Superreichen, die entlaste ich steuerlich. Wenn
sich dieses Unternehmen aus steuerlichen Gründen dazu
entscheidet, nicht mehr hier tätig zu sein, dann hat dies
Auswirkungen auf eine riesige Zahl von mittelständischen Unternehmen. Gehen Sie durch das Land: Das ist
in der Automobilindustrie so, das ist in der Dienstleistungsindustrie so. Es ist nicht richtig, zwischen den
Großunternehmen und dem Mittelstand zu unterscheiden. Wir brauchen in der Steuerpolitik eine Kombination, die beide berücksichtigt. Wir müssen schauen, mit
welchen Maßnahmen wir den Mittelstand in den letzten
Jahren entlastet haben, und wir dürfen ihn nicht erneut
belasten. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die
Qualität des Standortes Bundesrepublik Deutschland internationales Niveau erreicht. Genau das geschieht in
diesen Tagen.
({10})
Ich glaube, dass in den Beratungen im Bundestag und
im Bundesrat noch über manches Detail gesprochen
werden wird. Eines sollte dabei deutlich werden: Wir haben eine neue Philosophie von Freigrenzen und Freibeträgen eingeführt, die logischerweise Mittelstandsgrenzen sind. Mit Freigrenzen und Freibeträgen kann ich
einen Weltkonzern nicht besonders glücklich machen.
Wenn der Freigrenzen braucht, ist er kein Weltkonzern
mehr. Aber ein mittelständisches Unternehmen, das bisher bei der Gewerbesteuerhinzurechnung vom ersten
Cent an gezahlt hat, in Zukunft aber eine Freigrenze von
100 000 Euro hat, erhält dann einen massiven Spielraum
und erfährt eine massive Entbürokratisierung. Wenn man
bedenkt, dass ein Unternehmen einen Kredit in Höhe
von 20 Millionen Euro aufnehmen muss, bevor die Zinsschranke und andere Maßnahmen greifen, dann ist ersichtlich, dass der überwiegende Teil der mittelständischen Industrie davon gar nicht betroffen ist. Das ist die
Absicht. Wir wollen international wettbewerbsfähige
Großkonzerne im Land haben, die im Zusammenwirken
Ministerpräsident Roland Koch ({11})
mit mittelständischen Unternehmen neue Arbeitsplätze
in Deutschland schaffen und neue Unternehmensgründungen ermöglichen.
({12})
Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass über
manches Detail der Unternehmensteuer auch in Zukunft
im Deutschen Bundestag gestritten werden wird. Ich
nenne die Stichworte Funktionsverlagerung, Mantelkauf, PPP-Geschäfte und Venture Kapital. Ich weiß, dass
in den Beratungen der Ausschüsse in den nächsten Wochen viel Papier gewendet werden wird. Ich finde, dass
es denen, die an dem Gesetzentwurf mitgewirkt haben,
nicht schlecht ansteht zu sagen, dass sie wissen, dass sie
Kompromisse gemacht und manchmal technisches
Neuland beschritten haben und sie auch nicht die Allerklügsten in der Welt sind. Das heißt, man kann über die
Frage, was im Einzelfall gemacht werden kann, sicherlich auch an der einen oder anderen Stelle reden.
Wir sehen, dass zum Beispiel in der Leasingbranche
manche Diskussion geführt wird. Leasing hat sich etwas
anders entwickelt, als es eigentlich unternehmerisch gedacht war. Leasingunternehmen sind manchmal in ihrem
realen Verhalten zu Banken geworden. Das macht ihnen
jetzt Schwierigkeiten. Darüber muss man miteinander
sprechen. Ich glaube, dass es Lösungen für die Probleme
gibt. Wir müssen weiter über die Frage reden, was uns
die Forschung wert ist. Das betrifft auch die Frage der
Bewertung gerade von jungen Unternehmen. Die Diskussion, ob man bei kleinen und mittleren Unternehmen
im Bereich der Forschung, die neu an den Markt kommen, die Zinsschranke mit dem EBIT in irgendeiner
Weise verbinden kann, ist vollkommen unideologisch.
Es interessiert beide Seiten der politischen Lager, wie
forschungsintensive Unternehmen angelockt werden
können. Es wird jedoch am Ende ein ausgewogenes Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben geben müssen.
Die 5 Milliarden Euro Entlastung mögen manchem
als eine fixe Grenze erscheinen. Sie ist in der Tat eine
politische Grenze und ein Ergebnis des politischen Kompromisses. Manchmal wäre es uns leichter gefallen, unseren sozialdemokratischen Kollegen zu sagen, dass es
vielleicht nicht ganz so entscheidend ist, ob es
5,2 Milliarden Euro oder 4,9 Milliarden Euro sind, vor
allem wenn man weiß, wie solche Zahlen errechnet werden. Aber eines will ich auch sagen: Wenn jetzt über
diese Frage eine Diskussion stattfindet, dann muss jedermann klar sein, dass es die feste Überzeugung derer ist,
die diese Unternehmensteuerreform vorgelegt haben,
dass es sich dabei um eine unternehmerische Aktivität
der Bundesrepublik Deutschland handelt. Es geht um die
Frage: Wie schafft man es, auf einem internationalen
Markt, auf dem es keine Grenzen gibt, Unternehmen
dazu zu bringen, in die Bundesrepublik Deutschland zu
investieren? Wie gebe ich ihnen eine Chance, ihre wirtschaftliche Zukunft hier zu sehen? Denn die einzige
Möglichkeit für uns als Steuereinnehmer, „Geld zu verdienen“, besteht darin, dass sich Unternehmen entscheiden, sich hier anzusiedeln und auch hier zu bleiben. In
einem Europa ohne Grenzen kann man in Frankreich, in
Polen, in Österreich und an vielen anderen Plätzen in
Kilometerentfernung, nicht in kontinentaler Entfernung,
alle Aktivitäten entfalten, die man auch in der Bundesrepublik Deutschland entfalten kann. Man kann Waren
zollfrei und ohne nennenswerte Kosten in die Bundesrepublik Deutschland bringen. Wer nicht will, dass wir am
Wettbewerb um den besten Standort teilnehmen, der
kann sich auf den Standpunkt stellen, einem Unternehmen keinen einzigen Cent als Anreiz zu geben. Der wird
aber am Ende weniger Steuereinnahmen haben. Wenn
man aber jetzt wettbewerbsorientierte Steuerpolitik
betreibt, dann gibt man kein Geschenk an die Unternehmen, sondern ein Geschenk an die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die auf Dauer
mehr Geld zur Verfügung haben
({13})
und in diesem Land mit hohem Standard und vernünftiger sozialer und politischer Infrastruktur leben.
({14})
Darüber werden wir auch in den nächsten Monaten eine
Debatte führen.
Ich glaube sehr wohl, dass man - das schreibt auch
Herr Professor Lang in der heutigen Ausgabe der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - alle Probleme, von
den verfassungsrechtlichen bis hin zu den finanziellen,
lösen kann. Ich bin nach wie vor davon überzeugt: Zahlreiche Punkte dieser Unternehmensteuerreform sind vielen in den Wirtschaftsverbänden, in den beiden politischen Lagern und in der Wissenschaft, die uns lange
beraten hat, schwergefallen. Dennoch sind nahezu alle
von ihnen der Auffassung - das finde ich spannend -,
dass das Gesamtwerk ein großer Schritt in die richtige
Richtung ist und dass daher nicht jeder Punkt, der persönliche Beschwernis bereitet, zum Anlass genommen
werden sollte, wieder mit großem Geschrei gegen diese
politische Entscheidung vorzugehen.
Ich wünsche den Beratungen von Bundestag und
Bundesrat, dass das in den nächsten Wochen nicht anders wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir etwas
tun, was Menschen, die in diesem Land Arbeit suchen,
hilft, was dem Standort Deutschland im internationalen
Wettbewerb hilft und was, wenn es gelingt, nicht zuletzt
auch dem Ansehen der Politik in der Bundesrepublik
Deutschland keineswegs schadet.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Tagesordnungspunkt 7 der Finanzausschusssitzung am
Mittwoch war eine Diskussion über die Empfehlung für
eine Stellungnahme des Rates der Europäischen Union
zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Deutschlands.
Ich zitiere daraus:
Ein signifikantes Risiko erwächst überdies aus der
2008 geplanten Unternehmenssteuerreform. … So
könnte es erforderlich werden, etwaige Einnahmeausfälle bei der Körperschaftssteuer durch zusätzliche Ausgabenzurückhaltung aufzufangen.
Das heißt, Herr Steinbrück, nicht nur wir als Linke, nicht
nur viele Wissenschaftler, sondern auch Politiker auf europäischer Ebene sehen Ihre Reform äußerst kritisch und
zweifeln an der Richtigkeit der geplanten Steuerausfälle
in Höhe von 6 Milliarden Euro.
({0})
Es stellen sich zwei politische Fragen: Erstens. Brauchen wir eine Unternehmensteuerreform? Zweitens.
Können wir uns eine Reform leisten, die zu massiven
Steuerausfällen für die öffentliche Hand führt?
Die erste Frage beantworte ich Ihnen ganz klar mit Ja;
denn es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Aristoteles formulierte: Des Staates höchstes Gut ist die Gerechtigkeit,
und gerecht ist, was dem Gemeinwesen frommt. Das Gerechte muss aber für alle etwas Gleiches sein.
In den Jahren 1991 bis 2004 - in diesem Zeitraum
war jeweils eine der beiden Fraktionen, die heute die
Große Koalition bilden, Regierungsfraktion - stiegen die
Einkommen aus Vermögen in Deutschland um
43 Prozent und die aus Gewinnen um 27 Prozent. Demgegenüber stiegen Löhne und Gehälter gerade einmal
um 10 Prozent. Bei den Lohnabhängigen und bei den
Beamten waren allerdings nicht 10 Prozent mehr im
Portemonnaie; denn ihre Steuerbelastung stieg unter anderem auch durch die Mehrwertsteuererhöhung um
1 Prozent.
Bei den Gewinnen und Vermögen sah es natürlich anders aus. Sie wurden sogar noch entlastet: Die effektive
Steuerlast sank in diesen Jahren. Der Anteil der Gewinnsteuern, also der Erträge der Kapitalgesellschaften am
Bruttoinlandsprodukt, lag 2003 in Deutschland bei gerade einmal 1,3 Prozent. Im OECD-Durchschnitt waren
es 3,3 Prozent. Wir in der Bundesrepublik haben also ein
massives Gerechtigkeitsproblem. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass
es im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit notwendig
ist, dass die wirtschaftlich Leistungsfähigeren einen
höheren Prozentsatz ihres Einkommens an Steuern zahlen müssen. Daran sollten Sie sich messen lassen.
({1})
Wir haben Ihnen unsere Vorschläge für eine Unternehmensteuerreform in einem Antrag vorgelegt. Diese
Unternehmensteuerreform soll eine sozial gerechte Beteiligung der Unternehmen an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben sicherstellen. Ich nenne Ihnen nur
einige Stichpunkte: Beibehaltung des Körperschaftsteuersatzes bei 25 Prozent; Verbreiterung der steuerlichen
Bemessungsgrundlage von Unternehmen; Aufdeckung
und Unterbindung von konzerninternen Gestaltungsmodellen. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die im Inland anfallen, werden durch obligatorische Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzämter effektiver
erfasst und bei allen Einkommensteuerpflichtigen nach
dem Einkommensteuertarif besteuert.
Mit diesen Vorschlägen und ihrer Umsetzung ist auch
die zweite Frage von uns gut zu beantworten: Wir können es uns nicht leisten, auf Geld für die öffentliche
Hand zu verzichten. Das wäre mit der Umsetzung der
von uns vorgeschlagenen Reform gesichert.
Mit dem, was Sie bei Ihrer Unternehmensteuerreform
vorschlagen - ja, auch Sie möchten eine -, mit dem Wie
zeigen Sie, dass Ihnen jegliches, aber auch wirklich jegliches Gefühl für Gerechtigkeit abhandengekommen ist.
({2})
Sie behaupten doch allen Ernstes, dass die Kapitalgesellschaften und ertragsstarken Unternehmen - das sind
die, die Sie mit Ihrem Gesetz entlasten wollen - bei der
Steuerentlastung im Vergleich zu den kleinen und mittleren Personenunternehmen, die in der Steuerreform 2000
entlastet wurden, einen Nachholbedarf haben. Ich frage
mich wirklich: Denken Sie, hier sind alle dumm und mit
dem Klammerbeutel gepudert? Meinen Sie, dass die
Steuerbeschlüsse von Rot-Grün vergessen sind? Wann
haben wir denn den Körperschaftsteuersatz gesenkt?
2001 wurde er auf nur noch 25 Prozent gesenkt.
({3})
Wie ist es denn mit der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen? Allein das kostet die öffentliche Hand jährlich 13 Milliarden Euro, Geld, das dringend gebraucht
wird.
({4})
Natürlich muss von Ihnen jetzt wieder der Zwischenruf kommen: internationaler Wettbewerb, Globalisierung; wir müssen senken. Ich kann mich aus Zeitgründen nicht weiter damit auseinandersetzen. Ich zitiere
einfach den ersten Satz aus dem Papier der parlamentarischen Linken der SPD-Bundestagsfraktion: Von einer zu
hohen steuerlichen faktischen Gesamtbelastung der Unternehmen in Deutschland kann auch im internationalen
Vergleich überhaupt keine Rede sein.
({5})
Abgesehen davon, dass für eine Standortentscheidung die Steuersätze nicht der entscheidende Faktor
sind, abgesehen davon, dass ein guter Standort es rechtfertigt, dass auch etwas mehr Steuern bezahlt werden
müssen, und abgesehen davon, dass die effektive Steuerlast der deutschen Unternehmen im europäischen Mittelfeld liegt: Herr Steinbrück, haben Sie sich einmal
gefragt, wo Sie enden, wenn Sie diese Steuersenkungspolitik - von 1982 bis 2004 eine Senkung der Tarife von
30 auf 17 Prozent - fortsetzen? Ich sage Ihnen: 2045
sind wir bei null Steuern.
Da ist Ihre Entscheidung gefragt. Statt als mächtigstes
Industrieland in Europa heute zu sagen: „Halt! Stopp mit
diesem Steuerwettbewerb! Das können wir uns nicht
leisten“, stellen Sie sich an die Spitze des Steuerwettbewerbs und wollen weiter in diese Richtung marschieren.
Das ist keine intelligente Reaktion, wie Sie sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs noch versprechen.
Sie haben nur eines sichergestellt: dass Ihre Reform
wieder durch Kinder, Studierende, Rentnerinnen und
Rentner, Arbeitslose sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlt wird. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte haben Sie durchgedrückt; da
bleibt ja locker Geld zur Entlastung der Unternehmen.
Die Abgeltungsteuer ist schon ein besonderes
Schmeckerchen. Man sagt, die Erotik des Alters sei das
Essen. Ich habe im Prozess der Auseinandersetzung mit
Ihrem Gesetzentwurf gelernt, dass es noch eine typisch
deutsche Kompensation für Erotik gibt. Die Sucht nach
Gestaltungsmodellen und Vergünstigungen in Deutschland ist größer als der Sexualtrieb. - So der Vorsitzende
der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Ondracek, aus
langjähriger Erfahrung der Finanzbeamten.
Wie reagieren Sie? Sie schaffen mit der Abgeltungsteuer eine finanzamtsfreie Zone.
({6})
Ich frage Sie mit der parlamentarischen Linken der SPDFraktion: Steuerausfälle von mindestens 25 Milliarden
Euro über die nächsten fünf Jahre, ein Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent und eine Abgeltungsteuer von
25 Prozent, das soll mit einem Mal sozialdemokratische
Zukunftspolitik sein?
Sie haben uns auf Ihrer Seite, wenn Sie es durchsetzen, im Zuge der Unternehmensteuerreform eine Unternehmensteuerreform in unserem Sinne zu machen und
gleichzeitig, wie versprochen, die sozial gerechte Besteuerung von Vermögen und Erbschaften, die Einführung eines Mindestlohns von 8 Euro und die beitragsfreie Kinderbetreuung zu diskutieren.
({7})
Sie haben noch die Chance, auf Ihrem falschen Weg umzukehren.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Christine Scheel für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Höll, mein Fraktionschef hat gerade so schön gesagt: „Die Wiedervereinigung mit der SPD wird so
schnell nicht stattfinden.“ Ich glaube, die Sozialdemokraten, die sich das heute angehört haben, haben große
Probleme mit solch einer Vorstellung.
({0})
Das, was Sie gesagt haben, hört sich vielleicht für den
einen oder anderen in der Bevölkerung so an, als würden
Sie sich für die Gerechtigkeit einsetzen. In Wirklichkeit
wäre die Umsetzung Ihrer finanzpolitischen Vorstellungen für Deutschland ein Rückschritt, kein Fortschritt:
Sie würde keine neuen Arbeitsplätze bringen; sie würde
bei unseren Unternehmen zu riesigen Problemen führen.
Letztendlich wären die, von denen Sie glauben, Sie
müssten sich für sie hier hinstellen, die Geschädigten,
wenn Ihre Politik umgesetzt würde; Gott sei Dank wird
sie nicht umgesetzt.
({1})
Man muss sehen, dass Ihre Neidrhetorik nichts bringt.
Man muss mit einer solchen Thematik bei der Betrachtung der Vorlage, die Herr Steinbrück heute vorgestellt
hat, wirklich mit Augenmaß und Vernunft umgehen. Wir
leben nicht auf der Insel; wir müssen uns auch daran
orientieren, was über unseren nationalen Tellerrand hinaus passiert.
Wenn wir das tun, dann stellen wir fest: In West- und
Nordeuropa gibt es Länder, in denen die Belastung durch
den Steuersatz im Unternehmenssektor, bei den Körperschaften, 30 Prozent beträgt. In Osteuropa beträgt die
Belastung im Durchschnitt etwa 20 Prozent. Es gibt
extreme Beispiele: In Estland beträgt die Belastung
0 Prozent; in Irland beträgt sie 12,5 Prozent. Wir in
Deutschland - das ist richtig - liegen mit einer Steuerbelastung von fast 40 Prozent an der Spitze.
Minister Steinbrück hat zu Recht gesagt, dass das
nicht so bleiben kann. Auch Herr Koch hat darauf hingewiesen, dass wir im internationalen Wettbewerb stehen und wir uns daran orientieren müssen.
Ich halte es für falsch, zu unterstellen, dass eine Senkung der Steuersätze auf einigermaßen internationales
Niveau - auf das Niveau des Mittelfelds - Steuerdumping
bedeutet. Steuerdumping sollten, können und wollen wir
nicht betreiben; denn der Staat braucht selbstverständlich
Einnahmen, um in die Bildung, in die Infrastruktur investieren zu können. Selbstverständlich müssen auch die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie
viel Umsatz machen und Gewinne einfahren, ihren Beitrag dazu leisten.
({2})
Natürlich müssen wir uns nicht nur am internationalen Standortwettbewerb orientieren; denn die Steuersätze allein - das wissen auch Sie, Herr Koch - sind
nicht das Kriterium dafür, ob sich ein Unternehmen in
Deutschland ansiedelt. Unternehmen kommen, weil sie
eine gute Bildungssituation vorfinden, weil sie sehen,
dass es sich um einen guten Wissensstandort handelt, um
einen Standort, an dem gute Forschung betrieben wird,
an dem eine gute Infrastruktur vorhanden ist, an dem die
Absatzmärkte vernünftig aufgestellt sind und an dem
auch eine vernünftige Binnennachfrage vorhanden ist.
Deswegen kommen Unternehmen nach Deutschland;
Steuersätze haben allein eine Signalwirkung bei der Entscheidung, wo Kapital investiert wird, und tragen damit
einen Teil zu der Entscheidung bei, wo am Ende neue
Arbeitsplätze entstehen.
Die Höhe der Steuersätze entscheidet ein Stück weit
darüber - das stimmt -, wo ein Unternehmen seine Gewinne versteuert, aber auch darüber, wo die Kosten anfallen. Wegen der hohen Steuersätze und der vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir in Deutschland
haben, ist es für viele Unternehmen, was die Kosten- und
Verlustrechnung anbelangt, sehr attraktiv, so vorzugehen, dass Gewinne im Ausland besteuert werden. Letztendlich fehlt dann hier in den Kassen das Geld. Dagegen
müssen wir etwas tun; so kann es nicht bleiben.
Deshalb brauchen wir eine grundlegende Strukturreform, Steuersätze auf international wettbewerbsfähigem
Niveau, aber auch eine vernünftige Verbreiterung der sogenannten Besteuerungsbasis; beides gehört zusammen.
Man kann die Verantwortung für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts, der Beschäftigung und der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nur unter folgendem Aspekt betrachten: Wie ist die Finanzierung für
unsere Unternehmen im Einzelnen aufgestellt? Wir reden heute über die Senkung der Unternehmensteuersätze
bei Körperschaften. Das sind etwa 15 Prozent der Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland; die anderen
85 Prozent der Unternehmen profitieren von diesen
Steuersatzsenkungen nicht. Auch das muss man den
Bürgern und Bürgerinnen in diesem Zusammenhang sagen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns die Seite der
Finanzierung genau anschauen, um sie vernünftig zu
gestalten. Da hilft kein Populismus, Frau Höll. Auch
Herr Lafontaine wird das gleich hier darlegen; er kann
das ja noch viel besser. Aber mit Rhetorik und Populismus allein generieren wir keine Wirtschaftskraft und
keine Beschäftigung.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen in der Großen
Koalition, nicht alles, was Geld kostet, ist deswegen
schon eine Reform. Das hat Altbundeskanzler Helmut
Schmidt einmal so gesagt. Wenn jemandem etwas geschenkt wird, wird oft so getan, als sei das eine Reform.
Reform bedeutet aber, dass man sich strukturell vernünftig aufstellt, dass Probleme gelöst werden, wo Probleme
sind, und zwar wohlgemerkt, ohne größere Probleme an
anderer Stelle zu schaffen.
Das ist die Kritik, die wir als Bündnis 90/Die Grünen
an diesem Werk haben; denn wir sehen, dass neue Probleme für unseren Standort Deutschland geschaffen werden, wo keine sein dürfen. Das ist das, was der Großen
Koalition nicht gelungen ist: die Steuersatzsenkung mit
einer Finanzierung zusammenzubringen, die wirklich
vernünftig ist und den Unternehmen, und zwar allen Unternehmen, in der Bundesrepublik Deutschland hilft.
({4})
Wir haben - Sie wissen es - eine Finanzierungslücke von etwa 9 Milliarden Euro im nächsten Jahr. Knapp
ein Drittel der Reformen ist nicht solide finanziert. Sie
von der Großen Koalition
({5})
finden das vielleicht gar nicht so schlimm; denn man
liest zurzeit und sieht es auch in den Statistiken, dass die
Steuereinnahmen sprudeln. Das ist sehr schön; darüber
freuen wir uns alle. Aber man muss bei der Entwicklung
einer solchen Reform natürlich auch sehen, dass man
den Leuten nicht vermitteln kann, dass Steuerausfälle in
den nächsten Jahren nicht so schlimm seien, nachdem
man ihnen vor nicht allzu langer Zeit noch die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, den Sparerfreibetrag halbiert und die Pendlerpauschale verfassungswidrig ausgestaltet hat. Man darf nicht glauben, dass die
Menschen einem dann folgen und verstehen, warum
jetzt plötzlich Geld da sein soll, um die Unternehmen im
nächsten Jahr um 9 Milliarden Euro zu entlasten. Das
verstehen die Menschen nicht.
({6})
Man muss den Menschen sagen, wie das funktionieren
soll; man muss sie mitnehmen, wenn man eine Reform
macht. Das müssten auch Sie mittlerweile gelernt haben.
Wir können uns - das ist ein zweites Problem - auch
nicht immer auf das Handeln der großen Unternehmen
verlassen. Schauen Sie sich doch an, was in den letzten
Tagen geschehen ist. Einige Vorstandsmitglieder der
Firma Siemens sitzen mittlerweile im Gefängnis. Siemens ist ein international aufgestelltes Unternehmen. Es
schmerzt einen, wenn man sieht, wie desolat das Management von manchen großen Unternehmen - sehr viele Unternehmen machen es gut; die kleinen und mittleren machen es alle sehr gut - ist.
({7})
Man sieht, dass es eben nicht so ist, dass die Bevölkerung das Vertrauen haben kann, dass die Unternehmen
alles richtig machen, und dass es gerechtfertigt wäre, ihnen etwas mitzugeben. Das müssen Sie den Menschen
erklären; ich glaube, da sind Sie in der Bringschuld.
Ein weiterer Punkt ist, dass Sie auf das Prinzip Hoffnung setzen. Sie gehen davon aus, dass die Steuerquellen weiter sprudeln und dass Sie durch die weitere Entwicklung, an die Sie glauben - es wäre ja gut, wenn es
für den Standort insgesamt so positiv weiterginge -, die
Steuerausfälle verdecken können. Das ist nicht in Ordnung. Wenn man sagt, dass man eine Reform durchführt,
die sich selbst finanziert, dann darf man nicht die allgemeine Entwicklung mit hineinrechnen und so tun, als ob
die konjunkturelle Entwicklung ein Stück weit als Gegenfinanzierung dienen könne. Die Steuermehreinnahmen aufgrund der positiven konjunkturellen EntwickChristine Scheel
lung müssen wir in Forschung und Bildung, in unsere
Kinder investieren. Diese Mehreinnahmen dürfen nicht,
wie Sie es vorhaben, für eine Entlastung der Großkonzerne verwendet werden.
({8})
Die Unternehmensteuerreform braucht - der Finanzminister und auch Ministerpräsident Koch haben darauf
hingewiesen - eine wirksame und unbürokratische Mittelstandskomponente, die sich an der Schaffung von
Arbeitsplätzen orientiert. Die Finanzierung dieser Reform ist aber ein buntes Sammelsurium ohne inhaltlichen Zusammenhang. Sie haben bei der Gegenfinanzierung anscheinend überall ein wenig herumgestöbert, um
zu schauen, was man da machen kann. Aber Ihre wirtschaftspolitischen Überlegungen haben Sie hintangestellt. Minister Glos hat ein neunseitiges Schreiben verfasst, warum es für die mittelständische Wirtschaft
schlecht wäre, wenn diese Reform so ausgestaltet bleibt,
wie Sie das bislang vorgesehen haben.
Herr Koch, es ist sehr widersprüchlich, wenn Sie auf
der einen Seite sagen, Sie würden für den Mittelstand
eintreten und Sie wollten den Mittelstand nicht mehr belasten, und auf der anderen Seite Bedingungen geschaffen werden, die für die kleinen und mittelständischen
Unternehmen unter dem Strich doch zu einer Belastung
führen. Sie müssen sich schon entscheiden. Sie können
nicht sagen, diese Reform sei für alle eine tolle Sache,
und auf der anderen Seite anders handeln. Das ist nicht
in Ordnung. Wir werden Ihnen das im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nicht durchgehen lassen.
({9})
Fakt ist, dass die Bundeskanzlerin den Nationalen
Normenkontrollrat eingesetzt hat. Er wurde mit einem
riesigen Brimborium auf den Weg gebracht. Ich kann
mich noch gut an die Aussagen der Frau Bundeskanzlerin
und anderer hier im Saal erinnern. Sie haben gesagt, dieses Gremium solle dafür sorgen, dass bei jedem Gesetzgebungsvorhaben in der Bundesrepublik Deutschland
darauf geachtet wird, dass vom Parlament verabschiedete
Gesetze nicht zu neuen bürokratischen Hemmnissen,
nicht zu Verirrungen und Verwirrungen führen.
Dieser Rat hat, wie ich meine, völlig zu Recht beanstandet, dass es ein deutliches Missverhältnis zwischen
dauerhaften bürokratischen Lasten und zeitlich begrenzten Mehreinnahmen im Zuge dieser Reform gibt. Das
heißt, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Mit Ihren Maßnahmen bürden Sie 5 Millionen Unternehmen im Bereich der kleinen und mittelständischen
Unternehmen neue bürokratische Lasten auf. Es kann
nicht sein, dass der Normenkontrollrat diesen Missstand
zwar benennt, Sie aber so tun, als gäbe es keine Probleme mit der Bürokratie für diese Unternehmen.
Auch die Verlustvorträge sind ein Riesenproblem.
Man möchte völlig zu Recht, dass Missbrauch bekämpft
wird. Missbrauch und entsprechende Steuergestaltungsmöglichkeiten müssen bekämpft werden. Aber es ist ein
Problem, wenn bei einem Eigentümerwechsel die Verrechnung mit Gewinnen nicht möglich ist. Gerade die
jungen und innovativen Unternehmen müssen doch atmen können und müssen die Möglichkeit haben, sich zu
entwickeln.
({10})
Aber bei ihnen besteht die Gefahr, dass die Substanz besteuert wird.
Mit Ihrer sogenannten Gegenfinanzierung schlagen
Sie voll über die Stränge. Sie treffen genau die Unternehmen in Deutschland, die innovativ sind, die Arbeitsplätze
schaffen wollen und die hier nicht nur forschen, sondern
auch entwickeln wollen. Das müssen Sie ändern.
Die Frau Bundeskanzlerin hat einen Tag vor dem Beschluss des Kabinetts darauf hingewiesen, dass es an
dieser Stelle ein Riesenproblem gibt. Ich hoffe, dass Sie
dieses Problem angehen, negative Wirkungen für unseren Standort bezüglich Wachstum und Beschäftigung
verhindern und für eine vernünftige Ausgestaltung der
Reform sorgen. Dieser Unsinn muss gestoppt werden.
Ich appelliere an Sie: Machen Sie die Reform unbürokratischer! Wir erwarten von Ihnen wirtschaftlichen
Sachverstand. Führen Sie keine Regelungen ein, die
Wachstumsbremsen sind! Reißen Sie sich zusammen!
Stellen Sie wirtschaftspolitische Überlegungen an und
legen Sie Ihren Tunnelblick hinsichtlich der Steuersystematik ab! Denken Sie daran, dass wir diese Reform für
die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Wirtschaft
machen und nicht für irgendwelche Statistiken!
Danke schön.
({11})
Der Kollege Jörg-Otto Spiller ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Scheel, erst einmal gratuliere ich
Ihnen dazu, dass Sie heute die ganze Redezeit, die Ihrer
Fraktion zur Verfügung steht, ausnutzen durften. Sie hatten damit allerdings auch Ihre Probleme.
({0})
Vielleicht lesen Sie im Protokoll einfach noch einmal die
erste Hälfte Ihrer Rede nach. Sie passte zur zweiten
überhaupt nicht.
({1})
Es ist ein bisschen schwierig, wenn man erst einmal
korrekt darstellt, wie gut die Ansätze der Reform der
Unternehmensbesteuerung sind, und dann aus der Verpflichtung als Oppositionsrednerin heraus, dazu etwas
Kritisches zu sagen, noch ein bisschen im Gemüseladen
herumkramt. Ihre Reden waren schon einmal besser.
({2})
Hohe Steuersätze sind keine Garantie für hohe Steuereinnahmen. Das gilt in besonderem Maße für die Besteuerung der zunehmend international verflochtenen
Unternehmen. Nahezu alle großen und viele mittlere in
Deutschland ansässige Unternehmen sind heute Haupt
oder Glieder internationaler Konzerne. Wo innerhalb der
Unternehmensgruppe in welcher Höhe Kosten oder Erträge anfallen, ist damit in einem erheblichen Umfang
gestaltbar.
Ein Beispiel. Warum die nächste Investition aus dem
in Deutschland zu versteuernden Gewinn finanzieren,
wenn es einen steuerlich viel hübscheren Weg gibt: Die
in einem Land mit niedrigeren Steuersätzen angesiedelte
Tochter gewährt der deutschen Mutter einen Kredit. Für
die Mutter sind die Zinsen Betriebsausgaben, mindern
also ihren steuerpflichtigen Gewinn. Da der aber im
Land der Tochter geringer zu versteuern ist als in
Deutschland, lohnt sich die Operation. Der Verlierer ist
der deutsche Fiskus.
Ein anderes Beispiel. Die deutschen Filialen einer beliebten Möbelhauskette weisen trotz guter Umsätze zu
ihrem größten Bedauern keine nennenswerten steuerpflichtigen Gewinne aus, weil für die Nutzung des Firmennamens und des gelb-blauen Markenzeichens leider
hohe Lizenzgebühren an eine Konzernschwester in einem Niedrigsteuerland zu zahlen sind; denn diese verfügt über die Namens- und die Markenrechte.
Herr Kollege Dr. Solms, trifft denn das objektive Nettoprinzip zu,
({3})
wenn jemand seine Gewinne hin und her schieben und
seine Gewinn- und Verlustrechnung manipulieren kann?
Ich bin ganz sicher: Wenn ein Gericht prüft, was gleichmäßige Besteuerung und was das objektive Nettoprinzip
ist, wird es zu dem Ergebnis kommen, dass solche Tricksereien in keiner Weise mit dem Prinzip der gleichmäßigen Besteuerung vereinbar sind. Ich bin sicher: Wir sind
auf dem richtigen Weg, auch was die Verfassungsmäßigkeit dieser Reform angeht.
({4})
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin,
hat kürzlich in einer interessanten Studie zur Unternehmensbesteuerung dargelegt, dass die deutschen Steuersätze mit einer tariflichen Gesamtbelastung von nominal
rund 39 Prozent im internationalen Vergleich an der
Spitze liegen. Diese hohen Sätze machen Deutschland
aber anfällig gegenüber Gestaltungen. Das tatsächliche
Steueraufkommen wird empfindlich geschmälert. Das
Ergebnis ist - so sagt das DIW - ein trotz hoher Sätze
bestenfalls durchschnittliches und im Verhältnis zu den
tatsächlichen Gewinnen unangemessen niedriges Steueraufkommen.
Wer sicherstellen will, dass die in Deutschland ansässigen Unternehmen einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten, muss gegen die Erosion der Steuerbasis angehen. Ebendies ist
das zentrale Anliegen der Unternehmensteuerreform.
Dass in den Medien und in einem Teil der öffentlich geführten Debatte häufig zwei andere Punkte, nämlich die
beabsichtigte Senkung des Körperschaftsteuersatzes und
die anfänglichen Steuermindereinnahmen, im Vordergrund stehen, ist zwar verständlich, aber eben doch ein
sehr verengter Blickwinkel.
({5})
Der SPD-Parteirat hat - wenn ich das einmal sagen
darf; auch wir führen innerhalb der Partei Debatten; das
stimmt - in seiner Entschließung zur Unternehmensteuerreform auf den Punkt gebracht, worum es geht:
Deutschland braucht ein Unternehmenssteuerrecht,
das international wettbewerbsfähig ist, die Unternehmen animiert, Gewinne nicht länger ins Ausland zu transferieren, sondern in Deutschland zu investieren, und dadurch insgesamt den Standort
Deutschland und seine Arbeitsplätze stärkt.
({6})
Wir wollen die deutsche Steuerbasis nachhaltig sichern. Die Kluft zwischen den nominalen Steuersätzen einerseits und den tatsächlichen Steuerzahlungen muss sich schließen. Diesem Ziel dient die
Unternehmenssteuerreform.
Die Reform der Unternehmensbesteuerung beruht auf
zwei gleich wichtigen Pfeilern: der Sicherung der Steuerbasis und der Stärkung der Attraktivität des Standortes
durch Senkung der Sätze. Insgesamt werden wir zu einer
nominalen steuerlichen Belastung von knapp 30 Prozent
kommen. Das bedeutet, dass der deutsche Körperschaftsteuersatz etwas über den Sätzen Dänemarks,
Schwedens und Finnlands und etwas unter den Sätzen
Großbritanniens, Luxemburgs und der Niederlande und
damit im europäischen Mittelfeld liegen wird.
Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Wir müssen
uns im Übrigen vor Augen halten, dass neben den Unternehmen auch die Anteilseigner der Unternehmen Steuern zahlen müssen.
({7})
Die Gesamtbelastung eines ausgeschütteten Gewinns,
die sich aus der Belastung, die das Unternehmen trägt,
und der des Anteilseigners ergibt, wird rund 48 Prozent
betragen. Das gilt sowohl für die Kapitalgesellschaften
als auch für die ertragsstarken Personengesellschaften.
Das ist eine beachtliche Größenordnung, die man bei der
Debatte im Blick behalten muss.
Wir wollen, dass die Leistungsfähigkeit der Unternehmen erhalten bleibt. Wir wollen aber insbesondere,
dass die Unternehmen künftig mehr Steuern in Deutschland zahlen. Es mag zwar sein, dass das eine oder andere
Unternehmen weniger Steuern zahlen wird als heute, es
mag auch sein, dass das eine oder andere Unternehmen
mehr Steuern zahlen wird als heute, aber ich bin mir sicher, dass auf Dauer alle mehr Steuern in Deutschland
zahlen werden und dazu beitragen werden, dass sich das
Land bzw. der Wirtschaftsstandort und die Erfüllung der
öffentlichen Aufgaben gut entwickeln.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Heuschrecke im Kopf hat, dem kann die Wirtschaft nicht am Herzen liegen. Diese Einstellung zieht
sich wie ein roter Faden durch Ihre Unternehmensteuerreform. Sie ziehen Mauern für die Wirtschaft hoch und
verbauen damit Zukunftschancen für unser Land.
({0})
Die Unternehmensteuerreform bedeutet nichts anderes als ein in Gesetzestext gegossenes Misstrauensvotum
gegenüber der deutschen Wirtschaft. Die Besteuerung
von Funktionsverlagerungen zum Beispiel ist doch steuerpolitischer Unsinn, Herr Minister Steinbrück. Hierbei
zeigt sich einmal mehr, dass gut gemeint längst nicht
dasselbe ist wie gut gemacht.
Es ist richtig, dass Sie die Unternehmen nicht dabei
unterstützen wollen, in Deutschland Arbeitsplätze abzubauen. Es ist aber falsch, wenn Sie versuchen, zukünftig
im Zusammenhang mit Patenten und Lizenzen anfallende Gewinne zu besteuern. Wer kann denn schon heute
wissen, was er morgen mit einer Idee verdienen kann?
({1})
Das ist nichts anderes als der Versuch, den Kaffeesatz als
feste Größe im Unternehmensteuerrecht zu etablieren.
Bei so einem Unfug macht die FDP nicht mit.
({2})
Herr Minister Steinbrück, es ist zwar richtig, dass wir
eine Unternehmensteuerreform brauchen, es ist aber
nicht richtig, dass Deutschland Ihre Unternehmensteuerreform braucht. Sie tun so, als sei das ganze Vorhaben
gesetzt und als stünden Sie aus innerer Überzeugung
hinter diesem Reformvorhaben. Dabei hat die Bundeskanzlerin einen Tag nach dem Kabinettsbeschluss in
München Vertretern der deutschen Wirtschaft erklärt,
dass Änderungen notwendig seien.
({3})
Herr Kauder, ich war doch dabei, als Sie diese Woche
gegenüber dem VCI erklärt haben, dass es zu Änderungen kommen müsse.
({4})
Nur, Herr Minister Steinbrück, davon habe ich vorhin
nichts gehört. Herr Struck - er ist jetzt leider nicht mehr
anwesend - hat gesagt, dass er zustimme, dass man noch
einmal darüber reden müsse. Sie sollten uns deshalb
nicht vormachen, Ihre Unternehmensteuerreform sei der
Weisheit letzter Schluss.
({5})
Die Widersprüchlichkeit dieses Entwurfs wird auch
an anderer Stelle deutlich. Im Prinzip wollen wir doch
alle mehr Investitionen am Standort Deutschland. Deswegen sollten Sie investierende Unternehmen nicht bestrafen. Die Zinsschranke und die Abschaffung der degressiven Abschreibung sind nichts anderes als eine
Strafsteuer für Unternehmen mit hohen Investitionskosten. Nach Ansicht einiger Konjunkturforscher könnte die
Abschaffung der degressiven Abschreibung die Investitionsquote in Deutschland halbieren.
Wie sensibel die Unternehmen auf Änderungen im
Bereich der Abschreibungsregeln reagieren, haben wir
bei der Steuerreform 2000 gesehen. Die damalige Gegenfinanzierung der Steuersenkung durch eine Verlängerung der Abschreibungsdauer und eine Reduktion des
Höchstsatzes hat zu einer Senkung der Investitionsquote
um 4,6 Prozent geführt. So negativ werden auch die
Auswirkungen dieser Reform sein, wenn sie so Gesetz
wird.
({6})
Wer in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will, darf
diejenigen, die investieren, nicht bestrafen. Das klingt
zwar einfach, aber die SPD tut sich schwer damit. Herr
Spiller, ich hatte vorhin den Eindruck, dass Sie Ihre
Rede ausschließlich für die Reihen der Sozialdemokraten gehalten haben.
({7})
Eine Unternehmensteuerreform, die den Namen verdient, muss nicht von den Unternehmen gegenfinanziert
werden, sondern finanziert sich selbst. Sie finanziert sich
durch mehr Wachstum, durch die Schaffung von mehr
Arbeitsplätzen und durch mehr Investitionen. Eine vernünftige Unternehmensteuerreform führt unterm Strich
nicht zu weniger, sondern zu mehr Steuereinnahmen.
Von Ihrem Gesetzentwurf geht kein Signal des Aufbruchs aus. Was Sie vorne weniger abkassieren, kassieren Sie hinterher doppelt.
Mit Ihrem Gegenfinanzierungsmodell konterkarieren
Sie Ihre eigenen Absichten. Vor allem führt Ihr Gesetzentwurf aber zu mehr Bürokratie. Ihr Normenkontrollrat hat eine Mehrbelastung in Höhe von 180 Millionen
Euro errechnet und gesagt, dass 40 neue Informationspflichten entstehen würden. Ich weiß überhaupt nicht,
wie Sie noch von Bürokratieabbau sprechen können. Mit
jedem Steuergesetz tun Sie genau das Gegenteil von
dem, was die Kanzlerin verspricht.
({8})
Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis.
Schauen Sie sich Ihre Gegenfinanzierung doch einmal
an: Ein Bürostuhl muss künftig über fünf Jahre abgeschrieben werden. Angesichts dessen müsste in der Republik eigentlich ein Aufschrei der Bürokratiebeauftragten der Bundesregierung ertönen.
({9})
Man hört aber nichts, weil Sie sich von diesem Ziel in
Wahrheit schon längst verabschiedet haben. Die Neidreflexe der Linken von der SPD machen es der Union
nicht möglich, eine vernünftige Unternehmensteuerreform auf den Weg zu bringen. Regelungen, die sich über
15 Jahre bewährt haben, werden einfach abgeschafft.
Die Abgeltungsteuer - Herr Minister Steinbrück, dazu
haben Sie heute Morgen nichts gesagt; das ist anscheinend ein Problem für die Sozialdemokratie - ist im
Grunde richtig. So wie Sie es machen, taugt es aber wieder nichts; denn es nicht richtig, die Veräußerungsgewinne mitzubesteuern. Ferner sind die Steuersätze in
diesem Bereich international nicht wettbewerbsfähig,
sodass wir auch auf diesem wichtigen Feld in Deutschland keinen entscheidenden Schritt weiterkommen.
Durch die ganze Unternehmensteuerreform zieht
sich Folgendes: An manchen Stellen wird verschämt entlastet, an anderen unverschämt belastet. Die CDU und
die Steinbrück-SPD rufen hü und die Linke der SPD ruft
hott, Ergebnis: Stillstand in Deutschland.
({10})
Wenn Sie wirklich eine Unternehmensteuerreform
machen wollen, die diesen Namen verdient, hören Sie
auf die Bundeskanzlerin: Wagen Sie mehr Freiheit! Gehen Sie ins Offene!
({11})
Riskieren Sie etwas! Senken Sie die Steuersätze! Vereinfachen Sie das Steuerrecht! Beharren Sie nicht auf Ihrer
kleinkrämerischen Gegenfinanzierung! Die SPD muss
einmal verstehen, welche Entscheidungen in Deutschland dringend notwendig sind.
Herr Steinbrück, Sie haben von Augenmaß gesprochen. Genau dieses Augenmaß ist bei der Großen Koalition aber längst zum Mittelmaß geworden. Mittelmaß
können wir uns aber nicht leisten; denn mit mittelmäßiger Politik kann man im internationalen Wettbewerb
nicht bestehen.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Hans
Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Unternehmensteuerreform wird unseren
Standort Deutschland attraktiver machen. Sie ist wachstumssteigernd, investitionsfreundlich und letztlich arbeitsplatzschaffend. Die Versteuerung in Deutschland
wird angereizt, und die Steuereinnahmen werden weiter
ansteigen. Eine solche Reform ist kein Wunschkonzert.
