Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/30/2007

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen. Damit wir uns der bevorstehenden Osterpause möglichst zügig nähern, steigen wir ohne Verzug in die für heute vorge- sehene Tagesordnung ein. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 26 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 - Drucksache 16/4841 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken - Drucksache 16/4857 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeitsplätze - Drucksache 16/4855 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück. ({3})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe bei meinen letzten Reisen ins Ausland, insbesondere nach Brüssel, aber auch in andere europäische Hauptstädte und nach New York und Washington, zunehmend die Erfahrung gemacht, dass all meine Gesprächspartner überrascht sind, wie gut sich die Wirtschaft in Deutschland entwickelt hat und wie deutlich die Arbeitslosigkeit abgenommen hat. Das Interesse an dem Wirtschaftsstandort Deutschland hat in den letzten anderthalb Jahren deutlich erkennbar zugenommen. Die meisten dieser Gesprächspartner beobachten sehr genau - gelegentlich habe ich den Eindruck, sie wissen besser Bescheid als diejenigen, die sich an der innenpolitischen Debatte beteiligen -, was mit der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Politik der Großen Koalition in Deutschland in Gang gesetzt worden ist, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu verringern. ({0}) Man muss sich vor Augen führen, dass die Wirtschaft in Deutschland im letzten Quartal 2006 schneller gewachsen ist, als das in den USA der Fall war. Wer hätte das je für möglich gehalten? Die Aussichten für die Jahre 2007 und 2008 sind nicht sehr viel schlechter. Redetext Alle Gesprächspartner, vornehmlich in der Europäischen Union, sind sehr an der Frage interessiert, ob Deutschland zu seiner alten Funktion als Wachstumslokomotive zurückfinden kann. Ich glaube, dass es dafür gute Chancen gibt. Um das richtig einzuordnen: Die Politik ist gewiss nicht allein für diese Entwicklung verantwortlich. Das behauptet übrigens niemand von der Großen Koalition oder von der Bundesregierung. Die Politik - das gilt insbesondere für die Reformagenda Agenda 2010 und die Maßnahmen der Großen Koalition der letzten anderthalb Jahre - ist aber zumindest beteiligt. Ich halte daran fest, dass die Entscheidungen der Großen Koalition die gute Entwicklung über die, wie ich es nenne, doppelte Tonlage - auf der einen Seite zu konsolidieren und auf der anderen Seite Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben - unterstützt haben. ({1}) Das spiegelt sich in einem erfreulichem Ergebnis wider: Sie alle wissen, dass wir ungefähr 825 000 Arbeitslose weniger haben als vor einem Jahr. Es gibt vor allem 450 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, was eine sehr gute Entwicklung ist. Ich freue mich für die Menschen, die neue Arbeit gefunden haben, und für die vielen, die nicht mehr so große Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen wie noch vor anderthalb Jahren. ({2}) Als Finanzminister, der auch Anwalt kommender Generationen sein muss - eine ganze Reihe junger Menschen hört uns zu -, und als Anwalt derjenigen, die den Kapitaldienst der hohen Staatsverschuldung nicht als derart großen Wackerstein im Gepäck haben sollen, freue ich mich über den Rückgang der gesamtstaatlichen Neuverschuldung. Von 2005 zu 2006 haben wir sie halbiert. Viele von Ihnen wissen, dass ich für dieses Jahr ein Defizitkriterium in einer Größenordnung von 1,2 Prozent angeben kann. Das ist eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung. Manche wirtschafts- und finanzpolitische Debatte des letzten Jahres klingt mir aber noch in den Ohren. Herr Solms, es wurden Horrorgemälde über die Auswirkungen unserer Politik, insbesondere der Mehrwertsteuererhöhung, gemalt. Die Begriffe „Unfug“, „Steuerirrsinn“ und ähnliche fielen in diesem Zusammenhang. Jetzt entpuppt sich vieles von dem, was damals gesagt wurde, als Horrorszenario. ({3}) Es wäre nicht schlecht, wenn der Lerneffekt aus den Erfahrungen des letzten Jahres derjenige wäre, in zukünftigen Debatten etwas abgewogener und seriöser, mit einem etwas größeren Augenmaß und mit weniger Aufregung zu debattieren. ({4}) Dieses Augenmaß sollte auch unter dem Eindruck ganz guter Zahlen walten. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass wir zu Übertreibungen neigen, nicht nur dann, wenn es uns nicht so gut geht, sondern auch, wenn es uns besser geht. Wenn sich unsere Wirtschaft schlecht entwickelt, dann haben wir die Neigung, alles noch stärker schlechtzureden, als es ist. Bei der derzeit guten Entwicklung habe ich den Eindruck, dass es Übertreibungen nach oben gibt, die jedes Maß verlieren. Ich rate dazu, unter dem Eindruck guter Einnahmezahlen, guter Wachstumsperspektiven und guter Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt das Bild nicht wieder so zu zeichnen, als ob bereits alle Probleme gelöst seien. Nein, insbesondere haushaltspolitisch haben wir noch dieselben Probleme wie vor anderthalb Jahren. ({5}) Wir leben in einer sehr schnelllebigen Welt. Sie ist durch einen rasanten Wandel geprägt. Ich finde, dass die Bundesrepublik Deutschland auf einem guten Weg ist. Dies gilt auch mit Blick auf die Unternehmensteuerreform. Wir debattieren heute in erster Lesung über den Gesetzentwurf. Mit dieser Reform stärken wir die Wachstumsbasis in Deutschland. Vor allen Dingen bewirken wir eine Entwicklung, die darauf hinausläuft, dass Unternehmensgewinne, die Wertschöpfung, die in Deutschland erzielt wird, auch in Deutschland versteuert werden, anstatt ins Ausland abzuwandern, und dass die Verluste, die im Ausland gemacht werden, nicht steuermindernd in Deutschland wirken. Das ist die Kernzielsetzung der Unternehmensteuerreform. ({6}) Diejenigen, die die Unternehmensteuerreform kritisieren - sachlich, teilweise aber auch polemisch -, müssen die Frage beantworten, ob es der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer besser ginge, ob es für Deutschland günstiger wäre, wenn wir die Unternehmensteuerreform unterließen. Die Antwort lautet eindeutig: Wenn wir keine Unternehmensteuerreform machen, wird Deutschland weiter an Steuerbasis - die Technokraten nennen es Steuersubstrat - verlieren, und die Staatseinnahmen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben werden auf Dauer nicht mehr, sondern weniger. Das heißt, wir hätten Nachteile aus einem Unterlassen. Die Verantwortung muss sich nicht nur bei der Frage stellen, was man tut, was die Konsequenzen des Handelns sind, sondern es muss politisch auch die Frage gestellt werden: Welche Konsequenzen hat das Unterlassen von notwendigen Maßnahmen, die die Steuerbasis in Deutschland stärken? ({7}) Die Unternehmensteuerreform ist in meinen Augen übrigens durchaus ein Beleg für die Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft der Großen Koalition. Ich füge mit einer gewissen Befriedigung hinzu: Nicht zuletzt die erfreulich unaufgeregte Art ihres Zustandekommens ist ein Beleg dafür, dass es der Politik außerordentlich gut tun kann, wenn sie sich Zeit nimmt, um ein so komplexes Werk zu erarbeiten, und diese Zeit auch bekommt. Ein so komplexes Werkstück wie diese Unternehmensteuerreform muss reifen können, ohne mit täglichen Wasserstandsmeldungen medial zerrieben zu werden. Ich glaube, dass ist uns über die Wegstrecke von zwölf Monaten gelungen. ({8}) Ich möchte deshalb an dieser Stelle all denjenigen danken, die behilflich gewesen sind, insbesondere denen, die fachlich versiert in den Landesverwaltungen von Hessen, von Bayern, von Rheinland-Pfalz insbesondere in den Bundesressorts tätig gewesen sind. Ich möchte auch denjenigen danken - viele von ihnen sind anwesend -, die mit mir in der politischen Arbeitsgruppe zusammengearbeitet haben, namentlich Herrn Ministerpräsidenten Koch, der die Seite der Union dabei geleitet hat. Ich glaube, das war ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken innerhalb dieser Großen Koalition. ({9}) Wir haben absichtlich keinen Systemwechsel vorgenommen. Sie wissen, dass wir am Beginn dieser Debatte über die Unternehmensteuerreform von Sachverständigen aufgefordert wurden - dem Sachverständigenrat genauso wie der Stiftung „Marktwirtschaft“ -, eine fundamentale Veränderung, einen richtigen Paradigmenwechsel, des Unternehmensteuersystems in Deutschland zu machen. Wir haben vorsätzlich darauf verzichtet, weil eine solche fundamentale Veränderung eindeutig mit unwägbaren Asymmetrien, mit Nebeneffekten verbunden gewesen wäre, die unkalkulierbar sind und zu einem unübersehbaren Nachjustierungsbedarf geführt hätten und im Übrigen auch zu Einnahmenverlusten in zweistelliger Milliardenhöhe, die sich mit dem gemeinsamen Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht vertragen hätten. Die wesentlichen Maßnahmen der Unternehmensteuerreform sind Ihnen so weit bekannt, dass ich aus Zeitgründen nicht im Einzelnen darauf eingehe. Aber ich will die wichtigsten Punkte nennen. Wir tun etwas, was von vielen - übrigens einem breitem Spektrum - in diesem Haus vor Beginn der Unternehmensteuerreform immer für richtig erachtet worden ist: Wir senken die nominalen Steuersätze und erweitern dabei die Bemessungsgrundlage. Das heißt, wir schränken die Gestaltungsmöglichkeiten, die derzeit legalen Möglichkeiten der Steuervermeidung, in Deutschland ein. Das war eine der Zielsetzungen der Unternehmensteuerreform. Die Zahlen, wie hoch der Betrag ist, der am deutschen Fiskus „vorbeigestaltet“ werden kann, gehen auseinander. Das DIW hat kürzlich eine Zahl von 100 Milliarden Euro genannt. Ein eher der Wirtschaft nahestehendes Institut redet von 30 Milliarden Euro. Egal wie hoch dieser Betrag genau ist, er ist auf jeden Fall zu hoch. Diese Verschiebebahnhöfe müssen unterbunden werden. ({10}) Wenn wir nur einen Teil dieser legalen grenzüberschreitenden Verlagerung eindämmen können, dann sichern wir die Steuerbasis in Deutschland, und das langfristig. Ich möchte nicht, dass die Unternehmensführungen vor allem in ihre Steuerabteilungen investieren, um herauszufinden, welche die besten legalen Steuervermeidungsstrategien sind, sondern ich möchte, dass die Unternehmen in Arbeitsplätze und in Realkapital in Deutschland investieren. ({11}) Wir haben sehr darauf geachtet, dass insbesondere die vielen kleinen und mittleren Unternehmen durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Deswegen wehre ich mich gegen die Äußerung, dass es eine Mittelstandslücke gibt. Übrigens hat gerade das sehr renommierte Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim deutlich gemacht, dass der Mittelstand einer der Gewinner dieser Reform ist. Das liegt zum Teil daran, dass die Tarifsenkung bei mittelständischen Unternehmen voll positiv wirkt, während sie von den Elementen der Gegenfinanzierung aufgrund von Freigrenzen und Freibeträgen, übrigens auch aufgrund niedrigerer individueller Grenzsteuersätze, im Gegensatz zu den großen Unternehmen nicht betroffen sind. Es ist auch daran zu erinnern, dass der deutsche Mittelstand durch die Maßnahmen der Vorgängerregierung und die Steuerreformen bereits zu Beginn dieses Jahrzehnts um 13 Milliarden Euro entlastet worden ist. ({12}) Die Steuerreformschritte des Jahres 2000 und folgende haben dazu geführt, dass die Effektivbesteuerung von 80 bis 85 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland inzwischen bei unter 20 Prozent liegt. Mit Blick auf die jetzigen Maßnahmen möchte ich darauf hinweisen, dass insbesondere aufgrund der Verbesserung der Ansparabschreibung und der Thesaurierungsmöglichkeiten keine Mittelstandslücke existiert. In Deutschland gibt es ungefähr 3 Millionen kleine und mittlere Unternehmen. 1 Million von ihnen werden in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft betrieben. Sie alle profitieren von der Absenkung des Nominalsteuersatzes. Darüber hinaus gibt es 2 Millionen Personengesellschaften in Deutschland. Von diesen 2 Millionen Personengesellschaften haben lediglich 70 000 Unternehmen - mehr nicht - ein Eigenkapital von mehr als 210 000 Euro und können daher nicht die Möglichkeiten der Verbesserung der Ansparabschreibung in Anspruch nehmen. Es sind also ungefähr 2 Prozent der Personengesellschaften, die von diesen Vergünstigungen nicht profitieren. Ich möchte deutlich darauf hinweisen, dass der weit überwiegende Teil der Mittelständler durch die Thesaurierungsbegünstigung für ertragsstarke größere Personengesellschaften und durch die Möglichkeiten der Ansparabschreibung im Rahmen der Unternehmensteuerreform begünstigt wird. Insgesamt kann man feststellen, dass der deutsche Mittelstand, was die Besteuerung betrifft, im europäischen Vergleich im besten Drittel angekommen ist. Um einen weiteren Punkt aufzugreifen: Gelegentlich höre ich, dass darauf hingewiesen wird, wie schädlich die Gewerbesteuer sei. Insbesondere aus den Reihen der FDP wurde ein Plädoyer dafür gehalten, die Gewerbesteuer abzuschaffen. In der Wahrnehmung der politischen Arbeitsgruppe war dieser Vorschlag immer ein Irrweg. Da ungefähr 60 Prozent der öffentlichen Investi9340 tionen von den Kommunen getätigt werden und diese Investitionen vornehmlich dem deutschen Mittelstand zugute kommen, muss man die Einnahmebasis und die Investitionsfähigkeiten der Kommunen stärken. Das tun wir mit der Unternehmensteuerreform. ({13}) Das bedeutet in meinen Augen nicht, dass die Kommunen irgendeinen Zuschlag bzw. einen Hebesatz aus den Einnahmen der Einkommensteuer oder einen größeren Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer bekommen müssen, sondern es bedeutet, dass sie eine eigene wirtschaftskraftbezogene Steuereinnahme mit eigenem Hebesatzrecht brauchen. Dies ist im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform gelungen. ({14}) Eigentlich geht es um noch mehr: Wir halten nicht nur die gute Perspektive im Hinblick auf die Einnahmesituation der Kommunen offen, sondern wir verstetigen auch ihre Einnahmen in erkennbarem Umfang, zum Beispiel durch Verbesserungen der Bemessungsgrundlage. Ich weiß, dass es Kritik daran gegeben hat, nach dem Motto: Ihr führt mehr ertragsunabhängige Elemente in die Bemessungsgrundlage ein, was dazu führt, dass die Unternehmen nicht mit der Konjunktur atmen können. - Ich möchte darauf hinweisen, dass der Anteil der ertragsunabhängigen Elemente an der Besteuerung in Deutschland einer der niedrigsten in ganz Europa ist. Wo also ist in diesem Zusammenhang das Problem? Es wird in meinen Augen jedenfalls deutlich übertrieben. Es ist richtig, dass sich mit dieser Unternehmensteuerreform Mindereinnahmen verbinden. Aber noch einmal: Nichtstun würde dauerhaft zu größeren Mindereinnahmen führen. Man muss sehen, dass man diese Mindereinnahmen bei einer vollen Jahreswirksamkeit auf 5 Milliarden Euro begrenzen kann. Das heißt, zu dem Zeitpunkt, wo alle entlastenden und alle belastenden Elemente in einem Jahr wirken, haben wir die häufig genannten 5 Milliarden Euro. Richtig ist, dass wir im ersten Kassenjahr mit Mindereinnahmen von 6,5 Milliarden Euro zu rechnen haben. Aber entscheidend ist, wie sich die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren tatsächlich entwickeln, unter Berücksichtigung, dass wir Steuersubstrat zurückgewinnen, und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung. Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass wir bei der Gewerbesteuer nach zwei Jahren und bei der Körperschaftsteuer nach drei Jahren auf demselben Einnahmeniveau sind wie 2007. Ich will an dieser Stelle dem Verdacht begegnen, wir hätten dort Selbstfinanzierungseffekte eingerechnet. Wir haben definitiv keine Selbstfinanzierungseffekte in diese Berechnungen einfließen lassen, sondern wir gehen von den Wachstumsmöglichkeiten, von den Wachstumsperspektiven aus und, in einem sehr bescheidenen Ausmaß, davon, dass wir über solche Verbesserungen die Steuerbasis, die in Deutschland verloren zu gehen droht, erhalten können. Ein weiterer Vorwurf lautet - um zum Schluss zu kommen -, dass sich mit dieser Unternehmensteuerreform Bürokratiekosten verbinden. Ich möchte darum bitten, die Proportionen nicht aus den Augen zu verlieren: Richtig ist, dass dieser Gesetzentwurf mit Nachweispflichten und Meldevorschriften zusätzlichen Aufwand für die Unternehmen nach sich zieht, somit Bürokratiekosten entstehen. Aber dies ist im Interesse des deutschen Fiskus notwendig, sonst verlieren wir Einnahmen. Entgegengehalten wird auch, dass der Normenkontrollrat mit Blick auf die Anlageverzeichnisse für geringwertige Wirtschaftsgüter, für Wirtschaftsgüter bis 1 000 Euro, mit Bürokratiekosten von 180 Millionen Euro rechnet. Aber ich bitte, auch hier im Blick zu behalten, dass sich diese 180 Millionen Euro, die dafür aufgewandt werden müssen, auf 5 Millionen Unternehmen erstrecken. Das heißt, pro Unternehmen und Jahr sind es 36 Euro Mehraufwand, 3 Euro pro Monat. Das sind die Proportionen, die wir im Blick behalten müssen. Das heißt, diese bombastische Zahl - nach dem Motto: Was inszenieren die da wieder für eine Bürokratie? rückt sich doch zurecht, wenn man bereit ist, zu bedenken, dass diese Summe auf die in Rede stehende Anzahl der deutschen Unternehmen umzulegen ist. Mit dieser Unternehmensteuerreform setzt die Große Koalition ihre erfolgreiche Arbeit am Wirtschafts- und Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland fort. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass der Mut zu grundsätzlichen Reformen, zu Strukturreformen, am Ende mit mehr Wachstum und mit weniger Arbeitslosigkeit belohnt wird. Dies sage ich auch für diese Unternehmensteuerreform voraus. Man braucht einen langen Atem dafür. Helfen wird eine gute Lunge; das Rauchverbot ist in diesem Zusammenhang vielleicht ganz hilfreich. ({15}) - Der Fraktionsvorsitzende der SPD ist dort anderer Auffassung. - Ich will darauf hinaus: Diese Steuerreform ist kein Geschenk an irgendjemanden, sondern bedeutet eine Investition in den Standort Deutschland, in die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn das so bewertet werden könnte. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto Solms. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Aufruf des Bundesfinanzministers zu Augenmaß als einen Aufruf in seine eigenen Reihen verstanden. ({0}) Denn die Oppositionstätigkeit innerhalb der Koalitionsfraktionen und zwischen den Koalitionsfraktionen ist sehr viel reger als das, was die Opposition gegenwärtig leisten kann. ({1}) Wir können uns ja kaum noch Gehör verschaffen, weil Sie die Oppositionsrolle mit übernommen haben. ({2}) Das Zweite, was ich dazu sagen wollte: Sie haben eine sehr wortreiche Verteidigungsrede für dieses Modell der Unternehmensteuerreform vorgetragen. Aus vielen Worten wird aber noch kein schönes Gedicht, Herr Finanzminister; denn die Frage lautet: Welchen Maßstäben muss eine solche Unternehmensteuerreform gerecht werden? Sie muss doch offenkundig dem Maßstab gerecht werden, die internationale Wettbewerbsfähigkeit hinsichtlich des Forschungsstandorts Deutschland, des Investitionsstandorts Deutschland - und damit des Arbeitsplatzmarkts Deutschland - und schließlich auch des Finanzplatzes Deutschland im Bereich der Steuern zurückzugewinnen. Hier sind wir international enorm zurückgefallen. Daran gibt es keine Zweifel. Eine Unternehmensteuerreform ist aus Sicht der FDP überfällig. Sie muss mit Entlastungen der Unternehmen verbunden sein. Wenn ich mir die Diskussion innerhalb der Reihen der SPD gegenwärtig anhöre und das betrachte, was die Fraktion der Linken vorträgt, dann kann ich mich nur wundern. Der Volkskongress Chinas, einer der letzen kommunistischen Staaten dieser Welt - und zwar kein kleiner -, hat vor 14 Tagen beschlossen, dass alle Unternehmen jedweder Rechtsform nur noch mit 25 Prozent besteuert werden sollen. ({3}) Das hat man in Deutschland noch nicht verstanden. Das ist der Maßstab, der gesetzt wird. ({4}) Die Frage ist, wie wir dagegen bestehen wollen. Sie diskutieren darüber, ob 30 Prozent niedrig genug sind. Ganz egal, ob Sie das gut oder schlecht finden: Diesen Maßstäben können Sie sich in einem globalisierten Wettbewerb nicht entziehen. Die Reform, die Sie uns vorschlagen, ist bedauerlicherweise völlig unzusammenhängend und ein Bündel von Einzelmaßnahmen, die sich teilweise widersprechen. Sie ist unsystematisch, ungerecht und verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Darauf will ich eingehen. ({5}) Zunächst einmal begrüßen wir die Senkung der nominalen Steuersätze. Kommt denn aber wirklich eine Steuersenkung bei der Wirtschaft an, oder fangen Sie die positiven Effekte durch Ihre Gegenfinanzierungsmaßnahme nicht gerade wieder ein? Sie gaukeln der Wirtschaft vor, sie würde entlastet, sagen aber nicht öffentlich, dass die Wirtschaft die Entlastung selbst bezahlen muss. Noch viel schlimmer ist aber, dass Sie die Wirtschaft mit Ihren Maßnahmen nicht gleichmäßig treffen. Es mag richtig sein, dass der Vorwurf einer Mittelstandslücke nicht genau trifft; allerdings stimmt es, dass Sie die gewinnschwachen, kapitalschwachen und forschungsintensiven Unternehmen zusätzlich belasten, während Sie die ertragsstarken, international tätigen Unternehmen entlasten. Sie erzeugen genau die falsche Lenkungswirkung. ({6}) Das ist eine Steuerreform für Siegerunternehmen. ({7}) Sie müssten dagegen die forschungsintensiven, die neuen und die noch kapitalschwachen Unternehmen stärken, damit sie im internationalen Wettbewerb überleben können und neue wirtschaftliche Tätigkeit entstehen kann. Das ist offenkundig nicht in Ordnung. Darüber hinaus ist die Reform verfassungsrechtlich äußerst bedenklich, weil Sie die Grundprinzipien der Besteuerung über Bord geworfen haben. Ich erinnere die Kollegen von der CDU/CSU und besonders den Kollegen Wolfgang Schäuble an die Steuerreformkommission des Jahres 1996 unter dem Vorsitz von Theo Waigel. In der ersten Sitzung ist die Frage gestellt worden, ob wir an den Grundprinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und dem objektiven Nettoprinzip festhalten wollen. Niemand hat sich dagegen ausgesprochen. Alle waren selbstverständlich dafür. Diese Prinzipien sind ja verfassungsrechtlich fundiert. - Heute spielt das keine Rolle mehr. Umso mehr habe ich mich darüber gewundert, dass Ministerpräsident Koch aus Hessen zusammen mit Herrn Steinbrück durch das bekannte Koch/Steinbrück’sche Papier damit begonnen hat, die Grundprinzipien der Besteuerung sozusagen zur Beliebigkeit zu erklären. ({8}) Gegenwärtig wird ein Gutachten beim Bundesfinanzhof eingereicht - alle Fraktionen dieses Hauses sind darüber informiert und tragen dies mit -, in dem der Verfassungsrechtler Professor Waldhoff noch einmal darauf hinweist, dass diese Prinzipien Verfassungsrang haben. Ich will nur zwei Sätze zitieren: Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit her, das sich als Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erweist. Und an anderer Stelle: In § 2 Abs. 2 EStG hat das objektive Nettoprinzip insofern seine Verwirklichung gefunden, als dass Einkünfte nur Reineinkünfte sind, das heißt der Gewinn bzw. der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Durchbrechungen dieses Prinzips bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. Jetzt möchte ich gerne von Herrn Koch hören, wie er verfassungsrechtlich begründet - er ist ja ein anerkannter Jurist -, ({9}) dass das objektive Nettoprinzip nun offenkundig keine Rolle mehr spielt, weil Verluste und Kostenbestandteile in die steuerliche Bemessungsgrundlage aufgenommen worden sind. Das ist in unseren Augen überhaupt nicht akzeptabel. ({10}) Das ist im Übrigen wirtschaftlich auch gar nicht notwendig. Verfassungsgrundsätze können sich nicht an der politischen Tagesnotwendigkeit orientieren, sondern sie müssen gelten. Es ist aber auch deshalb nicht notwendig, weil es nicht stimmt, was Sie hinsichtlich der Gewinnverschiebungen ins Ausland behaupten. Es wurde ja gerade nachgewiesen, dass die international tätige Wirtschaft etwa 75 Prozent ihrer Gewinne im Ausland erzielt, trotzdem aber über 50 Prozent der Steuern in Deutschland abliefert. Das heißt, der deutsche Fiskus hat einen überproportionalen Anteil an der Gewinnbesteuerung der deutschen international tätigen Unternehmen. Es gibt also überhaupt keinen Anlass, diese Gewinnverschiebungen zu unterstellen. Deswegen bin ich der Meinung, dass in diesem Bereich eine Korrektur notwendig ist. Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn Sie diese verfassungsrechtlich bedenklichen Vorschriften im Gesetzgebungsverfahren nicht korrigieren, dann werden Sie zwangsläufig - auf wessen Initiative hin auch immer vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichtes landen. ({11}) Aber was erreichen Sie damit eigentlich politisch? Sie versuchen, um Deutschland herum eine Steuermauer hochzuziehen, und zwar aus Angst, die Steuerpflichtigen würden Deutschland verlassen. Was erreichen Sie denn damit, wenn Sie eine Mauer bauen? Die DDR hat es Ihnen doch vorgemacht! ({12}) Kein Ausländer wird mehr hierher kommen, um hier zu investieren, und alle Inländer, die schnell und clever sind, werden das Land verlassen. Das ist die Konsequenz, wenn Sie eine solche Steuermauer aufbauen. ({13}) Oder wie es Manfred Schäfers von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schon im Sommer letzten Jahres geschrieben hat: Wenn Unternehmen mit ihren Gewinnen nicht zurückkommen, sperrt man wenigstens die ein, die noch da sind. Das sind sozialistische Rezepte. Das kann nicht funktionieren. Wenn Sie die Gewinne in Deutschland einsperren wollen, dann werden die Unternehmen ihren Sitz nach und nach ins Ausland verlegen. Genau das Gegenteil ist aber die Politik, die wir für Deutschland brauchen. Herr Steinbrück, die Österreicher haben es uns doch vorgemacht: Sie haben eine exzellente Unternehmensteuerreform gemacht, die, im Gegensatz zu dem, was Sie hier bieten, auch europarechtsfähig ist. ({14}) Und was haben die Österreicher erreicht? Sie haben einen riesigen wirtschaftlichen Erfolg, dort liegt die Arbeitslosenquote nur halb so hoch wie in Deutschland, es gibt Wachstum und Auslandsinvestitionen - verhältnismäßig betrachtet, Österreich ist ja ein relativ kleines Land - in einem Ausmaß, wie wir es uns nur erträumen können. Schließlich ein Wort zur Gewerbesteuer. Natürlich ist die Gewerbesteuer ein Fremdkörper. Reden Sie doch nicht drum herum! Es geht doch nicht darum, den Gemeinden die Finanzierungsgrundlage zu entziehen. Es geht darum, ein modernes, wettbewerbsfähiges, flexibles Unternehmensteuerrecht zu schaffen. Dabei hat die Gewerbesteuer nichts verloren. ({15}) Über die Abschaffung der degressiven AfA will ich gar nicht erst reden. Sie haben die degressive AfA für zwei Jahre angehoben und glauben, das wäre es gewesen, sie könnten die AfA jetzt abschaffen, die Wirtschaft boomt und das geht so weiter. Ich sage: Nein, beim nächsten Konjunktureinbruch wird sich das rächen. Sie werden sehen, dass die degressive AfA auch in Zukunft notwendig sein wird. Die Länder um uns herum machen es doch genauso. Wir sind doch nicht auf einer einsamen Insel. Zusammenfassend möchte ich sagen, Herr Steinbrück: Wir brauchen eine Steuerreform. Die FDP hat ihre Vorschläge in Gesetzestextform vorgelegt. Wir sind bereit, darüber zu reden. Eine Senkung der Unternehmensteuerbelastung ist zwingend notwendig. Aber sie muss sich an den internationalen Maßstäben orientieren. Sie muss zudem auf der Basis der Prinzipien unserer Verfassung gestaltet werden. Eine Alternative dazu kann es nicht geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch. ({0}) Roland Koch, Ministerpräsident ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Unternehmensteuerreform ist ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der wirtschaftlichen Chancen in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist aber nicht der einzige Baustein. Sicherlich muss sie im Zusammenhang mit den Fragen betreffend den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland, wie es in den letzten Monaten mehr und mehr - auch als eine Konsequenz aus dem 25-Milliarden-Euro-Programm, das die Große Koalition national aufgelegt hat und das die Länder ergänzen müssen - deutlich wurde, und manch anderer Maßnahme gesehen werden. Wenn ich lobend über die Unternehmensteuerreform als eine Chance spreche, dann will ich nicht verhehlen, dass aus meiner Sicht die offene Flanke bleibt, dass man ohne die notwendige Flexibilisierung des Arbeitsrechts die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht alleine durch eine Unternehmensteuerreform sichern kann. Es bleibt also auch in Zukunft noch etwas zu tun. ({2}) Das darf und soll aber nicht mindern, was wir hier gemeinsam erreichen können. Der Gesetzentwurf, den Herr Kollege Steinbrück für die Bundesregierung eingebracht hat, ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung, den Koalitionsfraktionen und einem großen Teil der Bundesländer. Wir sind für diese Zusammenarbeit, die zu einem frühen Zeitpunkt begann und in die der Sachverstand der Landesfinanzverwaltungen einbezogen wurde, außerordentlich dankbar. Es war in der Tat wichtig, dass ein solches Thema nicht von Anfang an in die Mühlsteine ideologischer Auseinandersetzungen geraten ist. Wir sehen jeden Tag, dass diese Gefahr besteht. Ich bin Herrn Kollegen Steinbrück dankbar, dass wir auf beiden Verhandlungsseiten ein Klima geschaffen haben, das es uns ermöglicht, weitergehende Schritte zu machen, als es viele in den Reihen der Großen Koalition für möglich gehalten haben. Herr Kollege Solms, es stimmt, dass diese Unternehmensteuerreform zu einer veränderten Unternehmensbesteuerung führt. Aber wir müssen zum Beispiel von Österreich lernen. Eines der wesentlichen Hindernisse im deutschen Steuerrecht, die wir in der Vergangenheit als Problem mit uns herumgeschleppt haben, war, dass alle steuerlichen Systeme so eng miteinander vernetzt waren, dass die mit der Funktion des sozialen Ausgleichs belegte individuelle Einkommensteuer unmittelbare Konsequenzen für die Unternehmensbesteuerung im Ganzen hatte. Das bedeutet nüchtern gesehen, dass man, wenn man die Funktion des sozialen Ausgleichs der individuellen Einkommensbesteuerung nicht aufgeben will, die Unternehmensbesteuerung in ein enges Korsett zwängt. Dadurch haben wir zunehmend an internationaler und europäischer Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das Unternehmensteuerrecht, das nun geschaffen wird, ermöglicht uns zwei Dinge getrennt zu sehen: die individuelle Besteuerung persönlichen Einkommens und die Belastung der Unternehmenserträge im internationalen Vergleich. Dies ist die einzige Chance, mittelfristig mit Nachbarländern wie den Niederlanden und Österreich sowie den großen Wettbewerbern in der Welt zu konkurrieren. Deshalb ist diese Unternehmensteuerreform ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. ({3}) Die Entscheidung der beiden Koalitionsfraktionen und derjenigen, die den Gesetzentwurf begleitet haben, Zinserträge zu unternehmerischen Erträgen und nicht mehr zu privaten Erträgen zu rechnen, das heißt, sie in die Pauschalierung durch eine Abgeltungsteuer einzubeziehen, ist für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das nicht nur viel Kapital braucht, sondern das auch eine außerordentlich große Kompetenz darin hat, Kapital zu verwalten, ein wichtiger Schritt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Konzert zu erhalten. ({4}) Ich, der ich das Bundesland Hessen vertrete und aus Frankfurt komme, das mit London im Wettbewerb steht, kann nur sagen: Wir haben aufgrund bestimmter Fehler im Investmentbanking nicht mehr ganz die Nase vorne, wohl aber im Asset Management. Um das Asset Management auf Dauer in Deutschland zu halten, ist es außerordentlich wichtig, ein einfaches und überschaubares Steuerrecht - auch bei der Besteuerung von Zinserträgen und Unternehmenserträgen - zu haben. Ich erlaube mir, an dieser Stelle zu sagen: Auch wegen des Verhetzungspotenzials, das bei solchen Reformen bestehen kann, ist das eine Aufgabe, die eine große Koalition erledigen muss. Ich bin froh darüber, dass sich die beiden Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag entschlossen haben, diese Aufgabe zu leisten. Sie wird weit über die Jahre einer solchen Regierung hinaus Bedeutung für die deutsche Wirtschaft haben. ({5}) Wir befinden uns doch in einer Situation, in der wirklich niemand auf den Gedanken kommen kann, man könnte in dieser Frage eine Mauer ziehen. Das hat Konsequenzen: Man muss sicherstellen, dass Menschen, die überall auf der Welt unternehmerische Entscheidungen treffen, die Frage, ob sie denn hier in der Bundesrepublik Deutschland unternehmerisch aktiv sein wollen, positiv beantworten können. Wenn ich einem Unternehmer sage, dass der Spitzensteuersatz zwar grob 25 Prozent mehr - 40 statt 30 Prozent - als in jedem anderen Land in Europa und in der Welt beträgt, in dem sie ihre unternehmerischen Entscheidungen treffen könnten, und dann hinzufügen muss: „Nimm das aber nicht so tragisch; denn wenn man alle Verrechnungs-, Ausgleichs- und Abschreibungsmöglichkeiten berücksichtigt, dann sieht Ministerpräsident Roland Koch ({6}) man, dass die Realbesteuerung viel niedriger ist“, dann muss dieser Unternehmer über die Frage entscheiden: Nehme ich ein Land mit einem einfachen Steuergesetz und einem niedrigen Steuersatz, oder nehme ich ein Land mit einem hohen Steuersatz und beschäftige einen guten Steuerberater? Warum soll er die zweite Alternative wählen? Wir geben ihm in Zukunft die Möglichkeit, die erste zu wählen, meine Damen und Herren. Das ist ein wichtiger Teil internationaler Wettbewerbsfähigkeit. ({7}) Es sei auch klar gesagt: Natürlich verursacht eine solche Steuerreform am ersten Tag einen Ausfall, schon deshalb, weil die niedrigeren Sätze am ersten Tag gelten, die Gegenfinanzierungsmechanismen aber erst langsam wirken, und auch deshalb, weil ein Unternehmen sich überhaupt erst entscheiden muss, hierherzukommen - das dauert - und sich anzusiedeln - das dauert -, und für das erste Jahr Steuern zahlen muss - das dauert noch einmal -, bis wir tatsächlich Wirkungen feststellen. Es ist aber ein entscheidender Schritt, dass man in einem internationalen Standortwettbewerb sagen kann: Wir kommen jetzt auf einen Steuersatz, der dem durchschnittlichen Steuersatz internationaler Konzerne - wo immer auf der Welt sie angesiedelt sind - entspricht; es gibt keinen Grund mehr, einen Bogen um Deutschland zu machen. Das ist eine wichtige Botschaft, die wir mit dieser Unternehmenssteuerreform senden. ({8}) Es gibt aber auch die andere Seite. Herr Kollege Solms, hier bin ich wirklich anderer Meinung als Sie. Wir haben bei dieser Steuerreform mit den Länderfinanzverwaltungen etwas gemacht, was nicht selbstverständlich ist: Wir haben sehr viele Steuerakten gezogen, sehr viele Realvergleiche gemacht, über den letzten Sommer sehr viele Basistests gemacht und uns Unternehmen angeschaut, sodass wir jetzt einen ziemlich präzisen Überblick darüber haben, was in den Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland wirklich steuerlich geschieht. Zu sagen, dass es keine Verlagerung ins Ausland gebe, widerspricht jedem Gespräch, das doch auch Sie mit Beteiligten in den Wirtschaftskreisen geführt haben, in dem mit stolz geschwellter Brust über die Optimierungsmöglichkeiten der steuerberatenden Gesellschaften in den letzten Jahren geredet wurde. Wir haben es hier mit konkreten Fällen zu tun. Ich sehe ja, wer jetzt zu mir kommt, wer Probleme hat und wo er die Schwierigkeiten sieht. Das ist alles geltendes Recht. Wenn ich eine Investition in einem anderen europäischen Land oder in Amerika tätige und meine Erträge, die ich dort erziele - die aber sehr hoch sind, weil ich die Kosten nicht in diesem Land geltend gemacht habe -, vollständig in diesem Land versteuere und nach dem Doppelbesteuerungsabkommen am Ende steuerfrei nach Deutschland transferiere, gleichzeitig aber hier in Deutschland die vollen Kreditkosten geltend gemacht habe, weil ich sie in Deutschland verrechnet habe, dann ist das geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist niemandem übel zu nehmen. Es ist wahrscheinlich in einer Kapitalgesellschaft sogar Untreue, wenn man es nicht so machen würde. Aber wenn der durchschnittliche Steuersatz dem Weltsteuersatz entspricht, dann kann ich erwarten, dass die Allokationen wieder da stattfinden, wo die wirtschaftlichen Erträge sind. Ein Unternehmen, das 60 Prozent des Umsatzes in Deutschland macht und 40 Prozent der Produktion in Deutschland hat, kann nicht 98 Prozent der Zinskosten in Deutschland haben. Das geht nicht. ({9}) Das ist kein ganz theoretischer Fall. Es ist eine notwendige Balance, auf der einen Seite internationale Steuersätze zu haben und auf der anderen Seite diesen Schritt in einer solchen Weise zu ermöglichen. Wir werden eine solche Steuerreform immer zwischen den unterschiedlichen Triebkräften der Wirtschaft balancieren müssen. Hier geht es auch um einen Wettbewerb von internationalen Konzernen. Ich glaube, das sollte man auch nicht bestreiten; denn wenn wir die internationalen Konzerne nicht mehr in Deutschland haben, dann werden Millionen von Arbeitsplätzen in mittelständischen Unternehmen, die eng mit diesen Konzernen vernetzt sind, nicht mehr da sein. Ich kann ein großes internationales Unternehmen, etwa einen Automobilkonzern, nicht unter dem Motto betrachten: Da sind die Superreichen, die entlaste ich steuerlich. Wenn sich dieses Unternehmen aus steuerlichen Gründen dazu entscheidet, nicht mehr hier tätig zu sein, dann hat dies Auswirkungen auf eine riesige Zahl von mittelständischen Unternehmen. Gehen Sie durch das Land: Das ist in der Automobilindustrie so, das ist in der Dienstleistungsindustrie so. Es ist nicht richtig, zwischen den Großunternehmen und dem Mittelstand zu unterscheiden. Wir brauchen in der Steuerpolitik eine Kombination, die beide berücksichtigt. Wir müssen schauen, mit welchen Maßnahmen wir den Mittelstand in den letzten Jahren entlastet haben, und wir dürfen ihn nicht erneut belasten. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Qualität des Standortes Bundesrepublik Deutschland internationales Niveau erreicht. Genau das geschieht in diesen Tagen. ({10}) Ich glaube, dass in den Beratungen im Bundestag und im Bundesrat noch über manches Detail gesprochen werden wird. Eines sollte dabei deutlich werden: Wir haben eine neue Philosophie von Freigrenzen und Freibeträgen eingeführt, die logischerweise Mittelstandsgrenzen sind. Mit Freigrenzen und Freibeträgen kann ich einen Weltkonzern nicht besonders glücklich machen. Wenn der Freigrenzen braucht, ist er kein Weltkonzern mehr. Aber ein mittelständisches Unternehmen, das bisher bei der Gewerbesteuerhinzurechnung vom ersten Cent an gezahlt hat, in Zukunft aber eine Freigrenze von 100 000 Euro hat, erhält dann einen massiven Spielraum und erfährt eine massive Entbürokratisierung. Wenn man bedenkt, dass ein Unternehmen einen Kredit in Höhe von 20 Millionen Euro aufnehmen muss, bevor die Zinsschranke und andere Maßnahmen greifen, dann ist ersichtlich, dass der überwiegende Teil der mittelständischen Industrie davon gar nicht betroffen ist. Das ist die Absicht. Wir wollen international wettbewerbsfähige Großkonzerne im Land haben, die im Zusammenwirken Ministerpräsident Roland Koch ({11}) mit mittelständischen Unternehmen neue Arbeitsplätze in Deutschland schaffen und neue Unternehmensgründungen ermöglichen. ({12}) Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass über manches Detail der Unternehmensteuer auch in Zukunft im Deutschen Bundestag gestritten werden wird. Ich nenne die Stichworte Funktionsverlagerung, Mantelkauf, PPP-Geschäfte und Venture Kapital. Ich weiß, dass in den Beratungen der Ausschüsse in den nächsten Wochen viel Papier gewendet werden wird. Ich finde, dass es denen, die an dem Gesetzentwurf mitgewirkt haben, nicht schlecht ansteht zu sagen, dass sie wissen, dass sie Kompromisse gemacht und manchmal technisches Neuland beschritten haben und sie auch nicht die Allerklügsten in der Welt sind. Das heißt, man kann über die Frage, was im Einzelfall gemacht werden kann, sicherlich auch an der einen oder anderen Stelle reden. Wir sehen, dass zum Beispiel in der Leasingbranche manche Diskussion geführt wird. Leasing hat sich etwas anders entwickelt, als es eigentlich unternehmerisch gedacht war. Leasingunternehmen sind manchmal in ihrem realen Verhalten zu Banken geworden. Das macht ihnen jetzt Schwierigkeiten. Darüber muss man miteinander sprechen. Ich glaube, dass es Lösungen für die Probleme gibt. Wir müssen weiter über die Frage reden, was uns die Forschung wert ist. Das betrifft auch die Frage der Bewertung gerade von jungen Unternehmen. Die Diskussion, ob man bei kleinen und mittleren Unternehmen im Bereich der Forschung, die neu an den Markt kommen, die Zinsschranke mit dem EBIT in irgendeiner Weise verbinden kann, ist vollkommen unideologisch. Es interessiert beide Seiten der politischen Lager, wie forschungsintensive Unternehmen angelockt werden können. Es wird jedoch am Ende ein ausgewogenes Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben geben müssen. Die 5 Milliarden Euro Entlastung mögen manchem als eine fixe Grenze erscheinen. Sie ist in der Tat eine politische Grenze und ein Ergebnis des politischen Kompromisses. Manchmal wäre es uns leichter gefallen, unseren sozialdemokratischen Kollegen zu sagen, dass es vielleicht nicht ganz so entscheidend ist, ob es 5,2 Milliarden Euro oder 4,9 Milliarden Euro sind, vor allem wenn man weiß, wie solche Zahlen errechnet werden. Aber eines will ich auch sagen: Wenn jetzt über diese Frage eine Diskussion stattfindet, dann muss jedermann klar sein, dass es die feste Überzeugung derer ist, die diese Unternehmensteuerreform vorgelegt haben, dass es sich dabei um eine unternehmerische Aktivität der Bundesrepublik Deutschland handelt. Es geht um die Frage: Wie schafft man es, auf einem internationalen Markt, auf dem es keine Grenzen gibt, Unternehmen dazu zu bringen, in die Bundesrepublik Deutschland zu investieren? Wie gebe ich ihnen eine Chance, ihre wirtschaftliche Zukunft hier zu sehen? Denn die einzige Möglichkeit für uns als Steuereinnehmer, „Geld zu verdienen“, besteht darin, dass sich Unternehmen entscheiden, sich hier anzusiedeln und auch hier zu bleiben. In einem Europa ohne Grenzen kann man in Frankreich, in Polen, in Österreich und an vielen anderen Plätzen in Kilometerentfernung, nicht in kontinentaler Entfernung, alle Aktivitäten entfalten, die man auch in der Bundesrepublik Deutschland entfalten kann. Man kann Waren zollfrei und ohne nennenswerte Kosten in die Bundesrepublik Deutschland bringen. Wer nicht will, dass wir am Wettbewerb um den besten Standort teilnehmen, der kann sich auf den Standpunkt stellen, einem Unternehmen keinen einzigen Cent als Anreiz zu geben. Der wird aber am Ende weniger Steuereinnahmen haben. Wenn man aber jetzt wettbewerbsorientierte Steuerpolitik betreibt, dann gibt man kein Geschenk an die Unternehmen, sondern ein Geschenk an die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die auf Dauer mehr Geld zur Verfügung haben ({13}) und in diesem Land mit hohem Standard und vernünftiger sozialer und politischer Infrastruktur leben. ({14}) Darüber werden wir auch in den nächsten Monaten eine Debatte führen. Ich glaube sehr wohl, dass man - das schreibt auch Herr Professor Lang in der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - alle Probleme, von den verfassungsrechtlichen bis hin zu den finanziellen, lösen kann. Ich bin nach wie vor davon überzeugt: Zahlreiche Punkte dieser Unternehmensteuerreform sind vielen in den Wirtschaftsverbänden, in den beiden politischen Lagern und in der Wissenschaft, die uns lange beraten hat, schwergefallen. Dennoch sind nahezu alle von ihnen der Auffassung - das finde ich spannend -, dass das Gesamtwerk ein großer Schritt in die richtige Richtung ist und dass daher nicht jeder Punkt, der persönliche Beschwernis bereitet, zum Anlass genommen werden sollte, wieder mit großem Geschrei gegen diese politische Entscheidung vorzugehen. Ich wünsche den Beratungen von Bundestag und Bundesrat, dass das in den nächsten Wochen nicht anders wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir etwas tun, was Menschen, die in diesem Land Arbeit suchen, hilft, was dem Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb hilft und was, wenn es gelingt, nicht zuletzt auch dem Ansehen der Politik in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs schadet. Vielen herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 7 der Finanzausschusssitzung am Mittwoch war eine Diskussion über die Empfehlung für eine Stellungnahme des Rates der Europäischen Union zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Deutschlands. Ich zitiere daraus: Ein signifikantes Risiko erwächst überdies aus der 2008 geplanten Unternehmenssteuerreform. … So könnte es erforderlich werden, etwaige Einnahmeausfälle bei der Körperschaftssteuer durch zusätzliche Ausgabenzurückhaltung aufzufangen. Das heißt, Herr Steinbrück, nicht nur wir als Linke, nicht nur viele Wissenschaftler, sondern auch Politiker auf europäischer Ebene sehen Ihre Reform äußerst kritisch und zweifeln an der Richtigkeit der geplanten Steuerausfälle in Höhe von 6 Milliarden Euro. ({0}) Es stellen sich zwei politische Fragen: Erstens. Brauchen wir eine Unternehmensteuerreform? Zweitens. Können wir uns eine Reform leisten, die zu massiven Steuerausfällen für die öffentliche Hand führt? Die erste Frage beantworte ich Ihnen ganz klar mit Ja; denn es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Aristoteles formulierte: Des Staates höchstes Gut ist die Gerechtigkeit, und gerecht ist, was dem Gemeinwesen frommt. Das Gerechte muss aber für alle etwas Gleiches sein. In den Jahren 1991 bis 2004 - in diesem Zeitraum war jeweils eine der beiden Fraktionen, die heute die Große Koalition bilden, Regierungsfraktion - stiegen die Einkommen aus Vermögen in Deutschland um 43 Prozent und die aus Gewinnen um 27 Prozent. Demgegenüber stiegen Löhne und Gehälter gerade einmal um 10 Prozent. Bei den Lohnabhängigen und bei den Beamten waren allerdings nicht 10 Prozent mehr im Portemonnaie; denn ihre Steuerbelastung stieg unter anderem auch durch die Mehrwertsteuererhöhung um 1 Prozent. Bei den Gewinnen und Vermögen sah es natürlich anders aus. Sie wurden sogar noch entlastet: Die effektive Steuerlast sank in diesen Jahren. Der Anteil der Gewinnsteuern, also der Erträge der Kapitalgesellschaften am Bruttoinlandsprodukt, lag 2003 in Deutschland bei gerade einmal 1,3 Prozent. Im OECD-Durchschnitt waren es 3,3 Prozent. Wir in der Bundesrepublik haben also ein massives Gerechtigkeitsproblem. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass es im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit notwendig ist, dass die wirtschaftlich Leistungsfähigeren einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens an Steuern zahlen müssen. Daran sollten Sie sich messen lassen. ({1}) Wir haben Ihnen unsere Vorschläge für eine Unternehmensteuerreform in einem Antrag vorgelegt. Diese Unternehmensteuerreform soll eine sozial gerechte Beteiligung der Unternehmen an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben sicherstellen. Ich nenne Ihnen nur einige Stichpunkte: Beibehaltung des Körperschaftsteuersatzes bei 25 Prozent; Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage von Unternehmen; Aufdeckung und Unterbindung von konzerninternen Gestaltungsmodellen. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die im Inland anfallen, werden durch obligatorische Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzämter effektiver erfasst und bei allen Einkommensteuerpflichtigen nach dem Einkommensteuertarif besteuert. Mit diesen Vorschlägen und ihrer Umsetzung ist auch die zweite Frage von uns gut zu beantworten: Wir können es uns nicht leisten, auf Geld für die öffentliche Hand zu verzichten. Das wäre mit der Umsetzung der von uns vorgeschlagenen Reform gesichert. Mit dem, was Sie bei Ihrer Unternehmensteuerreform vorschlagen - ja, auch Sie möchten eine -, mit dem Wie zeigen Sie, dass Ihnen jegliches, aber auch wirklich jegliches Gefühl für Gerechtigkeit abhandengekommen ist. ({2}) Sie behaupten doch allen Ernstes, dass die Kapitalgesellschaften und ertragsstarken Unternehmen - das sind die, die Sie mit Ihrem Gesetz entlasten wollen - bei der Steuerentlastung im Vergleich zu den kleinen und mittleren Personenunternehmen, die in der Steuerreform 2000 entlastet wurden, einen Nachholbedarf haben. Ich frage mich wirklich: Denken Sie, hier sind alle dumm und mit dem Klammerbeutel gepudert? Meinen Sie, dass die Steuerbeschlüsse von Rot-Grün vergessen sind? Wann haben wir denn den Körperschaftsteuersatz gesenkt? 2001 wurde er auf nur noch 25 Prozent gesenkt. ({3}) Wie ist es denn mit der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen? Allein das kostet die öffentliche Hand jährlich 13 Milliarden Euro, Geld, das dringend gebraucht wird. ({4}) Natürlich muss von Ihnen jetzt wieder der Zwischenruf kommen: internationaler Wettbewerb, Globalisierung; wir müssen senken. Ich kann mich aus Zeitgründen nicht weiter damit auseinandersetzen. Ich zitiere einfach den ersten Satz aus dem Papier der parlamentarischen Linken der SPD-Bundestagsfraktion: Von einer zu hohen steuerlichen faktischen Gesamtbelastung der Unternehmen in Deutschland kann auch im internationalen Vergleich überhaupt keine Rede sein. ({5}) Abgesehen davon, dass für eine Standortentscheidung die Steuersätze nicht der entscheidende Faktor sind, abgesehen davon, dass ein guter Standort es rechtfertigt, dass auch etwas mehr Steuern bezahlt werden müssen, und abgesehen davon, dass die effektive Steuerlast der deutschen Unternehmen im europäischen Mittelfeld liegt: Herr Steinbrück, haben Sie sich einmal gefragt, wo Sie enden, wenn Sie diese Steuersenkungspolitik - von 1982 bis 2004 eine Senkung der Tarife von 30 auf 17 Prozent - fortsetzen? Ich sage Ihnen: 2045 sind wir bei null Steuern. Da ist Ihre Entscheidung gefragt. Statt als mächtigstes Industrieland in Europa heute zu sagen: „Halt! Stopp mit diesem Steuerwettbewerb! Das können wir uns nicht leisten“, stellen Sie sich an die Spitze des Steuerwettbewerbs und wollen weiter in diese Richtung marschieren. Das ist keine intelligente Reaktion, wie Sie sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs noch versprechen. Sie haben nur eines sichergestellt: dass Ihre Reform wieder durch Kinder, Studierende, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlt wird. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte haben Sie durchgedrückt; da bleibt ja locker Geld zur Entlastung der Unternehmen. Die Abgeltungsteuer ist schon ein besonderes Schmeckerchen. Man sagt, die Erotik des Alters sei das Essen. Ich habe im Prozess der Auseinandersetzung mit Ihrem Gesetzentwurf gelernt, dass es noch eine typisch deutsche Kompensation für Erotik gibt. Die Sucht nach Gestaltungsmodellen und Vergünstigungen in Deutschland ist größer als der Sexualtrieb. - So der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Ondracek, aus langjähriger Erfahrung der Finanzbeamten. Wie reagieren Sie? Sie schaffen mit der Abgeltungsteuer eine finanzamtsfreie Zone. ({6}) Ich frage Sie mit der parlamentarischen Linken der SPDFraktion: Steuerausfälle von mindestens 25 Milliarden Euro über die nächsten fünf Jahre, ein Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent und eine Abgeltungsteuer von 25 Prozent, das soll mit einem Mal sozialdemokratische Zukunftspolitik sein? Sie haben uns auf Ihrer Seite, wenn Sie es durchsetzen, im Zuge der Unternehmensteuerreform eine Unternehmensteuerreform in unserem Sinne zu machen und gleichzeitig, wie versprochen, die sozial gerechte Besteuerung von Vermögen und Erbschaften, die Einführung eines Mindestlohns von 8 Euro und die beitragsfreie Kinderbetreuung zu diskutieren. ({7}) Sie haben noch die Chance, auf Ihrem falschen Weg umzukehren. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Höll, mein Fraktionschef hat gerade so schön gesagt: „Die Wiedervereinigung mit der SPD wird so schnell nicht stattfinden.“ Ich glaube, die Sozialdemokraten, die sich das heute angehört haben, haben große Probleme mit solch einer Vorstellung. ({0}) Das, was Sie gesagt haben, hört sich vielleicht für den einen oder anderen in der Bevölkerung so an, als würden Sie sich für die Gerechtigkeit einsetzen. In Wirklichkeit wäre die Umsetzung Ihrer finanzpolitischen Vorstellungen für Deutschland ein Rückschritt, kein Fortschritt: Sie würde keine neuen Arbeitsplätze bringen; sie würde bei unseren Unternehmen zu riesigen Problemen führen. Letztendlich wären die, von denen Sie glauben, Sie müssten sich für sie hier hinstellen, die Geschädigten, wenn Ihre Politik umgesetzt würde; Gott sei Dank wird sie nicht umgesetzt. ({1}) Man muss sehen, dass Ihre Neidrhetorik nichts bringt. Man muss mit einer solchen Thematik bei der Betrachtung der Vorlage, die Herr Steinbrück heute vorgestellt hat, wirklich mit Augenmaß und Vernunft umgehen. Wir leben nicht auf der Insel; wir müssen uns auch daran orientieren, was über unseren nationalen Tellerrand hinaus passiert. Wenn wir das tun, dann stellen wir fest: In West- und Nordeuropa gibt es Länder, in denen die Belastung durch den Steuersatz im Unternehmenssektor, bei den Körperschaften, 30 Prozent beträgt. In Osteuropa beträgt die Belastung im Durchschnitt etwa 20 Prozent. Es gibt extreme Beispiele: In Estland beträgt die Belastung 0 Prozent; in Irland beträgt sie 12,5 Prozent. Wir in Deutschland - das ist richtig - liegen mit einer Steuerbelastung von fast 40 Prozent an der Spitze. Minister Steinbrück hat zu Recht gesagt, dass das nicht so bleiben kann. Auch Herr Koch hat darauf hingewiesen, dass wir im internationalen Wettbewerb stehen und wir uns daran orientieren müssen. Ich halte es für falsch, zu unterstellen, dass eine Senkung der Steuersätze auf einigermaßen internationales Niveau - auf das Niveau des Mittelfelds - Steuerdumping bedeutet. Steuerdumping sollten, können und wollen wir nicht betreiben; denn der Staat braucht selbstverständlich Einnahmen, um in die Bildung, in die Infrastruktur investieren zu können. Selbstverständlich müssen auch die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie viel Umsatz machen und Gewinne einfahren, ihren Beitrag dazu leisten. ({2}) Natürlich müssen wir uns nicht nur am internationalen Standortwettbewerb orientieren; denn die Steuersätze allein - das wissen auch Sie, Herr Koch - sind nicht das Kriterium dafür, ob sich ein Unternehmen in Deutschland ansiedelt. Unternehmen kommen, weil sie eine gute Bildungssituation vorfinden, weil sie sehen, dass es sich um einen guten Wissensstandort handelt, um einen Standort, an dem gute Forschung betrieben wird, an dem eine gute Infrastruktur vorhanden ist, an dem die Absatzmärkte vernünftig aufgestellt sind und an dem auch eine vernünftige Binnennachfrage vorhanden ist. Deswegen kommen Unternehmen nach Deutschland; Steuersätze haben allein eine Signalwirkung bei der Entscheidung, wo Kapital investiert wird, und tragen damit einen Teil zu der Entscheidung bei, wo am Ende neue Arbeitsplätze entstehen. Die Höhe der Steuersätze entscheidet ein Stück weit darüber - das stimmt -, wo ein Unternehmen seine Gewinne versteuert, aber auch darüber, wo die Kosten anfallen. Wegen der hohen Steuersätze und der vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir in Deutschland haben, ist es für viele Unternehmen, was die Kosten- und Verlustrechnung anbelangt, sehr attraktiv, so vorzugehen, dass Gewinne im Ausland besteuert werden. Letztendlich fehlt dann hier in den Kassen das Geld. Dagegen müssen wir etwas tun; so kann es nicht bleiben. Deshalb brauchen wir eine grundlegende Strukturreform, Steuersätze auf international wettbewerbsfähigem Niveau, aber auch eine vernünftige Verbreiterung der sogenannten Besteuerungsbasis; beides gehört zusammen. Man kann die Verantwortung für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts, der Beschäftigung und der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nur unter folgendem Aspekt betrachten: Wie ist die Finanzierung für unsere Unternehmen im Einzelnen aufgestellt? Wir reden heute über die Senkung der Unternehmensteuersätze bei Körperschaften. Das sind etwa 15 Prozent der Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland; die anderen 85 Prozent der Unternehmen profitieren von diesen Steuersatzsenkungen nicht. Auch das muss man den Bürgern und Bürgerinnen in diesem Zusammenhang sagen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns die Seite der Finanzierung genau anschauen, um sie vernünftig zu gestalten. Da hilft kein Populismus, Frau Höll. Auch Herr Lafontaine wird das gleich hier darlegen; er kann das ja noch viel besser. Aber mit Rhetorik und Populismus allein generieren wir keine Wirtschaftskraft und keine Beschäftigung. ({3}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen in der Großen Koalition, nicht alles, was Geld kostet, ist deswegen schon eine Reform. Das hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt einmal so gesagt. Wenn jemandem etwas geschenkt wird, wird oft so getan, als sei das eine Reform. Reform bedeutet aber, dass man sich strukturell vernünftig aufstellt, dass Probleme gelöst werden, wo Probleme sind, und zwar wohlgemerkt, ohne größere Probleme an anderer Stelle zu schaffen. Das ist die Kritik, die wir als Bündnis 90/Die Grünen an diesem Werk haben; denn wir sehen, dass neue Probleme für unseren Standort Deutschland geschaffen werden, wo keine sein dürfen. Das ist das, was der Großen Koalition nicht gelungen ist: die Steuersatzsenkung mit einer Finanzierung zusammenzubringen, die wirklich vernünftig ist und den Unternehmen, und zwar allen Unternehmen, in der Bundesrepublik Deutschland hilft. ({4}) Wir haben - Sie wissen es - eine Finanzierungslücke von etwa 9 Milliarden Euro im nächsten Jahr. Knapp ein Drittel der Reformen ist nicht solide finanziert. Sie von der Großen Koalition ({5}) finden das vielleicht gar nicht so schlimm; denn man liest zurzeit und sieht es auch in den Statistiken, dass die Steuereinnahmen sprudeln. Das ist sehr schön; darüber freuen wir uns alle. Aber man muss bei der Entwicklung einer solchen Reform natürlich auch sehen, dass man den Leuten nicht vermitteln kann, dass Steuerausfälle in den nächsten Jahren nicht so schlimm seien, nachdem man ihnen vor nicht allzu langer Zeit noch die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, den Sparerfreibetrag halbiert und die Pendlerpauschale verfassungswidrig ausgestaltet hat. Man darf nicht glauben, dass die Menschen einem dann folgen und verstehen, warum jetzt plötzlich Geld da sein soll, um die Unternehmen im nächsten Jahr um 9 Milliarden Euro zu entlasten. Das verstehen die Menschen nicht. ({6}) Man muss den Menschen sagen, wie das funktionieren soll; man muss sie mitnehmen, wenn man eine Reform macht. Das müssten auch Sie mittlerweile gelernt haben. Wir können uns - das ist ein zweites Problem - auch nicht immer auf das Handeln der großen Unternehmen verlassen. Schauen Sie sich doch an, was in den letzten Tagen geschehen ist. Einige Vorstandsmitglieder der Firma Siemens sitzen mittlerweile im Gefängnis. Siemens ist ein international aufgestelltes Unternehmen. Es schmerzt einen, wenn man sieht, wie desolat das Management von manchen großen Unternehmen - sehr viele Unternehmen machen es gut; die kleinen und mittleren machen es alle sehr gut - ist. ({7}) Man sieht, dass es eben nicht so ist, dass die Bevölkerung das Vertrauen haben kann, dass die Unternehmen alles richtig machen, und dass es gerechtfertigt wäre, ihnen etwas mitzugeben. Das müssen Sie den Menschen erklären; ich glaube, da sind Sie in der Bringschuld. Ein weiterer Punkt ist, dass Sie auf das Prinzip Hoffnung setzen. Sie gehen davon aus, dass die Steuerquellen weiter sprudeln und dass Sie durch die weitere Entwicklung, an die Sie glauben - es wäre ja gut, wenn es für den Standort insgesamt so positiv weiterginge -, die Steuerausfälle verdecken können. Das ist nicht in Ordnung. Wenn man sagt, dass man eine Reform durchführt, die sich selbst finanziert, dann darf man nicht die allgemeine Entwicklung mit hineinrechnen und so tun, als ob die konjunkturelle Entwicklung ein Stück weit als Gegenfinanzierung dienen könne. Die Steuermehreinnahmen aufgrund der positiven konjunkturellen EntwickChristine Scheel lung müssen wir in Forschung und Bildung, in unsere Kinder investieren. Diese Mehreinnahmen dürfen nicht, wie Sie es vorhaben, für eine Entlastung der Großkonzerne verwendet werden. ({8}) Die Unternehmensteuerreform braucht - der Finanzminister und auch Ministerpräsident Koch haben darauf hingewiesen - eine wirksame und unbürokratische Mittelstandskomponente, die sich an der Schaffung von Arbeitsplätzen orientiert. Die Finanzierung dieser Reform ist aber ein buntes Sammelsurium ohne inhaltlichen Zusammenhang. Sie haben bei der Gegenfinanzierung anscheinend überall ein wenig herumgestöbert, um zu schauen, was man da machen kann. Aber Ihre wirtschaftspolitischen Überlegungen haben Sie hintangestellt. Minister Glos hat ein neunseitiges Schreiben verfasst, warum es für die mittelständische Wirtschaft schlecht wäre, wenn diese Reform so ausgestaltet bleibt, wie Sie das bislang vorgesehen haben. Herr Koch, es ist sehr widersprüchlich, wenn Sie auf der einen Seite sagen, Sie würden für den Mittelstand eintreten und Sie wollten den Mittelstand nicht mehr belasten, und auf der anderen Seite Bedingungen geschaffen werden, die für die kleinen und mittelständischen Unternehmen unter dem Strich doch zu einer Belastung führen. Sie müssen sich schon entscheiden. Sie können nicht sagen, diese Reform sei für alle eine tolle Sache, und auf der anderen Seite anders handeln. Das ist nicht in Ordnung. Wir werden Ihnen das im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nicht durchgehen lassen. ({9}) Fakt ist, dass die Bundeskanzlerin den Nationalen Normenkontrollrat eingesetzt hat. Er wurde mit einem riesigen Brimborium auf den Weg gebracht. Ich kann mich noch gut an die Aussagen der Frau Bundeskanzlerin und anderer hier im Saal erinnern. Sie haben gesagt, dieses Gremium solle dafür sorgen, dass bei jedem Gesetzgebungsvorhaben in der Bundesrepublik Deutschland darauf geachtet wird, dass vom Parlament verabschiedete Gesetze nicht zu neuen bürokratischen Hemmnissen, nicht zu Verirrungen und Verwirrungen führen. Dieser Rat hat, wie ich meine, völlig zu Recht beanstandet, dass es ein deutliches Missverhältnis zwischen dauerhaften bürokratischen Lasten und zeitlich begrenzten Mehreinnahmen im Zuge dieser Reform gibt. Das heißt, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Mit Ihren Maßnahmen bürden Sie 5 Millionen Unternehmen im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen neue bürokratische Lasten auf. Es kann nicht sein, dass der Normenkontrollrat diesen Missstand zwar benennt, Sie aber so tun, als gäbe es keine Probleme mit der Bürokratie für diese Unternehmen. Auch die Verlustvorträge sind ein Riesenproblem. Man möchte völlig zu Recht, dass Missbrauch bekämpft wird. Missbrauch und entsprechende Steuergestaltungsmöglichkeiten müssen bekämpft werden. Aber es ist ein Problem, wenn bei einem Eigentümerwechsel die Verrechnung mit Gewinnen nicht möglich ist. Gerade die jungen und innovativen Unternehmen müssen doch atmen können und müssen die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. ({10}) Aber bei ihnen besteht die Gefahr, dass die Substanz besteuert wird. Mit Ihrer sogenannten Gegenfinanzierung schlagen Sie voll über die Stränge. Sie treffen genau die Unternehmen in Deutschland, die innovativ sind, die Arbeitsplätze schaffen wollen und die hier nicht nur forschen, sondern auch entwickeln wollen. Das müssen Sie ändern. Die Frau Bundeskanzlerin hat einen Tag vor dem Beschluss des Kabinetts darauf hingewiesen, dass es an dieser Stelle ein Riesenproblem gibt. Ich hoffe, dass Sie dieses Problem angehen, negative Wirkungen für unseren Standort bezüglich Wachstum und Beschäftigung verhindern und für eine vernünftige Ausgestaltung der Reform sorgen. Dieser Unsinn muss gestoppt werden. Ich appelliere an Sie: Machen Sie die Reform unbürokratischer! Wir erwarten von Ihnen wirtschaftlichen Sachverstand. Führen Sie keine Regelungen ein, die Wachstumsbremsen sind! Reißen Sie sich zusammen! Stellen Sie wirtschaftspolitische Überlegungen an und legen Sie Ihren Tunnelblick hinsichtlich der Steuersystematik ab! Denken Sie daran, dass wir diese Reform für die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Wirtschaft machen und nicht für irgendwelche Statistiken! Danke schön. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Jörg-Otto Spiller ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Scheel, erst einmal gratuliere ich Ihnen dazu, dass Sie heute die ganze Redezeit, die Ihrer Fraktion zur Verfügung steht, ausnutzen durften. Sie hatten damit allerdings auch Ihre Probleme. ({0}) Vielleicht lesen Sie im Protokoll einfach noch einmal die erste Hälfte Ihrer Rede nach. Sie passte zur zweiten überhaupt nicht. ({1}) Es ist ein bisschen schwierig, wenn man erst einmal korrekt darstellt, wie gut die Ansätze der Reform der Unternehmensbesteuerung sind, und dann aus der Verpflichtung als Oppositionsrednerin heraus, dazu etwas Kritisches zu sagen, noch ein bisschen im Gemüseladen herumkramt. Ihre Reden waren schon einmal besser. ({2}) Hohe Steuersätze sind keine Garantie für hohe Steuereinnahmen. Das gilt in besonderem Maße für die Besteuerung der zunehmend international verflochtenen Unternehmen. Nahezu alle großen und viele mittlere in Deutschland ansässige Unternehmen sind heute Haupt oder Glieder internationaler Konzerne. Wo innerhalb der Unternehmensgruppe in welcher Höhe Kosten oder Erträge anfallen, ist damit in einem erheblichen Umfang gestaltbar. Ein Beispiel. Warum die nächste Investition aus dem in Deutschland zu versteuernden Gewinn finanzieren, wenn es einen steuerlich viel hübscheren Weg gibt: Die in einem Land mit niedrigeren Steuersätzen angesiedelte Tochter gewährt der deutschen Mutter einen Kredit. Für die Mutter sind die Zinsen Betriebsausgaben, mindern also ihren steuerpflichtigen Gewinn. Da der aber im Land der Tochter geringer zu versteuern ist als in Deutschland, lohnt sich die Operation. Der Verlierer ist der deutsche Fiskus. Ein anderes Beispiel. Die deutschen Filialen einer beliebten Möbelhauskette weisen trotz guter Umsätze zu ihrem größten Bedauern keine nennenswerten steuerpflichtigen Gewinne aus, weil für die Nutzung des Firmennamens und des gelb-blauen Markenzeichens leider hohe Lizenzgebühren an eine Konzernschwester in einem Niedrigsteuerland zu zahlen sind; denn diese verfügt über die Namens- und die Markenrechte. Herr Kollege Dr. Solms, trifft denn das objektive Nettoprinzip zu, ({3}) wenn jemand seine Gewinne hin und her schieben und seine Gewinn- und Verlustrechnung manipulieren kann? Ich bin ganz sicher: Wenn ein Gericht prüft, was gleichmäßige Besteuerung und was das objektive Nettoprinzip ist, wird es zu dem Ergebnis kommen, dass solche Tricksereien in keiner Weise mit dem Prinzip der gleichmäßigen Besteuerung vereinbar sind. Ich bin sicher: Wir sind auf dem richtigen Weg, auch was die Verfassungsmäßigkeit dieser Reform angeht. ({4}) Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin, hat kürzlich in einer interessanten Studie zur Unternehmensbesteuerung dargelegt, dass die deutschen Steuersätze mit einer tariflichen Gesamtbelastung von nominal rund 39 Prozent im internationalen Vergleich an der Spitze liegen. Diese hohen Sätze machen Deutschland aber anfällig gegenüber Gestaltungen. Das tatsächliche Steueraufkommen wird empfindlich geschmälert. Das Ergebnis ist - so sagt das DIW - ein trotz hoher Sätze bestenfalls durchschnittliches und im Verhältnis zu den tatsächlichen Gewinnen unangemessen niedriges Steueraufkommen. Wer sicherstellen will, dass die in Deutschland ansässigen Unternehmen einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten, muss gegen die Erosion der Steuerbasis angehen. Ebendies ist das zentrale Anliegen der Unternehmensteuerreform. Dass in den Medien und in einem Teil der öffentlich geführten Debatte häufig zwei andere Punkte, nämlich die beabsichtigte Senkung des Körperschaftsteuersatzes und die anfänglichen Steuermindereinnahmen, im Vordergrund stehen, ist zwar verständlich, aber eben doch ein sehr verengter Blickwinkel. ({5}) Der SPD-Parteirat hat - wenn ich das einmal sagen darf; auch wir führen innerhalb der Partei Debatten; das stimmt - in seiner Entschließung zur Unternehmensteuerreform auf den Punkt gebracht, worum es geht: Deutschland braucht ein Unternehmenssteuerrecht, das international wettbewerbsfähig ist, die Unternehmen animiert, Gewinne nicht länger ins Ausland zu transferieren, sondern in Deutschland zu investieren, und dadurch insgesamt den Standort Deutschland und seine Arbeitsplätze stärkt. ({6}) Wir wollen die deutsche Steuerbasis nachhaltig sichern. Die Kluft zwischen den nominalen Steuersätzen einerseits und den tatsächlichen Steuerzahlungen muss sich schließen. Diesem Ziel dient die Unternehmenssteuerreform. Die Reform der Unternehmensbesteuerung beruht auf zwei gleich wichtigen Pfeilern: der Sicherung der Steuerbasis und der Stärkung der Attraktivität des Standortes durch Senkung der Sätze. Insgesamt werden wir zu einer nominalen steuerlichen Belastung von knapp 30 Prozent kommen. Das bedeutet, dass der deutsche Körperschaftsteuersatz etwas über den Sätzen Dänemarks, Schwedens und Finnlands und etwas unter den Sätzen Großbritanniens, Luxemburgs und der Niederlande und damit im europäischen Mittelfeld liegen wird. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Wir müssen uns im Übrigen vor Augen halten, dass neben den Unternehmen auch die Anteilseigner der Unternehmen Steuern zahlen müssen. ({7}) Die Gesamtbelastung eines ausgeschütteten Gewinns, die sich aus der Belastung, die das Unternehmen trägt, und der des Anteilseigners ergibt, wird rund 48 Prozent betragen. Das gilt sowohl für die Kapitalgesellschaften als auch für die ertragsstarken Personengesellschaften. Das ist eine beachtliche Größenordnung, die man bei der Debatte im Blick behalten muss. Wir wollen, dass die Leistungsfähigkeit der Unternehmen erhalten bleibt. Wir wollen aber insbesondere, dass die Unternehmen künftig mehr Steuern in Deutschland zahlen. Es mag zwar sein, dass das eine oder andere Unternehmen weniger Steuern zahlen wird als heute, es mag auch sein, dass das eine oder andere Unternehmen mehr Steuern zahlen wird als heute, aber ich bin mir sicher, dass auf Dauer alle mehr Steuern in Deutschland zahlen werden und dazu beitragen werden, dass sich das Land bzw. der Wirtschaftsstandort und die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben gut entwickeln. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Heuschrecke im Kopf hat, dem kann die Wirtschaft nicht am Herzen liegen. Diese Einstellung zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Unternehmensteuerreform. Sie ziehen Mauern für die Wirtschaft hoch und verbauen damit Zukunftschancen für unser Land. ({0}) Die Unternehmensteuerreform bedeutet nichts anderes als ein in Gesetzestext gegossenes Misstrauensvotum gegenüber der deutschen Wirtschaft. Die Besteuerung von Funktionsverlagerungen zum Beispiel ist doch steuerpolitischer Unsinn, Herr Minister Steinbrück. Hierbei zeigt sich einmal mehr, dass gut gemeint längst nicht dasselbe ist wie gut gemacht. Es ist richtig, dass Sie die Unternehmen nicht dabei unterstützen wollen, in Deutschland Arbeitsplätze abzubauen. Es ist aber falsch, wenn Sie versuchen, zukünftig im Zusammenhang mit Patenten und Lizenzen anfallende Gewinne zu besteuern. Wer kann denn schon heute wissen, was er morgen mit einer Idee verdienen kann? ({1}) Das ist nichts anderes als der Versuch, den Kaffeesatz als feste Größe im Unternehmensteuerrecht zu etablieren. Bei so einem Unfug macht die FDP nicht mit. ({2}) Herr Minister Steinbrück, es ist zwar richtig, dass wir eine Unternehmensteuerreform brauchen, es ist aber nicht richtig, dass Deutschland Ihre Unternehmensteuerreform braucht. Sie tun so, als sei das ganze Vorhaben gesetzt und als stünden Sie aus innerer Überzeugung hinter diesem Reformvorhaben. Dabei hat die Bundeskanzlerin einen Tag nach dem Kabinettsbeschluss in München Vertretern der deutschen Wirtschaft erklärt, dass Änderungen notwendig seien. ({3}) Herr Kauder, ich war doch dabei, als Sie diese Woche gegenüber dem VCI erklärt haben, dass es zu Änderungen kommen müsse. ({4}) Nur, Herr Minister Steinbrück, davon habe ich vorhin nichts gehört. Herr Struck - er ist jetzt leider nicht mehr anwesend - hat gesagt, dass er zustimme, dass man noch einmal darüber reden müsse. Sie sollten uns deshalb nicht vormachen, Ihre Unternehmensteuerreform sei der Weisheit letzter Schluss. ({5}) Die Widersprüchlichkeit dieses Entwurfs wird auch an anderer Stelle deutlich. Im Prinzip wollen wir doch alle mehr Investitionen am Standort Deutschland. Deswegen sollten Sie investierende Unternehmen nicht bestrafen. Die Zinsschranke und die Abschaffung der degressiven Abschreibung sind nichts anderes als eine Strafsteuer für Unternehmen mit hohen Investitionskosten. Nach Ansicht einiger Konjunkturforscher könnte die Abschaffung der degressiven Abschreibung die Investitionsquote in Deutschland halbieren. Wie sensibel die Unternehmen auf Änderungen im Bereich der Abschreibungsregeln reagieren, haben wir bei der Steuerreform 2000 gesehen. Die damalige Gegenfinanzierung der Steuersenkung durch eine Verlängerung der Abschreibungsdauer und eine Reduktion des Höchstsatzes hat zu einer Senkung der Investitionsquote um 4,6 Prozent geführt. So negativ werden auch die Auswirkungen dieser Reform sein, wenn sie so Gesetz wird. ({6}) Wer in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will, darf diejenigen, die investieren, nicht bestrafen. Das klingt zwar einfach, aber die SPD tut sich schwer damit. Herr Spiller, ich hatte vorhin den Eindruck, dass Sie Ihre Rede ausschließlich für die Reihen der Sozialdemokraten gehalten haben. ({7}) Eine Unternehmensteuerreform, die den Namen verdient, muss nicht von den Unternehmen gegenfinanziert werden, sondern finanziert sich selbst. Sie finanziert sich durch mehr Wachstum, durch die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen und durch mehr Investitionen. Eine vernünftige Unternehmensteuerreform führt unterm Strich nicht zu weniger, sondern zu mehr Steuereinnahmen. Von Ihrem Gesetzentwurf geht kein Signal des Aufbruchs aus. Was Sie vorne weniger abkassieren, kassieren Sie hinterher doppelt. Mit Ihrem Gegenfinanzierungsmodell konterkarieren Sie Ihre eigenen Absichten. Vor allem führt Ihr Gesetzentwurf aber zu mehr Bürokratie. Ihr Normenkontrollrat hat eine Mehrbelastung in Höhe von 180 Millionen Euro errechnet und gesagt, dass 40 neue Informationspflichten entstehen würden. Ich weiß überhaupt nicht, wie Sie noch von Bürokratieabbau sprechen können. Mit jedem Steuergesetz tun Sie genau das Gegenteil von dem, was die Kanzlerin verspricht. ({8}) Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis. Schauen Sie sich Ihre Gegenfinanzierung doch einmal an: Ein Bürostuhl muss künftig über fünf Jahre abgeschrieben werden. Angesichts dessen müsste in der Republik eigentlich ein Aufschrei der Bürokratiebeauftragten der Bundesregierung ertönen. ({9}) Man hört aber nichts, weil Sie sich von diesem Ziel in Wahrheit schon längst verabschiedet haben. Die Neidreflexe der Linken von der SPD machen es der Union nicht möglich, eine vernünftige Unternehmensteuerreform auf den Weg zu bringen. Regelungen, die sich über 15 Jahre bewährt haben, werden einfach abgeschafft. Die Abgeltungsteuer - Herr Minister Steinbrück, dazu haben Sie heute Morgen nichts gesagt; das ist anscheinend ein Problem für die Sozialdemokratie - ist im Grunde richtig. So wie Sie es machen, taugt es aber wieder nichts; denn es nicht richtig, die Veräußerungsgewinne mitzubesteuern. Ferner sind die Steuersätze in diesem Bereich international nicht wettbewerbsfähig, sodass wir auch auf diesem wichtigen Feld in Deutschland keinen entscheidenden Schritt weiterkommen. Durch die ganze Unternehmensteuerreform zieht sich Folgendes: An manchen Stellen wird verschämt entlastet, an anderen unverschämt belastet. Die CDU und die Steinbrück-SPD rufen hü und die Linke der SPD ruft hott, Ergebnis: Stillstand in Deutschland. ({10}) Wenn Sie wirklich eine Unternehmensteuerreform machen wollen, die diesen Namen verdient, hören Sie auf die Bundeskanzlerin: Wagen Sie mehr Freiheit! Gehen Sie ins Offene! ({11}) Riskieren Sie etwas! Senken Sie die Steuersätze! Vereinfachen Sie das Steuerrecht! Beharren Sie nicht auf Ihrer kleinkrämerischen Gegenfinanzierung! Die SPD muss einmal verstehen, welche Entscheidungen in Deutschland dringend notwendig sind. Herr Steinbrück, Sie haben von Augenmaß gesprochen. Genau dieses Augenmaß ist bei der Großen Koalition aber längst zum Mittelmaß geworden. Mittelmaß können wir uns aber nicht leisten; denn mit mittelmäßiger Politik kann man im internationalen Wettbewerb nicht bestehen. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Unternehmensteuerreform wird unseren Standort Deutschland attraktiver machen. Sie ist wachstumssteigernd, investitionsfreundlich und letztlich arbeitsplatzschaffend. Die Versteuerung in Deutschland wird angereizt, und die Steuereinnahmen werden weiter ansteigen. Eine solche Reform ist kein Wunschkonzert. Aber wir haben eine pragmatische, zielführende und systematische Lösung gefunden. Daran sollte es keinen Zweifel geben. Natürlich gibt es immer wieder Kritik. Herr Solms, Ihr Vergleich mit der DDR war aber voll daneben. ({0}) Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Steuermauer der FDP gibt es bei dieser Reform nicht. Ich möchte der FDP ein Zitat aus der Bibel entgegenhalten. Schon Jesaja sagte uns: Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich kann Ihnen nur sagen - es sind Tatsachen -: Die Wirtschaft boomt. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist besser geworden. Die Konjunktur ist stark und robust. Der Aufschwung hat den Arbeitsmarkt erreicht. Im Vergleich zum März 2006 sank die Zahl der Arbeitslosen um immerhin 869 000. Im heutigen „Handelsblatt“ steht: „Unternehmen schaffen Jobrekord“. Herr Dr. Wissing, Sie sprechen von Stillstand. Das kann doch wohl nicht sein. Die Bundesagentur für Arbeit meldet gut 800 000 offene Stellen. Frau Scheel, einen Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufzubauen, schadet letzten Endes dem Gemeinwohl. Denn man braucht erst Investitionen und neue Arbeitsplätze; daraus erwachsen Wachstum und Beschäftigung sowie mehr Steuereinnahmen. So wird es ein Erfolg. In dieser Weise müssen wir in Deutschland vorangehen; wir dürfen nicht in den Gegensätzen von gestern verharren. ({1}) Wir halbieren das Staatsdefizit. Wir haben laut der Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft statt bisher 2,1 Prozent 2,8 Prozent Wachstum zu erwarten. Die Bundesbank hält in diesem Jahr ein Defizit von 1 Prozent für möglich und 2010 sogar einen ausgeglichenen Haushalt für erreichbar. Das wäre der erste ausgeglichene Haushalt seit 40 Jahren. Ich bin der Auffassung, dass das mit dieser Steuerreform weiter angegangen werden kann, weil es zu einer Selbstfinanzierung dieser Reform kommen wird. Wir erleben es ja: Bund, Länder und Gemeinden werden nach Auffassung des iwd bei den Steuern mit einem Einnahmeplus von rund 24 Milliarden Euro im Jahr 2007 rechnen können. Die Steuerschätzung im Mai werden wir natürlich erst dann richtig zur Kenntnis nehmen. Aber man muss sehen, dass hier etwas wächst. Wann hatten wir das zuletzt? Dieser Erfolg sollte uns die notwendige Kraft und Disziplin geben, auf unserem Kurs der finanzpolitischen Verantwortung und der neuen steuerpolitischen Impulse voranzuschreiten. Es zeigt sich mehr und mehr, dass Reformen Früchte tragen. Es wird deutlich, was in Deutschland steckt, wenn Kräfte freigesetzt werden. Eins ist gewiss: Die Erfolge unserer Reformpolitik können nur dauerhaft gesichert werden, wenn wir nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Die Anstrengungen müssen fortgesetzt werden. Seit der Unternehmensteuerreform 2000 ist der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union weiter vorangekommen. Deswegen müssen wir im internationalen Vergleich der Steuersätze mit der Gesamtbelastung der deutschen Unternehmen diesen Wettbewerb annehmen. Man kann natürlich sagen: Ich will mit der globalisierten Wettbewerbsentwicklung nichts zu tun haben. Aber die Globalisierung findet nun einmal statt. Ich rate uns allen: Marschieren wir aufs Spielfeld, und spielen wir mit. Es ist ein Erfolg für die Menschen in unserem Land, wenn wir mitspielen und uns nicht verweigern. Das ist das Gebot der Stunde. Das Konzept der Unternehmensteuerreform ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die Senkung der Nominalsteuersätze auf unter 30 Prozent ist der entscheidende Faktor, um einen Anreiz zu schaffen, in Deutschland Gewinne zu versteuern. Natürlich gibt es Länder mit günstigeren Steuersätzen. In Irland beispielsweise beträgt die Unternehmensteuer 12,5 Prozent; das werden wir nicht erreichen können. Aber wir müssen den Wettbewerb angehen und all unsere Wettbewerbsvorteile nutzen. Ich wende mich gegen die Aussage - die immer wieder getroffen wird -, das seien Milliardengeschenke an die Unternehmen. Ich bin der Auffassung, dass diese Reform durch den Konjunkturaufschwung, also von den Unternehmen selbst finanziert wird. In der neuesten iwdStudie wird darauf hingewiesen, dass die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer, die vor der Reform 58,5 Milliarden Euro betragen haben, durch die Reform auf 51,6 Milliarden Euro sinken werden. Aber allein aufgrund der gegenwärtigen konjunkturellen Entwicklung erhöhen sich diese Einnahmen schon im Jahre 2007 auf 56,2 Milliarden Euro. Das heißt, dass die Entlastung, die mit der Reform einhergeht, voll gegenfinanziert wird. Hinzu kommt die veranlagte Einkommensteuer. Es kann also überhaupt nicht von Milliardengeschenken die Rede sein. Das ist nur Verhetzung und Volksverdummung. Wir müssen uns ganz massiv dagegen aussprechen, dass immer wieder dieser Gegensatz konstruiert wird. Wir müssen die einzelnen Beratungen und Prüfungen im Rahmen dieser Reform sehr detailliert durchführen. Wir wollen, dass alle 2,5 Millionen Mittelstandsbetriebe in Deutschland Akzeptanz für die Unternehmensteuerreform entwickeln. Denn sie alle müssen sich mehr oder weniger an der Gegenfinanzierung beteiligen. Wir haben einige Freigrenzen geschaffen, die mittelstandsfreundlich sind und eine wichtige Mittelstandskomponente darstellen. Von Bedeutung ist, dass alle Mittelstandsbetriebe entlastet werden; darauf werden wir achten. Es ist sinnvoll, eine Mittelstandsprüfung durchzuführen, weil über 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland im Mittelstand beschäftigt werden. Den einen oder anderen Punkt werden wir uns noch genauer ansehen müssen. Aber es besteht überhaupt kein Anlass zu einer pauschalen Ablehnung. Die steuerliche Gesamtbelastung auf einbehaltene Gewinne von Personengesellschaften beträgt in Zukunft 28,25 Prozent zuzüglich Solidaritätszuschlag. Sie hat somit erstmals das gleiche Niveau wie die Belastung von Kapitalgesellschaften. Der größte Erfolg dieser Reform ist, dass es keine Wettbewerbsverzerrungen zwischen Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften mehr gibt. ({2}) Das ist ein großer Wurf für die vielen Familiengesellschaften und für die größeren Mittelstandsbetriebe. Ich weiß, wovon ich spreche; denn ich führe ein Unternehmen, das seit 1879 am Markt ist. Ich habe mich immer über die Wettbewerbsverzerrungen zwischen Personenund Kapitalgesellschaften geärgert. Ich kann Ihnen sagen: Die systematische Lösung, die wir gefunden haben, ist ein großer Vorteil, den man nicht kleinreden darf. Im Vergleich zu den Kapitalgesellschaften werden die Personenunternehmen steuerlich entlastet. Wir tun allerdings auch etwas für kleinere Personenunternehmen. Die bisherige Ansparrücklage nach § 7 g Einkommensteuergesetz wird zu einem Investitionsabzugsbetrag ausgebaut. Begünstigt ist die künftige Anschaffung oder Herstellung eines abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgutes des Anlagevermögens, das überwiegend betrieblich genutzt wird. Den Rücklagenhöchstbetrag haben wir von 154 000 Euro auf 200 000 Euro erhöht. Es ist natürlich das Ziel, dass möglichst alle Unternehmen nach § 7 g Einkommensteuer-gesetz einen Investitionsabzugsbetrag geltend machen können. Wir müssen uns - ich glaube, das ist sinnvoll - die Stellschrauben für das Betriebsvermögen daraufhin anschauen, ob wir hier alle Betriebe erfassen. Das ist in den Beratungen sicher möglich. Wir müssen den Vorwurf der Mittelstandsdelle ernst nehmen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass in vielen Bereichen Erfolge erzielt wurden. Zum Beispiel leistet die Zinsschranke einen Beitrag zur Finanzierung dieser Reform. Man muss auch feststellen: Sie ist in jedem Fall übersichtlicher als die bisherige Regelung. Was haben wir mit § 8 a Körperschaftsteuergesetz - Gesellschafterfremdfinanzierung - in der Vergangenheit für Probleme gehabt! Man muss auch einmal sehen, dass hier eine klarere Regelung entstehen wird. ({3}) Natürlich muss dafür Sorge getragen werden, dass weitere Beteiligungen von Einzelunternehmen - PPP-Projektgesellschaften; die nicht in den Konzern eingebundenen Betriebe - damit nicht erfasst werden. Darauf müssen wir speziell achten. Denn wir wollen nicht, dass durch die Zinsschranke mittelständische Betriebe beschädigt werden. Wir müssen deshalb ganz genau auf die Steuerschraube schauen und nach Lösungsansätzen suchen. ({4}) Ich glaube, dass wir auch bei den Mittelstandskolleginnen und -kollegen mit dieser Reform letzten Endes bestehen können. Denn auch für den Mittelstand ist diese Reform im Gesetzblatt immer noch mehr, als es Wunschdenken auf dem Papier ist. Deswegen sollten wir uns jetzt an die Arbeit machen. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Oskar Lafontaine. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Wörter haben in den letzten Jahren die Politik bestimmt, stärker als viele, die glauben, sie hätten auf politische Entscheidungen Einfluss. Das eine Wort ist das von den Lohnnebenkosten. Das ist ein wunderbares Wort, wenn man bestimmte Interessen durchsetzen will. Man kann dann sagen: Ich möchte die Lohnnebenkosten senken - das ist ja mittlerweile weitgehend Allgemeingut aller Parteien -; man muss dann nicht sagen: Ich möchte das Geld für Rentner, für Arbeitslose, für Kranke oder für Pflegebedürftige kürzen. Die Formulierung „Ich möchte die Lohnnebenkosten senken“ ist viel praktischer. Daher ist sie so gängig und wird überall gebraucht. Dieses Wort hat noch einen weiteren Vorteil. Wenn man sagt, man will die Lohnnebenkosten senken, dann muss man nicht sagen, man möchte den Unternehmen Milliarden zurückgeben; das würde ja unpopulär klingen. Es ist viel populärer, zu sagen, wir müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten. Die Lohnnebenkosten haben wir in den letzten Monaten bereits gesenkt, wir haben den Unternehmen bereits Milliarden erlassen. Ich möchte nur darauf hinweisen, damit das in der heutigen Debatte nicht vergessen wird. Ein zweites Wort, das Politik gemacht hat, ist das vom Standortwettbewerb. Ein wunderbares Wort, wenn man bestimmte Lobbyisteninteressen vertritt. Dann kann man sagen: Ist doch klar, wir sind alle im Wettbewerb. Es müssen die Löhne sinken; denn anderswo sind sie niedriger. Es müssen die sozialen Leistungen sinken; denn anderswo sind sie niedriger als bei uns. Und natürlich müssen die Steuern sinken; denn anderswo sind sie bereits niedriger. Diese wunderbare Logik hat sich in der Politik ausgebreitet, und sie hat Folgen. Irgendwann denkt vielleicht der eine oder andere nach und sagt: Na ja, ob man mit den Löhnen ganz runtergehen kann? Das könnte auch Probleme geben. Denn bei Steuersätzen von null und Löhnen von null will wahrscheinlich niemand hier investieren. Selbst Steuersätze von null werden dann nicht ausreichend sein, um Gewinne zu machen. Spätestens da wird diese Logik also infrage gestellt. ({0}) Aber bei den Löhnen waren wir bereits sehr tüchtig - ich nenne die Zahlen noch einmal -: Saldiert über die letzten zehn Jahre haben wir bei den Löhnen ein Minus von 5 Prozent. Wir liegen weit hinter den anderen Industriestaaten zurück und sehen hier, wenn wir über Steuerpolitik reden, offensichtlich keinen Korrekturbedarf. Bei den Unternehmensteuern dagegen gibt es nun wirklich keinen Korrekturbedarf. Ich weiß nicht, wie oft wir schon Unternehmensteuern gesenkt haben. Allein in meinem politischen Leben habe ich mindestens an zehn Runden mitgewirkt, in denen die dringende Not der Unternehmen aufgegriffen worden ist und die Unternehmensteuern wegen des internationalen Wettbewerbs immer wieder gesenkt werden mussten. Ich prophezeie den Damen und Herren, die uns hier zuschauen, dass dieses Hohe Haus in dieser Legislaturperiode mindestens eine weitere Unternehmensteuerreform konzipieren wird, weil der internationale Wettbewerb dies ja dringend gebietet. Nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ganze stimmt nicht. Die Zahlen, die hier gehandelt werden, sind schlicht und einfach falsch, die Logik schlägt Purzelbäume. Ich beginne einmal beim Finanzminister, der uns ja immer mit solchen logischen Überraschungen beglückt. Er sagt zum Beispiel: Wenn wir die Mehrwertsteuer nicht erhöhen, müssen wir die Rente kürzen. ({1}) Diese Logik ist bestechend. Was will man dagegen sagen? Vor lauter Sprachlosigkeit oder Atemlosigkeit kann man eine solche Logik schlicht und einfach nicht mehr durchbrechen. Heute hat er gesagt: Wenn wir die Steuereinnahmen erhöhen wollen, dann müssen wir die Steuern senken. ({2}) Diese verblüffende Logik ist international natürlich einmalig. ({3}) Sie wird auf jeden Fall beachtliche Wirkungen im internationalen Dialog entfalten. Es wird auch immer wieder davon gesprochen, dass mit falschen Zahlen hantiert wird. Ich habe hier die Übersicht 2005 über die Körperschaftsteuersätze. Sie können sehen, dass wir bei weitem nicht oben liegen, sondern dass die Länder im unteren Teil - ich habe ihn rot angekreuzt - weitaus höhere Steuersätze haben. Es ist richtig, Estland hat einen Steuersatz von 0 Prozent, das viel zitierte Irland hat einen Steuersatz von 12,5 Prozent, Lettland hat einen Steuersatz von 15 Prozent usw. Eine ganze Reihe von Staaten liegt aber über uns: Frankreich mit 33 Prozent, Belgien mit 34 Prozent, Malta sogar mit 35 Prozent und die USA mit 35 Prozent. Ich will sie nicht alle vorlesen. Es ist einfach ein Märchen, wenn hier gesagt wird, unser Körperschaftsteuersatz sei zu hoch. ({4}) Belügen Sie das Volk doch nicht, wenn Sie hier reden, sondern geben Sie zunächst einmal die Tatsachen wieder, wie sie sich international darstellen! Im Übrigen ist die Höhe der nominalen Steuersätze schlicht und einfach nicht aussagefähig, wie wir wissen. Deswegen war es gut, dass der Finanzminister gesagt hat, der Steuersatz für die mittleren Unternehmen liege bei etwa 20 Prozent. Dem möchte ich für meine Fraktion nicht widersprechen. Es wäre aber gut gewesen, wenn er noch ergänzt hätte, dass die effektive Steuerbelastung der Kapitalgesellschaften im Jahre 2005 in Deutschland bei 16 Prozent lag. ({5}) - Ja, Sie werden sicherlich ein Institut finden, das eine andere Zahl dargelegt hat. ({6}) Bei vielen ist sie noch deutlich niedriger, verehrter Herr Finanzminister. Das ist die Realität in Deutschland. Es ist so, wie Sie sagen: Sie sind sehr kundig, wenn es darum geht, Steuern zu mindern und zu verschieben. Insofern möchte ich diese Zahl einmal festgestellt haben. Ein Redner der FDP - Herr Solms, glaube ich - hat heute gesagt, dass China jetzt einen Steuersatz von 25 Prozent hat. Nach der Logik des Standortwettbewerbs werden wir jetzt ja eine Invasion chinesischer Unternehmen nach Deutschland erleben; denn ein kleines Unternehmen zahlt nur 20 Prozent und ein großes Unternehmen nur 16 Prozent. ({7}) Das ist schlimm. Stellen Sie sich einmal vor, dass jetzt nach der Logik des Standortwettbewerbs 1 Milliarde Chinesen aufbrechen und hier in Deutschland investieren! Das ist wirklich eine ganz schlimme Geschichte. ({8}) Nun noch ein paar Worte zu einem weiteren Punkt. Wenn Sie schon einen solchen Unsinn fabrizieren, dann sollten Sie nicht auch noch die degressive Abschreibung abschaffen. Karl Schiller - er ist dem einen oder anderen noch bekannt - hat jahrelang dafür geworben, dass die degressive Abschreibung nicht abgeschafft wird, damit den Unternehmern auch der Anreiz gegeben wird, zu investieren. Warum machen Sie diesen Unfug? Diejenigen, die die Steuerreform an dieser Stelle kritisieren, haben völlig Recht. ({9}) Wenn Sie wirklich zu viel Geld haben, dann geben Sie es doch nicht den DAX-Konzernen, denen es im Moment nun wirklich aus den Ohren läuft. Heute wird hier ja fast ein neuer Orden gestiftet, nämlich der Orden der barmherzigen Brüder für die DAX-Konzerne. Sie leiden aber keine Not. Wenn Sie etwas tun wollen, dann korrigieren Sie endlich eine Ungerechtigkeit des Steuersystems, nämlich den Mittelstandsbauch im Einkommensteuertarif. Hierfür hätten Sie wirklich Gründe. Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages errechnet hat, würde das 22 Milliarden Euro kosten. Ihr Ministerium wird das auch errechnet haben. Wenn Sie gegenfinanzieren wollen, brauchen Sie ja nur den Spitzensteuersatz etwas anzuheben. Dadurch kommen Sie sogar noch unter die Ausfälle, die Sie bei Ihrer Unternehmensteuerreform zu gewärtigen haben. Wie kann man denn in einer Situation, in der die Unternehmen wirklich einmalige Gewinne erwirtschaften, die Unternehmensteuer weiter senken, während bei stagnierenden oder sogar zurückgehenden Realeinkommen über zehn Jahre niemand auf die Idee gekommen ist, die fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlasten? Im Gegensatz zu dem, was Sie vorhaben, wäre das hier jetzt doch tatsächlich angebracht. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist kein Wunder, dass die Steuerreform eine Vorgeschichte hat. Ein Wirtschaftsminister, der jetzt bei einer Leiharbeitsfirma angeheuert hat, ist zu Frau Christiansen geflogen. Im selben Flugzeug saß der Präsident des BDI. In der Sendung sagte man sich gegenseitig, Deutschland habe ein großes Standortproblem. Anschließend gab es den Steuergipfel, an dem Frau Merkel auch beteiligt war. Der damalige Kanzler hat gesagt: Aus Gründen des Standortwettbewerbs müssen wir unbedingt irgendetwas tun. Die Runde hat nur etwas übersehen, was in Deutschland seit vielen Jahren bekannt ist. Ich zitiere den Christdemokraten und Chefredakteur des „Handelsblatts“, Hans Mundorf. Er hat immer gesagt, die angebliche Steuerüberbelastung in Deutschland ist ein Phantomschmerz. Frau Kollegin Scheel, ich möchte Ihnen noch etwas zum Thema Populismus sagen. Wenn man hier sagt, entlastet doch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dann ist das vielleicht Populismus. Das ist uns aber lieber als die Liebedienerei gegenüber den Unternehmerverbänden, die seit Jahren die Politik bestimmen. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Staatsminister der Finanzen des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Ingolf Deubel. ({0}) Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Unternehmensteuerreform, die heute zur Debatte steht, hat einen langen und intensiven Vorlauf. Daran haben sich auch die Länder beteiligt. Viele Details, wie zum Beispiel Zinsschranke, Thesaurierungsrücklage, Weiterentwicklung der Gewer9356 Staatsminister Dr. Ingolf Deubel ({2}) besteuer, aber auch das neue Verrechnungssystem der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer, gehen auf Vorschläge der Länder zurück. Für die offene, konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit möchte ich mich beim Kollegen Steinbrück, aber auch bei allen anderen Mitgliedern der politischen Arbeitsgruppe ausdrücklich bedanken. Das Reformvorhaben konzentriert sich zu Recht auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Unternehmensteuersystems. Wettbewerbsfähigkeit heißt hier zum einen die Verbesserung der Standortbedingungen in Deutschland und damit weitere positive Impulse für den Arbeitsmarkt, zum anderen aber auch - und genau das ist das Problem unseres Steuersystems -, dass zukünftig Gewinne, die in Deutschland erwirtschaftet werden, auch zur Zahlung von Steuern in Deutschland führen. ({3}) Es nützt nichts, dass in Unternehmensbilanzen großer Unternehmen große Gewinne ausgewiesen werden, wenn man dann als Finanzminister, der in die steuerliche Situation ja etwas mehr Einblick hat, feststellen muss, dass davon nur ein sehr geringer Teil in Deutschland als Steuern ankommt. Ich möchte dieses Thema aber nicht vertiefen, sondern mich zwei anderen Aspekten widmen, nämlich den Auswirkungen der Änderung bei der Gewerbesteuer auf die Kommunen einerseits und auf kleine und mittlere Personenunternehmen, also klassische Mittelständler, andererseits. Dass die kommunalen Spitzenverbände die geplante Reform ungewöhnlich positiv beurteilen, hat nicht nur damit zu tun, dass die Gemeinden finanziell glattgestellt werden, sondern vor allem auch damit, dass sich die Qualität der Gewerbesteuer aus kommunaler Sicht deutlich verbessert. Sie wird durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen an Stetigkeit gewinnen, und vor allem in Gemeinden mit vielen kleinen Unternehmen dürfte das Aufkommen kräftig steigen. Hierfür wird vor allem die Abschaffung des Staffeltarifs für Personenunternehmen sorgen, aber auch die Einbeziehung der Zinsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzzahlungen. Durch die Einbeziehung dieser Zinsanteile wird eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Fremdfinanzierungskonstruktionen erreicht, während bisher nur Dauerschuldzinsen bei der Gewerbesteuer zugerechnet wurden. Nun könnte man vermuten, dass sich die deutlichen Verbesserungen für die Kommunen bei den Unternehmen als entsprechende Verschlechterungen widerspiegeln. Dies ist jedoch keineswegs so. Zwar müssen viele kleine und mittlere Personenunternehmen in Zukunft an ihre Gemeinde eine höhere Gewerbesteuer abführen als bisher, unter dem Strich wird diese Zusatzbelastung jedoch mehr als kompensiert. Dies liegt an der völlig veränderten Verrechnungsmethode bei der Gewerbesteuer. Bisher hat die Gewerbesteuer zunächst ihre eigene Bemessungsgrundlage reduziert, die daraus entstehende Gewerbesteuerlast hat dann wiederum die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer reduziert, und am Schluss ist noch einmal ein Teil der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuerschuld verrechnet worden - ein Fall für Steuerberater. Die meisten Unternehmer haben das nie verstanden. Deswegen haben diejenigen, die kaum noch durch die Gewerbesteuer belastet wurden, weiterhin über die Gewerbesteuer geklagt. Dieses komplizierte System wird nun deutlich vereinfacht. Gewerbesteuer und Einkommensteuer werden getrennt berechnet. Anschließend kommt es zu einer Verrechnung bei Personenunternehmen, und zwar zu einer Vollverrechnung bis zu einem Hebesatz von 400 Prozent. Im Vergleich zum bisherigen System bedeutet das nicht nur einen erheblichen Zugewinn an Einfachheit und Transparenz, sondern vor allem an Gerechtigkeit und Mittelstandsfreundlichkeit. An Gerechtigkeit deshalb, weil bisher eine Verrechnung der Gewerbesteuer zwar im Fall des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer und bei einem Hebesatz von 400 Prozent zu gut 90 Prozent, aber bei einem niedrigeren persönlichen Einkommensteuersatz von zum Beispiel 15 Prozent - das ist Realität bei den meisten kleinen Unternehmen - nur zu 60 Prozent erfolgt. Im Durchschnitt aller Personenunternehmen wurden deshalb im vergangenen Jahr lediglich rund 75 Prozent der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer verrechnet. Das heißt im Umkehrschluss, rund 25 Prozent bzw. mehr als 3,5 Milliarden Euro verblieben als Nettobelastung durch die Gewerbesteuer bei Personenunternehmen. Wenn der Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung beschlossen wird, entfällt diese Belastung zumindest für sämtliche Personenunternehmen, die in Kommunen mit einem Hebesatz von 400 Prozent oder weniger ansässig sind. Sie entfällt auch unabhängig davon, ob der persönliche Einkommensteuersatz bei 42 Prozent oder bei 15 Prozent liegt. Diese Verbesserung für sämtliche Personenunternehmen ist der eigentliche Beleg für die Mittelstandsfreundlichkeit. 3,5 Milliarden Euro sind kein Pappenstiel. Unabhängig davon, ob eine Ansparabschreibung oder eine Thesaurierungsrücklage in Anspruch genommen wird, es ist unter dem Strich eine Verbesserung. Deswegen kann man von einer Mittelstandslücke nun wahrlich nicht reden. ({4}) Wer von einer Mittelstandslücke fabuliert, sollte sich zur besseren Orientierung zuerst einmal mit den Auswirkungen der Neuordnung der Gewerbesteuer und der Gewerbesteuerverrechnung befassen. Dann kommt man sehr schnell zu anderen Ergebnissen. Die weiteren Beratungen werden in den nächsten Wochen hier im Hohen Hause und dann im Bundesrat stattfinden. Über Details wird gesprochen werden müssen. Wer Änderungen wünscht, sollte gleichzeitig Gegenfinanzierungsvorschläge machen. Zumindest die 5 Milliarden Euro sind eine feste Größe. Ich freue mich auf spannende und ertragreiche Beratungswochen. Staatsminister Dr. Ingolf Deubel ({5}) Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt für die Unternehmensteuerreform, mit der wir uns heute in erster Lesung befassen, ist der Tatbestand, dass Deutschland mittlerweile eine Spitzenposition innerhalb der EU bei der nominellen Besteuerung von Unternehmergewinnen hat. Herr Lafontaine, Ihre Berechnungen sind falsch. Sie dürfen nicht nur die Körperschaftsteuer sehen, sondern müssen auch die Gewerbesteuer einbeziehen. Wenn das, was Sie vertreten, in Deutschland Gesetz würde, wäre der Aufschwung zu Ende. Die Notleidenden wären nicht die DAX-Werte, sondern die Arbeitnehmer in Deutschland. Ich kann nur sagen: Eine solche Steuerpolitik wäre das Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland. ({0}) Der Tatbestand, dass wir zurzeit mit knapp 39 Prozent nominell die höchsten Steuersätze haben, hängt nicht damit zusammen, dass wir in Deutschland die Sätze erhöht hätten. Vielmehr haben wir sie gesenkt. Das Problem ist: Andere Länder haben sie stärker gesenkt. Wir haben eine ganze Reihe von neuen Ländern in die EU aufgenommen, die von vornherein deutlich niedrigere Sätze hatten. Mit einem Spitzensteuersatz von knapp 30 Prozent lägen wir in einer mittleren Position innerhalb der EU, nicht im unteren Drittel. Das brauchen wir bei der Qualität unseres Standortes aber auch nicht. Meine These ist, dass die großen Firmen die vielen legalen Gestaltungsmöglichkeiten, die sie bei einem Steuersatz von 39 Prozent natürlich genutzt haben, bei 30 Prozent nicht mehr nutzen werden. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gewinne, die heute in Deutschland entstehen, hier aber nicht besteuert werden, in Zukunft wieder in Deutschland besteuert wird. Ich glaube, dass wir mit den niedrigeren Steuersätzen - ich vermute, schon 2009, Herr Minister höhere Steuereinnahmen haben werden als heute und dass diese Unternehmensteuerreform damit auch ein Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen ist. ({1}) Der zweite große Punkt - Kollege Michelbach hat bereits darauf hingewiesen -: Wir werden die niedrigeren Steuersätze in vollem Umfang auf die Personengesellschaften übertragen. Wir gehen in diesem Bereich zu einem Steuersystem über, das wir schon einmal einige Jahre nach dem Krieg hatten: dem System des gespaltenen Steuersatzes. Das bedeutet, Gewinne von Personengesellschaften, die in der Firma bleiben, werden niedriger besteuert als Gewinne, die aus der Firma genommen werden. Dies ist ein toller Beitrag zur Stärkung des Mittelstandes und insbesondere der Eigenkapitalsituation im Mittelstand. Dennoch besteht natürlich Diskussionsbedarf. Es gibt ja den bekannten Spruch, dass noch kein Gesetzentwurf so aus dem Bundestag herausgekommen ist, wie er hineingekommen ist. ({2}) Das wird auch diesmal der Fall sein. Diskussionsbedarf - ich sage noch nicht Veränderungsbedarf; der kann aus der Diskussion entstehen - besteht insbesondere bei sechs Punkten. Der erste Punkt. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Wir nehmen natürlich sehr ernst, was der Nationale Normenkontrollrat sagt. Wir werden uns die 40 zusätzlichen Meldepflichten ganz genau ansehen, wohl wissend, dass sich viele aus Wahlrechten bei der Besteuerung ergeben. Wir werden uns auch die 180 Millionen Euro bei den geringfügigen Wirtschaftsgütern sehr genau anschauen. Es wäre gut, wenn wir in der zweiten Lesung sagen könnten: Die neue Unternehmensteuerreform bedeutet unter dem Strich nicht 72 Millionen Euro mehr Bürokratie, sondern vielleicht 20 oder 30 Millionen Euro weniger Bürokratie. An dem Ziel werden wir arbeiten. ({3}) Der zweite Punkt. Ich weiß natürlich, dass leistungsstarke Personengesellschaften durch die Thesaurierungsmöglichkeit viele Vorteile haben. Ich weiß auch, dass der größte Teil des Mittelstandes eine Besteuerung von unter 30 Prozent hat. Der erhebliche Teil davon profitiert aber von der verbesserten Investitionsrücklage. Nun gibt es im Handwerk und bei anderen eine Diskussion über die 210 000-Euro-Grenze. Lassen Sie uns auch hierüber noch einmal diskutieren; vielleicht finden wir noch eine Möglichkeit, in Richtung 250 000 Euro zu marschieren. Der dritte Punkt. Die Zinsschranke ist etwas Neues. Man weiß nicht so ganz genau, wie sie in allen Bereichen wirkt. In den Vereinigten Staaten gibt es etwas Vergleichbares seit vielen Jahren. Frankreich hat eine Zinsschranke am 1. Januar dieses Jahres eingeführt. Wir diskutieren hier nicht über Dinge und über Probleme, die es nicht auch in anderen Ländern gibt. Nur, wir wollen uns die Auswirkungen der Zinsschranke auf vier moderne Finanzierungsformen, die wir brauchen, noch einmal ganz genau anschauen: Leasing, Factoring, PPP und Private Equity. Der vierte Punkt. Wir wollen, dass in Zukunft Schluss mit den Mantelkäufen ist. Firmenkäufe, die nur den Zweck haben, sich den Verlustvortrag zu sichern, wollen wir nicht. Das ist schon jetzt ganz erheblich eingeschränkt. Wir wollen aber noch einmal über die Frage diskutieren, wie es mit den Verlustvorträgen bei Sanierungen und Umstrukturierungen in internationalen Konzernen aussieht. Hier muss noch diskutiert werden; ob wir zu Veränderungen kommen müssen, mögen wir dann überlegen. Der fünfte Punkt. Es ist in allen Ländern üblich, dass Funktionsverlagerungen besteuert werden. Aber uns interessiert noch die Auswirkung der Funktionsverlagerung auf den Bereich Forschung und Entwicklung. Wir wollen nicht, dass es zu Nebenwirkungen kommt, die keiner will, um das klar zu sagen. ({4}) Deutschland ist bei Forschung und Entwicklung an der Spitze der Welt; wir sind da bei den großen Nationen mit dabei: ({5}) Dies muss auch so bleiben. Es soll nicht durch die steuerliche Behandlung der Funktionsverlagerung gefährdet werden. Das sind Punkte, über die wir diskutieren. Ich sage aber genauso deutlich, insbesondere an die Kollegen von den Sozialdemokraten gerichtet: Wir werden uns nur in einem Rahmen bewegen, der die 5-Milliarden-Euro-Grenze nicht überschreitet. Darauf haben wir uns politisch geeinigt, und dabei bleibt es. Deshalb sage ich jedem, der tolle Vorschläge hat, dass wir diese durchaus umsetzen können, dass aber die Gegenfinanzierung aus dem eigenen Projekt, also im Rahmen der Unternehmensteuerreform, erfolgen muss. Ich glaube, dass dann, wenn dies zur Bedingung gemacht wird, die Wünsche weniger werden. Dieser Gesetzentwurf umfasst noch ein ganz wichtiges Thema für den Standort Deutschland - der hessische Ministerpräsident hat darauf hingewiesen -, nämlich den Übergang zur Abgeltungsteuer. Das ist ein Instrument, das mit Sicherheit den Kapitalmarkt in Deutschland stärken wird, es ist ein Instrument, das sicherstellt, dass wir in Zukunft auf viele Informations- und Mitteilungsmeldungen verzichten können. Wer die 180 Millionen Euro bei den geringfügigen Wirtschaftsgütern kritisiert - das tue ich auch -, der sollte auch darauf hinweisen, dass der Übergang zur Abgeltungsteuer Bürokratiekosten von 150 Millionen Euro erspart. Sicher kann man darüber diskutieren, liebe Kollegen von der FDP, ob 25 Prozent der richtige Satz sind. Ich sage: Zum Einstieg und bei den Möglichkeiten, die wir angesichts der Haushaltssituation haben, ist das ein Prozentsatz - das sagen uns auch die Bankenvertreter -, mit dem man einsteigen kann. Ich glaube, dass wir auch bei diesem Instrument, ähnlich wie bei der Körperschaftsteuer, beim Übergang relativ schnell keine Ausfälle mehr haben werden, wie es in den Berechnungen des Ministeriums heißt, sondern dass wir durch die Erweiterung der Bemessungsgrundlage und durch den Tatbestand, dass weniger Geld Deutschland verlassen wird, wenn wir das neue System haben - ich gehöre sogar zu den Optimisten, die erwarten, dass Geld zurückkommt -, mit der Abgeltungsteuer ab 1. Januar 2009 einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Kapitalmarktes in Deutschland und letztlich auch zur Sanierung der Finanzen leisten. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms zulassen?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Bernhardt, was die Abgeltungsteuer anbetrifft, so können wir als FDP - Sie haben uns angesprochen - mit 25 Prozent durchaus leben. Das ist nicht das Problem. Das Problem bei der Einführung der Abgeltungsteuer, wie Sie sie vorgesehen haben, ist die Besteuerung der Veräußerungsgewinne. ({0}) Da darf ich Sie auf ein Zusatzproblem hinweisen, welches dringend zu beachten ist. Das wird die private Altersvorsorge beispielsweise beim Fondssparen ganz stark belasten und zu einer erheblichen Besteuerung führen, die die Sparer nicht einkalkuliert haben, weil sie das nicht wissen konnten, als sie ihre Sparverträge abgeschlossen haben. Wenn es dort keine Änderung gibt, dann wird das eine echte Schwächung der privaten Altersvorsorge bedeuten.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst einmal freue ich mich, dass wir darin übereinstimmen, dass der Übergang zur Abgeltungsteuer ein richtiger Weg ist, den auch die FDP unterstützt. Sie sehen Probleme bei der zukünftigen Besteuerung der Veräußerungserlöse. Den Punkt, den Sie angesprochen haben, sehen wir auch. Es stellt sich die Frage, ob wir darüber noch diskutieren müssen. Ich habe das nicht als siebten Punkt bei mir aufgenommen. Es gibt bei uns eine Diskussion über Instrumente, die vielleicht zwölf Jahre laufen und erst nach dem 60. Lebensjahr in Form von Renten ausgezahlt werden. Auch das werden wir im Rahmen der Anhörung sehen. Aber ein erheblicher Teil der Kritik an der Abgeltungsteuer hat in der Regel nichts mit der Abgeltungsteuer zu tun, wie auch Sie eben dargestellt haben, sondern mit der Besteuerung der Veräußerungserlöse. Nur, das ist unsere politische Entscheidung, die wir schon im Koalitionsvertrag getroffen haben. Ich weiß, dass andere Länder dieses Problem zum Teil anders lösen. Aber dies ist der gemeinsame Wille der Großen Koalition. Dabei werden wir bleiben. Ob wir zugunsten der privaten Altersvorsorge steuerlich noch etwas machen können, ist auch bei uns noch in der Diskussion. Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit nicht vergessen, ein zweifaches Dankeschön zu sagen. Das erste Dankeschön gilt unserem sozialdemokratischen Koalitionspartner. Ich weiß, dass sich die vielzitierte Basis der SPD mit diesem Thema schwerer tut als unsere. Auf der anderen Seite gibt es bei uns eine Reihe von Mittelständlern, die es gerne gesehen hätten, dass für den Mittelstand deutlich mehr gemacht wird. Ihnen mussten wir immer wieder sagen: 5 Milliarden Euro ist die Grenze, zu der wir stehen. Ein besonderes Dankeschön gilt aber auch den Ministerien: zum einen dem Bundesfinanzministerium, aber auch den Landesfinanzministerien - der Minister hat sie schon genannt -, die hierbei als technische Arbeitsgruppe mitgearbeitet haben. Es war für mich faszinierend zu sehen, wie diese Zwölfergruppe kurzfristig mit umfassendem Zahlenmaterial bedacht wurde. Ich finde gut, dass uns der Fehler mit der Körperschaftsteuer und den entsprechenden Ausfällen - Sie wissen, wovon ich spreche - diesmal nicht passieren wird, weil man viele Hunderte Akten studiert hat und das, was wir jetzt vorschlagen, schon einmal durchgerechnet hat. Das heißt, wir haben uns an der Wirklichkeit orientiert. Das war natürlich nur unter Einschaltung verschiedener Bundesländer möglich. Ich kann nur sagen: Hier ist hervorragende Arbeit geleistet worden. ({0}) Zurück zur Unternehmensteuerreform. Dies ist mit Sicherheit eines der ganz großen Reformvorhaben der Großen Koalition. Um es klar zu sagen: Dieses Vorhaben lassen wir uns von niemandem zerreden. Alle Fachverbände stimmen in ihren Stellungnahmen von der Grundtendenz her zu, auch wenn in Halbsätzen immer wieder der Wunsch „Es könnte ein bisschen mehr sein“ geäußert wird. Ich erinnere daran, dass die Große Koalition sich in der Finanzpolitik zwei Ziele gesetzt hat, die sie gleichzeitig verwirklichen will: erstens Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft. Dem werden wir mit dieser Unternehmensteuerreform gerecht. Zweitens: Konsolidierung der öffentlichen Finanzen; deshalb haben wir eine Grenze bei 5 Milliarden Euro gezogen. Dieses Reformvorhaben ist ein hervorragender Beitrag, um den Standort Deutschland zu stärken. Das heißt ganz konkret, Herr Lafontaine: Es ist ein Beitrag zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. In diesem Sinne werden wir dieses Projekt abschließen. Der Regierungsentwurf ist schon deutlich besser als der Referentenentwurf. Ich bin davon überzeugt: Das, was wir hier am 25. Mai in zweiter und dritter Lesung verabschieden, wird noch besser sein. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dem Kollegen Reinhard Schultz erteile ich jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man zwei Jahre zurückblickt, sich die Ausgangspositionen in der Diskussion über eine Reform der Unternehmensbesteuerung anschaut und einen Vergleich zu dem zieht, was heute hier ins Parlament eingebracht wurde, dann wird erst richtig deutlich, was in der Zwischenzeit politisch geleistet worden ist und welche Integrationsleistung innerhalb der Koalition erbracht worden ist. ({0}) Zu Beginn der Diskussion hat unser Koalitionspartner zum Beispiel noch überlegt, auf die Gewerbesteuer vollständig zu verzichten. ({1}) Wir haben eine Diskussion über Vorschläge der Stiftung Marktwirtschaft geführt. Die Umsetzung dieser Vorschläge hätte dauerhafte Steuerausfälle in Höhe von 20 bis 40 Milliarden Euro mit sich gebracht. Man wollte an vielen völlig unbekannten Stellschrauben im Steuersystem drehen. Die Kollateralwirkungen wären für niemanden absehbar gewesen. Die jetzt vorgesehene Steuerreform zielt darauf ab, dass die Steuerbelastung und die Steuersätze möglichst nahe beieinanderliegen. Der Steuersatz soll Unternehmen im Inland und im Ausland signalisieren, was sie tatsächlich zu zahlen haben. Kollege Lafontaine, Sie haben von dem Mundorf’schen Phantomschmerz geredet. Auch ich habe den Mundorf’schen Artikel gelesen, in dem zu Recht dieses Bild gezeichnet wird. Tatsächlich haben viele international tätige Unternehmen über den hohen Steuersatz geklagt, wohl wissend, dass sie diese Steuern niemals zu zahlen brauchen, weil es genügend Stellschrauben und Verschiebebahnhöfe gibt, um dafür zu sorgen, dass für sie ein ganz niedriger Steuersatz gilt. Wir haben doch eine Tabelle, aus der hervorgeht, wie die Steuerbelastung der DAX-Unternehmen trotz höchster Gewinne ist. Das einzige Unternehmen, das da wirklich einigermaßen nahe an der Wirklichkeit und an der Steuerehrlichkeit war, ist - das muss man neidlos anerkennen - BASF. Der Rest fiel deutlich ab. Zum Teil wurde nur unter 10 Prozent dessen, was an Gewinnen ausgewiesen wurde, hier auch tatsächlich versteuert. Das ist nicht hinnehmbar. Das muss zurückgeholt werden. Insofern wird mit dieser Unternehmensteuerreform insgesamt ein Volumen von 30 Milliarden Euro bewegt, wovon mindestens 25 Milliarden Euro gegenfinanziert sind, was sozusagen der Stabilisierung der Steuerbasis dient. Dabei geht es bei den großen Konzernen um die Zinsschranke. Das heißt, die Konzernbinnenfinanzierung wird sozusagen da behindert, wo es ein Gefälle in Richtung Billigsteuerländer gibt. Auch bei Funktionsverlagerungen wird darauf geachtet, dass hochwertige Ideen, Erfindungen, Patente nicht unter Preis über die Grenze geschoben werden mit der Folge, dass im Nachhinein hohe Lizenzgebühren entstehen, die Gewinne sozusagen ins Ausland verschieben helfen. So wären noch viele andere Maßnahmen zur Stabilisierung zu nennen. Reinhard Schultz ({2}) Unter dem Strich werden diejenigen, die in der Vergangenheit ausgewichen sind, in Deutschland deutlich mehr bezahlen als bisher - sie werden im Ausland weniger, aber in Deutschland mehr als bisher bezahlen -, während diejenigen mittelständischen Unternehmen, die in der Vergangenheit kaum Möglichkeiten hatten, Eigenkapital anzusparen, für Investitionen Vorsorge zu treffen - in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre ist das sehr deutlich gewesen -, deutlich entlastet werden; das hat Ingolf Deubel klar gesagt. 2,5 Milliarden Euro ist tatsächlich eine Menge Geld. Das geht im Wesentlichen zugunsten der Stärkung von Eigenkapital und Investitionen. Von einer Mittelstandslücke kann überhaupt keine Rede sein - das kann ich nur unterstreichen -; im Gegenteil. Selbst wenn man nur auf den Investitionsabzugsbetrag schaute und feststellte: „Es gibt einige wenige Unternehmen, die davon nicht betroffen sind, weil sie zu groß sind, weil sie eine zu hohe Eigenkapitalausstattung haben“, so gilt doch: Sie würden unter normalen Bedingungen in jedem Fall etwas von den Thesaurierungsvorteilen haben; ({3}) es sei denn, sie haben eine so hohe Eigenkapitalausstattung und eine so kümmerliche Eigenkapitalrendite - das mag es auch geben -, dass man ihnen dringend raten sollte zu überlegen, ob sie den Betrieb unter diesen Bedingungen überhaupt fortführen. Aber unter normalen Bedingungen würden sie eher von der Möglichkeit der Thesaurierung Gebrauch machen. Das heißt: Alle sind mit im Boot. Eine Lücke ist überhaupt nicht zu erkennen. Natürlich gibt es auch die Klage von sehr gering verdienenden Unternehmen, sie hätten von dieser Steuerreform nichts. ({4}) Die haben wir eigentlich bereits mit der Steuerreform von 2000 erreicht. Wir wissen, dass die Personenunternehmen im Schnitt nur 19 Prozent Steuern bezahlen. Denen können wir mit solchen Maßnahmen nicht helfen, weil wir sie bereits vor einigen Jahren erheblich entlastet haben. Es gibt zwischen 200 000 und 300 000 Unternehmen, die so geringe Erträge haben, dass sie wegen der hohen Freibeträge überhaupt keine Steuern zahlen. Für die kann der Steuergesetzgeber natürlich nichts mehr tun. Uns geht es wirklich um Unternehmen, die Leistung bringen, die investieren sollen, die Beschäftigung schaffen sollen. Dann gibt es die Großunternehmen, die aufgrund ihrer starken internationalen Verflechtungen dazu beitragen, dass Deutschland immer wieder Exportweltmeister wird. Wir wollen uns die Weltmeisterschaftsprämie mit diesen Unternehmen gern teilen. Davon muss auch diese Gesellschaft etwas haben. Insofern, glaube ich, ist die Sache rund. ({5}) Natürlich weiß auch ich: Der Teufel steckt im Detail. Wir werden den Gesetzentwurf im Rahmen der weiteren Beratungen auch unter dem Gesichtspunkt der Praxistauglichkeit auf den Prüfstand stellen. Möglichkeiten für weitere Entlastungen unter dem Strich sehen wir allerdings eindeutig nicht; im Gegenteil: Wir sehen eher die Notwendigkeit zu stabilisieren, wenn denn Möglichkeiten zur Stabilisierung gegeben sind. Ich bin fest davon überzeugt: Die kommenden acht Wochen werden wir gemeinsam nutzen und am 25. Mai mit einem guten Ergebnis aufwarten können. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Von den Fraktionen ist Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4841, 16/4857 und 16/4855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 27 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Telekommunikationsüberwachung ({0}) - Drucksache 16/3827 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Telefonüberwachung zügig umsetzen - Drucksache 16/1421 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Hierfür ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen. ({3})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik sollte mit dem Erfassen und Bewerten der Wirklichkeit beginnen; damit möchte auch ich anfangen. Die Zahl der Telefonüberwachungen in Deutschland steigt von Jahr zu Jahr rasant: 1990 waren es 2 500 Fälle, 1995 3 500, 2000 15 000, 2004 34 000, 2005 42 000. Hinter diesen 42 000 Fällen stecken Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von abgehörten Einzeltelefongesprächen. Das bedeutet: Hunderttausendfach oder millionenfach wurde in das geschützte Grundrecht auf freie Telekommunikation, auf freien Telefonverkehr eingegriffen. Wir werden in der Diskussion das Argument hören, Zahlen sagten für sich genommen nichts aus. ({0}) Natürlich ist es richtig, sich zu überlegen, wie sich die Telekommunikation insgesamt entwickelt hat. Selbst wenn man aber die Entwicklung der mobilen Telekommunikation, die Tatsache, dass Menschen anders und viel mehr kommunizieren - natürlich auch Verdächtige oder Straftäter -, in Rechnung stellt, ist der Anstieg nicht hinnehmbar. Dazu nur ein Hinweis: 2005 war der Mobilfunkmarkt in Deutschland praktisch gesättigt, es gab praktisch keinen Zuwachs mehr; trotzdem gab es bei der Kontrolle einen Zuwachs um 25 Prozent. Wir werden auch hören, man müsse sich damit abfinden, weil die Telekommunikationsüberwachung einem guten Zweck, nämlich der Verfolgung von Straftätern, diene. ({1}) Ich sage Ihnen dazu: Laut Zahlen der Ermittlungsbehörden führen 60 bis 70 Prozent aller Telekommunikationsüberwachungen zu einem Ergebnis; das bedeutet, dass 30 bis 40 Prozent aller Telekommunikationsüberwachungen bei Personen durchgeführt wurden, die unschuldig geblieben sind. Aber auch das Abhören derjenigen, die verdächtig sind, jede einzelne Telefonabhörung ist ein schwerwiegender Eingriff in ein Grundrecht. Deswegen ist es nicht hinnehmbar, dass die Zahl der Telekommunikationsüberwachungen fortwährend wächst. ({2}) Wir haben viele Jahre auf wissenschaftliche Gutachten gewartet, die der Bundestag und die Bundesregierung in Auftrag gegeben haben. Die Ergebnisse, die jetzt vorliegen, sind erschreckend: Die Justiz nimmt bisher nicht in ausreichendem Maße die Kontrollfunktion wahr, die sie wahrnehmen sollte. ({3}) Mehr als ein Viertel aller Beschlüsse sind entweder überhaupt nicht oder nur formelhaft begründet worden. Somit wird nicht ersichtlich, ob die Justiz in jedem Einzelfall tatsächlich das Grundrecht auf freie Telekommunikation in den Blick genommen hat, ob eine Abwägung gegen das Strafverfolgungsinteresse stattgefunden hat. Die Arbeit der Justiz muss also erheblich verbessert werden. ({4}) Auch die Benachrichtigungspflichten, die zu einem effektiven Rechtsschutz und damit auch zur Wahrung des Grundrechts gehören, bedürfen einer Erweiterung, eines Ausbaus. Deshalb machen wir unsere Vorschläge. Wir gehen einen grundsätzlich neuen Weg. Bisher gibt es einen Straftatenkatalog. Ein Straftatenkatalog ist schlimmer als eine Hydra, bei der erst dann zwei Köpfe anwachsen, wenn man einen abschlägt; hingegen steigt beim Straftatenkatalog die Zahl der Tatbestände, bei denen eine Telekommunikationsüberwachung erlaubt ist, Jahr um Jahr an. Der neueste Entwurf der Regierung der Großen Koalition sieht weitere neue Tatbestände vor. Wir gehen einen neuen Weg, indem wir nicht mehr nach Straftatbeständen suchen, sondern einen Kriterienkatalog erstellen. Wir wollen eine Telekommunikationsüberwachung nur dann, wenn es sich um Verbrechen handelt oder um Vergehen, die so schwerwiegend wie Verbrechen sind, und auch nur dann, wenn in jedem Einzelfall eine Prognose des Gerichts zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um einen schwerwiegenden Fall handelt, bei dem wahrscheinlich eine Haftstrafe von über einem Jahr herauskommen wird. ({5}) Im Rahmen dieser Debatte will ich schon jetzt sagen, meine Damen und Herren, insbesondere in Richtung der SPD-Kolleginnen und -Kollegen, dass dieser Wechsel ursprünglich nicht einmal eine Idee von uns Grünen war. Denken Sie in der Debatte einmal darüber nach, von wem diese Idee gekommen ist - eine glänzende Idee, die wir übernommen haben, von der Sie aber heute offensichtlich nichts mehr wissen wollen, weil Sie mit dem falschen Koalitionspartner zusammenarbeiten. ({6}) Wir schützen alle Berufsgeheimnisträger gleichermaßen, und zwar deswegen, weil man keine Unterschiede hinsichtlich des Vertrauensverhältnisses des Arztes, des Verteidigers oder des Abgeordneten machen kann. Jeder, der eine Abstufung vornehmen will, ist dafür begründungspflichtig; aber eine solche Begründung gibt es nicht. Wir schützen den Kernbereich der persönlichen Lebensgestaltung auf eine vernünftige, der Praxis entgegenkommende Weise. Da, wo live abgehört wird, muss abgeschaltet werden, und wo automatisiert abgehört wird, sind die Ergebnisse nicht verwertbar. ({7}) Meine Damen und Herren, ich habe zu wenig Zeit, um, obwohl wir den Gesetzentwurf vorschlagen, Ihnen all seine Elemente in meinem Redebeitrag nahezubringen. Ich will nur noch auf einen Punkt kommen. Wir waren, Herr Kollege Benneter, so ehrlich, in unseren Gesetzentwurf am Schluss hineinzuschreiben, dass es auch Alternativen gibt; sie sind aber die schlechteren. Schauen Sie sich Ihren Entwurf an. Obwohl unser Gesetzentwurf heute zur Debatte im Bundestag vorliegt, schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf, es gebe keine Alternativen. Davon müssen Sie Abstand nehmen. Wir werden Ihnen in der Debatte zeigen, dass es Alternativen gibt und dass unsere die bessere ist. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen: einem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der FDP zur Telekommunikationsüberwachung. Hintergrund sind diverse Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung, aber auch zur Telekommunikationsüberwachung. In diesen werden die Anforderungen an die verdeckte Ermittlungsmaßnahme der Überwachung festgelegt. Weil diese Entscheidungen, auf die ich noch näher eingehen werde, zu einem guten Teil schon etwas älteren Datums sind, hat die Bundesregierung bereits seit längerem angekündigt, ein harmonisches System der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmethoden zu schaffen. Gestern haben wir uns darüber unterhalten, dass es auch die Möglichkeit einer Überwachung aus präventiven Gründen gibt. Heute beschäftigen wir uns ausschließlich mit den repressiven Gründen, die in den §§ 100 a ff. StPO geregelt sind. Schon in der 14. und in der 15. Legislaturperiode gab es Ansätze. Sie konnten aber offenbar aufgrund damaliger Regierungskoalitionen und -konstellationen nicht zum Erfolg geführt werden. Ich darf Ihnen vorab versichern, dass die jetzige Regierungskoalition - keine Angst, Herr Montag; die jetzige Regierungskoalition ist schon die richtige, jedenfalls gemessen an der Benchmark Grüne die bessere - auf einem besseren Weg ist. Wir werden in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem die verdeckten Ermittlungsmethoden insgesamt einer Neuregelung zugeführt werden. ({0}) Wenn man sich den von den Grünen vorgelegten Entwurf ansieht, dann versteht man, warum die rot-grüne Koalition nicht zu Potte gekommen ist. Die Grünen haben offenbar wieder alles in den Gesetzentwurf hineingepackt, was sie in der Zeit ihrer Mitregierung auf Bundesebene gegenüber der SPD nicht haben durchsetzen können. Ich betone ausdrücklich: Das war auch gut so. ({1}) Der Gesetzentwurf atmet unverkennbar den Geist - wo fällt der Blick hin? Er ruft schon dazwischen - von Herrn Ströbele. ({2}) Die Grünen verkennen einmal mehr, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewegen. Dieses Spannungsfeld kennt doch jeder. In ihm stehen sich verschiedene Interessen nahezu unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite steht der Grundrechtschutz aus Art. 10 und Art. 13 des Grundgesetzes. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Pflicht des Staates zu einer effektiven Strafverfolgung, die nicht zu einem zahnlosen Tiger verkommen darf. ({3}) Das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und wesentlicher Auftrag des staatlichen Gemeinwesens. In dieser Konstellation befinden wir uns übrigens häufig. Gestern konnten wir es bei der Debatte über die Patientenverfügung erleben: ({4}) Selbstbestimmung auf der einen Seite und Schutz des Lebens auf der anderen Seite. Die Frage ist immer, welchen Ausgleich man zwischen den verschiedenen Interessen findet. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der praktischen Konkordanz. Man muss diese sich widerstreitenden Prinzipien, die alle im Grundgesetz stehen, irgendwie sinnvoll zum Ausgleich bringen. Darüber streiten wir uns. Aber das ist nun einmal das Wesen einer Demokratie. Dass Sie immer dabei den Kürzeren ziehen, ist das Gute an der Demokratie. ({5}) Es ist klar, dass es keinen hundertprozentigen Schutz vor Straftaten geben kann. Bei dem Gesetzentwurf der Grünen ist aber nach unserer Auffassung die genannte Abwägung misslungen. Das Strafverfolgungsinteresse des Staates wird gegenüber dem Grundrechtschutz weiter zurückgesetzt, als dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts notwendig wäre. Ihr Gesetzentwurf weist zudem - ich komme gleich darauf zu sprechen; das wundert mich sehr, Herr Montag - auch handwerkliche Mängel auf; er ist inkonsequent bei der Verfolgung seines Anliegens und greift auch zu kurz. Ich will diese einzelnen Punkte nacheinander abarbeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2005 klargestellt - ähnlich wie kurz zuvor bei der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung -, dass auch im Bereich der Telekommunikationsüberwachung Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung erforderlich sind. Es hat dabei aber betont, dass insoweit nicht die im Hinblick auf die akustische Wohnraumüberwachung erhöhten Eingriffsanforderungen des Art. 13 des Grundgesetzes wie in der Wohnraumüberwachungsentscheidung, sondern - das ist verständlich - niederschwelligere Eingriffshürden einzubauen sind. Deshalb ist die Eingriffsschwelle bei der akustischen Wohnraumüberwachung höher anzusetzen - denn in dem Fall muss man erst in die Wohnung eines Menschen gelangen - als bei der telefonischen Überwachung mit ihren technischen Möglichkeiten. Man spricht einmal von den qualifizierten Gesetzesvorbehalten und einmal von den einfachen Gesetzesvorbehalten. Das ist unter Juristen unstreitig. Im Gesetzentwurf der Grünen wird der Berufsgeheimnisträgerschutz absolut und nicht differenziert nach den einzelnen Berufsgruppen geregelt. ({6}) Dies gilt aber wiederum nur für die Telekommunikationsüberwachung und für die Verkehrsdatenerhebung. Das Bundesverfassungsgericht hat indessen nur für Verteidiger und Seelsorger eine absolute Schutzwürdigkeit anerkannt und hat dies aufgrund Art. 46 und Art. 47 des Grundgesetzes auch für Abgeordnete getan. Für die übrigen Berufsgeheimnisträger ist ein solcher absoluter Schutz nicht geboten. Er ist vielmehr mit dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung unvereinbar. ({7}) Zudem knüpft der in Ihrem Gesetzentwurf enthaltene Berufsgeheimnisträgerschutz nicht an die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts an - obwohl Sie das in Ihrem Gesetzentwurf schreiben -, sondern an die Person des Trägers. Damit wären auch Gespräche einer Hebamme einer Abhörmaßnahme nicht zugänglich, auch wenn es vielleicht um etwas ganz anderes geht als um ein Gespräch über eine schwierige Zangengeburt. Es wird also nicht an die Zeugnisverweigerungseigenschaft, sondern nur an die Berufsgeheimnisträgerschaft angeknüpft. Das hat zur widersprüchlichen Folge, dass die betroffene Person darüber zwar als Zeuge aussagen müsste, aber ein entsprechendes Telefongespräch nicht abgehört werden dürfte. Das gilt auch für den Nachrichtenmittler. Zum Beispiel könnte der Sohn eines Rechtsanwaltes, der die Anweisungen eines Beschuldigten für einen Betäubungsmitteltransport entgegennimmt, nicht mehr abgehört werden, weil der Anschluss dem Vater gehört, der eben als Rechtsanwalt Berufsgeheimnisträger ist. Das ist doch eine kuriose Konsequenz. Dasselbe gilt auch für Angehörige von Verdächtigen. Wenn jemand seine Ehefrau quasi als Schutzschild auf eine Drogenkurierfahrt mitnimmt, kann der Fall mit verdeckten Ermittlungsmaßnahmen nicht mehr bearbeitet werden. ({8}) - Ja, Herr Montag, das ist zum Lachen. Aber es ist Ihr Entwurf. Sie lachen also über Ihren eigenen Entwurf. ({9}) Jetzt kommen wir zur handwerklichen Insuffizienz. Die Telekommunikationsüberwachung wird mit Einzelfallregelungen zum Verfahren geradezu überfrachtet. ({10}) - Nicht Inkontinenz. Das ist etwas anderes. Darüber können wir uns noch unterhalten. Auch dies ist eine besondere Form der Insuffizienz; denn die Blaseninsuffizienz nennt man auch Inkontinenz. Dann gibt es noch etwas Ähnliches mit „Im…tenz“. ({11}) Jetzt wollen Sie Folgendes machen: Sie wollen sich von dem enumerativen Straftatenkatalog lösen - das haben Sie eben in Ihrer Rede gesagt -, obwohl dies in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bei der es um die Aufhebung einer landesrechtlichen Regelung in Niedersachsen geht - ich habe sie eben angesprochen -, ausdrücklich verlangt wird. Dann schreiben Sie in Ihrem Gesetzestext sinngemäß - ich bitte die Feinschmecker unter den Juristen, einmal zuzuhören -: Die Anordnung von Telekomüberwachungsmaßnahmen soll bei Verbrechen oder - vielleicht ist irgendein Rechtskundiger im dritten Semester auf der Tribüne - bei Vergehen möglich sein, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind. ({12}) Der Deliktscharakter des Verbrechens ist gerade, dass es mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bedroht ist. Nun schütteln Sie den Kopf; Gott sei Dank sehen Sie von einer Zwischenfrage ab, Herr Montag. Sie versuchen, dies in der Begründung zu erklären, indem Sie sagen: ({13}) Es gibt Delikte bzw. Vergehen, deren Strafmaß unterhalb der Mindeststrafe von einem Jahr liegt - deshalb sind es Vergehen -, die aber durch Qualifizierungen eine Mindeststrafe von einem Jahr erforderlich machen. ({14}) Schreiben Sie das doch auch in den Gesetzestext hinein, Herr Montag! Sie wissen es doch. Das ist handwerklich dilettantisch. ({15}) Nun scheint Ihr Gesetzentwurf auch verfassungsrechtlich sehr fragwürdig zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bereits erwähnten Entscheidung vom 27. Juli 2005 gefordert, dass gesetzliche Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung ein „auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüberwachung zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept“ enthalten müssen. Es hat moniert, dass das seinerzeit aufgehobene Landesgesetz keine abschließende Umschreibung der Straftaten enthalten hatte, wegen deren nämlich Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen angeordnet werden können. Das ist auch logisch; denn der Gesetzgeber hat zu begründen, dass die Anlasstaten den besonderen Anforderungen an die Zulassung solcher Maßnahmen gerecht werden, mithin, dass diese ein erforderliches und angemessenes Mittel zur Aufklärung dieser Straftaten sind. Das heißt, wir brauchen einen Katalog und keine romantische Umschreibung, so wie Sie das wollen. Gerade das hat keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht gehabt. ({16}) Ihre weitere Forderung, dass nicht von vornherein mit einer geringeren Freiheitsstrafe zu rechnen sein darf, ist ebenfalls völlig praxisfern. ({17}) So etwas kann insbesondere zu Beginn der Ermittlungen zumeist gar nicht zuverlässig beurteilt werden. Nun will ich mich nicht nur mit den Grünen beschäftigen. Auch die FDP hat einen Antrag eingebracht. Sie fordert, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen möge. Insofern, Herr van Essen, sind wir, wie man so schön sagt, ein omnimodo facturus, ein ohnehin zur Tat Geneigter. Wir legen demnächst einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir die Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Vorratsdatenspeicherung vom 15. März in das nationale Parlament einbringen. Sie versuchen natürlich, uns ein bisschen Beine zu machen. Das ist die Art einer Oppositionspartei; dafür habe ich Verständnis. Wie gesagt, wir tun dies. Wir werden eine adäquate Abstimmung zwischen den von mir eben schon näher dargelegten Interessenkollisionen vornehmen. Deswegen, Herr Montag und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn wir in das Gesetz schreiben: „Dazu gibt es keine Alternative“, sind natürlich immer taugliche Alternativen gemeint. ({18}) Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Osterfest und einen schönen Freitag. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Gehb, es kann sein, dass Sie noch weiterarbeiten müssen; denn ich erteile jetzt dem Kollegen Montag das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Dr. Gehb, nachdem Sie es, wie wir es von Ihnen gewohnt sind, nicht geschafft haben, sachliche Argumente und eine sachliche Auseinandersetzung von persönlich gefärbten Angriffen zu trennen, und mich in dieser Art und Weise mehrfach in Ihrem Redebeitrag angesprochen haben, habe ich mich doch entschlossen, Ihnen kurz zu erwidern. Die Entscheidung, die sich auf den niedersächsischen Fall bezogen hat, hat mitnichten einen Straftatenkatalog als verfassungsrechtliche Grundvoraussetzung für eine verfassungsmäßige Telekommunikationsüberwachung gefordert, lieber Herr Kollege Gehb, sondern lediglich eine ausreichende Konkretisierung der Umstände, bei denen ein solcher Eingriff zulässig ist. Wir sind der festen Überzeugung, dass das in unserem Kriterienkatalog richtig und ausreichend gelungen ist. Noch schlimmer ist aber, dass in Ihrer Rede fortwährend durchscheint - das scheint Ihre Überzeugung zu sein -, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates die Grundrechte nur in dem Maße zu gewähren bereit sind, das das Bundesverfassungsgericht als absolut unterste Marke definiert hat. Das ist Grundrechtsgewährung nach Gutsherrenart. Sie wollen nur das beachten, was das Bundesverfassungsgericht in Abgrenzung zur Verfassungswidrigkeit als absolut notwendig erachtet. Sie sind gegenüber den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger nicht generös. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Rechtspolitik. Jawohl, wir gehen bewusst mit unseren Vorschlägen über das vom Bundesverfassungsgericht als absolut notwendig beschriebene Minimum hinaus. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Gehb.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, uns verbindet - jedenfalls fernab der Kameras - eine nahezu freundschaftliche Beziehung. ({0}) Ich wüsste nicht, inwiefern ich Sie eben menschlich zu hart angepackt haben könnte. Letztens - als ich in einer Debatte das Beispiel der Montagsautos und des MonDr. Jürgen Gehb tagsgesprächs genannt habe - hätte ich das noch verstanden. ({1}) Heute kann ich nichts dergleichen erkennen. Wenn Sie sich dennoch etwas zu hart angegangen gefühlt haben - es kommt schließlich immer auf den Empfängerhorizont an -, dann bitte ich das zu entschuldigen. Das ist nie meine Absicht. Wie Sie wissen, fröne ich dem Grundsatz „Suaviter in modo, fortiter in re“. ({2}) Nun zur Sache, Herr Montag. Ihr „Prä“ ist: Möglichst viel Grundrecht und damit möglichst wenig Tauglichkeit für die strafprozessualen Ermittlungen. ({3}) Jetzt muss man als politische Partei schon den Vorwurf ertragen, dass man sich gerade so im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewegt. Ich könnte den Vorwurf gerade noch verstehen, wenn man sich außerhalb dieses Rahmens bewegt hätte. Die Grenzen, die uns das Bundesverfassungsgericht gezogen hat, sind eng genug und berühren ihrerseits fast die Grenzen der Tauglichkeit strafprozessualer Methoden. ({4}) Wenn wir uns deshalb in diesem Rahmen bewegen, dann ist es ähnlich wie bei der Ausnutzung einer Rechtsmittelfrist: Man kann am ersten Tag, aber auch am letzten Tag Rechtsmittel einlegen. Wir möchten den berechtigen Interessen Rechnung tragen. Die Ermittlung dient übrigens auch dem Bürger und ist eine Garantiepflicht, die dem Gesetzgeber obliegt. Wir würden den Menschen einen Tort antun, wenn wir sie gegenüber dem organisierten Verbrechen ohne Schutz ließen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

In der Hoffnung, dass jetzt alle Ihre Geständnisse über Ihre persönlichen Leidenschaften nachvollziehen konnten, ({0}) gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen Jörg van Essen. ({1})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde es mir verkneifen, meine persönlichen Leidenschaften vorzutragen. ({0}) - Ja, genau. - Aber mein beruflicher Hintergrund ist in einer solchen Debatte von Bedeutung. Wenn man sich als jemand, der 14 Jahre als Staatsanwalt bzw. Oberstaatsanwalt in der Justiz tätig war, zu Wort meldet, dann fließt auch der berufliche Hintergrund in die Bewertungen ein. Das ist selbstverständlich. Zu meinen beruflichen Erfahrungen gehört, dass ich in vielen Fällen solche Telefonüberwachungen vorgenommen und zum Teil auch an den Auswertungen teilgenommen habe. ({1}) Dadurch weiß ich, wie privat solche aufgezeichneten Gespräche sind. Man denkt dann darüber nach, wie einem zumute wäre, wenn das eine oder andere Gespräch aufgezeichnet worden wäre, das man selbst geführt hat. Richtig wohl wäre einem nicht dabei. Ich muss gestehen: Das passiert einem manchmal sogar bei dienstlichen Gesprächen. Ich habe einmal ein Gespräch mit einem Kollegen geführt, den wir überwachen mussten. Hinterher stellte sich nämlich heraus, dass er, ein Dezernent zur Verfolgung der organisierten Kriminalität, von ebenjener gekauft war. Ich musste ein sehr kritisches Gespräch mit ihm führen, weil er eine Revisionsbegründung ausgesprochen schlecht gemacht hat. Ich muss gestehen, dass ich in diesem Gespräch sehr deutliche Worte gefunden habe. In diesem Zusammenhang habe ich gemerkt, wie sehr man darüber nachdenkt, wenn man hinterher erfährt, dass das Ganze aufgezeichnet worden ist. Die Sensibilität, die man da entwickelt, hat jeder Bürger. Ich finde, dass wir gut daran tun, mit Eingriffen in die private Sphäre, die von der Verfassung hochgehalten wird, vorsichtig umzugehen. Wir sollten beobachten, ob der Staat in einer Weise vorgeht, die den rechtlichen Anforderungen genügt. Macht man eine Lagebewertung, muss man feststellen: Wir haben Nachbesserungsbedarf, ({2}) aber nicht, lieber Herr Kollege Gehb, weil die Strafverfolgung behindert werden soll. Ich persönlich bin gerne Oberstaatsanwalt gewesen, weil ich Oberstaatsanwalt in einem Rechtsstaat war. Es dient auch der Staatsanwaltschaft, wenn wir uns streng an das Gesetz halten. ({3}) Da die Justiz anderen vorwirft, gegen Gesetze verstoßen zu haben, ist es umso wichtiger, dass sie sich ganz streng an die Gesetze hält. ({4}) In den Untersuchungen verschiedener wissenschaftlicher Institute, zum Beispiel der Universität Bielefeld oder des Max-Planck-Instituts, ist eine Menge an Kritik deutlich zum Ausdruck gebracht worden. Wenn wir einen Antrag auf Genehmigung einer Telefonüberwachung beim Ermittlungsrichter gestellt haben - auch hier fließen meine Erfahrungen in meine Rede ein -, dann haben wir diesen Antrag so formuliert, dass er nur noch unterschreiben musste. Es entspricht nun einmal der menschlichen Natur, dass man eher bereit ist, eine Unterschrift zu leisten, als wenn man noch eine eigene Arbeitsleistung erbringen müsste. Deswegen haben wir diese Genehmigungen in aller Regel bekommen. ({5}) Herr Kollege Montag, ich muss ganz ehrlich sagen: Nicht jeder Fehler, der in der Untersuchung der Universität Bielefeld aufgezeigt worden ist, bedeutet, dass die Telefonüberwachung auch tatsächlich materiell rechtsfehlerhaft war. Ich zum Beispiel habe in mehreren Fällen eine von der Polizei beantragte Telefonüberwachung abgelehnt, weil ich sie nicht für notwendig erachtet habe. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, das zu prüfen. ({6}) - Vielen Dank für die freundlichen Worte. Lieber Herr Kollege Gehb, wir haben den Richter in unserem Antrag bewusst als Kontrollinstanz vorgesehen. Wenn das Ganze nur ein Durchlaufposten wäre, könnten wir auf den Richter verzichten. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir - das ist unsere Auffassung - die richterliche Kontrolle stärken. ({7}) Das beabsichtigen auch Sie mit Ihrem Entwurf ganz offensichtlich. Weil es sich um den Eingriff in ein Grundrecht handelt, müssen wir nach meiner Auffassung zu einer besseren richterlichen Kontrolle kommen. Das stört die Strafverfolgung im Übrigen überhaupt nicht. ({8}) - Bitte sehr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gehe davon aus, dass Sie, Herr Kollege van Essen, eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb zulassen möchten.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Gehb.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege van Essen, Sie haben in Ihrer Rede eben nicht ganz ohne Selbstbeweihräucherung gesagt, dass Ihre Anträge so gut waren und so ordentlich formuliert waren, dass der Richter sie eigentlich nur noch hat unterschreiben können. Drei Sätze später haben Sie gerügt, dass genau dieses Vorgehen zu einer unkontrollierten Durchlaufpostenschieberei führt. ({0}) Können Sie mir das erklären? Soll der Antrag so gut sein, dass man ihn nur noch zu unterschreiben braucht, oder sollte man, weil man meint, man müsse es um des Änderns willen noch ändern, mehr als die Unterschrift unter den Antrag setzen? Ich wollte nur fragen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Wenn nicht, lasse ich mich jetzt gerne aufklären.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, ich weiß, dass Sie Verwaltungsrichter sind. ({0}) Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass das eine oder andere Strafrechtliche für Sie unbekannt ist. ({1}) Es ist tatsächlich so, dass der Richter alle Anträge, die ich gestellt habe, unterschrieben hat. Ich bin mir aber gar nicht sicher, ob ich in all den Fällen, in denen ich den Antrag gestellt habe, tatsächlich die richterliche Zustimmung verdient hatte. Ich persönlich war davon überzeugt, aber es gab einige Fälle, bei denen ich ehrlich sagen muss, dass wir überlegt haben, ob wir die richterliche Zustimmung bekommen oder nicht. Wir haben sie bekommen, weil wir es dem Richter leicht gemacht haben. Darauf habe ich hingewiesen. Ich habe zweitens darauf hingewiesen - ich unterstreiche das noch einmal -, dass es hier um einen ganz wesentlichen Eingriff in ein Grundrecht geht. Deswegen hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass ein Richter als zusätzliche Kontrollinstanz überprüfen soll, ob das gerechtfertigt ist. Deshalb komme ich erneut zu der Feststellung, dass wir die Routineunterschriften, die es offensichtlich gibt, ändern müssen, sodass es eine wirkliche Kontrolle durch den Richter gibt. ({2}) Ich habe, wie Sie sehen, Vertrauen in Ihre richterlichen Kollegen. Ich glaube, dass an dieser Stelle ganz erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht. Herr Kollege Gehb, ich fahre mit Ihnen fort. Sie haben Kritik am Gesetzentwurf der Grünen geübt. Ich freue mich übrigens, dass wir jetzt endlich einen Gesetzentwurf haben. Wenn man als kleine Fraktion das HandJörg van Essen werk, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, ausübt, kann der eine oder andere Fehler passieren. Das sollten wir - das muss ich ganz ehrlich sagen - nicht kritisieren. Dahinter steht kein großes Ministerium mit 4 000 Mitarbeitern. Das ist handwerkliche Arbeit. Ich finde, wir sollten es anerkennen, wenn eine kleine Fraktion einen Gesetzentwurf vorlegt. ({3}) Der Gesetzentwurf war auch notwendig. Sie haben gesagt: Jetzt wird er kommen. - Diesen Satz habe ich schon drei Legislaturperioden lang gehört. Und der Gesetzentwurf kommt nicht. ({4}) Deshalb muss ich sagen, dass mich das außerordentlich ärgert. Ich kann mich noch an die Anrufe vor einiger Zeit erinnern, als ein Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium auftauchte und ich danach gefragt wurde, was ich dazu sage. Ich antwortete: Ich sage lieber erst gar nichts, weil ich das Gefühl habe, dass er gar nicht eingebracht wird. Erst wenn etwas eingebracht ist, werden Sie von mir eine Meinung dazu hören. - Bis heute wurde nichts eingebracht. Das ärgert mich deshalb, weil wir - insofern ist die Kritik des Kollegen Montag berechtigt - wie Weihnachtskugeln an einen Weihnachtsbaum ständig neue Straftatbestände zu dem Straftatenkatalog, der eine Telefonüberwachung rechtfertigt, hinzufügen. Ich glaube trotz Ihrer Kritik, Herr Kollege Gehb, dass der Ansatz der Grünen gut ist. Er sieht vor, dass wir von einem Straftatenkatalog weg sollen und uns überlegen sollen, den Bereich zu definieren, in dem eine Telefonüberwachung zulässig ist. Aus meiner Sicht ist der Ansatz bei Verbrechen und besonders schweren Vergehen grundsätzlich richtig. ({5}) Darüber, ob man das besser formulieren kann, wird man sich sicherlich unterhalten können. Ich bin mir ganz sicher, dass der Kollege Montag dafür offen ist. Ich finde außerordentlich wichtig - auch das haben die Untersuchungen gezeigt -, darauf hinzuweisen, dass die Unterrichtung derjenigen, die von der Telefonüberwachung betroffen sind, ganz schlecht ist. Die Verpflichtung besteht, aber ich muss gestehen - das ist jetzt keine Selbstbeweihräucherung, falls Sie wieder eine Zwischenfrage stellen wollen, sondern ganz im Gegenteil eine kritische Bemerkung -, ({6}) dass auch ich die Pflicht zur Benachrichtigung nicht ernst genommen habe. Ich kann mich an Fälle erinnern, wo man die Betroffenen hätte benachrichtigen müssen und ich nicht benachrichtigt habe. Das ist ohne Konsequenzen geblieben. Derjenige, der nicht davon erfährt, kann sich nicht darüber aufregen. Aber wir wollen es anders. Er muss sich aufregen können. Ich finde, dass er das Recht hat, gegebenenfalls nachprüfen zu lassen, ob das Ganze rechtmäßig war. ({7}) In einem Punkt bin ich anderer Meinung als Sie, Herr Kollege Montag. Die Tatsache, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt haben, dass nur bei 60 Prozent der Maßnahmen hinterher Verurteilungen erfolgt sind, wundert mich nicht. Denn dies findet im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens statt. ({8}) Das Ermittlungsverfahren dient ja gerade dazu festzustellen, ob ein Tatverdacht berechtigt ist oder nicht. Das bedeutet, dass die eine oder andere Ermittlungsmaßnahme ins Leere geht. Ich finde eine Quote von 60 Prozent eher hoch, ({9}) wenn ich bedenke, dass etwa 70 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt werden, unter anderem, weil sich herausstellt, dass der Beschuldigte oder die Beschuldigte unschuldig ist. Aber derjenige, der davon betroffen ist, hat einen Anspruch darauf, darüber informiert zu werden, insbesondere deshalb, weil wir gesehen haben, wie hoch die Zahl derer ist, die betroffen sind. Die Zahl der Betroffenen von Telefonüberwachungsmaßnahmen hat sich allein in den letzten zehn Jahren vervierfacht. Das hat Gründe und Ursachen, zum Beispiel dass sich die Struktur der Kriminalität verändert hat. Das ist insbesondere auf einen Umstand zurückzuführen, der nach meiner Auffassung in der heutigen Debatte angesprochen werden muss: Die Telefonüberwachung dient häufig dem Zweck, Strukturen aufzuklären, insbesondere im Hinblick auf die organisierte Kriminalität und vor allem in dem Bereich, in dem es kein Anzeigeverhalten gibt, in der Dunkelfeldkriminalität. Die größten Erfolge, die wir nach meiner beruflichen Erfahrung bei der Telefonüberwachung gehabt haben, betreffen die Betäubungsmittelkriminalität. Diejenigen, die Betäubungsmittel kaufen, zeigen ihren Dealer allerdings nicht an. Deswegen braucht die Strafverfolgung ein Mittel, um auch in diese kriminellen Kreise eindringen zu können. Für uns ist, wie gesagt, besonders wichtig, dass die Betroffenen benachrichtigt werden. Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen, wie das Verfahren im Einzelnen ausgestaltet wird. Es haben nämlich einige technische Entwicklungen stattgefunden, angesichts derer wir feststellen müssen, dass die bloße Überwachung des Telefonverkehrs allein nicht mehr ausreicht, sondern dass viele zusätzliche technische Neuerungen zu berücksichtigen sind. Ich habe die Hoffnung, dass Sie in dem Gesetzentwurf, dessen Einbringung von Ihnen, Herr Gehb, heute erneut angekündigt worden ist, auch auf dieses Thema eingehen. Die Vorratsdatenspeicherung ist von Ihnen ausdrücklich erwähnt worden. Auch ich will sie ansprechen, weil ich das Gefühl habe, dass es uns außerordentlich schwerfallen wird, dieses Vorhaben verfassungsfest umzusetzen. Es darf uns nicht erneut passieren, dass wir Vorgaben von der europäischen Ebene so umsetzen, dass uns das Bundesverfassungsgericht später bescheinigt, dass wir das nicht in einer Weise getan haben, die verfassungsfest ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositionsfraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen machen Ihnen Beine. Wir haben keine Geduld mehr. Wir sind der Auffassung, dass dieses Thema dringend auf eine gute, richtige und vor allen Dingen den heutigen Gegebenheiten genügende gesetzliche Grundlage gestellt werden muss und dabei auch die Verfassungsrechte der Bürger geachtet werden müssen. ({10}) Wir sollten dieses Thema gemeinsam mit Ihnen angehen, und wir sollten es schnell angehen. Herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich den Gesetzentwurf der Grünen ansieht und wenn man die heutige Debatte verfolgt, dann muss man sagen: Im Grundsatz sind wir uns einig. ({0}) Es geht nur noch darum, wie wir die Bürgerinnen und Bürger besser vor übermäßigen staatlichen Eingriffen schützen. ({1}) Wir wollen heimliche Ermittlungsmaßnahmen wie die Telekommunikationsüberwachung rechtsstaatlicher regeln. Wir wollen das Zeugnisverweigerungsrecht besser sichern, und wir werden den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung auch in der Strafprozessordnung verankern. Die Bundesregierung - das ist bereits erwähnt worden - wird in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen; genauer gesagt, legen wir ihn am 18. April dieses Jahres dem Kabinett vor. Das ist notwendig. Denn der Gesetzentwurf der Grünen enthält zwar sehr viele richtige Ansätze, aber nicht die Regelungen, die wir uns vorstellen. Deswegen, Herr Montag, vielen Dank für Ihre Nachsicht, dass Sie akzeptieren, dass wir einen eigenen Vorschlag machen. Das, was Sie vorgelegt haben, ist nicht genau das, was wir wollen. Sie nehmen nur punktuelle Veränderungen bei den Vorschriften zur Überwachung der Telekommunikation vor. Nur dafür und für die Abfrage von Verbindungsdaten wollen Sie das Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger neu regeln. Das ist eine Fortsetzung genau des Dilemmas, das uns bereits sehr viele Probleme eingebrockt hat. Wir meinen, wir sollten jetzt nicht wieder an einzelnen Punkten Veränderungen vornehmen, sondern das Ganze in den Blick nehmen und eine neue, harmonische Gesamtregelung treffen, die alle heimlichen Ermittlungsmethoden umfasst. ({2}) Daneben brauchen wir ein Konzept zum Schutz der Berufsgeheimnisträger gegenüber allen Ermittlungsmaßnahmen, ganz gleich, ob verdeckt oder offen. Ein Beispiel dafür, dass Ihr Gesetzentwurf auf der anderen Seite weit über das Ziel hinausschießt, sind die Regelungen zu den Berufsgeheimnisträgern. Das Bundesverfassungsgericht hat unter Anknüpfung an den Kernbereichsgedanken eine absolute Schutzbedürftigkeit von Strafverteidigern und Seelsorgern anerkannt. Das ist völlig richtig, und das wird selbstverständlich auch beachtet werden. Für die Abgeordneten dieses Hauses und für die Abgeordneten der Landtage lässt sich ein solcher absoluter Schutz aus dem Gedanken des Art. 47 Grundgesetz bzw. aus den entsprechenden Regeln der Landesverfassungen ableiten. Für die übrigen Berufsgeheimnisträger hat Karlsruhe dagegen mehrfach ausdrücklich festgestellt, dass ein absoluter Schutz verfassungsrechtlich nicht geboten ist. ({3}) - Möglich wohl; ich komme gleich dazu. - Hier dürfte, das meinen wir wenigstens, das allgemeine Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung nicht zurückstehen. Genau das wäre aber die Konsequenz Ihres Gesetzentwurfs, die, wie gesagt, verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Dieser Verzicht auf einen vernünftigen Interessenausgleich geht noch weiter: Nicht nur in der Frage, wer absoluten Schutz genießt, schießen Sie über das Ziel hinaus, sondern auch in der Frage, wie weit dieser Schutz reicht, fehlen Differenzierungen. Sie knüpfen nicht an die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts an, sondern stellen allein auf die Person des Berufsgeheimnisträgers ab. Was das für Folgen hätte, will ich Ihnen verdeutlichen: Angenommen, ein Rechtsanwalt führt ein Telefongespräch, das mit seiner Rolle als Verteidiger nichts zu tun hat. Dann wird es von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nicht erfasst. Abhören dürfte man dieses Gespräch nach Ihren Vorstellungen nicht; denn Sie sagen: Einen Rechtsanwalt darf man nicht abhören. - Sie knüpfen ja nur an der Person des Anwalts an. Falsch?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Zypries, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Nein. Wenn es falsch ist, dann werden wir das im Verfahren diskutieren; das ist kein Problem.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Also nicht.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Als Zeuge aussagen über dieses Telefonat müsste der Anwalt hingegen - er hat ja in dieser Hinsicht kein Zeugnisverweigerungsrecht. Das, glauben wir, wäre unsystematisch. Wenn ich Sie da falsch verstanden habe, Herr Montag, nehmen wir das gerne auf und werden das im Verfahren erörtern. Ein zweites Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand wickelt seine kriminellen Drogengeschäfte über das Telefon ab, macht das aber nicht von seinem eigenen Anschluss aus, sondern von dem Anschluss der unter ihm wohnenden Hebamme, die natürlich mit diesen Drogengeschäften gar nichts zu tun hat. Für die Hebamme bestünde kein Zeugnisverweigerungsrecht. Aber weil es ihr Telefon ist, wäre dieses Telefon pauschal von Überwachungsmaßnahmen ausgenommen. Das kann nicht das sein, was wir wollen. ({0}) Aber noch einmal, Herr Montag: Wenn es nicht so gemeint war, dann wird es umso eher möglich sein, dass wir uns im Verfahren in der Sache einigen. Wir brauchen im Gesetz eine klare Regelung dafür, bei der Verfolgung welcher Straftaten eine Telefonüberwachung überhaupt zulässig ist; Herr Gehb hat darauf schon angespielt. Das leistet der vorliegende Entwurf nach unseren Vorstellungen nur eingeschränkt. Er will nämlich die Zahl der Abhörmaßnahmen reduzieren. Tatsächlich führt er aber doch zu einer erheblichen Erweiterung der Überwachungsmaßnahmen. Das mag von Ihnen nicht gewollt sein, es ist aber Fakt. Die vorgeschlagene Regelung würde zur Folge haben, dass in Zukunft über den bisherigen Straftatenkatalog hinaus bei weiteren 320 Delikten Abhörmaßnahmen zulässig wären. ({1}) Sogar bei einfachen Delikten, bei denen die Folgen nur fahrlässig herbeigeführt werden, wollen Sie diese Maßnahmen zulassen. Wir meinen, das ginge zu weit. Ich vermute, dass das auch nicht die Intention der Grünen gewesen sein kann. ({2}) Es kann sich da nur um einen Irrtum handeln. Die Telefonüberwachung nicht mehr an konkrete Straftaten, sondern an allgemeine Kriterien zu koppeln, ist schwierig; darüber haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode öfter diskutiert. Wir wissen seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum niedersächsischen Polizeigesetz, dass die Überlegung, solche allgemeinen Kriterien zu finden, um von der „Hydra“ der Listung - wie Sie es genannt haben, Herr Montag - wegzukommen, nicht mehr möglich ist. Wir meinen, dass diese Karlsruher Entscheidung so auszulegen ist, dass wir darlegen müssen, inwieweit die Telefonüberwachung ein erforderliches und ein angemessenes Mittel ist, um eine bestimmte Straftat zu verfolgen. Wie wollen Sie denn begründen, dass beim Tatbestand der Verleumdung oder der Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel eine Telefonüberwachung nötig ist? Wegen der Höhe der Strafandrohung wäre sie nach Ihrem Entwurf in beiden Fällen zulässig. Ich glaube aber, dass das nicht die richtige Idee ist. Der von Ihnen vorgeschlagene Kriterienkatalog besitzt noch ein weiteres Manko - das hat Herr van Essen angesprochen -, nämlich die Verurteilungsprognose. Herr van Essen, ich teile Ihre Ansicht. Als ehemaliger Staatsanwalt wissen Sie noch besser als ich, dass die Frage, wie man am Beginn eines Ermittlungsverfahrens sagen will, was hinterher bei der Verurteilung herauskommt, im Grunde nicht zu beantworten ist. ({3}) Wir alle wissen, dass in der Strafprozessordnung zwischen dem Ermittlungs- und dem Hauptverfahren unterschieden wird. Erst am Ende der Hauptverhandlung kennt man alle Gesichtspunkte, die für die Strafzumessung entscheidend sind und die man gegeneinander abwägen muss. Das Motiv der Tat, die Art der Ausführung, der Schaden, ein mögliches Geständnis und nicht zuletzt die Person des Täters - alles muss berücksichtigt werden. Das können Sie natürlich nicht am Anfang eines Ermittlungsverfahrens, sondern erst am Ende. Was passiert eigentlich, wenn am Ende statt der erwarteten zwölf Monate nur elf Monate herauskommen? War die Abhöraktion dann von vornherein rechtswidrig, oder wie wollen wir mit solchen Fällen verfahren? ({4}) Kann man dann gegen diese Maßnahme bzw. das Urteil mit Rechtsbehelfen vorgehen? Das alles zeigt, dass wir diese Erwägungen entweder noch sehr viel gründlicher diskutieren müssen oder - noch besser - doch den Entwurf der Bundesregierung zugrunde legen sollten, der, wie gesagt, nächsten Monat vorgelegt werden wird. Ich meine, wir müssen mit dem Gesetz einen gerechten Ausgleich zwischen zwei widerstreitenden Interessen schaffen, nämlich zwischen dem Interesse des Einzelnen am Schutz vor übermäßigen Eingriffen des Staates in seine Freiheit und dem allgemeinen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung. Ich glaube nicht, dass man das dadurch erreicht, dass man einfach postuliert, die Zahl der Überwachungsmaßnahmen solle redu9370 ziert werden. Das ist schon deshalb verfehlt, weil es gar kein Übermaß an Telefonüberwachung gibt. ({5}) Über dieses Thema haben wir uns hier ja schon häufiger auseinandergesetzt. Sie alle kennen die Studie des Max-Planck-Instituts, in der es zu dem Schluss gekommen ist, dass die Telekommunikationsüberwachung - ich zitiere wörtlich ein wichtiges und unabdingbares Ermittlungsinstrument ist, das in der Praxis zielgerichtet und umsichtig Verwendung findet. In dieser Studie wird auch aufgezeigt, dass es einen Rückgang der Überwachungsdichte gibt; denn dass die Zahlen ansteigen, liegt nicht daran - das ist die übliche Erklärung -, dass mehr Personen überwacht werden, sondern schlicht daran, dass die einzelnen Personen mehrere Anschlüsse haben, die überwacht werden. ({6}) - Herr Ströbele, in der Studie wird das so dargelegt, und durch die Zahlen, die wir bei verschiedenen Kleinen und Großen Anfragen dazu vorgelegt haben, wird das auch belegt. Sie können jetzt sagen, dass das nicht stimmt. Wir müssten dann diesbezüglich vielleicht einmal eine genauere Exegese durchführen. Zumindest ist das der Kenntnisstand, den das Justizministerium diesem Hause seit mehreren Jahren unterbreitet. ({7}) Richtig ist allerdings - das ist schon mehrfach gesagt worden -, dass es bei der Benachrichtigungspraxis und bei der Kontrolle noch Defizite gibt. Wir wollen deshalb die Benachrichtigungspflichten in dem Gesetzentwurf ausdrücklich regeln, um das Defizit, das in dem Gutachten des Max-Planck-Instituts dargelegt wurde, zu beheben, und wir wollen den Richtervorbehalt stärken. Das brauchen wir aber bei allen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Deshalb noch einmal der Gedanke vom Anfang: Wir sollten zusehen, dass wir ein harmonisches Gesamtkonzept schaffen. Dazu werden wir, wie angekündigt, einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem ein fairer Kompromiss zwischen den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger an einem Nichteingriff in ihr Grundrecht und den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger an der Garantie ihrer Sicherheit vorgesehen sein wird. Dass die Telefonüberwachung eine der wirksamsten Ermittlungsmaßnahmen schlechthin ist, wissen wir. Deswegen können wir gar nicht auf sie verzichten. Wir müssen einfach nur zusehen, dass wir ihren Einsatz sachgerecht und verhältnismäßig regeln. In diesem Sinne - das verspreche ich Ihnen - bekommen Sie von uns einen Gesetzentwurf. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Montag. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Bundesministerin, da Sie mir nicht gestattet haben, eine Zwischenfrage zu stellen, will ich jetzt noch einmal kurz zu den Punkten Stellung nehmen, die Sie an unserem Entwurf kritisiert haben. Das Problem des Schutzes der Berufsgeheimnisträger können wir sicherlich im weiteren Verfahren diskutieren. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben unsere Formulierung offensichtlich missverstanden. Sie haben aber gesagt, eine Prognose darüber, ob eine Haftstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, sei zu Beginn oder im Laufe eines Ermittlungsverfahrens nicht oder nur sehr schwer möglich. Dazu kann ich nur sagen: Eine solche Möglichkeit sieht die geltende Strafprozessordnung für einen genauso schweren oder einen fast noch schwereren Grundrechtseingriff bereits vor, nämlich für Freiheitsentziehung. Nach § 112 a StPO besteht schon jetzt die Möglichkeit, einen Haftbefehl gegen einen Beschuldigten zu erlassen, wenn ein Richter die Verurteilungsprognose stellt, dass eine Haftstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. ({0}) Diese Prognose, Frau Ministerin, ist in der StPO schon verankert. Wir meinen, dass eine solche Prognose auch in den in Rede stehenden Fällen möglich sein wird. Ein weiterer Punkt: Es ist etwas polemisch, den von uns vorgeschlagenen neuen Ansatz sozusagen zur Hand zu nehmen und im Sinne einer Strichliste zu überlegen, welche Straftatbestände des Strafgesetzbuches abstrakt darunter fallen würden. Wahrscheinlich stimmt die von Ihnen genannte Zahl: Ihr großes und weises Haus hat die Strichliste sicherlich sorgfältig erstellt. Aber berücksichtigen Sie bitte, dass wir einen anderen Ansatz wählen, dass wir durch die Kriterien, die wir bestimmen, eine Einengung vornehmen, die weiter geht als die Vorschläge Ihres Hauses und die auch klarer ist, als es diese Vorschläge sind. Sie gehen ja sozusagen zu einer Mischung über; denn nach dem Referentenentwurf gibt es sowohl einen Straftatenkatalog als auch ein Kriterium, das sozusagen darüber hinausgeht. Im Entwurf steht, dass über das Kriterium des Straftatenkatalogs hinaus nur diejenigen Fälle infrage kommen, die „im Einzelfall schwer wiegen“. Wir wollen uns auf diese schwammige Formulierung „im Einzelfall schwer wiegen“ nicht verlassen. Wir wollen vielmehr, dass im Gesetz festgeschrieben wird, dass eine Straferwartungsprognose von mindestens einem Jahr getroffen werden muss. Diese Fälle wiegen nämlich wirklich schwer. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Zypries, möchten Sie reagieren?