Aber wir haben eine pragmatische, zielführende und systematische Lösung gefunden. Daran sollte es keinen
Zweifel geben.
Natürlich gibt es immer wieder Kritik. Herr Solms,
Ihr Vergleich mit der DDR war aber voll daneben.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Steuermauer der FDP
gibt es bei dieser Reform nicht. Ich möchte der FDP ein
Zitat aus der Bibel entgegenhalten. Schon Jesaja sagte
uns:
Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt
wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?
Ich kann Ihnen nur sagen - es sind Tatsachen -: Die
Wirtschaft boomt. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist besser geworden. Die Konjunktur ist stark und
robust. Der Aufschwung hat den Arbeitsmarkt erreicht.
Im Vergleich zum März 2006 sank die Zahl der Arbeitslosen um immerhin 869 000. Im heutigen „Handelsblatt“
steht: „Unternehmen schaffen Jobrekord“. Herr
Dr. Wissing, Sie sprechen von Stillstand. Das kann doch
wohl nicht sein. Die Bundesagentur für Arbeit meldet
gut 800 000 offene Stellen.
Frau Scheel, einen Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufzubauen, schadet letzten Endes dem Gemeinwohl. Denn man braucht erst Investitionen und neue Arbeitsplätze; daraus erwachsen
Wachstum und Beschäftigung sowie mehr Steuereinnahmen. So wird es ein Erfolg. In dieser Weise müssen wir
in Deutschland vorangehen; wir dürfen nicht in den Gegensätzen von gestern verharren.
({1})
Wir halbieren das Staatsdefizit. Wir haben laut der
Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft statt bisher 2,1 Prozent 2,8 Prozent Wachstum zu erwarten. Die
Bundesbank hält in diesem Jahr ein Defizit von 1 Prozent für möglich und 2010 sogar einen ausgeglichenen
Haushalt für erreichbar. Das wäre der erste ausgeglichene Haushalt seit 40 Jahren. Ich bin der Auffassung,
dass das mit dieser Steuerreform weiter angegangen
werden kann, weil es zu einer Selbstfinanzierung dieser
Reform kommen wird.
Wir erleben es ja: Bund, Länder und Gemeinden werden nach Auffassung des iwd bei den Steuern mit einem
Einnahmeplus von rund 24 Milliarden Euro im Jahr
2007 rechnen können. Die Steuerschätzung im Mai werden wir natürlich erst dann richtig zur Kenntnis nehmen.
Aber man muss sehen, dass hier etwas wächst. Wann
hatten wir das zuletzt? Dieser Erfolg sollte uns die notwendige Kraft und Disziplin geben, auf unserem Kurs
der finanzpolitischen Verantwortung und der neuen steuerpolitischen Impulse voranzuschreiten.
Es zeigt sich mehr und mehr, dass Reformen Früchte
tragen. Es wird deutlich, was in Deutschland steckt,
wenn Kräfte freigesetzt werden. Eins ist gewiss: Die Erfolge unserer Reformpolitik können nur dauerhaft gesichert werden, wenn wir nicht auf halbem Weg stehen
bleiben. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Die Anstrengungen müssen fortgesetzt werden. Seit der Unternehmensteuerreform 2000 ist der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union weiter vorangekommen. Deswegen
müssen wir im internationalen Vergleich der Steuersätze
mit der Gesamtbelastung der deutschen Unternehmen
diesen Wettbewerb annehmen.
Man kann natürlich sagen: Ich will mit der globalisierten Wettbewerbsentwicklung nichts zu tun haben.
Aber die Globalisierung findet nun einmal statt. Ich rate
uns allen: Marschieren wir aufs Spielfeld, und spielen
wir mit. Es ist ein Erfolg für die Menschen in unserem
Land, wenn wir mitspielen und uns nicht verweigern.
Das ist das Gebot der Stunde.
Das Konzept der Unternehmensteuerreform ist die
richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die Senkung der Nominalsteuersätze auf unter
30 Prozent ist der entscheidende Faktor, um einen Anreiz zu schaffen, in Deutschland Gewinne zu versteuern.
Natürlich gibt es Länder mit günstigeren Steuersätzen.
In Irland beispielsweise beträgt die Unternehmensteuer
12,5 Prozent; das werden wir nicht erreichen können.
Aber wir müssen den Wettbewerb angehen und all unsere Wettbewerbsvorteile nutzen.
Ich wende mich gegen die Aussage - die immer wieder getroffen wird -, das seien Milliardengeschenke an
die Unternehmen. Ich bin der Auffassung, dass diese Reform durch den Konjunkturaufschwung, also von den
Unternehmen selbst finanziert wird. In der neuesten iwdStudie wird darauf hingewiesen, dass die Einnahmen aus
der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer, die vor
der Reform 58,5 Milliarden Euro betragen haben, durch
die Reform auf 51,6 Milliarden Euro sinken werden.
Aber allein aufgrund der gegenwärtigen konjunkturellen
Entwicklung erhöhen sich diese Einnahmen schon im
Jahre 2007 auf 56,2 Milliarden Euro. Das heißt, dass die
Entlastung, die mit der Reform einhergeht, voll gegenfinanziert wird. Hinzu kommt die veranlagte Einkommensteuer. Es kann also überhaupt nicht von Milliardengeschenken die Rede sein. Das ist nur Verhetzung und
Volksverdummung. Wir müssen uns ganz massiv dagegen aussprechen, dass immer wieder dieser Gegensatz
konstruiert wird.
Wir müssen die einzelnen Beratungen und Prüfungen
im Rahmen dieser Reform sehr detailliert durchführen.
Wir wollen, dass alle 2,5 Millionen Mittelstandsbetriebe in Deutschland Akzeptanz für die Unternehmensteuerreform entwickeln. Denn sie alle müssen sich
mehr oder weniger an der Gegenfinanzierung beteiligen.
Wir haben einige Freigrenzen geschaffen, die mittelstandsfreundlich sind und eine wichtige Mittelstandskomponente darstellen. Von Bedeutung ist, dass alle
Mittelstandsbetriebe entlastet werden; darauf werden wir
achten. Es ist sinnvoll, eine Mittelstandsprüfung durchzuführen, weil über 70 Prozent der Arbeitnehmer in
Deutschland im Mittelstand beschäftigt werden. Den einen oder anderen Punkt werden wir uns noch genauer
ansehen müssen. Aber es besteht überhaupt kein Anlass
zu einer pauschalen Ablehnung.
Die steuerliche Gesamtbelastung auf einbehaltene
Gewinne von Personengesellschaften beträgt in Zukunft
28,25 Prozent zuzüglich Solidaritätszuschlag. Sie hat somit erstmals das gleiche Niveau wie die Belastung von
Kapitalgesellschaften. Der größte Erfolg dieser Reform
ist, dass es keine Wettbewerbsverzerrungen zwischen
Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften
mehr gibt.
({2})
Das ist ein großer Wurf für die vielen Familiengesellschaften und für die größeren Mittelstandsbetriebe. Ich
weiß, wovon ich spreche; denn ich führe ein Unternehmen, das seit 1879 am Markt ist. Ich habe mich immer
über die Wettbewerbsverzerrungen zwischen Personenund Kapitalgesellschaften geärgert. Ich kann Ihnen sagen: Die systematische Lösung, die wir gefunden haben,
ist ein großer Vorteil, den man nicht kleinreden darf. Im
Vergleich zu den Kapitalgesellschaften werden die Personenunternehmen steuerlich entlastet.
Wir tun allerdings auch etwas für kleinere Personenunternehmen. Die bisherige Ansparrücklage nach § 7 g
Einkommensteuergesetz wird zu einem Investitionsabzugsbetrag ausgebaut. Begünstigt ist die künftige Anschaffung oder Herstellung eines abnutzbaren beweglichen
Wirtschaftsgutes des Anlagevermögens, das überwiegend
betrieblich genutzt wird. Den Rücklagenhöchstbetrag haben wir von 154 000 Euro auf 200 000 Euro erhöht. Es ist
natürlich das Ziel, dass möglichst alle Unternehmen nach
§ 7 g Einkommensteuer-gesetz einen Investitionsabzugsbetrag geltend machen können. Wir müssen uns - ich
glaube, das ist sinnvoll - die Stellschrauben für das Betriebsvermögen daraufhin anschauen, ob wir hier alle Betriebe erfassen. Das ist in den Beratungen sicher möglich.
Wir müssen den Vorwurf der Mittelstandsdelle ernst
nehmen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass in vielen Bereichen Erfolge erzielt wurden. Zum Beispiel leistet die
Zinsschranke einen Beitrag zur Finanzierung dieser Reform. Man muss auch feststellen: Sie ist in jedem Fall
übersichtlicher als die bisherige Regelung. Was haben
wir mit § 8 a Körperschaftsteuergesetz - Gesellschafterfremdfinanzierung - in der Vergangenheit für Probleme
gehabt! Man muss auch einmal sehen, dass hier eine klarere Regelung entstehen wird.
({3})
Natürlich muss dafür Sorge getragen werden, dass weitere Beteiligungen von Einzelunternehmen - PPP-Projektgesellschaften; die nicht in den Konzern eingebundenen Betriebe - damit nicht erfasst werden. Darauf müssen
wir speziell achten. Denn wir wollen nicht, dass durch die
Zinsschranke mittelständische Betriebe beschädigt werden. Wir müssen deshalb ganz genau auf die Steuerschraube schauen und nach Lösungsansätzen suchen.
({4})
Ich glaube, dass wir auch bei den Mittelstandskolleginnen und -kollegen mit dieser Reform letzten Endes
bestehen können. Denn auch für den Mittelstand ist
diese Reform im Gesetzblatt immer noch mehr, als es
Wunschdenken auf dem Papier ist. Deswegen sollten wir
uns jetzt an die Arbeit machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion Die
Linke, Oskar Lafontaine.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Wörter haben in den letzten Jahren die Politik
bestimmt, stärker als viele, die glauben, sie hätten auf
politische Entscheidungen Einfluss. Das eine Wort ist
das von den Lohnnebenkosten. Das ist ein wunderbares
Wort, wenn man bestimmte Interessen durchsetzen will.
Man kann dann sagen: Ich möchte die Lohnnebenkosten
senken - das ist ja mittlerweile weitgehend Allgemeingut aller Parteien -; man muss dann nicht sagen: Ich
möchte das Geld für Rentner, für Arbeitslose, für Kranke
oder für Pflegebedürftige kürzen. Die Formulierung „Ich
möchte die Lohnnebenkosten senken“ ist viel praktischer. Daher ist sie so gängig und wird überall gebraucht.
Dieses Wort hat noch einen weiteren Vorteil. Wenn
man sagt, man will die Lohnnebenkosten senken, dann
muss man nicht sagen, man möchte den Unternehmen
Milliarden zurückgeben; das würde ja unpopulär klingen. Es ist viel populärer, zu sagen, wir müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten. Die Lohnnebenkosten haben wir in den letzten Monaten bereits
gesenkt, wir haben den Unternehmen bereits Milliarden
erlassen. Ich möchte nur darauf hinweisen, damit das in
der heutigen Debatte nicht vergessen wird.
Ein zweites Wort, das Politik gemacht hat, ist das vom
Standortwettbewerb. Ein wunderbares Wort, wenn
man bestimmte Lobbyisteninteressen vertritt. Dann kann
man sagen: Ist doch klar, wir sind alle im Wettbewerb.
Es müssen die Löhne sinken; denn anderswo sind sie
niedriger. Es müssen die sozialen Leistungen sinken;
denn anderswo sind sie niedriger als bei uns. Und natürlich müssen die Steuern sinken; denn anderswo sind sie
bereits niedriger.
Diese wunderbare Logik hat sich in der Politik ausgebreitet, und sie hat Folgen. Irgendwann denkt vielleicht
der eine oder andere nach und sagt: Na ja, ob man mit
den Löhnen ganz runtergehen kann? Das könnte auch
Probleme geben. Denn bei Steuersätzen von null und
Löhnen von null will wahrscheinlich niemand hier investieren. Selbst Steuersätze von null werden dann nicht
ausreichend sein, um Gewinne zu machen. Spätestens da
wird diese Logik also infrage gestellt.
({0})
Aber bei den Löhnen waren wir bereits sehr tüchtig
- ich nenne die Zahlen noch einmal -: Saldiert über die
letzten zehn Jahre haben wir bei den Löhnen ein Minus
von 5 Prozent. Wir liegen weit hinter den anderen Industriestaaten zurück und sehen hier, wenn wir über Steuerpolitik reden, offensichtlich keinen Korrekturbedarf.
Bei den Unternehmensteuern dagegen gibt es nun
wirklich keinen Korrekturbedarf. Ich weiß nicht, wie oft
wir schon Unternehmensteuern gesenkt haben. Allein in
meinem politischen Leben habe ich mindestens an zehn
Runden mitgewirkt, in denen die dringende Not der Unternehmen aufgegriffen worden ist und die Unternehmensteuern wegen des internationalen Wettbewerbs immer wieder gesenkt werden mussten. Ich prophezeie den
Damen und Herren, die uns hier zuschauen, dass dieses
Hohe Haus in dieser Legislaturperiode mindestens eine
weitere Unternehmensteuerreform konzipieren wird,
weil der internationale Wettbewerb dies ja dringend gebietet.
Nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, das
Ganze stimmt nicht. Die Zahlen, die hier gehandelt werden, sind schlicht und einfach falsch, die Logik schlägt
Purzelbäume.
Ich beginne einmal beim Finanzminister, der uns ja
immer mit solchen logischen Überraschungen beglückt.
Er sagt zum Beispiel: Wenn wir die Mehrwertsteuer
nicht erhöhen, müssen wir die Rente kürzen.
({1})
Diese Logik ist bestechend. Was will man dagegen sagen? Vor lauter Sprachlosigkeit oder Atemlosigkeit kann
man eine solche Logik schlicht und einfach nicht mehr
durchbrechen. Heute hat er gesagt: Wenn wir die Steuereinnahmen erhöhen wollen, dann müssen wir die Steuern senken.
({2})
Diese verblüffende Logik ist international natürlich einmalig.
({3})
Sie wird auf jeden Fall beachtliche Wirkungen im internationalen Dialog entfalten.
Es wird auch immer wieder davon gesprochen, dass
mit falschen Zahlen hantiert wird. Ich habe hier die
Übersicht 2005 über die Körperschaftsteuersätze. Sie
können sehen, dass wir bei weitem nicht oben liegen,
sondern dass die Länder im unteren Teil - ich habe ihn
rot angekreuzt - weitaus höhere Steuersätze haben. Es
ist richtig, Estland hat einen Steuersatz von 0 Prozent,
das viel zitierte Irland hat einen Steuersatz von 12,5 Prozent, Lettland hat einen Steuersatz von 15 Prozent usw.
Eine ganze Reihe von Staaten liegt aber über uns: Frankreich mit 33 Prozent, Belgien mit 34 Prozent, Malta sogar mit 35 Prozent und die USA mit 35 Prozent. Ich will
sie nicht alle vorlesen. Es ist einfach ein Märchen, wenn
hier gesagt wird, unser Körperschaftsteuersatz sei zu
hoch.
({4})
Belügen Sie das Volk doch nicht, wenn Sie hier reden,
sondern geben Sie zunächst einmal die Tatsachen wieder, wie sie sich international darstellen!
Im Übrigen ist die Höhe der nominalen Steuersätze
schlicht und einfach nicht aussagefähig, wie wir wissen.
Deswegen war es gut, dass der Finanzminister gesagt
hat, der Steuersatz für die mittleren Unternehmen liege
bei etwa 20 Prozent. Dem möchte ich für meine Fraktion
nicht widersprechen. Es wäre aber gut gewesen, wenn er
noch ergänzt hätte, dass die effektive Steuerbelastung
der Kapitalgesellschaften im Jahre 2005 in Deutschland bei 16 Prozent lag.
({5})
- Ja, Sie werden sicherlich ein Institut finden, das eine
andere Zahl dargelegt hat.
({6})
Bei vielen ist sie noch deutlich niedriger, verehrter Herr
Finanzminister. Das ist die Realität in Deutschland. Es
ist so, wie Sie sagen: Sie sind sehr kundig, wenn es
darum geht, Steuern zu mindern und zu verschieben. Insofern möchte ich diese Zahl einmal festgestellt haben.
Ein Redner der FDP - Herr Solms, glaube ich - hat
heute gesagt, dass China jetzt einen Steuersatz von
25 Prozent hat. Nach der Logik des Standortwettbewerbs
werden wir jetzt ja eine Invasion chinesischer Unternehmen nach Deutschland erleben; denn ein kleines Unternehmen zahlt nur 20 Prozent und ein großes Unternehmen nur 16 Prozent.
({7})
Das ist schlimm. Stellen Sie sich einmal vor, dass jetzt
nach der Logik des Standortwettbewerbs 1 Milliarde
Chinesen aufbrechen und hier in Deutschland investieren! Das ist wirklich eine ganz schlimme Geschichte.
({8})
Nun noch ein paar Worte zu einem weiteren Punkt.
Wenn Sie schon einen solchen Unsinn fabrizieren, dann
sollten Sie nicht auch noch die degressive Abschreibung abschaffen. Karl Schiller - er ist dem einen oder
anderen noch bekannt - hat jahrelang dafür geworben,
dass die degressive Abschreibung nicht abgeschafft
wird, damit den Unternehmern auch der Anreiz gegeben
wird, zu investieren. Warum machen Sie diesen Unfug?
Diejenigen, die die Steuerreform an dieser Stelle kritisieren, haben völlig Recht.
({9})
Wenn Sie wirklich zu viel Geld haben, dann geben
Sie es doch nicht den DAX-Konzernen, denen es im
Moment nun wirklich aus den Ohren läuft. Heute wird
hier ja fast ein neuer Orden gestiftet, nämlich der Orden
der barmherzigen Brüder für die DAX-Konzerne. Sie
leiden aber keine Not. Wenn Sie etwas tun wollen, dann
korrigieren Sie endlich eine Ungerechtigkeit des Steuersystems, nämlich den Mittelstandsbauch im Einkommensteuertarif. Hierfür hätten Sie wirklich Gründe.
Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages errechnet hat, würde das 22 Milliarden Euro kosten. Ihr
Ministerium wird das auch errechnet haben. Wenn Sie
gegenfinanzieren wollen, brauchen Sie ja nur den Spitzensteuersatz etwas anzuheben. Dadurch kommen Sie
sogar noch unter die Ausfälle, die Sie bei Ihrer Unternehmensteuerreform zu gewärtigen haben.
Wie kann man denn in einer Situation, in der die Unternehmen wirklich einmalige Gewinne erwirtschaften,
die Unternehmensteuer weiter senken, während bei stagnierenden oder sogar zurückgehenden Realeinkommen
über zehn Jahre niemand auf die Idee gekommen ist, die
fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlasten? Im Gegensatz zu dem, was Sie vorhaben, wäre
das hier jetzt doch tatsächlich angebracht.
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist kein
Wunder, dass die Steuerreform eine Vorgeschichte hat.
Ein Wirtschaftsminister, der jetzt bei einer Leiharbeitsfirma angeheuert hat, ist zu Frau Christiansen geflogen.
Im selben Flugzeug saß der Präsident des BDI. In der
Sendung sagte man sich gegenseitig, Deutschland habe
ein großes Standortproblem. Anschließend gab es den
Steuergipfel, an dem Frau Merkel auch beteiligt war. Der
damalige Kanzler hat gesagt: Aus Gründen des Standortwettbewerbs müssen wir unbedingt irgendetwas tun.
Die Runde hat nur etwas übersehen, was in Deutschland seit vielen Jahren bekannt ist. Ich zitiere den Christdemokraten und Chefredakteur des „Handelsblatts“,
Hans Mundorf. Er hat immer gesagt, die angebliche
Steuerüberbelastung in Deutschland ist ein Phantomschmerz.
Frau Kollegin Scheel, ich möchte Ihnen noch etwas
zum Thema Populismus sagen. Wenn man hier sagt, entlastet doch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
dann ist das vielleicht Populismus. Das ist uns aber lieber als die Liebedienerei gegenüber den Unternehmerverbänden, die seit Jahren die Politik bestimmen.
({11})
Das Wort erhält nun der Staatsminister der Finanzen
des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Ingolf Deubel.
({0})
Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von
der Bundesregierung vorgeschlagene Unternehmensteuerreform, die heute zur Debatte steht, hat einen langen und
intensiven Vorlauf. Daran haben sich auch die Länder
beteiligt. Viele Details, wie zum Beispiel Zinsschranke,
Thesaurierungsrücklage, Weiterentwicklung der Gewer9356
Staatsminister Dr. Ingolf Deubel ({2})
besteuer, aber auch das neue Verrechnungssystem der
Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer, gehen auf
Vorschläge der Länder zurück.
Für die offene, konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit möchte ich mich beim Kollegen
Steinbrück, aber auch bei allen anderen Mitgliedern der
politischen Arbeitsgruppe ausdrücklich bedanken.
Das Reformvorhaben konzentriert sich zu Recht auf
die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Unternehmensteuersystems. Wettbewerbsfähigkeit heißt
hier zum einen die Verbesserung der Standortbedingungen in Deutschland und damit weitere positive Impulse
für den Arbeitsmarkt, zum anderen aber auch - und
genau das ist das Problem unseres Steuersystems -, dass
zukünftig Gewinne, die in Deutschland erwirtschaftet
werden, auch zur Zahlung von Steuern in Deutschland
führen.
({3})
Es nützt nichts, dass in Unternehmensbilanzen großer
Unternehmen große Gewinne ausgewiesen werden,
wenn man dann als Finanzminister, der in die steuerliche
Situation ja etwas mehr Einblick hat, feststellen muss,
dass davon nur ein sehr geringer Teil in Deutschland als
Steuern ankommt.
Ich möchte dieses Thema aber nicht vertiefen, sondern mich zwei anderen Aspekten widmen, nämlich den
Auswirkungen der Änderung bei der Gewerbesteuer
auf die Kommunen einerseits und auf kleine und mittlere Personenunternehmen, also klassische Mittelständler, andererseits. Dass die kommunalen Spitzenverbände
die geplante Reform ungewöhnlich positiv beurteilen,
hat nicht nur damit zu tun, dass die Gemeinden finanziell
glattgestellt werden, sondern vor allem auch damit, dass
sich die Qualität der Gewerbesteuer aus kommunaler
Sicht deutlich verbessert. Sie wird durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen an Stetigkeit gewinnen,
und vor allem in Gemeinden mit vielen kleinen Unternehmen dürfte das Aufkommen kräftig steigen.
Hierfür wird vor allem die Abschaffung des Staffeltarifs für Personenunternehmen sorgen, aber auch die Einbeziehung der Zinsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzzahlungen. Durch die Einbeziehung
dieser Zinsanteile wird eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Fremdfinanzierungskonstruktionen erreicht,
während bisher nur Dauerschuldzinsen bei der Gewerbesteuer zugerechnet wurden.
Nun könnte man vermuten, dass sich die deutlichen
Verbesserungen für die Kommunen bei den Unternehmen als entsprechende Verschlechterungen widerspiegeln. Dies ist jedoch keineswegs so. Zwar müssen viele
kleine und mittlere Personenunternehmen in Zukunft an
ihre Gemeinde eine höhere Gewerbesteuer abführen als
bisher, unter dem Strich wird diese Zusatzbelastung jedoch mehr als kompensiert.
Dies liegt an der völlig veränderten Verrechnungsmethode bei der Gewerbesteuer. Bisher hat die Gewerbesteuer zunächst ihre eigene Bemessungsgrundlage reduziert, die daraus entstehende Gewerbesteuerlast hat
dann wiederum die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer reduziert, und am Schluss ist noch einmal ein
Teil der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuerschuld
verrechnet worden - ein Fall für Steuerberater. Die meisten Unternehmer haben das nie verstanden. Deswegen
haben diejenigen, die kaum noch durch die Gewerbesteuer belastet wurden, weiterhin über die Gewerbesteuer geklagt. Dieses komplizierte System wird nun
deutlich vereinfacht. Gewerbesteuer und Einkommensteuer werden getrennt berechnet. Anschließend kommt
es zu einer Verrechnung bei Personenunternehmen, und
zwar zu einer Vollverrechnung bis zu einem Hebesatz
von 400 Prozent.
Im Vergleich zum bisherigen System bedeutet das
nicht nur einen erheblichen Zugewinn an Einfachheit
und Transparenz, sondern vor allem an Gerechtigkeit
und Mittelstandsfreundlichkeit. An Gerechtigkeit deshalb, weil bisher eine Verrechnung der Gewerbesteuer
zwar im Fall des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer und bei einem Hebesatz von 400 Prozent zu gut
90 Prozent, aber bei einem niedrigeren persönlichen Einkommensteuersatz von zum Beispiel 15 Prozent - das ist
Realität bei den meisten kleinen Unternehmen - nur zu
60 Prozent erfolgt. Im Durchschnitt aller Personenunternehmen wurden deshalb im vergangenen Jahr lediglich
rund 75 Prozent der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer verrechnet. Das heißt im Umkehrschluss, rund
25 Prozent bzw. mehr als 3,5 Milliarden Euro verblieben
als Nettobelastung durch die Gewerbesteuer bei Personenunternehmen.
Wenn der Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung beschlossen wird, entfällt diese Belastung zumindest für
sämtliche Personenunternehmen, die in Kommunen mit
einem Hebesatz von 400 Prozent oder weniger ansässig
sind. Sie entfällt auch unabhängig davon, ob der persönliche Einkommensteuersatz bei 42 Prozent oder bei
15 Prozent liegt. Diese Verbesserung für sämtliche Personenunternehmen ist der eigentliche Beleg für die Mittelstandsfreundlichkeit. 3,5 Milliarden Euro sind kein
Pappenstiel.
Unabhängig davon, ob eine Ansparabschreibung oder
eine Thesaurierungsrücklage in Anspruch genommen
wird, es ist unter dem Strich eine Verbesserung. Deswegen kann man von einer Mittelstandslücke nun wahrlich nicht reden.
({4})
Wer von einer Mittelstandslücke fabuliert, sollte sich zur
besseren Orientierung zuerst einmal mit den Auswirkungen der Neuordnung der Gewerbesteuer und der Gewerbesteuerverrechnung befassen. Dann kommt man sehr
schnell zu anderen Ergebnissen.
Die weiteren Beratungen werden in den nächsten Wochen hier im Hohen Hause und dann im Bundesrat stattfinden. Über Details wird gesprochen werden müssen.
Wer Änderungen wünscht, sollte gleichzeitig Gegenfinanzierungsvorschläge machen. Zumindest die 5 Milliarden Euro sind eine feste Größe. Ich freue mich auf
spannende und ertragreiche Beratungswochen.
Staatsminister Dr. Ingolf Deubel ({5})
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ausgangspunkt für die Unternehmensteuerreform, mit der wir uns heute in erster Lesung befassen,
ist der Tatbestand, dass Deutschland mittlerweile eine
Spitzenposition innerhalb der EU bei der nominellen
Besteuerung von Unternehmergewinnen hat. Herr
Lafontaine, Ihre Berechnungen sind falsch. Sie dürfen
nicht nur die Körperschaftsteuer sehen, sondern müssen
auch die Gewerbesteuer einbeziehen. Wenn das, was Sie
vertreten, in Deutschland Gesetz würde, wäre der Aufschwung zu Ende. Die Notleidenden wären nicht die
DAX-Werte, sondern die Arbeitnehmer in Deutschland.
Ich kann nur sagen: Eine solche Steuerpolitik wäre das
Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
({0})
Der Tatbestand, dass wir zurzeit mit knapp 39 Prozent
nominell die höchsten Steuersätze haben, hängt nicht
damit zusammen, dass wir in Deutschland die Sätze erhöht hätten. Vielmehr haben wir sie gesenkt. Das Problem ist: Andere Länder haben sie stärker gesenkt. Wir
haben eine ganze Reihe von neuen Ländern in die EU
aufgenommen, die von vornherein deutlich niedrigere
Sätze hatten. Mit einem Spitzensteuersatz von knapp
30 Prozent lägen wir in einer mittleren Position innerhalb der EU, nicht im unteren Drittel. Das brauchen wir
bei der Qualität unseres Standortes aber auch nicht.
Meine These ist, dass die großen Firmen die vielen legalen Gestaltungsmöglichkeiten, die sie bei einem Steuersatz von 39 Prozent natürlich genutzt haben, bei
30 Prozent nicht mehr nutzen werden. Deshalb bin ich
davon überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gewinne,
die heute in Deutschland entstehen, hier aber nicht
besteuert werden, in Zukunft wieder in Deutschland besteuert wird. Ich glaube, dass wir mit den niedrigeren
Steuersätzen - ich vermute, schon 2009, Herr Minister höhere Steuereinnahmen haben werden als heute und
dass diese Unternehmensteuerreform damit auch ein
Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen ist.
({1})
Der zweite große Punkt - Kollege Michelbach hat bereits darauf hingewiesen -: Wir werden die niedrigeren
Steuersätze in vollem Umfang auf die Personengesellschaften übertragen. Wir gehen in diesem Bereich zu
einem Steuersystem über, das wir schon einmal einige
Jahre nach dem Krieg hatten: dem System des gespaltenen Steuersatzes. Das bedeutet, Gewinne von Personengesellschaften, die in der Firma bleiben, werden niedriger besteuert als Gewinne, die aus der Firma genommen
werden. Dies ist ein toller Beitrag zur Stärkung des Mittelstandes und insbesondere der Eigenkapitalsituation im
Mittelstand.
Dennoch besteht natürlich Diskussionsbedarf. Es gibt
ja den bekannten Spruch, dass noch kein Gesetzentwurf
so aus dem Bundestag herausgekommen ist, wie er hineingekommen ist.
({2})
Das wird auch diesmal der Fall sein. Diskussionsbedarf
- ich sage noch nicht Veränderungsbedarf; der kann aus
der Diskussion entstehen - besteht insbesondere bei
sechs Punkten.
Der erste Punkt. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Wir
nehmen natürlich sehr ernst, was der Nationale Normenkontrollrat sagt. Wir werden uns die 40 zusätzlichen
Meldepflichten ganz genau ansehen, wohl wissend, dass
sich viele aus Wahlrechten bei der Besteuerung ergeben.
Wir werden uns auch die 180 Millionen Euro bei den geringfügigen Wirtschaftsgütern sehr genau anschauen. Es
wäre gut, wenn wir in der zweiten Lesung sagen könnten: Die neue Unternehmensteuerreform bedeutet unter
dem Strich nicht 72 Millionen Euro mehr Bürokratie,
sondern vielleicht 20 oder 30 Millionen Euro weniger
Bürokratie. An dem Ziel werden wir arbeiten.
({3})
Der zweite Punkt. Ich weiß natürlich, dass leistungsstarke Personengesellschaften durch die Thesaurierungsmöglichkeit viele Vorteile haben. Ich weiß auch, dass der
größte Teil des Mittelstandes eine Besteuerung von unter
30 Prozent hat. Der erhebliche Teil davon profitiert aber
von der verbesserten Investitionsrücklage. Nun gibt es
im Handwerk und bei anderen eine Diskussion über die
210 000-Euro-Grenze. Lassen Sie uns auch hierüber
noch einmal diskutieren; vielleicht finden wir noch eine
Möglichkeit, in Richtung 250 000 Euro zu marschieren.
Der dritte Punkt. Die Zinsschranke ist etwas Neues.
Man weiß nicht so ganz genau, wie sie in allen Bereichen wirkt. In den Vereinigten Staaten gibt es etwas Vergleichbares seit vielen Jahren. Frankreich hat eine Zinsschranke am 1. Januar dieses Jahres eingeführt. Wir
diskutieren hier nicht über Dinge und über Probleme, die
es nicht auch in anderen Ländern gibt. Nur, wir wollen
uns die Auswirkungen der Zinsschranke auf vier moderne Finanzierungsformen, die wir brauchen, noch einmal ganz genau anschauen: Leasing, Factoring, PPP und
Private Equity.
Der vierte Punkt. Wir wollen, dass in Zukunft Schluss
mit den Mantelkäufen ist. Firmenkäufe, die nur den
Zweck haben, sich den Verlustvortrag zu sichern, wollen
wir nicht. Das ist schon jetzt ganz erheblich eingeschränkt. Wir wollen aber noch einmal über die Frage
diskutieren, wie es mit den Verlustvorträgen bei Sanierungen und Umstrukturierungen in internationalen Konzernen aussieht. Hier muss noch diskutiert werden; ob
wir zu Veränderungen kommen müssen, mögen wir dann
überlegen.
Der fünfte Punkt. Es ist in allen Ländern üblich, dass
Funktionsverlagerungen besteuert werden. Aber uns
interessiert noch die Auswirkung der Funktionsverlagerung auf den Bereich Forschung und Entwicklung. Wir
wollen nicht, dass es zu Nebenwirkungen kommt, die
keiner will, um das klar zu sagen.
({4})
Deutschland ist bei Forschung und Entwicklung an der
Spitze der Welt; wir sind da bei den großen Nationen mit
dabei:
({5})
Dies muss auch so bleiben. Es soll nicht durch die steuerliche Behandlung der Funktionsverlagerung gefährdet
werden. Das sind Punkte, über die wir diskutieren. Ich
sage aber genauso deutlich, insbesondere an die Kollegen von den Sozialdemokraten gerichtet: Wir werden
uns nur in einem Rahmen bewegen, der die 5-Milliarden-Euro-Grenze nicht überschreitet. Darauf haben wir
uns politisch geeinigt, und dabei bleibt es. Deshalb sage
ich jedem, der tolle Vorschläge hat, dass wir diese durchaus umsetzen können, dass aber die Gegenfinanzierung
aus dem eigenen Projekt, also im Rahmen der Unternehmensteuerreform, erfolgen muss. Ich glaube, dass dann,
wenn dies zur Bedingung gemacht wird, die Wünsche
weniger werden.
Dieser Gesetzentwurf umfasst noch ein ganz wichtiges Thema für den Standort Deutschland - der hessische
Ministerpräsident hat darauf hingewiesen -, nämlich den
Übergang zur Abgeltungsteuer. Das ist ein Instrument,
das mit Sicherheit den Kapitalmarkt in Deutschland stärken wird, es ist ein Instrument, das sicherstellt, dass wir
in Zukunft auf viele Informations- und Mitteilungsmeldungen verzichten können. Wer die 180 Millionen Euro
bei den geringfügigen Wirtschaftsgütern kritisiert - das
tue ich auch -, der sollte auch darauf hinweisen, dass der
Übergang zur Abgeltungsteuer Bürokratiekosten von
150 Millionen Euro erspart.
Sicher kann man darüber diskutieren, liebe Kollegen
von der FDP, ob 25 Prozent der richtige Satz sind. Ich
sage: Zum Einstieg und bei den Möglichkeiten, die wir
angesichts der Haushaltssituation haben, ist das ein Prozentsatz - das sagen uns auch die Bankenvertreter -, mit
dem man einsteigen kann. Ich glaube, dass wir auch bei
diesem Instrument, ähnlich wie bei der Körperschaftsteuer, beim Übergang relativ schnell keine Ausfälle
mehr haben werden, wie es in den Berechnungen des Ministeriums heißt, sondern dass wir durch die Erweiterung
der Bemessungsgrundlage und durch den Tatbestand,
dass weniger Geld Deutschland verlassen wird, wenn wir
das neue System haben - ich gehöre sogar zu den Optimisten, die erwarten, dass Geld zurückkommt -, mit der
Abgeltungsteuer ab 1. Januar 2009 einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Kapitalmarktes in Deutschland und
letztlich auch zur Sanierung der Finanzen leisten.
({6})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Solms zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Bernhardt, was die Abgeltungsteuer anbetrifft, so können wir als FDP - Sie haben uns angesprochen - mit 25 Prozent durchaus leben. Das ist nicht
das Problem. Das Problem bei der Einführung der Abgeltungsteuer, wie Sie sie vorgesehen haben, ist die
Besteuerung der Veräußerungsgewinne.
({0})
Da darf ich Sie auf ein Zusatzproblem hinweisen, welches dringend zu beachten ist. Das wird die private
Altersvorsorge beispielsweise beim Fondssparen ganz
stark belasten und zu einer erheblichen Besteuerung führen, die die Sparer nicht einkalkuliert haben, weil sie das
nicht wissen konnten, als sie ihre Sparverträge abgeschlossen haben. Wenn es dort keine Änderung gibt,
dann wird das eine echte Schwächung der privaten Altersvorsorge bedeuten.
Zunächst einmal freue ich mich, dass wir darin übereinstimmen, dass der Übergang zur Abgeltungsteuer ein
richtiger Weg ist, den auch die FDP unterstützt. Sie sehen Probleme bei der zukünftigen Besteuerung der Veräußerungserlöse. Den Punkt, den Sie angesprochen haben, sehen wir auch. Es stellt sich die Frage, ob wir
darüber noch diskutieren müssen. Ich habe das nicht als
siebten Punkt bei mir aufgenommen. Es gibt bei uns eine
Diskussion über Instrumente, die vielleicht zwölf Jahre
laufen und erst nach dem 60. Lebensjahr in Form von
Renten ausgezahlt werden. Auch das werden wir im
Rahmen der Anhörung sehen. Aber ein erheblicher Teil
der Kritik an der Abgeltungsteuer hat in der Regel nichts
mit der Abgeltungsteuer zu tun, wie auch Sie eben dargestellt haben, sondern mit der Besteuerung der Veräußerungserlöse. Nur, das ist unsere politische Entscheidung, die wir schon im Koalitionsvertrag getroffen
haben. Ich weiß, dass andere Länder dieses Problem zum
Teil anders lösen. Aber dies ist der gemeinsame Wille
der Großen Koalition. Dabei werden wir bleiben. Ob wir
zugunsten der privaten Altersvorsorge steuerlich noch
etwas machen können, ist auch bei uns noch in der Diskussion.
Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit nicht vergessen, ein zweifaches Dankeschön zu sagen. Das erste
Dankeschön gilt unserem sozialdemokratischen Koalitionspartner. Ich weiß, dass sich die vielzitierte Basis der
SPD mit diesem Thema schwerer tut als unsere. Auf der
anderen Seite gibt es bei uns eine Reihe von Mittelständlern, die es gerne gesehen hätten, dass für den Mittelstand deutlich mehr gemacht wird. Ihnen mussten wir
immer wieder sagen: 5 Milliarden Euro ist die Grenze,
zu der wir stehen.
Ein besonderes Dankeschön gilt aber auch den Ministerien: zum einen dem Bundesfinanzministerium, aber
auch den Landesfinanzministerien - der Minister hat sie
schon genannt -, die hierbei als technische Arbeitsgruppe mitgearbeitet haben. Es war für mich faszinierend zu sehen, wie diese Zwölfergruppe kurzfristig mit
umfassendem Zahlenmaterial bedacht wurde.
Ich finde gut, dass uns der Fehler mit der Körperschaftsteuer und den entsprechenden Ausfällen - Sie
wissen, wovon ich spreche - diesmal nicht passieren
wird, weil man viele Hunderte Akten studiert hat und
das, was wir jetzt vorschlagen, schon einmal durchgerechnet hat. Das heißt, wir haben uns an der Wirklichkeit
orientiert. Das war natürlich nur unter Einschaltung verschiedener Bundesländer möglich. Ich kann nur sagen:
Hier ist hervorragende Arbeit geleistet worden.
({0})
Zurück zur Unternehmensteuerreform. Dies ist mit
Sicherheit eines der ganz großen Reformvorhaben der
Großen Koalition. Um es klar zu sagen: Dieses Vorhaben lassen wir uns von niemandem zerreden. Alle Fachverbände stimmen in ihren Stellungnahmen von der
Grundtendenz her zu, auch wenn in Halbsätzen immer
wieder der Wunsch „Es könnte ein bisschen mehr sein“
geäußert wird.
Ich erinnere daran, dass die Große Koalition sich in
der Finanzpolitik zwei Ziele gesetzt hat, die sie gleichzeitig verwirklichen will: erstens Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft. Dem werden wir mit dieser
Unternehmensteuerreform gerecht. Zweitens: Konsolidierung der öffentlichen Finanzen; deshalb haben wir
eine Grenze bei 5 Milliarden Euro gezogen.
Dieses Reformvorhaben ist ein hervorragender Beitrag, um den Standort Deutschland zu stärken. Das
heißt ganz konkret, Herr Lafontaine: Es ist ein Beitrag
zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. In diesem
Sinne werden wir dieses Projekt abschließen. Der Regierungsentwurf ist schon deutlich besser als der Referentenentwurf. Ich bin davon überzeugt: Das, was wir hier
am 25. Mai in zweiter und dritter Lesung verabschieden,
wird noch besser sein. Wir werden unseren Beitrag dazu
leisten.
Herzlichen Dank.
({1})
Dem Kollegen Reinhard Schultz erteile ich jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man zwei Jahre zurückblickt, sich die Ausgangspositionen in der Diskussion über eine Reform der Unternehmensbesteuerung anschaut und einen Vergleich zu
dem zieht, was heute hier ins Parlament eingebracht
wurde, dann wird erst richtig deutlich, was in der Zwischenzeit politisch geleistet worden ist und welche Integrationsleistung innerhalb der Koalition erbracht worden
ist.
({0})
Zu Beginn der Diskussion hat unser Koalitionspartner
zum Beispiel noch überlegt, auf die Gewerbesteuer vollständig zu verzichten.
({1})
Wir haben eine Diskussion über Vorschläge der Stiftung
Marktwirtschaft geführt. Die Umsetzung dieser Vorschläge hätte dauerhafte Steuerausfälle in Höhe von
20 bis 40 Milliarden Euro mit sich gebracht. Man wollte
an vielen völlig unbekannten Stellschrauben im Steuersystem drehen. Die Kollateralwirkungen wären für niemanden absehbar gewesen.
Die jetzt vorgesehene Steuerreform zielt darauf ab,
dass die Steuerbelastung und die Steuersätze möglichst
nahe beieinanderliegen. Der Steuersatz soll Unternehmen im Inland und im Ausland signalisieren, was sie tatsächlich zu zahlen haben.
Kollege Lafontaine, Sie haben von dem
Mundorf’schen Phantomschmerz geredet. Auch ich habe
den Mundorf’schen Artikel gelesen, in dem zu Recht
dieses Bild gezeichnet wird. Tatsächlich haben viele international tätige Unternehmen über den hohen Steuersatz geklagt, wohl wissend, dass sie diese Steuern
niemals zu zahlen brauchen, weil es genügend Stellschrauben und Verschiebebahnhöfe gibt, um dafür zu
sorgen, dass für sie ein ganz niedriger Steuersatz gilt.
Wir haben doch eine Tabelle, aus der hervorgeht, wie die
Steuerbelastung der DAX-Unternehmen trotz höchster
Gewinne ist. Das einzige Unternehmen, das da wirklich
einigermaßen nahe an der Wirklichkeit und an der Steuerehrlichkeit war, ist - das muss man neidlos anerkennen - BASF. Der Rest fiel deutlich ab. Zum Teil wurde
nur unter 10 Prozent dessen, was an Gewinnen ausgewiesen wurde, hier auch tatsächlich versteuert.
Das ist nicht hinnehmbar. Das muss zurückgeholt
werden. Insofern wird mit dieser Unternehmensteuerreform insgesamt ein Volumen von 30 Milliarden Euro bewegt, wovon mindestens 25 Milliarden Euro gegenfinanziert sind, was sozusagen der Stabilisierung der
Steuerbasis dient. Dabei geht es bei den großen Konzernen um die Zinsschranke. Das heißt, die Konzernbinnenfinanzierung wird sozusagen da behindert, wo es ein
Gefälle in Richtung Billigsteuerländer gibt. Auch bei
Funktionsverlagerungen wird darauf geachtet, dass
hochwertige Ideen, Erfindungen, Patente nicht unter
Preis über die Grenze geschoben werden mit der Folge,
dass im Nachhinein hohe Lizenzgebühren entstehen, die
Gewinne sozusagen ins Ausland verschieben helfen. So
wären noch viele andere Maßnahmen zur Stabilisierung
zu nennen.