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Montag, zum Thema Haftstrafe von mindestens einem Jahr: Mir liegt der Gesetzestext nicht vor, aber meiner Erinnerung nach geht es auch noch um weitere Kriterien. Es geht nicht nur um die Frage, ob eine Haftstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. ({0}) Aber es ist wenig sinnvoll, weiter in dieser Form zu diskutieren, wenn der Gesetzestext nicht vorliegt. ({1}) - Genau. - Herr van Essen sagt, Sie hätten Äpfel mit Birnen verglichen. Ich bin gerne gewillt, mit Ihnen über das andere von Ihnen angesprochene Thema zu diskutieren. Wir haben das in der letzten Legislaturperiode schon getan; das muss man ja nicht verheimlichen. Es geht in der Tat darum, eine vernünftige Regelung zu finden, da bin ich ganz bei Ihnen. Aber die Frage, ob das nach der Karlsruher Entscheidung zum niedersächsischen Polizeigesetz überhaupt noch zulässig ist, beantworte ich offenbar anders als Sie, nämlich sehr viel strenger. Es geht nämlich nicht nur um die Frage, was man gerne hätte, sondern darum, was verfassungsrechtlich zulässig ist. Darüber sollten wir noch einmal eine gesonderte Auseinandersetzung anhand des Gesetzestextes führen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt erteile ich der Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über ein Thema, das jede Bürgerin und jeden Bürger betreffen kann. Es sind nicht nur Schwerkriminelle, deren Telefone abgehört werden. 35 000 neue Anordnungen ergingen allein im Jahre 2005, und jährlich werden es leider mehr. Steigerungsraten von 600 Prozent in den letzten zehn Jahren sind wahrlich Spitzenleistungen. Aber es sind extrem zweifelhafte, Frau Ministerin. ({0}) Denn betroffen sind auch Menschen, die, ohne es zu wissen, mit Verdächtigen telefonieren oder von abgehörten Apparaten aus angerufen werden. Auf 1,5 Millionen Menschen hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht die Gesamtzahl der Betroffenen geschätzt. Das sind 1,5 Millionen Grundrechtseingriffe. Die Telefonüberwachung widerspricht klaren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Es hat im März 2004 den großen Lauschangriff, also das Abhören von Wohnungen, kassiert. Die im Urteil dargelegten Grundsätze gelten auch für die Telefonüberwachung. Aber sie werden leider nicht umgesetzt. Nun wird sogar der Ruf laut, Telefonüberwachungen auf bloßen Verdacht zu erlauben. Herr Schäuble plant sogar sogenannte Onlinedurchsuchungen. Was technisch geht, will die Regierung umsetzen, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. ({1}) Die Flut der Telefonüberwachungen schwemmt die rechtsstaatlichen Vorschriften regelrecht hinweg. Erstens. Die Überwachungsanträge müssen eigentlich richterlich überprüft werden. Das ist der entscheidende Punkt, Herr Gehb. Aber meistens wiederholen die Richter nur das, was ihnen der Staatsanwalt auf den Tisch gelegt hat. ({2}) - Hören Sie genau zu! - In einer Studie der Wissenschaftler Otto Backes und Christoph Gusy heißt es: Das Material der Staatsanwaltschaft belässt der Richter in 25 % der Fälle fehlerhaft, wie es ist, etwa jeden zehnten Antrag bringt er auf gesetzeskonformen Stand, oder aber er produziert selbst fehlerhafte Beschlüsse ({3}). ({4}) Herr Gehb, das heißt, die Anträge werden heutzutage nicht einmal ordentlich geprüft. Das wäre aber das Mindeste. Zweitens. Der Rechtsschutz wird übergangen. Wer abgehört wird, muss anschließend informiert werden, damit er oder sie sich vor Gericht wehren kann. Aber in zwei Drittel der Fälle werden diese Informationen nicht weitergegeben, wie Herr van Essen bereits dargelegt hat. Drittens. Die Überwachungen sind häufig unverhältnismäßig. Im Bereich der Kapitalverbrechen sind laut Max-Planck-Institut nur rund 30 Prozent der Maßnahmen erfolgreich. Wir, die Linke, meinen dazu: Es wird viel zu viel abgehört und fehlerhaft geprüft. Diese Entwicklung muss rückgängig gemacht werden. ({5}) Das Neue und das Entscheidende des Urteils zum großen Lauschangriff ist: Jede Bürgerin und jeder Bürger hat einen Anspruch darauf, dass er oder sie im Kernbereich der privaten Lebensgestaltung von staatlichen Maßnahmen verschont bleibt. Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre. Das gilt für die eigene Wohnung und natürlich auch für Telefongespräche mit den engsten Familienangehörigen. Das wollen Sie offensichtlich nicht wahrhaben. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht erklärt: „Die Privatsphäre hat privat zu bleiben“, dann muss das von diesem Haus respektiert und gesetzlich umgesetzt werden. Nun hat das Bundesverfassungsgericht nicht jede Abhörmaßnahme für unzulässig erklärt. Aber es hat Hürden aufgestellt. Diese werden dauernd unterlaufen. Eines ist klar: Wenn man schon den Grundrechtsschutz für Tatverdächtige aufhebt, dann muss sich das auf Einzelfälle beschränken, zum Beispiel auf Kapitalverbrechen, auf die Höchststrafen von fünf Jahren und mehr stehen. Die Praxis sieht mit über 42 000 Abhörgenehmigungen allein im Jahr 2005 leider ganz anders aus. So viele Kapitalverbrechen gibt es in Deutschland nun wirklich nicht. Wer Hanfpflanzen anbaut oder verkauft, wird heutzutage genauso abgehört wie der Waffenschieber, der am Massenmord verdient oder ihn vorbereitet. Hier muss das Gesetz gründlich entrümpelt werden. Meine Damen und Herren, nötig wäre endlich eine Gesamtreform; die Ministerin hat sie heute angekündigt. Ob Telefone oder Wanzen in Wohnungen: Der Schutz der Privatsphäre - das kann man nicht oft genug wiederholen - muss gewahrt bleiben. ({6}) - Das ist unsachlich. ({7}) Doch was die Grünen hier vorlegen, ist unserer Meinung nach eine bürgerrechtliche Kapitulationserklärung, Herr Montag. ({8}) Viele Punkte, die Sie in Ihrem Beitrag hier vorgetragen haben, teile ich voll, aber Ihre Lösung geht unseres Erachtens am Kern der Probleme vorbei. ({9}) Die Unverhältnismäßigkeiten bei den Überwachungsanordnungen bleiben bei Ihnen bestehen. Sie wollen auch künftig Straftaten abhören lassen, die definitiv keine Kapitalverbrechen sind. Das wird mit uns nicht gehen. Dagegen enthält der FDP-Antrag einige wichtige Punkte. Sie sagen zum Beispiel, man könne nicht immer neue Überwachungsmethoden austüfteln, ohne die alten wenigstens auf ihre Wirksamkeit überprüft zu haben. Dem stimmen wir voll zu. ({10}) Auch die Forderung nach einer gründlichen Auswertung der Überwachungen und nach einer Berichtspflicht der Bundesregierung teilen wir voll. Wenn es darum geht, Bürgerrechte wiederherzustellen, dann arbeiten wir daran gerne mit. Wie Herr van Essen sagte: Auch wir sind bereit, der Regierung Beine zu machen. Danke schön. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich beginnen mit zwei Zitaten, die vielleicht deutlich machen, in welchem Spannungsfeld wir uns heute bewegen: Wenn wir angegriffen und getötet werden, dann werdet ihr definitiv - mit Allahs Erlaubnis - angegriffen und getötet. Das war das erste Zitat. - Das zweite: Art. 10 GG … gewährleistet die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch einen privaten, vor der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Kommunikation und schützt damit zugleich die Würde des Menschen. Das erste Zitat ist entnommen aus der Ihnen vielleicht bekannten jüngsten Terrordrohung, die per Videobotschaft an uns alle in Deutschland gerichtet wurde. Das zweite Zitat ist ein Auszug aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - hier schon zitiert - vom Mai 2005 zur Telekommunikationsüberwachung. Diese beiden Zitate zeigen das Spannungsfeld auf, in dem wir uns bewegen: Der staatliche Schutz des Bürgers vor terroristischer Bedrohung ist das eine, der Schutz des Bürgers vor einer totalen staatlichen Telefonüberwachung des privaten Bereichs ist das andere. Nun haben wir bereits gehört - Herr Montag hat damit begonnen, Frau Jelpke hat das fortgesetzt -, wie die Statistiken zu bewerten sind. Frau Zypries hat die Zahlen anhand des Gutachtens bereits sehr stark relativiert. Wir sollten kein Zerrbild der derzeitigen Telefonüberwachungsstatistik malen, ({0}) sondern wir sollten die Wirklichkeit wiedergeben und sagen, was sich hinter den Zahlen verbirgt. ({1}) Weil wir heute am Beginn einer ganz grundsätzlichen Debatte stehen, bei der es nicht nur um dieses Gesetz, also um das Thema Telefonüberwachung, geht, sondern um eine Reform der gesamten Sicherheitsgesetze - im repressiven wie auch im präventiven Bereich -, und weil es darum geht, nicht nur verdeckte Ermittlungen am Telefon, sondern auch Online- und Wohnraumuntersuchungen neu zu überdenken, möchte ich etwas weiter ausholen. Natürlich muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wohnraumüberwachung von uns beachtet werden. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sie faktisch derzeit so gut wie keine Rolle mehr in Deutschland spielt. Wir müssen uns also fragen: Welchen Spielraum lässt uns das BundesverfassungsgeDr. Hans-Peter Uhl richt? Ist er durch die derzeit geltende Gesetzeslage voll ausgeschöpft oder kann man weiter gehen? - Wir werden als Verfassungsgeber Bundestag Verantwortung zeigen müssen, wenn es darum geht, Gesetze zum Schutz der Bürger vor Mord und Todschlag, vor terroristischer Bedrohung zu formulieren. Das ist verantwortungsvolles Handeln. Es wird natürlich auch der Schutz der Menschenrechte zu beachten sein, wie er vom Verfassungsgericht formuliert wurde. Aber verantwortungsvoll handelt nicht der, der aus alter Ängstlichkeit um seine Juristenehre vor Karlsruhe zurückschreckt und gar nichts ändern will, sondern verantwortungsvoll handelt der, der die Möglichkeiten auslotet und die Gesetze fortschreibt, um der aktuellen Bedrohung in Deutschland begegnen zu können. ({2}) Wir werden also ganz generell unsere Sicherheitsgesetze überprüfen müssen. Dabei dürfen wir weder Wohnraumüberwachung noch Telefonüberwachung noch Onlinedurchsuchungen zum Tabu erklären. Diese Maßnahmen können lebensrettende Funktion haben. Am 9. November 2003 fand in München die Grundsteinlegung der neuen Hauptsynagoge statt. Zu diesem Anlass trafen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der damalige Bundespräsident Rau, der damals noch lebende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Herr Spiegel, und viele andere mehr. Neonazis und Rechtsextremisten wollten an diesem Tag der Grundsteinlegung der neuen Hauptsynagoge die Gäste mit allen anwesenden Personen in die Luft sprengen. Es war der Wohnraum-überwachung und anderen Ermittlungstätigkeiten zu verdanken, dass bei den Neonazis im Vorfeld 1,7 Kilogramm TNT-Sprengstoff gefunden wurde und dieser Anschlag verhindert werden konnte. Ich sage damit: Die Maßnahmen, über die wir heute reden, können lebensrettende Funktion haben. ({3}) Bei dem Thema, um das es hier geht - Telekommunikationsüberwachung in der richtigen Dosis und im Spannungsfeld mit den Grundwerten, die wir natürlich beachten wollen -, werden wir einige technische Regelungen finden müssen. Eine ununterbrochene automatisierte Aufzeichnung der Gesprächsinhalte ist zur Sicherstellung des Schutzes des Kernbereichs privater Lebensführung und für die Erhaltung zulässiger Daten dringend notwendig. Nur in seltenen Fällen findet Telefonüberwachung live statt. Aber auch dann, wenn sie live stattfindet, sollten wir dafür sorgen, dass eine automatisierte Aufzeichnung erfolgt, und zwar schon deswegen, weil die Gespräche häufig in ausländischen Sprachen geführt werden und die Dolmetscher im Nachhinein bei der Übersetzung gemeinsam mit dem Richter differenzieren müssen, was Ausdruck des Kernbereichs privater Lebensführung ist und was für die jeweiligen Tätigkeiten des Staates, seien es präventive Maßnahmen, sei es repressive Strafermittlung, verwendet werden soll. Das heißt, wir wollen das Richterband zur Überprüfung der Verwertbarkeit haben. Die Kritik, die wir aus der Praxis hören - wir alle haben Gespräche mit Praktikern der Telefonüberwachung geführt -, ist überzeugend. Eine ausufernde Benachrichtigungspflicht sollte vermieden werden. Herr van Essen hat bereits gesagt, dass er zu wenig Benachrichtigung festgestellt hat. Ich meine, es kann auch zu viel sein. Wir müssen den Mittelweg finden. Völlig praxisfern wäre es, jeden einzelnen von Ermittlungsmaßnahmen Betroffenen zu benachrichtigen. Ich denke an den Geschäftsmann, der möglicherweise zu Unrecht verdächtigt wurde. Wollte man alle seine Gesprächspartner benachrichtigen, hätte dies eine massive geschäftsschädigende Wirkung. ({4}) - Es ist gut zu hören, dass auch Sie das nicht wollen. Benachrichtigt werden muss also derjenige, gegen den sich die Maßnahme richtet, und diejenigen, deren Daten erhoben und deren Gesprächsinhalte verwertet wurden. Das ist unsere Position. ({5}) - Herr Montag, ich bitte Sie, bei Ihren zukünftigen Äußerungen zu dem Thema, insbesondere wenn Sie sich auf Statistiken beziehen, die Worte der Justizministerin zur Kenntnis zu nehmen, den Vorwurf eines überproportionalen Anstiegs von Überwachungsmaßnahmen fallen zu lassen und zur Kenntnis zu nehmen, wie die Dinge wirklich liegen. Wir müssen Telekommunikationsüberwachung dort anwenden, wo sie erforderlich ist: bei schweren Straftaten wie organisierter Kriminalität, Mord, Totschlag, Rauschgiftdelikten, islamistischem Terrorismus. Wenn Sie die Statistik genau anschauen, erkennen Sie, dass 90 Prozent der Telefonüberwachung in genau diesen Bereichen stattfindet. ({6}) - Ja, natürlich. Es geht hauptsächlich auch um Drogendelikte. ({7}) Die veränderte Bedrohung unserer Welt durch globalisierte terroristische Gewalt kann nicht mit den herkömmlichen Mitteln bekämpft werden. Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsstrategie. Wir brauchen wirksame verdeckte Ermittlungsmaßnahmen, natürlich unter Beachtung des Schutzes unserer Individualgrundrechte. Das heißt, wir brauchen keinen Überwachungsstaat - die Linke könnte uns übrigens mehr darüber berichten, wie er funktioniert -, ({8}) sondern einen starken Staat, der seine Bürger vor Mord und Totschlag schützen kann. Danke schön. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele das Wort für das Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Uhl, Sie hätten über Terrorismusbekämpfung und den Einsatz von Telefonüberwachung in diesem Bereich nicht zu reden brauchen, weil unsere Positionen da überhaupt nicht auseinanderliegen. Das fällt sowohl nach geltendem Recht als auch nach dem Vorschlag der Bundesregierung und nach unserem Vorschlag selbstverständlich in den Bereich der Telefonüberwachung; darüber streitet sich niemand. Das ist das Erste. Zweitens. Frau Kollegin, Sie haben unseren Entwurf offenbar nicht gelesen. Sie fordern, dass die Telefonüberwachung auf die Verfolgung von Kapitaldelikten beschränkt wird. Genau das steht in unserem Gesetzentwurf: Telefonüberwachung darf immer nur dann stattfinden, wenn der Verdacht vorliegt, dass es sich um ein Verbrechen oder „um eine schwere, im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt“ - so steht es in unserem Gesetzentwurf -, in allen anderen Fällen nicht. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass wir Telefonüberwachung auf ganz schwere Fälle, die, was die Wertigkeit angeht, Kapitaldelikten gleichkommen, beschränken wollen. ({0}) - Doch, natürlich. Soll ich es Ihnen vorlesen? Ich zitiere: … im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt. Das steht in § 100 a Abs. 3 letzter Halbsatz unseres Gesetzentwurfs. ({1}) - Nein: … im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt. ({2}) Jetzt darf ich aber weiterreden. Die Frage, ob man die Anzahl der im Gesetz aufgeführten Straftatbestände erhöht - bisher sind es 100; Sie haben offenbar vor, diese Anzahl auf 105, 110 oder 120 zu erhöhen - oder ob man im Gesetz eine Generalklausel verankert, wie wir es in unserem Gesetzentwurf getan haben, war unter Rot-Grün zuletzt gar nicht mehr strittig. Ich erinnere mich daran, dass sowohl die Ministerin als auch der verehrte Kollege Stünker in den letzten Verhandlungen, die wir kurz vor Ende der rot-grünen Koalition geführt haben, heftig versucht haben, uns einzureden, dass es bei dieser Generalklausel bleiben soll. ({3}) Auch weil wir eingesehen haben, dass das die bessere Lösung ist, haben wir das in unseren Gesetzentwurf aufgenommen. ({4}) Jetzt sage ich Ihnen, warum dieser Ansatz so gut ist. Wenn im Gesetz Straftaten aufgezählt sind, gehen Staatsanwalt und Richter der Frage, ob sie Telefonüberwachung im Einzelfall zulassen, in der Form nach, dass sie schauen, ob die mögliche Straftat in einem der Paragrafen des Gesetzentwurfs aufgezählt ist. Ist das der Fall, dann ist das Rennen schon fast gelaufen: Staatsanwalt und Richter stellen fest, dass die mögliche Straftat unter diese Regelung fällt, weswegen Telefonüberwachung zuzulassen ist. - Das wollen wir in Zukunft verhindern. Wir wollen, dass sich der Staatsanwalt - zum Beispiel Herr van Essen, wenn er wieder Staatsanwalt ist - oder der Richter, bei dem er den Antrag stellt, ganz ernsthaft Gedanken darüber macht, wie schwer diese Straftat wiegt. Ist das eine Straftat, die schon nach den ihm bekannten äußeren Umständen eine Straftat ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft wird? Nur dann, nur in ganz schwerwiegenden Fällen soll eine Telefonüberwachung angeordnet werden können. Dann darf sie beantragt und angeordnet werden. Das ist der bessere Weg. Das führt dazu - davon gehen wir aus -, dass Telefonüberwachung in Zukunft nicht in etwa 50 000 Anordnungsfällen pro Jahr stattfindet, wie es derzeit der Fall ist, sondern dass die Zahl wesentlich gesenkt wird. Ich habe einmal gesagt: Ich wünsche mir, dass das mindestens um ein Drittel heruntergeht. Der zweite wesentliche Punkt ist für uns - den will ich hier noch hinzufügen -: Wir haben eine Reihe von Verfahrenssicherungen eingebaut, die sicherstellen, dass das in Zukunft auch eingehalten wird. Wir verlangen von den Richtern, dass sie ihre Entscheidungen, das so zu subsumieren, in jedem einzelnen Fall ganz konkret begründen. Wir erwarten von den Staatsanwälten, die das dann durch ihre Ermittlungsbeamten anwenden lassen, dass sie die Richter auch darüber unterrichten, was aus der Telefonüberwachung geworden ist, damit die anordnenden Richter später gegebenenfalls sagen können: Oh, da sind wir zu weit gegangen. Da haben wir uns zu viel einreden lassen. Das werden wir in Zukunft anders machen. Wir verlangen ganz konsequent, anders als der Kollege Uhl, dass alle, die als Anschlussinhaber davon betroffen gewesen sind, benachrichtigt werden. Die 1,5 Millionen, die möglicherweise unschuldig in diese Maßnahme hineingekommen sind, die überwacht worden sind, deren Lebensbeichte festgehalten worden ist, bei denen am Telefon überwacht worden ist, wenn sie ihr Herz ausgeschüttet haben, können nicht benachrichtigt werden, weil das technisch kaum durchführbar ist. Aber alle, gegen die sich die Maßnahmen konkret gerichtet haben, also die Anschlussinhaber, sollen benachrichtigt werden - ohne Ausnahme. Wenn das Gericht das aus objektiven Gründen nicht gleich für tunlich oder für nicht zu rechtfertigen hält, dann soll das höchste jeweilige Landesgericht, also das Oberlandesgericht, darüber entscheiden, ob ein so seltener Fall vorliegt, dass eine Überwachungsmaßnahme über 18 Monate hinaus nicht mitgeteilt wird. ({5}) Davon erhoffen wir uns eine wesentliche Senkung der Anzahl der Telefonüberwachungen. Man kann stolz darauf sein, dass man in einzelnen Bereichen Weltmeister ist - das ist jetzt mein letzter Satz -, aber es gibt Weltmeistertitel, die ich der deutschen Bevölkerung nicht weiter zumuten möchte. Dass wir Weltmeister im Abhören sind, muss nicht sein; von diesem Titel sollten wir uns verabschieden. Wir sollten die Zahl hier deutlich senken. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt erhält Klaus Uwe Benneter das Wort für die SPD-Fraktion.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen haben hier zu Recht einen Missstand aufgegriffen. Der ist aber schon lange in der Diskussion. Die FDP rennt mit ihrem Antrag offene Scheunentore ein; das wissen auch Sie, Herr van Essen. Zu erkennen ist in Ihrem Entwurf - ich erkenne das jedenfalls - die gemeinsame rot-grüne Handschrift ({0}) - am Freitag, eine Woche vor Ostern, lassen wir die Sehnsüchte mal zurückstehen -, wenn es darum geht, den Rechtsschutz bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen zu harmonisieren und zu stärken, die Regelungen zur Verwendung von aus solchen Maßnahmen erlangten personenbezogenen Daten zu harmonisieren und zu ergänzen und die besondere Schutzwürdigkeit von Berufsgeheimnisträgern hervorzuheben. Das sind gemeinsame rot-grüne Anliegen gewesen. Ich denke, dass wir uns auch hier und heute noch dazu bekennen können. Richtig ist: Es gibt einen Trend zur Ausweitung, einen Trend zur Zunahme der Zahl solcher Ermittlungsmaßnahmen. Aber, Herr Kollege Ströbele, das hat nichts mit irgendwelchen Weltmeisterschaften zu tun. Wir sind hier nicht Weltmeister. Die Anzahl der Anschlüsse - nicht die Anzahl der Anschlussinhaber - hat sich merklich erhöht. Die Zunahme bei den Telekommunikationsüberwachungen betrifft insbesondere den Mobilfunk-, den Internet- und den E-Mail-Bereich. Das gab es früher nicht. Wenn Sie jetzt nur auf das Jahr 2005 schauen, dann ist das, denke ich, zu kurz gegriffen. Die Möglichkeiten im Zuge neuer Kommunikationsmittel sind immens gestiegen, logischerweise auch bei den Kriminellen. Da wollen staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Ermittler nicht hinterherhinken und richten ihre Bekämpfungsstrategien entsprechend aus. Zu verzeichnen ist auch eine Zunahme der Zahl von Betäubungsmitteldelikten. Auch das korrespondiert mit einer entsprechenden Zunahme von verdeckten Abhörmaßnahmen. Zu Recht weisen die Grünen in ihrem Entwurf darauf hin, dass jede solche Maßnahme einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechtsbereiche darstellen kann, nicht nur in das Post- und Fernmeldegeheimnis, sondern auch in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung; auch die allgemeinen Persönlichkeitsrechte sind regelmäßig betroffen. Sie wissen: Wir haben schon längst vor, ein stimmiges Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmethoden zu schaffen. Es hätte also Ihres Entwurfs gar nicht bedurft. ({1}) - Sie haben doch gehört: Er soll am 18. April kommen. So lange werden Sie auch noch abwarten können. ({2}) Keiner soll gehindert werden, vernünftige Vorschläge zu machen. Was Sie allerdings hier abgeliefert haben, berücksichtigt weder den Diskussionsstand in der Wissenschaft noch die Bedürfnisse in der Praxis noch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. ({3}) Das, was Sie vorschlagen, ist zu einfach und zu opportun, wenn nicht gar zu opportunistisch: Sie wollen sich zum Sprachrohr der Journalisten machen. Gerade in der „Cicero“-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht deutlich hervorgehoben, dass Journalisten keinen absoluten Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung für sich beanspruchen können. ({4}) Das Bundesverfassungsgericht sagt ausdrücklich: Die Bestimmungen der Strafprozessordnung mit ihrer prinzipiellen Verpflichtung für jeden Staatsbürger, zur Wahrheitsfindung im Strafverfahren beizutragen und die im Gesetz vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen zu dulden, sind … als allgemeine Gesetze anerkannt … Sie gelten auch für Journalisten. Deshalb bleibt es dabei: Die Verfassung gebietet es nicht, Journalisten generell von strafprozessualen Maßnahmen auszunehmen … ({5}) Insofern hat die Bundesministerin recht: Wir haben hier nicht das unterste Level gewählt, sondern das, was in diesem Bereich zulässig ist. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner „Cicero“-Entscheidung klargestellt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, wünschen Sie sich eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Immer.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Benneter, stimmen Sie mir zu, dass Journalisten schon nach geltendem Recht durchaus anders behandelt werden als die Normalbürgerinnen und -bürger? Das geschieht aus gutem Grund - nicht weil das so nette Leute sind -: Es hängt mit ihrer Arbeit zusammen; die Bevölkerung muss darauf vertrauen können, dass die Vertraulichkeit der an die Journalisten gegebenen Informationen gewahrt bleibt. Die Journalisten haben zum Beispiel ein Zeugnisverweigerungsrecht, das weit über das hinausgeht, was für die Bürgerinnen und Bürger normalerweise gilt. Wir wollen es lediglich in der Konsequenz auf die Telefonüberwachung ausdehnen. Das Bundesverfassungsgericht sagt keineswegs, das dürfe oder solle nicht sein; es hat lediglich festgestellt, das müsse von Verfassungs wegen nicht unbedingt sein.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was Sie sagen, ist richtig. Ich habe nichts anderes behauptet. Das Zeugnisverweigerungsrecht, das die Journalisten haben, soll auch in Zukunft geschützt bleiben, natürlich auch in diesem Bereich, bei der Telekommunikationsüberwachung; das ist klar. Hier ging es um die Frage, ob es einen absoluten Schutz für Journalisten geben soll. Einen solchen sehen Sie in Ihrem Gesetzentwurf vor. ({0}) - Ich habe es als opportunistisch dargestellt, wie Sie sich den Journalisten an den Bauch werfen. ({1}) Sie wissen: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass nur eine besondere Auswahl von Straftaten es zulässt, eine Telekommunikationsüberwachung zu veranlassen, und deshalb entsprechende gesetzgeberische Konsequenzen gefordert. Das heißt, das Anliegen, das Sie hatten und das wir ursprünglich geteilt haben, ({2}) kann aufgrund der neuesten Verfassungsrechtsprechung so nicht mehr verfolgt werden. ({3}) Sie müssen die neuesten Erkenntnisse mit berücksichtigen. Bei der Auswahl der Straftaten darf nicht auf eine abstrakte Strafandrohung abgestellt werden, sondern muss das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter im Vordergrund stehen. Auch im Hinblick auf das nicht vorhersehbare Risiko, dass bei einer Überwachung Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wird, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass dieses Risiko nur bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsgutes hinzunehmen ist. Insofern müssen die Rechtsgüter entsprechend normiert werden. ({4}) - Nein, eben nicht. Unter Berücksichtigung dieser Maßgabe ist eine vorrangig an der Höhe der Strafandrohung orientierte abstrakte Bestimmung von materiellen Kriterien, wie von Ihnen vorgesehen, im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklich. Nichts anderes hat Ihnen die Justizministerin hier vorgehalten. Sie hat beim Nachzählen sogar festgestellt, dass Sie - das war uns damals nicht bekannt - die Telekommunikationsüberwachung auf 320 zusätzliche Straftatbestände des Strafgesetzbuches und des Nebenstrafrechts ausweiten wollen. Diese Überwachungswürdigkeit erscheint doch wirklich mehr als fragwürdig. Ein Eingrenzungskriterium ist für Sie die Verurteilungsprognose. Herr Kollege van Essen hat schon darauf hingewiesen, dass das kein geeignetes Eingrenzungskriterium sein kann, gerade weil zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens, wenn noch alles offen ist, die Abhörmaßnahmen unter Umständen mit dazu dienen sollen, die Unschuld eines Betroffenen nachzuweisen, ({5}) um das Verfahren dann sehr schnell einstellen zu können. Das hindert uns, die Verurteilungsprognose als Eingrenzungskriterium zu übernehmen. Wie gesagt, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf in der Pipeline, wie man so schön sagt. ({6}) - Für den 18. April ist die Aufhebung der „Verstopfung“ angekündigt. Spätestens dann wird sich das Kabinett damit befassen. In diesem Referentenentwurf wird dem ganz konkreten Änderungsbedarf Rechnung getragen, der sich aus den technologischen Entwicklungen, den letzten Verfassungsgerichtsentscheidungen, den Schwierigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, den Vorgaben des Übereinkommens des Europarates über die Computerkriminalität und der EU-Richtlinie über die Speicherung von Kommunikationsdienstedaten ergibt. Herr Montag, wenn Sie diesen Entwurf sehen, werden Sie sich bei Herrn Gehb entschuldigen müssen. ({7}) Das ist keine untere Messlatte, sondern exakt das, was uns gerade die letzten Verfassungsgerichtsentscheidungen vorgegeben haben. Wir werden das Recht der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen einer umfassenden Überarbeitung unterziehen. Unter Wahrung der bisherigen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und der grundrechtssichernden Ausgestaltung werden wir die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen harmonisieren und den ganzen Regelungskomplex übersichtlicher und rechtsstaatlichen Geboten entsprechend gestalten, zugleich aber auch den praktischen Erfordernissen Rechnung tragen. Auch den neuesten technischen Entwicklungen werden wir gerecht werden. Gerade bei der Bekämpfung von schwer ermittelbarer Kriminalität sowie Transaktions- und Wirtschaftskriminalität und insbesondere bei Straftaten, die unter Nutzung moderner Kommunikationstechnologien begangen werden, sind die verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ein wirksames Instrument, das wir übersichtlicher und normenklarer gestalten werden. Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Durch die Kennzeichnung der durch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen erlangten Erkenntnisse wird sichergestellt, dass die für die eingriffsintensiven verdeckten Ermittlungsmaßnahmen geltenden Beschränkungen beachtet werden. Auch das erscheint uns ganz wichtig. Was die nachträgliche Benachrichtigung angeht: Auch da werden Sie in diesem Entwurf all das wieder finden, was wir schon unter Rot-Grün haben wollten und was wir jetzt in die Praxis umsetzen. Wichtig ist auch: Die Umwidmung der durch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen erlangten Daten zur Verwendung als Beweismittel in anderen Strafverfahren wird durch restriktive Normen erschwert. Wie gesagt, der Katalog der Anlassstraftaten wird systematisch neu geordnet, inhaltlich überarbeitet und dann im Einzelfall auf schwere Straftaten beschränkt. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung wird entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch bei der Telekommunikationsüberwachung gewährleistet. Erst recht gilt dies, wenn sich diese Überwachung faktisch als eine Onlineüberwachung herausstellen sollte. Auch da gilt es, den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen. Genereller Vorrang der schutzwürdigen Interessen zeugnisverweigerungsberechtiger Personen, etwa im Falle von Pressemitarbeitern, gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse lässt sich, wie ich schon dargestellt habe, verfassungsrechtlich nicht begründen. Diese Zeugnisverweigerungsrechte von Presseangehörigen haben keinen unmittelbaren Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung. Deshalb geht es hier nur um die Funktionsfähigkeit dieser Institutionen. Die Presse ist ein wichtiges Organ, wenn es darum geht, zu informieren, zu kommunizieren und damit zur Stärkung der Demokratie beizutragen. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist bei der Schaffung von Regelungen, die die Ermittlung des wahren Sachverhalts gefährden und damit zu ungerechten, weil materiell unrichtigen Verfahrensergebnissen führen können - das wäre der Fall, wenn den Pressemitarbeitern ein umfassender Schutz gewährleistet würde -, besondere Zurückhaltung geboten. Eine wirksame Strafverfolgung im Interesse einer umfassenden Wahrheitsermittlung und die Aufklärung von schweren Straftaten sind auch ein ganz wesentlicher Auftrag des Rechtsstaates. Nicht nur die Rechte von Pressemitarbeitern zu wahren, sondern schwere Straftaten aufzuklären, ist dem Gesetzgeber aufgegeben. Er hat daher bei der Prüfung der Gewährung eines absoluten Vorrangs bestimmter Interessen gegenüber anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege Rechnung zu tragen. ({8}) Herr Kollege Montag, Sie müssen auch noch folgenden Punkt berücksichtigen. Mit Regelungen, die die Wahrheitsermittlung beschränken, werden nicht nur die Möglichkeiten für die Strafermittlungsbehörden, sondern natürlich auch die Möglichkeiten für die Betroffenen selbst eingeschränkt, ihre Unschuld zu beweisen und einen gegen sie erhobenen Verdacht auszuräumen. Das können solche Maßnahmen ebenfalls bewirken. Insofern müssten auch Sie ein Interesse daran haben, solche unrichtigen Entscheidungen zu verhindern. ({9}) Eine Neuregelung wird sich nicht auf den Bereich der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen beschränken. Sie gilt grundsätzlich bei allen - auch bei den offenen - Ermittlungsmaßnahmen. Eine Differenzierung ist hier nicht sinnvoll, denn tragfähige Gründe sind dafür nicht erkennbar. Herr Montag, ich habe Ihre Fleißarbeit bewundert. ({10}) Nehmen Sie es nicht persönlich: Mit unserem Gesetzentwurf wird Ihre Arbeit zur Makulatur und damit bedauerlicherweise überflüssig. ({11}) Wir könnten in unseren Gesetzentwurf höchstens aufnehmen, dass es zwar eine Alternative gibt, die aber nicht brauchbar ist. Frohe Ostern. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

So weit sind wir noch nicht. Jetzt spricht erst die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Überwachung von Telefongesprächen ist immer ein tiefer Eingriff in verbriefte Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont. Es hat mehrfach gerügt, dass diese Praxis grundgesetzwidrig ist - so weit, so übersichtlich, so klar. Heute liegen zwei Oppositionsanträge zur Lösung dieses Problems auf dem Tisch. Über Mängel wurde hier schon gesprochen. Aber immerhin haben sie zumindest eines bewirkt: Sie haben die Regierungskoalition beflügelt, nun die Hausaufgaben zu machen und einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Allerdings muss ich auch sagen: Ich bin gespannt, wie die Bundesministerin der Justiz - die heute eine „harmonische Regelung“ angekündigt hat - ihre sehr vernünftigen Vorstellungen, die sie heute hier vorgetragen hat, mit den Vorstellungen der Innenminister und den Dingen, die Herr Uhl heute in die Debatte geworfen hat, harmonisieren will. Stichwort: Computer-/Onlineüberwachung. Sie wollen heimlich ausspähen, was auf privaten Computern geschieht, was dort gespeichert und dort zu finden ist. Wenn das Reizwort „Big Brother“ an irgendeiner Stelle zutrifft, dann genau da. ({0}) Natürlich geht es wie immer um den Kampf gegen Kriminelle und Terroristen. Natürlich wiegelt der BKAChef Ziercke ab, der große Hackerangriff von Staats wegen betreffe nur wenige. Aber das ist ein Irrtum. Er betrifft alle, und er stellt den Rechtsstaat auf den Kopf; denn jede und jeder gilt als potenziell verdächtig. Derselbe Geist beseelt übrigens die sogenannte Antiterrordatei, die heute von Bundesinnenminister Schäuble offiziell in Betrieb genommen wurde. ({1}) Sie bewirkt, dass die Geheimdienste ermächtigt und die Persönlichkeitsrechte erniedrigt werden. Das ist ihr Wesen. Genauso ist sie auch konstruiert. Hinzu kommt: Wer einmal in Verdacht gerät und in die Antiterrordatei eingespeist wird - sei es noch so unberechtigt -, läuft Gefahr, zeitlebens und grenzenlos als potenzieller Terrorist am Pranger zu stehen. Auch das hat weder etwas mit dem Rechtsstaat noch mit dem verbrieften Datenschutz zu tun - im Gegenteil. Damit komme ich zu dem eigentlichen Problem. Die Bundesrepublik driftet zu einer Gesellschaft ab, in der Bürgerrechte immer weniger gelten, der Staat möglichst alles wissen will und Bürgerinnen und Bürger als potenzielles Risiko gelten. Deshalb sage ich den Mitgliedern der Koalition: Sie unterhalten zwar ein Bundesamt für Verfassungsschutz. Aber Sie greifen gleichzeitig die Verfassung an und verkehren damit das Grundgesetz in sein Gegenteil. Dagegen bin ich, und dagegen ist auch die Fraktion Die Linke. ({2}) Sie werden sehen: Wir werden Sie in diesem Gesetzgebungsverfahren sehr aufmerksam begleiten; denn wir schützen die Verfassung vor Ihren Angriffen. Wir haben nämlich etwas dazugelernt. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt erteile ich zum Abschluss der Debatte das Wort dem Kollegen Ralf Göbel für die CDU/CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte habe ich mich immer wieder gefragt, warum mir, wenn ich zu den Kollegen der Linksfraktion schaue, der oscarprämierte Film „Das Leben der Anderen“ einfällt. Wenn ich jetzt höre, in welcher Art und Weise die Kollegin Pau, die Kollegin Jelpke und gestern die Kollegin Dağdelen den bundesdeutschen Rechtsstaat diffamieren, ({0}) dann frage ich mich, ob das in diesem parlamentarischen Raum, in dem wir uns befinden, angemessen ist. ({1}) Die Kollegin Dağdelen hat gestern in der Debatte zur Abschiebehaft davon gesprochen, dass es einen staatlichen Rassismus deutscher Behörden gebe. Ich halte das für eine unerträgliche Bemerkung. Ich finde es unerträglich, dass auch jetzt der Eindruck suggeriert wird, als ob die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden nichts Besseres zu tun hätten, als täglich die Telefongespräche unbescholtener Bürger abzuhören und in ihren Wohnungen zu lauschen. ({2}) Es ist unerträglich, dass Sie hier einen solchen Zustand beschreiben. Diesen Zustand gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Wir sind im Gegensatz zu dem, was Sie 40 Jahre lang in der DDR jeden Tag gemacht haben, ein demokratischer Rechtsstaat und achten die Grundrechte. ({3}) Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden sind nun einmal immer öfter darauf angewiesen, heimliche Aufnahmen anzufertigen. Das hängt mit den Täter- und Tatstrukturen und der voranschreitenden technischen Entwicklung zusammen. ({4}) - Ich komme noch darauf zurück. - Deswegen ist es wichtig, dass wir unter der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jetzt Gesetze auf den Weg bringen, die auf der einen Seite die polizeilichen Ermittlungen im Bereich der schweren Kriminalität und der Gefahrenabwehr erleichtern, die aber auf der anderen Seite nicht überziehen, sondern das Recht des Einzelnen auf seine Privatsphäre hinreichend achten. Dabei bewegen wir uns auf einem schmalen Grat. Dementsprechend streitig führen wir die Debatte und diskutieren verschiedene Lösungsansätze, zu denen die Linke allerdings noch keinen Beitrag geleistet hat. ({5}) Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen auf Hinweise aus verschiedensten Informationsquellen angewiesen. Die modernen Kommunikationsmittel werden selbstverständlich von den Tätern genutzt. Durch Handys und das Internet hat sich die Kommunikation verändert: Sie ist schneller und unübersichtlicher geworden. In der virtuellen Welt sind neue Kriminalitätsstandorte entstanden, deren Auswirkungen aber sehr intensiv in die reale Welt hineinreichen. Durch offene Ermittlungsmaßnahmen allein kann das Ziel der Aufklärung von Straftaten und der Gefahrenabwehr nicht mehr erreicht werden. Deswegen sind die Möglichkeiten heimlicher Ermittlungen zu nutzen. Bei den Ermittlungsinstrumenten können wir nach meiner festen Auffassung nicht mit dem Hinweis auf die Kosten-Nutzen-Rechnung argumentieren. Wir können nicht auf ein Ermittlungsinstrument verzichten, weil der Nutzen nicht von vornherein ersichtlich oder quantifizierbar ist. Herr van Essen hat schon darauf hingewiesen: Die Ermittlungen führen nicht immer zur Aufklärung einer konkreten Straftat; vielmehr werden dabei häufig Strukturen aufgedeckt. Dafür sind gelegentlich auch heimliche Überwachungsmaßnahmen notwendig, um feststellen zu können, wie Tätergruppen organisiert sind, wie sie arbeiten und sich bewegen und welche Straftaten geplant sind. Bei der heimlichen Überwachung nach der Strafprozessordnung muss ein konkreter Tatverdacht bestehen. Ob dies der Fall ist, entscheiden auf Antrag der Staatsanwaltschaft die zuständigen Gerichte. Ich glaube nicht, dass mit diesem Instrument rechtsstaatswidrig umgegangen wird. Auch wenn Herr van Essen darauf hinweist, dass der eine oder andere Antrag vielleicht einfach so von einem Richter unterzeichnet wird, unterstelle ich, dass die Richter ihr Amt ordnungsgemäß wahrnehmen und einen Antrag nur dann unterschreiben, wenn sie der Auffassung sind, dass die Maßnahme gerechtfertigt ist. ({6}) Wenn es tatsächlich das Problem gibt, dass bei der bestehenden Gesetzeslage nicht alle Richter ordnungsgemäß vorgehen, dann stellt sich die Frage, ob nicht weniger eine Gesetzesänderung als eine Verhaltensänderung derjenigen notwendig ist, die diese Entscheidung zu treffen haben. Nicht alle notwendigen Änderungen müssen gesetzlich geregelt werden. ({7}) Neben den zwingenden rechtlichen Voraussetzungen will ich an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlichen, wie sich eine Telekommunikationsüberwachung in einer Behörde darstellt, weil dadurch vielleicht transparent wird, dass die Polizeibehörden nicht willkürlich mit diesem Instrument umgehen. Aus meiner Zeit im Polizeipräsidium kann ich berichten, dass wir eine Telefonüberwachung geschaltet haben, bei der mehrere Telefonanschlüsse zu überwachen waren. Damit war ein erheblicher Personalaufwand verbunden. ({8}) Wir mussten rund um die Uhr über 20 Beamte einsetzen. Hinzu kamen Dolmetscher, weil die Telekommunikation in einer Fremdsprache erfolgte. Insofern ist ein erheblicher personeller, materieller und finanzieller Aufwand zu leisten. Manche Telefonüberwachungsmaßnahme unterbleibt allein deswegen, weil den Behörden die personellen und finanziellen Kapazitäten fehlen. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. Es handelt sich nicht um ein Instrument, das jeder x-beliebige Polizeibeamte im Streifendienst nutzen kann; es ist vielmehr eine hochkomplexe Überwachungsmaßnahme, die einen erheblichen Personaleinsatz erfordert. ({9}) - Sie ist auch teuer, wie Herr van Essen zutreffend feststellt. Wann der Kernbereich verletzt ist, was nach dem Abschalten passiert und wie man erfährt, dass wieder einzuschalten ist, hat mein Kollege Hans-Peter Uhl bereits erläutert. Ich finde, der Vorschlag des Richterbundes ist geeignet, um zum einen der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbereichsschutz und zum anderen den Bedürfnissen der Praxis, die einen effektiven Einsatz des Ermittlungsinstrumentes wünscht, Rechnung zu tragen. Im Zusammenhang mit den stark angestiegenen Zahlen bitte ich, Folgendes zu bedenken: Die Täter benutzen zunehmend nicht nur ein Handy mit nur einer Karte, sondern viele Täter benutzen zehn, 15 oder 20 verschiedene Karten in einem Handy, und sie benutzen ferner das Handy des Nachbarn, des Untermieters oder von wem auch immer. Auch das ist ein Grund für die steigenden Zahlen. ({10}) Die Überwachung wird schließlich nicht auf einen Täter abgestellt; vielmehr steckt hinter jeder benutzten Karte ein separater Anschluss, für den jeweils eine Überwachungsmaßnahme angeordnet werden muss. Auch das erklärt, warum die Anzahl der Kommunikationsüberwachungen steigt. ({11}) Im Übrigen müssen wir davon ausgehen, dass das Gegenüber der Polizei sehr genau weiß, welche rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten die staatlichen Sicherheitsbehörden haben, und sich immer darauf einstellen wird. Wir werden immer das Hase-und-Igel-Spiel haben. In diesem Zusammenhang ist darüber nachzudenken, ob wir das Modell der Schweiz übernehmen. Die Schweiz stellt die Überwachung nicht auf die Anschlüsse, sondern auf die Geräte ab. Dadurch ist ein Wechsel für die Täter weniger leicht. Es ist zu fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, die Überwachung auf die Gerätenummer abzustellen. Die Ermittler hätten dann bessere Möglichkeiten, und das würde insgesamt zu einer Erleichterung der Aufklärungsmaßnahmen führen. Ich will zum Schluss noch einige Worte zu den Benachrichtigungspflichten sagen. Ich bin sehr dafür, dass wir die Regelung zu den Benachrichtigungspflichten überarbeiten. ({12}) Das ist überhaupt keine Frage. Das muss aber mit Vernunft und Augenmaß geschehen. Es darf nicht so sein, dass Menschen, die abgehört worden sind, am Ende durch die Benachrichtigungspflicht wirtschaftliche Schäden erleiden. Das würde das Ganze ins Absurde verkehren. An die Adresse der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen muss ich sagen: Ich habe Ihren Entwurf sehr gründlich gelesen, auch was die Benachrichtigungspflichten betrifft. ({13}) Was der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in diesem Verfahren zu suchen haben soll, weiß ich nicht. Ich halte es gelinde gesagt für überflüssig, dass er vor einer Entscheidung des Oberlandesgerichts gehört werden soll. ({14}) In struktureller Hinsicht ist es im Übrigen falsch; denn wenn eine Landesbehörde ermittelt, wäre konsequenterweise der Landesbeauftragte für den Datenschutz einzubeziehen. ({15}) Abschließend möchte ich feststellen, dass die Große Koalition die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zügig umsetzen wird. Die Frau Bundesministerin hat angekündigt, dass der Kabinettsentwurf zur StPOReform am 18. April vorgelegt wird. Wir sind dabei, für die Sicherheitsbehörden im präventiven Bereich eine Regelung zu finden, die den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts und dem Schutzauftrag des Staates gegenüber seinen Bürgern gerecht wird. Herzlichen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3827 und 16/1421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Engpässe beim grenzüberschreitenden Stromhandel abbauen - Wettbewerb auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren - Drucksache 16/3346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion. ({1})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir haben heute einen weiteren Antrag der FDP-Bundestagsfraktion vor uns liegen, der die Stärkung des Wettbewerbs auf dem deutschen Energiemarkt zum Thema hat. In den vergangenen Wochen stand die Entflechtung von Netz und Produktion im Zentrum der Debatte. Ich möchte heute ausdrücklich darauf verweisen, dass es weitere Wege gibt, um auf diesem Gebiet zu mehr Wettbewerb zu gelangen; denn immerhin sind 90 Prozent der Grundlastkraftwerke in den Händen der großen vier Konzerne. Es ist wichtig, für einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen. Die Bundesnetzagentur ist auf dem richtigen Weg. Wir warten jetzt auf die Kraftwerksanschlussverordnung und eine dann hoffentlich pünktliche Anreizregulierung. Wir haben festgestellt, dass ein wichtiges Hemmnis auf dem Weg zu mehr Wettbewerb auf dem deutschen und europäischen Strommarkt immer wieder das Problem war und ist, dass sich nationale Märkte abgeschottet haben, und zwar durch unzureichende Übertragungskapazitäten. Es fehlt an Kapazität, damit neue Unternehmen überhaupt auf den Markt kommen können. Von daher ist es wichtig, uns auf die Grenzkuppelstellen zu konzentrieren. Wir wollen mit dem heute vorliegenden Antrag den Handel mit Strom auf diesen liberalisierten Märkten ankurbeln. Wir können es nur durch einen massiven Ausbau der Grenzkuppelstellen gestalten. Das wurde bislang vernachlässigt. Wir fordern die Bundesregierung gerade während der EU-Ratspräsidentschaft auf, die diesbezügliche Verordnung zu ändern. Denn gegenwärtig ist es so, dass die entsprechende Verordnung es den großen Netzbetreibern erlaubt, die Einnahmen aus dem Engpassmanagement für Preissenkungen der Netzentgelte weiterzugeben. ({0}) Das hört sich für die Verbraucher zunächst einmal positiv an. Es ist aber gar nicht positiv, weil die Kapazität nicht weiter erhöht wird, Marktabschottung weiter erfolgt und der Ausbau der Netze vernachlässigt wird. Ich nenne Ihnen eine Zahl: In den Jahren 2004 und 2005 hat es Einnahmen aus dem Engpassmanagement im Umfang von 334 Millionen Euro gegeben; vorher lagen sie bei 200 Millionen Euro. In einem Zeitraum von nur drei Jahren, von 2002 bis 2005, wurden lediglich 25 Millionen Euro in den Flaschenhals Grenzkuppelstellen reinvestiert. Das ist einfach zu wenig. ({1}) Deshalb schlägt die FDP vor, dass Einnahmen aus dem Engpassmanagement verpflichtend in den Ausbau dieser Grenzkuppelstellen investiert werden sollen. Sie können sich vorstellen, dass die Unternehmen auf dem europäischen Markt, aber insbesondere die auf dem deutschen Markt wenig Interesse daran haben, sich weitere Konkurrenz ins Land zu holen. Deshalb ist es an uns, den Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Wir müssen hier agieren. ({2}) Gleichzeitig müssen Bundesregierung, Übertragungsnetzbetreiber und die Regulierungsbehörden sich für eine Änderung des Engpassmanagements an den deutschen Grenzen starkmachen. Sachgerecht wäre es, eine Abkehr vom expliziten hin zum impliziten Auktionieren bzw. zu Hybridverfahren an der Börse herbeiführen. Das heißt, ein Kauf von Strommengen an einer Strombörse ist mit den entsprechenden grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten zu koppeln, damit der Fluss entsprechend geregelt werden kann. Es gilt also, Hürden abzubauen, mehr Wettbewerb herzustellen und den Fokus nicht ausschließlich, wie in der Vergangenheit geschehen, auf die eigentumsrechtliche Entflechtung zu lenken. Wir sagen ganz ausdrücklich, dass das, was bisher durch die Regulierung der Netze erreicht worden ist, erheblich ist: Die Netzentgelte wurden im Umfang von 2,8 Milliarden Euro gesenkt, im Strombereich waren es 2 Milliarden Euro, im Gasbereich 800 Millionen Euro. Das ist ein richtiger Schritt. Weitere müssen folgen. Umzusetzen ist auch das sogenannte rechtliche Unbundling; viele Unternehmen haben das schon getan. Die rechtliche Entflechtung ist geschehen bzw. sie muss bis zum Sommer stattfinden. Wir haben, was die Schaffung von mehr Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt betrifft, noch einen langen Weg vor uns. Mit dem heutigen Antrag, der zu diesem Thema der einzige ist, der von einer Bundestagsfraktion ins Parlament eingebracht wurde, gehen wir einen wichtigen Schritt, nämlich den des Ausbaus der Interkonnektoren zur Schaffung von mehr Wettbewerb auf dem europäischen Energiemarkt. Ich bitte Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen Kollegen und Kolleginnen, diesem Antrag zu gegebener Zeit zuzustimmen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die Unionsfraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist keine Frage: Die Strompreise in der Bundesrepublik Deutschland sind eindeutig zu hoch. Die deutschen Betriebe haben höhere Produktionskosten als ihre europäischen bzw. internationalen Konkurrenten, also erhebliche Wettbewerbsnachteile. Nach einer Statistik des BDI sind die Strompreise für die deutsche Industrie von 4,38 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2000 auf 7,1 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2004 gestiegen. Danach mussten die deutschen Unternehmen im Jahre 2004 im europäischen Vergleich die zweithöchsten Strompreise zahlen. Für die privaten Verbraucher gilt, dass wir leider eine Erblast aus vergangenen Regierungszeiten mit uns herumtragen. 40 Prozent des Strompreises sind gesetzlich gemacht. Ich möchte das alles eigentlich gar nicht aufzählen, aber es handelt sich dabei unter anderem um die Umsatzsteuer oder die Stromsteuerzuschläge aus dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und dem EEG. ({0}) - Ja, die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte kommt hinzu. ({1}) Das macht insgesamt rund 40 Prozent des Strompreises aus. Wir können diese Entwicklungen in dieser Legislaturperiode vermutlich nicht in nennenswertem Umfang zurückdrehen. Deswegen müssen wir uns andere Schritte überlegen. Aber es gibt natürlich auch eine ganze Reihe von Hemmschuhen. In Europa findet noch kein wirklich freier grenzüberschreitender Wettbewerb im Stromhandel statt; auch in dem Gespräch, das wir eben mit der EU-Wettbewerbskommissarin geführt haben, ging es um dieses Thema. Ich möchte dieses Thema nicht auf die Grenzkuppelstellen fokussieren. Da Strom ein hochsensibles Produkt ist, muss dieses Thema ganzheitlich betrachtet werden. Frau Kopp, ich gebe zu bedenken, dass es zu wenige Grenzkuppelstellen gibt und dass sie zu leistungsschwach sind. Damit allein kann man dieses Problem nicht lösen. ({2}) Wir müssen, was die Stromdurchleitung betrifft, unsere Kapazitäten im Auge haben. Das heißt, dass in jedem Land zunächst überprüft werden muss: Welche Leitungskapazitäten sind vorhanden, und wo macht es Sinn, die Grenzkuppelstellen so zu verstärken, dass tatsächlich ein Markt entsteht? Die Stromnetze sind der Schlüssel. Wir müssen die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Das natürliche Monopol der Netze muss aufgebrochen werden, damit in Zukunft nicht mehr nur wenige Unternehmer die Preise für die Durchleitung und damit die Strompreise bestimmen. Noch stimmt die Wettbewerbsstruktur nicht. Das gilt vor allem für die Zahl der Wettbewerber. Je nach Berechnung liegen 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugung in den Händen der vier großen Unternehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass Investitionen in das Netz, in Modernisierungen und in den Ausbau getätigt werden. Neue Investitionen dürfen nicht gehemmt werden, sondern sie sollten durch Anreize gefördert werden. Denn es gibt erhebliche Engpässe bei der Durchleitung durch die verschiedenen Mitgliedsländer der EU. Was können wir tun, um dem Anstieg der Elektrizitätspreise Einhalt zu gebieten und den Wettbewerb in Europa in Schwung zu bringen? Erstens. Es ist richtig, dass es sich beim grenzüberschreitenden Stromaustausch um ein äußerst wichtiges Thema handelt. Die in den FDP-Forderungen enthaltenen Ansätze sind bereits Teil des von der Bundesregierung entwickelten Konzepts zur Verwirklichung eines wettbewerbsorientierten Binnenmarktes für Energie. Die Bundesregierung treibt dieses Konzept im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit großem Nachdruck voran. Gerade bei dem hier in Berlin stattfindenden Workshop wird dieser Diskussionsprozess forciert. Die Ergebnisse sollen als Grundlage für den für Anfang Juni vorgesehenen Energierat dienen. Insofern stimme ich dem Antrag zu, dass Gespräche mit anderen europäischen Regierungen geführt werden sollten, ebenso mit den zuständigen Regulierungsbehörden und Übertragungsnetzbetreibern. Zweitens, zum Vorschlag Nr. 1 der FDP. Bevor eine Änderung der Verordnung EG 1228/2003 ins Auge gefasst wird, sollte der Erfahrungsbericht der Kommission abgewartet werden, der gegenwärtig erarbeitet wird. Der Vorschlag der FDP, Einnahmen aus der Zuweisung von Verbindungen prioritär für den Erhalt und den Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen zu nutzen, ist etwas vorschnell, weil die ganze Geschichte nicht so einfach ist. ({3}) Wenn man nicht gleichzeitig sicherstellt, dass die Rahmenbedingungen für eine ausgewogene Verteilung der Kraftwerksstandorte stimmen, besteht das Risiko, dass der Engpass von heute - an den Grenzkuppelstellen sich morgen an anderen Stellen zeigt, die wir heute noch nicht kennen. ({4}) Ganz wichtig ist, dass zunächst die bestehenden Netze optimal genutzt werden. Hier gibt es noch Optimierungspotenzial. Vor einem Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen muss im Übrigen klar sein, wer die Kosten trägt und wer den Nutzen hat. Es liegt auf der Hand, dass ein Investor nur dann Geld in die Hand nehmen wird, wenn sich die Investition rentiert. Dafür sind klare Rahmenbedingungen zu schaffen. ({5}) Es ist deshalb richtig, zunächst den Erfahrungsbericht der Kommission abzuwarten und erst dann über weitere Schritte zu entscheiden. Drittens, zum Vorschlag Nr. 2 der FDP. Ich freue mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Opposition, dass Sie das von der Bundesregierung mit initiierte Pentalaterale Forum positiv werten und eine analoge Ausweitung empfehlen. Ziel dieses Forums ist eine bessere Koppelung der Märkte. Dies lässt sich nur erreichen, indem man Stromhandel - Händler und Strombörsen - auf der einen Seite und Netzsteuerung - Netzbetrieb und Regulatoren - auf der anderen Seite an einen Tisch bringt. Auf diese Weise soll eine integrierte Handelsplattform entstehen, die durch bessere Abstimmung des Handels mit der Netzsteuerung die Nutzung der Leitungen verbessert und so zur Beseitigung oder zumindest Verminderung von grenzüberschreitenden Engpässen beiträgt. ({6}) Bevor wir an eine Ausweitung denken, sollten wir erst einmal die Erfahrungen der Gründungsmitglieder der EWG sammeln. Die von Ihnen angesprochenen Punkte zeigen bereits, wie vielfältig die Inhalte sind. Zu begrüßen ist der Vorschlag der EU-Kommission, die Zusammenarbeit zwischen Regulatoren und Netzbetreibern zu verstärken, um so durch Harmonisierung mehr Wettbewerb in den regionalen Energiemärkten zu schaffen. Falsch oder zumindest völlig verfrüht sind hingegen die Vorschläge der EU-Kommission, nationale Regulierungsbehörden durch einen europäischen Energieregulator zu ersetzen oder „eigentumsrechtliche Entflechtungen“ vorzunehmen, um funktionierenden Wettbewerb im europäischen Strom- und Gasmarkt zu ermöglichen. In Deutschland gibt es dagegen erhebliche verfassungsrechtliche und energiewirtschaftliche Bedenken. Ich möchte hinzufügen: Wir haben die Regulierungsbehörde kaum installiert - soweit ich weiß, ist sie personell noch gar nicht voll ausgestattet -, schon wird diskutiert, alles neu zu organisieren. Das halte ich für falsch. Ich meine, wir sollten die nächsten ein, zwei Jahre abwarten ({7}) und sehen, wie sich das Instrument Regulierungsbehörde bestätigt. Dann können wir weitersehen. ({8}) Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine gemeinsame europäische Energiepolitik nach innen und nach außen. Warum nach außen? Für jeden, der sich mit der Energiepolitik beschäftigt, ist klar, wie schwierig es ist, wenn wir als Europäer und insbesondere als Bundesrepublik Deutschland auf den Rohstoffmärkten, auf denen die Produkte international gehandelt werden, praktisch nicht existieren. Hier muss sich etwas entwickeln. Daneben brauchen wir eine Waffengleichheit bei der Stromproduktion. Eine Schlussbemerkung. Ich denke, die deutsche Ratspräsidentschaft unter Führung von Bundeskanzlerin Dr. Merkel wird zur Verwirklichung eines wettbewerbsorientierten Binnenmarktes erfolgreiche Initiativen auf den Energiemärkten in Gang setzen. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste hier im Haus! Die Infrastruktur muss gesellschaftlichen Interessen und nicht den Profiten weniger Konzerne dienen. ({0}) Genau das ist das Problem im deutschen Stromsektor; das haben Sie erkannt. Gesetzt den Fall, dass hier überhaupt von einem Markt geredet werden kann, stelle ich fest: Er ist national abgeschottet, kartellartig strukturiert und damit teuer und unfair. Da nützt es wenig, an den Symptomen herumzudoktern, wie es die FDP mit ihrem Antrag will. Wir müssen endlich die richtigen Konsequenzen ziehen: Erstens: Stromerzeugung und Netzbetrieb gehören eigentumsrechtlich getrennt. Zweitens. Die Marktmacht des Oligopols gehört eingeschränkt. Drittens. Die Übertragungsnetze müssen in die öffentliche Hand überführt werden, wie wir das schon mehrfach betont haben. So wäre es dann auch möglich, den grenzüberschreitenden Stromhandel vernünftig zu organisieren. Wir brauchen mehr Übergänge in Europa, um einen EU-weiten Verbund der erneuerbaren Energien zu schaffen; denn es geht um mehr als um bezahlbare Energie: Es geht um Klimaschutz und um Energiesicherheit. Natürlich brauchen wir einen Ausbau der Grenzkuppelstellen, um Druck auf den abgeschotteten deutschen Strommarkt auszuüben. Unter den jetzigen Bedingungen führt das aber nur dazu, dass Eon und Vattenfall ihre eigenen Interessen bedienen, Frau Kopp. Sie werden nur da ausbauen, wohin sie den Strom ihrer eigenen Kraftwerke am besten exportieren können. Mit Wettbewerb hat das wenig zu tun. Ihre Forderungen sind einfach zu lasch, Frau Kopp. Es kann nicht darum gehen, ein wenig an einer EU-Richtlinie und den Auktionsverfahren herumzuschrauben. Ziel muss es vielmehr sein, Strommengenauktionen an den Grenzen überflüssig zu machen. Meine Damen und Herren der FDP, mit Ihrem Antrag werden Sie deshalb sehr wahrscheinlich nicht viel erreichen. Neoliberalismus funktioniert eben nicht, wenn es um gesellschaftliche Aufgaben geht. ({1}) Hier geht es letztendlich um bezahlbare Energie. Es ist typisch, dass die Liberalen die Kraft-WärmeKopplung und die erneuerbaren Energien auch in diesem Antrag wieder als Zusatzlasten aufzählen. Dabei wissen Sie ganz genau, dass gerade effiziente Energietechnik und erneuerbare Energien wirksam zur Dämpfung der Strompreise beitragen. Es ist dem Stromkunden doch nicht mehr zu erklären, dass Eon Rekordgewinne in Milliardenhöhe macht und gleichzeitig den Beschäftigten den Lohn kürzen will und auch noch steigende Strompreise ankündigt. Ich sage nur eines: Sie kümmern sich einen Dreck um den Klimaschutz. Immerhin hat die FDP erkannt, dass es sich bei den Netzen um ein natürliches Monopol handelt. Ziehen Sie wie wir, die Linken, auch die richtige Konsequenz: Die Netze gehören in die öffentliche Hand. - Dann klappt es auch mit dem Strompreis und den Kupplungsstellen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Hill, das, was Sie gerade gesagt haben, war ein bisschen die alte Leier. Aber wir kennen das ja schon: Sie versuchen zunächst, deutlich zu machen, wie viel Sie seit dem Fall der Mauer gelernt haben, und benutzen insbesondere den Marktbegriff. Gleichzeitig äußern Sie aber wieder die feste Überzeugung, dass eigentlich der Staat die Dinge in die Hand nehmen und die Netze betreiben soll. ({0}) Wozu das führen kann, haben wir ja vor knapp 20 Jahren gesehen: Die Infrastruktur in der ehemaligen DDR musste praktisch völlig neu errichtet werden, weil der Staat nicht in der Lage war, sie wirtschaftlich, effizient und erfolgreich zu betreiben. ({1}) Der Antrag der FDP-Fraktion „Engpässe beim grenzüberschreitenden Stromhandel abbauen - Wettbewerb auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren“ springt allerdings - insoweit gebe ich Ihnen wieder Recht, Herr Hill tatsächlich etwas zu kurz. Frau Kopp hat gesagt, dass er sich sozusagen in eine Kette anderer Anträge einreiht, in denen andere Themen und Aspekte behandelt worden sind. Das ist sicherlich richtig, aber ich will in diesem Zusammenhang deutlich sagen, dass sich diese Bundesregierung - auch die Vorgängerregierung hat das getan seit einigen Jahren sehr intensiv dem Thema Wettbewerb auf den Energiemärkten widmet. Deshalb wurde beispielsweise im Jahr 2005 das Energiewirtschaftsgesetz im Bundestag - mit der Zustimmung aller Fraktionen des damaligen Deutschen Bundestages - und danach im Bundesrat verabschiedet. Weiter haben wir die Bundesnetzagentur gegründet, die den Auftrag hat, für Wettbewerb im natürlichen Monopol, in den Netzen zu sorgen. Ich bin der festen Überzeugung - ähnlich, wie es Kollege Obermeier gerade gesagt hat -, dass die Netzagentur auf einem guten Weg ist, dass sie das Instrumentarium, das wir ihr zur Verfügung gestellt haben, nutzt und weiterentwickelt. Sie hat eine faire Chance verdient, zu beweisen, dass sie mit diesen Instrumenten einen diskriminierungsfreien Netzzugang erreichen kann. Ich will gar nicht verhehlen, dass wir die weitergehenden Diskussionen und Forderungen hin zu einer eigentumsrechtlichen Entflechtung auch kritisch betrachten, und zwar nicht nur, weil eine solche Entwicklung verfrüht käme und wir erst einmal abwarten wollen, dass das jetzige Instrumentarium funktioniert, sondern wir haben in diesem Zusammenhang durchaus sachliche und rechtliche Bedenken. Allerdings verfolgen wir mit großem Interesse die Vorschläge, die jetzt auf den Tisch kommen, zum Beispiel wie man regionale Kooperationen zwischen Netzbetreibern organisieren kann, möglicherweise auch unter dem Dach eines unabhängigen Netzbetreibers. Ich meine, alle diese Vorschläge verdienen es, ernsthaft geprüft zu werden. Das führt uns zu dem Thema des Antrags der FDPFraktion, zum grenzüberschreitenden Stromhandel und Wettbewerb. Dabei sind Netze und Kuppelstellen entscheidende Punkte. Der Fairness halber sollten wir aber, glaube ich, schon sagen, dass wir in Deutschland auf diesem Gebiet nicht so schlecht sind. Wir verfügen über den größten Anteil an Kuppelstellenkapazität in der Europäischen Union. Mit 16 Prozent Kuppelkapazität zum Ausland liegen wir deutlich über dem Barcelonazielwert von 10 Prozent. Ich will damit nicht sagen, dass der Wettbewerb schon funktioniert und wir damit zufrieden sein sollten. Aber zu einer sachlichen Darstellung gehört es, auch einmal den Stand der Dinge zu referieren. Und die Entwicklungen gehen weiter. Das Engpassmanagement, das hier zu Recht kritisiert worden ist - vor allem vor dem Hintergrund, dass es nicht in einem wünschenswerten Maße zu Netzinvestitionen geführt hat -, wird weiterentwickelt, und zwar durch die europäischen Regulatoren im Dialog, also auch durch die Bundesnetzagentur - ich denke, das ist auch richtig - und in der ERI, der Electricity Regional Initiative. Ich meine, das ist eine große Chance, dass wir im Verbund mit den europäischen Nachbarn weiterkommen. Es gibt ganz erhebliche Entwicklungen, etwa zwischen Dänemark und Deutschland, die wir nicht verschweigen sollten. Es gibt auch ganz interessante Vorschläge, etwa für den Bereich zwischen Deutschland, den Beneluxstaaten und Frankreich. Auch diese Entwicklungen zeigen, dass wir mit dem, was wir begonnen haben, nämlich der Einrichtung der Bundesnetzagentur mit dem klaren Auftrag zur Schaffung von mehr Wettbewerb nicht nur durch Netzregulierung im engeren Sinne, sondern auch durch Anreize für Qualität und Investitionen, auf dem richtigen Weg sind. Dieser trägt bereits erste Früchte. ({2}) Wir brauchen allerdings mehr. Wir brauchen zum Beispiel eine funktionierende Anreizregulierung. In Kürze werden wir sicherlich über einen entsprechenden Verordnungsentwurf des federführenden Wirtschaftsministeriums diskutieren können. Neben den Anreizen für einen kosteneffizienten Netzbetrieb brauchen wir Anreize für den Netzausbau, und zwar nicht nur an den Landesgrenzen, sondern auch im Inland; denn es zeichnet sich ab, dass dann, wenn die von uns gewünschten Kraftwerksinvestitionen getätigt werden, die Kraftwerke möglicherweise ihren Strom nicht bis zum Endkunden liefern können, jedenfalls nicht in 100-prozentigem Umfang, weil die Netzkapazitäten in Deutschland mangelhaft sind. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Bundesnetzagentur im Rahmen der Anreizregulierung der Aufgabe des Netzausbaus mit marktgerechten Instrumenten widmet, wie es im Energiewirtschaftsgesetz und in den entsprechenden Verordnungen vorgesehen ist. ({3}) Ähnlich wichtig ist eine Kraftwerksanschlussverordnung; dazu gibt es schon einen Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Schließlich gilt: Noch so gut funktionierende Netze und ein perfekter, diskriminierungsfreier Netzzugang nutzen gar nichts, wenn nicht durch entsprechend gesicherte Anschlüsse und Anschlussrechte gewährleistet ist, dass die neuen Kraftwerke ihren Strom absetzen können. Dazu gibt es in der geplanten Kraftwerksanschlussverordnung einen Lösungsansatz, über den wir sicherlich in Bälde inhaltlich differenziert diskutieren können. Ein Instrument, über das wir mit Sicherheit schon im April diskutieren werden, ist der Nationale Allokationsplan zum Emissionshandel. Wir versuchen, auch in diesem Bereich Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass Anreize für Investitionen in Kraftwerke im Bereich des fossilen Mixes, also in Gas-, Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke, bestehen. Die erneuerbaren Energien werden bekanntermaßen an anderer Stelle geregelt. Ich glaube, dass es uns dadurch gelingen wird, die benötigten Investitionen zu bekommen, und zwar auch für hochmoderne Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Dafür wird auch der Emissionshandel einen Anreiz setzen. Ich sage aber ausdrücklich: Dieser Anreiz wird nicht reichen. Deswegen werden wir uns mit einem Kraft-WärmeKopplungs-Gesetz zu befassen haben. Wie Sie sehen, ist das Thema Wettbewerb bei der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen in guten Händen. Es ist ein sehr komplexes Problem, das sich nicht ausschließlich mit dem Ausbau der Grenzkuppelstellen lösen lässt. Wir brauchen vielmehr eine Mixtur aus zahlreichen Instrumenten; das ist wichtig. Diese sind auf dem Weg oder teilweise schon in der Erprobung. Ich bin ganz sicher, dass wir in den nächsten Jahren den Wettbewerb in Deutschland auf den leitungsgebundenen Energiemärkten deutlich intensivieren werden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat der Kollege Hans-Josef Fell das Wort.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Über die Intensivierung des Wettbewerbs auf dem Energiemarkt haben wir an dieser Stelle schon häufig debattiert. Allein dies ist doch ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Wettbewerb auf dem Strommarkt noch immer nicht reibungslos funktioniert. In den letzten Jahren stiegen die Strompreise in der Tat kontinuierlich an und mit ihnen die Gewinne der Stromkonzerne. Natürlich gibt es neben den überhöhten Gewinnmitnahmen andere Ursachen für die Strompreissteigerungen. Die FDP nennt einige davon in ihrem Antrag. Allerdings bedarf diese Aufzählung einer Klarstellung. Wenn die FDP - zu Recht - die Preissteigerungen infolge der gestiegenen Rohstoffpreise von Erdgas, Kohle, Erdöl und Uran benennt, aber gleichzeitig über die Umlagekosten für erneuerbare Energien klagt, so wie es auch Herr Kollege Obermeier getan hat, passt das nicht zusammen. ({0}) Die Mehrkosten für erneuerbare Energien sind marginal. So muss die Industrie zum Beispiel bei einem durchschnittlichen Strompreis von 8 Cent pro Kilowattstunde für die Umlage für erneuerbare Energien gerade einmal 0,15 Cent zahlen. Dies ist ein wahrlich winziger Betrag, der aber eine große Wirkung hat; denn diese winzige Strompreiserhöhung führt geradewegs aus der Abhängigkeit von fossilen und atomaren Rohstoffen, deren Preise stetig steigen. Da, meine Damen und Herren von der FDP und der Union, müssen Sie sich schon entscheiden, wo Sie stehen wollen. An dieser Debatte entscheidet sich, ob Ihr Bekenntnis zu den erneuerbaren Energien glaubhaft ist. Konzentrieren wir uns auf das zentrale Thema Ihres Antrages. Noch immer haben die Oligopole Möglichkeiten, den Wettbewerb auszubremsen. Zu Recht legen Sie von der FDP einen Antrag vor, der Missstände im internationalen Stromhandel benennt. Statt für ein breiteres Angebot bei der Strombeschaffung zu sorgen, dienen die Kuppelstellen heute bestenfalls der Netzstabilität, möglicherweise aber auch dem Marktmissbrauch. Mit Ihrer Forderung, die Gewinne aus dem Betrieb heutiger Kuppelstellen in den Bau neuer Kuppelstellen zu investieren, stoßen Sie bei uns auf offene Ohren. Es ist wichtig, beim Kapazitätsmanagement ein transparentes und harmonisiertes Auktionsverfahren einzuführen. Transparenz ist ein Leitthema, an das man sich gerade in so vermachteten Strukturen halten sollte. Außerdem geht es darum, Engpässe zu begrenzen. Die Verbesserung des internationalen Stromhandels ist wichtig für einen funktionierenden Binnenmarkt. Sie ist für alle neuen Akteure im Strombereich unverzichtbar. Sie ist aber auch eine Voraussetzung für grenzüberschreitenden Transport von CO2-freiem Strom. So gibt es seit Jahren die noch nicht umgesetzten Vorschläge zur Produktion von Windstrom in Marokko oder in der Nordsee oder auch von Solarstrom in Spanien oder in der Sahara. Diese Projekte werden in Zukunft immer wichtiger für eine nachhaltige Versorgung Europas mit CO2-freiem Strom. Für den Ausbau dieser wichtigen Ini9386 tiativen, die auch für die Armutsbekämpfung und die Entwicklung in Nordafrika sinnvoll sind, muss in der Tat der grenzüberschreitende Stromhandel verbessert werden. ({1}) Voraussetzung dafür ist der Abbau aller technischen und rechtlichen Barrieren. Dieser Teil Ihres Antrages kann zur Verbesserung des Wettbewerbs, aber auch zum Klimaschutz und zur Sicherung einer bezahlbaren Stromversorgung beitragen. Zum Schluss noch ein Aspekt zu - in Anführungszeichen - „Kuppelstellen“, der in Ihrem Antrag nicht auftaucht, aber immer wichtiger ist: Ich rede von der Beeinflussung von Entscheidungsträgern durch Konzerne wie Eon und Siemens. Hier sind inzwischen Staatsanwälte tätig. Bei Eon ermitteln sie in 800 Einzelfällen gegen Politiker und Manager, wie die „Welt“ kürzlich berichtete. Bei Siemens werden Vorstandsmitglieder verhaftet. Ungeachtet dessen bestätigt die Kanzlerin den höchsten Repräsentanten des durch Korruptionspraktiken weltweit in Verruf geratenen Chefs des SiemensAufsichtsrates als Chefberater. Unglaublich, wie man daran noch festhalten kann. ({2}) Wir sollten uns öffentlich und auch hier im Parlament verstärkt mit dem Thema Korruption beschäftigen, gerade in der konventionellen Energiewirtschaft; denn auch die Korruption ist ein großes Hemmnis für mehr Wettbewerb, für mehr Klimaschutz und für mehr Versorgungssicherheit. Wenn wir wirklich Wettbewerb wollen, gehen wir auch an dieses Thema heran. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3346 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro Einkommen gleichmäßig und regelmäßig prüfen - Drucksache 16/3699 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Höll für die Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche konnten wir in den Zeitungen nachlesen - zum Glück; denn zum ersten Mal wurde für das vergangene Jahr eine individuelle Erhebung durchgeführt -, wie viel die Vorstandsmitglieder der 30 DAX-Unternehmen verdienen. Verdienen? Vielleicht besser: bekommen. Ihre Bezüge sind gestiegen, allein im Vorjahr um 15 bis 20 Prozent. Herr Ackermann verdient - er bekommt täglich 35 000 Euro. Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist und in Hartz IV fällt, erhält im Monat 345 Euro. Das sind im ganzen Jahr 4 140 Euro an Barleistungen. 2004 gab es in der Bundesrepublik 15 600 Einkunftsmillionäre. Sie haben Steuern gezahlt. Die Frage ist aber, ob sie die Steuern so gezahlt haben, wie es Recht und Gesetz vorschreiben. Hierzu hat der Bundesrechnungshof eine Untersuchung durchgeführt. Der Bundesrechnungshof ist eine Institution, welche unabhängig den Gesetzesvollzug kontrolliert. Er hat festgestellt, dass der Steuervollzug nicht mehr gewährleistet ist. Das ist eine Situation, die wir als Linke nicht hinnehmen können. Deshalb haben wir uns, nachdem wir die Bundesregierung gefragt haben, wie sie das einschätzt - sie hat der Einschätzung des Bundesrechnungshofs nicht widersprochen, aber sie hat nichts vorgelegt -, entschlossen, Ihnen heute einen Antrag zur Diskussion vorzulegen, in dem gefordert wird, dass Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro Einkommen gleichmäßig und regelmäßig zu prüfen sind. Das ist ein Gebot der Steuergerechtigkeit, wonach Leistungsfähigere mehr Steuern zu zahlen haben. Der Bundesrechnungshof hat die Schuld für den mangelnden Steuervollzug nicht in erster Linie bei den Finanzämtern gesucht. Er weist zwar darauf hin, dass wir in den Finanzämtern Defizite, dass aber nicht die einzelnen Beamten diese zu verantworten haben, sondern dass die Defizite aus dem pauschalen Stellenabbau resultieren, der wiederum mit dem mangelnden Geld der öffentlichen Hand begründet wird. Das führt dazu, dass zu wenige Finanzbeamte vorhanden sind. Der Bundesrechnungshof hat angemahnt, dass es eine ineffiziente Verwendung und eine unzureichende Weiterqualifizierung des vorhandenen Personals, eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundesfinanzbehörden und - das finde ich besonders interessant ein sehr unterschiedliches Interesse von Landesregierungen, die Steuerprüfung bei Menschen mit einem Einkommen von über 500 000 Euro tatsächlich vorzunehmen, gibt. Die Prüfquote liegt zwischen 10 und 60 Prozent. Das ist eine große Spanne. Besonders niedrig liegt die Quote in den Ländern, in denen mehr Menschen wohnen, die ein solch hohes Einkommen erzielen, also nicht in Mecklenburg-Vorpommern, sondern in Bayern und Baden-Württemberg. Wir haben diese Anregung des Bundesrechnungshofes aufgenommen. Ich denke, man kann das ganz sachlich diskutieren und sofort problemlos umsetzen. Es sind Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass eine regelmäßige Außenprüfung durchgeführt wird. Das heißt, dass in einem ordentlichen Prüfrhythmus die Unterlagen geprüft werden müssen. Voraussetzung dafür ist, dass eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird. Diese Maßnahmen sind für die öffentliche Hand äußerst wichtig. Der Bundesrechnungshof hat uns die Zahl ins Gedächtnis gerufen: Bei den erfolgten Außenprüfungen kam es im Durchschnitt zu Nachzahlungen von 135 000 Euro pro Veranlagung. Wenn man das nur vorsichtig hochrechnet, kommt man immerhin auf 1 Milliarde Euro, die aufgrund des bisherigen Steuervollzuges der öffentlichen Hand verloren geht. Wir müssen erreichen, dass der besagte Personenkreis tatsächlich einer höheren Prüfdichte unterworfen und dass Steuerumgehung unmöglich gemacht wird. Wir halten es für erforderlich, dass die Finanzbehörden Außenprüfungen nicht mehr besonders begründen müssen, sondern dass diese zur Regel werden. Die Pflicht zur Aufbewahrung von steuererheblichen privaten Belegen habe ich schon genannt. Das heißt natürlich auch, dass wir die Finanzämter anders ausstatten müssen. Wir müssen Sorge dafür tragen - das liegt in der Verantwortung des Bundes -, dass Landes- und Finanzbehörden wesentlich besser zusammenarbeiten. Diese Aufgabe muss im Rahmen der Arbeit der Föderalismuskommission II gelöst werden. Ich unterstreiche das auch vor dem Hintergrund der von Ihnen im Rahmen der Unternehmensteuerreform geplanten Abgeltungsteuer. Diese Steuer wird zu noch mehr Steuerumgehungen geradezu einladen. Während die Finanzbehörden die Einkommen von Lohnabhängigen und Rentnern automatisch prüfen, unterliegt die Abgeltungsteuer nicht dieser Kontrolle. Die Finanzbehörden werden auf die Meldungen der Banken angewiesen sein. Es entsteht quasi ein „finanzamtfreier Raum“, so bewertet es auch der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Ondracek. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Nehmen Sie deshalb die Anregungen des Bundesrechnungshofes auf! Wir haben, diese Anregungen in unserem Antrag festgehalten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Dr. Höll, jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lassen Sie uns gemeinsam handeln! Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die Unionsfraktion.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dr. Höll, lassen Sie mich im Hinblick auf die nun anstehenden Kar- und Ostertage versöhnlich und positiv beginnen. Ja, es gibt unbestritten Mängel bei der Besteuerung in Deutschland. Sowohl in der Prüfungsdichte als auch in der Qualität beim Veranlagungsverfahren gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. Das Steuerrecht ist kompliziert, und das Veranlagungsverfahren ist ein Masseverfahren. Da passieren Fehler. Der Bundesrechnungshof hat mehrfach darauf hingewiesen. Die Länder haben aber auch schon mehrfach Veränderungen im Verwaltungsverfahren vorgenommen und die Qualität verbessert. Das ist aber leider schon alles, was ich Gutes zu Ihrem Antrag sagen kann. Wir haben uns des Themas „gerechte Besteuerung“ schon vor drei Jahren im Rahmen der Arbeit der Föderalismuskommission I angenommen. Diejenigen, die dabei waren, wissen, dass wir über die Bundessteuerverwaltung sehr intensiv diskutiert haben. ({0}) - Wir haben doch ein Ergebnis erzielt, Herr Kollege: Wir haben das Finanzverwaltungsgesetz geändert. Im Finanzverwaltungsgesetz sind einige Vorschläge, die die Linke in ihrem heute vorliegenden Antrag macht, längst umgesetzt. ({1}) Wir haben zum Beispiel dem Bundeszentralamt für Steuern Mitwirkungsrechte bei der Steuerprüfung gegeben. Das Bundeszentralamt für Steuern kann sogar verlangen, dass Prüfungen bestimmter Betriebe durchgeführt werden. Noch weiter gehend: Das Bundeszentralamt für Steuern kann sogar im Auftrag Außenprüfungen durchführen. Damit erledigt sich Punkt II.5. Ihres Antrags. Dieses Gesetz ist im April 2006 in Kraft getreten. Wenn Sie sich für dieses Thema wirklich interessieren und wenn Ihr Antrag nicht nur Schau sein soll, dann sollten Sie sich dieses Gesetz vielleicht einmal anschauen. ({2}) Sie haben gefordert, dass dieses Thema auf die Tagesordnung der Föderalismuskommission II gesetzt wird - Frau Hendricks ist hier; sie kann bestätigen, dass wir darüber sehr häufig streiten -: Das ist ebenfalls längst passiert. Die Arbeitsgruppe der CDU/CSU zur Föderalismuskommission II hat es in der Kommissionsdrucksache 003 zum Thema gemacht, und die Bundesregierung, die Sie auffordern, sich endlich dafür einzusetzen, hat es in der Kommissionsdrucksache 005 aufgegriffen. Gestern haben wir in einer ersten Runde zweieinhalb Stun9388 den lang unter anderem über das Thema Bundesfinanzverwaltung gesprochen. ({3}) Sie sind herzlich eingeladen, an den Sitzungen der Föderalismuskommission teilzunehmen und sich kundig zu machen, wie der Stand der Diskussion ist. ({4}) - Darauf werde ich später in meiner Rede eingehen. Sie haben die Bundesregierung aufgefordert, sich zu positionieren. Mir scheint Ihr Demokratieverständnis ein bisschen eigenartig zu sein. Wir als Bundestagsabgeordnete, also auch Ihr Mitglied in der Föderalismuskommission, sind aufgefordert, uns zu positionieren. Die Bundesregierung - ich bin froh, dass sie mitmacht - hat da eigentlich nur beratende Funktion. Wir, der Bundestag, und der Bundesrat werden diejenigen sein, die dieses Gesetz später verabschieden müssen. Sie können Ihren Vorschlag aktenkundig machen. Die entsprechende Drucksache könnte die Nummer 010 oder 011 haben. Aber nicht nur in diesem Zusammenhang habe ich den Eindruck, dass es Ihnen mit dem Antrag gar nicht um steuerliche Gerechtigkeit geht, sondern um Ihr altes Anliegen, eine Neiddebatte aufzumachen. Ihr Konzept „Wir nehmen den Reichen etwas weg und geben es den Armen“ passt in den Rahmen der Themen „Reichensteuer“, „Vermögensteuer“ und „Erhöhung der Erbschaftsteuer“. Ich möchte nur wenige Zahlen vortragen, die Ihrer Behauptung, die Reichen beteiligten sich zu wenig an der Finanzierung unseres Gemeinwesens, den Boden entziehen. Die Steuerstatistiken weisen darauf hin, dass 0,1 Prozent der Steuerpflichtigen - das sind die Einkunftsmillionäre - über 11 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens zahlen. Die Behauptung, hier würden Steuern von Steuerpflichtigen nicht in angemessenem Umfang gezahlt, entbehrt also jeglicher Grundlage. Aber vermutlich kommen diese Zahlen bei Ihnen gar nicht an, weil es Ihnen gar nicht um die inhaltliche Auseinandersetzung mit Steuergerechtigkeit geht. Schon die Oberflächlichkeit, mit der Sie Ihren Antrag formuliert haben, zeigt, dass es Ihnen nicht um das Thema geht. Dabei hätten Sie den Bundesrechnungshofbericht nur korrekt abzuschreiben brauchen. Ihnen als Mitglied des Finanzausschusses, Frau Dr. Höll, hätte ich durchaus zugetraut, dass Ihnen der Unterschied zwischen Einkünften - um die geht es im Bundesrechnungshofbericht - und Einkommen - das wird in Ihrem Antrag erwähnt - bekannt ist. Es ist bedauerlich, dass Sie, obwohl Sie an Steuergesetzen mitarbeiten, selbst diese Grundbegriffe offensichtlich nicht auseinanderhalten können. ({5}) Die Begriffsverwirrungen in Ihrem Antrag gehen aber weiter. Wenn der Verfasser ein bisschen im Stoff gesteckt hätte ({6}) - ich weiß nun zufällig von Ihnen, dass Sie es nicht waren, aber Sie sind diejenige, die es hier rechtfertigen muss -, dann hätte er gewusst, dass die Betriebsprüfungsordnung, die hier erwähnt ist, keine Verordnung ist. Wenn sie eine Verordnung wäre, wäre Ihre erste Forderung schon erledigt. Eine Verordnung ist eine Rechtsvorschrift, die bundeseinheitlich anzuwenden ist. Von daher ist die erste Forderung schon in sich völlig unstimmig. Bleiben drei Forderungen, mit denen ich mich inhaltlich auseinandersetzen muss. Erstens. Sie fordern eine zwingende Anschlussprüfung bei Einkunftsmillionären. Diese Forderung des Bundesrechnungshofs übernehmen Sie ungeprüft. Dazu kann ich vorab nur sagen: Ich schätze viele Anmerkungen des Bundesrechnungshofs sehr und bin für viele Anregungen und Hinweise der letzten Jahre auch dankbar, aber in diesem Fall scheint mir die Forderung des Bundesrechnungshofs nach einer flächendeckenden Außenprüfung für Einkunftsmillionäre nicht hinreichend zielführend zu sein. Ich will Ihnen auch gern erläutern, warum. Wenn man sich die Beispiele anschaut, die der Bundesrechnungshof geprüft hat und aufgrund deren er diese Forderung aufgestellt hat, wird ganz offensichtlich, dass es in den genannten Beispielen durchaus auch ohne Außenprüfung zur richtigen Besteuerung hätte kommen können, wenn man nämlich die vor Ort ohnehin schon vorhandenen Erkenntnisse richtig ausgewertet hätte. ({7}) Da geht es um Fälle, in denen ESt-PB-Mitteilungen nicht ausgewertet worden sind. Da geht es um Fälle, in denen der Prüfer etwas weiß, was dem Veranlagungsbezirk nicht mitgeteilt wird. Da geht es darum, dass zufällig zu viel Nullen in der Erklärung auftauchen. Das alles sind keine Probleme, derentwegen man eine Außenprüfung braucht. Es gibt allerdings Fälle, in denen geprüft werden muss, ob die Organisation der Finanzverwaltung in jedem Einzelfall richtig ist; zu diesem winzig kleinen Punkt werden wir in die Diskussion gehen müssen. Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Mit dem Thema werden wir uns im Rahmen der Föderalismusreform II sehr wohl befassen. Ein weiterer Grund, warum ich meine, dass der Bundesrechnungshof mit seiner Forderung hier einfach irrt, ist: Viele der aufgeworfenen Fragen wären schon heute richtig und zufriedenstellend zu lösen gewesen. Sie weisen darauf hin, dass das Betriebsfinanzamt in der Regel nicht das Veranlagungsfinanzamt der Anteilseigner ist. Daraus schließen Sie, dass die Betriebsprüfung unterschiedlich geführt wird. Da liegen Sie völlig daneben. Die §§ 194 und 195 der Abgabenordnung sehen ausdrücklich vor, dass der Betriebsprüfer, der den Betrieb prüft, selbstverständlich auch den Anteilseigner prüfen darf. ({8}) Die Finanzämter müssen das nur umsetzen. Auch da stellt sich nicht die Notwendigkeit einer zusätzlichen Außenprüfung. Ich frage mich ohnehin, ob Sie den Eindruck haben, dass bei Fällen mit 400 000 Euro Einkünften weniger Fehler auftauchen, oder ob es da weniger schlimm ist, wenn Steuern hinterzogen werden. Die Grenze von 500 000 Euro scheint mir völlig wirr gegriffen zu sein. ({9}) Aber das passt zu Ihrem Vorurteil, dass man Reiche irgendwie festmachen muss. Ich finde, auch mit 400 000 Euro Einkünften ist man schon recht gutverdienend. Ich würde Wert darauf legen, dass auch da die Steuern richtig abgeführt werden. ({10}) Zweitens. Sie fordern gleichzeitig die Abschaffung der besonderen Begründungspflicht bei Außenprüfungen. Liebe Kollegin Dr. Höll, Außenprüfungen bei Einkunftsmillionären finden in der Regel im Wohnzimmer der Betreffenden statt, weil es keine Betriebsprüfungen, sondern eben private Prüfungen sind. Ich sage Ihnen einmal, wie die Begründungsverpflichtung nach § 193 Abs. 2 ist. Danach dürfen solche Steuerpflichtigen nämlich schon heute geprüft werden, „wenn die für die Besteuerung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen und eine Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist“. Ich frage Sie wirklich, was Sie noch brauchen. Der Sachverhalt soll prüfungswürdig sein. Das ist wohl Bedingung für eine Außenprüfung. Er darf nicht von Amts wegen aufgeklärt werden können. Wenn ich den Brief vom Finanzamt aus schicken kann, brauche ich nicht ins Wohnzimmer des Steuerpflichtigen zu gehen. Auch da ist die Begründungspflicht, glaube ich, durchaus angemessen, zumal ich hier das Betreten privater Räumlichkeiten nach wie vor für einen Eingriff in die Grundrechte halte. Da sollte eine Begründungspflicht durchaus bestehen. Drittens. Nun zu Ihrer Forderung nach einer Aufbewahrungspflicht für private Belege. Auch das haben Sie - das will ich zu Ihrer Ehrenrettung sagen - aus dem Bericht des Rechnungshofes abgeschrieben. ({11}) Ich frage mich wirklich, wie sich der Bundesrechnungshof das vorstellt: Denkt er, dass uns die Kontoauszüge der Schweizer Nummernkonten vorgelegt werden, wenn eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird? Es ist doch naiv, zu glauben, dass wir damit stärker als heute Zugriff auf Steuerpflichtige erhielten, die wirklich hinterziehen wollen. Ganz im Gegensatz zu Ihnen glaube ich, dass die Erhebung einer Abgeltungsteuer hier der richtige Weg ist. Wir haben damit einen besseren Zugriff auf die Banken, auf Kontoauszüge. Um das zu erreichen, brauchen wir keine Außenprüfung. ({12}) Letzter Punkt - um wieder zum österlichen Frieden überzuleiten -: Ja, wir werden das Thema aufgreifen, wir haben das auch schon ohne Sie getan und werden es weiterhin tun, zusammen mit dem Bundesfinanzministerium. Wir brauchen nämlich eine größere Effizienzsteigerung und mehr Steuergerechtigkeit. Ehrlich gesagt: Das gilt für große und für kleine Steuerzahler. Wir werden uns im Ausschuss mit Ihrem Antrag befassen; er war aber nicht nötig, um uns in die richtige Richtung zu weisen. Danke schön. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lust am Fabulieren ist in der Linkspartei kein unbekanntes Phänomen mehr. Wir wissen über Herrn Lafontaine: Seine „Wut wächst“, sein „Herz schlägt links“, dass er das „Lied vom Teilen“ singt; gemeinsam mit Exkanzler Schröder hat er einmal „Innovationen für Deutschland“ gefordert. Sein Co-Chef Gysi steht ihm in puncto Schreiblust in nichts nach. So fragt sich Herr Gysi „Was nun?“ und berichtet ausführlich über „Deutschlands Zustand“ und natürlich auch über seinen eigenen. Über seine Bücher wissen wir, dass er einen „Blick zurück“ wirft, um einen „Schritt nach vorn“ zu machen, dass er sagt: „Das war’s noch lange nicht“. Kurzum: Wir wissen, dass die Lust am Fabulieren bei der Linkspartei groß ist; genau das tun Sie auch in Ihrem Antrag, den Sie uns vorlegen. Der Antrag sagt wenig - um nicht zu sagen: gar nichts - über Steuergerechtigkeit in Deutschland, aber sehr viel über Ihr Weltbild aus. Da könnte man sofort wieder einen alten Lafontaine-Schmöker ausgraben: „Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“. Ich kann nur sagen: Zum Glück entscheidet nicht Herr Lafontaine, was in Deutschland gerecht ist. ({0}) Ihr Antrag ist nichts anderes als der populistische Versuch, die Gesellschaft zu spalten; aber das wird Ihnen nicht gelingen. Wenn Sie, Frau Höll, sich mit solch einem Antrag, der den Eindruck erweckt, unsinnig zu sein, hier hinstellen und dann auch noch von „Sachlichkeit“ sprechen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist wirklich völlig fehl am Platz. Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken - das tun Sie immer wieder -, als hätten in Deutschland diejenigen mit einem höheren Einkommen - die Besserverdienenden - eine niedrigere Belastung. Sie können Ihre These wiederholen, aber sie wird nicht wahr. Tatsächlich zahlen nur 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen mehr als 40 Prozent Einkommensteuer; diese 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen hatten 2006 einen Anteil von 43,7 Prozent am Einkommensteueraufkommen. Das sind die Zahlen! Ich würde mich, da Sie von „Sachlichkeit“ sprechen, freuen, wenn Sie das auch einmal erwähnten: 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen bringen 43,7 Prozent der Einkommensteuer auf. ({1}) Das fehlt in Ihrem Freund-Feind-Schema. Deswegen ist der Antrag nichts anderes als Populismus. Sie sprechen über die Steuererhebungspraxis der Länder. Ich finde, da lohnt es sich, einmal nach Berlin zu schauen; da tragen Sie doch die Verantwortung. Ich denke, Sie sprechen mit den Leuten. Es gibt kein Bundesland, das im Jahr 2005 so viel Einkommensteuer gestundet hat wie das rot-rote Berlin. Berlin verzichtet in Deutschland - verglichen mit den anderen Bundesländern - auf die meiste Einkommensteuer. Verantwortlich ist dafür der rot-rote Senat, mit Beteiligung der Linkspartei. Sie stellen sich hier hin und erzählen uns, dass überall alles falsch läuft. Da würde ich sagen: Die Linkspartei sollte sich an die eigene Nase fassen und schauen, was sie in Berlin falsch macht. ({2}) Da liegt doch das Problem: All die Dinge, die Sie hier fordern, setzen Sie dort, wo Sie in der Verantwortung stehen, nicht um. Deswegen sind Sie, deshalb ist Ihr Antrag unglaubwürdig. Welch Geistes Kind dieser Antrag ist, zeigt die Formulierung, es sei zwingend erforderlich, … dass besagter Personenkreis einer Prüfungsdichte unterworfen wird, die eine Steuerumgehung unmöglich macht. Bitte sagen Sie mir: Wie soll denn so etwas aussehen? Wollen Sie jetzt auf jeden Einkommensteuerpflichtigen einen Prüfer ansetzen? Wollen Sie das machen? Dann sagen Sie das! Das umzusetzen, ist sicherlich unmöglich. Aber das kann doch nicht ernsthaft eine vernünftige Finanzpolitik sein, Frau Kollegin. Wir können uns gerne mit Ihrem populistischen Antrag beschäftigen. Sie wollten ja unbedingt, dass hier darüber debattiert wird. Aber wir werden mit Sicherheit nicht in steuerpolitischer Hinsicht einen Überwachungsstaat in Deutschland einführen, und wir werden uns mit Sicherheit auch nicht an den Ergebnissen des rot-roten Senats in Berlin orientieren, die Sie zu verantworten haben. In anderen Bundesländern läuft es besser; diese sollten Maßstab sein. Ihre Politik ist wahrhaftig nicht vorzeigbar. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wissing, würden Sie bitte erstens zur Kenntnis nehmen, dass der Finanzsenator in Berlin, Herr Sarrazin, nicht Mitglied der Linkspartei, sondern der SPD ist, ({0}) zweitens, dass eine Steuerstundung kein Steuererlass ist, und drittens, dass wir nicht gesagt haben, dass diejenigen mit einem hohen Einkommen keine Steuern zahlen. Die Forderung, die wir in unserem Antrag erheben, ist, dass Steuern so zu zahlen sind, wie es Recht und Gesetz vorschreiben; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Prüfdichte ist ein geeignetes Instrument, da bereits das Wissen darum, dass man nicht einfach so durchkommt, weil die Prüfdichte im Land nicht mehr nur bei 10 Prozent liegt, eine andere Wirkung entfalten würde. ({1})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höll, das zeigt wieder einmal, dass Sie nicht regierungsfähig sind. ({0}) Da sitzen Sie im rot-roten Senat und sagen, was haben wir denn mit der SPD in Berlin zu tun. ({1}) Das ist ja unglaublich. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Sie verantworten den Zustand in Berlin mit, und es sind nicht nur Stundungen in Berlin, sondern auch Erlasse, bei denen Sie ganz vorne mit dabei sind. ({2}) - Das gilt genauso für die Steuererlasse. Berlin ist in der Steuerverwaltung wirklich nicht gerade ein Paradebeispiel für effektiven Vollzug. Das verantworten Sie, die Sie im rot-roten Senat sitzen, voll mit; das muss ich Ihnen sagen. Wenn Sie behaupten, Sie hätten in Berlin überhaupt keine Verantwortung, dann ist das unglaubwürdig. Wenn Sie meinen, im Bundestag glaubwürdig Opposition gegen Ihre eigene Landesregierung machen zu können, dann ist auch das unglaubwürdig. Deswegen ist Ihr Antrag ebenfalls unglaubwürdig; er führt in keinem Punkt weiter. Aus diesem Grund nehme ich zwar alles zur Kenntnis, was Sie sagen; aber peinlich ist es nicht für mich, sondern für die Linkspartei. ({3}) Sie machen einen Fehler: Sie überlegen sich immer, wie Sie Politik gegen bestimmte Gruppen in Deutschland machen können. Das ist die Schwäche Ihres Ansatzes. Sie sollten sich einmal überlegen, wie Sie Politik für die Menschen in unserem Land machen können. Anstatt sich zu überlegen, wie Sie gegen bestimmte Gruppen vorgehen, sollten Sie sich lieber mit der Frage beschäftigen, wie Sie Verbesserungen für die Menschen erreichen können, für die Verbesserungen erreicht werden müssen. Wenn wir, Frau Kollegin Tillmann, in der Föderalismuskommission über eine effizientere Steuerverwaltung reden, dann tun wir das gemeinsam sachlich, auch mit der Bundesregierung, aber nicht so, wie die Linkspartei es im Bundestag machen möchte. Es gibt sicherlich Effizienzreserven. Wie diese zu heben sind, werden wir in der Föderalismuskommission auf sachliche Art und Weise diskutieren - für die Menschen in Deutschland und nicht gegen sie, wie es die Linkspartei tut. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Antrag, liebe Frau Höll - Sie haben es selber gesagt -, bezieht sich auf die Prüfung der Bearbeitung von Einkommensteuerfällen mit bedeutenden Einkünften - so hieß es in dem Bericht - durch den Bundesrechnungshof. Ich gebe Ihnen recht, dass die Feststellungen in diesem Bericht durchaus beunruhigend sind. Das Parlament, die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht sind sich einig, dass nach Art. 3 unseres Grundgesetzes eine gleichmäßige Besteuerung erfolgen muss. Daran kann man durchaus zweifeln, wenn man den Bericht ausführlich liest. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Wissing habe ich da doch Zweifel bekommen. Aber ist Außenprüfung wirklich das Thema? Ich denke, nicht. Die Finanzämter führen ein Risikomanagement durch, mit dem sie die Plausibilität der Angaben in der Steuererklärung prüfen können. Diese Prüfungen sind Voraussetzung für eine effiziente Veranlagung, auch eine EDV-unterstützte Veranlagung, damit es schneller geht und Fehler ausgemerzt werden können. Diese Prüfungen können bei allen Steuerpflichtigen durchgeführt werden. Angesichts der Beispiele, die der Bundesrechnungshof angeführt hat, drängt sich die Frage auf: Warum hat in dem einen oder anderen Fall nicht eine rote Lampe aufgeleuchet? In den meisten Fällen, die der Bundesrechnungshof vorgelegt hat, hätte meiner Meinung nach der gesunde Menschenverstand gereicht, einmal nachzufragen, ob wirklich alle Einkünfte angegeben wurden oder ob Einkünfte nicht versehentlich vergessen wurden. Ich gebe es zu: Unser Steuerrecht ist vielleicht ein bisschen komplizierter als andere. Aber wenn es richtig angewendet wird - ich sage ausdrücklich: wenn -, ist es gerechter. Aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung kann ich sagen, dass Geldverkehrsrechnungen mitunter schon in weniger bedeutenden Fällen durchgeführt werden. Jeder Steuerpflichtige kann erwarten, dass Steuererklärungen über bedeutende Einkünfte mindestens genauso sorgfältig und korrekt geprüft werden wie die über weniger bedeutende Einkünfte. Ich bin mir ganz sicher: Am Können kann es nicht liegen. Frau Kollegin Tillmann ist schon darauf eingegangen: Mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz haben wir die Rechtsposition des Bundes gestärkt. So ist die Einführung eines bundeseinheitlichen Verwaltungscontrollings bzw. Risikomanagements rechtlich abgesichert. Außerdem erhält der Bund mehr Einfluss auf Inhalt und Verfahren bei den Außenprüfungen. Ziel kann natürlich nur ein vollelektronisches Veranlagungsverfahren mit einer bundeseinheitlichen Software sein. Darüber hinaus nützt es aber überhaupt nichts, wenn nur die Bundesseite über eine Bundessteuerverwaltung und über zentral zuständige Betriebsprüfungen nachdenkt. Das kann nur im Einvernehmen mit den Bundesländern auf den Weg gebracht werden. Deshalb müssen diese Themen auch in der nächsten Stufe der Föderalismusreform auf den Tisch gelegt werden. ({0}) Regelungen, die es angeblich erschweren, eine Außenprüfung, so sie denn notwendig ist, anzuordnen, gibt es in meinen Augen nicht. Ein BFH-Urteil vom 17. November 1992 besagt: Eine Außenprüfung nach § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO ist bereits dann zulässig, wenn Anhaltspunkte vorliegen, die es nach den Erfahrungen der Finanzverwaltung als möglich erscheinen lassen, dass ein Besteuerungstatbestand erfüllt ist. In den geschilderten Fällen hätte also problemlos eine Außenprüfung angeordnet werden können. Tatsächlich sieht es aber ein bisschen anders aus. Auch das konnten wir dem Bericht entnehmen. Nach der bundeseinheitlichen Einordnung der Größenklassen ergibt sich, dass Einkunftsmillionäre als Großbetriebe eingestuft werden und somit regelmäßig zu prüfen sind. Was regelmäßig heißt, wird nicht ausgeführt. An einer fehlenden Regelung - da bin ich mir ganz sicher - kann es nicht liegen. Dennoch werden nur 6,5 Prozent aller relevanten Fälle geprüft. Die Bandbreite der Prüfung umfasst - abhängig vom Bundesland 10 bis 60 Prozent. Als „regelmäßig“ würde ich das nicht bezeichnen. Vielleicht liegt es wirklich an fehlenden Regelungen; das will ich gar nicht abstreiten. Vielleicht liegt es auch an der komplexen Struktur unseres Steuerrechts, an mangelnder Qualifikation und an Personalmangel. Es liegt aber auch - dieser Missstand scheint mir viel leichter abzustellen zu sein - an mangelnder Akzeptanz. Laut Bericht des Bundesrechnungshofes werden in zwei Bundesländern Einkunftsmillionäre regelmäßig gänzlich vom Betriebsprüfungsplan abgesetzt. Das kann ich nicht gutheißen. Auf der anderen Seite stimme ich Ihnen natürlich auch nicht zu. Sie wollen, dass jedem Bezieher von besonders hohen Einkünften - beispielsweise Einkünfte in Höhe von 500 000 Euro - sozusagen Fußfesseln angelegt werden und ihm ein Betriebsprüfer an die Seite gestellt wird, damit er permanent geprüft werden kann. Zwischen diesen beiden extremen Positionen muss man eine Lösung finden. Es ist bestimmt auch nicht hilfreich, dass in jedem Bundesland die Zuständigkeiten anders geregelt sind. In einem Bundesland wusste eine Stelle überhaupt nicht, dass sie verantwortlich ist. Sie dachte, eine andere Stelle sei zuständig. Nach der alten Fußballerweisheit „Nimm du den Ball, ich hab ihn sicher“ fühlte sich keiner mehr zuständig. Das führt, wie wir aus dem Stadion wissen, nicht zum gewünschten Erfolg. Hier ist eine einheitliche Lösung unter Mitwirkung des Bundeszentralamts für Steuern, das in den nächsten Jahren um 500 Betriebsprüfer aufgestockt wird, anzustreben. Die fehlende Pflicht zur Aufbewahrung von Belegen ist für mich nur ein formaler, ein vorgeschobener Grund. Die Steuerpflichtigen versuchen doch, nachzuweisen, dass sie ein geringeres zu versteuerndes Einkommen haben. Da ist es doch in deren eigenem Interesse, die Belege aufzubewahren, um das im Zweifel auch wirklich belegen zu können. Deshalb ist das für mich nur ein ganz formeller Grund. Wir alle wollen, dass nach Leistungsfähigkeit besteuert wird, dass starke Schultern mehr tragen und schmale weniger. Um diesen berechtigten Anspruch des Staates durchzusetzen, halte ich eine Außenprüfung - und dies eher regelmäßig - im gebotenen Fall ohne Zweifel für richtig. Denn man darf dabei die prophylaktische Wirkung der Tatsache, dass Außenprüfungen stattfinden könnten, nicht unterschätzen. Zumal das bei den Außenprüfungen eingesetzte Personal in der Regel mehr Geld einspielt, als es kostet. Ich denke nicht, dass Menschen mit einem höheren Einkommen grundsätzlich oberflächlicher oder unehrlicher sind als Menschen mit einem niedrigen Einkommen. Aber ob ich bei Zinseinkünften von 1 Million Euro oder bei Zinseinkünften von 1 000 Euro eine Null vergesse: In beiden Fällen ist es nur eine Null; die Auswirkungen sind natürlich ganz anders. Deshalb sollte man auch da immer genau hinschauen. Der Bundesrechnungshof fordert, das BMF solle auf eine grundsätzlich lückenlose Betriebsprüfung hinwirken. Das erinnert mich dann doch schon wieder an die Fußfessel. Dem schließe ich mich nicht ganz an. Grundsätzlich meine ich aber schon, dass Außenprüfungen ihre Berechtigung haben. Ihrer Forderung, jetzt schnell eine neue gesetzliche Regelung einzuführen, kann ich mich aber nicht anschließen. Sie wissen so gut wie ich, dass eine mögliche Gesetzesänderung auf diesem Gebiet nur mit Zustimmung der Bundesländer erfolgen kann. Manchmal ist ein föderaler Staat auch ein bisschen lästig. ({1}) Aber wir wollen ihn ja. Deshalb müssen wir mit dieser Art von Lästigkeit leben. Ich kann die Intention des Antrags verstehen. Auch mich treiben die Ergebnisse um; das ist überhaupt keine Frage. Aber Ihre Begeisterung für immer neue gesetzliche Regelungen teile ich nicht. Da halte ich es mit Helmut Schmidt, der sagt: Keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Deshalb lassen Sie uns lieber alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, gemeinsam mit den Ländern und gemeinsam mit dem BMF Wege zu finden, die gewährleisten, dass wir zu einer gerechten Lösung kommen. Das Gesetz dazu haben wir schon. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist sehr schwierig, wenn im Zusammenhang mit der gleichmäßigen und regelmäßigen Prüfung von Besteuerungstatbeständen ein Antrag formuliert wird, in dem es nur um diejenigen gehen soll, die 500 000 Euro und mehr verdienen. Ich muss der Frau Kollegin Tillmann völlig recht geben, wenn sie fragt: Was ist denn mit denjenigen, die ein Einkommen von 400 000 Euro haben? ({0}) Ich frage: Was ist denn mit denen, die ein Einkommen von 100 000 oder 70 000 Euro haben? Da haben doch der Bürger und die Bürgerin im Prinzip genauso das Recht, zu sagen: Wir erwarten, dass die Finanzbehörden auch in diesen Fällen vernünftig prüfen. Es ist ein sehr populistischer Ansatz - auch heute Morgen haben wir das schon erlebt -, wenn man sich allein mit Einkommensmillionären - vielleicht gibt es auch ein paar Einkommensmillionärinnen; aber die Männer Ihrer Fraktion haben es noch nicht gemerkt - beschäftigt. Man verliert dabei aus dem Auge, dass die nicht gleichmäßige und regelmäßige Prüfung von Besteuerungsgrundlagen durch die Finanzverwaltungen der Länder und Kommunen grundsätzliche Fragen der Steuergerechtigkeit betrifft und nicht nur die Frage: Was ist mit denen, die 500 000 Euro und mehr verdienen? ({1}) Wir haben heute bereits gehört - darauf wurde hingewiesen -, dass Steuerpflichtige mit einem Einkommen von mehr als 500 000 Euro häufiger geprüft werden, als es in Ihrem Antrag beschrieben worden ist. Es war ein Fortschritt, dass dies in der Föderalismuskommission I insofern geändert wurde, als Bezieher von Einkommen in dieser Höhe als Großbetrieb eingestuft werden. Das führt automatisch zu einer größeren Prüfungsdichte. Die Regelung wird inzwischen in der Praxis vollzogen. Der Bericht des Bundesrechnungshofs 2006 hat gravierende Mängel vor allem beim Vollzug der Steuergesetze benannt und wichtige Empfehlungen gegeben. Wir sollten uns mit diesem Bericht auseinandersetzen und ihn sehr ernst nehmen, wenn es um die Frage geht, wie wir den Vollzug der Steuergesetze auf Bundesebene, aber vor allem auch in den Ländern verbessern können. ({2}) Ich halte es nicht für hinnehmbar, dass der Steuereinzug in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich durchgeführt wird. In Berlin beispielsweise - darauf wurde schon hingewiesen; damit hat der Kollege Wissing völlig recht - gibt es eine laxere Praxis als in anderen Bundesländern. In Bayern versteht man die Nichtprüfung von Unternehmen als Wirtschaftsförderung. Hessen sieht das ähnlich. So kann man aber auch nicht vorgehen. Wir müssen meines Erachtens zu Maßstäben kommen, die von allen gleichermaßen zugrunde gelegt werden, damit Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik nicht durch unterschiedlichen Steuervollzug unter Ausschluss der Öffentlichkeit betrieben wird. Denn das schadet unserer Wettbewerbsfähigkeit und ist unfair gegenüber den Unternehmen, denen keine Steuerentlastungen eingeräumt werden - wie es in Berlin zum Teil der Fall ist -, sondern die ihre Steuern zahlen müssen. ({3}) Das BMF plädiert für eine Bundessteuerverwaltung. Es ist wünschenswert, dass uns die Länderzahlen von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern vorgelegt werden, um die Akzeptanz hinsichtlich der Verfahrensgrundsätze einschätzen zu können. Unsere Kleine Anfrage wurde nicht so beantwortet, wie wir Grünen es uns gewünscht hätten. Wir werden nachbohren und genauer nachfragen, wie das Steuersystem aussehen soll. Wir werden uns auch mit dem Prüfungsturnus in den einzelnen Ländern stärker auseinandersetzen. Es ist gut, dass die Weisungsrechte des Bundes gegenüber den Ländern gestärkt wurden. Die Länder sollten sich im Rahmen der Föderalismusreform II mit der Frage befassen, wie sie diese Maßstäbe in ihren Verwaltungen anwenden können. Das wäre der richtige Weg. Die Erosion von Steuereinnahmen durch unterschiedliches Verwaltungshandeln muss ein Ende haben. Die Föderalismusreform II hat dabei eine Bringschuld. Es darf nicht sein, dass der Ehrliche der Dumme ist. Insofern brauchen wir in der gesamten Bundesrepublik einen ordentlichen Steuervollzug. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache16/3699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN US-Raketenabwehr und Europa - Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern - Drucksache 16/4854 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Alexander Bonde.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist dringend an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag zu den Raketenabwehrplänen der USA auf europäischem Territorium eine gemeinsame Position findet. Die Stellungnahmen der Bundesregierung zu diesem Thema sind in sich nicht schlüssig. Die Regierungsposition ist von parteipolitischen Widersprüchen, allgemeinen Aussagen und scheinbarer Unkenntnis in der Beantwortung parlamentarischer Fragen geprägt und von widersprüchlicher Rhetorik getragen. Das Parlament hat die Verantwortung, dem Herumgeeiere an diesem sicherheits-, abrüstungs- wie außenpolitisch zentralen Punkt ein Ende zu setzen und die deutsche Position deutlich zu machen. ({0}) In den letzten Tagen und Wochen haben wir einiges erlebt. Der geschätzte Staatsminister Erler, der gerade eingetroffen ist, hat eine Vorlage geliefert. In der Beantwortung unserer Kleinen Anfrage zu diesem Thema erklärte er, die Bundesregierung plane nicht, über das Raketenabwehrsystem im Rahmen der EU zu diskutieren. Zeitgleich erklärte er aber in der „Badischen Zeitung“, unserer gemeinsamen Heimatzeitung, dass eine Befassung innerhalb der EU erfolgen muss. Da fragen wir uns, da fragt sich die Öffentlichkeit: Was ist nun die Position der Bundesregierung? ({1}) Wir haben ebenso wie die Verbündeten ein Recht, zu erfahren, wie die Position der Bundesregierung aussieht. Das Thema muss auf die europäische Agenda; denn der erweiterte Schutz Europas ist keine Frage, die man unbeantwortet lassen darf, ist keine bilaterale Angelegenheit zwischen den USA und unseren europäischen Nachbarn. Es ist vielmehr eine Frage, die wir gemeinsam beantworten müssen. Javier Solana hat recht: Die Sicherheit Europas ist nicht teilbar, und die EU-Mitglieder sind bei aller Souveränität verpflichtet, die allgemeinen Sicherheitsinteressen der Union zu definieren und gemeinsam darüber zu diskutieren. Innerhalb der NATO muss man sich trotz grundsätzlicher Differenzen und unterschiedlicher Bedrohungswahrnehmungen damit auseinandersetzen. Es reicht nicht, sich technisch an ein System, das auf widersprüchlichen Bedrohungsannahmen basiert und im nationalen Alleingang von einem Partner durchgesetzt wurde, anzubinden. Es muss vielmehr darum gehen, zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen. Dazu bedarf es der gemeinsamen Willensbildung in Europa und der gemeinsamen Risikoanalyse. Auch Deutschland muss die Situation für sich wirklich bewerten. Meine Fraktion begleitet die Raketenabwehr aus verschiedenen Gründen kritisch. Im Gegensatz zu anderen lassen wir uns keinen russischen Bären aufbinden. Für uns geht es um zentrale außen-, sicherheits- und abrüstungspolitische Implikationen. Man muss sich überlegen, was es bedeutet, wenn man versucht, ein politisches Risiko mittels eines Raketenabwehrsystems technisch zu lösen. Abgesehen von den immensen Zweifeln an der technischen Machbarkeit dieses Systems ist dieser Ansatz, wie wir wissen, immer dann zum Scheitern verurteilt, wenn sich das Hauptaugenmerk der Sicherheitspolitik auf die technische Beherrschbarkeit richtet und nicht auf die Bildung von Vertrauen, was, wie Herr Steinmeier richtigerweise gesagt hat, die eigentliche Frage ist. Zum anderen erodiert das Raketenabwehrsystem die ohnehin angeschlagenen Abrüstungs- und Nonproliferationsprozesse. Wir alle wissen aus der Geschichte, dass solche technischen Systeme die Aufrüstung in der Tendenz nicht beenden, sondern eher Anreize setzen, um auf der technischen Ebene Überwindungsstrategien zu finden. Der Vorwurf der Aufrüstungsspirale ist insofern schwer zu widerlegen. Wir alle wissen, dass wir zurzeit eigentlich mehr Initiativen Deutschlands und Europas für Abrüstung brauchen. Deshalb ist diese Diskussion notwendig. Ich glaube - das will ich noch sagen -, dass die Regierung fahrlässig handelt, wenn sie in ihren Antworten auf unsere Fragen so tut, als wisse sie nichts davon, dass die amerikanischen Pläne vorsehen, dieses System im nächsten Schritt mit der Weltraumrüstung zu verbinden; denn die Interviews der zuständigen US-Militärs und der politischen Spitze zu diesem Thema sind bekannt. Es ist bekannt, dass im Budget der zuständigen Institution, der Missile Defense Agency, für Tests von weltraumbasierten Waffenkomponenten Gelder eingestellt werden. All das muss dazu führen, dass wir eine klare Position beziehen. Ich würde mich freuen, wenn die SPD ihre neuerliche Friedenserweckung nicht nur in den Zeitungen und auf den Ostermärschen zum Ausdruck bringt, sondern diese Gelegenheit nutzt, dieser Position zuzustimmen. Das würde zeigen, dass Sie das, was Sie formuliert haben, ernst meinen. Sie werden erkennen, dass sich viele der richtigen Erkenntnisse Ihres Außenministers, Ihres Staatsministers und Ihres Parteivorsitzenden wörtlich in unserem Antrag wiederfinden. Wenn Herr Scholz recht hat und die SPD-Fraktion hinter ihrem Parteivorsitzenden Beck steht, dann sehe ich keinen Grund, weshalb Sie seiner Position - zum Teil wörtlich im Antrag formuliert - heute nicht zustimmen können. Wir werden das sehr genau beobachten. Glaubwürdigkeit wird nicht nur durch Reden, sondern auch durch Handeln und bei Abstimmungen erlangt. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktionen hat der Kollege Dr. Lamers das Wort. ({0})

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Raketenabwehr hat sich in wenigen Tagen durch das Zutun vieler zu einem roten Tuch entwickelt. Obwohl die Entwicklung schon seit vielen Jahren im Gange ist, wird jetzt von verschiedenen Seiten der Eindruck erweckt, es beginne eine neue Phase des Wettrüstens. Genau das ist in meinen Augen nicht der Fall. Ich meine, wir alle sind gut beraten, die Entwicklung zunächst einmal vorurteilsfrei anzugehen, einzuschätzen und zu bewerten. Für populistische Angstmacherei ist hier in meinen Augen überhaupt kein Platz. ({0}) Jede Raketen- und Flugkörperabwehr soll doch letztendlich nur eines erreichen: dass nukleare und sonstige Massenvernichtungswaffen ihr Ziel nicht erreichen, das heißt vor dem Erreichen ihrer Ziele zerstört werden. Darum geht es. Wer auch immer solche Massenvernichtungswaffen einsetzen oder mit ihrem Einsatz drohen will, muss wissen, dass seine Waffe stumpf ist und aufgrund unserer Abwehrfähigkeit ihr Ziel nicht erreichen kann. Genau darum geht es und um nichts anderes. Wir wollen nicht erpressbar werden, nicht durch den Iran, nicht durch Nordkorea, durch niemanden. ({1}) Raketenabwehr bedeutet nicht Wettrüsten, wie einige uns weismachen wollen. Für mich bedeutet Raketenabwehr im Gegenteil die Chance zur Abrüstung der ungeheuren Potenziale von offensiven Massenvernichtungswaffen. Was macht es denn noch für einen Sinn, solche Waffen zu beschaffen, wenn sie keine Wirkung mehr entfalten? Die Zeiten haben sich geändert. Nukleares Wettrüsten gab es in der Tat in früheren Zeiten, im soDr. Karl A. Lamers ({2}) genannten Kalten Krieg, der allerdings ganz andere Rahmenbedingungen hatte als unsere heutige globale Sicherheitslage. In den Jahren des Kalten Krieges galt die Philosophie der Mutual-assured-Destruction, der gegenseitigen gesicherten Zerstörung. Durch Hochrüstung hielten sich die Supermächte gegenseitig in Schach, wobei jeder wusste, dass er selbst bei einem nuklearen Angriff durch einen entsprechenden Gegenschlag auch vernichtet würde. Ich frage Sie: Gilt diese Strategie auch heute noch in einer völlig veränderten Welt? Gilt dies noch in einer Zeit, in der wir es mit Terrorregimen, Suizidbombern und mit potenziell irrational Handelnden zu tun haben? Die Entwicklung von Abwehrfähigkeit könnte sich als lebensrettend für Staaten und Menschen erweisen. Das treibt mich und uns alle zurzeit bei diesem Thema um. In der laufenden Diskussion wird behauptet, das geplante amerikanische Raketenabwehrsystem bedrohe Russland und schaffe neue Instabilität. Wir alle erinnern uns an die Rede des russischen Präsidenten Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Da haben manche ja gedacht, die Entwicklung dieses Systems vollziehe sich ohne die Einbeziehung Russlands. Man hatte den Eindruck, dass Putin gerade zum ersten Mal davon erfahre. Das wäre in der Tat fatal gewesen. Denn zum Glück ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, Russland oft einzubeziehen, mit ins Boot zu nehmen und angesichts großer gemeinsamer Bedrohungen eine Politik des Miteinanders zu vereinbaren. Aber glücklicherweise war es ja nicht so. Denn wie wir heute wissen, ist über dieses Projekt im Rahmen des NATO-Russland-Rates mehrfach gesprochen worden. Die Verteidigungsminister Russlands und der Vereinigten Staaten von Amerika haben mehrfach darüber gesprochen. An die Adresse von

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Wer Transparenz bei der anstehenden Verwirklichung eines Raketenabwehrsystems verlangt, sollte auch selber Offenheit und Transparenz zeigen, wenn es um die Kommunikation über dieses Thema geht. ({0}) Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema auf den Konferenztisch der NATO gehört. Deswegen bin ich sehr froh, dass die Vereinigen Staaten von Amerika in den zurückliegenden Tagen deutlich gemacht haben, dass sie überhaupt nicht an einen Alleingang denken, sondern dass sie bereit und entschlossen sind, alle NATO-Partner in ihre Überlegungen und Pläne einzubeziehen. Denn wenn unsere NATO-Partner Polen und Tschechien einbezogen sind, geht es nicht nur um diese beiden Staaten, sondern um die NATO insgesamt und um Europa. Keiner darf die Chance bekommen, einen Keil in unsere Bündnisse zu treiben, wie es die Bundeskanzlerin - ich meine: zu Recht - gesagt hat. Uns interessiert nämlich schon, wer durch den Raketenschirm geschützt wird: ganz Europa oder nur ein Teil Europas. Für mich ist auch wichtig: Russland muss begreifen, dass zehn Abwehrraketen in Polen keine Bedrohung für das eigene Land darstellen. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum zehn Raketenabwehrsysteme Russland um den Schlaf bringen. Das müssen wir offen kommunizieren, auch und gerade mit Blick auf Russland. Eigentlich - das habe ich eingangs gesagt - geht es auch überhaupt nicht um Russland. Es geht um etwas ganz anderes, nämlich um den Schutz der Menschen unter dem Raketenschirm gegenüber irrational handelnden Terrorstaaten. Ich bin überzeugt, dass auch Russland daran ein Interesse hat. Eine Bedrohung ist dieses Abwehrsystem keinesfalls. Mit seiner Münchener Rede hat Präsident Putin dieses Thema schlagartig auf die Agenda der Weltpolitik katapultiert. Wir reden jetzt im Bundestag darüber, und wir reden auch auf der Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO darüber. Diesen Vorschlag habe ich erst am letzten Wochenende beim Standing Committee gemacht. Wir werden das tun, und das ist auch richtig. Dieses Thema gehört auf die Agenda der Parlamentarier aus Europa, Kanada und Amerika. Ich begrüße es, dass die NATO auf Vorschlag von Jaap de Hoop Scheffer im NATO-Rat und im NATO-RusslandRat offen über dieses Thema diskutieren wird. ({1}) Im Übrigen will ich betonen, dass das geplante System defensiv, nicht offensiv ist. Weil es sich um ein reines Abwehrsystem handelt, kann sich weder Russland noch irgendein anderer Staat davon bedroht fühlen. Eines ist sicher: Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit Raketen und Flugkörpern wird somit nicht nur sinnlos - er war schon immer sinnlos -, sondern verfehlt auch seinen Zweck und sein Ziel. Die USA haben in den letzten Jahren viel in Missile Defense investiert, um Bedrohungen von sich, aber auch von Europa abzuhalten. Auch das Raketenabwehrprogramm der NATO sollte in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, wenn es auch nicht damit identisch ist. Wir sollten darauf achten, dass all diese Systeme, die entwickelt werden, um Menschen zu schützen, miteinander kompatibel sind, damit sie wie Zahnräder ineinandergreifen. Dann haben wir Gemeinsamkeit, nämlich gemeinsam mehr Sicherheit. Darum geht es. Sicherheit ist unteilbar. Das ist einer der Glaubensgrundsätze der NATO. Wir alle, mit und ohne Abwehrsysteme, müssen uns in der zukünftigen strategischen Wirklichkeit wiederfinden können. Es kann und darf im euro-atlantischen Raum keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben. Deshalb ist der Schulterschluss zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO gerade in der Frage der Raketenabwehr unabdingbar. In einer Zeit, in der wir neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus, potenziell auch durch Terrorstaaten, die im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind, ausgesetzt sind, brauchen wir auch Russland. Wir müssen das in den zurückliegenden Jahren aufgebaute Vertrauen weiter ausbauen. Auf genau diesem Weg befinden wir uns. ({2}) Dr. Karl A. Lamers ({3}) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir Parlamentarier den Kern unseres Handelns darin sehen, alles zu tun, um den Frieden zu wahren und Bedrohungen von unseren Völkern abzuwenden. In einer Zeit völlig neuer Szenarien fundamentaler Bedrohungen müssen wir umso offener sein, neue Wege zu gehen. Die Chancen, die sich durch die Entwicklung von Defensivwaffen auftun, ermöglichen uns, das zerstörerische Potenzial von Offensivwaffen weiter abzubauen. Also: Das Bekenntnis zu einem Abwehrsystem bietet die Chance größerer Abrüstung. Dies heute ist für mich der Einstieg in eine umfassende Erörterung dieses Themas. Ich bitte alle um Sachlichkeit, ich bitte darum, der Versuchung des Populismus zu widerstehen und vor allem keine voreiligen politischen Entscheidungen zu treffen, bevor wir das Für und Wider sorgfältig gegeneinander abgewogen haben. ({4}) Ich danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass wir heute zum zweiten Mal innerhalb von zehn Tagen über die mögliche Stationierung einer US-Raketenabwehr auf europäischem Boden diskutieren, ist sicher ein guter Beweis für die grundlegende außenund sicherheitspolitische Bedeutung dieses Themas. Daher verwundert es mich sehr, wenn vonseiten der Bundesregierung der Eindruck erweckt wird, als sei dieses Thema quasi vom Himmel gefallen. Denn ein Raketenabwehrsystem als gemeinsames Projekt der NATO wird seit Jahren in den entsprechenden Gremien diskutiert. Diese Diskussionen sind gekennzeichnet durch divergierende Risikoeinschätzungen sowie das Fehlen einer kohärenten sicherheitspolitischen Richtung. Ein entsprechender US-Vorschlag liegt der NATO schon seit 2002 vor. Deutschland hat dazu bis heute nicht vernehmbar Stellung bezogen. ({0}) Wenn die Bundeskanzlerin nun den Eindruck zu erwecken versucht, die Diskussion über die amerikanische Raketenabwehr auf NATO-Ebene führen zu wollen, frage ich mich, was denn bisher im Bundeskanzleramt angekommen ist. Ein Außenminister, der anmerkt, es wäre besser gewesen, mit der russischen Seite früher über das Vorhaben zu reden - das ist ein Zitat -, scheint vor allem nicht frühzeitig genug mit seinem Fachreferat darüber gesprochen zu haben. ({1}) Im Auswärtigen Amt weiß man sehr wohl, dass das Thema einer US-Raketenabwehr auf europäischem Territorium im NATO-Russland-Rat bereits früh auf der Tagesordnung stand. Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen ist eine Vielzahl von abrüstungspolitischen Zielen, die wir begrüßen und auch selbst schon beantragt haben, formuliert. Dennoch findet dieser Antrag nicht unsere volle Zustimmung. Denn insbesondere die bündnisgrüne Forderung nach einer vollständigen Aufgabe der nuklearen Teilhabe teilen wir Liberale in der vorliegenden Form nicht. ({2}) Deshalb wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung enthalten. Denn ein möglicher Abzug der amerikanischen Atomwaffen muss ebenso wie die Stationierung einer möglichen Raketenabwehr eng mit den Vereinigten Staaten und vor allem innerhalb der NATO auf Basis einer gemeinsamen Risikoabschätzung abgestimmt werden. Die Sicherheit Europas kann - bei allen Divergenzen nicht losgelöst von diesen Beziehungen betrachtet werden. Welchen Gewinn soll es bringen, die nukleare Teilhabe aufzugeben? Wir erreichten dann einen Status, in dem die beiden einzigen europäischen Atommächte ohne verpflichtende Bindung an die NATO mit ihrem Atompotenzial verfahren würden. Wir würden damit also ein Weniger an gemeinschaftlichem Eintreten für Frieden und Sicherheit erreichen, kein Mehr. Außerdem muss die Frage erlaubt sein, wieso das Thema „nukleare Teilhabe“ in sieben Jahren rot-grüner Bundesregierung nie in den entsprechenden NATO-Gremien auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Der NATO-Generalsekretär hat damals deutlich zu verstehen gegeben, dass die Bundesregierung es nur sagen müsse, wenn sie die nukleare Teilhabe thematisieren möchte. Wie der vorliegende Antrag aber auch deutlich macht, kann die US-Raketenabwehr nicht losgelöst von den anderen Entwicklungen in der globalen Abrüstungspolitik diskutiert werden. Die russischen Reaktionen auf die trilateralen Raketenabwehrpläne und die damit verbundene Drohung Moskaus, den INF-Vertrag zu kündigen, sind nur ein Symptom der grundlegenden Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Das nukleare Nichtverbreitungsregime gerät aus den Fugen, die Genfer Abrüstungskonferenz blockiert sich seit Jahren selbst, und an die Stelle von multilateralen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind vielfach bilaterale Abkommen, Ad-hoc-Initiativen oder sogenannte „Coalitions of the Willing“ getreten. Ein rein trilaterales Vorgehen bei der Stationierung des Raketenabwehrsystems würde diese Krise weiter verschärfen und die vertrauensvolle Zusammenarbeit im transatlantischen Bündnis auf die Probe stellen. Darüber hinaus ist die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt ein mehr als unglückliches Signal in Bezug auf die Nuklearambitionen Teherans. Wer einen Raketenabwehrschirm als zentralen Teil einer Containment-Strategie gegenüber dem Iran betrachtet, hat sich bereits mit einer möglichen nuklearen Bewaffnung Teherans abgefunden. ({3}) Daher muss die Bundesregierung ihre Einwirkungsmöglichkeiten, die sie sowohl im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft als auch durch den G-8-Vorsitz hat, durch eine klare Linie in dieser wichtigen Angelegenheit nutzen. Das wird dringend notwendig sein, weil die kommenden fünf Jahre für die Zukunft sowohl der nuklearen als auch der konventionellen Rüstungskontrolle sowie der globalen Abrüstungsbemühungen existenziell sind. START I und SORT stehen zur Verlängerung an. Die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsregimes im Jahre 2010 wird zum Testfall für die Zukunftsfähigkeit der Nichtverbreitung. Der angepasste KSE-Vertrag wartet seit 1999 auf seine Ratifizierung; ohne diese Ratifizierung unterliegen die Zahlen der Streitkräfte in den neuen NATO-Staaten auch weiterhin keiner Begrenzung. Es ist daher dringend an der Zeit, dass die Bundesregierung ihre Vorstellungen über die zukünftige Abrüstungspolitik mit Nachdruck in die internationalen Gremien einbringt und mit ebensolchem Nachdruck auf eine Lösung hinarbeitet. Unsere Unterstützung werden Sie dabei haben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion. ({0})