Reinhard Schultz ({2})
Unter dem Strich werden diejenigen, die in der Vergangenheit ausgewichen sind, in Deutschland deutlich
mehr bezahlen als bisher - sie werden im Ausland weniger, aber in Deutschland mehr als bisher bezahlen -,
während diejenigen mittelständischen Unternehmen,
die in der Vergangenheit kaum Möglichkeiten hatten,
Eigenkapital anzusparen, für Investitionen Vorsorge zu
treffen - in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre ist das
sehr deutlich gewesen -, deutlich entlastet werden; das
hat Ingolf Deubel klar gesagt. 2,5 Milliarden Euro ist tatsächlich eine Menge Geld. Das geht im Wesentlichen zugunsten der Stärkung von Eigenkapital und Investitionen.
Von einer Mittelstandslücke kann überhaupt keine
Rede sein - das kann ich nur unterstreichen -; im Gegenteil. Selbst wenn man nur auf den Investitionsabzugsbetrag schaute und feststellte: „Es gibt einige wenige Unternehmen, die davon nicht betroffen sind, weil
sie zu groß sind, weil sie eine zu hohe Eigenkapitalausstattung haben“, so gilt doch: Sie würden unter normalen
Bedingungen in jedem Fall etwas von den Thesaurierungsvorteilen haben;
({3})
es sei denn, sie haben eine so hohe Eigenkapitalausstattung und eine so kümmerliche Eigenkapitalrendite - das
mag es auch geben -, dass man ihnen dringend raten
sollte zu überlegen, ob sie den Betrieb unter diesen Bedingungen überhaupt fortführen. Aber unter normalen
Bedingungen würden sie eher von der Möglichkeit der
Thesaurierung Gebrauch machen. Das heißt: Alle sind
mit im Boot. Eine Lücke ist überhaupt nicht zu erkennen.
Natürlich gibt es auch die Klage von sehr gering verdienenden Unternehmen, sie hätten von dieser Steuerreform nichts.
({4})
Die haben wir eigentlich bereits mit der Steuerreform
von 2000 erreicht. Wir wissen, dass die Personenunternehmen im Schnitt nur 19 Prozent Steuern bezahlen.
Denen können wir mit solchen Maßnahmen nicht helfen,
weil wir sie bereits vor einigen Jahren erheblich entlastet
haben. Es gibt zwischen 200 000 und 300 000 Unternehmen, die so geringe Erträge haben, dass sie wegen der
hohen Freibeträge überhaupt keine Steuern zahlen. Für
die kann der Steuergesetzgeber natürlich nichts mehr
tun.
Uns geht es wirklich um Unternehmen, die Leistung
bringen, die investieren sollen, die Beschäftigung schaffen sollen. Dann gibt es die Großunternehmen, die aufgrund ihrer starken internationalen Verflechtungen dazu
beitragen, dass Deutschland immer wieder Exportweltmeister wird. Wir wollen uns die Weltmeisterschaftsprämie mit diesen Unternehmen gern teilen. Davon muss
auch diese Gesellschaft etwas haben. Insofern, glaube
ich, ist die Sache rund.
({5})
Natürlich weiß auch ich: Der Teufel steckt im Detail.
Wir werden den Gesetzentwurf im Rahmen der weiteren
Beratungen auch unter dem Gesichtspunkt der Praxistauglichkeit auf den Prüfstand stellen. Möglichkeiten für
weitere Entlastungen unter dem Strich sehen wir allerdings eindeutig nicht; im Gegenteil: Wir sehen eher die
Notwendigkeit zu stabilisieren, wenn denn Möglichkeiten zur Stabilisierung gegeben sind.
Ich bin fest davon überzeugt: Die kommenden acht
Wochen werden wir gemeinsam nutzen und am 25. Mai
mit einem guten Ergebnis aufwarten können.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Von den Fraktionen ist Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4841, 16/4857 und 16/4855 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 27 a und b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der Telekommunikationsüberwachung ({0})
- Drucksache 16/3827 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Reform der Telefonüberwachung zügig umsetzen
- Drucksache 16/1421 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Hierfür ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Politik sollte mit dem Erfassen und Bewerten der Wirklichkeit beginnen; damit möchte auch ich anfangen. Die
Zahl der Telefonüberwachungen in Deutschland steigt
von Jahr zu Jahr rasant: 1990 waren es 2 500 Fälle, 1995
3 500, 2000 15 000, 2004 34 000, 2005 42 000. Hinter
diesen 42 000 Fällen stecken Hunderttausende, vielleicht
sogar Millionen von abgehörten Einzeltelefongesprächen. Das bedeutet: Hunderttausendfach oder millionenfach wurde in das geschützte Grundrecht auf freie Telekommunikation, auf freien Telefonverkehr eingegriffen.
Wir werden in der Diskussion das Argument hören,
Zahlen sagten für sich genommen nichts aus.
({0})
Natürlich ist es richtig, sich zu überlegen, wie sich die
Telekommunikation insgesamt entwickelt hat. Selbst
wenn man aber die Entwicklung der mobilen Telekommunikation, die Tatsache, dass Menschen anders
und viel mehr kommunizieren - natürlich auch Verdächtige oder Straftäter -, in Rechnung stellt, ist der Anstieg
nicht hinnehmbar. Dazu nur ein Hinweis: 2005 war der
Mobilfunkmarkt in Deutschland praktisch gesättigt, es
gab praktisch keinen Zuwachs mehr; trotzdem gab es bei
der Kontrolle einen Zuwachs um 25 Prozent.
Wir werden auch hören, man müsse sich damit abfinden, weil die Telekommunikationsüberwachung einem
guten Zweck, nämlich der Verfolgung von Straftätern,
diene.
({1})
Ich sage Ihnen dazu: Laut Zahlen der Ermittlungsbehörden führen 60 bis 70 Prozent aller Telekommunikationsüberwachungen zu einem Ergebnis; das bedeutet, dass
30 bis 40 Prozent aller Telekommunikationsüberwachungen bei Personen durchgeführt wurden, die unschuldig geblieben sind. Aber auch das Abhören derjenigen, die verdächtig sind, jede einzelne Telefonabhörung
ist ein schwerwiegender Eingriff in ein Grundrecht. Deswegen ist es nicht hinnehmbar, dass die Zahl der Telekommunikationsüberwachungen fortwährend wächst.
({2})
Wir haben viele Jahre auf wissenschaftliche Gutachten gewartet, die der Bundestag und die Bundesregierung in Auftrag gegeben haben. Die Ergebnisse, die jetzt
vorliegen, sind erschreckend: Die Justiz nimmt bisher
nicht in ausreichendem Maße die Kontrollfunktion
wahr, die sie wahrnehmen sollte.
({3})
Mehr als ein Viertel aller Beschlüsse sind entweder überhaupt nicht oder nur formelhaft begründet worden.
Somit wird nicht ersichtlich, ob die Justiz in jedem Einzelfall tatsächlich das Grundrecht auf freie Telekommunikation in den Blick genommen hat, ob eine Abwägung
gegen das Strafverfolgungsinteresse stattgefunden hat.
Die Arbeit der Justiz muss also erheblich verbessert werden.
({4})
Auch die Benachrichtigungspflichten, die zu einem effektiven Rechtsschutz und damit auch zur Wahrung des
Grundrechts gehören, bedürfen einer Erweiterung, eines
Ausbaus.
Deshalb machen wir unsere Vorschläge. Wir gehen einen grundsätzlich neuen Weg. Bisher gibt es einen
Straftatenkatalog. Ein Straftatenkatalog ist schlimmer
als eine Hydra, bei der erst dann zwei Köpfe anwachsen,
wenn man einen abschlägt; hingegen steigt beim Straftatenkatalog die Zahl der Tatbestände, bei denen eine Telekommunikationsüberwachung erlaubt ist, Jahr um Jahr
an. Der neueste Entwurf der Regierung der Großen
Koalition sieht weitere neue Tatbestände vor.
Wir gehen einen neuen Weg, indem wir nicht mehr
nach Straftatbeständen suchen, sondern einen Kriterienkatalog erstellen. Wir wollen eine Telekommunikationsüberwachung nur dann, wenn es sich um Verbrechen
handelt oder um Vergehen, die so schwerwiegend wie
Verbrechen sind, und auch nur dann, wenn in jedem Einzelfall eine Prognose des Gerichts zu dem Ergebnis
kommt, dass es sich um einen schwerwiegenden Fall
handelt, bei dem wahrscheinlich eine Haftstrafe von
über einem Jahr herauskommen wird.
({5})
Im Rahmen dieser Debatte will ich schon jetzt sagen,
meine Damen und Herren, insbesondere in Richtung der
SPD-Kolleginnen und -Kollegen, dass dieser Wechsel
ursprünglich nicht einmal eine Idee von uns Grünen war.
Denken Sie in der Debatte einmal darüber nach, von
wem diese Idee gekommen ist - eine glänzende Idee, die
wir übernommen haben, von der Sie aber heute offensichtlich nichts mehr wissen wollen, weil Sie mit dem
falschen Koalitionspartner zusammenarbeiten.
({6})
Wir schützen alle Berufsgeheimnisträger gleichermaßen, und zwar deswegen, weil man keine Unterschiede hinsichtlich des Vertrauensverhältnisses des
Arztes, des Verteidigers oder des Abgeordneten machen
kann. Jeder, der eine Abstufung vornehmen will, ist dafür begründungspflichtig; aber eine solche Begründung
gibt es nicht.
Wir schützen den Kernbereich der persönlichen Lebensgestaltung auf eine vernünftige, der Praxis entgegenkommende Weise. Da, wo live abgehört wird, muss
abgeschaltet werden, und wo automatisiert abgehört
wird, sind die Ergebnisse nicht verwertbar.
({7})
Meine Damen und Herren, ich habe zu wenig Zeit,
um, obwohl wir den Gesetzentwurf vorschlagen, Ihnen
all seine Elemente in meinem Redebeitrag nahezubringen. Ich will nur noch auf einen Punkt kommen. Wir waren, Herr Kollege Benneter, so ehrlich, in unseren Gesetzentwurf am Schluss hineinzuschreiben, dass es auch
Alternativen gibt; sie sind aber die schlechteren.
Schauen Sie sich Ihren Entwurf an. Obwohl unser Gesetzentwurf heute zur Debatte im Bundestag vorliegt,
schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf, es gebe keine Alternativen. Davon müssen Sie Abstand nehmen. Wir
werden Ihnen in der Debatte zeigen, dass es Alternativen
gibt und dass unsere die bessere ist.
({8})
Jetzt hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen: einem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der
FDP zur Telekommunikationsüberwachung. Hintergrund
sind diverse Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung,
aber auch zur Telekommunikationsüberwachung. In
diesen werden die Anforderungen an die verdeckte Ermittlungsmaßnahme der Überwachung festgelegt. Weil
diese Entscheidungen, auf die ich noch näher eingehen
werde, zu einem guten Teil schon etwas älteren Datums
sind, hat die Bundesregierung bereits seit längerem angekündigt, ein harmonisches System der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmethoden zu schaffen.
Gestern haben wir uns darüber unterhalten, dass es
auch die Möglichkeit einer Überwachung aus präventiven Gründen gibt. Heute beschäftigen wir uns ausschließlich mit den repressiven Gründen, die in den
§§ 100 a ff. StPO geregelt sind.
Schon in der 14. und in der 15. Legislaturperiode gab
es Ansätze. Sie konnten aber offenbar aufgrund damaliger Regierungskoalitionen und -konstellationen nicht
zum Erfolg geführt werden. Ich darf Ihnen vorab versichern, dass die jetzige Regierungskoalition - keine
Angst, Herr Montag; die jetzige Regierungskoalition ist
schon die richtige, jedenfalls gemessen an der Benchmark Grüne die bessere - auf einem besseren Weg ist.
Wir werden in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, mit
dem die verdeckten Ermittlungsmethoden insgesamt
einer Neuregelung zugeführt werden.
({0})
Wenn man sich den von den Grünen vorgelegten Entwurf ansieht, dann versteht man, warum die rot-grüne
Koalition nicht zu Potte gekommen ist. Die Grünen haben offenbar wieder alles in den Gesetzentwurf hineingepackt, was sie in der Zeit ihrer Mitregierung auf Bundesebene gegenüber der SPD nicht haben durchsetzen
können. Ich betone ausdrücklich: Das war auch gut so.
({1})
Der Gesetzentwurf atmet unverkennbar den Geist - wo
fällt der Blick hin? Er ruft schon dazwischen - von
Herrn Ströbele.
({2})
Die Grünen verkennen einmal mehr, dass wir uns in
einem Spannungsfeld bewegen. Dieses Spannungsfeld
kennt doch jeder. In ihm stehen sich verschiedene Interessen nahezu unversöhnlich gegenüber. Auf der einen
Seite steht der Grundrechtschutz aus Art. 10 und
Art. 13 des Grundgesetzes. Auf der anderen Seite gibt es
natürlich die Pflicht des Staates zu einer effektiven
Strafverfolgung, die nicht zu einem zahnlosen Tiger
verkommen darf.
({3})
Das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und wesentlicher Auftrag des staatlichen
Gemeinwesens.
In dieser Konstellation befinden wir uns übrigens
häufig. Gestern konnten wir es bei der Debatte über die
Patientenverfügung erleben:
({4})
Selbstbestimmung auf der einen Seite und Schutz des
Lebens auf der anderen Seite. Die Frage ist immer, welchen Ausgleich man zwischen den verschiedenen Interessen findet. Man spricht in diesem Zusammenhang
vom Prinzip der praktischen Konkordanz. Man muss
diese sich widerstreitenden Prinzipien, die alle im
Grundgesetz stehen, irgendwie sinnvoll zum Ausgleich
bringen. Darüber streiten wir uns. Aber das ist nun einmal das Wesen einer Demokratie. Dass Sie immer dabei
den Kürzeren ziehen, ist das Gute an der Demokratie.
({5})
Es ist klar, dass es keinen hundertprozentigen Schutz
vor Straftaten geben kann. Bei dem Gesetzentwurf der
Grünen ist aber nach unserer Auffassung die genannte
Abwägung misslungen. Das Strafverfolgungsinteresse
des Staates wird gegenüber dem Grundrechtschutz weiter zurückgesetzt, als dies nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts notwendig wäre. Ihr Gesetzentwurf weist zudem - ich komme gleich darauf zu sprechen; das wundert mich sehr, Herr Montag - auch handwerkliche Mängel auf; er ist inkonsequent bei der
Verfolgung seines Anliegens und greift auch zu kurz. Ich
will diese einzelnen Punkte nacheinander abarbeiten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2005 klargestellt - ähnlich wie kurz
zuvor bei der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung -,
dass auch im Bereich der Telekommunikationsüberwachung Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung erforderlich sind. Es hat dabei
aber betont, dass insoweit nicht die im Hinblick auf die
akustische Wohnraumüberwachung erhöhten Eingriffsanforderungen des Art. 13 des Grundgesetzes wie
in der Wohnraumüberwachungsentscheidung, sondern
- das ist verständlich - niederschwelligere Eingriffshürden einzubauen sind. Deshalb ist die Eingriffsschwelle
bei der akustischen Wohnraumüberwachung höher anzusetzen - denn in dem Fall muss man erst in die Wohnung
eines Menschen gelangen - als bei der telefonischen
Überwachung mit ihren technischen Möglichkeiten.
Man spricht einmal von den qualifizierten Gesetzesvorbehalten und einmal von den einfachen Gesetzesvorbehalten. Das ist unter Juristen unstreitig.
Im Gesetzentwurf der Grünen wird der Berufsgeheimnisträgerschutz absolut und nicht differenziert
nach den einzelnen Berufsgruppen geregelt.
({6})
Dies gilt aber wiederum nur für die Telekommunikationsüberwachung und für die Verkehrsdatenerhebung.
Das Bundesverfassungsgericht hat indessen nur für Verteidiger und Seelsorger eine absolute Schutzwürdigkeit
anerkannt und hat dies aufgrund Art. 46 und Art. 47 des
Grundgesetzes auch für Abgeordnete getan. Für die übrigen Berufsgeheimnisträger ist ein solcher absoluter
Schutz nicht geboten. Er ist vielmehr mit dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung unvereinbar.
({7})
Zudem knüpft der in Ihrem Gesetzentwurf enthaltene
Berufsgeheimnisträgerschutz nicht an die Reichweite
des Zeugnisverweigerungsrechts an - obwohl Sie das in
Ihrem Gesetzentwurf schreiben -, sondern an die Person
des Trägers. Damit wären auch Gespräche einer Hebamme einer Abhörmaßnahme nicht zugänglich, auch
wenn es vielleicht um etwas ganz anderes geht als um
ein Gespräch über eine schwierige Zangengeburt. Es
wird also nicht an die Zeugnisverweigerungseigenschaft,
sondern nur an die Berufsgeheimnisträgerschaft angeknüpft.
Das hat zur widersprüchlichen Folge, dass die betroffene Person darüber zwar als Zeuge aussagen müsste,
aber ein entsprechendes Telefongespräch nicht abgehört
werden dürfte.
Das gilt auch für den Nachrichtenmittler. Zum Beispiel könnte der Sohn eines Rechtsanwaltes, der die Anweisungen eines Beschuldigten für einen Betäubungsmitteltransport entgegennimmt, nicht mehr abgehört
werden, weil der Anschluss dem Vater gehört, der eben
als Rechtsanwalt Berufsgeheimnisträger ist. Das ist doch
eine kuriose Konsequenz. Dasselbe gilt auch für Angehörige von Verdächtigen. Wenn jemand seine Ehefrau
quasi als Schutzschild auf eine Drogenkurierfahrt mitnimmt, kann der Fall mit verdeckten Ermittlungsmaßnahmen nicht mehr bearbeitet werden.
({8})
- Ja, Herr Montag, das ist zum Lachen. Aber es ist Ihr
Entwurf. Sie lachen also über Ihren eigenen Entwurf.
({9})
Jetzt kommen wir zur handwerklichen Insuffizienz.
Die Telekommunikationsüberwachung wird mit Einzelfallregelungen zum Verfahren geradezu überfrachtet.
({10})
- Nicht Inkontinenz. Das ist etwas anderes. Darüber
können wir uns noch unterhalten. Auch dies ist eine besondere Form der Insuffizienz; denn die Blaseninsuffizienz nennt man auch Inkontinenz. Dann gibt es noch etwas Ähnliches mit „Im…tenz“.
({11})
Jetzt wollen Sie Folgendes machen: Sie wollen sich
von dem enumerativen Straftatenkatalog lösen - das haben Sie eben in Ihrer Rede gesagt -, obwohl dies in der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bei der es
um die Aufhebung einer landesrechtlichen Regelung in
Niedersachsen geht - ich habe sie eben angesprochen -,
ausdrücklich verlangt wird.
Dann schreiben Sie in Ihrem Gesetzestext sinngemäß
- ich bitte die Feinschmecker unter den Juristen, einmal
zuzuhören -: Die Anordnung von Telekomüberwachungsmaßnahmen soll bei Verbrechen oder - vielleicht
ist irgendein Rechtskundiger im dritten Semester auf der
Tribüne - bei Vergehen möglich sein, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind.
({12})
Der Deliktscharakter des Verbrechens ist gerade,
dass es mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bedroht
ist. Nun schütteln Sie den Kopf; Gott sei Dank sehen Sie
von einer Zwischenfrage ab, Herr Montag. Sie versuchen, dies in der Begründung zu erklären, indem Sie sagen:
({13})
Es gibt Delikte bzw. Vergehen, deren Strafmaß unterhalb
der Mindeststrafe von einem Jahr liegt - deshalb sind es
Vergehen -, die aber durch Qualifizierungen eine Mindeststrafe von einem Jahr erforderlich machen.
({14})
Schreiben Sie das doch auch in den Gesetzestext hinein,
Herr Montag! Sie wissen es doch. Das ist handwerklich
dilettantisch.
({15})
Nun scheint Ihr Gesetzentwurf auch verfassungsrechtlich sehr fragwürdig zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bereits erwähnten Entscheidung vom 27. Juli 2005 gefordert, dass gesetzliche
Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung ein
„auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüberwachung zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept“
enthalten müssen. Es hat moniert, dass das seinerzeit
aufgehobene Landesgesetz keine abschließende Umschreibung der Straftaten enthalten hatte, wegen deren
nämlich Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen
angeordnet werden können.
Das ist auch logisch; denn der Gesetzgeber hat zu begründen, dass die Anlasstaten den besonderen Anforderungen an die Zulassung solcher Maßnahmen gerecht
werden, mithin, dass diese ein erforderliches und angemessenes Mittel zur Aufklärung dieser Straftaten sind.
Das heißt, wir brauchen einen Katalog und keine romantische Umschreibung, so wie Sie das wollen. Gerade
das hat keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht gehabt.
({16})
Ihre weitere Forderung, dass nicht von vornherein mit
einer geringeren Freiheitsstrafe zu rechnen sein darf, ist
ebenfalls völlig praxisfern.
({17})
So etwas kann insbesondere zu Beginn der Ermittlungen
zumeist gar nicht zuverlässig beurteilt werden.
Nun will ich mich nicht nur mit den Grünen beschäftigen. Auch die FDP hat einen Antrag eingebracht. Sie
fordert, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vorlegen möge. Insofern, Herr van Essen, sind wir, wie
man so schön sagt, ein omnimodo facturus, ein ohnehin
zur Tat Geneigter. Wir legen demnächst einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir die Umsetzung der Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates zur Vorratsdatenspeicherung vom 15. März in das nationale Parlament einbringen. Sie versuchen natürlich, uns ein bisschen Beine zu machen. Das ist die Art einer
Oppositionspartei; dafür habe ich Verständnis. Wie gesagt, wir tun dies. Wir werden eine adäquate Abstimmung zwischen den von mir eben schon näher dargelegten Interessenkollisionen vornehmen.
Deswegen, Herr Montag und liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen: Wenn wir in das Gesetz
schreiben: „Dazu gibt es keine Alternative“, sind natürlich immer taugliche Alternativen gemeint.
({18})
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Osterfest und einen
schönen Freitag.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Herr Kollege Gehb, es kann sein, dass Sie noch weiterarbeiten müssen; denn ich erteile jetzt dem Kollegen
Montag das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Dr. Gehb,
nachdem Sie es, wie wir es von Ihnen gewohnt sind,
nicht geschafft haben, sachliche Argumente und eine
sachliche Auseinandersetzung von persönlich gefärbten
Angriffen zu trennen, und mich in dieser Art und Weise
mehrfach in Ihrem Redebeitrag angesprochen haben,
habe ich mich doch entschlossen, Ihnen kurz zu erwidern.
Die Entscheidung, die sich auf den niedersächsischen
Fall bezogen hat, hat mitnichten einen Straftatenkatalog
als verfassungsrechtliche Grundvoraussetzung für eine
verfassungsmäßige Telekommunikationsüberwachung
gefordert, lieber Herr Kollege Gehb, sondern lediglich
eine ausreichende Konkretisierung der Umstände, bei
denen ein solcher Eingriff zulässig ist. Wir sind der festen Überzeugung, dass das in unserem Kriterienkatalog
richtig und ausreichend gelungen ist.
Noch schlimmer ist aber, dass in Ihrer Rede fortwährend durchscheint - das scheint Ihre Überzeugung zu
sein -, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern dieses
Staates die Grundrechte nur in dem Maße zu gewähren
bereit sind, das das Bundesverfassungsgericht als absolut unterste Marke definiert hat. Das ist Grundrechtsgewährung nach Gutsherrenart. Sie wollen nur das
beachten, was das Bundesverfassungsgericht in Abgrenzung zur Verfassungswidrigkeit als absolut notwendig
erachtet. Sie sind gegenüber den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger nicht generös. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Rechtspolitik. Jawohl,
wir gehen bewusst mit unseren Vorschlägen über das
vom Bundesverfassungsgericht als absolut notwendig
beschriebene Minimum hinaus.
({0})
Herr Kollege Gehb.
Herr Kollege Montag, uns verbindet - jedenfalls
fernab der Kameras - eine nahezu freundschaftliche Beziehung.
({0})
Ich wüsste nicht, inwiefern ich Sie eben menschlich zu
hart angepackt haben könnte. Letztens - als ich in einer
Debatte das Beispiel der Montagsautos und des MonDr. Jürgen Gehb
tagsgesprächs genannt habe - hätte ich das noch verstanden.
({1})
Heute kann ich nichts dergleichen erkennen. Wenn Sie
sich dennoch etwas zu hart angegangen gefühlt haben
- es kommt schließlich immer auf den Empfängerhorizont an -, dann bitte ich das zu entschuldigen. Das ist nie
meine Absicht. Wie Sie wissen, fröne ich dem Grundsatz
„Suaviter in modo, fortiter in re“.
({2})
Nun zur Sache, Herr Montag. Ihr „Prä“ ist: Möglichst
viel Grundrecht und damit möglichst wenig Tauglichkeit
für die strafprozessualen Ermittlungen.
({3})
Jetzt muss man als politische Partei schon den Vorwurf
ertragen, dass man sich gerade so im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewegt. Ich
könnte den Vorwurf gerade noch verstehen, wenn man
sich außerhalb dieses Rahmens bewegt hätte. Die Grenzen, die uns das Bundesverfassungsgericht gezogen hat,
sind eng genug und berühren ihrerseits fast die Grenzen
der Tauglichkeit strafprozessualer Methoden.
({4})
Wenn wir uns deshalb in diesem Rahmen bewegen, dann
ist es ähnlich wie bei der Ausnutzung einer Rechtsmittelfrist: Man kann am ersten Tag, aber auch am letzten Tag
Rechtsmittel einlegen.
Wir möchten den berechtigen Interessen Rechnung
tragen. Die Ermittlung dient übrigens auch dem Bürger
und ist eine Garantiepflicht, die dem Gesetzgeber obliegt. Wir würden den Menschen einen Tort antun, wenn
wir sie gegenüber dem organisierten Verbrechen ohne
Schutz ließen.
({5})
In der Hoffnung, dass jetzt alle Ihre Geständnisse
über Ihre persönlichen Leidenschaften nachvollziehen
konnten,
({0})
gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich werde es mir verkneifen, meine persönlichen Leidenschaften vorzutragen.
({0})
- Ja, genau. - Aber mein beruflicher Hintergrund ist in
einer solchen Debatte von Bedeutung. Wenn man sich
als jemand, der 14 Jahre als Staatsanwalt bzw. Oberstaatsanwalt in der Justiz tätig war, zu Wort meldet, dann
fließt auch der berufliche Hintergrund in die Bewertungen ein. Das ist selbstverständlich.
Zu meinen beruflichen Erfahrungen gehört, dass ich
in vielen Fällen solche Telefonüberwachungen vorgenommen und zum Teil auch an den Auswertungen teilgenommen habe.
({1})
Dadurch weiß ich, wie privat solche aufgezeichneten
Gespräche sind. Man denkt dann darüber nach, wie einem zumute wäre, wenn das eine oder andere Gespräch
aufgezeichnet worden wäre, das man selbst geführt hat.
Richtig wohl wäre einem nicht dabei.
Ich muss gestehen: Das passiert einem manchmal
sogar bei dienstlichen Gesprächen. Ich habe einmal ein
Gespräch mit einem Kollegen geführt, den wir überwachen mussten. Hinterher stellte sich nämlich heraus, dass
er, ein Dezernent zur Verfolgung der organisierten Kriminalität, von ebenjener gekauft war. Ich musste ein sehr
kritisches Gespräch mit ihm führen, weil er eine Revisionsbegründung ausgesprochen schlecht gemacht hat.
Ich muss gestehen, dass ich in diesem Gespräch sehr
deutliche Worte gefunden habe. In diesem Zusammenhang habe ich gemerkt, wie sehr man darüber nachdenkt,
wenn man hinterher erfährt, dass das Ganze aufgezeichnet worden ist. Die Sensibilität, die man da entwickelt,
hat jeder Bürger. Ich finde, dass wir gut daran tun, mit
Eingriffen in die private Sphäre, die von der Verfassung hochgehalten wird, vorsichtig umzugehen. Wir
sollten beobachten, ob der Staat in einer Weise vorgeht,
die den rechtlichen Anforderungen genügt.
Macht man eine Lagebewertung, muss man feststellen: Wir haben Nachbesserungsbedarf,
({2})
aber nicht, lieber Herr Kollege Gehb, weil die Strafverfolgung behindert werden soll. Ich persönlich bin gerne
Oberstaatsanwalt gewesen, weil ich Oberstaatsanwalt in
einem Rechtsstaat war. Es dient auch der Staatsanwaltschaft, wenn wir uns streng an das Gesetz halten.
({3})
Da die Justiz anderen vorwirft, gegen Gesetze verstoßen
zu haben, ist es umso wichtiger, dass sie sich ganz streng
an die Gesetze hält.
({4})
In den Untersuchungen verschiedener wissenschaftlicher
Institute, zum Beispiel der Universität Bielefeld oder des
Max-Planck-Instituts, ist eine Menge an Kritik deutlich
zum Ausdruck gebracht worden.
Wenn wir einen Antrag auf Genehmigung einer Telefonüberwachung beim Ermittlungsrichter gestellt haben
- auch hier fließen meine Erfahrungen in meine Rede
ein -, dann haben wir diesen Antrag so formuliert, dass
er nur noch unterschreiben musste. Es entspricht nun
einmal der menschlichen Natur, dass man eher bereit ist,
eine Unterschrift zu leisten, als wenn man noch eine eigene Arbeitsleistung erbringen müsste. Deswegen haben
wir diese Genehmigungen in aller Regel bekommen.
({5})
Herr Kollege Montag, ich muss ganz ehrlich sagen:
Nicht jeder Fehler, der in der Untersuchung der Universität Bielefeld aufgezeigt worden ist, bedeutet, dass die
Telefonüberwachung auch tatsächlich materiell rechtsfehlerhaft war. Ich zum Beispiel habe in mehreren Fällen
eine von der Polizei beantragte Telefonüberwachung abgelehnt, weil ich sie nicht für notwendig erachtet habe.
Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, das zu prüfen.
({6})
- Vielen Dank für die freundlichen Worte.
Lieber Herr Kollege Gehb, wir haben den Richter in
unserem Antrag bewusst als Kontrollinstanz vorgesehen.
Wenn das Ganze nur ein Durchlaufposten wäre, könnten
wir auf den Richter verzichten. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir - das ist unsere Auffassung - die richterliche Kontrolle stärken.
({7})
Das beabsichtigen auch Sie mit Ihrem Entwurf ganz offensichtlich. Weil es sich um den Eingriff in ein Grundrecht handelt, müssen wir nach meiner Auffassung zu einer besseren richterlichen Kontrolle kommen. Das stört
die Strafverfolgung im Übrigen überhaupt nicht.
({8})
- Bitte sehr.
Ich gehe davon aus, dass Sie, Herr Kollege van Essen,
eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb zulassen möchten.
Ja.
Bitte schön, Herr Gehb.
Herr Kollege van Essen, Sie haben in Ihrer Rede eben
nicht ganz ohne Selbstbeweihräucherung gesagt, dass
Ihre Anträge so gut waren und so ordentlich formuliert
waren, dass der Richter sie eigentlich nur noch hat unterschreiben können. Drei Sätze später haben Sie gerügt,
dass genau dieses Vorgehen zu einer unkontrollierten
Durchlaufpostenschieberei führt.
({0})
Können Sie mir das erklären? Soll der Antrag so gut
sein, dass man ihn nur noch zu unterschreiben braucht,
oder sollte man, weil man meint, man müsse es um des
Änderns willen noch ändern, mehr als die Unterschrift
unter den Antrag setzen? Ich wollte nur fragen, ob ich
Sie richtig verstanden habe. Wenn nicht, lasse ich mich
jetzt gerne aufklären.
Lieber Herr Kollege, ich weiß, dass Sie Verwaltungsrichter sind.
({0})
Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass das eine oder
andere Strafrechtliche für Sie unbekannt ist.
({1})
Es ist tatsächlich so, dass der Richter alle Anträge, die
ich gestellt habe, unterschrieben hat. Ich bin mir aber gar
nicht sicher, ob ich in all den Fällen, in denen ich den
Antrag gestellt habe, tatsächlich die richterliche Zustimmung verdient hatte. Ich persönlich war davon überzeugt, aber es gab einige Fälle, bei denen ich ehrlich sagen muss, dass wir überlegt haben, ob wir die
richterliche Zustimmung bekommen oder nicht. Wir haben sie bekommen, weil wir es dem Richter leicht gemacht haben. Darauf habe ich hingewiesen.
Ich habe zweitens darauf hingewiesen - ich unterstreiche das noch einmal -, dass es hier um einen ganz
wesentlichen Eingriff in ein Grundrecht geht. Deswegen
hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass ein Richter als zusätzliche Kontrollinstanz überprüfen soll, ob das gerechtfertigt ist. Deshalb komme ich erneut zu der Feststellung, dass wir die Routineunterschriften, die es
offensichtlich gibt, ändern müssen, sodass es eine wirkliche Kontrolle durch den Richter gibt.
({2})
Ich habe, wie Sie sehen, Vertrauen in Ihre richterlichen
Kollegen.
Ich glaube, dass an dieser Stelle ganz erheblicher
Nachbesserungsbedarf besteht.
Herr Kollege Gehb, ich fahre mit Ihnen fort. Sie haben Kritik am Gesetzentwurf der Grünen geübt. Ich
freue mich übrigens, dass wir jetzt endlich einen Gesetzentwurf haben. Wenn man als kleine Fraktion das HandJörg van Essen
werk, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, ausübt, kann
der eine oder andere Fehler passieren. Das sollten wir
- das muss ich ganz ehrlich sagen - nicht kritisieren. Dahinter steht kein großes Ministerium mit 4 000 Mitarbeitern. Das ist handwerkliche Arbeit. Ich finde, wir sollten
es anerkennen, wenn eine kleine Fraktion einen Gesetzentwurf vorlegt.
({3})
Der Gesetzentwurf war auch notwendig. Sie haben
gesagt: Jetzt wird er kommen. - Diesen Satz habe ich
schon drei Legislaturperioden lang gehört. Und der Gesetzentwurf kommt nicht.
({4})
Deshalb muss ich sagen, dass mich das außerordentlich
ärgert. Ich kann mich noch an die Anrufe vor einiger
Zeit erinnern, als ein Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium auftauchte und ich danach gefragt
wurde, was ich dazu sage. Ich antwortete: Ich sage lieber
erst gar nichts, weil ich das Gefühl habe, dass er gar
nicht eingebracht wird. Erst wenn etwas eingebracht ist,
werden Sie von mir eine Meinung dazu hören. - Bis
heute wurde nichts eingebracht. Das ärgert mich deshalb, weil wir - insofern ist die Kritik des Kollegen
Montag berechtigt - wie Weihnachtskugeln an einen
Weihnachtsbaum ständig neue Straftatbestände zu dem
Straftatenkatalog, der eine Telefonüberwachung rechtfertigt, hinzufügen.
Ich glaube trotz Ihrer Kritik, Herr Kollege Gehb, dass
der Ansatz der Grünen gut ist. Er sieht vor, dass wir von
einem Straftatenkatalog weg sollen und uns überlegen
sollen, den Bereich zu definieren, in dem eine Telefonüberwachung zulässig ist. Aus meiner Sicht ist der Ansatz bei Verbrechen und besonders schweren Vergehen
grundsätzlich richtig.
({5})
Darüber, ob man das besser formulieren kann, wird man
sich sicherlich unterhalten können. Ich bin mir ganz sicher, dass der Kollege Montag dafür offen ist.
Ich finde außerordentlich wichtig - auch das haben
die Untersuchungen gezeigt -, darauf hinzuweisen, dass
die Unterrichtung derjenigen, die von der Telefonüberwachung betroffen sind, ganz schlecht ist. Die Verpflichtung besteht, aber ich muss gestehen - das ist jetzt keine
Selbstbeweihräucherung, falls Sie wieder eine Zwischenfrage stellen wollen, sondern ganz im Gegenteil
eine kritische Bemerkung -,
({6})
dass auch ich die Pflicht zur Benachrichtigung nicht
ernst genommen habe. Ich kann mich an Fälle erinnern,
wo man die Betroffenen hätte benachrichtigen müssen
und ich nicht benachrichtigt habe. Das ist ohne Konsequenzen geblieben. Derjenige, der nicht davon erfährt,
kann sich nicht darüber aufregen. Aber wir wollen es anders. Er muss sich aufregen können. Ich finde, dass er
das Recht hat, gegebenenfalls nachprüfen zu lassen, ob
das Ganze rechtmäßig war.
({7})
In einem Punkt bin ich anderer Meinung als Sie, Herr
Kollege Montag. Die Tatsache, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt haben, dass nur bei
60 Prozent der Maßnahmen hinterher Verurteilungen erfolgt sind, wundert mich nicht. Denn dies findet im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens statt.
({8})
Das Ermittlungsverfahren dient ja gerade dazu festzustellen, ob ein Tatverdacht berechtigt ist oder nicht. Das
bedeutet, dass die eine oder andere Ermittlungsmaßnahme ins Leere geht. Ich finde eine Quote von 60 Prozent eher hoch,
({9})
wenn ich bedenke, dass etwa 70 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt werden, unter anderem, weil
sich herausstellt, dass der Beschuldigte oder die Beschuldigte unschuldig ist. Aber derjenige, der davon betroffen ist, hat einen Anspruch darauf, darüber informiert
zu werden, insbesondere deshalb, weil wir gesehen haben, wie hoch die Zahl derer ist, die betroffen sind. Die
Zahl der Betroffenen von Telefonüberwachungsmaßnahmen hat sich allein in den letzten zehn Jahren vervierfacht.
Das hat Gründe und Ursachen, zum Beispiel dass sich
die Struktur der Kriminalität verändert hat. Das ist insbesondere auf einen Umstand zurückzuführen, der nach
meiner Auffassung in der heutigen Debatte angesprochen werden muss: Die Telefonüberwachung dient häufig dem Zweck, Strukturen aufzuklären, insbesondere im
Hinblick auf die organisierte Kriminalität und vor allem
in dem Bereich, in dem es kein Anzeigeverhalten gibt, in
der Dunkelfeldkriminalität. Die größten Erfolge, die wir
nach meiner beruflichen Erfahrung bei der Telefonüberwachung gehabt haben, betreffen die Betäubungsmittelkriminalität. Diejenigen, die Betäubungsmittel kaufen,
zeigen ihren Dealer allerdings nicht an. Deswegen braucht
die Strafverfolgung ein Mittel, um auch in diese kriminellen Kreise eindringen zu können.
Für uns ist, wie gesagt, besonders wichtig, dass die
Betroffenen benachrichtigt werden. Wir werden uns
auch darüber unterhalten müssen, wie das Verfahren im
Einzelnen ausgestaltet wird. Es haben nämlich einige
technische Entwicklungen stattgefunden, angesichts derer wir feststellen müssen, dass die bloße Überwachung
des Telefonverkehrs allein nicht mehr ausreicht, sondern
dass viele zusätzliche technische Neuerungen zu berücksichtigen sind. Ich habe die Hoffnung, dass Sie in dem
Gesetzentwurf, dessen Einbringung von Ihnen, Herr
Gehb, heute erneut angekündigt worden ist, auch auf
dieses Thema eingehen.
Die Vorratsdatenspeicherung ist von Ihnen ausdrücklich erwähnt worden. Auch ich will sie ansprechen,
weil ich das Gefühl habe, dass es uns außerordentlich
schwerfallen wird, dieses Vorhaben verfassungsfest umzusetzen. Es darf uns nicht erneut passieren, dass wir
Vorgaben von der europäischen Ebene so umsetzen, dass
uns das Bundesverfassungsgericht später bescheinigt,
dass wir das nicht in einer Weise getan haben, die verfassungsfest ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositionsfraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen
machen Ihnen Beine. Wir haben keine Geduld mehr. Wir
sind der Auffassung, dass dieses Thema dringend auf
eine gute, richtige und vor allen Dingen den heutigen
Gegebenheiten genügende gesetzliche Grundlage gestellt werden muss und dabei auch die Verfassungsrechte
der Bürger geachtet werden müssen.
({10})
Wir sollten dieses Thema gemeinsam mit Ihnen angehen, und wir sollten es schnell angehen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich den
Gesetzentwurf der Grünen ansieht und wenn man die
heutige Debatte verfolgt, dann muss man sagen: Im
Grundsatz sind wir uns einig.
({0})
Es geht nur noch darum, wie wir die Bürgerinnen und
Bürger besser vor übermäßigen staatlichen Eingriffen
schützen.
({1})
Wir wollen heimliche Ermittlungsmaßnahmen wie
die Telekommunikationsüberwachung rechtsstaatlicher
regeln. Wir wollen das Zeugnisverweigerungsrecht besser sichern, und wir werden den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung auch in der Strafprozessordnung verankern.
Die Bundesregierung - das ist bereits erwähnt
worden - wird in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf
vorlegen; genauer gesagt, legen wir ihn am 18. April
dieses Jahres dem Kabinett vor. Das ist notwendig. Denn
der Gesetzentwurf der Grünen enthält zwar sehr viele
richtige Ansätze, aber nicht die Regelungen, die wir uns
vorstellen. Deswegen, Herr Montag, vielen Dank für
Ihre Nachsicht, dass Sie akzeptieren, dass wir einen eigenen Vorschlag machen.
Das, was Sie vorgelegt haben, ist nicht genau das, was
wir wollen. Sie nehmen nur punktuelle Veränderungen
bei den Vorschriften zur Überwachung der Telekommunikation vor. Nur dafür und für die Abfrage von Verbindungsdaten wollen Sie das Zeugnisverweigerungsrecht
der Berufsgeheimnisträger neu regeln. Das ist eine Fortsetzung genau des Dilemmas, das uns bereits sehr viele
Probleme eingebrockt hat. Wir meinen, wir sollten jetzt
nicht wieder an einzelnen Punkten Veränderungen vornehmen, sondern das Ganze in den Blick nehmen und
eine neue, harmonische Gesamtregelung treffen, die alle
heimlichen Ermittlungsmethoden umfasst.
({2})
Daneben brauchen wir ein Konzept zum Schutz der
Berufsgeheimnisträger gegenüber allen Ermittlungsmaßnahmen, ganz gleich, ob verdeckt oder offen.
Ein Beispiel dafür, dass Ihr Gesetzentwurf auf der anderen Seite weit über das Ziel hinausschießt, sind die
Regelungen zu den Berufsgeheimnisträgern. Das Bundesverfassungsgericht hat unter Anknüpfung an den
Kernbereichsgedanken eine absolute Schutzbedürftigkeit von Strafverteidigern und Seelsorgern anerkannt.
Das ist völlig richtig, und das wird selbstverständlich
auch beachtet werden. Für die Abgeordneten dieses
Hauses und für die Abgeordneten der Landtage lässt sich
ein solcher absoluter Schutz aus dem Gedanken des
Art. 47 Grundgesetz bzw. aus den entsprechenden Regeln der Landesverfassungen ableiten.
Für die übrigen Berufsgeheimnisträger hat Karlsruhe
dagegen mehrfach ausdrücklich festgestellt, dass ein absoluter Schutz verfassungsrechtlich nicht geboten ist.
({3})
- Möglich wohl; ich komme gleich dazu. - Hier dürfte,
das meinen wir wenigstens, das allgemeine Interesse an
einer wirksamen Strafverfolgung nicht zurückstehen.
Genau das wäre aber die Konsequenz Ihres Gesetzentwurfs, die, wie gesagt, verfassungsrechtlich nicht geboten ist.
Dieser Verzicht auf einen vernünftigen Interessenausgleich geht noch weiter: Nicht nur in der Frage, wer absoluten Schutz genießt, schießen Sie über das Ziel hinaus, sondern auch in der Frage, wie weit dieser Schutz
reicht, fehlen Differenzierungen. Sie knüpfen nicht an
die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts an, sondern stellen allein auf die Person des Berufsgeheimnisträgers ab. Was das für Folgen hätte, will ich Ihnen verdeutlichen: Angenommen, ein Rechtsanwalt führt ein
Telefongespräch, das mit seiner Rolle als Verteidiger
nichts zu tun hat. Dann wird es von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nicht erfasst. Abhören dürfte man dieses Gespräch nach Ihren Vorstellungen nicht; denn Sie
sagen: Einen Rechtsanwalt darf man nicht abhören. - Sie
knüpfen ja nur an der Person des Anwalts an. Falsch?
Frau Zypries, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein. Wenn es falsch ist, dann werden wir das im Verfahren diskutieren; das ist kein Problem.
Also nicht.
Als Zeuge aussagen über dieses Telefonat müsste der
Anwalt hingegen - er hat ja in dieser Hinsicht kein
Zeugnisverweigerungsrecht. Das, glauben wir, wäre unsystematisch. Wenn ich Sie da falsch verstanden habe,
Herr Montag, nehmen wir das gerne auf und werden das
im Verfahren erörtern.
Ein zweites Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand
wickelt seine kriminellen Drogengeschäfte über das Telefon ab, macht das aber nicht von seinem eigenen Anschluss aus, sondern von dem Anschluss der unter ihm
wohnenden Hebamme, die natürlich mit diesen Drogengeschäften gar nichts zu tun hat. Für die Hebamme bestünde kein Zeugnisverweigerungsrecht. Aber weil es
ihr Telefon ist, wäre dieses Telefon pauschal von Überwachungsmaßnahmen ausgenommen. Das kann nicht
das sein, was wir wollen.
({0})
Aber noch einmal, Herr Montag: Wenn es nicht so gemeint war, dann wird es umso eher möglich sein, dass
wir uns im Verfahren in der Sache einigen.
Wir brauchen im Gesetz eine klare Regelung dafür,
bei der Verfolgung welcher Straftaten eine Telefonüberwachung überhaupt zulässig ist; Herr Gehb hat darauf
schon angespielt. Das leistet der vorliegende Entwurf
nach unseren Vorstellungen nur eingeschränkt. Er will
nämlich die Zahl der Abhörmaßnahmen reduzieren. Tatsächlich führt er aber doch zu einer erheblichen Erweiterung der Überwachungsmaßnahmen. Das mag von Ihnen
nicht gewollt sein, es ist aber Fakt. Die vorgeschlagene
Regelung würde zur Folge haben, dass in Zukunft über
den bisherigen Straftatenkatalog hinaus bei weiteren
320 Delikten Abhörmaßnahmen zulässig wären.
({1})
Sogar bei einfachen Delikten, bei denen die Folgen
nur fahrlässig herbeigeführt werden, wollen Sie diese
Maßnahmen zulassen. Wir meinen, das ginge zu weit.
Ich vermute, dass das auch nicht die Intention der Grünen gewesen sein kann.
({2})
Es kann sich da nur um einen Irrtum handeln.
Die Telefonüberwachung nicht mehr an konkrete
Straftaten, sondern an allgemeine Kriterien zu koppeln,
ist schwierig; darüber haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode öfter diskutiert. Wir wissen seit
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum
niedersächsischen Polizeigesetz, dass die Überlegung,
solche allgemeinen Kriterien zu finden, um von der
„Hydra“ der Listung - wie Sie es genannt haben, Herr
Montag - wegzukommen, nicht mehr möglich ist. Wir
meinen, dass diese Karlsruher Entscheidung so auszulegen ist, dass wir darlegen müssen, inwieweit die Telefonüberwachung ein erforderliches und ein angemessenes Mittel ist, um eine bestimmte Straftat zu verfolgen.
Wie wollen Sie denn begründen, dass beim Tatbestand der Verleumdung oder der Zerstörung wichtiger
Arbeitsmittel eine Telefonüberwachung nötig ist? Wegen der Höhe der Strafandrohung wäre sie nach Ihrem
Entwurf in beiden Fällen zulässig. Ich glaube aber, dass
das nicht die richtige Idee ist.
Der von Ihnen vorgeschlagene Kriterienkatalog besitzt noch ein weiteres Manko - das hat Herr van Essen
angesprochen -, nämlich die Verurteilungsprognose.
Herr van Essen, ich teile Ihre Ansicht. Als ehemaliger
Staatsanwalt wissen Sie noch besser als ich, dass die
Frage, wie man am Beginn eines Ermittlungsverfahrens
sagen will, was hinterher bei der Verurteilung herauskommt, im Grunde nicht zu beantworten ist.
({3})
Wir alle wissen, dass in der Strafprozessordnung zwischen dem Ermittlungs- und dem Hauptverfahren unterschieden wird. Erst am Ende der Hauptverhandlung
kennt man alle Gesichtspunkte, die für die Strafzumessung entscheidend sind und die man gegeneinander abwägen muss. Das Motiv der Tat, die Art der Ausführung,
der Schaden, ein mögliches Geständnis und nicht zuletzt
die Person des Täters - alles muss berücksichtigt werden. Das können Sie natürlich nicht am Anfang eines Ermittlungsverfahrens, sondern erst am Ende.
Was passiert eigentlich, wenn am Ende statt der erwarteten zwölf Monate nur elf Monate herauskommen?
War die Abhöraktion dann von vornherein rechtswidrig,
oder wie wollen wir mit solchen Fällen verfahren?
({4})
Kann man dann gegen diese Maßnahme bzw. das Urteil
mit Rechtsbehelfen vorgehen?
Das alles zeigt, dass wir diese Erwägungen entweder
noch sehr viel gründlicher diskutieren müssen oder
- noch besser - doch den Entwurf der Bundesregierung
zugrunde legen sollten, der, wie gesagt, nächsten Monat
vorgelegt werden wird.
Ich meine, wir müssen mit dem Gesetz einen gerechten Ausgleich zwischen zwei widerstreitenden Interessen schaffen, nämlich zwischen dem Interesse des Einzelnen am Schutz vor übermäßigen Eingriffen des
Staates in seine Freiheit und dem allgemeinen Interesse
an einer effektiven Strafverfolgung. Ich glaube nicht,
dass man das dadurch erreicht, dass man einfach postuliert, die Zahl der Überwachungsmaßnahmen solle redu9370
ziert werden. Das ist schon deshalb verfehlt, weil es gar
kein Übermaß an Telefonüberwachung gibt.
({5})
Über dieses Thema haben wir uns hier ja schon häufiger
auseinandergesetzt.
Sie alle kennen die Studie des Max-Planck-Instituts,
in der es zu dem Schluss gekommen ist, dass die Telekommunikationsüberwachung - ich zitiere wörtlich ein wichtiges und unabdingbares Ermittlungsinstrument
ist, das in der Praxis zielgerichtet und umsichtig Verwendung findet. In dieser Studie wird auch aufgezeigt, dass
es einen Rückgang der Überwachungsdichte gibt; denn
dass die Zahlen ansteigen, liegt nicht daran - das ist die
übliche Erklärung -, dass mehr Personen überwacht
werden, sondern schlicht daran, dass die einzelnen Personen mehrere Anschlüsse haben, die überwacht werden.
({6})
- Herr Ströbele, in der Studie wird das so dargelegt, und
durch die Zahlen, die wir bei verschiedenen Kleinen und
Großen Anfragen dazu vorgelegt haben, wird das auch
belegt. Sie können jetzt sagen, dass das nicht stimmt.
Wir müssten dann diesbezüglich vielleicht einmal eine
genauere Exegese durchführen. Zumindest ist das der
Kenntnisstand, den das Justizministerium diesem Hause
seit mehreren Jahren unterbreitet.
({7})
Richtig ist allerdings - das ist schon mehrfach gesagt
worden -, dass es bei der Benachrichtigungspraxis und
bei der Kontrolle noch Defizite gibt. Wir wollen deshalb
die Benachrichtigungspflichten in dem Gesetzentwurf
ausdrücklich regeln, um das Defizit, das in dem Gutachten des Max-Planck-Instituts dargelegt wurde, zu beheben, und wir wollen den Richtervorbehalt stärken. Das
brauchen wir aber bei allen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen.
Deshalb noch einmal der Gedanke vom Anfang: Wir
sollten zusehen, dass wir ein harmonisches Gesamtkonzept schaffen. Dazu werden wir, wie angekündigt, einen
Gesetzentwurf vorlegen, in dem ein fairer Kompromiss
zwischen den berechtigten Interessen der Bürgerinnen
und Bürger an einem Nichteingriff in ihr Grundrecht und
den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger
an der Garantie ihrer Sicherheit vorgesehen sein wird.
Dass die Telefonüberwachung eine der wirksamsten Ermittlungsmaßnahmen schlechthin ist, wissen wir. Deswegen können wir gar nicht auf sie verzichten. Wir
müssen einfach nur zusehen, dass wir ihren Einsatz
sachgerecht und verhältnismäßig regeln. In diesem
Sinne - das verspreche ich Ihnen - bekommen Sie von
uns einen Gesetzentwurf.
({8})
Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Montag.
({0})
Frau Bundesministerin, da Sie mir nicht gestattet haben, eine Zwischenfrage zu stellen, will ich jetzt noch
einmal kurz zu den Punkten Stellung nehmen, die Sie an
unserem Entwurf kritisiert haben.
Das Problem des Schutzes der Berufsgeheimnisträger
können wir sicherlich im weiteren Verfahren diskutieren.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben unsere Formulierung offensichtlich missverstanden.
Sie haben aber gesagt, eine Prognose darüber, ob eine
Haftstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, sei
zu Beginn oder im Laufe eines Ermittlungsverfahrens
nicht oder nur sehr schwer möglich. Dazu kann ich nur
sagen: Eine solche Möglichkeit sieht die geltende Strafprozessordnung für einen genauso schweren oder einen
fast noch schwereren Grundrechtseingriff bereits vor,
nämlich für Freiheitsentziehung. Nach § 112 a StPO besteht schon jetzt die Möglichkeit, einen Haftbefehl gegen einen Beschuldigten zu erlassen, wenn ein Richter
die Verurteilungsprognose stellt, dass eine Haftstrafe
von mehr als einem Jahr zu erwarten ist.
({0})
Diese Prognose, Frau Ministerin, ist in der StPO schon
verankert. Wir meinen, dass eine solche Prognose auch
in den in Rede stehenden Fällen möglich sein wird.
Ein weiterer Punkt: Es ist etwas polemisch, den von
uns vorgeschlagenen neuen Ansatz sozusagen zur Hand
zu nehmen und im Sinne einer Strichliste zu überlegen,
welche Straftatbestände des Strafgesetzbuches abstrakt
darunter fallen würden. Wahrscheinlich stimmt die von
Ihnen genannte Zahl: Ihr großes und weises Haus hat die
Strichliste sicherlich sorgfältig erstellt. Aber berücksichtigen Sie bitte, dass wir einen anderen Ansatz wählen,
dass wir durch die Kriterien, die wir bestimmen, eine
Einengung vornehmen, die weiter geht als die Vorschläge Ihres Hauses und die auch klarer ist, als es diese
Vorschläge sind. Sie gehen ja sozusagen zu einer Mischung über; denn nach dem Referentenentwurf gibt es
sowohl einen Straftatenkatalog als auch ein Kriterium,
das sozusagen darüber hinausgeht. Im Entwurf steht,
dass über das Kriterium des Straftatenkatalogs hinaus
nur diejenigen Fälle infrage kommen, die „im Einzelfall
schwer wiegen“. Wir wollen uns auf diese schwammige
Formulierung „im Einzelfall schwer wiegen“ nicht verlassen. Wir wollen vielmehr, dass im Gesetz festgeschrieben wird, dass eine Straferwartungsprognose von
mindestens einem Jahr getroffen werden muss. Diese
Fälle wiegen nämlich wirklich schwer.
({1})
Frau Zypries, möchten Sie reagieren?
Herr Montag, zum Thema Haftstrafe von mindestens
einem Jahr: Mir liegt der Gesetzestext nicht vor, aber
meiner Erinnerung nach geht es auch noch um weitere
Kriterien. Es geht nicht nur um die Frage, ob eine Haftstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist.
({0})
Aber es ist wenig sinnvoll, weiter in dieser Form zu diskutieren, wenn der Gesetzestext nicht vorliegt.
({1})
- Genau. - Herr van Essen sagt, Sie hätten Äpfel mit
Birnen verglichen.
Ich bin gerne gewillt, mit Ihnen über das andere von
Ihnen angesprochene Thema zu diskutieren. Wir haben
das in der letzten Legislaturperiode schon getan; das
muss man ja nicht verheimlichen. Es geht in der Tat darum, eine vernünftige Regelung zu finden, da bin ich
ganz bei Ihnen.
Aber die Frage, ob das nach der Karlsruher Entscheidung zum niedersächsischen Polizeigesetz überhaupt
noch zulässig ist, beantworte ich offenbar anders als Sie,
nämlich sehr viel strenger. Es geht nämlich nicht nur um
die Frage, was man gerne hätte, sondern darum, was verfassungsrechtlich zulässig ist. Darüber sollten wir noch
einmal eine gesonderte Auseinandersetzung anhand des
Gesetzestextes führen.
({2})
Jetzt erteile ich der Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über ein Thema, das jede Bürgerin und jeden
Bürger betreffen kann. Es sind nicht nur Schwerkriminelle, deren Telefone abgehört werden. 35 000 neue Anordnungen ergingen allein im Jahre 2005, und jährlich
werden es leider mehr. Steigerungsraten von 600 Prozent
in den letzten zehn Jahren sind wahrlich Spitzenleistungen. Aber es sind extrem zweifelhafte, Frau Ministerin.
({0})
Denn betroffen sind auch Menschen, die, ohne es zu wissen, mit Verdächtigen telefonieren oder von abgehörten
Apparaten aus angerufen werden. Auf 1,5 Millionen
Menschen hat das Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht die Gesamtzahl der Betroffenen geschätzt. Das sind 1,5 Millionen Grundrechtseingriffe.
Die Telefonüberwachung widerspricht klaren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Es hat im
März 2004 den großen Lauschangriff, also das Abhören
von Wohnungen, kassiert. Die im Urteil dargelegten
Grundsätze gelten auch für die Telefonüberwachung.
Aber sie werden leider nicht umgesetzt. Nun wird sogar
der Ruf laut, Telefonüberwachungen auf bloßen Verdacht zu erlauben. Herr Schäuble plant sogar sogenannte
Onlinedurchsuchungen. Was technisch geht, will die Regierung umsetzen, und zwar ohne Rücksicht auf die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger.
({1})
Die Flut der Telefonüberwachungen schwemmt die
rechtsstaatlichen Vorschriften regelrecht hinweg. Erstens. Die Überwachungsanträge müssen eigentlich
richterlich überprüft werden. Das ist der entscheidende
Punkt, Herr Gehb. Aber meistens wiederholen die Richter nur das, was ihnen der Staatsanwalt auf den Tisch gelegt hat.
({2})
- Hören Sie genau zu! - In einer Studie der Wissenschaftler Otto Backes und Christoph Gusy heißt es:
Das Material der Staatsanwaltschaft belässt der
Richter in 25 % der Fälle fehlerhaft, wie es ist, etwa
jeden zehnten Antrag bringt er auf gesetzeskonformen Stand, oder aber er produziert selbst fehlerhafte Beschlüsse ({3}).
({4})
Herr Gehb, das heißt, die Anträge werden heutzutage
nicht einmal ordentlich geprüft. Das wäre aber das Mindeste.
Zweitens. Der Rechtsschutz wird übergangen. Wer
abgehört wird, muss anschließend informiert werden,
damit er oder sie sich vor Gericht wehren kann. Aber in
zwei Drittel der Fälle werden diese Informationen nicht
weitergegeben, wie Herr van Essen bereits dargelegt hat.
Drittens. Die Überwachungen sind häufig unverhältnismäßig. Im Bereich der Kapitalverbrechen sind laut
Max-Planck-Institut nur rund 30 Prozent der Maßnahmen erfolgreich. Wir, die Linke, meinen dazu: Es wird
viel zu viel abgehört und fehlerhaft geprüft. Diese Entwicklung muss rückgängig gemacht werden.
({5})
Das Neue und das Entscheidende des Urteils zum
großen Lauschangriff ist: Jede Bürgerin und jeder Bürger hat einen Anspruch darauf, dass er oder sie im Kernbereich der privaten Lebensgestaltung von staatlichen
Maßnahmen verschont bleibt. Jeder hat ein Recht auf
Privatsphäre. Das gilt für die eigene Wohnung und
natürlich auch für Telefongespräche mit den engsten Familienangehörigen. Das wollen Sie offensichtlich nicht
wahrhaben. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht
erklärt: „Die Privatsphäre hat privat zu bleiben“, dann
muss das von diesem Haus respektiert und gesetzlich
umgesetzt werden.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht nicht jede Abhörmaßnahme für unzulässig erklärt. Aber es hat Hürden
aufgestellt. Diese werden dauernd unterlaufen. Eines ist
klar: Wenn man schon den Grundrechtsschutz für Tatverdächtige aufhebt, dann muss sich das auf Einzelfälle
beschränken, zum Beispiel auf Kapitalverbrechen, auf
die Höchststrafen von fünf Jahren und mehr stehen. Die
Praxis sieht mit über 42 000 Abhörgenehmigungen allein im Jahr 2005 leider ganz anders aus. So viele Kapitalverbrechen gibt es in Deutschland nun wirklich nicht.
Wer Hanfpflanzen anbaut oder verkauft, wird heutzutage
genauso abgehört wie der Waffenschieber, der am Massenmord verdient oder ihn vorbereitet. Hier muss das
Gesetz gründlich entrümpelt werden.
Meine Damen und Herren, nötig wäre endlich eine
Gesamtreform; die Ministerin hat sie heute angekündigt.
Ob Telefone oder Wanzen in Wohnungen: Der Schutz
der Privatsphäre - das kann man nicht oft genug wiederholen - muss gewahrt bleiben.
({6})
- Das ist unsachlich.
({7})
Doch was die Grünen hier vorlegen, ist unserer Meinung nach eine bürgerrechtliche Kapitulationserklärung,
Herr Montag.
({8})
Viele Punkte, die Sie in Ihrem Beitrag hier vorgetragen
haben, teile ich voll, aber Ihre Lösung geht unseres Erachtens am Kern der Probleme vorbei.
({9})
Die Unverhältnismäßigkeiten bei den Überwachungsanordnungen bleiben bei Ihnen bestehen. Sie wollen auch
künftig Straftaten abhören lassen, die definitiv keine Kapitalverbrechen sind. Das wird mit uns nicht gehen.
Dagegen enthält der FDP-Antrag einige wichtige
Punkte. Sie sagen zum Beispiel, man könne nicht immer
neue Überwachungsmethoden austüfteln, ohne die alten wenigstens auf ihre Wirksamkeit überprüft zu haben.
Dem stimmen wir voll zu.
({10})
Auch die Forderung nach einer gründlichen Auswertung der Überwachungen und nach einer Berichtspflicht der Bundesregierung teilen wir voll. Wenn es
darum geht, Bürgerrechte wiederherzustellen, dann arbeiten wir daran gerne mit. Wie Herr van Essen sagte:
Auch wir sind bereit, der Regierung Beine zu machen.
Danke schön.
({11})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich beginnen mit zwei Zitaten,
die vielleicht deutlich machen, in welchem Spannungsfeld wir uns heute bewegen:
Wenn wir angegriffen und getötet werden, dann
werdet ihr definitiv - mit Allahs Erlaubnis - angegriffen und getötet.
Das war das erste Zitat. - Das zweite:
Art. 10 GG … gewährleistet die freie Entfaltung
der Persönlichkeit durch einen privaten, vor der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Kommunikation und schützt damit zugleich die Würde des
Menschen.
Das erste Zitat ist entnommen aus der Ihnen vielleicht
bekannten jüngsten Terrordrohung, die per Videobotschaft an uns alle in Deutschland gerichtet wurde. Das
zweite Zitat ist ein Auszug aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - hier schon zitiert - vom Mai 2005
zur Telekommunikationsüberwachung. Diese beiden Zitate zeigen das Spannungsfeld auf, in dem wir uns bewegen: Der staatliche Schutz des Bürgers vor terroristischer
Bedrohung ist das eine, der Schutz des Bürgers vor einer
totalen staatlichen Telefonüberwachung des privaten Bereichs ist das andere.
Nun haben wir bereits gehört - Herr Montag hat damit begonnen, Frau Jelpke hat das fortgesetzt -, wie die
Statistiken zu bewerten sind. Frau Zypries hat die Zahlen
anhand des Gutachtens bereits sehr stark relativiert. Wir
sollten kein Zerrbild der derzeitigen Telefonüberwachungsstatistik malen,
({0})
sondern wir sollten die Wirklichkeit wiedergeben und
sagen, was sich hinter den Zahlen verbirgt.
({1})
Weil wir heute am Beginn einer ganz grundsätzlichen
Debatte stehen, bei der es nicht nur um dieses Gesetz, also
um das Thema Telefonüberwachung, geht, sondern um
eine Reform der gesamten Sicherheitsgesetze - im repressiven wie auch im präventiven Bereich -, und weil es darum geht, nicht nur verdeckte Ermittlungen am Telefon,
sondern auch Online- und Wohnraumuntersuchungen neu
zu überdenken, möchte ich etwas weiter ausholen.
Natürlich muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wohnraumüberwachung von uns
beachtet werden. Wir müssen aber auch zur Kenntnis
nehmen, dass sie faktisch derzeit so gut wie keine Rolle
mehr in Deutschland spielt. Wir müssen uns also fragen:
Welchen Spielraum lässt uns das BundesverfassungsgeDr. Hans-Peter Uhl
richt? Ist er durch die derzeit geltende Gesetzeslage voll
ausgeschöpft oder kann man weiter gehen? - Wir werden als Verfassungsgeber Bundestag Verantwortung zeigen müssen, wenn es darum geht, Gesetze zum Schutz
der Bürger vor Mord und Todschlag, vor terroristischer
Bedrohung zu formulieren. Das ist verantwortungsvolles
Handeln.
Es wird natürlich auch der Schutz der Menschenrechte zu beachten sein, wie er vom Verfassungsgericht
formuliert wurde. Aber verantwortungsvoll handelt nicht
der, der aus alter Ängstlichkeit um seine Juristenehre vor
Karlsruhe zurückschreckt und gar nichts ändern will, sondern verantwortungsvoll handelt der, der die Möglichkeiten auslotet und die Gesetze fortschreibt, um der aktuellen Bedrohung in Deutschland begegnen zu können.
({2})
Wir werden also ganz generell unsere Sicherheitsgesetze überprüfen müssen. Dabei dürfen wir weder Wohnraumüberwachung noch Telefonüberwachung noch
Onlinedurchsuchungen zum Tabu erklären. Diese Maßnahmen können lebensrettende Funktion haben. Am
9. November 2003 fand in München die Grundsteinlegung der neuen Hauptsynagoge statt. Zu diesem Anlass
trafen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der
damalige Bundespräsident Rau, der damals noch lebende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Herr
Spiegel, und viele andere mehr. Neonazis und Rechtsextremisten wollten an diesem Tag der Grundsteinlegung
der neuen Hauptsynagoge die Gäste mit allen anwesenden Personen in die Luft sprengen. Es war der Wohnraum-überwachung und anderen Ermittlungstätigkeiten
zu verdanken, dass bei den Neonazis im Vorfeld
1,7 Kilogramm TNT-Sprengstoff gefunden wurde und
dieser Anschlag verhindert werden konnte. Ich sage damit: Die Maßnahmen, über die wir heute reden, können
lebensrettende Funktion haben.
({3})
Bei dem Thema, um das es hier geht - Telekommunikationsüberwachung in der richtigen Dosis und im Spannungsfeld mit den Grundwerten, die wir natürlich beachten wollen -, werden wir einige technische Regelungen
finden müssen. Eine ununterbrochene automatisierte
Aufzeichnung der Gesprächsinhalte ist zur Sicherstellung des Schutzes des Kernbereichs privater Lebensführung und für die Erhaltung zulässiger Daten dringend
notwendig. Nur in seltenen Fällen findet Telefonüberwachung live statt. Aber auch dann, wenn sie live stattfindet, sollten wir dafür sorgen, dass eine automatisierte
Aufzeichnung erfolgt, und zwar schon deswegen, weil
die Gespräche häufig in ausländischen Sprachen geführt
werden und die Dolmetscher im Nachhinein bei der
Übersetzung gemeinsam mit dem Richter differenzieren
müssen, was Ausdruck des Kernbereichs privater Lebensführung ist und was für die jeweiligen Tätigkeiten
des Staates, seien es präventive Maßnahmen, sei es repressive Strafermittlung, verwendet werden soll. Das
heißt, wir wollen das Richterband zur Überprüfung der
Verwertbarkeit haben.
Die Kritik, die wir aus der Praxis hören - wir alle haben Gespräche mit Praktikern der Telefonüberwachung
geführt -, ist überzeugend. Eine ausufernde Benachrichtigungspflicht sollte vermieden werden. Herr van
Essen hat bereits gesagt, dass er zu wenig Benachrichtigung festgestellt hat. Ich meine, es kann auch zu viel
sein. Wir müssen den Mittelweg finden. Völlig praxisfern wäre es, jeden einzelnen von Ermittlungsmaßnahmen Betroffenen zu benachrichtigen. Ich denke an den
Geschäftsmann, der möglicherweise zu Unrecht verdächtigt wurde. Wollte man alle seine Gesprächspartner
benachrichtigen, hätte dies eine massive geschäftsschädigende Wirkung.
({4})
- Es ist gut zu hören, dass auch Sie das nicht wollen. Benachrichtigt werden muss also derjenige, gegen den
sich die Maßnahme richtet, und diejenigen, deren Daten
erhoben und deren Gesprächsinhalte verwertet wurden.
Das ist unsere Position.
({5})
- Herr Montag, ich bitte Sie, bei Ihren zukünftigen Äußerungen zu dem Thema, insbesondere wenn Sie sich
auf Statistiken beziehen, die Worte der Justizministerin
zur Kenntnis zu nehmen, den Vorwurf eines überproportionalen Anstiegs von Überwachungsmaßnahmen fallen
zu lassen und zur Kenntnis zu nehmen, wie die Dinge
wirklich liegen.
Wir müssen Telekommunikationsüberwachung dort
anwenden, wo sie erforderlich ist: bei schweren Straftaten wie organisierter Kriminalität, Mord, Totschlag,
Rauschgiftdelikten, islamistischem Terrorismus. Wenn
Sie die Statistik genau anschauen, erkennen Sie, dass
90 Prozent der Telefonüberwachung in genau diesen Bereichen stattfindet.
({6})
- Ja, natürlich. Es geht hauptsächlich auch um Drogendelikte.
({7})
Die veränderte Bedrohung unserer Welt durch globalisierte terroristische Gewalt kann nicht mit den herkömmlichen Mitteln bekämpft werden. Wir brauchen
eine umfassende Sicherheitsstrategie. Wir brauchen wirksame verdeckte Ermittlungsmaßnahmen, natürlich unter
Beachtung des Schutzes unserer Individualgrundrechte.
Das heißt, wir brauchen keinen Überwachungsstaat - die
Linke könnte uns übrigens mehr darüber berichten, wie er
funktioniert -,
({8})
sondern einen starken Staat, der seine Bürger vor Mord
und Totschlag schützen kann.
Danke schön.
({9})
Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele das
Wort für das Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Uhl, Sie hätten über Terrorismusbekämpfung und den Einsatz von Telefonüberwachung in
diesem Bereich nicht zu reden brauchen, weil unsere Positionen da überhaupt nicht auseinanderliegen. Das fällt
sowohl nach geltendem Recht als auch nach dem Vorschlag der Bundesregierung und nach unserem Vorschlag selbstverständlich in den Bereich der Telefonüberwachung; darüber streitet sich niemand. Das ist das
Erste.
Zweitens. Frau Kollegin, Sie haben unseren Entwurf
offenbar nicht gelesen. Sie fordern, dass die Telefonüberwachung auf die Verfolgung von Kapitaldelikten
beschränkt wird. Genau das steht in unserem Gesetzentwurf: Telefonüberwachung darf immer nur dann stattfinden, wenn der Verdacht vorliegt, dass es sich um ein Verbrechen oder „um eine schwere, im Unrechtsgehalt
einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt“ - so
steht es in unserem Gesetzentwurf -, in allen anderen
Fällen nicht. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf gelesen
hätten, dann wüssten Sie, dass wir Telefonüberwachung
auf ganz schwere Fälle, die, was die Wertigkeit angeht,
Kapitaldelikten gleichkommen, beschränken wollen.
({0})
- Doch, natürlich. Soll ich es Ihnen vorlesen? Ich zitiere:
… im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt.
Das steht in § 100 a Abs. 3 letzter Halbsatz unseres Gesetzentwurfs.
({1})
- Nein:
… im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt.
({2})
Jetzt darf ich aber weiterreden.
Die Frage, ob man die Anzahl der im Gesetz aufgeführten Straftatbestände erhöht - bisher sind es 100; Sie
haben offenbar vor, diese Anzahl auf 105, 110 oder 120
zu erhöhen - oder ob man im Gesetz eine Generalklausel verankert, wie wir es in unserem Gesetzentwurf getan haben, war unter Rot-Grün zuletzt gar nicht mehr
strittig. Ich erinnere mich daran, dass sowohl die Ministerin als auch der verehrte Kollege Stünker in den letzten
Verhandlungen, die wir kurz vor Ende der rot-grünen
Koalition geführt haben, heftig versucht haben, uns einzureden, dass es bei dieser Generalklausel bleiben soll.
({3})
Auch weil wir eingesehen haben, dass das die bessere
Lösung ist, haben wir das in unseren Gesetzentwurf aufgenommen.
({4})
Jetzt sage ich Ihnen, warum dieser Ansatz so gut ist.
Wenn im Gesetz Straftaten aufgezählt sind, gehen
Staatsanwalt und Richter der Frage, ob sie Telefonüberwachung im Einzelfall zulassen, in der Form nach, dass
sie schauen, ob die mögliche Straftat in einem der Paragrafen des Gesetzentwurfs aufgezählt ist. Ist das der Fall,
dann ist das Rennen schon fast gelaufen: Staatsanwalt
und Richter stellen fest, dass die mögliche Straftat unter
diese Regelung fällt, weswegen Telefonüberwachung
zuzulassen ist. - Das wollen wir in Zukunft verhindern.
Wir wollen, dass sich der Staatsanwalt - zum Beispiel
Herr van Essen, wenn er wieder Staatsanwalt ist - oder
der Richter, bei dem er den Antrag stellt, ganz ernsthaft
Gedanken darüber macht, wie schwer diese Straftat
wiegt. Ist das eine Straftat, die schon nach den ihm bekannten äußeren Umständen eine Straftat ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft
wird? Nur dann, nur in ganz schwerwiegenden Fällen
soll eine Telefonüberwachung angeordnet werden können. Dann darf sie beantragt und angeordnet werden.
Das ist der bessere Weg.
Das führt dazu - davon gehen wir aus -, dass Telefonüberwachung in Zukunft nicht in etwa 50 000 Anordnungsfällen pro Jahr stattfindet, wie es derzeit der Fall
ist, sondern dass die Zahl wesentlich gesenkt wird. Ich
habe einmal gesagt: Ich wünsche mir, dass das mindestens um ein Drittel heruntergeht.
Der zweite wesentliche Punkt ist für uns - den will
ich hier noch hinzufügen -: Wir haben eine Reihe von
Verfahrenssicherungen eingebaut, die sicherstellen,
dass das in Zukunft auch eingehalten wird. Wir verlangen von den Richtern, dass sie ihre Entscheidungen, das
so zu subsumieren, in jedem einzelnen Fall ganz konkret
begründen. Wir erwarten von den Staatsanwälten, die
das dann durch ihre Ermittlungsbeamten anwenden lassen, dass sie die Richter auch darüber unterrichten, was
aus der Telefonüberwachung geworden ist, damit die anordnenden Richter später gegebenenfalls sagen können:
Oh, da sind wir zu weit gegangen. Da haben wir uns zu
viel einreden lassen. Das werden wir in Zukunft anders
machen.
Wir verlangen ganz konsequent, anders als der Kollege Uhl, dass alle, die als Anschlussinhaber davon betroffen gewesen sind, benachrichtigt werden. Die
1,5 Millionen, die möglicherweise unschuldig in diese
Maßnahme hineingekommen sind, die überwacht worden sind, deren Lebensbeichte festgehalten worden ist,
bei denen am Telefon überwacht worden ist, wenn sie ihr
Herz ausgeschüttet haben, können nicht benachrichtigt
werden, weil das technisch kaum durchführbar ist. Aber
alle, gegen die sich die Maßnahmen konkret gerichtet
haben, also die Anschlussinhaber, sollen benachrichtigt
werden - ohne Ausnahme. Wenn das Gericht das aus objektiven Gründen nicht gleich für tunlich oder für nicht
zu rechtfertigen hält, dann soll das höchste jeweilige
Landesgericht, also das Oberlandesgericht, darüber entscheiden, ob ein so seltener Fall vorliegt, dass eine Überwachungsmaßnahme über 18 Monate hinaus nicht mitgeteilt wird.
({5})
Davon erhoffen wir uns eine wesentliche Senkung der
Anzahl der Telefonüberwachungen. Man kann stolz darauf sein, dass man in einzelnen Bereichen Weltmeister
ist - das ist jetzt mein letzter Satz -, aber es gibt Weltmeistertitel, die ich der deutschen Bevölkerung nicht
weiter zumuten möchte. Dass wir Weltmeister im Abhören sind, muss nicht sein; von diesem Titel sollten wir
uns verabschieden. Wir sollten die Zahl hier deutlich
senken.
({6})
Jetzt erhält Klaus Uwe Benneter das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen haben hier zu Recht
einen Missstand aufgegriffen. Der ist aber schon lange in
der Diskussion. Die FDP rennt mit ihrem Antrag offene
Scheunentore ein; das wissen auch Sie, Herr van Essen.
Zu erkennen ist in Ihrem Entwurf - ich erkenne das
jedenfalls - die gemeinsame rot-grüne Handschrift
({0})
- am Freitag, eine Woche vor Ostern, lassen wir die
Sehnsüchte mal zurückstehen -, wenn es darum geht,
den Rechtsschutz bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen zu harmonisieren und zu stärken, die Regelungen
zur Verwendung von aus solchen Maßnahmen erlangten
personenbezogenen Daten zu harmonisieren und zu ergänzen und die besondere Schutzwürdigkeit von Berufsgeheimnisträgern hervorzuheben. Das sind gemeinsame
rot-grüne Anliegen gewesen. Ich denke, dass wir uns
auch hier und heute noch dazu bekennen können.
Richtig ist: Es gibt einen Trend zur Ausweitung, einen Trend zur Zunahme der Zahl solcher Ermittlungsmaßnahmen. Aber, Herr Kollege Ströbele, das hat
nichts mit irgendwelchen Weltmeisterschaften zu tun.
Wir sind hier nicht Weltmeister. Die Anzahl der Anschlüsse - nicht die Anzahl der Anschlussinhaber - hat
sich merklich erhöht. Die Zunahme bei den Telekommunikationsüberwachungen betrifft insbesondere den Mobilfunk-, den Internet- und den E-Mail-Bereich. Das gab
es früher nicht. Wenn Sie jetzt nur auf das Jahr 2005
schauen, dann ist das, denke ich, zu kurz gegriffen.
Die Möglichkeiten im Zuge neuer Kommunikationsmittel sind immens gestiegen, logischerweise auch bei
den Kriminellen. Da wollen staatsanwaltschaftliche und
polizeiliche Ermittler nicht hinterherhinken und richten
ihre Bekämpfungsstrategien entsprechend aus. Zu verzeichnen ist auch eine Zunahme der Zahl von Betäubungsmitteldelikten. Auch das korrespondiert mit einer
entsprechenden Zunahme von verdeckten Abhörmaßnahmen.
Zu Recht weisen die Grünen in ihrem Entwurf darauf
hin, dass jede solche Maßnahme einen schwerwiegenden
Eingriff in Grundrechtsbereiche darstellen kann, nicht
nur in das Post- und Fernmeldegeheimnis, sondern auch
in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung;
auch die allgemeinen Persönlichkeitsrechte sind regelmäßig betroffen.
Sie wissen: Wir haben schon längst vor, ein stimmiges Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmethoden zu schaffen. Es hätte also Ihres Entwurfs gar nicht bedurft.
({1})
- Sie haben doch gehört: Er soll am 18. April kommen.
So lange werden Sie auch noch abwarten können.
({2})
Keiner soll gehindert werden, vernünftige Vorschläge
zu machen. Was Sie allerdings hier abgeliefert haben,
berücksichtigt weder den Diskussionsstand in der Wissenschaft noch die Bedürfnisse in der Praxis noch die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
({3})
Das, was Sie vorschlagen, ist zu einfach und zu opportun, wenn nicht gar zu opportunistisch: Sie wollen sich
zum Sprachrohr der Journalisten machen.
Gerade in der „Cicero“-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht deutlich hervorgehoben, dass
Journalisten keinen absoluten Schutz vor strafrechtlicher
Verfolgung für sich beanspruchen können.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht sagt ausdrücklich:
Die Bestimmungen der Strafprozessordnung mit
ihrer prinzipiellen Verpflichtung für jeden Staatsbürger, zur Wahrheitsfindung im Strafverfahren
beizutragen und die im Gesetz vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen zu dulden, sind … als allgemeine Gesetze anerkannt …
Sie gelten auch für Journalisten. Deshalb bleibt es dabei:
Die Verfassung gebietet es nicht, Journalisten generell von strafprozessualen Maßnahmen auszunehmen …
({5})
Insofern hat die Bundesministerin recht: Wir haben
hier nicht das unterste Level gewählt, sondern das, was
in diesem Bereich zulässig ist. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner „Cicero“-Entscheidung
klargestellt.
Herr Kollege, wünschen Sie sich eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Immer.
Bitte schön.
Herr Kollege Benneter, stimmen Sie mir zu, dass
Journalisten schon nach geltendem Recht durchaus anders behandelt werden als die Normalbürgerinnen und
-bürger? Das geschieht aus gutem Grund - nicht weil das
so nette Leute sind -: Es hängt mit ihrer Arbeit zusammen; die Bevölkerung muss darauf vertrauen können,
dass die Vertraulichkeit der an die Journalisten gegebenen Informationen gewahrt bleibt. Die Journalisten haben zum Beispiel ein Zeugnisverweigerungsrecht, das
weit über das hinausgeht, was für die Bürgerinnen und
Bürger normalerweise gilt. Wir wollen es lediglich in der
Konsequenz auf die Telefonüberwachung ausdehnen.
Das Bundesverfassungsgericht sagt keineswegs, das
dürfe oder solle nicht sein; es hat lediglich festgestellt,
das müsse von Verfassungs wegen nicht unbedingt sein.
Was Sie sagen, ist richtig. Ich habe nichts anderes behauptet. Das Zeugnisverweigerungsrecht, das die Journalisten haben, soll auch in Zukunft geschützt bleiben,
natürlich auch in diesem Bereich, bei der Telekommunikationsüberwachung; das ist klar. Hier ging es um die
Frage, ob es einen absoluten Schutz für Journalisten geben soll. Einen solchen sehen Sie in Ihrem Gesetzentwurf vor.
({0})
- Ich habe es als opportunistisch dargestellt, wie Sie sich
den Journalisten an den Bauch werfen.
({1})
Sie wissen: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum niedersächsischen Gesetz über
die öffentliche Sicherheit und Ordnung an mehreren
Stellen darauf hingewiesen, dass nur eine besondere
Auswahl von Straftaten es zulässt, eine Telekommunikationsüberwachung zu veranlassen, und deshalb entsprechende gesetzgeberische Konsequenzen gefordert. Das
heißt, das Anliegen, das Sie hatten und das wir ursprünglich geteilt haben,
({2})
kann aufgrund der neuesten Verfassungsrechtsprechung
so nicht mehr verfolgt werden.
({3})
Sie müssen die neuesten Erkenntnisse mit berücksichtigen.
Bei der Auswahl der Straftaten darf nicht auf eine abstrakte Strafandrohung abgestellt werden, sondern muss
das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter im Vordergrund stehen. Auch im Hinblick auf das nicht vorhersehbare Risiko, dass bei einer Überwachung Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung
erfasst wird, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass
dieses Risiko nur bei einem besonders hohen Rang des
gefährdeten Rechtsgutes hinzunehmen ist. Insofern müssen die Rechtsgüter entsprechend normiert werden.
({4})
- Nein, eben nicht.
Unter Berücksichtigung dieser Maßgabe ist eine vorrangig an der Höhe der Strafandrohung orientierte abstrakte Bestimmung von materiellen Kriterien, wie von
Ihnen vorgesehen, im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklich. Nichts
anderes hat Ihnen die Justizministerin hier vorgehalten.
Sie hat beim Nachzählen sogar festgestellt, dass Sie
- das war uns damals nicht bekannt - die Telekommunikationsüberwachung auf 320 zusätzliche Straftatbestände des Strafgesetzbuches und des Nebenstrafrechts
ausweiten wollen. Diese Überwachungswürdigkeit erscheint doch wirklich mehr als fragwürdig.
Ein Eingrenzungskriterium ist für Sie die Verurteilungsprognose. Herr Kollege van Essen hat schon darauf
hingewiesen, dass das kein geeignetes Eingrenzungskriterium sein kann, gerade weil zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens, wenn noch alles offen ist, die Abhörmaßnahmen unter Umständen mit dazu dienen sollen,
die Unschuld eines Betroffenen nachzuweisen,
({5})
um das Verfahren dann sehr schnell einstellen zu können. Das hindert uns, die Verurteilungsprognose als Eingrenzungskriterium zu übernehmen.
Wie gesagt, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf in der
Pipeline, wie man so schön sagt.
({6})
- Für den 18. April ist die Aufhebung der „Verstopfung“
angekündigt. Spätestens dann wird sich das Kabinett damit befassen. In diesem Referentenentwurf wird dem
ganz konkreten Änderungsbedarf Rechnung getragen,
der sich aus den technologischen Entwicklungen, den
letzten Verfassungsgerichtsentscheidungen, den Schwierigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, den Vorgaben
des Übereinkommens des Europarates über die Computerkriminalität und der EU-Richtlinie über die Speicherung von Kommunikationsdienstedaten ergibt. Herr
Montag, wenn Sie diesen Entwurf sehen, werden Sie
sich bei Herrn Gehb entschuldigen müssen.
({7})
Das ist keine untere Messlatte, sondern exakt das, was
uns gerade die letzten Verfassungsgerichtsentscheidungen vorgegeben haben.
Wir werden das Recht der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen einer umfassenden Überarbeitung unterziehen. Unter Wahrung der bisherigen
verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und der grundrechtssichernden Ausgestaltung werden wir die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen harmonisieren und
den ganzen Regelungskomplex übersichtlicher und
rechtsstaatlichen Geboten entsprechend gestalten, zugleich aber auch den praktischen Erfordernissen Rechnung tragen.
Auch den neuesten technischen Entwicklungen werden wir gerecht werden. Gerade bei der Bekämpfung
von schwer ermittelbarer Kriminalität sowie Transaktions- und Wirtschaftskriminalität und insbesondere bei
Straftaten, die unter Nutzung moderner Kommunikationstechnologien begangen werden, sind die verdeckten
Ermittlungsmaßnahmen ein wirksames Instrument, das
wir übersichtlicher und normenklarer gestalten werden.
Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Durch die Kennzeichnung der durch verdeckte
Ermittlungsmaßnahmen erlangten Erkenntnisse wird sichergestellt, dass die für die eingriffsintensiven verdeckten Ermittlungsmaßnahmen geltenden Beschränkungen
beachtet werden. Auch das erscheint uns ganz wichtig.
Was die nachträgliche Benachrichtigung angeht: Auch
da werden Sie in diesem Entwurf all das wieder finden,
was wir schon unter Rot-Grün haben wollten und was
wir jetzt in die Praxis umsetzen.
Wichtig ist auch: Die Umwidmung der durch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen erlangten Daten zur Verwendung als Beweismittel in anderen Strafverfahren
wird durch restriktive Normen erschwert.
Wie gesagt, der Katalog der Anlassstraftaten wird
systematisch neu geordnet, inhaltlich überarbeitet und
dann im Einzelfall auf schwere Straftaten beschränkt.
Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
wird entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch bei der Telekommunikationsüberwachung gewährleistet. Erst recht gilt dies, wenn sich
diese Überwachung faktisch als eine Onlineüberwachung herausstellen sollte. Auch da gilt es, den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen.
Genereller Vorrang der schutzwürdigen Interessen
zeugnisverweigerungsberechtiger Personen, etwa im
Falle von Pressemitarbeitern, gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse lässt sich, wie ich schon dargestellt
habe, verfassungsrechtlich nicht begründen. Diese
Zeugnisverweigerungsrechte von Presseangehörigen
haben keinen unmittelbaren Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung. Deshalb geht es hier nur um die
Funktionsfähigkeit dieser Institutionen. Die Presse ist
ein wichtiges Organ, wenn es darum geht, zu informieren,
zu kommunizieren und damit zur Stärkung der Demokratie beizutragen.
Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist bei
der Schaffung von Regelungen, die die Ermittlung des
wahren Sachverhalts gefährden und damit zu ungerechten, weil materiell unrichtigen Verfahrensergebnissen
führen können - das wäre der Fall, wenn den Pressemitarbeitern ein umfassender Schutz gewährleistet würde -,
besondere Zurückhaltung geboten.
Eine wirksame Strafverfolgung im Interesse einer
umfassenden Wahrheitsermittlung und die Aufklärung
von schweren Straftaten sind auch ein ganz wesentlicher
Auftrag des Rechtsstaates. Nicht nur die Rechte von
Pressemitarbeitern zu wahren, sondern schwere Straftaten
aufzuklären, ist dem Gesetzgeber aufgegeben. Er hat daher
bei der Prüfung der Gewährung eines absoluten Vorrangs
bestimmter Interessen gegenüber anderen wichtigen
Gemeinschaftsgütern den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege Rechnung zu tragen.
({8})
Herr Kollege Montag, Sie müssen auch noch folgenden
Punkt berücksichtigen. Mit Regelungen, die die Wahrheitsermittlung beschränken, werden nicht nur die Möglichkeiten für die Strafermittlungsbehörden, sondern natürlich
auch die Möglichkeiten für die Betroffenen selbst eingeschränkt, ihre Unschuld zu beweisen und einen gegen sie
erhobenen Verdacht auszuräumen. Das können solche
Maßnahmen ebenfalls bewirken. Insofern müssten auch
Sie ein Interesse daran haben, solche unrichtigen Entscheidungen zu verhindern.
({9})
Eine Neuregelung wird sich nicht auf den Bereich der
verdeckten Ermittlungsmaßnahmen beschränken. Sie gilt
grundsätzlich bei allen - auch bei den offenen - Ermittlungsmaßnahmen. Eine Differenzierung ist hier nicht
sinnvoll, denn tragfähige Gründe sind dafür nicht erkennbar.
Herr Montag, ich habe Ihre Fleißarbeit bewundert.
({10})
Nehmen Sie es nicht persönlich: Mit unserem Gesetzentwurf wird Ihre Arbeit zur Makulatur und damit bedauerlicherweise überflüssig.
({11})
Wir könnten in unseren Gesetzentwurf höchstens aufnehmen, dass es zwar eine Alternative gibt, die aber nicht
brauchbar ist.
Frohe Ostern.
({12})
So weit sind wir noch nicht.
Jetzt spricht erst die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Überwachung von Telefongesprächen ist immer ein
tiefer Eingriff in verbriefte Rechte der Bürgerinnen und
Bürger. Das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach
betont. Es hat mehrfach gerügt, dass diese Praxis grundgesetzwidrig ist - so weit, so übersichtlich, so klar.
Heute liegen zwei Oppositionsanträge zur Lösung
dieses Problems auf dem Tisch. Über Mängel wurde hier
schon gesprochen. Aber immerhin haben sie zumindest
eines bewirkt: Sie haben die Regierungskoalition beflügelt,
nun die Hausaufgaben zu machen und einen eigenen
Gesetzentwurf vorzulegen.
Allerdings muss ich auch sagen: Ich bin gespannt, wie
die Bundesministerin der Justiz - die heute eine „harmonische Regelung“ angekündigt hat - ihre sehr vernünftigen
Vorstellungen, die sie heute hier vorgetragen hat, mit den
Vorstellungen der Innenminister und den Dingen, die
Herr Uhl heute in die Debatte geworfen hat, harmonisieren
will.
Stichwort: Computer-/Onlineüberwachung. Sie wollen heimlich ausspähen, was auf privaten Computern geschieht, was dort gespeichert und dort zu finden ist.
Wenn das Reizwort „Big Brother“ an irgendeiner Stelle
zutrifft, dann genau da.
({0})
Natürlich geht es wie immer um den Kampf gegen Kriminelle und Terroristen. Natürlich wiegelt der BKAChef Ziercke ab, der große Hackerangriff von Staats wegen betreffe nur wenige. Aber das ist ein Irrtum. Er betrifft alle, und er stellt den Rechtsstaat auf den Kopf;
denn jede und jeder gilt als potenziell verdächtig.
Derselbe Geist beseelt übrigens die sogenannte Antiterrordatei, die heute von Bundesinnenminister Schäuble
offiziell in Betrieb genommen wurde.
({1})
Sie bewirkt, dass die Geheimdienste ermächtigt und die
Persönlichkeitsrechte erniedrigt werden. Das ist ihr Wesen.
Genauso ist sie auch konstruiert.
Hinzu kommt: Wer einmal in Verdacht gerät und in
die Antiterrordatei eingespeist wird - sei es noch so unberechtigt -, läuft Gefahr, zeitlebens und grenzenlos als
potenzieller Terrorist am Pranger zu stehen. Auch das
hat weder etwas mit dem Rechtsstaat noch mit dem verbrieften Datenschutz zu tun - im Gegenteil.
Damit komme ich zu dem eigentlichen Problem. Die
Bundesrepublik driftet zu einer Gesellschaft ab, in der
Bürgerrechte immer weniger gelten, der Staat möglichst
alles wissen will und Bürgerinnen und Bürger als potenzielles Risiko gelten. Deshalb sage ich den Mitgliedern
der Koalition: Sie unterhalten zwar ein Bundesamt für
Verfassungsschutz. Aber Sie greifen gleichzeitig die
Verfassung an und verkehren damit das Grundgesetz in
sein Gegenteil. Dagegen bin ich, und dagegen ist auch
die Fraktion Die Linke.
({2})
Sie werden sehen: Wir werden Sie in diesem Gesetzgebungsverfahren sehr aufmerksam begleiten; denn wir
schützen die Verfassung vor Ihren Angriffen. Wir haben
nämlich etwas dazugelernt.
({3})
Jetzt erteile ich zum Abschluss der Debatte das Wort
dem Kollegen Ralf Göbel für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In dieser Debatte habe ich mich immer wieder gefragt,
warum mir, wenn ich zu den Kollegen der Linksfraktion
schaue, der oscarprämierte Film „Das Leben der Anderen“
einfällt. Wenn ich jetzt höre, in welcher Art und Weise
die Kollegin Pau, die Kollegin Jelpke und gestern die
Kollegin Dağdelen den bundesdeutschen Rechtsstaat
diffamieren,
({0})
dann frage ich mich, ob das in diesem parlamentarischen
Raum, in dem wir uns befinden, angemessen ist.
({1})
Die Kollegin Dağdelen hat gestern in der Debatte zur
Abschiebehaft davon gesprochen, dass es einen staatlichen
Rassismus deutscher Behörden gebe. Ich halte das für
eine unerträgliche Bemerkung. Ich finde es unerträglich,
dass auch jetzt der Eindruck suggeriert wird, als ob die
bundesdeutschen Sicherheitsbehörden nichts Besseres
zu tun hätten, als täglich die Telefongespräche unbescholtener Bürger abzuhören und in ihren Wohnungen
zu lauschen.
({2})
Es ist unerträglich, dass Sie hier einen solchen Zustand
beschreiben. Diesen Zustand gibt es in der Bundesrepublik
Deutschland nicht. Wir sind im Gegensatz zu dem, was
Sie 40 Jahre lang in der DDR jeden Tag gemacht haben,
ein demokratischer Rechtsstaat und achten die Grundrechte.
({3})
Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden sind
nun einmal immer öfter darauf angewiesen, heimliche
Aufnahmen anzufertigen. Das hängt mit den Täter- und
Tatstrukturen und der voranschreitenden technischen
Entwicklung zusammen.
({4})
- Ich komme noch darauf zurück. - Deswegen ist es
wichtig, dass wir unter der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jetzt Gesetze auf
den Weg bringen, die auf der einen Seite die polizeilichen
Ermittlungen im Bereich der schweren Kriminalität und
der Gefahrenabwehr erleichtern, die aber auf der anderen
Seite nicht überziehen, sondern das Recht des Einzelnen
auf seine Privatsphäre hinreichend achten. Dabei bewegen
wir uns auf einem schmalen Grat. Dementsprechend
streitig führen wir die Debatte und diskutieren verschiedene Lösungsansätze, zu denen die Linke allerdings
noch keinen Beitrag geleistet hat.
({5})
Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen auf Hinweise
aus verschiedensten Informationsquellen angewiesen.
Die modernen Kommunikationsmittel werden selbstverständlich von den Tätern genutzt. Durch Handys und
das Internet hat sich die Kommunikation verändert: Sie ist
schneller und unübersichtlicher geworden. In der virtuellen Welt sind neue Kriminalitätsstandorte entstanden,
deren Auswirkungen aber sehr intensiv in die reale Welt
hineinreichen. Durch offene Ermittlungsmaßnahmen
allein kann das Ziel der Aufklärung von Straftaten und der
Gefahrenabwehr nicht mehr erreicht werden. Deswegen
sind die Möglichkeiten heimlicher Ermittlungen zu nutzen.
Bei den Ermittlungsinstrumenten können wir nach
meiner festen Auffassung nicht mit dem Hinweis auf die
Kosten-Nutzen-Rechnung argumentieren. Wir können nicht
auf ein Ermittlungsinstrument verzichten, weil der Nutzen
nicht von vornherein ersichtlich oder quantifizierbar
ist. Herr van Essen hat schon darauf hingewiesen: Die
Ermittlungen führen nicht immer zur Aufklärung einer
konkreten Straftat; vielmehr werden dabei häufig Strukturen aufgedeckt. Dafür sind gelegentlich auch heimliche
Überwachungsmaßnahmen notwendig, um feststellen zu
können, wie Tätergruppen organisiert sind, wie sie arbeiten
und sich bewegen und welche Straftaten geplant sind.
Bei der heimlichen Überwachung nach der Strafprozessordnung muss ein konkreter Tatverdacht bestehen. Ob
dies der Fall ist, entscheiden auf Antrag der Staatsanwaltschaft die zuständigen Gerichte. Ich glaube nicht,
dass mit diesem Instrument rechtsstaatswidrig umgegangen
wird. Auch wenn Herr van Essen darauf hinweist, dass
der eine oder andere Antrag vielleicht einfach so von einem
Richter unterzeichnet wird, unterstelle ich, dass die
Richter ihr Amt ordnungsgemäß wahrnehmen und einen
Antrag nur dann unterschreiben, wenn sie der Auffassung
sind, dass die Maßnahme gerechtfertigt ist.
({6})
Wenn es tatsächlich das Problem gibt, dass bei der bestehenden Gesetzeslage nicht alle Richter ordnungsgemäß
vorgehen, dann stellt sich die Frage, ob nicht weniger
eine Gesetzesänderung als eine Verhaltensänderung derjenigen notwendig ist, die diese Entscheidung zu treffen
haben. Nicht alle notwendigen Änderungen müssen
gesetzlich geregelt werden.
({7})
Neben den zwingenden rechtlichen Voraussetzungen
will ich an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlichen,
wie sich eine Telekommunikationsüberwachung in einer
Behörde darstellt, weil dadurch vielleicht transparent
wird, dass die Polizeibehörden nicht willkürlich mit diesem
Instrument umgehen. Aus meiner Zeit im Polizeipräsidium
kann ich berichten, dass wir eine Telefonüberwachung
geschaltet haben, bei der mehrere Telefonanschlüsse zu
überwachen waren. Damit war ein erheblicher Personalaufwand verbunden.
({8})
Wir mussten rund um die Uhr über 20 Beamte einsetzen.
Hinzu kamen Dolmetscher, weil die Telekommunikation
in einer Fremdsprache erfolgte. Insofern ist ein erheblicher
personeller, materieller und finanzieller Aufwand zu leisten. Manche Telefonüberwachungsmaßnahme unterbleibt
allein deswegen, weil den Behörden die personellen und
finanziellen Kapazitäten fehlen. Auch das muss man zur
Kenntnis nehmen. Es handelt sich nicht um ein Instrument,
das jeder x-beliebige Polizeibeamte im Streifendienst
nutzen kann; es ist vielmehr eine hochkomplexe Überwachungsmaßnahme, die einen erheblichen Personaleinsatz erfordert.
({9})
- Sie ist auch teuer, wie Herr van Essen zutreffend feststellt.
Wann der Kernbereich verletzt ist, was nach dem
Abschalten passiert und wie man erfährt, dass wieder
einzuschalten ist, hat mein Kollege Hans-Peter Uhl bereits
erläutert. Ich finde, der Vorschlag des Richterbundes ist
geeignet, um zum einen der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbereichsschutz und
zum anderen den Bedürfnissen der Praxis, die einen effektiven Einsatz des Ermittlungsinstrumentes wünscht,
Rechnung zu tragen.
Im Zusammenhang mit den stark angestiegenen Zahlen bitte ich, Folgendes zu bedenken: Die Täter benutzen
zunehmend nicht nur ein Handy mit nur einer Karte,
sondern viele Täter benutzen zehn, 15 oder 20 verschiedene Karten in einem Handy, und sie benutzen ferner das
Handy des Nachbarn, des Untermieters oder von wem
auch immer. Auch das ist ein Grund für die steigenden
Zahlen.
({10})
Die Überwachung wird schließlich nicht auf einen Täter
abgestellt; vielmehr steckt hinter jeder benutzten Karte
ein separater Anschluss, für den jeweils eine Überwachungsmaßnahme angeordnet werden muss. Auch das
erklärt, warum die Anzahl der Kommunikationsüberwachungen steigt.
({11})
Im Übrigen müssen wir davon ausgehen, dass das Gegenüber der Polizei sehr genau weiß, welche rechtlichen
und tatsächlichen Möglichkeiten die staatlichen Sicherheitsbehörden haben, und sich immer darauf einstellen
wird. Wir werden immer das Hase-und-Igel-Spiel haben.
In diesem Zusammenhang ist darüber nachzudenken,
ob wir das Modell der Schweiz übernehmen. Die Schweiz
stellt die Überwachung nicht auf die Anschlüsse, sondern
auf die Geräte ab. Dadurch ist ein Wechsel für die Täter
weniger leicht. Es ist zu fragen, ob es nicht sinnvoller
wäre, die Überwachung auf die Gerätenummer abzustellen. Die Ermittler hätten dann bessere Möglichkeiten, und
das würde insgesamt zu einer Erleichterung der Aufklärungsmaßnahmen führen.
Ich will zum Schluss noch einige Worte zu den
Benachrichtigungspflichten sagen. Ich bin sehr dafür,
dass wir die Regelung zu den Benachrichtigungspflichten überarbeiten.
({12})
Das ist überhaupt keine Frage. Das muss aber mit Vernunft und Augenmaß geschehen. Es darf nicht so sein,
dass Menschen, die abgehört worden sind, am Ende
durch die Benachrichtigungspflicht wirtschaftliche Schäden erleiden. Das würde das Ganze ins Absurde verkehren.
An die Adresse der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen muss ich sagen: Ich habe Ihren Entwurf sehr
gründlich gelesen, auch was die Benachrichtigungspflichten betrifft.
({13})
Was der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in diesem Verfahren zu suchen haben soll, weiß ich nicht. Ich
halte es gelinde gesagt für überflüssig, dass er vor einer
Entscheidung des Oberlandesgerichts gehört werden
soll.
({14})
In struktureller Hinsicht ist es im Übrigen falsch; denn
wenn eine Landesbehörde ermittelt, wäre konsequenterweise der Landesbeauftragte für den Datenschutz einzubeziehen.
({15})
Abschließend möchte ich feststellen, dass die Große
Koalition die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zügig umsetzen wird. Die Frau Bundesministerin
hat angekündigt, dass der Kabinettsentwurf zur StPOReform am 18. April vorgelegt wird. Wir sind dabei, für
die Sicherheitsbehörden im präventiven Bereich eine
Regelung zu finden, die den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts und dem Schutzauftrag des Staates gegenüber seinen Bürgern gerecht wird.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3827 und 16/1421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Engpässe beim grenzüberschreitenden Stromhandel abbauen - Wettbewerb auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren
- Drucksache 16/3346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Wir haben heute einen weiteren Antrag der FDP-Bundestagsfraktion vor uns liegen, der die Stärkung des
Wettbewerbs auf dem deutschen Energiemarkt zum
Thema hat.
In den vergangenen Wochen stand die Entflechtung
von Netz und Produktion im Zentrum der Debatte. Ich
möchte heute ausdrücklich darauf verweisen, dass es
weitere Wege gibt, um auf diesem Gebiet zu mehr Wettbewerb zu gelangen; denn immerhin sind 90 Prozent der
Grundlastkraftwerke in den Händen der großen vier
Konzerne.
Es ist wichtig, für einen diskriminierungsfreien
Netzzugang zu sorgen. Die Bundesnetzagentur ist auf
dem richtigen Weg. Wir warten jetzt auf die Kraftwerksanschlussverordnung und eine dann hoffentlich pünktliche Anreizregulierung. Wir haben festgestellt, dass ein
wichtiges Hemmnis auf dem Weg zu mehr Wettbewerb
auf dem deutschen und europäischen Strommarkt immer
wieder das Problem war und ist, dass sich nationale
Märkte abgeschottet haben, und zwar durch unzureichende Übertragungskapazitäten. Es fehlt an Kapazität,
damit neue Unternehmen überhaupt auf den Markt kommen können.
Von daher ist es wichtig, uns auf die Grenzkuppelstellen zu konzentrieren. Wir wollen mit dem heute vorliegenden Antrag den Handel mit Strom auf diesen liberalisierten Märkten ankurbeln. Wir können es nur durch
einen massiven Ausbau der Grenzkuppelstellen gestalten. Das wurde bislang vernachlässigt.
Wir fordern die Bundesregierung gerade während der
EU-Ratspräsidentschaft auf, die diesbezügliche Verordnung zu ändern. Denn gegenwärtig ist es so, dass die
entsprechende Verordnung es den großen Netzbetreibern
erlaubt, die Einnahmen aus dem Engpassmanagement
für Preissenkungen der Netzentgelte weiterzugeben.
({0})
Das hört sich für die Verbraucher zunächst einmal positiv an. Es ist aber gar nicht positiv, weil die Kapazität
nicht weiter erhöht wird, Marktabschottung weiter erfolgt und der Ausbau der Netze vernachlässigt wird.
Ich nenne Ihnen eine Zahl: In den Jahren 2004 und
2005 hat es Einnahmen aus dem Engpassmanagement
im Umfang von 334 Millionen Euro gegeben; vorher lagen sie bei 200 Millionen Euro. In einem Zeitraum von
nur drei Jahren, von 2002 bis 2005, wurden lediglich
25 Millionen Euro in den Flaschenhals Grenzkuppelstellen reinvestiert. Das ist einfach zu wenig.
({1})
Deshalb schlägt die FDP vor, dass Einnahmen aus
dem Engpassmanagement verpflichtend in den Ausbau
dieser Grenzkuppelstellen investiert werden sollen. Sie
können sich vorstellen, dass die Unternehmen auf dem
europäischen Markt, aber insbesondere die auf dem
deutschen Markt wenig Interesse daran haben, sich weitere Konkurrenz ins Land zu holen. Deshalb ist es an
uns, den Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Wir
müssen hier agieren.
({2})
Gleichzeitig müssen Bundesregierung, Übertragungsnetzbetreiber und die Regulierungsbehörden sich für
eine Änderung des Engpassmanagements an den deutschen Grenzen starkmachen. Sachgerecht wäre es, eine
Abkehr vom expliziten hin zum impliziten Auktionieren
bzw. zu Hybridverfahren an der Börse herbeiführen. Das
heißt, ein Kauf von Strommengen an einer Strombörse
ist mit den entsprechenden grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten zu koppeln, damit der Fluss entsprechend geregelt werden kann.
Es gilt also, Hürden abzubauen, mehr Wettbewerb
herzustellen und den Fokus nicht ausschließlich, wie in
der Vergangenheit geschehen, auf die eigentumsrechtliche Entflechtung zu lenken. Wir sagen ganz ausdrücklich, dass das, was bisher durch die Regulierung der
Netze erreicht worden ist, erheblich ist: Die Netzentgelte
wurden im Umfang von 2,8 Milliarden Euro gesenkt, im
Strombereich waren es 2 Milliarden Euro, im Gasbereich 800 Millionen Euro. Das ist ein richtiger Schritt.
Weitere müssen folgen. Umzusetzen ist auch das sogenannte rechtliche Unbundling; viele Unternehmen haben das schon getan. Die rechtliche Entflechtung ist geschehen bzw. sie muss bis zum Sommer stattfinden.
Wir haben, was die Schaffung von mehr Wettbewerb
auf dem Strom- und Gasmarkt betrifft, noch einen langen Weg vor uns. Mit dem heutigen Antrag, der zu diesem Thema der einzige ist, der von einer Bundestagsfraktion ins Parlament eingebracht wurde, gehen wir
einen wichtigen Schritt, nämlich den des Ausbaus der
Interkonnektoren zur Schaffung von mehr Wettbewerb
auf dem europäischen Energiemarkt. Ich bitte Sie, meine
sehr geehrten Herren und Damen Kollegen und Kolleginnen, diesem Antrag zu gegebener Zeit zuzustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist
keine Frage: Die Strompreise in der Bundesrepublik
Deutschland sind eindeutig zu hoch. Die deutschen Betriebe haben höhere Produktionskosten als ihre europäischen bzw. internationalen Konkurrenten, also erhebliche Wettbewerbsnachteile. Nach einer Statistik des
BDI sind die Strompreise für die deutsche Industrie von
4,38 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2000 auf
7,1 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2004 gestiegen.
Danach mussten die deutschen Unternehmen im Jahre
2004 im europäischen Vergleich die zweithöchsten
Strompreise zahlen.
Für die privaten Verbraucher gilt, dass wir leider eine
Erblast aus vergangenen Regierungszeiten mit uns herumtragen. 40 Prozent des Strompreises sind gesetzlich
gemacht. Ich möchte das alles eigentlich gar nicht aufzählen, aber es handelt sich dabei unter anderem um die
Umsatzsteuer oder die Stromsteuerzuschläge aus dem
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und dem EEG.
({0})
- Ja, die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte kommt hinzu.
({1})
Das macht insgesamt rund 40 Prozent des Strompreises
aus. Wir können diese Entwicklungen in dieser Legislaturperiode vermutlich nicht in nennenswertem Umfang
zurückdrehen. Deswegen müssen wir uns andere Schritte
überlegen.
Aber es gibt natürlich auch eine ganze Reihe von
Hemmschuhen. In Europa findet noch kein wirklich
freier grenzüberschreitender Wettbewerb im Stromhandel statt; auch in dem Gespräch, das wir eben mit der
EU-Wettbewerbskommissarin geführt haben, ging es um
dieses Thema.
Ich möchte dieses Thema nicht auf die Grenzkuppelstellen fokussieren. Da Strom ein hochsensibles Produkt
ist, muss dieses Thema ganzheitlich betrachtet werden.
Frau Kopp, ich gebe zu bedenken, dass es zu wenige
Grenzkuppelstellen gibt und dass sie zu leistungsschwach sind. Damit allein kann man dieses Problem
nicht lösen.
({2})
Wir müssen, was die Stromdurchleitung betrifft, unsere Kapazitäten im Auge haben. Das heißt, dass in jedem Land zunächst überprüft werden muss: Welche Leitungskapazitäten sind vorhanden, und wo macht es
Sinn, die Grenzkuppelstellen so zu verstärken, dass tatsächlich ein Markt entsteht? Die Stromnetze sind der
Schlüssel. Wir müssen die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Das natürliche Monopol der Netze
muss aufgebrochen werden, damit in Zukunft nicht mehr
nur wenige Unternehmer die Preise für die Durchleitung
und damit die Strompreise bestimmen.
Noch stimmt die Wettbewerbsstruktur nicht. Das
gilt vor allem für die Zahl der Wettbewerber. Je nach Berechnung liegen 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugung
in den Händen der vier großen Unternehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass Investitionen in das Netz, in Modernisierungen und in den Ausbau getätigt werden. Neue
Investitionen dürfen nicht gehemmt werden, sondern sie
sollten durch Anreize gefördert werden. Denn es gibt erhebliche Engpässe bei der Durchleitung durch die verschiedenen Mitgliedsländer der EU.
Was können wir tun, um dem Anstieg der Elektrizitätspreise Einhalt zu gebieten und den Wettbewerb in
Europa in Schwung zu bringen?
Erstens. Es ist richtig, dass es sich beim grenzüberschreitenden Stromaustausch um ein äußerst wichtiges
Thema handelt. Die in den FDP-Forderungen enthaltenen Ansätze sind bereits Teil des von der Bundesregierung entwickelten Konzepts zur Verwirklichung eines
wettbewerbsorientierten Binnenmarktes für Energie. Die
Bundesregierung treibt dieses Konzept im Rahmen der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit großem Nachdruck voran. Gerade bei dem hier in Berlin stattfindenden Workshop wird dieser Diskussionsprozess forciert.
Die Ergebnisse sollen als Grundlage für den für Anfang
Juni vorgesehenen Energierat dienen. Insofern stimme
ich dem Antrag zu, dass Gespräche mit anderen europäischen Regierungen geführt werden sollten, ebenso mit
den zuständigen Regulierungsbehörden und Übertragungsnetzbetreibern.
Zweitens, zum Vorschlag Nr. 1 der FDP. Bevor eine
Änderung der Verordnung EG 1228/2003 ins Auge gefasst wird, sollte der Erfahrungsbericht der Kommission abgewartet werden, der gegenwärtig erarbeitet
wird. Der Vorschlag der FDP, Einnahmen aus der Zuweisung von Verbindungen prioritär für den Erhalt und den
Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen zu nutzen, ist etwas vorschnell, weil die ganze Geschichte nicht so einfach ist.
({3})
Wenn man nicht gleichzeitig sicherstellt, dass die Rahmenbedingungen für eine ausgewogene Verteilung der
Kraftwerksstandorte stimmen, besteht das Risiko, dass
der Engpass von heute - an den Grenzkuppelstellen sich morgen an anderen Stellen zeigt, die wir heute noch
nicht kennen.
({4})
Ganz wichtig ist, dass zunächst die bestehenden
Netze optimal genutzt werden. Hier gibt es noch Optimierungspotenzial. Vor einem Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen muss im Übrigen
klar sein, wer die Kosten trägt und wer den Nutzen hat.
Es liegt auf der Hand, dass ein Investor nur dann Geld in
die Hand nehmen wird, wenn sich die Investition rentiert. Dafür sind klare Rahmenbedingungen zu schaffen.
({5})
Es ist deshalb richtig, zunächst den Erfahrungsbericht
der Kommission abzuwarten und erst dann über weitere
Schritte zu entscheiden.
Drittens, zum Vorschlag Nr. 2 der FDP. Ich freue
mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der FDP-Opposition, dass Sie das von der Bundesregierung mit initiierte Pentalaterale Forum positiv werten
und eine analoge Ausweitung empfehlen. Ziel dieses Forums ist eine bessere Koppelung der Märkte. Dies lässt
sich nur erreichen, indem man Stromhandel - Händler
und Strombörsen - auf der einen Seite und Netzsteuerung - Netzbetrieb und Regulatoren - auf der anderen
Seite an einen Tisch bringt. Auf diese Weise soll eine integrierte Handelsplattform entstehen, die durch bessere
Abstimmung des Handels mit der Netzsteuerung die
Nutzung der Leitungen verbessert und so zur Beseitigung oder zumindest Verminderung von grenzüberschreitenden Engpässen beiträgt.
({6})
Bevor wir an eine Ausweitung denken, sollten wir
erst einmal die Erfahrungen der Gründungsmitglieder
der EWG sammeln. Die von Ihnen angesprochenen
Punkte zeigen bereits, wie vielfältig die Inhalte sind. Zu
begrüßen ist der Vorschlag der EU-Kommission, die Zusammenarbeit zwischen Regulatoren und Netzbetreibern
zu verstärken, um so durch Harmonisierung mehr Wettbewerb in den regionalen Energiemärkten zu schaffen.
Falsch oder zumindest völlig verfrüht sind hingegen die
Vorschläge der EU-Kommission, nationale Regulierungsbehörden durch einen europäischen Energieregulator zu ersetzen oder „eigentumsrechtliche Entflechtungen“ vorzunehmen, um funktionierenden Wettbewerb im
europäischen Strom- und Gasmarkt zu ermöglichen. In
Deutschland gibt es dagegen erhebliche verfassungsrechtliche und energiewirtschaftliche Bedenken.
Ich möchte hinzufügen: Wir haben die Regulierungsbehörde kaum installiert - soweit ich weiß, ist sie personell noch gar nicht voll ausgestattet -, schon wird diskutiert, alles neu zu organisieren. Das halte ich für falsch.
Ich meine, wir sollten die nächsten ein, zwei Jahre abwarten
({7})
und sehen, wie sich das Instrument Regulierungsbehörde
bestätigt. Dann können wir weitersehen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine
gemeinsame europäische Energiepolitik nach innen
und nach außen. Warum nach außen? Für jeden, der sich
mit der Energiepolitik beschäftigt, ist klar, wie schwierig
es ist, wenn wir als Europäer und insbesondere als Bundesrepublik Deutschland auf den Rohstoffmärkten, auf
denen die Produkte international gehandelt werden,
praktisch nicht existieren. Hier muss sich etwas entwickeln.
Daneben brauchen wir eine Waffengleichheit bei der
Stromproduktion.
Eine Schlussbemerkung. Ich denke, die deutsche
Ratspräsidentschaft unter Führung von Bundeskanzlerin
Dr. Merkel wird zur Verwirklichung eines wettbewerbsorientierten Binnenmarktes erfolgreiche Initiativen auf
den Energiemärkten in Gang setzen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste hier im Haus! Die Infrastruktur muss
gesellschaftlichen Interessen und nicht den Profiten weniger Konzerne dienen.
({0})
Genau das ist das Problem im deutschen Stromsektor;
das haben Sie erkannt.
Gesetzt den Fall, dass hier überhaupt von einem
Markt geredet werden kann, stelle ich fest: Er ist national abgeschottet, kartellartig strukturiert und damit teuer
und unfair. Da nützt es wenig, an den Symptomen herumzudoktern, wie es die FDP mit ihrem Antrag will.
Wir müssen endlich die richtigen Konsequenzen ziehen:
Erstens: Stromerzeugung und Netzbetrieb gehören eigentumsrechtlich getrennt.
Zweitens. Die Marktmacht des Oligopols gehört eingeschränkt.
Drittens. Die Übertragungsnetze müssen in die öffentliche Hand überführt werden, wie wir das schon mehrfach betont haben.
So wäre es dann auch möglich, den grenzüberschreitenden Stromhandel vernünftig zu organisieren. Wir
brauchen mehr Übergänge in Europa, um einen EU-weiten Verbund der erneuerbaren Energien zu schaffen;
denn es geht um mehr als um bezahlbare Energie: Es
geht um Klimaschutz und um Energiesicherheit.
Natürlich brauchen wir einen Ausbau der Grenzkuppelstellen, um Druck auf den abgeschotteten deutschen
Strommarkt auszuüben. Unter den jetzigen Bedingungen
führt das aber nur dazu, dass Eon und Vattenfall ihre eigenen Interessen bedienen, Frau Kopp. Sie werden nur
da ausbauen, wohin sie den Strom ihrer eigenen Kraftwerke am besten exportieren können. Mit Wettbewerb
hat das wenig zu tun. Ihre Forderungen sind einfach zu
lasch, Frau Kopp. Es kann nicht darum gehen, ein wenig
an einer EU-Richtlinie und den Auktionsverfahren herumzuschrauben. Ziel muss es vielmehr sein, Strommengenauktionen an den Grenzen überflüssig zu machen.
Meine Damen und Herren der FDP, mit Ihrem Antrag
werden Sie deshalb sehr wahrscheinlich nicht viel erreichen. Neoliberalismus funktioniert eben nicht, wenn es
um gesellschaftliche Aufgaben geht.
({1})
Hier geht es letztendlich um bezahlbare Energie.
Es ist typisch, dass die Liberalen die Kraft-WärmeKopplung und die erneuerbaren Energien auch in diesem
Antrag wieder als Zusatzlasten aufzählen. Dabei wissen
Sie ganz genau, dass gerade effiziente Energietechnik
und erneuerbare Energien wirksam zur Dämpfung der
Strompreise beitragen. Es ist dem Stromkunden doch
nicht mehr zu erklären, dass Eon Rekordgewinne in Milliardenhöhe macht und gleichzeitig den Beschäftigten
den Lohn kürzen will und auch noch steigende Strompreise ankündigt. Ich sage nur eines: Sie kümmern sich
einen Dreck um den Klimaschutz.
Immerhin hat die FDP erkannt, dass es sich bei den
Netzen um ein natürliches Monopol handelt. Ziehen Sie
wie wir, die Linken, auch die richtige Konsequenz: Die
Netze gehören in die öffentliche Hand. - Dann klappt es
auch mit dem Strompreis und den Kupplungsstellen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Hill, das, was Sie gerade gesagt haben, war ein
bisschen die alte Leier. Aber wir kennen das ja schon:
Sie versuchen zunächst, deutlich zu machen, wie viel Sie
seit dem Fall der Mauer gelernt haben, und benutzen insbesondere den Marktbegriff. Gleichzeitig äußern Sie
aber wieder die feste Überzeugung, dass eigentlich der
Staat die Dinge in die Hand nehmen und die Netze betreiben soll.
({0})
Wozu das führen kann, haben wir ja vor knapp 20 Jahren
gesehen: Die Infrastruktur in der ehemaligen DDR
musste praktisch völlig neu errichtet werden, weil der
Staat nicht in der Lage war, sie wirtschaftlich, effizient
und erfolgreich zu betreiben.
({1})
Der Antrag der FDP-Fraktion „Engpässe beim grenzüberschreitenden Stromhandel abbauen - Wettbewerb
auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren“ springt allerdings - insoweit gebe ich Ihnen wieder Recht, Herr Hill tatsächlich etwas zu kurz. Frau Kopp hat gesagt, dass er
sich sozusagen in eine Kette anderer Anträge einreiht, in
denen andere Themen und Aspekte behandelt worden
sind. Das ist sicherlich richtig, aber ich will in diesem
Zusammenhang deutlich sagen, dass sich diese Bundesregierung - auch die Vorgängerregierung hat das getan seit einigen Jahren sehr intensiv dem Thema Wettbewerb
auf den Energiemärkten widmet. Deshalb wurde beispielsweise im Jahr 2005 das Energiewirtschaftsgesetz
im Bundestag - mit der Zustimmung aller Fraktionen
des damaligen Deutschen Bundestages - und danach im
Bundesrat verabschiedet.
Weiter haben wir die Bundesnetzagentur gegründet,
die den Auftrag hat, für Wettbewerb im natürlichen Monopol, in den Netzen zu sorgen. Ich bin der festen Überzeugung - ähnlich, wie es Kollege Obermeier gerade gesagt hat -, dass die Netzagentur auf einem guten Weg ist,
dass sie das Instrumentarium, das wir ihr zur Verfügung
gestellt haben, nutzt und weiterentwickelt. Sie hat eine
faire Chance verdient, zu beweisen, dass sie mit diesen
Instrumenten einen diskriminierungsfreien Netzzugang
erreichen kann.
Ich will gar nicht verhehlen, dass wir die weitergehenden Diskussionen und Forderungen hin zu einer eigentumsrechtlichen Entflechtung auch kritisch betrachten, und zwar nicht nur, weil eine solche Entwicklung
verfrüht käme und wir erst einmal abwarten wollen, dass
das jetzige Instrumentarium funktioniert, sondern wir
haben in diesem Zusammenhang durchaus sachliche und
rechtliche Bedenken.
Allerdings verfolgen wir mit großem Interesse die
Vorschläge, die jetzt auf den Tisch kommen, zum Beispiel wie man regionale Kooperationen zwischen Netzbetreibern organisieren kann, möglicherweise auch unter
dem Dach eines unabhängigen Netzbetreibers. Ich
meine, alle diese Vorschläge verdienen es, ernsthaft geprüft zu werden.
Das führt uns zu dem Thema des Antrags der FDPFraktion, zum grenzüberschreitenden Stromhandel und
Wettbewerb. Dabei sind Netze und Kuppelstellen entscheidende Punkte. Der Fairness halber sollten wir aber,
glaube ich, schon sagen, dass wir in Deutschland auf diesem Gebiet nicht so schlecht sind. Wir verfügen über den
größten Anteil an Kuppelstellenkapazität in der Europäischen Union. Mit 16 Prozent Kuppelkapazität zum
Ausland liegen wir deutlich über dem Barcelonazielwert
von 10 Prozent. Ich will damit nicht sagen, dass der
Wettbewerb schon funktioniert und wir damit zufrieden
sein sollten. Aber zu einer sachlichen Darstellung gehört
es, auch einmal den Stand der Dinge zu referieren.
Und die Entwicklungen gehen weiter. Das Engpassmanagement, das hier zu Recht kritisiert worden ist
- vor allem vor dem Hintergrund, dass es nicht in einem
wünschenswerten Maße zu Netzinvestitionen geführt hat -,
wird weiterentwickelt, und zwar durch die europäischen
Regulatoren im Dialog, also auch durch die Bundesnetzagentur - ich denke, das ist auch richtig - und in der
ERI, der Electricity Regional Initiative. Ich meine, das
ist eine große Chance, dass wir im Verbund mit den europäischen Nachbarn weiterkommen. Es gibt ganz erhebliche Entwicklungen, etwa zwischen Dänemark und
Deutschland, die wir nicht verschweigen sollten. Es gibt
auch ganz interessante Vorschläge, etwa für den Bereich
zwischen Deutschland, den Beneluxstaaten und Frankreich. Auch diese Entwicklungen zeigen, dass wir mit
dem, was wir begonnen haben, nämlich der Einrichtung
der Bundesnetzagentur mit dem klaren Auftrag zur
Schaffung von mehr Wettbewerb nicht nur durch Netzregulierung im engeren Sinne, sondern auch durch Anreize
für Qualität und Investitionen, auf dem richtigen Weg
sind. Dieser trägt bereits erste Früchte.
({2})
Wir brauchen allerdings mehr. Wir brauchen zum
Beispiel eine funktionierende Anreizregulierung. In
Kürze werden wir sicherlich über einen entsprechenden
Verordnungsentwurf des federführenden Wirtschaftsministeriums diskutieren können. Neben den Anreizen
für einen kosteneffizienten Netzbetrieb brauchen wir
Anreize für den Netzausbau, und zwar nicht nur an den
Landesgrenzen, sondern auch im Inland; denn es zeichnet sich ab, dass dann, wenn die von uns gewünschten
Kraftwerksinvestitionen getätigt werden, die Kraftwerke
möglicherweise ihren Strom nicht bis zum Endkunden
liefern können, jedenfalls nicht in 100-prozentigem Umfang, weil die Netzkapazitäten in Deutschland mangelhaft sind. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Bundesnetzagentur im Rahmen der Anreizregulierung der
Aufgabe des Netzausbaus mit marktgerechten Instrumenten widmet, wie es im Energiewirtschaftsgesetz und
in den entsprechenden Verordnungen vorgesehen ist.
({3})
Ähnlich wichtig ist eine Kraftwerksanschlussverordnung; dazu gibt es schon einen Entwurf aus dem
Bundeswirtschaftsministerium. Schließlich gilt: Noch so
gut funktionierende Netze und ein perfekter, diskriminierungsfreier Netzzugang nutzen gar nichts, wenn nicht
durch entsprechend gesicherte Anschlüsse und Anschlussrechte gewährleistet ist, dass die neuen Kraftwerke ihren Strom absetzen können. Dazu gibt es in der
geplanten Kraftwerksanschlussverordnung einen Lösungsansatz, über den wir sicherlich in Bälde inhaltlich
differenziert diskutieren können.
Ein Instrument, über das wir mit Sicherheit schon im
April diskutieren werden, ist der Nationale Allokationsplan zum Emissionshandel. Wir versuchen, auch in diesem Bereich Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass
Anreize für Investitionen in Kraftwerke im Bereich des
fossilen Mixes, also in Gas-, Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke, bestehen. Die erneuerbaren Energien werden bekanntermaßen an anderer Stelle geregelt. Ich
glaube, dass es uns dadurch gelingen wird, die benötigten Investitionen zu bekommen, und zwar auch für hochmoderne Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Dafür wird
auch der Emissionshandel einen Anreiz setzen. Ich sage
aber ausdrücklich: Dieser Anreiz wird nicht reichen.
Deswegen werden wir uns mit einem Kraft-WärmeKopplungs-Gesetz zu befassen haben.
Wie Sie sehen, ist das Thema Wettbewerb bei der
Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen in guten Händen. Es ist ein sehr komplexes Problem, das sich
nicht ausschließlich mit dem Ausbau der Grenzkuppelstellen lösen lässt. Wir brauchen vielmehr eine Mixtur
aus zahlreichen Instrumenten; das ist wichtig. Diese sind
auf dem Weg oder teilweise schon in der Erprobung. Ich
bin ganz sicher, dass wir in den nächsten Jahren den
Wettbewerb in Deutschland auf den leitungsgebundenen
Energiemärkten deutlich intensivieren werden.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
der Kollege Hans-Josef Fell das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Über die Intensivierung
des Wettbewerbs auf dem Energiemarkt haben wir an
dieser Stelle schon häufig debattiert. Allein dies ist doch
ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Wettbewerb auf
dem Strommarkt noch immer nicht reibungslos funktioniert. In den letzten Jahren stiegen die Strompreise in
der Tat kontinuierlich an und mit ihnen die Gewinne der
Stromkonzerne. Natürlich gibt es neben den überhöhten
Gewinnmitnahmen andere Ursachen für die Strompreissteigerungen. Die FDP nennt einige davon in ihrem Antrag. Allerdings bedarf diese Aufzählung einer Klarstellung. Wenn die FDP - zu Recht - die Preissteigerungen
infolge der gestiegenen Rohstoffpreise von Erdgas,
Kohle, Erdöl und Uran benennt, aber gleichzeitig über
die Umlagekosten für erneuerbare Energien klagt, so wie
es auch Herr Kollege Obermeier getan hat, passt das
nicht zusammen.
({0})
Die Mehrkosten für erneuerbare Energien sind marginal. So muss die Industrie zum Beispiel bei einem durchschnittlichen Strompreis von 8 Cent pro Kilowattstunde
für die Umlage für erneuerbare Energien gerade einmal
0,15 Cent zahlen. Dies ist ein wahrlich winziger Betrag,
der aber eine große Wirkung hat; denn diese winzige
Strompreiserhöhung führt geradewegs aus der Abhängigkeit von fossilen und atomaren Rohstoffen, deren
Preise stetig steigen. Da, meine Damen und Herren von
der FDP und der Union, müssen Sie sich schon entscheiden, wo Sie stehen wollen. An dieser Debatte entscheidet sich, ob Ihr Bekenntnis zu den erneuerbaren Energien glaubhaft ist.
Konzentrieren wir uns auf das zentrale Thema Ihres
Antrages. Noch immer haben die Oligopole Möglichkeiten, den Wettbewerb auszubremsen. Zu Recht legen Sie
von der FDP einen Antrag vor, der Missstände im internationalen Stromhandel benennt. Statt für ein breiteres
Angebot bei der Strombeschaffung zu sorgen, dienen die
Kuppelstellen heute bestenfalls der Netzstabilität, möglicherweise aber auch dem Marktmissbrauch. Mit Ihrer
Forderung, die Gewinne aus dem Betrieb heutiger Kuppelstellen in den Bau neuer Kuppelstellen zu investieren,
stoßen Sie bei uns auf offene Ohren. Es ist wichtig, beim
Kapazitätsmanagement ein transparentes und harmonisiertes Auktionsverfahren einzuführen. Transparenz ist
ein Leitthema, an das man sich gerade in so vermachteten Strukturen halten sollte. Außerdem geht es darum,
Engpässe zu begrenzen.
Die Verbesserung des internationalen Stromhandels
ist wichtig für einen funktionierenden Binnenmarkt. Sie
ist für alle neuen Akteure im Strombereich unverzichtbar. Sie ist aber auch eine Voraussetzung für grenzüberschreitenden Transport von CO2-freiem Strom. So gibt
es seit Jahren die noch nicht umgesetzten Vorschläge zur
Produktion von Windstrom in Marokko oder in der
Nordsee oder auch von Solarstrom in Spanien oder in
der Sahara. Diese Projekte werden in Zukunft immer
wichtiger für eine nachhaltige Versorgung Europas mit
CO2-freiem Strom. Für den Ausbau dieser wichtigen Ini9386
tiativen, die auch für die Armutsbekämpfung und die
Entwicklung in Nordafrika sinnvoll sind, muss in der Tat
der grenzüberschreitende Stromhandel verbessert werden.
({1})
Voraussetzung dafür ist der Abbau aller technischen und
rechtlichen Barrieren. Dieser Teil Ihres Antrages kann
zur Verbesserung des Wettbewerbs, aber auch zum Klimaschutz und zur Sicherung einer bezahlbaren Stromversorgung beitragen.
Zum Schluss noch ein Aspekt zu - in Anführungszeichen - „Kuppelstellen“, der in Ihrem Antrag nicht auftaucht, aber immer wichtiger ist: Ich rede von der Beeinflussung von Entscheidungsträgern durch Konzerne
wie Eon und Siemens. Hier sind inzwischen Staatsanwälte tätig. Bei Eon ermitteln sie in 800 Einzelfällen gegen Politiker und Manager, wie die „Welt“ kürzlich berichtete. Bei Siemens werden Vorstandsmitglieder
verhaftet. Ungeachtet dessen bestätigt die Kanzlerin den
höchsten Repräsentanten des durch Korruptionspraktiken weltweit in Verruf geratenen Chefs des SiemensAufsichtsrates als Chefberater. Unglaublich, wie man
daran noch festhalten kann.
({2})
Wir sollten uns öffentlich und auch hier im Parlament
verstärkt mit dem Thema Korruption beschäftigen, gerade in der konventionellen Energiewirtschaft; denn
auch die Korruption ist ein großes Hemmnis für mehr
Wettbewerb, für mehr Klimaschutz und für mehr Versorgungssicherheit. Wenn wir wirklich Wettbewerb wollen,
gehen wir auch an dieses Thema heran.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3346 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar
Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro
Einkommen gleichmäßig und regelmäßig prüfen
- Drucksache 16/3699 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Höll für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In dieser Woche konnten wir in den Zeitungen nachlesen
- zum Glück; denn zum ersten Mal wurde für das vergangene Jahr eine individuelle Erhebung durchgeführt -,
wie viel die Vorstandsmitglieder der 30 DAX-Unternehmen verdienen. Verdienen? Vielleicht besser: bekommen. Ihre Bezüge sind gestiegen, allein im Vorjahr
um 15 bis 20 Prozent. Herr Ackermann verdient - er bekommt täglich 35 000 Euro. Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist und in Hartz IV fällt, erhält im Monat
345 Euro. Das sind im ganzen Jahr 4 140 Euro an Barleistungen.
2004 gab es in der Bundesrepublik 15 600 Einkunftsmillionäre. Sie haben Steuern gezahlt. Die Frage ist aber,
ob sie die Steuern so gezahlt haben, wie es Recht und
Gesetz vorschreiben. Hierzu hat der Bundesrechnungshof eine Untersuchung durchgeführt. Der Bundesrechnungshof ist eine Institution, welche unabhängig den
Gesetzesvollzug kontrolliert. Er hat festgestellt, dass der
Steuervollzug nicht mehr gewährleistet ist. Das ist eine
Situation, die wir als Linke nicht hinnehmen können.
Deshalb haben wir uns, nachdem wir die Bundesregierung gefragt haben, wie sie das einschätzt - sie hat der
Einschätzung des Bundesrechnungshofs nicht widersprochen, aber sie hat nichts vorgelegt -, entschlossen,
Ihnen heute einen Antrag zur Diskussion vorzulegen, in
dem gefordert wird, dass Steuerpflichtige mit mehr als
500 000 Euro Einkommen gleichmäßig und regelmäßig
zu prüfen sind. Das ist ein Gebot der Steuergerechtigkeit, wonach Leistungsfähigere mehr Steuern zu zahlen
haben.
Der Bundesrechnungshof hat die Schuld für den mangelnden Steuervollzug nicht in erster Linie bei den
Finanzämtern gesucht. Er weist zwar darauf hin, dass
wir in den Finanzämtern Defizite, dass aber nicht die
einzelnen Beamten diese zu verantworten haben, sondern dass die Defizite aus dem pauschalen Stellenabbau
resultieren, der wiederum mit dem mangelnden Geld der
öffentlichen Hand begründet wird. Das führt dazu, dass
zu wenige Finanzbeamte vorhanden sind.
Der Bundesrechnungshof hat angemahnt, dass es eine
ineffiziente Verwendung und eine unzureichende Weiterqualifizierung des vorhandenen Personals, eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundesfinanzbehörden und - das finde ich besonders interessant ein sehr unterschiedliches Interesse von Landesregierungen, die Steuerprüfung bei Menschen mit einem Einkommen von über 500 000 Euro tatsächlich vorzunehmen,
gibt. Die Prüfquote liegt zwischen 10 und 60 Prozent.
Das ist eine große Spanne. Besonders niedrig liegt die
Quote in den Ländern, in denen mehr Menschen wohnen,
die ein solch hohes Einkommen erzielen, also nicht in
Mecklenburg-Vorpommern, sondern in Bayern und Baden-Württemberg.
Wir haben diese Anregung des Bundesrechnungshofes aufgenommen. Ich denke, man kann das ganz
sachlich diskutieren und sofort problemlos umsetzen. Es
sind Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass eine
regelmäßige Außenprüfung durchgeführt wird. Das
heißt, dass in einem ordentlichen Prüfrhythmus die Unterlagen geprüft werden müssen. Voraussetzung dafür
ist, dass eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird.
Diese Maßnahmen sind für die öffentliche Hand äußerst
wichtig. Der Bundesrechnungshof hat uns die Zahl ins
Gedächtnis gerufen: Bei den erfolgten Außenprüfungen
kam es im Durchschnitt zu Nachzahlungen von
135 000 Euro pro Veranlagung. Wenn man das nur vorsichtig hochrechnet, kommt man immerhin auf 1 Milliarde Euro, die aufgrund des bisherigen Steuervollzuges
der öffentlichen Hand verloren geht.
Wir müssen erreichen, dass der besagte Personenkreis
tatsächlich einer höheren Prüfdichte unterworfen und
dass Steuerumgehung unmöglich gemacht wird. Wir halten es für erforderlich, dass die Finanzbehörden Außenprüfungen nicht mehr besonders begründen müssen,
sondern dass diese zur Regel werden. Die Pflicht zur
Aufbewahrung von steuererheblichen privaten Belegen
habe ich schon genannt.
Das heißt natürlich auch, dass wir die Finanzämter
anders ausstatten müssen. Wir müssen Sorge dafür tragen - das liegt in der Verantwortung des Bundes -, dass
Landes- und Finanzbehörden wesentlich besser zusammenarbeiten. Diese Aufgabe muss im Rahmen der Arbeit der Föderalismuskommission II gelöst werden.
Ich unterstreiche das auch vor dem Hintergrund der
von Ihnen im Rahmen der Unternehmensteuerreform geplanten Abgeltungsteuer. Diese Steuer wird zu noch
mehr Steuerumgehungen geradezu einladen. Während
die Finanzbehörden die Einkommen von Lohnabhängigen und Rentnern automatisch prüfen, unterliegt die Abgeltungsteuer nicht dieser Kontrolle. Die Finanzbehörden werden auf die Meldungen der Banken angewiesen
sein. Es entsteht quasi ein „finanzamtfreier Raum“, so
bewertet es auch der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Ondracek. Hier besteht dringender
Handlungsbedarf.
Nehmen Sie deshalb die Anregungen des Bundesrechnungshofes auf! Wir haben, diese Anregungen in
unserem Antrag festgehalten.
Frau Dr. Höll, jetzt müssen Sie bitte zum Schluss
kommen.
Lassen Sie uns gemeinsam handeln!
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dr. Höll, lassen Sie mich im Hinblick
auf die nun anstehenden Kar- und Ostertage versöhnlich
und positiv beginnen.
Ja, es gibt unbestritten Mängel bei der Besteuerung
in Deutschland. Sowohl in der Prüfungsdichte als auch
in der Qualität beim Veranlagungsverfahren gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. Das Steuerrecht ist
kompliziert, und das Veranlagungsverfahren ist ein Masseverfahren. Da passieren Fehler. Der Bundesrechnungshof hat mehrfach darauf hingewiesen. Die Länder haben
aber auch schon mehrfach Veränderungen im Verwaltungsverfahren vorgenommen und die Qualität verbessert. Das ist aber leider schon alles, was ich Gutes zu Ihrem Antrag sagen kann.
Wir haben uns des Themas „gerechte Besteuerung“
schon vor drei Jahren im Rahmen der Arbeit der Föderalismuskommission I angenommen. Diejenigen, die dabei
waren, wissen, dass wir über die Bundessteuerverwaltung sehr intensiv diskutiert haben.
({0})
- Wir haben doch ein Ergebnis erzielt, Herr Kollege:
Wir haben das Finanzverwaltungsgesetz geändert. Im Finanzverwaltungsgesetz sind einige Vorschläge, die die
Linke in ihrem heute vorliegenden Antrag macht, längst
umgesetzt.
({1})
Wir haben zum Beispiel dem Bundeszentralamt für
Steuern Mitwirkungsrechte bei der Steuerprüfung gegeben. Das Bundeszentralamt für Steuern kann sogar verlangen, dass Prüfungen bestimmter Betriebe durchgeführt
werden. Noch weiter gehend: Das Bundeszentralamt für
Steuern kann sogar im Auftrag Außenprüfungen durchführen. Damit erledigt sich Punkt II.5. Ihres Antrags. Dieses Gesetz ist im April 2006 in Kraft getreten. Wenn Sie
sich für dieses Thema wirklich interessieren und wenn Ihr
Antrag nicht nur Schau sein soll, dann sollten Sie sich dieses Gesetz vielleicht einmal anschauen.
({2})
Sie haben gefordert, dass dieses Thema auf die Tagesordnung der Föderalismuskommission II gesetzt wird
- Frau Hendricks ist hier; sie kann bestätigen, dass wir
darüber sehr häufig streiten -: Das ist ebenfalls längst
passiert. Die Arbeitsgruppe der CDU/CSU zur Föderalismuskommission II hat es in der Kommissionsdrucksache 003 zum Thema gemacht, und die Bundesregierung,
die Sie auffordern, sich endlich dafür einzusetzen, hat es
in der Kommissionsdrucksache 005 aufgegriffen. Gestern haben wir in einer ersten Runde zweieinhalb Stun9388
den lang unter anderem über das Thema Bundesfinanzverwaltung gesprochen.
({3})
Sie sind herzlich eingeladen, an den Sitzungen der Föderalismuskommission teilzunehmen und sich kundig zu
machen, wie der Stand der Diskussion ist.
({4})
- Darauf werde ich später in meiner Rede eingehen.
Sie haben die Bundesregierung aufgefordert, sich zu
positionieren. Mir scheint Ihr Demokratieverständnis ein
bisschen eigenartig zu sein. Wir als Bundestagsabgeordnete, also auch Ihr Mitglied in der Föderalismuskommission, sind aufgefordert, uns zu positionieren. Die
Bundesregierung - ich bin froh, dass sie mitmacht - hat
da eigentlich nur beratende Funktion. Wir, der Bundestag, und der Bundesrat werden diejenigen sein, die dieses Gesetz später verabschieden müssen. Sie können Ihren Vorschlag aktenkundig machen. Die entsprechende
Drucksache könnte die Nummer 010 oder 011 haben.
Aber nicht nur in diesem Zusammenhang habe ich
den Eindruck, dass es Ihnen mit dem Antrag gar nicht
um steuerliche Gerechtigkeit geht, sondern um Ihr altes
Anliegen, eine Neiddebatte aufzumachen. Ihr Konzept
„Wir nehmen den Reichen etwas weg und geben es den
Armen“ passt in den Rahmen der Themen „Reichensteuer“, „Vermögensteuer“ und „Erhöhung der Erbschaftsteuer“. Ich möchte nur wenige Zahlen vortragen,
die Ihrer Behauptung, die Reichen beteiligten sich zu
wenig an der Finanzierung unseres Gemeinwesens, den
Boden entziehen. Die Steuerstatistiken weisen darauf
hin, dass 0,1 Prozent der Steuerpflichtigen - das sind die
Einkunftsmillionäre - über 11 Prozent des gesamten
Einkommensteueraufkommens zahlen.
Die Behauptung, hier würden Steuern von Steuerpflichtigen nicht in angemessenem Umfang gezahlt, entbehrt also jeglicher Grundlage.
Aber vermutlich kommen diese Zahlen bei Ihnen gar
nicht an, weil es Ihnen gar nicht um die inhaltliche Auseinandersetzung mit Steuergerechtigkeit geht. Schon die
Oberflächlichkeit, mit der Sie Ihren Antrag formuliert
haben, zeigt, dass es Ihnen nicht um das Thema geht.
Dabei hätten Sie den Bundesrechnungshofbericht nur
korrekt abzuschreiben brauchen. Ihnen als Mitglied des
Finanzausschusses, Frau Dr. Höll, hätte ich durchaus zugetraut, dass Ihnen der Unterschied zwischen Einkünften
- um die geht es im Bundesrechnungshofbericht - und
Einkommen - das wird in Ihrem Antrag erwähnt - bekannt ist. Es ist bedauerlich, dass Sie, obwohl Sie an
Steuergesetzen mitarbeiten, selbst diese Grundbegriffe
offensichtlich nicht auseinanderhalten können.
({5})
Die Begriffsverwirrungen in Ihrem Antrag gehen
aber weiter. Wenn der Verfasser ein bisschen im Stoff
gesteckt hätte
({6})
- ich weiß nun zufällig von Ihnen, dass Sie es nicht waren, aber Sie sind diejenige, die es hier rechtfertigen
muss -, dann hätte er gewusst, dass die Betriebsprüfungsordnung, die hier erwähnt ist, keine Verordnung ist.
Wenn sie eine Verordnung wäre, wäre Ihre erste Forderung schon erledigt. Eine Verordnung ist eine Rechtsvorschrift, die bundeseinheitlich anzuwenden ist. Von daher
ist die erste Forderung schon in sich völlig unstimmig.
Bleiben drei Forderungen, mit denen ich mich inhaltlich auseinandersetzen muss.
Erstens. Sie fordern eine zwingende Anschlussprüfung bei Einkunftsmillionären. Diese Forderung des
Bundesrechnungshofs übernehmen Sie ungeprüft. Dazu
kann ich vorab nur sagen: Ich schätze viele Anmerkungen des Bundesrechnungshofs sehr und bin für viele Anregungen und Hinweise der letzten Jahre auch dankbar,
aber in diesem Fall scheint mir die Forderung des Bundesrechnungshofs nach einer flächendeckenden Außenprüfung für Einkunftsmillionäre nicht hinreichend zielführend zu sein. Ich will Ihnen auch gern erläutern,
warum.
Wenn man sich die Beispiele anschaut, die der Bundesrechnungshof geprüft hat und aufgrund deren er diese
Forderung aufgestellt hat, wird ganz offensichtlich, dass
es in den genannten Beispielen durchaus auch ohne Außenprüfung zur richtigen Besteuerung hätte kommen
können, wenn man nämlich die vor Ort ohnehin schon
vorhandenen Erkenntnisse richtig ausgewertet hätte.
({7})
Da geht es um Fälle, in denen ESt-PB-Mitteilungen
nicht ausgewertet worden sind. Da geht es um Fälle, in
denen der Prüfer etwas weiß, was dem Veranlagungsbezirk nicht mitgeteilt wird. Da geht es darum, dass zufällig zu viel Nullen in der Erklärung auftauchen. Das alles
sind keine Probleme, derentwegen man eine Außenprüfung braucht.
Es gibt allerdings Fälle, in denen geprüft werden
muss, ob die Organisation der Finanzverwaltung in jedem Einzelfall richtig ist; zu diesem winzig kleinen
Punkt werden wir in die Diskussion gehen müssen. Das
ist von Land zu Land unterschiedlich. Mit dem Thema
werden wir uns im Rahmen der Föderalismusreform II
sehr wohl befassen.
Ein weiterer Grund, warum ich meine, dass der Bundesrechnungshof mit seiner Forderung hier einfach irrt,
ist: Viele der aufgeworfenen Fragen wären schon heute
richtig und zufriedenstellend zu lösen gewesen.
Sie weisen darauf hin, dass das Betriebsfinanzamt in
der Regel nicht das Veranlagungsfinanzamt der Anteilseigner ist. Daraus schließen Sie, dass die Betriebsprüfung unterschiedlich geführt wird. Da liegen Sie völlig
daneben. Die §§ 194 und 195 der Abgabenordnung sehen ausdrücklich vor, dass der Betriebsprüfer, der den
Betrieb prüft, selbstverständlich auch den Anteilseigner
prüfen darf.
({8})
Die Finanzämter müssen das nur umsetzen. Auch da
stellt sich nicht die Notwendigkeit einer zusätzlichen
Außenprüfung.
Ich frage mich ohnehin, ob Sie den Eindruck haben,
dass bei Fällen mit 400 000 Euro Einkünften weniger
Fehler auftauchen, oder ob es da weniger schlimm ist,
wenn Steuern hinterzogen werden. Die Grenze von
500 000 Euro scheint mir völlig wirr gegriffen zu sein.
({9})
Aber das passt zu Ihrem Vorurteil, dass man Reiche irgendwie festmachen muss. Ich finde, auch mit 400 000
Euro Einkünften ist man schon recht gutverdienend. Ich
würde Wert darauf legen, dass auch da die Steuern richtig abgeführt werden.
({10})
Zweitens. Sie fordern gleichzeitig die Abschaffung
der besonderen Begründungspflicht bei Außenprüfungen. Liebe Kollegin Dr. Höll, Außenprüfungen bei Einkunftsmillionären finden in der Regel im Wohnzimmer
der Betreffenden statt, weil es keine Betriebsprüfungen,
sondern eben private Prüfungen sind. Ich sage Ihnen einmal, wie die Begründungsverpflichtung nach § 193 Abs. 2
ist. Danach dürfen solche Steuerpflichtigen nämlich
schon heute geprüft werden, „wenn die für die Besteuerung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen
und eine Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang
des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist“.
Ich frage Sie wirklich, was Sie noch brauchen.
Der Sachverhalt soll prüfungswürdig sein. Das ist
wohl Bedingung für eine Außenprüfung. Er darf nicht
von Amts wegen aufgeklärt werden können. Wenn ich
den Brief vom Finanzamt aus schicken kann, brauche
ich nicht ins Wohnzimmer des Steuerpflichtigen zu gehen. Auch da ist die Begründungspflicht, glaube ich,
durchaus angemessen, zumal ich hier das Betreten privater Räumlichkeiten nach wie vor für einen Eingriff in die
Grundrechte halte. Da sollte eine Begründungspflicht
durchaus bestehen.
Drittens. Nun zu Ihrer Forderung nach einer Aufbewahrungspflicht für private Belege. Auch das haben
Sie - das will ich zu Ihrer Ehrenrettung sagen - aus dem
Bericht des Rechnungshofes abgeschrieben.
({11})
Ich frage mich wirklich, wie sich der Bundesrechnungshof das vorstellt: Denkt er, dass uns die Kontoauszüge
der Schweizer Nummernkonten vorgelegt werden, wenn
eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird? Es ist doch
naiv, zu glauben, dass wir damit stärker als heute Zugriff
auf Steuerpflichtige erhielten, die wirklich hinterziehen
wollen. Ganz im Gegensatz zu Ihnen glaube ich, dass die
Erhebung einer Abgeltungsteuer hier der richtige Weg
ist. Wir haben damit einen besseren Zugriff auf die Banken, auf Kontoauszüge. Um das zu erreichen, brauchen
wir keine Außenprüfung.
({12})
Letzter Punkt - um wieder zum österlichen Frieden
überzuleiten -: Ja, wir werden das Thema aufgreifen, wir
haben das auch schon ohne Sie getan und werden es weiterhin tun, zusammen mit dem Bundesfinanzministerium. Wir brauchen nämlich eine größere Effizienzsteigerung und mehr Steuergerechtigkeit. Ehrlich gesagt:
Das gilt für große und für kleine Steuerzahler. Wir werden uns im Ausschuss mit Ihrem Antrag befassen; er war
aber nicht nötig, um uns in die richtige Richtung zu weisen.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Lust am Fabulieren ist in der Linkspartei kein unbekanntes Phänomen mehr. Wir wissen über Herrn
Lafontaine: Seine „Wut wächst“, sein „Herz schlägt
links“, dass er das „Lied vom Teilen“ singt; gemeinsam
mit Exkanzler Schröder hat er einmal „Innovationen für
Deutschland“ gefordert. Sein Co-Chef Gysi steht ihm in
puncto Schreiblust in nichts nach. So fragt sich Herr
Gysi „Was nun?“ und berichtet ausführlich über
„Deutschlands Zustand“ und natürlich auch über seinen
eigenen. Über seine Bücher wissen wir, dass er einen
„Blick zurück“ wirft, um einen „Schritt nach vorn“ zu
machen, dass er sagt: „Das war’s noch lange nicht“.
Kurzum: Wir wissen, dass die Lust am Fabulieren bei
der Linkspartei groß ist; genau das tun Sie auch in Ihrem
Antrag, den Sie uns vorlegen.
Der Antrag sagt wenig - um nicht zu sagen: gar
nichts - über Steuergerechtigkeit in Deutschland, aber
sehr viel über Ihr Weltbild aus. Da könnte man sofort
wieder einen alten Lafontaine-Schmöker ausgraben:
„Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“. Ich kann nur sagen: Zum Glück entscheidet
nicht Herr Lafontaine, was in Deutschland gerecht ist.
({0})
Ihr Antrag ist nichts anderes als der populistische Versuch, die Gesellschaft zu spalten; aber das wird Ihnen
nicht gelingen. Wenn Sie, Frau Höll, sich mit solch einem Antrag, der den Eindruck erweckt, unsinnig zu sein,
hier hinstellen und dann auch noch von „Sachlichkeit“
sprechen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist wirklich völlig fehl am Platz.
Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken - das tun
Sie immer wieder -, als hätten in Deutschland diejenigen
mit einem höheren Einkommen - die Besserverdienenden - eine niedrigere Belastung. Sie können Ihre These
wiederholen, aber sie wird nicht wahr. Tatsächlich zahlen nur 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen mehr als 40 Prozent Einkommensteuer; diese 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen hatten 2006 einen Anteil von 43,7 Prozent
am Einkommensteueraufkommen. Das sind die Zahlen!
Ich würde mich, da Sie von „Sachlichkeit“ sprechen,
freuen, wenn Sie das auch einmal erwähnten: 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen bringen 43,7 Prozent der Einkommensteuer auf.
({1})
Das fehlt in Ihrem Freund-Feind-Schema. Deswegen ist
der Antrag nichts anderes als Populismus.
Sie sprechen über die Steuererhebungspraxis der
Länder. Ich finde, da lohnt es sich, einmal nach Berlin zu
schauen; da tragen Sie doch die Verantwortung. Ich
denke, Sie sprechen mit den Leuten. Es gibt kein Bundesland, das im Jahr 2005 so viel Einkommensteuer gestundet hat wie das rot-rote Berlin. Berlin verzichtet in
Deutschland - verglichen mit den anderen Bundesländern - auf die meiste Einkommensteuer. Verantwortlich
ist dafür der rot-rote Senat, mit Beteiligung der Linkspartei. Sie stellen sich hier hin und erzählen uns, dass
überall alles falsch läuft. Da würde ich sagen: Die Linkspartei sollte sich an die eigene Nase fassen und schauen,
was sie in Berlin falsch macht.
({2})
Da liegt doch das Problem: All die Dinge, die Sie hier
fordern, setzen Sie dort, wo Sie in der Verantwortung
stehen, nicht um. Deswegen sind Sie, deshalb ist Ihr Antrag unglaubwürdig.
Welch Geistes Kind dieser Antrag ist, zeigt die Formulierung, es sei zwingend erforderlich,
… dass besagter Personenkreis einer Prüfungsdichte unterworfen wird, die eine Steuerumgehung
unmöglich macht.
Bitte sagen Sie mir: Wie soll denn so etwas aussehen?
Wollen Sie jetzt auf jeden Einkommensteuerpflichtigen
einen Prüfer ansetzen? Wollen Sie das machen? Dann
sagen Sie das! Das umzusetzen, ist sicherlich unmöglich.
Aber das kann doch nicht ernsthaft eine vernünftige
Finanzpolitik sein, Frau Kollegin.
Wir können uns gerne mit Ihrem populistischen Antrag beschäftigen. Sie wollten ja unbedingt, dass hier
darüber debattiert wird. Aber wir werden mit Sicherheit
nicht in steuerpolitischer Hinsicht einen Überwachungsstaat in Deutschland einführen, und wir werden uns mit
Sicherheit auch nicht an den Ergebnissen des rot-roten
Senats in Berlin orientieren, die Sie zu verantworten haben. In anderen Bundesländern läuft es besser; diese
sollten Maßstab sein. Ihre Politik ist wahrhaftig nicht
vorzeigbar.
({3})
Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dr. Höll?
Ja, bitte.
({0})
Herr Kollege Wissing, würden Sie bitte erstens zur
Kenntnis nehmen, dass der Finanzsenator in Berlin, Herr
Sarrazin, nicht Mitglied der Linkspartei, sondern der
SPD ist,
({0})
zweitens, dass eine Steuerstundung kein Steuererlass ist,
und drittens, dass wir nicht gesagt haben, dass diejenigen
mit einem hohen Einkommen keine Steuern zahlen. Die
Forderung, die wir in unserem Antrag erheben, ist, dass
Steuern so zu zahlen sind, wie es Recht und Gesetz vorschreiben; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die
Prüfdichte ist ein geeignetes Instrument, da bereits das
Wissen darum, dass man nicht einfach so durchkommt,
weil die Prüfdichte im Land nicht mehr nur bei
10 Prozent liegt, eine andere Wirkung entfalten würde.
({1})
Frau Kollegin Höll, das zeigt wieder einmal, dass Sie
nicht regierungsfähig sind.
({0})
Da sitzen Sie im rot-roten Senat und sagen, was haben
wir denn mit der SPD in Berlin zu tun.
({1})
Das ist ja unglaublich. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Sie verantworten den Zustand in Berlin
mit, und es sind nicht nur Stundungen in Berlin, sondern
auch Erlasse, bei denen Sie ganz vorne mit dabei sind.
({2})
- Das gilt genauso für die Steuererlasse. Berlin ist in der
Steuerverwaltung wirklich nicht gerade ein Paradebeispiel für effektiven Vollzug. Das verantworten Sie, die
Sie im rot-roten Senat sitzen, voll mit; das muss ich Ihnen sagen. Wenn Sie behaupten, Sie hätten in Berlin
überhaupt keine Verantwortung, dann ist das unglaubwürdig. Wenn Sie meinen, im Bundestag glaubwürdig
Opposition gegen Ihre eigene Landesregierung machen
zu können, dann ist auch das unglaubwürdig. Deswegen
ist Ihr Antrag ebenfalls unglaubwürdig; er führt in keinem Punkt weiter. Aus diesem Grund nehme ich zwar alles zur Kenntnis, was Sie sagen; aber peinlich ist es nicht
für mich, sondern für die Linkspartei.
({3})
Sie machen einen Fehler: Sie überlegen sich immer,
wie Sie Politik gegen bestimmte Gruppen in Deutschland machen können. Das ist die Schwäche Ihres Ansatzes. Sie sollten sich einmal überlegen, wie Sie Politik für
die Menschen in unserem Land machen können. Anstatt
sich zu überlegen, wie Sie gegen bestimmte Gruppen
vorgehen, sollten Sie sich lieber mit der Frage beschäftigen, wie Sie Verbesserungen für die Menschen erreichen
können, für die Verbesserungen erreicht werden müssen.
Wenn wir, Frau Kollegin Tillmann, in der Föderalismuskommission über eine effizientere Steuerverwaltung reden, dann tun wir das gemeinsam sachlich, auch
mit der Bundesregierung, aber nicht so, wie die Linkspartei es im Bundestag machen möchte. Es gibt sicherlich Effizienzreserven. Wie diese zu heben sind, werden
wir in der Föderalismuskommission auf sachliche Art
und Weise diskutieren - für die Menschen in Deutschland und nicht gegen sie, wie es die Linkspartei tut.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihr Antrag, liebe Frau Höll - Sie haben es selber gesagt -, bezieht sich auf die Prüfung der Bearbeitung von Einkommensteuerfällen mit bedeutenden Einkünften - so hieß es in dem Bericht - durch den
Bundesrechnungshof. Ich gebe Ihnen recht, dass die
Feststellungen in diesem Bericht durchaus beunruhigend
sind. Das Parlament, die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht sind sich einig, dass nach Art. 3
unseres Grundgesetzes eine gleichmäßige Besteuerung
erfolgen muss. Daran kann man durchaus zweifeln,
wenn man den Bericht ausführlich liest. Im Gegensatz
zu Herrn Dr. Wissing habe ich da doch Zweifel bekommen.
Aber ist Außenprüfung wirklich das Thema? Ich
denke, nicht. Die Finanzämter führen ein Risikomanagement durch, mit dem sie die Plausibilität der Angaben in
der Steuererklärung prüfen können. Diese Prüfungen
sind Voraussetzung für eine effiziente Veranlagung, auch
eine EDV-unterstützte Veranlagung, damit es schneller
geht und Fehler ausgemerzt werden können. Diese Prüfungen können bei allen Steuerpflichtigen durchgeführt
werden.
Angesichts der Beispiele, die der Bundesrechnungshof angeführt hat, drängt sich die Frage auf: Warum hat
in dem einen oder anderen Fall nicht eine rote Lampe
aufgeleuchet? In den meisten Fällen, die der Bundesrechnungshof vorgelegt hat, hätte meiner Meinung nach
der gesunde Menschenverstand gereicht, einmal nachzufragen, ob wirklich alle Einkünfte angegeben wurden
oder ob Einkünfte nicht versehentlich vergessen wurden.
Ich gebe es zu: Unser Steuerrecht ist vielleicht ein
bisschen komplizierter als andere. Aber wenn es richtig
angewendet wird - ich sage ausdrücklich: wenn -, ist es
gerechter. Aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung
kann ich sagen, dass Geldverkehrsrechnungen mitunter
schon in weniger bedeutenden Fällen durchgeführt werden. Jeder Steuerpflichtige kann erwarten, dass Steuererklärungen über bedeutende Einkünfte mindestens genauso sorgfältig und korrekt geprüft werden wie die über
weniger bedeutende Einkünfte. Ich bin mir ganz sicher:
Am Können kann es nicht liegen.
Frau Kollegin Tillmann ist schon darauf eingegangen:
Mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz haben wir
die Rechtsposition des Bundes gestärkt. So ist die Einführung eines bundeseinheitlichen Verwaltungscontrollings bzw. Risikomanagements rechtlich abgesichert.
Außerdem erhält der Bund mehr Einfluss auf Inhalt und
Verfahren bei den Außenprüfungen. Ziel kann natürlich
nur ein vollelektronisches Veranlagungsverfahren mit einer bundeseinheitlichen Software sein.
Darüber hinaus nützt es aber überhaupt nichts, wenn
nur die Bundesseite über eine Bundessteuerverwaltung
und über zentral zuständige Betriebsprüfungen nachdenkt. Das kann nur im Einvernehmen mit den Bundesländern auf den Weg gebracht werden. Deshalb müssen
diese Themen auch in der nächsten Stufe der Föderalismusreform auf den Tisch gelegt werden.
({0})
Regelungen, die es angeblich erschweren, eine
Außenprüfung, so sie denn notwendig ist, anzuordnen,
gibt es in meinen Augen nicht. Ein BFH-Urteil vom
17. November 1992 besagt: Eine Außenprüfung nach
§ 193 Abs. 2 Nr. 2 AO ist bereits dann zulässig, wenn
Anhaltspunkte vorliegen, die es nach den Erfahrungen
der Finanzverwaltung als möglich erscheinen lassen,
dass ein Besteuerungstatbestand erfüllt ist. In den geschilderten Fällen hätte also problemlos eine Außenprüfung angeordnet werden können. Tatsächlich sieht es
aber ein bisschen anders aus. Auch das konnten wir dem
Bericht entnehmen.
Nach der bundeseinheitlichen Einordnung der Größenklassen ergibt sich, dass Einkunftsmillionäre als
Großbetriebe eingestuft werden und somit regelmäßig
zu prüfen sind. Was regelmäßig heißt, wird nicht ausgeführt. An einer fehlenden Regelung - da bin ich mir ganz
sicher - kann es nicht liegen. Dennoch werden nur
6,5 Prozent aller relevanten Fälle geprüft. Die Bandbreite der Prüfung umfasst - abhängig vom Bundesland 10 bis 60 Prozent. Als „regelmäßig“ würde ich das nicht
bezeichnen.
Vielleicht liegt es wirklich an fehlenden Regelungen;
das will ich gar nicht abstreiten. Vielleicht liegt es auch
an der komplexen Struktur unseres Steuerrechts, an mangelnder Qualifikation und an Personalmangel. Es liegt
aber auch - dieser Missstand scheint mir viel leichter abzustellen zu sein - an mangelnder Akzeptanz. Laut
Bericht des Bundesrechnungshofes werden in zwei Bundesländern Einkunftsmillionäre regelmäßig gänzlich
vom Betriebsprüfungsplan abgesetzt. Das kann ich nicht
gutheißen. Auf der anderen Seite stimme ich Ihnen natürlich auch nicht zu. Sie wollen, dass jedem Bezieher
von besonders hohen Einkünften - beispielsweise Einkünfte in Höhe von 500 000 Euro - sozusagen Fußfesseln angelegt werden und ihm ein Betriebsprüfer an die
Seite gestellt wird, damit er permanent geprüft werden
kann. Zwischen diesen beiden extremen Positionen muss
man eine Lösung finden.
Es ist bestimmt auch nicht hilfreich, dass in jedem
Bundesland die Zuständigkeiten anders geregelt sind. In
einem Bundesland wusste eine Stelle überhaupt nicht,
dass sie verantwortlich ist. Sie dachte, eine andere Stelle
sei zuständig. Nach der alten Fußballerweisheit „Nimm
du den Ball, ich hab ihn sicher“ fühlte sich keiner mehr
zuständig. Das führt, wie wir aus dem Stadion wissen,
nicht zum gewünschten Erfolg. Hier ist eine einheitliche
Lösung unter Mitwirkung des Bundeszentralamts für
Steuern, das in den nächsten Jahren um 500 Betriebsprüfer aufgestockt wird, anzustreben.
Die fehlende Pflicht zur Aufbewahrung von Belegen
ist für mich nur ein formaler, ein vorgeschobener Grund.
Die Steuerpflichtigen versuchen doch, nachzuweisen,
dass sie ein geringeres zu versteuerndes Einkommen haben. Da ist es doch in deren eigenem Interesse, die Belege aufzubewahren, um das im Zweifel auch wirklich
belegen zu können. Deshalb ist das für mich nur ein ganz
formeller Grund.
Wir alle wollen, dass nach Leistungsfähigkeit besteuert wird, dass starke Schultern mehr tragen und schmale
weniger. Um diesen berechtigten Anspruch des Staates
durchzusetzen, halte ich eine Außenprüfung - und dies
eher regelmäßig - im gebotenen Fall ohne Zweifel für
richtig. Denn man darf dabei die prophylaktische Wirkung der Tatsache, dass Außenprüfungen stattfinden
könnten, nicht unterschätzen. Zumal das bei den Außenprüfungen eingesetzte Personal in der Regel mehr Geld
einspielt, als es kostet.
Ich denke nicht, dass Menschen mit einem höheren
Einkommen grundsätzlich oberflächlicher oder unehrlicher sind als Menschen mit einem niedrigen Einkommen. Aber ob ich bei Zinseinkünften von 1 Million Euro
oder bei Zinseinkünften von 1 000 Euro eine Null vergesse: In beiden Fällen ist es nur eine Null; die Auswirkungen sind natürlich ganz anders. Deshalb sollte man
auch da immer genau hinschauen.
Der Bundesrechnungshof fordert, das BMF solle auf
eine grundsätzlich lückenlose Betriebsprüfung hinwirken. Das erinnert mich dann doch schon wieder an die
Fußfessel. Dem schließe ich mich nicht ganz an. Grundsätzlich meine ich aber schon, dass Außenprüfungen ihre
Berechtigung haben.
Ihrer Forderung, jetzt schnell eine neue gesetzliche
Regelung einzuführen, kann ich mich aber nicht anschließen. Sie wissen so gut wie ich, dass eine mögliche
Gesetzesänderung auf diesem Gebiet nur mit Zustimmung der Bundesländer erfolgen kann. Manchmal ist ein
föderaler Staat auch ein bisschen lästig.
({1})
Aber wir wollen ihn ja. Deshalb müssen wir mit dieser
Art von Lästigkeit leben. Ich kann die Intention des Antrags verstehen. Auch mich treiben die Ergebnisse um;
das ist überhaupt keine Frage. Aber Ihre Begeisterung
für immer neue gesetzliche Regelungen teile ich nicht.
Da halte ich es mit Helmut Schmidt, der sagt:
Keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft.
Deshalb lassen Sie uns lieber alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam mit den Ländern und gemeinsam mit dem BMF Wege zu finden, die gewährleisten, dass wir zu einer gerechten Lösung kommen. Das
Gesetz dazu haben wir schon.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist sehr schwierig, wenn im Zusammenhang mit der gleichmäßigen und regelmäßigen
Prüfung von Besteuerungstatbeständen ein Antrag formuliert wird, in dem es nur um diejenigen gehen soll, die
500 000 Euro und mehr verdienen. Ich muss der Frau
Kollegin Tillmann völlig recht geben, wenn sie fragt:
Was ist denn mit denjenigen, die ein Einkommen von
400 000 Euro haben?
({0})
Ich frage: Was ist denn mit denen, die ein Einkommen
von 100 000 oder 70 000 Euro haben? Da haben doch
der Bürger und die Bürgerin im Prinzip genauso das
Recht, zu sagen: Wir erwarten, dass die Finanzbehörden
auch in diesen Fällen vernünftig prüfen.
Es ist ein sehr populistischer Ansatz - auch heute
Morgen haben wir das schon erlebt -, wenn man sich allein mit Einkommensmillionären - vielleicht gibt es
auch ein paar Einkommensmillionärinnen; aber die
Männer Ihrer Fraktion haben es noch nicht gemerkt - beschäftigt. Man verliert dabei aus dem Auge, dass die
nicht gleichmäßige und regelmäßige Prüfung von Besteuerungsgrundlagen durch die Finanzverwaltungen der
Länder und Kommunen grundsätzliche Fragen der Steuergerechtigkeit betrifft und nicht nur die Frage: Was ist
mit denen, die 500 000 Euro und mehr verdienen?
({1})
Wir haben heute bereits gehört - darauf wurde hingewiesen -, dass Steuerpflichtige mit einem Einkommen
von mehr als 500 000 Euro häufiger geprüft werden, als
es in Ihrem Antrag beschrieben worden ist.
Es war ein Fortschritt, dass dies in der Föderalismuskommission I insofern geändert wurde, als Bezieher von
Einkommen in dieser Höhe als Großbetrieb eingestuft
werden. Das führt automatisch zu einer größeren Prüfungsdichte. Die Regelung wird inzwischen in der Praxis
vollzogen.
Der Bericht des Bundesrechnungshofs 2006 hat gravierende Mängel vor allem beim Vollzug der Steuergesetze benannt und wichtige Empfehlungen gegeben. Wir
sollten uns mit diesem Bericht auseinandersetzen und
ihn sehr ernst nehmen, wenn es um die Frage geht, wie
wir den Vollzug der Steuergesetze auf Bundesebene,
aber vor allem auch in den Ländern verbessern können.
({2})
Ich halte es nicht für hinnehmbar, dass der Steuereinzug in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich durchgeführt wird. In Berlin beispielsweise - darauf
wurde schon hingewiesen; damit hat der Kollege
Wissing völlig recht - gibt es eine laxere Praxis als in
anderen Bundesländern. In Bayern versteht man die
Nichtprüfung von Unternehmen als Wirtschaftsförderung. Hessen sieht das ähnlich. So kann man aber auch
nicht vorgehen.
Wir müssen meines Erachtens zu Maßstäben kommen, die von allen gleichermaßen zugrunde gelegt werden, damit Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik
nicht durch unterschiedlichen Steuervollzug unter Ausschluss der Öffentlichkeit betrieben wird. Denn das
schadet unserer Wettbewerbsfähigkeit und ist unfair gegenüber den Unternehmen, denen keine Steuerentlastungen eingeräumt werden - wie es in Berlin zum Teil der
Fall ist -, sondern die ihre Steuern zahlen müssen.
({3})
Das BMF plädiert für eine Bundessteuerverwaltung.
Es ist wünschenswert, dass uns die Länderzahlen von
Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern vorgelegt werden, um die Akzeptanz hinsichtlich der Verfahrensgrundsätze einschätzen zu können. Unsere Kleine Anfrage wurde nicht so beantwortet, wie wir Grünen es uns
gewünscht hätten. Wir werden nachbohren und genauer
nachfragen, wie das Steuersystem aussehen soll. Wir
werden uns auch mit dem Prüfungsturnus in den einzelnen Ländern stärker auseinandersetzen.
Es ist gut, dass die Weisungsrechte des Bundes gegenüber den Ländern gestärkt wurden. Die Länder sollten sich im Rahmen der Föderalismusreform II mit der
Frage befassen, wie sie diese Maßstäbe in ihren Verwaltungen anwenden können. Das wäre der richtige Weg.
Die Erosion von Steuereinnahmen durch unterschiedliches Verwaltungshandeln muss ein Ende haben. Die
Föderalismusreform II hat dabei eine Bringschuld.
Es darf nicht sein, dass der Ehrliche der Dumme ist.
Insofern brauchen wir in der gesamten Bundesrepublik
einen ordentlichen Steuervollzug.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/3699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
US-Raketenabwehr und Europa - Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern
- Drucksache 16/4854 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Alexander Bonde.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist dringend an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag
zu den Raketenabwehrplänen der USA auf europäischem Territorium eine gemeinsame Position findet. Die
Stellungnahmen der Bundesregierung zu diesem Thema
sind in sich nicht schlüssig. Die Regierungsposition ist
von parteipolitischen Widersprüchen, allgemeinen Aussagen und scheinbarer Unkenntnis in der Beantwortung
parlamentarischer Fragen geprägt und von widersprüchlicher Rhetorik getragen. Das Parlament hat die Verantwortung, dem Herumgeeiere an diesem sicherheits-, abrüstungs- wie außenpolitisch zentralen Punkt ein Ende
zu setzen und die deutsche Position deutlich zu machen.
({0})
In den letzten Tagen und Wochen haben wir einiges
erlebt. Der geschätzte Staatsminister Erler, der gerade
eingetroffen ist, hat eine Vorlage geliefert. In der Beantwortung unserer Kleinen Anfrage zu diesem Thema erklärte er, die Bundesregierung plane nicht, über das Raketenabwehrsystem im Rahmen der EU zu diskutieren.
Zeitgleich erklärte er aber in der „Badischen Zeitung“,
unserer gemeinsamen Heimatzeitung, dass eine Befassung innerhalb der EU erfolgen muss. Da fragen wir uns,
da fragt sich die Öffentlichkeit: Was ist nun die Position
der Bundesregierung?
({1})
Wir haben ebenso wie die Verbündeten ein Recht, zu
erfahren, wie die Position der Bundesregierung aussieht. Das Thema muss auf die europäische Agenda;
denn der erweiterte Schutz Europas ist keine Frage, die
man unbeantwortet lassen darf, ist keine bilaterale Angelegenheit zwischen den USA und unseren europäischen
Nachbarn. Es ist vielmehr eine Frage, die wir gemeinsam beantworten müssen. Javier Solana hat recht: Die
Sicherheit Europas ist nicht teilbar, und die EU-Mitglieder sind bei aller Souveränität verpflichtet, die allgemeinen Sicherheitsinteressen der Union zu definieren und
gemeinsam darüber zu diskutieren.
Innerhalb der NATO muss man sich trotz grundsätzlicher Differenzen und unterschiedlicher Bedrohungswahrnehmungen damit auseinandersetzen. Es reicht nicht, sich
technisch an ein System, das auf widersprüchlichen Bedrohungsannahmen basiert und im nationalen Alleingang
von einem Partner durchgesetzt wurde, anzubinden. Es
muss vielmehr darum gehen, zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen. Dazu bedarf es der gemeinsamen Willensbildung in Europa und der gemeinsamen Risikoanalyse. Auch Deutschland muss die Situation für sich
wirklich bewerten.
Meine Fraktion begleitet die Raketenabwehr aus verschiedenen Gründen kritisch. Im Gegensatz zu anderen
lassen wir uns keinen russischen Bären aufbinden. Für
uns geht es um zentrale außen-, sicherheits- und abrüstungspolitische Implikationen. Man muss sich überlegen, was es bedeutet, wenn man versucht, ein politisches Risiko mittels eines Raketenabwehrsystems
technisch zu lösen. Abgesehen von den immensen Zweifeln an der technischen Machbarkeit dieses Systems ist
dieser Ansatz, wie wir wissen, immer dann zum Scheitern verurteilt, wenn sich das Hauptaugenmerk der Sicherheitspolitik auf die technische Beherrschbarkeit
richtet und nicht auf die Bildung von Vertrauen, was, wie
Herr Steinmeier richtigerweise gesagt hat, die eigentliche Frage ist.
Zum anderen erodiert das Raketenabwehrsystem die
ohnehin angeschlagenen Abrüstungs- und Nonproliferationsprozesse. Wir alle wissen aus der Geschichte, dass
solche technischen Systeme die Aufrüstung in der Tendenz nicht beenden, sondern eher Anreize setzen, um auf
der technischen Ebene Überwindungsstrategien zu finden. Der Vorwurf der Aufrüstungsspirale ist insofern
schwer zu widerlegen. Wir alle wissen, dass wir zurzeit
eigentlich mehr Initiativen Deutschlands und Europas
für Abrüstung brauchen. Deshalb ist diese Diskussion
notwendig.
Ich glaube - das will ich noch sagen -, dass die Regierung fahrlässig handelt, wenn sie in ihren Antworten
auf unsere Fragen so tut, als wisse sie nichts davon, dass
die amerikanischen Pläne vorsehen, dieses System im
nächsten Schritt mit der Weltraumrüstung zu verbinden; denn die Interviews der zuständigen US-Militärs
und der politischen Spitze zu diesem Thema sind bekannt. Es ist bekannt, dass im Budget der zuständigen
Institution, der Missile Defense Agency, für Tests von
weltraumbasierten Waffenkomponenten Gelder eingestellt werden.
All das muss dazu führen, dass wir eine klare Position
beziehen. Ich würde mich freuen, wenn die SPD ihre
neuerliche Friedenserweckung nicht nur in den Zeitungen und auf den Ostermärschen zum Ausdruck bringt,
sondern diese Gelegenheit nutzt, dieser Position zuzustimmen. Das würde zeigen, dass Sie das, was Sie formuliert haben, ernst meinen. Sie werden erkennen, dass
sich viele der richtigen Erkenntnisse Ihres Außenministers, Ihres Staatsministers und Ihres Parteivorsitzenden
wörtlich in unserem Antrag wiederfinden.
Wenn Herr Scholz recht hat und die SPD-Fraktion
hinter ihrem Parteivorsitzenden Beck steht, dann sehe
ich keinen Grund, weshalb Sie seiner Position - zum
Teil wörtlich im Antrag formuliert - heute nicht zustimmen können. Wir werden das sehr genau beobachten.
Glaubwürdigkeit wird nicht nur durch Reden, sondern
auch durch Handeln und bei Abstimmungen erlangt.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Unionsfraktionen hat der Kollege Dr. Lamers
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Raketenabwehr hat sich in wenigen Tagen
durch das Zutun vieler zu einem roten Tuch entwickelt.
Obwohl die Entwicklung schon seit vielen Jahren im
Gange ist, wird jetzt von verschiedenen Seiten der Eindruck erweckt, es beginne eine neue Phase des Wettrüstens. Genau das ist in meinen Augen nicht der Fall. Ich
meine, wir alle sind gut beraten, die Entwicklung zunächst einmal vorurteilsfrei anzugehen, einzuschätzen
und zu bewerten. Für populistische Angstmacherei ist
hier in meinen Augen überhaupt kein Platz.
({0})
Jede Raketen- und Flugkörperabwehr soll doch letztendlich nur eines erreichen: dass nukleare und sonstige
Massenvernichtungswaffen ihr Ziel nicht erreichen,
das heißt vor dem Erreichen ihrer Ziele zerstört werden.
Darum geht es. Wer auch immer solche Massenvernichtungswaffen einsetzen oder mit ihrem Einsatz drohen
will, muss wissen, dass seine Waffe stumpf ist und aufgrund unserer Abwehrfähigkeit ihr Ziel nicht erreichen
kann. Genau darum geht es und um nichts anderes. Wir
wollen nicht erpressbar werden, nicht durch den Iran,
nicht durch Nordkorea, durch niemanden.
({1})
Raketenabwehr bedeutet nicht Wettrüsten, wie einige
uns weismachen wollen. Für mich bedeutet Raketenabwehr im Gegenteil die Chance zur Abrüstung der ungeheuren Potenziale von offensiven Massenvernichtungswaffen. Was macht es denn noch für einen Sinn, solche
Waffen zu beschaffen, wenn sie keine Wirkung mehr
entfalten? Die Zeiten haben sich geändert. Nukleares
Wettrüsten gab es in der Tat in früheren Zeiten, im soDr. Karl A. Lamers ({2})
genannten Kalten Krieg, der allerdings ganz andere Rahmenbedingungen hatte als unsere heutige globale Sicherheitslage. In den Jahren des Kalten Krieges galt die
Philosophie der Mutual-assured-Destruction, der gegenseitigen gesicherten Zerstörung. Durch Hochrüstung
hielten sich die Supermächte gegenseitig in Schach, wobei jeder wusste, dass er selbst bei einem nuklearen Angriff durch einen entsprechenden Gegenschlag auch vernichtet würde.
Ich frage Sie: Gilt diese Strategie auch heute noch in
einer völlig veränderten Welt? Gilt dies noch in einer
Zeit, in der wir es mit Terrorregimen, Suizidbombern
und mit potenziell irrational Handelnden zu tun haben?
Die Entwicklung von Abwehrfähigkeit könnte sich als
lebensrettend für Staaten und Menschen erweisen. Das
treibt mich und uns alle zurzeit bei diesem Thema um.
In der laufenden Diskussion wird behauptet, das geplante amerikanische Raketenabwehrsystem bedrohe
Russland und schaffe neue Instabilität. Wir alle erinnern
uns an die Rede des russischen Präsidenten Putin auf der
Münchener Sicherheitskonferenz. Da haben manche ja
gedacht, die Entwicklung dieses Systems vollziehe sich
ohne die Einbeziehung Russlands. Man hatte den Eindruck, dass Putin gerade zum ersten Mal davon erfahre.
Das wäre in der Tat fatal gewesen.
Denn zum Glück ist es in den zurückliegenden Jahren
gelungen, Russland oft einzubeziehen, mit ins Boot zu
nehmen und angesichts großer gemeinsamer Bedrohungen eine Politik des Miteinanders zu vereinbaren.
Aber glücklicherweise war es ja nicht so. Denn wie
wir heute wissen, ist über dieses Projekt im Rahmen des
NATO-Russland-Rates mehrfach gesprochen worden.
Die Verteidigungsminister Russlands und der Vereinigten Staaten von Amerika haben mehrfach darüber gesprochen. An die Adresse von
Wer Transparenz bei der anstehenden Verwirklichung eines Raketenabwehrsystems verlangt, sollte
auch selber Offenheit und Transparenz zeigen, wenn es
um die Kommunikation über dieses Thema geht.
({0})
Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema auf den
Konferenztisch der NATO gehört. Deswegen bin ich
sehr froh, dass die Vereinigen Staaten von Amerika in
den zurückliegenden Tagen deutlich gemacht haben,
dass sie überhaupt nicht an einen Alleingang denken,
sondern dass sie bereit und entschlossen sind, alle
NATO-Partner in ihre Überlegungen und Pläne einzubeziehen. Denn wenn unsere NATO-Partner Polen und
Tschechien einbezogen sind, geht es nicht nur um diese
beiden Staaten, sondern um die NATO insgesamt und
um Europa. Keiner darf die Chance bekommen, einen
Keil in unsere Bündnisse zu treiben, wie es die Bundeskanzlerin - ich meine: zu Recht - gesagt hat. Uns interessiert nämlich schon, wer durch den Raketenschirm
geschützt wird: ganz Europa oder nur ein Teil Europas.
Für mich ist auch wichtig: Russland muss begreifen,
dass zehn Abwehrraketen in Polen keine Bedrohung für
das eigene Land darstellen. Ich kann überhaupt nicht
nachvollziehen, warum zehn Raketenabwehrsysteme
Russland um den Schlaf bringen. Das müssen wir offen
kommunizieren, auch und gerade mit Blick auf Russland.
Eigentlich - das habe ich eingangs gesagt - geht es
auch überhaupt nicht um Russland. Es geht um etwas
ganz anderes, nämlich um den Schutz der Menschen unter
dem Raketenschirm gegenüber irrational handelnden
Terrorstaaten. Ich bin überzeugt, dass auch Russland
daran ein Interesse hat. Eine Bedrohung ist dieses Abwehrsystem keinesfalls.
Mit seiner Münchener Rede hat Präsident Putin dieses
Thema schlagartig auf die Agenda der Weltpolitik katapultiert. Wir reden jetzt im Bundestag darüber, und wir
reden auch auf der Frühjahrstagung der Parlamentarischen
Versammlung der NATO darüber. Diesen Vorschlag
habe ich erst am letzten Wochenende beim Standing
Committee gemacht. Wir werden das tun, und das ist
auch richtig. Dieses Thema gehört auf die Agenda der
Parlamentarier aus Europa, Kanada und Amerika. Ich
begrüße es, dass die NATO auf Vorschlag von Jaap de
Hoop Scheffer im NATO-Rat und im NATO-RusslandRat offen über dieses Thema diskutieren wird.
({1})
Im Übrigen will ich betonen, dass das geplante System
defensiv, nicht offensiv ist. Weil es sich um ein reines
Abwehrsystem handelt, kann sich weder Russland noch
irgendein anderer Staat davon bedroht fühlen. Eines ist
sicher: Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit
Raketen und Flugkörpern wird somit nicht nur sinnlos - er
war schon immer sinnlos -, sondern verfehlt auch seinen
Zweck und sein Ziel.
Die USA haben in den letzten Jahren viel in Missile Defense investiert, um Bedrohungen von sich, aber auch von
Europa abzuhalten. Auch das Raketenabwehrprogramm
der NATO sollte in diesem Zusammenhang berücksichtigt
werden, wenn es auch nicht damit identisch ist. Wir sollten
darauf achten, dass all diese Systeme, die entwickelt
werden, um Menschen zu schützen, miteinander kompatibel sind, damit sie wie Zahnräder ineinandergreifen.
Dann haben wir Gemeinsamkeit, nämlich gemeinsam
mehr Sicherheit. Darum geht es.
Sicherheit ist unteilbar. Das ist einer der Glaubensgrundsätze der NATO. Wir alle, mit und ohne Abwehrsysteme, müssen uns in der zukünftigen strategischen
Wirklichkeit wiederfinden können. Es kann und darf im
euro-atlantischen Raum keine Zonen unterschiedlicher
Sicherheit geben. Deshalb ist der Schulterschluss zwischen
den Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO
gerade in der Frage der Raketenabwehr unabdingbar.
In einer Zeit, in der wir neuen Bedrohungen durch
den internationalen Terrorismus, potenziell auch durch
Terrorstaaten, die im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind, ausgesetzt sind, brauchen wir auch Russland.
Wir müssen das in den zurückliegenden Jahren aufgebaute
Vertrauen weiter ausbauen. Auf genau diesem Weg befinden wir uns.
({2})
Dr. Karl A. Lamers ({3})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir Parlamentarier den Kern unseres Handelns darin sehen, alles
zu tun, um den Frieden zu wahren und Bedrohungen von
unseren Völkern abzuwenden. In einer Zeit völlig neuer
Szenarien fundamentaler Bedrohungen müssen wir
umso offener sein, neue Wege zu gehen. Die Chancen,
die sich durch die Entwicklung von Defensivwaffen
auftun, ermöglichen uns, das zerstörerische Potenzial von
Offensivwaffen weiter abzubauen. Also: Das Bekenntnis
zu einem Abwehrsystem bietet die Chance größerer Abrüstung.
Dies heute ist für mich der Einstieg in eine umfassende
Erörterung dieses Themas. Ich bitte alle um Sachlichkeit,
ich bitte darum, der Versuchung des Populismus zu
widerstehen und vor allem keine voreiligen politischen
Entscheidungen zu treffen, bevor wir das Für und Wider
sorgfältig gegeneinander abgewogen haben.
({4})
Ich danke.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Dass wir heute zum zweiten Mal innerhalb
von zehn Tagen über die mögliche Stationierung einer
US-Raketenabwehr auf europäischem Boden diskutieren,
ist sicher ein guter Beweis für die grundlegende außenund sicherheitspolitische Bedeutung dieses Themas.
Daher verwundert es mich sehr, wenn vonseiten der
Bundesregierung der Eindruck erweckt wird, als sei dieses
Thema quasi vom Himmel gefallen. Denn ein Raketenabwehrsystem als gemeinsames Projekt der NATO
wird seit Jahren in den entsprechenden Gremien diskutiert.
Diese Diskussionen sind gekennzeichnet durch divergierende Risikoeinschätzungen sowie das Fehlen einer
kohärenten sicherheitspolitischen Richtung.
Ein entsprechender US-Vorschlag liegt der NATO
schon seit 2002 vor. Deutschland hat dazu bis heute
nicht vernehmbar Stellung bezogen.
({0})
Wenn die Bundeskanzlerin nun den Eindruck zu erwecken versucht, die Diskussion über die amerikanische
Raketenabwehr auf NATO-Ebene führen zu wollen,
frage ich mich, was denn bisher im Bundeskanzleramt
angekommen ist. Ein Außenminister, der anmerkt, es
wäre besser gewesen, mit der russischen Seite früher
über das Vorhaben zu reden - das ist ein Zitat -, scheint
vor allem nicht frühzeitig genug mit seinem Fachreferat
darüber gesprochen zu haben.
({1})
Im Auswärtigen Amt weiß man sehr wohl, dass das
Thema einer US-Raketenabwehr auf europäischem Territorium im NATO-Russland-Rat bereits früh auf der
Tagesordnung stand.
Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen ist eine Vielzahl von abrüstungspolitischen
Zielen, die wir begrüßen und auch selbst schon beantragt
haben, formuliert. Dennoch findet dieser Antrag nicht
unsere volle Zustimmung. Denn insbesondere die bündnisgrüne Forderung nach einer vollständigen Aufgabe der
nuklearen Teilhabe teilen wir Liberale in der vorliegenden
Form nicht.
({2})
Deshalb wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung
enthalten.
Denn ein möglicher Abzug der amerikanischen
Atomwaffen muss ebenso wie die Stationierung einer
möglichen Raketenabwehr eng mit den Vereinigten Staaten
und vor allem innerhalb der NATO auf Basis einer
gemeinsamen Risikoabschätzung abgestimmt werden.
Die Sicherheit Europas kann - bei allen Divergenzen nicht losgelöst von diesen Beziehungen betrachtet werden.
Welchen Gewinn soll es bringen, die nukleare Teilhabe
aufzugeben? Wir erreichten dann einen Status, in dem
die beiden einzigen europäischen Atommächte ohne
verpflichtende Bindung an die NATO mit ihrem Atompotenzial verfahren würden. Wir würden damit also ein
Weniger an gemeinschaftlichem Eintreten für Frieden
und Sicherheit erreichen, kein Mehr. Außerdem muss die
Frage erlaubt sein, wieso das Thema „nukleare Teilhabe“
in sieben Jahren rot-grüner Bundesregierung nie in den
entsprechenden NATO-Gremien auf die Tagesordnung
gesetzt wurde. Der NATO-Generalsekretär hat damals
deutlich zu verstehen gegeben, dass die Bundesregierung
es nur sagen müsse, wenn sie die nukleare Teilhabe thematisieren möchte.
Wie der vorliegende Antrag aber auch deutlich macht,
kann die US-Raketenabwehr nicht losgelöst von den anderen Entwicklungen in der globalen Abrüstungspolitik
diskutiert werden. Die russischen Reaktionen auf die trilateralen Raketenabwehrpläne und die damit verbundene
Drohung Moskaus, den INF-Vertrag zu kündigen, sind
nur ein Symptom der grundlegenden Vertrauens- und
Glaubwürdigkeitskrise der internationalen Abrüstung
und Rüstungskontrolle. Das nukleare Nichtverbreitungsregime gerät aus den Fugen, die Genfer Abrüstungskonferenz blockiert sich seit Jahren selbst, und an die Stelle
von multilateralen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung sind vielfach bilaterale Abkommen,
Ad-hoc-Initiativen oder sogenannte „Coalitions of the
Willing“ getreten. Ein rein trilaterales Vorgehen bei der
Stationierung des Raketenabwehrsystems würde diese
Krise weiter verschärfen und die vertrauensvolle Zusammenarbeit im transatlantischen Bündnis auf die Probe
stellen.
Darüber hinaus ist die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt
ein mehr als unglückliches Signal in Bezug auf die Nuklearambitionen Teherans. Wer einen Raketenabwehrschirm als zentralen Teil einer Containment-Strategie
gegenüber dem Iran betrachtet, hat sich bereits mit einer
möglichen nuklearen Bewaffnung Teherans abgefunden.
({3})
Daher muss die Bundesregierung ihre Einwirkungsmöglichkeiten, die sie sowohl im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft als auch durch den G-8-Vorsitz hat, durch
eine klare Linie in dieser wichtigen Angelegenheit nutzen.
Das wird dringend notwendig sein, weil die kommenden
fünf Jahre für die Zukunft sowohl der nuklearen als auch
der konventionellen Rüstungskontrolle sowie der globalen
Abrüstungsbemühungen existenziell sind. START I und
SORT stehen zur Verlängerung an. Die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsregimes im
Jahre 2010 wird zum Testfall für die Zukunftsfähigkeit
der Nichtverbreitung. Der angepasste KSE-Vertrag wartet
seit 1999 auf seine Ratifizierung; ohne diese Ratifizierung unterliegen die Zahlen der Streitkräfte in den neuen
NATO-Staaten auch weiterhin keiner Begrenzung.
Es ist daher dringend an der Zeit, dass die Bundesregierung ihre Vorstellungen über die zukünftige Abrüstungspolitik mit Nachdruck in die internationalen Gremien
einbringt und mit ebensolchem Nachdruck auf eine Lösung
hinarbeitet. Unsere Unterstützung werden Sie dabei haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Hoff, lassen Sie mich genau an
diesen Punkt, den Sie am Schluss erwähnt haben - erhebliche Teile Ihrer Bedenken, die Sie am Schluss geäußert
haben, teile ich -, anknüpfen.
Wir haben mitverfolgt, dass es beispielsweise 2005
ein vollständiges Desaster bei der Überprüfungskonferenz
gab. Schauen Sie sich darüber hinaus - Sie haben das nur
angedeutet - die Aufrüstungsbestrebungen zum Beispiel
in Großbritannien und Frankreich sowie die Überlegungen
hinsichtlich der Ersatzsprengköpfe in den USA an, welche dort mit einem technologischen Projekt vorangetrieben
werden. Ich glaube in der Tat, dass wir versuchen müssen,
diese ganze Debatte, die doch sehr alarmistisch klingt,
einfach einmal vor dem Hintergrund des wirklichen Problems zu führen.
Ich denke, das wirkliche Problem liegt darin, dass der
Abrüstungsprozess nach den Verhandlungen über
START leider ins Stocken geraten ist. Im Moment sehen
wir eher die Gefahr, dass es unter dem Stichwort der
Modernisierung zu neuen Aufrüstungsprozessen kommt.
Das ist doch das eigentliche Problem, das sich dahinter
versteckt. Wenn es uns gelänge - so verstehe ich das,
was der Außenminister gesagt hat -, an den Abrüstungsprozess neu anzuknüpfen, dann würden wir in dieser
gesamten Diskussion einen ganz neuen Impuls und
Schub bekommen. Daher rate ich dringend dazu, dass
wir diesen Einzelpunkt, über den jetzt debattiert wird,
nicht alleine herausgreifen.
Der Kollege Dr. Lamers hat einen ganz zentralen und
politisch wichtigen Punkt angesprochen, in dem ich ihm
ausdrücklich zustimme. Wir, die wir keine Atommächte
sind, auch nie werden wollen, müssen die Atommächte
daran erinnern - darum bitte ich -, dass sie es mit ihrem
eigenen Handeln in der Hand haben, dafür zu sorgen,
dass die Aufrüstungsprozesse gestoppt und neue Abrüstungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Das ist
der zentrale Punkt.
({0})
Herr Dr. Lamers, dazu gehört insbesondere das, was Sie
gesagt haben: Es kommt darauf an, dass wir Russland
mit einbeziehen und Vertrauen bilden.
Wenn ich das Ergebnis des Telefongesprächs zwischen Bush und Putin richtig bewerte, dann stehen wir
im Moment möglicherweise kurz davor - hier spielt der
G-8-Gipfel in Deutschland dann vielleicht doch eine
Rolle -, dass sich die beiden einigen. Denn inhaltlich
und sachlich ist es ja völlig richtig, was auch Sie, Herr
Dr. Lamers, sagen.
Gesetzt den Fall, dass man rational prüfen könnte,
was NMD bedeutet - das ist ja in der Tat ein Abwehrsystem -, muss man sich aber auch politisch darüber im
Klaren sein, dass selbst Abwehrsysteme zu ganz ungeahnten politischen Nebenwirkungen führen können.
Aus diesem Grunde - und nicht nur aus technologischen
Gründen - hat Bill Clinton damals gesagt: Dieses Projekt verfolge ich nicht weiter.
Vielleicht kann man in der politischen Diskussion etwas Zeit gewinnen, damit sich in der amerikanischen
Administration und im amerikanischen Kongress solche
Überlegungen wieder neu einstellen können. Ich halte
das gar nicht für unmöglich. Es ist zwar richtig, dass
man klare Positionen beziehen muss, aber wir können
am besten dann klare Positionen beziehen, wenn durch
die Machbarkeitsstudie die von uns gestellten Fragen
beantwortet werden. Es gibt keine Festlegung der Bundesregierung in diesem Punkt! Es gibt keine politische
Festlegung, dass wir das akzeptieren, was NMD betrifft.
Auch bei der neuen Variante gibt es keine Festlegungen.
Wir müssen die Antworten auf die Fragen sorgfältig prüfen und danach eine politische Bewertung abgeben.
Am Anfang hat jemand Staatsminister Erler erwähnt.
({1})
- Entschuldigung, Kollege Bonde, Sie waren das.
({2})
Gert Weisskirchen ({3})
- Herr Erler weiß sehr wohl, wovon er spricht.
({4})
Die Position, die er in dem Interview mit der „Berliner
Zeitung“ - darauf haben Sie offenbar Bezug genommen - deutlich gemacht hat, ist eine Position, die ein Sozialdemokrat notwendigerweise beziehen muss. Denn
wir alle wollen doch gemeinsam, dass Aufrüstungsprozesse gestoppt und Abrüstungsprozesse in Gang gesetzt
werden.
({5})
Das wollen wir alle gemeinsam. Das, was Staatsminister
Gernot Erler zu diesem Punkt gesagt hat, findet die volle
Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion - damit das ganz klar ist.
({6})
Für die schnelle Abfolge der Beratungen, die in diesem Hause seit zwei Wochen stattfinden, gibt es keinen
wirklich plausiblen Grund. Frau Hoff, da haben Sie
recht. Die deutsche Politik steht bei diesem Thema nicht
unter Zeitdruck. Natürlich muss geklärt werden, was
möglicherweise auf uns zukommt. Das hat zum Beispiel
der Parteivorsitzende der SPD sehr klar gesagt.
Im politischen Prozess ist für uns wichtig, dass die
Bundesregierung - wie die SPD - deutlich macht: Wir
wollen weder eine neue Rüstungsspirale durch Modernisierung vorhandener Waffensysteme noch eine Gefährdung bestehender Abrüstungsvereinbarungen. Vielmehr
wollen wir, dass sich der Wettbewerb zwischen den offensiven und den defensiven strategischen Waffen, den
es übrigens seit vielen Jahren gibt, nicht in Richtung einer Steigerung entwickeln wird. Wenn es einen solchen
Wettbewerb zwischen Abwehrsystemen und strategischen Offensivsystemen geben wird, dann wird es eben
nicht zu Abrüstungsprozessen, sondern zu Aufrüstungsprozessen kommen.
({7})
Ich glaube nicht, dass irgendjemand bei uns - wer auch
immer - ein wirkliches Interesse daran haben kann, dass
Aufrüstungsprozesse in Gang gesetzt oder gar durch
unseren politischen Willen getragen und vorangetrieben
werden.
Ich wünsche mir, dass wir in dieser Debatte vom
Alarmismus wegkommen. Herr Bonde hat das auch so
schön zugespitzt formuliert: Es geht hier nicht um den
Wettbewerb zwischen friedenspolitischen Orientierungen, sondern darum, wie es uns gelingen kann, den historischen Prozess der Abrüstung wieder neu in Gang zu
setzen. Ich wünsche mir, dass wir unsere politischen
Kräfte darauf konzentrieren, weitere Aufrüstungsprozesse zu stoppen. Das lerne ich aus dieser Diskussion.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Paul
Schäfer das Wort.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über einen Antrag der Grünen. Dieser
Antrag ist nicht schlecht. Da wir auch andere Fraktionen
ermuntern wollen, sich abrüstungspolitisch zu engagieren,
werden wir ihn unterstützen. Gleichwohl werden wir einen eigenen Antrag einbringen, in dem wir die Sache auf
den Punkt bringen. In dem Antrag der Grünen heißt es:
Die Pläne zur Raketenabwehr sollen erst einmal auf Eis
gelegt werden. - Nein, diese Pläne müssen ad acta gelegt
werden.
({0})
Das ist eine klare Position. Ob das auch für Sie, die Sozialdemokraten, gilt, fragen wir uns sicherlich alle in
diesem Haus. Ob es beim Nein Ihres Parteivorsitzenden
zu neuen Raketen bleibt, wird man sehen. Ich glaube
zwar, dass Sie nicht nur auf die Wählerstimmen schauen,
sondern dass Sie echt besorgt sind. Aber wir werden sehen, inwieweit Sie diesen Konflikt innerhalb der Koalition austragen und was am Ende dabei herauskommt.
Um es klar zu sagen: Es kann nicht nur darum gehen,
dass Russland etwas besser eingebunden wird, dass wir
bei den neuen Waffensystemen etwas mehr Mitsprache
- im Sinne der nuklearen Teilhabe - bekommen und
dass einige offene technische Fragen geklärt werden.
Nein, es muss deutlich gemacht werden: Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich an diesem neuen
Rüstungsprojekt in keiner Weise.
({1})
Zweitens. Die Bundesregierung muss darauf drängen,
dass sich in der EU die möglichst einheitliche Haltung
durchsetzt, dass wir keine neuen Raketen in Europa haben wollen. Das wäre ein Rückenwind für die zunehmend kritischer werdende Öffentlichkeit in Polen und
Tschechien. Ich finde, es ist vollkommen korrekt, wenn
Menschen dort sagen: Wir wollen in unseren Ländern
ein Referendum über das Raketenabwehrsystem haben. Diese Menschen sollten wir unterstützen.
({2})
Drittens. Es muss alles daran gesetzt werden, durch
eine konsequente Abrüstungspolitik bei den Massenvernichtungswaffen die Bedrohung erst gar nicht entstehen zu lassen, gegen die man jetzt vorrüsten will. Die
Gefahr der Weiterverbreitung ist sicherlich kein Hirngespinst; das sage ich ganz klar. Aber der Ausgangspunkt
ist die Verbreitung der vorhandenen Waffen, also die
Tatsache, dass es eine Gruppe von Staaten, die Atommächte, gibt, die von ihrem Monopol auf diese TerrorPaul Schäfer ({3})
waffen nicht abrücken wollen. Daher ist nach meiner
festen Überzeugung eine Nichtweiterverbreitung nur
zu erreichen, wenn alle erdenklichen Schritte eingeleitet
werden, die vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu
ächten und loszuwerden. Das reicht vom Abzug der
Atomsprengköpfe auf deutschem Boden über die Etablierung einer atomwaffenfreien Zone in Europa bis zur
verbindlichen Reduzierung der strategischen Waffenarsenale.
Wir müssen den Grundgedanken der gemeinsamen
Sicherheit, der aus dem Kalten Krieg herausgeführt hat,
wiederbeleben. Das verträgt sich aber nicht mit Präemptionsstrategien und militärischen Strategien zur Einkreisung Russlands. Mit Blick auf die Überprüfungskonferenz 2010 muss das vielmehr bedeuten, endlich den
Blix-Report Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen.
Mit diesem Report liegt ein Handbuch vor, aus dem hervorgeht, was abrüstungspolitisch zu tun ist. Auf seine
Umsetzung müsste die Bundesregierung energisch drängen.
Man könnte auch über neue Rüstungskontroll- und
Abrüstungsinitiativen sprechen, und zwar gerade mit
den Ländern, die gegenwärtig dabei sind, sich neue
Waffentechnologien zuzulegen. Dabei könnte es zum
Beispiel um einen allgemeinen Teststopp bei Raketen
mit langer Reichweite gehen. Das würde als erste
Schritte voraussetzen, mit der nuklearen Abrüstung zu
beginnen und mit den betreffenden Ländern über ihre legitimen Sicherheitsprobleme zu reden. Das gilt auch für
den Iran und Nordkorea. Statt in eine neue Aufrüstungsspirale einzusteigen, muss nun alles getan werden, um
eine neue Abrüstungsdynamik zu entwickeln.
Die Karwoche beginnt mit dem Palmsonntag. Der
Palmzweig ist das Symbol des Friedens. Daran knüpfen
auch die traditionellen Ostermärsche an. In diesem Sinne
darf ich uns allen frohe Ostern wünschen.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/4854 mit dem Titel „US-Raketenabwehr und Europa -
Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der
Antragsteller und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}), Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan beenden
- Drucksache 16/4674 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Das Mandat für die Operation Enduring Freedom beenden - Einsätze des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan einstellen
- Drucksache 16/121 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gibt den Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Recht, ihre
Zustimmung zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu widerrufen. Dieses Recht ist, so denke ich, gleichzeitig
eine Pflicht, diese Einsätze immer wieder zu überprüfen,
sich eine Meinung dazu zu bilden und, wenn man zu der
Auffassung kommt, man muss sie beenden, das hier im
Parlament zu beantragen. Wenn wir beantragen, den Einsatz der KSK in Afghanistan zu beenden, ist unser Begehren, dass das Parlament von diesem Recht Gebrauch
macht. Ich denke, man muss mehr darüber diskutieren,
ob es genügt, wenn ein Parlament immer nur auf die Regierung schaut und wartet, ob ein Antrag kommt, um
dann zuzustimmen oder abzulehnen, oder ob ein Parlament nicht auch zu Selbsttätigkeit aufgefordert ist.
({0})
Ich denke, das Parlament ist aufgefordert. Wir wollen,
dass der Einsatz der KSK in Afghanistan beendet wird.
Dazu möchte ich ein paar Gründe nennen. Aus meiner
Sicht ist der Krieg in Afghanistan - nach all dem, was
man liest, hört und weiß - militärisch nicht mehr zu gewinnen. Andere formulieren es etwas zurückhaltender;
die Regierungskoalition sagt zum Beispiel, er sei „vorwiegend militärisch“ nicht mehr zu gewinnen. Man
könnte zumindest sagen, der Krieg steckt in der Sackgasse. Wir als Linke waren immer der Auffassung, dass
ein Kampf gegen den Terror gewonnen werden kann,
wenn man sich um die Ursachen des Terrors kümmert,
waren gleichzeitig aber immer der Auffassung, dass dieser Krieg gegen den Terror nicht zu gewinnen ist.
Wenn solche Argumente nicht einmal einen Widerhall
finden, dann bitte ich Sie ganz herzlich, Ihre Erfahrungen zu prüfen. Das erste Argument für diese Kriege war
immer: Es sind Kriege gegen den Terror. Ich frage Sie
heute: Ist die Gefahr des Terrors mit den Kriegen kleiner
oder größer geworden? Sie ist größer geworden, das
wird doch keiner leugnen. Das zweite Argument war immer: Es sind Kriege für Abrüstung. Ich frage Sie: Sind
die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie der Waffenexport und Waffenhandel
kleiner oder größer geworden? Sie sind größer geworden. Das dritte Argument war: Es sind Kriege für die
Demokratie. Ich frage Sie heute, ob man den Zustand der
Demokratie in den Ländern, die mit Krieg überzogen
worden sind, so viel besser finden soll und ob es nicht so
ist, dass auch die Demokratie in unseren Staaten durch
die Art und Weise der Kriegsführung Schaden genommen hat.
Ich frage mich, warum es Sie nicht bedenklich stimmt
- ich sage das überhaupt nicht triumphierend -, wenn
man jetzt in den Umfragen liest, dass 60 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger Afghanistans die Zeiten während der Sowjetbesatzung und der Taliban-Herrschaft für
korrekter und besser gehalten haben als die heutigen Zeiten. Ich frage Sie, ob es Sie nicht bedenklich stimmt,
wenn 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes heute der Auffassung sind, dass die USA gefährlicher für den Frieden sind als der Iran. Wenn schon
nicht die Sachargumente Sie überzeugen, dann müssten
doch zumindest solche Argumente bei Ihnen den Eindruck erwecken, dass diese ganze Politik in der Sackgasse ist. Man muss heraus aus der Sackgasse; anders
geht es doch nicht.
({1})
Jetzt hat der Kollege Klose von der SPD vorgeschlagen - ich finde, in sich geschlossen ist das sogar logisch;
das ist nur nicht meine Politik -, man müsste sich darauf
einstellen, mehr Kampftruppen nach Afghanistan zu
schicken. Es liegt in der Logik: Wenn wir nicht aufhören, wird sich dieser Bundestag immer wieder damit beschäftigen müssen, für diesen Krieg neues Militär zur
Verfügung zu stellen. In sich ist es logisch, politisch ist
es falsch.
({2})
In einem Punkt hat Herr Klose allerdings Recht, nämlich
als er gesagt hat, man solle aufhören, so zu tun, als ob
die deutschen Soldaten in Afghanistan Entwicklungshelfer in Uniform seien. Man solle aussprechen - und ich
will es hier aussprechen -: Deutschland führt Krieg in
Afghanistan.
({3})
Das ist die Wahrheit. Mit der muss man sich auseinandersetzen, und man darf nicht immer darüber hinwegtäuschen.
({4})
Mit der Entscheidung, das KSK aus Afghanistan zurückzuziehen, würde ein anderes Zeichen gesetzt. Das
wollen wir. Es wäre ein kleines Zeichen, aber immerhin.
Ich darf Sie noch darauf aufmerksam machen, dass
der § 6 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes die Bundesregierung verpflichtet, laufend und regelmäßig zu informieren. Einmal ehrlich gesagt, Kolleginnen und Kollegen: Außer den wenigen, die informiert werden, weiß
doch keiner genau, was das KSK in Afghanistan macht.
Das können Sie doch nicht leugnen. Sie wissen es einfach nicht. Ich darf es Ihnen nicht sagen, weil ich zur
Geheimhaltung verpflichtet bin.
({5})
Das ist doch eine absurde Situation. Ich darf Ihnen noch
nicht einmal sagen, ob das KSK jetzt in Afghanistan ist.
Was ich Ihnen aber sagen darf, ist, dass das KSK dringend mit Beschluss des Parlaments zurückgezogen werden muss.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Ruprecht
Polenz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Linken beantragen, das Mandat für die Operation Enduring Freedom zu beenden und das KSK zurückzuziehen. Mit diesen Anträgen - das möchte ich ganz
deutlich sagen - verabschieden Sie sich vom Kampf der
Staatengemeinschaft gegen den internationalen Terrorismus.
({0})
Auch wenn Sie das nicht wollen - Sie werden dadurch
zum Türöffner für die Taliban und al-Qaida.
({1})
Die Anträge der Linken zielen darauf ab, die Sicherheitslage in Afghanistan für Soldaten, zivile Aufbauhelfer und für die afghanische Bevölkerung selbst deutlich
zu verschlechtern, und sie ignorieren dabei die tatsächliche Bedrohungslage vor Ort völlig. Der Einsatz in Afghanistan, sowohl von Enduring Freedom als auch von
ISAF, dient der Bekämpfung der Terroristen, die vor
dem Sturz der Taliban - ich finde es zynisch, wenn auf
solche Umfragen hier im Bundestag Bezug genommen
wird, Herr Gehrcke - ungehindert ausgebildet wurden
und die auch nach dem Sturz vehement daran arbeiten,
in Afghanistan wieder an Einfluss zu gewinnen.
Die Taliban sind im vergangenen Jahr deutlich wiedererstarkt und
({2})
waren in keinem Jahr seit ihrem Sturz so aktiv wie 2006.
({3})
Jetzt Kräfte aus Afghanistan abzuziehen, würde ihnen in
die Hände spielen. Die Taliban würden es als Zeichen
verstehen, mit ihren Anschlägen die Staaten der internationalen Gemeinschaft zum Rückzug bewegen zu können. Damit hätten sie genau das erreicht, was sie wollen.
Die Anträge der Linken zielen außerdem darauf ab,
die Bündnissolidarität zu verletzen. Ich sage Ihnen:
Wir werden uns unserer Verpflichtung nicht entziehen.
Unsere Partner können sich auf den Einsatz auch unserer
Soldaten verlassen.
({4})
Es sind 26 Nationen, die sich an der Operation Enduring
Freedom beteiligen, darunter elf, die nicht der NATO angehören, beispielsweise Ägypten, Kenia, Australien und
Neuseeland. Auch diesen Ländern gegenüber sind wir
verpflichtet, wie wir in Westfalen sagen würden, hier
„Poal“ zu halten.
Die Bedrohung durch die Taliban betrifft auch uns in
Deutschland. Auch unsere Sicherheit hängt entscheidend
von der Entwicklung in Afghanistan ab; denn die Aktivitäten der Taliban und insbesondere von al-Qaida beschränken sich nicht auf Afghanistan. Die Anschläge in
London, Madrid, Istanbul und nicht zuletzt der beabsichtigte Kofferbombenanschlag in Deutschland illustrieren
das auf deutliche Weise. Wenn Sie, lieber Kollege
Gehrcke, in den letzten Tagen aufmerksam Zeitung gelesen hätten, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass
der Talibanführer Mullah Obaidullah Achund auch unsere Soldaten vor Ort massiv mit dem Tod bedroht hat.
Ich zitiere: Keine der westlichen Truppen werde verschont,
nicht die Deutschen, nicht die Briten, nicht die Kanadier und schon gar nicht die Amerikaner. Wir
werden sie alle töten, wir dürsten nach ihrem Blut.
Vor diesem Hintergrund wäre es absolut unverantwortlich, Kräfte, die dort dem Schutz unserer Soldaten dienen, abzuziehen.
({5})
Eine wesentliche Aufgabe des KSK ist nämlich die Aufklärung. Wenn wir wollen, dass die Begleitschäden bei
den Kämpfen mit den Taliban durch präzise Aufklärung
und eine gezielte Vorgehensweise möglichst gering bleiben, dann muss dort, wo Nachrichtendienste und Polizeikräfte wegen mangelnder Ausrüstung nicht eingesetzt
werden können, der Einsatz von Spezialkräften möglich
sein, um einen optimalen Erfolg zu erzielen.
Experten sehen durch die ständig veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan für
die Zukunft sogar einen erhöhten Bedarf für den Einsatz
von Spezialstreitkräften; denn gerade die Schnelligkeit
und Flexibilität des KSK ermöglichen es, gegen Kräfte
zu operieren, die Kriegsführung mit asymmetrischen
Mitteln betreiben. Im Übrigen war das KSK bereits auf
dem Balkan beim Zugriff auf Kriegsverbrecher erfolgreich. Warum wollen Sie diese Kompetenz zur Bekämpfung der Taliban und zum Schutz der eigenen Soldaten
von vornherein ausschließen?
Es ist mir besonders wichtig, an dieser Stelle noch
einmal anzumerken, dass der Einsatz von Spezialkräften
nur einen Teilbereich des internationalen Engagements
in Afghanistan darstellt. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau
des Landes.
({6})
Um diese wichtige zivile Aufbauarbeit zu ermöglichen,
ist die Sicherheitskomponente in unserer Strategie allerdings unabdingbar. Sollte diese Säule wegfallen, wie Sie
in Ihrem Antrag fordern, werden auch die Bemühungen
um einen erfolgreichen Wiederaufbau des Landes keine
Chance mehr haben, sich gegen die zerstörerischen Anstrengungen der Taliban durchzusetzen.
Allein in den letzten zwei Jahren sind in Afghanistan
fast 100 Entwicklungshelfer ums Leben gekommen. In
nur 18 Monaten wurden über 200 Attentate auf Lehrer,
Schulen und Schüler verübt. Aus einigen südlichen Provinzen des Landes haben sich Entwicklungshilfeorganisationen aufgrund der instabilen Sicherheitslage bereits
vollständig zurückgezogen.
Kollege Polenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hänsel?
Ja.
Bitte.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Polenz, Sie haben gerade gesagt, dass angesichts der Sicherheitslage
die Tornado-Entsendung und auch die Präsenz der Bundeswehr für die zivilen Entwicklungshelferinnen und
Entwicklungshelfer wichtig sind. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hatte
eine Reise nach Afghanistan geplant. Diese Reise wurde
unter anderem aus Sicherheitsgründen abgesagt. Uns,
den Ausschussmitgliedern, wurde vom BKA mitgeteilt,
dass sich die Situation selbst in Kabul stark geändert hat.
({0})
Unabhängig davon, ob man der US-Fahne oder der deutschen Fahne zugerechnet wird, ist es in Kabul mittlerweile so, dass man als Besatzer wahrgenommen wird.
Die Tornado-Entscheidung hat das Klima in Kabul weiter verschärft.
Ich wiederhole: Unser Ausschuss - er ist eigentlich
derjenige, der für das Thema „ziviler Wiederaufbau“ zuständig ist - konnte aus Sicherheitsgründen nicht nach
Afghanistan fahren, weil weder die Bundeswehr noch
das BKA unsere Sicherheit gewährleisten konnten.
({1})
Das BKA selbst hat einen Zusammenhang zur TornadoEntscheidung und dazu, dass ein Journalist im Austausch freigelassen wurde, hergestellt. Was sagen Sie zu
dieser Einschätzung?
Zunächst einmal bedanke ich mich bei Ihnen für den
langen Vorspann, der noch einmal deutlich gemacht hat,
dass das, was ich zur Sicherheitslage ausgeführt habe,
um weitere Beispiele hätte ergänzt werden können.
({0})
Das war mir wegen meiner beschränkten Redezeit aber
nicht möglich.
({1})
- Sie machen den Zwischenruf: „Das zeigt doch nur,
dass der Krieg verloren ist!“ Wenn Sie damit - wie in Ihren Anträgen - dafür werben wollen, dass wir uns aus
Afghanistan zurückziehen, dann sollten Sie sich als Erstes bewusst machen, was das für diejenigen Afghanen
heißt, die bisher mit uns zusammengearbeitet haben, um
dieses Land aufzubauen.
({2})
Wenn die Taliban an die Macht kämen, wären sie die
Ersten, die die Taliban einen Kopf kürzer machten.
Wenn Sie das unter verantwortlicher Politik verstehen
- im Grunde liegt auch Ihren Anträgen dieser Geist zugrunde -, dann sind Sie in der Tat völlig ungeeignet,
deutsche Außenpolitik mitzugestalten und mitzubestimmen.
({3})
Es kann auch nicht in unserem eigenen Interesse sein,
dass alle unsere Anstrengungen zum Wiederaufbau des
Landes zunichte gemacht werden, wie es die Folge der
Strategie wäre, die uns die Linke anempfiehlt.
({4})
Bis zum Jahr 2010 stellt Deutschland über 1 Milliarde
US-Dollar für den Wiederaufbau des Landes zur Verfügung. Wir müssen mit den uns zur Verfügung stehenden
Kräften also auch gewährleisten, dass diese Gelder ihrer
Bestimmung gemäß eingesetzt werden können.
Mit Ihrem Antrag beanstanden Sie, dass die Bundesregierung ihrer Unterrichtungspflicht gegenüber dem
Parlament nur unzureichend nachkomme. Wenn man
Unterrichtung verlangt, muss man natürlich immer einbeziehen, um welche Gegenstände es dabei geht. Es ist
uns allen klar, dass die KSK-Einsätze ihrer Natur nach
einer besonderen Geheimhaltung unterliegen müssen,
wenn sie erfolgreich sein sollen. Das muss zwangsläufig
auch Auswirkungen auf die Art und Weise der Unterrichtung haben. Der Vorwurf, es werde dann der Grundsatz der Parlamentsbeteiligung - Stichwort: Bundeswehr
als Parlamentsheer - verletzt, ist billig, wenn er diesen
Sachverhalt ausklammert und außer Acht lässt.
Wir hatten gerade am vergangenen Montag eine Unterrichtung über diese Frage; Sie haben darauf hingewiesen, Herr Kollege Gehrcke. Es gibt jetzt ein zwischen
der Bundesregierung und den Fraktionen vereinbartes
Verfahren. Ich glaube, dass das auch funktionieren kann.
Von daher finde ich auch diesen Teil der Begründung Ihrer Anträge nicht schlüssig.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal festhalten, warum wir in Afghanistan sind. Nach den Anschlägen vom 11. September hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese Anschläge als Bedrohung für den
internationalen Frieden und die internationale Sicherheit
qualifiziert und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung unterstrichen. Es ist leider so:
Das Terrornetzwerk al-Qaida mit seinen lokalen und
regionalen islamistischen Strukturen ist noch nicht zerschlagen. Die umfassende Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist und bleibt eine zentrale Herausforderung für die internationale Gemeinschaft. Deshalb
darf auch Deutschland in seinen Anstrengungen in diesem Bündnis nicht nachlassen.
({5})
Ihr Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit ist völlig
falsch. Die Operation Enduring Freedom fußt auf einem
klaren Mandat der Vereinten Nationen.
({6})
Wir folgen außerdem einer klaren Aufforderung der
USA, den Terror gemeinsam zu bekämpfen. Um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, ist ein breites internationales Bündnis erforderlich, an dem wir uns weiterhin beteiligen.
Wenn die Position der Linken international Schule
machte, sozusagen als Beispiel auch für andere diente,
wenn sich also alle Bündnispartner so verhielten und einen Rückzug der Kräfte verlangten - die Frage muss
man sich immer stellen, wenn man hier Anträge einbringt -, hieße das, vor dem Terrorismus zu kapitulieren.
Das wäre in meinen Augen im Hinblick auf unsere eigene Sicherheit unverantwortbar.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Schöne bei den Anträgen der Linken ist: Die ersten
drei Sätze sind immer gleich. Ich will aber Folgendes sagen: Erstens. Sie bleiben in Ihrer Politik konsequent; das
muss ich Ihnen zugestehen.
({0})
- Jawohl, den Beifall ernte ich immer, wenn ich das
sage. - Zweitens. Sie sprechen Themen an, die durchaus
diskussionswürdig sind. Drittens. Sie beweisen aber jedes Mal aufs Neue, dass Sie weder willens noch fähig
sind, zur wirklichen Problemlösung auch nur einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Deshalb kommen Sie viertens
in Ihren Anträgen immer zu falschen Ergebnissen. Das
erleben wir immer wieder.
({1})
Der etwas antiquarische Antrag von 2005, der sich
mit OEF beschäftigt, betrifft etwas, was wir durchaus
diskutieren. Wir haben im letzten Herbst gemeinsam
über die Verlängerung von OEF beraten. Wir haben
deutlich gemacht, dass wir das, was OEF insgesamt
macht, als sehr bedenkenswert und nachdenkenswert ansehen. Wir werden dieses Thema in diesem Herbst wieder aufnehmen und uns damit sehr ausführlich auseinandersetzen.
Sie fordern heute, im März 2007, singulär, sozusagen
als Einzelthema, den Abzug des KSK aus Afghanistan.
Herr Gehrcke, in Ihrer Begründung haben Sie auf das
KSK kaum Bezug genommen. Sie haben generell Ihr altes Argument gebracht, dass jede militärische Intervention, jede militärische Beteiligung an der Aktion in Afghanistan des Teufels ist. Das ist offensichtlich auch der
Grund für den heute neu vorliegenden Antrag.
Sie wissen wie wir, dass man nicht Teile eines Mandats herausnehmen kann; das ist gar nicht möglich. Sie
können das Mandat insgesamt ablehnen oder annehmen,
nicht aber nur Teile daraus. Deshalb ist der Antrag, den
Sie heute eingebracht haben - im Widerspruch zu dem,
was Sie behauptet haben -, nicht politisch, sondern populistisch motiviert. Es geht Ihnen gar nicht darum, Probleme zu lösen; es geht Ihnen darum, das KSK zu dämonisieren.
({2})
Insgesamt glauben Sie nicht, dass die militärische
Komponente einen Beitrag - wir alle sagen, dass es nur
ein Beitrag sein soll - zur Stabilisierung dieses Landes
leisten kann.
({3})
Sie können doch nicht bezweifeln, dass wir zur Stabilisierung Afghanistans, zu der wir sehr wohl beitragen
wollen, sollen und müssen - wir alle wissen, dass wir
dabei besser werden müssen -, eine militärische Komponente brauchen. Es will in Ihren Schädel nicht rein - ich
verstehe das einfach nicht -, dass das ein Teil des
Gesamtprojekts ist.
({4})
Dem sollten wir hier deutlich Rechnung tragen.
Das wollen Sie nicht verstehen. Wenn ein Staudamm
aktuell durch die Taliban bedroht ist, hilft es nicht, hier
wolkige Reden zu führen. Wenn ein Staudamm in der
nächsten Woche gesprengt werden soll, müssen Sie doch
eine Antwort darauf geben können, wie Sie das verhindern
wollen. Das tun Sie niemals. Nie und nimmer sind Sie
bereit, an einer wirklichen Problemlösung teilzuhaben.
({5})
Wir stellen uns der Verantwortung. Wir müssen unser
Handeln vor unserem Volk, vor dem Bundestag verantworten. Jedenfalls sagen wir: Wir müssen einen Beitrag
leisten. - Wir alle wissen, dass der Einsatz in Afghanistan
nicht perfekt läuft; entsprechend müssen wir daran arbeiten.
Auch zu Ihnen, Herr Kollege Polenz, möchte ich sagen:
Es gibt, was das KSK angeht, durchaus Diskussionsbedarf, und zwar hier in Berlin und weniger im Hinblick
auf den Einsatz in Afghanistan. Hierbei geht es - dieses
Thema wurde angesprochen; es muss weiterhin angesprochen werden - um die Information über das, was
das KSK macht. Da gibt es nach meinem Dafürhalten
sehr wohl Diskussions- und Handlungsbedarf. Wir, die
Mitglieder des Verteidigungsausschusses, erhalten durch
die Erkenntnisse, die wir dort gewinnen - ich will es
neutral sagen -, durchaus Anregungen dazu, wie wir in
Zukunft mit dem KSK insgesamt umgehen sollten. Wir
Parlamentarier haben hier einen erheblichen Diskussionsbedarf.
Obwohl das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist,
ist es nach unserer Meinung immer noch vom Goodwill
der Bundesregierung abhängig, was wir, die Parlamentarier
- ich spreche alle Parlamentarier an, die nicht Teil der
Regierung sind -, erfahren. Das müssen wir ändern. Wir,
die FDP-Fraktion, haben einen praktikablen Vorschlag
gemacht: die Einsetzung eines Entsendeausschusses.
({6})
Lieber Kollege Siebert, ich bin mir - auch aufgrund
dessen, was wir jeden Mittwochnachmittag erfahren 9404
sehr sicher, dass wir am Ende die Situation in dieser
Frage deutlich verändern werden, dass wir zu einer pragmatischen Lösung kommen werden,
({7})
die auf der einen Seite den sehr wohl legitimen Sicherheitsund Geheimhaltungsinteressen Rechnung trägt, auf der
anderen Seite aber uns die Möglichkeit gibt, tatsächlich
zu erfahren, was hier passiert. Dafür werden wir uns einsetzen.
Die Linke trägt zu solchen Überlegungen nichts bei.
Sie ist nicht bereit, konstruktiv mitzuarbeiten. Deshalb
werden wir ihre Anträge ablehnen.
Schöne Ostern.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Petra Heß für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion Die Linke fordert im ersten ihrer beiden
Anträge, den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in
Afghanistan zu beenden. Ihre Meinung lautet:
Erstens. Das Parlament werde nur unzureichend über
die Einsätze unterrichtet.
Zweitens. Die Einsätze widersprächen dem Charakter
der Bundeswehr als Parlamentsarmee.
Drittens. Der Einsatz des KSK führe zu einer Vermischung von ISAF und OEF.
Viertens. Deutschland solle sich sowieso aus verdeckten Kriegshandlungen heraushalten.
({0})
Lassen Sie mich hierzu Folgendes sagen: Deutschland
hat sich im Rahmen der OEF verpflichtet, den Abwehrkampf gegen den internationalen Terrorismus mit dem
KSK, mit der Marine und mit ABC-Abwehrkräften zu
unterstützen. Das Parlament hat dieser Unterstützung
seinerzeit mit großer Mehrheit zugestimmt. Das Mandat,
dem zugestimmt wurde, umfasst explizit das KSK. Damit
hat der Bundestag aber auch den Einsatzbedingungen des
KSK zugestimmt. Die Einsatzbedingungen des KSK
sind: verdeckte Ermittlung, das Überraschungsmoment
und passgerechte Vorgehensweise.
Dennoch hat die Bundesregierung bei der letzten Verlängerung der OEF zugesagt, die Informationspraxis zu verbessern, nachdem Kritik an der strikten Geheimhaltung
der KSK-Einsätze laut geworden war. Die Unterrichtung
über KSK-Einsätze sieht sich dem Wesen des KSK nach
aber immer mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert,
zwischen Geheimhaltungspflicht auf der einen Seite und
Unterrichtungspflicht auf der anderen Seite zu vermitteln.
Aber machen Sie sich bitte eines klar: dass KSKEinsätze in erster Linie ausgeführt werden, um einen
Informationsvorteil zu erringen. Voraussetzung hierfür
aber ist, dass der Überraschungseffekt, der nun einmal
wesentlicher Bestandteil eines erfolgreichen Einsatzes
ist, nicht dem Informationsinteresse des Parlaments
geopfert werden darf.
Der Wunsch nach umfassenderen Informationen
bleibt dennoch berechtigt und nachvollziehbar. Herr
Kollege Stinner, die Bundesregierung wird sich auch
hier an ihre Zusagen halten und zukünftig nicht nur den
Obleuten, sondern auch dem Parlament mehr Einblicke
in die Arbeit des KSK gewähren.
({1})
Der erste Evaluierungsbericht zu OEF liegt vor und
wurde bereits in den Fachausschüssen beraten. Aber ich
sage es noch einmal: Wenn KSK-Einheiten durch
verdeckte Operationen Talibanführer aufspüren und
festnehmen, wenn sie Informationen über mögliche
Anschläge und Attentate sammeln, dann gewinnen sie
Schlüsselinformationen, die Leben retten können und
werden.
Der Einsatz des KSK im Rahmen von ISAF ist durch
das Mandat selber ebenfalls nicht ausgeschlossen. Er
kann beispielsweise zum Schutz der Truppe erfolgen, wenn
KSK-Soldaten Schlüsselinformationen im Norden zum
Beispiel über lokale Warlords sammeln. Diese Aufgabe
ergänzt die Arbeit der PRTs im Norden wirksam und erhöht
den Schutz und die Sicherheit der im Rahmen von ISAF
eingesetzten regulären Soldatinnen und Soldaten.
({2})
Das kann man doch nicht einfach beiseite schieben,
meine Damen und Herren. Der Einsatz in Afghanistan ist
gefährlich, und das KSK kann durch Aufklärungsarbeit
das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch
der Verbündeten retten. Wenn Afghanistan gelingen soll,
dann muss die Wiederaufbauarbeit gelingen und mit ihr
die Stabilisierung des Landes. Im Übrigen kommt mir in
der Medienlandschaft viel zu kurz, welche Aufbauarbeit
dort bereits geleistet wurde und dass sich die Bedingungen
für die afghanische Bevölkerung in den letzten Jahren
spürbar gebessert haben.
({3})
Auch wir waren schon mehrfach in Afghanistan und
haben uns davon überzeugt. Wir haben mit afghanischen
Parlamentarierinnen und Parlamentariern gesprochen.
Es ist einfach so, dass sich die Lebensbedingungen für
die Bevölkerung wesentlich verbessert haben. Die PRTs
leisten gerade im Norden einen hervorragenden Beitrag
dazu. Dieser Beitrag darf aber nicht durch die immer prekärer werdende Sicherheitslage in Afghanistan gefährdet
werden. Vergessen Sie bitte nicht: Beim Kommando
Spezialkräfte handelt es sich um Spezialisten, die einen
enorm hohen Einsatzwert besitzen, einen Wert, der, wie
schon gesagt, Leben schützen kann und der nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf, schon gar nicht für
etwaige Profilierungsversuche.
Beide Mandate, ISAF und OEF, hat der Bundestag
2001 beschlossen, und beide Mandate wurden auch immer
wieder verlängert. Der Einsatz des KSK ist sinnvoll und
besonders wirksam, weil er als offensiver Akt unter OEF
und als fester, unverzichtbarer Beitrag zu ISAF nicht
wegzudenken ist. Die populistische, im Kern gegen die
USA zielende Forderung eines generellen Abzugs des KSK
entspricht nicht den Leistungen dieser Elite und gefährdet
zudem die Sicherheit der in Afghanistan stationierten
Soldatinnen und Soldaten.
({4})
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum zweiten
Antrag der Linksfraktion sagen. Selten habe ich zwei
Anträge gelesen, die so redundant waren wie die hier
vorliegenden. Zweimal die gleichen - es sind seit 2005
die gleichen - Argumente gegen das KSK; nur hält doppelt
hier nicht besser, sondern wirkt zweifach unglaubwürdig.
Aber der zweite Antrag geht noch weiter. Die Linksfraktion hat mit dem KSK im ersten Antrag nur Anlauf
genommen, um im zweiten Antrag gleich noch die Beendigung von OEF und der Operation Active Endeavour zu
fordern.
({5})
Jetzt wird es interessant: Die Linksfraktion fordert nun
sogar, den Abzug der Bundeswehrkontingente im Rahmen
der OEF und der Operation Active Endeavour insgesamt
einzuleiten. Darüber hinaus sollen die für den militärischen
Einsatz vorgehaltenen Mittel für zivile Projekte vor Ort
verwendet werden.
Als Begründung führt die Linksfraktion die bereits im
ersten Antrag genannten Argumente an. Allerdings gipfelt sie diesmal in der Behauptung, der Bündnisfall nach
Art. 5 des NATO-Vertrages und die ihm zugrunde liegende Verteidigungssituation gemäß Art. 51 der UN-Charta
seien nicht gegeben.
({6})
In der Tat beruht OEF nicht auf einem ausdrücklichen
Beschluss des UN-Sicherheitsrates, sondern auf dem
Recht zur kollektiven Selbstverteidigung der USA sowie
auf der Beistandspflicht der Bündnispartner der NATO.
({7})
Art. 51 der UN-Charta gibt aber jedem Mitglied das
Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten
Angriff, bis der UN-Sicherheitsrat geeignete Maßnahmen
zur Sicherung des internationalen Friedens getroffen hat.
Art. 5 des NATO-Vertrages wiederum sieht eine Beistandspflicht aller Bündnispartner vor, wenn einer von ihnen
im Sinne von Art. 51 der UN-Charta angegriffen wird.
({8})
Am 12. September 2001 hat der NATO-Rat beschlossen,
dass die Anschläge vom 11. September als Angriff auf
die USA im Sinne von Art. 51 der UN-Charta anzusehen
sind, und bekräftige am 4. Oktober 2001 die Beistandspflicht der Bündnispartner.
({9})
- Das hat etwas mit den Mandaten zu tun, deren Zurücknahme Sie fordern.
Der UN-Sicherheitsrat hat in der Resolution 1368 die
Anschläge vom 11. September verurteilt und dabei ausdrücklich das Recht zur individuellen und kollektiven
Selbstverteidigung bekräftigt. In späteren Resolutionen
haben der UN-Sicherheitsrat und mit großer Mehrheit
auch die afghanische Bevölkerung die Rolle von OEF
bei der Sicherung der Wahlen in Afghanistan ausdrücklich
gutgeheißen.
({10})
In anderen Resolutionen werden die internationalen
Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus im
Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich unterstützt. Ich brauche nicht auf die weiteren
Artikel und UN-Beschlüsse einzugehen. Ich glaube, Sie
wissen genau, worum es geht. Wie Sie hier vorgehen und
Ihren Antrag begründen, ist es die reine Heuchelei.
({11})
Wie gesagt: OEF trägt dazu bei, dass ISAF gelingt.
Während ISAF dazu beiträgt, die friedliche und demokratische Entwicklung in Afghanistan zu fördern und
zu festigen, gewährleistet OEF den Schutz vor einem
Wiedererstarken der Taliban und noch bestehender terroristischer Verbände. Lässt man diesen Zusammenhang
bewusst beiseite, um durch populistische Forderungen
auf sich aufmerksam machen zu können, gefährdet man
damit nicht nur den Wiederaufbau in Afghanistan, sondern
vor allen Dingen die Sicherheit und das Leben unserer
im Einsatz befindlichen Soldatinnen und Soldaten. Das
zeigt uns erneut Ihre außenpolitische Verantwortungslosigkeit.
({12})
Im Übrigen wünsche ich Ihnen allen ein frohes Osterfest.
({13})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im November 2001 gab der Deutsche Bundestag den
Auftrag an die Bundeswehr, sich an der Operation
„Enduring Freedom“ zu beteiligen und dabei bis zu
100 Soldaten vom Kommando Spezialkräfte einzusetzen.
Das galt für folgende drei Teilaufgaben: Führungs- und
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten,
Terroristen zu bekämpfen, gefangenzunehmen und vor
Gericht zu stellen sowie Dritte von der Unterstützung
terroristischer Aktivitäten dauerhaft abzuhalten.
Damals war uns genauso bewusst wie heute, dass eine
militärische Bekämpfung des Terrorismus natürlich
nicht die Hauptsache ist, dass es vielmehr auf viele andere
Maßnahmen - auf polizeiliche, geheimdienstliche und
strukturelle Maßnahmen - ankommt. Aber es wurde auch
deutlich, dass ein Spektrum an militärischer Bekämpfung unverzichtbar war angesichts des Ausmaßes der
terroristischen Infrastruktur in Afghanistan, der Unübersichtlichkeit des Operationsgebietes und der Operationsweisen dieser terroristischen Kämpfer.
Hätte man damals die Kräfte, die vor allem für die direkte Terrorbekämpfung zuständig sind, nämlich Geheimdienstangehörige und Polizisten, dorthin geschickt, dann
wäre das absolut selbstmörderisch und verantwortungslos
gewesen. Daher kann man sagen, dass eine militärische
Bekämpfung unverzichtbar und notwendig war.
({0})
Der damals gewählte Kräfteansatz und -einsatz
machte aber deutlich, dass es mit dem großen Wort des
Bundeskanzlers Schröder von der uneingeschränkten
Solidarität, das viele zu Recht sehr unruhig gemacht hat,
in Wirklichkeit anders aussah. Das zeigt sich besonders
deutlich beim militärischen Beitrag der Bundesrepublik
zur Terrorismusbekämpfung: Der reale Beitrag ist sehr
gezielt, sehr maßvoll und sehr bedacht. Es ist immerhin
so - darauf hat schon vorhin ein Kollege hingewiesen -:
Es gibt im Grunde keine Waffengattung, mit der so präzise und im Grunde so verhältnismäßig agiert werden
kann wie mit den Soldaten des Kommandos Spezialkräfte.
Die regierungsamtliche Totalgeheimhaltung macht
eine Bilanzierung praktisch unmöglich. Dafür leistet sie
allerdings auf der einen Seite allen möglichen Mythen
und auf der anderen Seite allen möglichen Generalverdächtigungen Vorschub. Jetzt müsste ich eigentlich im
Weiteren schweigen. Nur, als Politiker - Sie kennen
das - kann man nicht schweigen; man muss unbedingt
weiterreden. Ich kann immerhin ohne Geheimnisverrat
feststellen -
Kollege Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehrcke?
({0})
Ja. Ich brauche Redezeit.
({0})
Das dachte ich mir fast.
Kollege Nachtwei, ich wollte Ihnen vor Ostern noch
eine Freude machen. Deswegen frage ich Sie - ich habe
extra bis zu diesem Punkt gewartet -: Sie haben den
Auftrag des KSK verlesen. Ich erinnere mich daran,
dass damals, als er erteilt worden ist, selbst der Auftrag
als geheim galt. Sind Sie, ohne dass Sie gegen die Geheimhaltung verstoßen, in der Lage, dem Parlament zu
sagen, ob das KSK seinen Auftrag, den es vom Parlament erhalten hat, in Afghanistan eingelöst hat oder
nicht?
Dazu möchte ich ohne Bruch der Geheimhaltungsvorschriften antworten: Es ist offenkundig, dass Führungsund Ausbildungseinrichtungen terroristischer Kräfte
ausgeschaltet wurden. Wem das zuzuordnen ist, kann
man nicht im Einzelnen sagen. Aber dieses erste Hauptziel wurde unstrittigerweise erfüllt.
In „Spiegel“-Ausgaben aus früheren Jahren ist zu lesen, dass KSK-Kräfte zur direkten Bekämpfung und Gefangennahme mutmaßlicher Terroristen kaum bis gar
nicht beigetragen hätten.
({0})
In diesem zweiten Spektrum ist das KSK nach diesen
Pressemitteilungen offensichtlich weniger aktiv. Was die
dritte Frage angeht, komme ich jetzt unmittelbar dazu. Ich danke Ihnen für diese zeitliche Beihilfe.
Bei aller grundsätzlichen Notwendigkeit der Operation „Enduring Freedom“ stellte sich nach unseren Feststellungen die Art und Weise dieser Operation im Laufe
der Zeit allerdings als immer kontraproduktiver heraus.
Durch die Art des Auftretens und der Operationsführung
wurden Dritte eben nicht dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abgehalten. Es wurde offenkundig immer mehr das Gegenteil bewirkt. Deshalb
hat unsere Fraktion im letzten Herbst der weiteren deutschen Beteiligung an „Enduring Freedom“ nicht zugestimmt. Dass der Verteidigungsminister - ich sage
wieder ausdrücklich: in der Öffentlichkeit - mitgeteilt
hat, dass seit Oktober 2005 keine KSK-Kräfte mehr im
Rahmen von „Enduring Freedom“ in Afghanistan sind,
halten wir für einen Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Auf einem anderen Blatt allerdings steht der Einsatz
des Kommandos Spezialkräfte zum Schutz von ISAFKräften im deutschen Operations- und Verantwortungsbereich im Rahmen von ISAF. Dieser Einsatz war und
ist ausgesprochen sinnvoll und, wenn man sich bei deutschen ISAF-Soldaten umhört, ausgesprochen gewünscht. Wie man von deutschen Soldaten in Einsatzgebieten hört, ist dieser Einsatz angesichts der ständigen
Anschlags- und Angriffsdrohungen, denen sie ausgesetzt
sind - die Obleute des Verteidigungsausschusses haben
das im letzten Oktober in Kabul selbst sehr nachdrücklich erlebt -, auch ausgesprochen erfolgreich.
({2})
In solchen Gefährdungssituationen die Spezialfähigkeiten des KSK zu verweigern, ist unverantwortlich.
({3})
Deshalb lehnen wir die Anträge der Linksfraktion ab.
Zugleich mahne ich die Bundesregierung dringend,
die Totalgeheimhaltung in Sachen KSK auf das zum
Schutz von Operationen und Personen notwendige Maß
zu beschränken und sich mit dem Bundestag auf eine
echte und direkte Kontrolle von Spezialeinsätzen zu einigen. Das gebietet der Anspruch der Parlamentsarmee,
und es liegt nicht zuletzt im Interesse der Soldaten, von
denen die politische und militärische Führung den allerhöchsten und riskantesten Einsatz verlangt und die nicht
im Regen stehen gelassen werden dürfen.
({4})
Ansonsten wünsche ich nicht nur Ihnen und uns gute
Ostern, sondern in den drei vor uns liegenden sitzungsfreien Wochen vor allem auch eine einigermaßen ruhige
Entwicklung in Afghanistan; denn die Situation ist dort
zurzeit sehr kritisch. Darin sind wir uns, wie ich glaube,
einig.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4674 und 16/121 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Konsequenzen der Bundesregierung aus den
UN-Berichten des Sonderberichterstatters,
Vernor Muñoz, zum deutschen Bildungssystem
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Hirsch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich aus dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, zur
Situation des deutschen Bildungswesens zitieren. Er
stellt fest: In Deutschland lebenden Mädchen und Jungen wird das Recht auf Bildung vorenthalten.
({0})
Wenn solch eine grundsätzliche Kritik am deutschen
Bildungswesen geübt wird, dann kann man nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen. Aber das ist in den Stellungnahmen der Bundesregierung leider der Fall. Als
wir im Bildungsausschuss darüber diskutiert haben, hat
die Bildungsministerin erstens festgestellt, dass sie die
ganze Aufregung nicht verstehe; schließlich sei das
Recht auf Bildung formal verfassungsrechtlich abgesichert. Sie hat uns leider nicht erklärt, was das hilft, wenn
Muñoz in seinem Bericht feststellt, dass die Realität anders aussieht.
Die Ministerin hat zweitens festgestellt, dass die wesentliche Kompetenz für die Verwirklichung des Rechts
auf Bildung bei den Ländern liege. Sie hat aber auch in
diesem Punkt nicht deutlich gemacht, was es hilft, nur
mit dem Finger auf die Länder zu zeigen, statt eigene
Maßnahmen zu ergreifen, wenn die bildungspolitische
Situation bundesweit so fatal ist, dass das Recht auf Bildung eben nicht eingehalten wird.
Der Gipfel der Ignoranz und Arroganz war die Feststellung, Muñoz habe die Situation in Deutschland nicht
richtig verstanden, insbesondere das Prinzip des gegliederten Schulsystems; insofern müsse man den Bericht
nicht so ernst nehmen.
({1})
Für die Linke halte ich fest: Das ist eine falsche, unzureichende und geradezu dreiste Reaktion, die wir in
dieser Form ablehnen.
({2})
Wir sind der Auffassung, dass sich auch das Parlament
der Verantwortung für eine solche grundsätzliche Kritik
stellen muss.
Ich möchte ein weiteres Zitat aus dem Bericht von
Vernor Muñoz anführen. Er schreibt,
... dass hinter den Ungleichheiten im Bildungsbereich eine soziale Ungleichheit steht, die über diese
hinausgeht und sie determiniert.
({3})
Diese soziale Ungleichheit ist nicht das Ergebnis der
Schulpolitik in den Ländern, sondern sie ist das Ergebnis
konkreter politischer Entscheidungen, die Sie treffen.
({4})
Es ist unter anderem das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik.
Heute Vormittag haben wir über eine weitere Senkung
der Unternehmensteuer diskutiert. Man kann auch die
Hartz-Gesetzgebung anführen, mit der Sie darauf hinwirken, dass immer mehr Menschen erpressbar werden
und zu Niedrigstlöhnen arbeiten. Sie legen Regelsätze
fest, die klar zur Folge haben, dass immer mehr Kinder
und Jugendliche in diesem Land in Armut leben. Die
Zahlen sprechen für sich. In den Regelsätzen ist kein
einziger Euro für Schulsachen oder Tagesausflüge
vorgesehen. Der Regelsatz für Essen und Trinken eines
15-jährigen Mädchens beträgt nicht einmal 3 Euro pro
Tag. - Diese zutiefst unsoziale Politik lehnen wir entschieden ab.
({5})
Vor diesem Hintergrund muss man die Debatte über
die Schulstruktur noch einmal aufmachen. Wenn Sie sich
hier hinstellen und sagen, die Debatte über das gegliederte Schulsystem sei überzogen und gehöre gar nicht in
den Fokus der bildungspolitischen Diskussion, man
müsse einfach bei den einzelnen Schulformen ansetzen
und dafür sorgen, dass die Qualität jeder einzelnen
Schulform hoch ist, dann ist das einfach nur falsch und
verlogen.
({6})
Muñoz hat festgestellt - das wurde auch in allen anderen
bildungspolitischen Studien über die Bundesrepublik
Deutschland immer wieder festgehalten -, dass Kinder
aus armen Schichten deutlich weniger Chancen haben,
auf ein Gymnasium oder eine Realschule zu kommen,
als Kinder aus reichen Schichten. Mit Ihrem verzweifelten Festhalten am gegliederten Schulsystem versuchen
Sie nichts anderes, als die soziale Ungleichheit zu erhalten und festzuzurren. Das finden wir falsch.
({7})
Man kann in die Geschichte schauen, um Beispiele zu
finden, die das belegen. Wenn „Reichtum für wenige
und Ausgrenzung für viele“ nicht das gesellschaftspolitische Ziel Ihrer Politik wäre, sondern Sie Teilhabe für
alle erreichen wollten, dann bräuchte es keines gegliederten Schulsystems, keiner Hauptschule. Die DDR
hatte nicht ohne Grund ein integratives Schulsystem. So
wurde sichergestellt, dass alle Kinder zusammen lernen
können und keine Ausgrenzung erfolgt.
({8})
Vernor Muñoz hat das in seinem Bericht sehr deutlich
beschrieben. Er hat gesagt, dass die Diskussion über das
mehrgliedrige Schulsystem „große Angst und Widerstand“ auslöst, „insbesondere Besorgnis über den Verlust
von Privilegien für diejenigen, die am meisten vom aktuellen System profitieren“. Ihre Zwischenrufe bestätigen
dieses Problem.
({9})
Wir sind deshalb sehr froh, dass wir uns in Berlin gegen die SPD durchgesetzt haben, damit es hier Modellprojekte für ein längeres gemeinsames Lernen geben
kann.
({10})
Wowereit sagte noch im Wahlkampf, er unterschreibe
keinen Koalitionsvertrag, in dem „Gemeinschaftsschule“ steht. Wir sind froh, dass wir das jetzt trotzdem
gemeinsam umsetzen können.
({11})
Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung solche
Versuche unterstützt und nicht durch verlogene Argumente versucht, solche Entwicklungen zu behindern.
Ich danke Ihnen.
({12})
Wir nehmen die Reden des Parlamentarischen
Staatssekretärs Andreas Storm, des Kollegen Patrick
Meinhardt für die FDP-Fraktion, des Kollegen Jörg
Tauss für die SPD-Fraktion, der Kollegin Priska Hinz
({0}) für die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und des Kollegen Marcus Weinberg für die
Unionsfraktion zu Protokoll.1)
Das Wort hat der Staatsminister für Kultus des Freistaates Sachsen, Steffen Flath. Bitte.
({1})
Steffen Flath, Staatsminister ({2}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Ich denke, es ist ganz gut, wenn
ich als Mitglied der Kultusministerkonferenz und aus
Ländersicht, in deren Verantwortung die Bildungsfragen
in der Bundesrepublik überwiegend liegen, nach dieser
Rede von Frau Hirsch zu dem Muñoz-Bericht einige Anmerkungen mache.
Sie müssen uns nicht mahnen. Seit Jahren beschäftigen wir uns in der Kultusministerkonferenz mit den Fragen, die Herr Muñoz - man sollte übrigens den gesamten
Bericht lesen - angeführt hat.
({3})
Frau Bundesministerin, ich erinnere mich an die Zeit,
in der Sie in Baden-Württemberg Verantwortung getragen haben. Ich bin wahrlich nicht unglücklich darüber,
dass Sachsen nach 1990 das Schulsystem von BadenWürttemberg und Bayern und nicht das Schulsystem der
DDR als Vorbild gewählt hat.
({4})
Natürlich ist über einige Fragen, die Herr Muñoz in
seinem ausführlichen Bericht aufwirft, zu reden. Das tun
wir auch. Im Zeitalter der medialen Verkürzung, in dem
wir leben, sind im Wesentlichen zwei Kritikpunkte öf-
fentlich bekannt geworden; Frau Hirsch, Sie haben sie in
Ihrem Redebeitrag gerade stark betont. Das eine ist die
Kritik am gegliederten Schulsystem. Hier sollten wir
keinen Rückschritt machen. Die Kultusminister haben
sich viele Jahre sehr ausführlich über diese Frage gestrit-
ten. Wir sind schon ein ganzes Stück weiter, da die Län-
1) Anlage 2
Staatsminister Steffen Flath ({5})
der anerkennen, dass man, wenn Schule gut gemacht ist,
mit unterschiedlichen Schulformen zu einem sehr positiven Ergebnis kommen kann.
({6})
Wir in Sachsen haben nicht das dreigliedrige System;
wir haben uns für ein zweigliedriges entschieden. Wir
haben in der Mittelschule den Hauptschul- und den Realschulbildungsgang zu einer Schulart zusammengefasst.
Daneben haben wir die Gymnasien.
({7})
Damit komme ich zu dem zweiten Kritikpunkt, den
Herr Muñoz anführt, der Koppelung von Bildungserfolg
und sozialer Herkunft. Ich will mit einigem Stolz anführen: Es ist einigen Bundesländern, unter anderem Sachsen, gelungen, mit der internationalen Spitzengruppe,
nämlich Finnland, Kanada und Japan, auf einer Stufe zu
stehen. Das fällt bei Ihnen, den Linken, unter den Tisch.
Jetzt erzähle ich Ihnen einmal, wie das in der DDR
war. Hätte Herr Muñoz jemals eine Schule in der DDR
besucht und dieselbe Elle angelegt, die er jetzt anlegt,
({8})
dann wäre er zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses
System am Ende der DDR ein höchst sozial ungerechtes
Bildungssystem war. Ganze 10 Prozent der Arbeiterund Bauernkinder - so hat man damals immer gesagt haben noch das Abitur gemacht.
({9})
Es war ein höchst selektives System. Man hat die Schüler acht Schuljahre lang gemeinsam lernen lassen. Am
Ende der DDR hat man 8,9 Prozent der Schüler ausgewählt und diese dann zum Abitur geführt.
({10})
Das ist keine Kunst. Sie sollten jetzt, bloß weil Ostern
ist, nicht so tun, als ob uns mit einer Auferstehung von
linken, ideologischen Patentrezepten geholfen wäre. Die
haben wir alle ausprobiert. Sie sind im Wesentlichen im
letzten Jahrhundert gescheitert.
({11})
Es wäre erfreulich gewesen, wenn Herr Muñoz ein
bisschen gewürdigt hätte, dass wir insbesondere nach
PISA in den Ländern umfangreiche Bemühungen in die
Wege geleitet haben. Lassen Sie uns diesen Weg jetzt
unaufgeregt fortsetzen. Ich glaube, dass uns das mit unserem Bildungssystem gelingen kann.
Ich will hier einen kurzen Schwenk machen. Ich
durfte im letzten Jahr die Bundesrepublik beim G-8Treffen der Bildungsminister vertreten. Wissen Sie, was
mir in Moskau aufgefallen ist? In keinem anderen Land
dieser Erde wird so geringschätzig über das eigene Bildungssystem gesprochen, wie sogenannte Bildungsexperten in Deutschland es gelegentlich tun.
({12})
Lassen Sie uns ruhig einmal mit ein bisschen mehr
Selbstbewusstsein an dieses Problem herangehen!
({13})
Das würde den Schülern viel mehr Motivation geben als
immerzu diese Schlagzeilen. Leider ist der Muñoz-Bericht zum Anlass genommen worden, um mehr Demotivation in den Schulen zu verbreiten. Unsere Schulen,
insbesondere die Schüler, brauchen Motivation. Daran
sollten wir arbeiten. Dann ist mir nicht bange, dass die
eingeleiteten Maßnahmen durchaus zu guten Ergebnissen führen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Osterfest.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute vor einem Jahr haben sich die
Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule an die Politik
gewandt und um Hilfe gebeten. Heute ist an der RütliSchule Tag der offenen Tür. Man hatte die Gelegenheit,
sich einen Überblick zu verschaffen über die schulischen
und außerschulischen Aktivitäten, die an der RütliSchule angeboten werden. Man konnte sich einen direkten Einblick verschaffen.
Die Rütli-Schule wurde letztes Jahr zum Synonym für
das bildungspolitische Auslaufmodell in Deutschland:
das dreigliedrige Schulsystem.
({0})
Es hat uns eindringlich gezeigt, wozu Perspektivlosigkeit und Armut führen können. Ich weiß, wovon ich
rede. Ich wohne nur ein paar Straßen von der RütliSchule entfernt.
Ich will Ihnen eines sagen, meine Damen und Herren,
vor allem Ihnen, Frau Ministerin:
({1})
Ich kann, will und werde mich nicht damit abfinden,
dass wir in einem Land leben, in dem Zehnjährige bereits alle ihre Träume aufgegeben haben, weil sie wissen,
dass aus Hauptschülern in diesem Lande nichts wird.
({2})
Das kann nicht unser bildungspolitischer Ansatz sein.
({3})
Das Recht auf Bildung ist nicht nur ein eigenständiges Menschenrecht, sondern auch ein zentrales Instru9410
ment, um andere Menschenrechte wahrnehmen zu können.
({4})
Umso kritikwürdiger ist es, wenn bestimmten Menschen
dieses Recht teilweise oder ganz vorenthalten wird. Insbesondere auf diesen Zusammenhang hat auch Herr
Muñoz in seinem Deutschlandreport deutlich hingewiesen. Wenn Kinder in Armut aufwachsen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie in ihrer Schullaufbahn
Benachteiligungen erfahren. Umgekehrt mindert eine
geringe Bildung die Chancen der Menschen, an der Gesellschaft zu partizipieren.
({5})
Zu den Betroffenen zählen in unserer Gesellschaft auch
die Kinder der Migrantinnen und Migranten, vor allem
die Kinder der Flüchtlinge. Sie leben in prekären sozialen und ökonomischen Verhältnissen.
Weil Sie das immer wieder zu leugnen versuchen,
möchte ich zur Illustration auf Folgendes hinweisen: Der
Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die vorzeitig eingeschult werden, ist um etwa ein Drittel geringer,
als es bei deutschen Kindern der Fall ist. Dagegen ist die
Zahl der Zurückstellungen bei diesen Kindern etwa doppelt so hoch wie bei deutschen Kindern. Es machen doppelt so viele von ihnen keinen Schulabschluss, und es
gehen doppelt so viele von ihnen auf die Hauptschule.
Das hat auch Auswirkungen darauf, wie viele von ihnen
die Fachhochschul- oder Hochschulreife erlangen, ob sie
eine Berufsausbildung machen und wie das spätere Erwerbsleben verläuft.
({6})
Ich möchte klarstellen: Die Linke teilt die Auffassung
von Herrn Muñoz, dass es sich dabei nicht um ein ethnisches Problem handelt, sondern um ein soziales Problem. Begreifen Sie das endlich!
({7})
Dass dem so ist, das wird an den eklatanten Unterschieden im Hinblick auf die Lesekompetenz der Schüler
deutlich.
({8})
- Ich möchte Ihnen eines sagen, Herr Tauss: Wenn Sie
darauf verweisen, dass Sie das schon seit PISA I und
PISA II wissen, und wenn Ihnen jetzt auch der MuñozBericht bekannt ist, dann muss ich Sie darauf aufmerksam machen,
({9})
was Brecht in „Das Leben des Galilei“ geschrieben hat:
Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, aber
wer die Wahrheit kennt und sie einfach verleugnet, ist
ein Verbrecher.
({10})
Ich möchte Sie auffordern, diese Wahrheiten endlich anzuerkennen und Konzepte zu entwickeln.
({11})
- Selbstverständlich sind auch wir für die Ganztagsschule und für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf
kostenlose Kita- und Kindergartenplätze, und das nicht
erst im letztem Jahr.
({12})
Machen Sie uns das erst einmal nach.
Ich möchte mit Blick auf unsere lieben Zuschauerinnen und Zuschauer sagen, dass man, wenn man sich die
Liste der Rednerinnen und Redner ansieht, auf eine Unart aufmerksam wird: Herr Staatssekretär Andreas Storm
ist anwesend, hat seine Rede aber zu Protokoll gegeben.
Herr Jörg Tauss von der SPD ist anwesend, hat seine
Rede aber auch zu Protokoll gegeben. Gleiches gilt für
Herrn Swen Schulz. - Wenn Sie hier im Parlament anwesend sind und an dieser Debatte teilnehmen können,
dann sollten Sie auch mit uns über den überaus wichtigen Bericht von Herrn Muñoz debattieren.
({13})
Sehr geehrte Damen und Herren, es sind nicht nur die
Kinder der Migrantinnen und Migranten, deren Menschenrecht auf Bildung in Deutschland beschnitten wird.
Das selektive Bildungssystem der Bundesrepublik
grenzt auch Menschen mit Behinderungen aus. Herr
Muñoz hat am 19. Februar 2007 einen gesonderten Bericht zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen vorgelegt. Vor dem UN-Menschenrechtsrat
in Genf forderte er die deutsche Politik auf, endlich die
Probleme der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen und des Abschiebens dieser Kinder und Jugendlichen in Sonderschulen aufzugreifen und geeignete
Schritte zu unternehmen, um gerechte und gleiche Lernbedingungen zu schaffen.
({14})
Um für alle Kinder und Jugendlichen einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung sicherzustellen, bedarf es eines Bildungssystems, das an den individuellen
Bildungsbedürfnissen anknüpft.
({15})
Eine Abschiebung und Aussonderung der Kinder von
Migrantinnen und Migranten in Sonderschulen aufgrund
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
fehlender bzw. mangelhafter Sprachkenntnisse ist nicht
hinnehmbar. Ebenso ist es nicht hinnehmbar, dass Kinder mit motorischen Behinderungen allein deshalb, weil
die entsprechenden Vorrichtungen fehlen, abgeschoben
und ausgegrenzt werden.
({16})
Ziel muss ein Bildungssystem sein, das die Individualität
und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder
zum Ausgangspunkt der Pädagogik macht und ihre individuelle Förderung damit verbindet, dass mit- und voneinander gelernt wird.
Abschließend möchte ich noch kurz anmerken -
Das geht wirklich nicht mehr, Kollegin Dağdelen.
({0})
- Das ist kein Grund für Beifallsbekundungen, sondern
schlicht der Geschäftsordnung und der Verabredung zwischen den Fraktionen geschuldet.
Danke.
({0})
Wir haben die Reden des Kollegen Swen Schulz
({0}) von der SPD-Fraktion, der Kollegin Dorothee
Bär von der Unionsfraktion, der Kollegin Gesine
Multhaupt von der SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe
Schummer von der Unionsfraktion und der Kollegin
Renate Schmidt ({1}) von der SPD-Fraktion zu
Protokoll genommen.1)
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. April 2007, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
gute Heimreise, ein erfolgreiches Wochenende und natürlich ein wunderschönes Osterfest.