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Hoff, lassen Sie mich genau an diesen Punkt, den Sie am Schluss erwähnt haben - erhebliche Teile Ihrer Bedenken, die Sie am Schluss geäußert haben, teile ich -, anknüpfen. Wir haben mitverfolgt, dass es beispielsweise 2005 ein vollständiges Desaster bei der Überprüfungskonferenz gab. Schauen Sie sich darüber hinaus - Sie haben das nur angedeutet - die Aufrüstungsbestrebungen zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich sowie die Überlegungen hinsichtlich der Ersatzsprengköpfe in den USA an, welche dort mit einem technologischen Projekt vorangetrieben werden. Ich glaube in der Tat, dass wir versuchen müssen, diese ganze Debatte, die doch sehr alarmistisch klingt, einfach einmal vor dem Hintergrund des wirklichen Problems zu führen. Ich denke, das wirkliche Problem liegt darin, dass der Abrüstungsprozess nach den Verhandlungen über START leider ins Stocken geraten ist. Im Moment sehen wir eher die Gefahr, dass es unter dem Stichwort der Modernisierung zu neuen Aufrüstungsprozessen kommt. Das ist doch das eigentliche Problem, das sich dahinter versteckt. Wenn es uns gelänge - so verstehe ich das, was der Außenminister gesagt hat -, an den Abrüstungsprozess neu anzuknüpfen, dann würden wir in dieser gesamten Diskussion einen ganz neuen Impuls und Schub bekommen. Daher rate ich dringend dazu, dass wir diesen Einzelpunkt, über den jetzt debattiert wird, nicht alleine herausgreifen. Der Kollege Dr. Lamers hat einen ganz zentralen und politisch wichtigen Punkt angesprochen, in dem ich ihm ausdrücklich zustimme. Wir, die wir keine Atommächte sind, auch nie werden wollen, müssen die Atommächte daran erinnern - darum bitte ich -, dass sie es mit ihrem eigenen Handeln in der Hand haben, dafür zu sorgen, dass die Aufrüstungsprozesse gestoppt und neue Abrüstungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Das ist der zentrale Punkt. ({0}) Herr Dr. Lamers, dazu gehört insbesondere das, was Sie gesagt haben: Es kommt darauf an, dass wir Russland mit einbeziehen und Vertrauen bilden. Wenn ich das Ergebnis des Telefongesprächs zwischen Bush und Putin richtig bewerte, dann stehen wir im Moment möglicherweise kurz davor - hier spielt der G-8-Gipfel in Deutschland dann vielleicht doch eine Rolle -, dass sich die beiden einigen. Denn inhaltlich und sachlich ist es ja völlig richtig, was auch Sie, Herr Dr. Lamers, sagen. Gesetzt den Fall, dass man rational prüfen könnte, was NMD bedeutet - das ist ja in der Tat ein Abwehrsystem -, muss man sich aber auch politisch darüber im Klaren sein, dass selbst Abwehrsysteme zu ganz ungeahnten politischen Nebenwirkungen führen können. Aus diesem Grunde - und nicht nur aus technologischen Gründen - hat Bill Clinton damals gesagt: Dieses Projekt verfolge ich nicht weiter. Vielleicht kann man in der politischen Diskussion etwas Zeit gewinnen, damit sich in der amerikanischen Administration und im amerikanischen Kongress solche Überlegungen wieder neu einstellen können. Ich halte das gar nicht für unmöglich. Es ist zwar richtig, dass man klare Positionen beziehen muss, aber wir können am besten dann klare Positionen beziehen, wenn durch die Machbarkeitsstudie die von uns gestellten Fragen beantwortet werden. Es gibt keine Festlegung der Bundesregierung in diesem Punkt! Es gibt keine politische Festlegung, dass wir das akzeptieren, was NMD betrifft. Auch bei der neuen Variante gibt es keine Festlegungen. Wir müssen die Antworten auf die Fragen sorgfältig prüfen und danach eine politische Bewertung abgeben. Am Anfang hat jemand Staatsminister Erler erwähnt. ({1}) - Entschuldigung, Kollege Bonde, Sie waren das. ({2}) Gert Weisskirchen ({3}) - Herr Erler weiß sehr wohl, wovon er spricht. ({4}) Die Position, die er in dem Interview mit der „Berliner Zeitung“ - darauf haben Sie offenbar Bezug genommen - deutlich gemacht hat, ist eine Position, die ein Sozialdemokrat notwendigerweise beziehen muss. Denn wir alle wollen doch gemeinsam, dass Aufrüstungsprozesse gestoppt und Abrüstungsprozesse in Gang gesetzt werden. ({5}) Das wollen wir alle gemeinsam. Das, was Staatsminister Gernot Erler zu diesem Punkt gesagt hat, findet die volle Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion - damit das ganz klar ist. ({6}) Für die schnelle Abfolge der Beratungen, die in diesem Hause seit zwei Wochen stattfinden, gibt es keinen wirklich plausiblen Grund. Frau Hoff, da haben Sie recht. Die deutsche Politik steht bei diesem Thema nicht unter Zeitdruck. Natürlich muss geklärt werden, was möglicherweise auf uns zukommt. Das hat zum Beispiel der Parteivorsitzende der SPD sehr klar gesagt. Im politischen Prozess ist für uns wichtig, dass die Bundesregierung - wie die SPD - deutlich macht: Wir wollen weder eine neue Rüstungsspirale durch Modernisierung vorhandener Waffensysteme noch eine Gefährdung bestehender Abrüstungsvereinbarungen. Vielmehr wollen wir, dass sich der Wettbewerb zwischen den offensiven und den defensiven strategischen Waffen, den es übrigens seit vielen Jahren gibt, nicht in Richtung einer Steigerung entwickeln wird. Wenn es einen solchen Wettbewerb zwischen Abwehrsystemen und strategischen Offensivsystemen geben wird, dann wird es eben nicht zu Abrüstungsprozessen, sondern zu Aufrüstungsprozessen kommen. ({7}) Ich glaube nicht, dass irgendjemand bei uns - wer auch immer - ein wirkliches Interesse daran haben kann, dass Aufrüstungsprozesse in Gang gesetzt oder gar durch unseren politischen Willen getragen und vorangetrieben werden. Ich wünsche mir, dass wir in dieser Debatte vom Alarmismus wegkommen. Herr Bonde hat das auch so schön zugespitzt formuliert: Es geht hier nicht um den Wettbewerb zwischen friedenspolitischen Orientierungen, sondern darum, wie es uns gelingen kann, den historischen Prozess der Abrüstung wieder neu in Gang zu setzen. Ich wünsche mir, dass wir unsere politischen Kräfte darauf konzentrieren, weitere Aufrüstungsprozesse zu stoppen. Das lerne ich aus dieser Diskussion. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Paul Schäfer das Wort. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über einen Antrag der Grünen. Dieser Antrag ist nicht schlecht. Da wir auch andere Fraktionen ermuntern wollen, sich abrüstungspolitisch zu engagieren, werden wir ihn unterstützen. Gleichwohl werden wir einen eigenen Antrag einbringen, in dem wir die Sache auf den Punkt bringen. In dem Antrag der Grünen heißt es: Die Pläne zur Raketenabwehr sollen erst einmal auf Eis gelegt werden. - Nein, diese Pläne müssen ad acta gelegt werden. ({0}) Das ist eine klare Position. Ob das auch für Sie, die Sozialdemokraten, gilt, fragen wir uns sicherlich alle in diesem Haus. Ob es beim Nein Ihres Parteivorsitzenden zu neuen Raketen bleibt, wird man sehen. Ich glaube zwar, dass Sie nicht nur auf die Wählerstimmen schauen, sondern dass Sie echt besorgt sind. Aber wir werden sehen, inwieweit Sie diesen Konflikt innerhalb der Koalition austragen und was am Ende dabei herauskommt. Um es klar zu sagen: Es kann nicht nur darum gehen, dass Russland etwas besser eingebunden wird, dass wir bei den neuen Waffensystemen etwas mehr Mitsprache - im Sinne der nuklearen Teilhabe - bekommen und dass einige offene technische Fragen geklärt werden. Nein, es muss deutlich gemacht werden: Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich an diesem neuen Rüstungsprojekt in keiner Weise. ({1}) Zweitens. Die Bundesregierung muss darauf drängen, dass sich in der EU die möglichst einheitliche Haltung durchsetzt, dass wir keine neuen Raketen in Europa haben wollen. Das wäre ein Rückenwind für die zunehmend kritischer werdende Öffentlichkeit in Polen und Tschechien. Ich finde, es ist vollkommen korrekt, wenn Menschen dort sagen: Wir wollen in unseren Ländern ein Referendum über das Raketenabwehrsystem haben. Diese Menschen sollten wir unterstützen. ({2}) Drittens. Es muss alles daran gesetzt werden, durch eine konsequente Abrüstungspolitik bei den Massenvernichtungswaffen die Bedrohung erst gar nicht entstehen zu lassen, gegen die man jetzt vorrüsten will. Die Gefahr der Weiterverbreitung ist sicherlich kein Hirngespinst; das sage ich ganz klar. Aber der Ausgangspunkt ist die Verbreitung der vorhandenen Waffen, also die Tatsache, dass es eine Gruppe von Staaten, die Atommächte, gibt, die von ihrem Monopol auf diese TerrorPaul Schäfer ({3}) waffen nicht abrücken wollen. Daher ist nach meiner festen Überzeugung eine Nichtweiterverbreitung nur zu erreichen, wenn alle erdenklichen Schritte eingeleitet werden, die vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu ächten und loszuwerden. Das reicht vom Abzug der Atomsprengköpfe auf deutschem Boden über die Etablierung einer atomwaffenfreien Zone in Europa bis zur verbindlichen Reduzierung der strategischen Waffenarsenale. Wir müssen den Grundgedanken der gemeinsamen Sicherheit, der aus dem Kalten Krieg herausgeführt hat, wiederbeleben. Das verträgt sich aber nicht mit Präemptionsstrategien und militärischen Strategien zur Einkreisung Russlands. Mit Blick auf die Überprüfungskonferenz 2010 muss das vielmehr bedeuten, endlich den Blix-Report Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Mit diesem Report liegt ein Handbuch vor, aus dem hervorgeht, was abrüstungspolitisch zu tun ist. Auf seine Umsetzung müsste die Bundesregierung energisch drängen. Man könnte auch über neue Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen sprechen, und zwar gerade mit den Ländern, die gegenwärtig dabei sind, sich neue Waffentechnologien zuzulegen. Dabei könnte es zum Beispiel um einen allgemeinen Teststopp bei Raketen mit langer Reichweite gehen. Das würde als erste Schritte voraussetzen, mit der nuklearen Abrüstung zu beginnen und mit den betreffenden Ländern über ihre legitimen Sicherheitsprobleme zu reden. Das gilt auch für den Iran und Nordkorea. Statt in eine neue Aufrüstungsspirale einzusteigen, muss nun alles getan werden, um eine neue Abrüstungsdynamik zu entwickeln. Die Karwoche beginnt mit dem Palmsonntag. Der Palmzweig ist das Symbol des Friedens. Daran knüpfen auch die traditionellen Ostermärsche an. In diesem Sinne darf ich uns allen frohe Ostern wünschen. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4854 mit dem Titel „US-Raketenabwehr und Europa - Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der Antragsteller und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}), Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan beenden - Drucksache 16/4674 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Das Mandat für die Operation Enduring Freedom beenden - Einsätze des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan einstellen - Drucksache 16/121 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({4})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gibt den Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Recht, ihre Zustimmung zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu widerrufen. Dieses Recht ist, so denke ich, gleichzeitig eine Pflicht, diese Einsätze immer wieder zu überprüfen, sich eine Meinung dazu zu bilden und, wenn man zu der Auffassung kommt, man muss sie beenden, das hier im Parlament zu beantragen. Wenn wir beantragen, den Einsatz der KSK in Afghanistan zu beenden, ist unser Begehren, dass das Parlament von diesem Recht Gebrauch macht. Ich denke, man muss mehr darüber diskutieren, ob es genügt, wenn ein Parlament immer nur auf die Regierung schaut und wartet, ob ein Antrag kommt, um dann zuzustimmen oder abzulehnen, oder ob ein Parlament nicht auch zu Selbsttätigkeit aufgefordert ist. ({0}) Ich denke, das Parlament ist aufgefordert. Wir wollen, dass der Einsatz der KSK in Afghanistan beendet wird. Dazu möchte ich ein paar Gründe nennen. Aus meiner Sicht ist der Krieg in Afghanistan - nach all dem, was man liest, hört und weiß - militärisch nicht mehr zu gewinnen. Andere formulieren es etwas zurückhaltender; die Regierungskoalition sagt zum Beispiel, er sei „vorwiegend militärisch“ nicht mehr zu gewinnen. Man könnte zumindest sagen, der Krieg steckt in der Sackgasse. Wir als Linke waren immer der Auffassung, dass ein Kampf gegen den Terror gewonnen werden kann, wenn man sich um die Ursachen des Terrors kümmert, waren gleichzeitig aber immer der Auffassung, dass dieser Krieg gegen den Terror nicht zu gewinnen ist. Wenn solche Argumente nicht einmal einen Widerhall finden, dann bitte ich Sie ganz herzlich, Ihre Erfahrungen zu prüfen. Das erste Argument für diese Kriege war immer: Es sind Kriege gegen den Terror. Ich frage Sie heute: Ist die Gefahr des Terrors mit den Kriegen kleiner oder größer geworden? Sie ist größer geworden, das wird doch keiner leugnen. Das zweite Argument war immer: Es sind Kriege für Abrüstung. Ich frage Sie: Sind die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie der Waffenexport und Waffenhandel kleiner oder größer geworden? Sie sind größer geworden. Das dritte Argument war: Es sind Kriege für die Demokratie. Ich frage Sie heute, ob man den Zustand der Demokratie in den Ländern, die mit Krieg überzogen worden sind, so viel besser finden soll und ob es nicht so ist, dass auch die Demokratie in unseren Staaten durch die Art und Weise der Kriegsführung Schaden genommen hat. Ich frage mich, warum es Sie nicht bedenklich stimmt - ich sage das überhaupt nicht triumphierend -, wenn man jetzt in den Umfragen liest, dass 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Afghanistans die Zeiten während der Sowjetbesatzung und der Taliban-Herrschaft für korrekter und besser gehalten haben als die heutigen Zeiten. Ich frage Sie, ob es Sie nicht bedenklich stimmt, wenn 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes heute der Auffassung sind, dass die USA gefährlicher für den Frieden sind als der Iran. Wenn schon nicht die Sachargumente Sie überzeugen, dann müssten doch zumindest solche Argumente bei Ihnen den Eindruck erwecken, dass diese ganze Politik in der Sackgasse ist. Man muss heraus aus der Sackgasse; anders geht es doch nicht. ({1}) Jetzt hat der Kollege Klose von der SPD vorgeschlagen - ich finde, in sich geschlossen ist das sogar logisch; das ist nur nicht meine Politik -, man müsste sich darauf einstellen, mehr Kampftruppen nach Afghanistan zu schicken. Es liegt in der Logik: Wenn wir nicht aufhören, wird sich dieser Bundestag immer wieder damit beschäftigen müssen, für diesen Krieg neues Militär zur Verfügung zu stellen. In sich ist es logisch, politisch ist es falsch. ({2}) In einem Punkt hat Herr Klose allerdings Recht, nämlich als er gesagt hat, man solle aufhören, so zu tun, als ob die deutschen Soldaten in Afghanistan Entwicklungshelfer in Uniform seien. Man solle aussprechen - und ich will es hier aussprechen -: Deutschland führt Krieg in Afghanistan. ({3}) Das ist die Wahrheit. Mit der muss man sich auseinandersetzen, und man darf nicht immer darüber hinwegtäuschen. ({4}) Mit der Entscheidung, das KSK aus Afghanistan zurückzuziehen, würde ein anderes Zeichen gesetzt. Das wollen wir. Es wäre ein kleines Zeichen, aber immerhin. Ich darf Sie noch darauf aufmerksam machen, dass der § 6 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes die Bundesregierung verpflichtet, laufend und regelmäßig zu informieren. Einmal ehrlich gesagt, Kolleginnen und Kollegen: Außer den wenigen, die informiert werden, weiß doch keiner genau, was das KSK in Afghanistan macht. Das können Sie doch nicht leugnen. Sie wissen es einfach nicht. Ich darf es Ihnen nicht sagen, weil ich zur Geheimhaltung verpflichtet bin. ({5}) Das ist doch eine absurde Situation. Ich darf Ihnen noch nicht einmal sagen, ob das KSK jetzt in Afghanistan ist. Was ich Ihnen aber sagen darf, ist, dass das KSK dringend mit Beschluss des Parlaments zurückgezogen werden muss. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Ruprecht Polenz das Wort. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Linken beantragen, das Mandat für die Operation Enduring Freedom zu beenden und das KSK zurückzuziehen. Mit diesen Anträgen - das möchte ich ganz deutlich sagen - verabschieden Sie sich vom Kampf der Staatengemeinschaft gegen den internationalen Terrorismus. ({0}) Auch wenn Sie das nicht wollen - Sie werden dadurch zum Türöffner für die Taliban und al-Qaida. ({1}) Die Anträge der Linken zielen darauf ab, die Sicherheitslage in Afghanistan für Soldaten, zivile Aufbauhelfer und für die afghanische Bevölkerung selbst deutlich zu verschlechtern, und sie ignorieren dabei die tatsächliche Bedrohungslage vor Ort völlig. Der Einsatz in Afghanistan, sowohl von Enduring Freedom als auch von ISAF, dient der Bekämpfung der Terroristen, die vor dem Sturz der Taliban - ich finde es zynisch, wenn auf solche Umfragen hier im Bundestag Bezug genommen wird, Herr Gehrcke - ungehindert ausgebildet wurden und die auch nach dem Sturz vehement daran arbeiten, in Afghanistan wieder an Einfluss zu gewinnen. Die Taliban sind im vergangenen Jahr deutlich wiedererstarkt und ({2}) waren in keinem Jahr seit ihrem Sturz so aktiv wie 2006. ({3}) Jetzt Kräfte aus Afghanistan abzuziehen, würde ihnen in die Hände spielen. Die Taliban würden es als Zeichen verstehen, mit ihren Anschlägen die Staaten der internationalen Gemeinschaft zum Rückzug bewegen zu können. Damit hätten sie genau das erreicht, was sie wollen. Die Anträge der Linken zielen außerdem darauf ab, die Bündnissolidarität zu verletzen. Ich sage Ihnen: Wir werden uns unserer Verpflichtung nicht entziehen. Unsere Partner können sich auf den Einsatz auch unserer Soldaten verlassen. ({4}) Es sind 26 Nationen, die sich an der Operation Enduring Freedom beteiligen, darunter elf, die nicht der NATO angehören, beispielsweise Ägypten, Kenia, Australien und Neuseeland. Auch diesen Ländern gegenüber sind wir verpflichtet, wie wir in Westfalen sagen würden, hier „Poal“ zu halten. Die Bedrohung durch die Taliban betrifft auch uns in Deutschland. Auch unsere Sicherheit hängt entscheidend von der Entwicklung in Afghanistan ab; denn die Aktivitäten der Taliban und insbesondere von al-Qaida beschränken sich nicht auf Afghanistan. Die Anschläge in London, Madrid, Istanbul und nicht zuletzt der beabsichtigte Kofferbombenanschlag in Deutschland illustrieren das auf deutliche Weise. Wenn Sie, lieber Kollege Gehrcke, in den letzten Tagen aufmerksam Zeitung gelesen hätten, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass der Talibanführer Mullah Obaidullah Achund auch unsere Soldaten vor Ort massiv mit dem Tod bedroht hat. Ich zitiere: Keine der westlichen Truppen werde verschont, nicht die Deutschen, nicht die Briten, nicht die Kanadier und schon gar nicht die Amerikaner. Wir werden sie alle töten, wir dürsten nach ihrem Blut. Vor diesem Hintergrund wäre es absolut unverantwortlich, Kräfte, die dort dem Schutz unserer Soldaten dienen, abzuziehen. ({5}) Eine wesentliche Aufgabe des KSK ist nämlich die Aufklärung. Wenn wir wollen, dass die Begleitschäden bei den Kämpfen mit den Taliban durch präzise Aufklärung und eine gezielte Vorgehensweise möglichst gering bleiben, dann muss dort, wo Nachrichtendienste und Polizeikräfte wegen mangelnder Ausrüstung nicht eingesetzt werden können, der Einsatz von Spezialkräften möglich sein, um einen optimalen Erfolg zu erzielen. Experten sehen durch die ständig veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan für die Zukunft sogar einen erhöhten Bedarf für den Einsatz von Spezialstreitkräften; denn gerade die Schnelligkeit und Flexibilität des KSK ermöglichen es, gegen Kräfte zu operieren, die Kriegsführung mit asymmetrischen Mitteln betreiben. Im Übrigen war das KSK bereits auf dem Balkan beim Zugriff auf Kriegsverbrecher erfolgreich. Warum wollen Sie diese Kompetenz zur Bekämpfung der Taliban und zum Schutz der eigenen Soldaten von vornherein ausschließen? Es ist mir besonders wichtig, an dieser Stelle noch einmal anzumerken, dass der Einsatz von Spezialkräften nur einen Teilbereich des internationalen Engagements in Afghanistan darstellt. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes. ({6}) Um diese wichtige zivile Aufbauarbeit zu ermöglichen, ist die Sicherheitskomponente in unserer Strategie allerdings unabdingbar. Sollte diese Säule wegfallen, wie Sie in Ihrem Antrag fordern, werden auch die Bemühungen um einen erfolgreichen Wiederaufbau des Landes keine Chance mehr haben, sich gegen die zerstörerischen Anstrengungen der Taliban durchzusetzen. Allein in den letzten zwei Jahren sind in Afghanistan fast 100 Entwicklungshelfer ums Leben gekommen. In nur 18 Monaten wurden über 200 Attentate auf Lehrer, Schulen und Schüler verübt. Aus einigen südlichen Provinzen des Landes haben sich Entwicklungshilfeorganisationen aufgrund der instabilen Sicherheitslage bereits vollständig zurückgezogen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Polenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Polenz, Sie haben gerade gesagt, dass angesichts der Sicherheitslage die Tornado-Entsendung und auch die Präsenz der Bundeswehr für die zivilen Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer wichtig sind. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hatte eine Reise nach Afghanistan geplant. Diese Reise wurde unter anderem aus Sicherheitsgründen abgesagt. Uns, den Ausschussmitgliedern, wurde vom BKA mitgeteilt, dass sich die Situation selbst in Kabul stark geändert hat. ({0}) Unabhängig davon, ob man der US-Fahne oder der deutschen Fahne zugerechnet wird, ist es in Kabul mittlerweile so, dass man als Besatzer wahrgenommen wird. Die Tornado-Entscheidung hat das Klima in Kabul weiter verschärft. Ich wiederhole: Unser Ausschuss - er ist eigentlich derjenige, der für das Thema „ziviler Wiederaufbau“ zuständig ist - konnte aus Sicherheitsgründen nicht nach Afghanistan fahren, weil weder die Bundeswehr noch das BKA unsere Sicherheit gewährleisten konnten. ({1}) Das BKA selbst hat einen Zusammenhang zur TornadoEntscheidung und dazu, dass ein Journalist im Austausch freigelassen wurde, hergestellt. Was sagen Sie zu dieser Einschätzung?

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst einmal bedanke ich mich bei Ihnen für den langen Vorspann, der noch einmal deutlich gemacht hat, dass das, was ich zur Sicherheitslage ausgeführt habe, um weitere Beispiele hätte ergänzt werden können. ({0}) Das war mir wegen meiner beschränkten Redezeit aber nicht möglich. ({1}) - Sie machen den Zwischenruf: „Das zeigt doch nur, dass der Krieg verloren ist!“ Wenn Sie damit - wie in Ihren Anträgen - dafür werben wollen, dass wir uns aus Afghanistan zurückziehen, dann sollten Sie sich als Erstes bewusst machen, was das für diejenigen Afghanen heißt, die bisher mit uns zusammengearbeitet haben, um dieses Land aufzubauen. ({2}) Wenn die Taliban an die Macht kämen, wären sie die Ersten, die die Taliban einen Kopf kürzer machten. Wenn Sie das unter verantwortlicher Politik verstehen - im Grunde liegt auch Ihren Anträgen dieser Geist zugrunde -, dann sind Sie in der Tat völlig ungeeignet, deutsche Außenpolitik mitzugestalten und mitzubestimmen. ({3}) Es kann auch nicht in unserem eigenen Interesse sein, dass alle unsere Anstrengungen zum Wiederaufbau des Landes zunichte gemacht werden, wie es die Folge der Strategie wäre, die uns die Linke anempfiehlt. ({4}) Bis zum Jahr 2010 stellt Deutschland über 1 Milliarde US-Dollar für den Wiederaufbau des Landes zur Verfügung. Wir müssen mit den uns zur Verfügung stehenden Kräften also auch gewährleisten, dass diese Gelder ihrer Bestimmung gemäß eingesetzt werden können. Mit Ihrem Antrag beanstanden Sie, dass die Bundesregierung ihrer Unterrichtungspflicht gegenüber dem Parlament nur unzureichend nachkomme. Wenn man Unterrichtung verlangt, muss man natürlich immer einbeziehen, um welche Gegenstände es dabei geht. Es ist uns allen klar, dass die KSK-Einsätze ihrer Natur nach einer besonderen Geheimhaltung unterliegen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Das muss zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Art und Weise der Unterrichtung haben. Der Vorwurf, es werde dann der Grundsatz der Parlamentsbeteiligung - Stichwort: Bundeswehr als Parlamentsheer - verletzt, ist billig, wenn er diesen Sachverhalt ausklammert und außer Acht lässt. Wir hatten gerade am vergangenen Montag eine Unterrichtung über diese Frage; Sie haben darauf hingewiesen, Herr Kollege Gehrcke. Es gibt jetzt ein zwischen der Bundesregierung und den Fraktionen vereinbartes Verfahren. Ich glaube, dass das auch funktionieren kann. Von daher finde ich auch diesen Teil der Begründung Ihrer Anträge nicht schlüssig. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal festhalten, warum wir in Afghanistan sind. Nach den Anschlägen vom 11. September hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese Anschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit qualifiziert und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung unterstrichen. Es ist leider so: Das Terrornetzwerk al-Qaida mit seinen lokalen und regionalen islamistischen Strukturen ist noch nicht zerschlagen. Die umfassende Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist und bleibt eine zentrale Herausforderung für die internationale Gemeinschaft. Deshalb darf auch Deutschland in seinen Anstrengungen in diesem Bündnis nicht nachlassen. ({5}) Ihr Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit ist völlig falsch. Die Operation Enduring Freedom fußt auf einem klaren Mandat der Vereinten Nationen. ({6}) Wir folgen außerdem einer klaren Aufforderung der USA, den Terror gemeinsam zu bekämpfen. Um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, ist ein breites internationales Bündnis erforderlich, an dem wir uns weiterhin beteiligen. Wenn die Position der Linken international Schule machte, sozusagen als Beispiel auch für andere diente, wenn sich also alle Bündnispartner so verhielten und einen Rückzug der Kräfte verlangten - die Frage muss man sich immer stellen, wenn man hier Anträge einbringt -, hieße das, vor dem Terrorismus zu kapitulieren. Das wäre in meinen Augen im Hinblick auf unsere eigene Sicherheit unverantwortbar. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Schöne bei den Anträgen der Linken ist: Die ersten drei Sätze sind immer gleich. Ich will aber Folgendes sagen: Erstens. Sie bleiben in Ihrer Politik konsequent; das muss ich Ihnen zugestehen. ({0}) - Jawohl, den Beifall ernte ich immer, wenn ich das sage. - Zweitens. Sie sprechen Themen an, die durchaus diskussionswürdig sind. Drittens. Sie beweisen aber jedes Mal aufs Neue, dass Sie weder willens noch fähig sind, zur wirklichen Problemlösung auch nur einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Deshalb kommen Sie viertens in Ihren Anträgen immer zu falschen Ergebnissen. Das erleben wir immer wieder. ({1}) Der etwas antiquarische Antrag von 2005, der sich mit OEF beschäftigt, betrifft etwas, was wir durchaus diskutieren. Wir haben im letzten Herbst gemeinsam über die Verlängerung von OEF beraten. Wir haben deutlich gemacht, dass wir das, was OEF insgesamt macht, als sehr bedenkenswert und nachdenkenswert ansehen. Wir werden dieses Thema in diesem Herbst wieder aufnehmen und uns damit sehr ausführlich auseinandersetzen. Sie fordern heute, im März 2007, singulär, sozusagen als Einzelthema, den Abzug des KSK aus Afghanistan. Herr Gehrcke, in Ihrer Begründung haben Sie auf das KSK kaum Bezug genommen. Sie haben generell Ihr altes Argument gebracht, dass jede militärische Intervention, jede militärische Beteiligung an der Aktion in Afghanistan des Teufels ist. Das ist offensichtlich auch der Grund für den heute neu vorliegenden Antrag. Sie wissen wie wir, dass man nicht Teile eines Mandats herausnehmen kann; das ist gar nicht möglich. Sie können das Mandat insgesamt ablehnen oder annehmen, nicht aber nur Teile daraus. Deshalb ist der Antrag, den Sie heute eingebracht haben - im Widerspruch zu dem, was Sie behauptet haben -, nicht politisch, sondern populistisch motiviert. Es geht Ihnen gar nicht darum, Probleme zu lösen; es geht Ihnen darum, das KSK zu dämonisieren. ({2}) Insgesamt glauben Sie nicht, dass die militärische Komponente einen Beitrag - wir alle sagen, dass es nur ein Beitrag sein soll - zur Stabilisierung dieses Landes leisten kann. ({3}) Sie können doch nicht bezweifeln, dass wir zur Stabilisierung Afghanistans, zu der wir sehr wohl beitragen wollen, sollen und müssen - wir alle wissen, dass wir dabei besser werden müssen -, eine militärische Komponente brauchen. Es will in Ihren Schädel nicht rein - ich verstehe das einfach nicht -, dass das ein Teil des Gesamtprojekts ist. ({4}) Dem sollten wir hier deutlich Rechnung tragen. Das wollen Sie nicht verstehen. Wenn ein Staudamm aktuell durch die Taliban bedroht ist, hilft es nicht, hier wolkige Reden zu führen. Wenn ein Staudamm in der nächsten Woche gesprengt werden soll, müssen Sie doch eine Antwort darauf geben können, wie Sie das verhindern wollen. Das tun Sie niemals. Nie und nimmer sind Sie bereit, an einer wirklichen Problemlösung teilzuhaben. ({5}) Wir stellen uns der Verantwortung. Wir müssen unser Handeln vor unserem Volk, vor dem Bundestag verantworten. Jedenfalls sagen wir: Wir müssen einen Beitrag leisten. - Wir alle wissen, dass der Einsatz in Afghanistan nicht perfekt läuft; entsprechend müssen wir daran arbeiten. Auch zu Ihnen, Herr Kollege Polenz, möchte ich sagen: Es gibt, was das KSK angeht, durchaus Diskussionsbedarf, und zwar hier in Berlin und weniger im Hinblick auf den Einsatz in Afghanistan. Hierbei geht es - dieses Thema wurde angesprochen; es muss weiterhin angesprochen werden - um die Information über das, was das KSK macht. Da gibt es nach meinem Dafürhalten sehr wohl Diskussions- und Handlungsbedarf. Wir, die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, erhalten durch die Erkenntnisse, die wir dort gewinnen - ich will es neutral sagen -, durchaus Anregungen dazu, wie wir in Zukunft mit dem KSK insgesamt umgehen sollten. Wir Parlamentarier haben hier einen erheblichen Diskussionsbedarf. Obwohl das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist, ist es nach unserer Meinung immer noch vom Goodwill der Bundesregierung abhängig, was wir, die Parlamentarier - ich spreche alle Parlamentarier an, die nicht Teil der Regierung sind -, erfahren. Das müssen wir ändern. Wir, die FDP-Fraktion, haben einen praktikablen Vorschlag gemacht: die Einsetzung eines Entsendeausschusses. ({6}) Lieber Kollege Siebert, ich bin mir - auch aufgrund dessen, was wir jeden Mittwochnachmittag erfahren 9404 sehr sicher, dass wir am Ende die Situation in dieser Frage deutlich verändern werden, dass wir zu einer pragmatischen Lösung kommen werden, ({7}) die auf der einen Seite den sehr wohl legitimen Sicherheitsund Geheimhaltungsinteressen Rechnung trägt, auf der anderen Seite aber uns die Möglichkeit gibt, tatsächlich zu erfahren, was hier passiert. Dafür werden wir uns einsetzen. Die Linke trägt zu solchen Überlegungen nichts bei. Sie ist nicht bereit, konstruktiv mitzuarbeiten. Deshalb werden wir ihre Anträge ablehnen. Schöne Ostern. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Petra Heß für die SPDFraktion.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke fordert im ersten ihrer beiden Anträge, den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan zu beenden. Ihre Meinung lautet: Erstens. Das Parlament werde nur unzureichend über die Einsätze unterrichtet. Zweitens. Die Einsätze widersprächen dem Charakter der Bundeswehr als Parlamentsarmee. Drittens. Der Einsatz des KSK führe zu einer Vermischung von ISAF und OEF. Viertens. Deutschland solle sich sowieso aus verdeckten Kriegshandlungen heraushalten. ({0}) Lassen Sie mich hierzu Folgendes sagen: Deutschland hat sich im Rahmen der OEF verpflichtet, den Abwehrkampf gegen den internationalen Terrorismus mit dem KSK, mit der Marine und mit ABC-Abwehrkräften zu unterstützen. Das Parlament hat dieser Unterstützung seinerzeit mit großer Mehrheit zugestimmt. Das Mandat, dem zugestimmt wurde, umfasst explizit das KSK. Damit hat der Bundestag aber auch den Einsatzbedingungen des KSK zugestimmt. Die Einsatzbedingungen des KSK sind: verdeckte Ermittlung, das Überraschungsmoment und passgerechte Vorgehensweise. Dennoch hat die Bundesregierung bei der letzten Verlängerung der OEF zugesagt, die Informationspraxis zu verbessern, nachdem Kritik an der strikten Geheimhaltung der KSK-Einsätze laut geworden war. Die Unterrichtung über KSK-Einsätze sieht sich dem Wesen des KSK nach aber immer mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, zwischen Geheimhaltungspflicht auf der einen Seite und Unterrichtungspflicht auf der anderen Seite zu vermitteln. Aber machen Sie sich bitte eines klar: dass KSKEinsätze in erster Linie ausgeführt werden, um einen Informationsvorteil zu erringen. Voraussetzung hierfür aber ist, dass der Überraschungseffekt, der nun einmal wesentlicher Bestandteil eines erfolgreichen Einsatzes ist, nicht dem Informationsinteresse des Parlaments geopfert werden darf. Der Wunsch nach umfassenderen Informationen bleibt dennoch berechtigt und nachvollziehbar. Herr Kollege Stinner, die Bundesregierung wird sich auch hier an ihre Zusagen halten und zukünftig nicht nur den Obleuten, sondern auch dem Parlament mehr Einblicke in die Arbeit des KSK gewähren. ({1}) Der erste Evaluierungsbericht zu OEF liegt vor und wurde bereits in den Fachausschüssen beraten. Aber ich sage es noch einmal: Wenn KSK-Einheiten durch verdeckte Operationen Talibanführer aufspüren und festnehmen, wenn sie Informationen über mögliche Anschläge und Attentate sammeln, dann gewinnen sie Schlüsselinformationen, die Leben retten können und werden. Der Einsatz des KSK im Rahmen von ISAF ist durch das Mandat selber ebenfalls nicht ausgeschlossen. Er kann beispielsweise zum Schutz der Truppe erfolgen, wenn KSK-Soldaten Schlüsselinformationen im Norden zum Beispiel über lokale Warlords sammeln. Diese Aufgabe ergänzt die Arbeit der PRTs im Norden wirksam und erhöht den Schutz und die Sicherheit der im Rahmen von ISAF eingesetzten regulären Soldatinnen und Soldaten. ({2}) Das kann man doch nicht einfach beiseite schieben, meine Damen und Herren. Der Einsatz in Afghanistan ist gefährlich, und das KSK kann durch Aufklärungsarbeit das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch der Verbündeten retten. Wenn Afghanistan gelingen soll, dann muss die Wiederaufbauarbeit gelingen und mit ihr die Stabilisierung des Landes. Im Übrigen kommt mir in der Medienlandschaft viel zu kurz, welche Aufbauarbeit dort bereits geleistet wurde und dass sich die Bedingungen für die afghanische Bevölkerung in den letzten Jahren spürbar gebessert haben. ({3}) Auch wir waren schon mehrfach in Afghanistan und haben uns davon überzeugt. Wir haben mit afghanischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern gesprochen. Es ist einfach so, dass sich die Lebensbedingungen für die Bevölkerung wesentlich verbessert haben. Die PRTs leisten gerade im Norden einen hervorragenden Beitrag dazu. Dieser Beitrag darf aber nicht durch die immer prekärer werdende Sicherheitslage in Afghanistan gefährdet werden. Vergessen Sie bitte nicht: Beim Kommando Spezialkräfte handelt es sich um Spezialisten, die einen enorm hohen Einsatzwert besitzen, einen Wert, der, wie schon gesagt, Leben schützen kann und der nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf, schon gar nicht für etwaige Profilierungsversuche. Beide Mandate, ISAF und OEF, hat der Bundestag 2001 beschlossen, und beide Mandate wurden auch immer wieder verlängert. Der Einsatz des KSK ist sinnvoll und besonders wirksam, weil er als offensiver Akt unter OEF und als fester, unverzichtbarer Beitrag zu ISAF nicht wegzudenken ist. Die populistische, im Kern gegen die USA zielende Forderung eines generellen Abzugs des KSK entspricht nicht den Leistungen dieser Elite und gefährdet zudem die Sicherheit der in Afghanistan stationierten Soldatinnen und Soldaten. ({4}) Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum zweiten Antrag der Linksfraktion sagen. Selten habe ich zwei Anträge gelesen, die so redundant waren wie die hier vorliegenden. Zweimal die gleichen - es sind seit 2005 die gleichen - Argumente gegen das KSK; nur hält doppelt hier nicht besser, sondern wirkt zweifach unglaubwürdig. Aber der zweite Antrag geht noch weiter. Die Linksfraktion hat mit dem KSK im ersten Antrag nur Anlauf genommen, um im zweiten Antrag gleich noch die Beendigung von OEF und der Operation Active Endeavour zu fordern. ({5}) Jetzt wird es interessant: Die Linksfraktion fordert nun sogar, den Abzug der Bundeswehrkontingente im Rahmen der OEF und der Operation Active Endeavour insgesamt einzuleiten. Darüber hinaus sollen die für den militärischen Einsatz vorgehaltenen Mittel für zivile Projekte vor Ort verwendet werden. Als Begründung führt die Linksfraktion die bereits im ersten Antrag genannten Argumente an. Allerdings gipfelt sie diesmal in der Behauptung, der Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrages und die ihm zugrunde liegende Verteidigungssituation gemäß Art. 51 der UN-Charta seien nicht gegeben. ({6}) In der Tat beruht OEF nicht auf einem ausdrücklichen Beschluss des UN-Sicherheitsrates, sondern auf dem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung der USA sowie auf der Beistandspflicht der Bündnispartner der NATO. ({7}) Art. 51 der UN-Charta gibt aber jedem Mitglied das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff, bis der UN-Sicherheitsrat geeignete Maßnahmen zur Sicherung des internationalen Friedens getroffen hat. Art. 5 des NATO-Vertrages wiederum sieht eine Beistandspflicht aller Bündnispartner vor, wenn einer von ihnen im Sinne von Art. 51 der UN-Charta angegriffen wird. ({8}) Am 12. September 2001 hat der NATO-Rat beschlossen, dass die Anschläge vom 11. September als Angriff auf die USA im Sinne von Art. 51 der UN-Charta anzusehen sind, und bekräftige am 4. Oktober 2001 die Beistandspflicht der Bündnispartner. ({9}) - Das hat etwas mit den Mandaten zu tun, deren Zurücknahme Sie fordern. Der UN-Sicherheitsrat hat in der Resolution 1368 die Anschläge vom 11. September verurteilt und dabei ausdrücklich das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bekräftigt. In späteren Resolutionen haben der UN-Sicherheitsrat und mit großer Mehrheit auch die afghanische Bevölkerung die Rolle von OEF bei der Sicherung der Wahlen in Afghanistan ausdrücklich gutgeheißen. ({10}) In anderen Resolutionen werden die internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich unterstützt. Ich brauche nicht auf die weiteren Artikel und UN-Beschlüsse einzugehen. Ich glaube, Sie wissen genau, worum es geht. Wie Sie hier vorgehen und Ihren Antrag begründen, ist es die reine Heuchelei. ({11}) Wie gesagt: OEF trägt dazu bei, dass ISAF gelingt. Während ISAF dazu beiträgt, die friedliche und demokratische Entwicklung in Afghanistan zu fördern und zu festigen, gewährleistet OEF den Schutz vor einem Wiedererstarken der Taliban und noch bestehender terroristischer Verbände. Lässt man diesen Zusammenhang bewusst beiseite, um durch populistische Forderungen auf sich aufmerksam machen zu können, gefährdet man damit nicht nur den Wiederaufbau in Afghanistan, sondern vor allen Dingen die Sicherheit und das Leben unserer im Einsatz befindlichen Soldatinnen und Soldaten. Das zeigt uns erneut Ihre außenpolitische Verantwortungslosigkeit. ({12}) Im Übrigen wünsche ich Ihnen allen ein frohes Osterfest. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im November 2001 gab der Deutsche Bundestag den Auftrag an die Bundeswehr, sich an der Operation „Enduring Freedom“ zu beteiligen und dabei bis zu 100 Soldaten vom Kommando Spezialkräfte einzusetzen. Das galt für folgende drei Teilaufgaben: Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangenzunehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten dauerhaft abzuhalten. Damals war uns genauso bewusst wie heute, dass eine militärische Bekämpfung des Terrorismus natürlich nicht die Hauptsache ist, dass es vielmehr auf viele andere Maßnahmen - auf polizeiliche, geheimdienstliche und strukturelle Maßnahmen - ankommt. Aber es wurde auch deutlich, dass ein Spektrum an militärischer Bekämpfung unverzichtbar war angesichts des Ausmaßes der terroristischen Infrastruktur in Afghanistan, der Unübersichtlichkeit des Operationsgebietes und der Operationsweisen dieser terroristischen Kämpfer. Hätte man damals die Kräfte, die vor allem für die direkte Terrorbekämpfung zuständig sind, nämlich Geheimdienstangehörige und Polizisten, dorthin geschickt, dann wäre das absolut selbstmörderisch und verantwortungslos gewesen. Daher kann man sagen, dass eine militärische Bekämpfung unverzichtbar und notwendig war. ({0}) Der damals gewählte Kräfteansatz und -einsatz machte aber deutlich, dass es mit dem großen Wort des Bundeskanzlers Schröder von der uneingeschränkten Solidarität, das viele zu Recht sehr unruhig gemacht hat, in Wirklichkeit anders aussah. Das zeigt sich besonders deutlich beim militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Terrorismusbekämpfung: Der reale Beitrag ist sehr gezielt, sehr maßvoll und sehr bedacht. Es ist immerhin so - darauf hat schon vorhin ein Kollege hingewiesen -: Es gibt im Grunde keine Waffengattung, mit der so präzise und im Grunde so verhältnismäßig agiert werden kann wie mit den Soldaten des Kommandos Spezialkräfte. Die regierungsamtliche Totalgeheimhaltung macht eine Bilanzierung praktisch unmöglich. Dafür leistet sie allerdings auf der einen Seite allen möglichen Mythen und auf der anderen Seite allen möglichen Generalverdächtigungen Vorschub. Jetzt müsste ich eigentlich im Weiteren schweigen. Nur, als Politiker - Sie kennen das - kann man nicht schweigen; man muss unbedingt weiterreden. Ich kann immerhin ohne Geheimnisverrat feststellen -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke? ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Ich brauche Redezeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das dachte ich mir fast.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Nachtwei, ich wollte Ihnen vor Ostern noch eine Freude machen. Deswegen frage ich Sie - ich habe extra bis zu diesem Punkt gewartet -: Sie haben den Auftrag des KSK verlesen. Ich erinnere mich daran, dass damals, als er erteilt worden ist, selbst der Auftrag als geheim galt. Sind Sie, ohne dass Sie gegen die Geheimhaltung verstoßen, in der Lage, dem Parlament zu sagen, ob das KSK seinen Auftrag, den es vom Parlament erhalten hat, in Afghanistan eingelöst hat oder nicht?

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dazu möchte ich ohne Bruch der Geheimhaltungsvorschriften antworten: Es ist offenkundig, dass Führungsund Ausbildungseinrichtungen terroristischer Kräfte ausgeschaltet wurden. Wem das zuzuordnen ist, kann man nicht im Einzelnen sagen. Aber dieses erste Hauptziel wurde unstrittigerweise erfüllt. In „Spiegel“-Ausgaben aus früheren Jahren ist zu lesen, dass KSK-Kräfte zur direkten Bekämpfung und Gefangennahme mutmaßlicher Terroristen kaum bis gar nicht beigetragen hätten. ({0}) In diesem zweiten Spektrum ist das KSK nach diesen Pressemitteilungen offensichtlich weniger aktiv. Was die dritte Frage angeht, komme ich jetzt unmittelbar dazu. Ich danke Ihnen für diese zeitliche Beihilfe. Bei aller grundsätzlichen Notwendigkeit der Operation „Enduring Freedom“ stellte sich nach unseren Feststellungen die Art und Weise dieser Operation im Laufe der Zeit allerdings als immer kontraproduktiver heraus. Durch die Art des Auftretens und der Operationsführung wurden Dritte eben nicht dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abgehalten. Es wurde offenkundig immer mehr das Gegenteil bewirkt. Deshalb hat unsere Fraktion im letzten Herbst der weiteren deutschen Beteiligung an „Enduring Freedom“ nicht zugestimmt. Dass der Verteidigungsminister - ich sage wieder ausdrücklich: in der Öffentlichkeit - mitgeteilt hat, dass seit Oktober 2005 keine KSK-Kräfte mehr im Rahmen von „Enduring Freedom“ in Afghanistan sind, halten wir für einen Schritt in die richtige Richtung. ({1}) Auf einem anderen Blatt allerdings steht der Einsatz des Kommandos Spezialkräfte zum Schutz von ISAFKräften im deutschen Operations- und Verantwortungsbereich im Rahmen von ISAF. Dieser Einsatz war und ist ausgesprochen sinnvoll und, wenn man sich bei deutschen ISAF-Soldaten umhört, ausgesprochen gewünscht. Wie man von deutschen Soldaten in Einsatzgebieten hört, ist dieser Einsatz angesichts der ständigen Anschlags- und Angriffsdrohungen, denen sie ausgesetzt sind - die Obleute des Verteidigungsausschusses haben das im letzten Oktober in Kabul selbst sehr nachdrücklich erlebt -, auch ausgesprochen erfolgreich. ({2}) In solchen Gefährdungssituationen die Spezialfähigkeiten des KSK zu verweigern, ist unverantwortlich. ({3}) Deshalb lehnen wir die Anträge der Linksfraktion ab. Zugleich mahne ich die Bundesregierung dringend, die Totalgeheimhaltung in Sachen KSK auf das zum Schutz von Operationen und Personen notwendige Maß zu beschränken und sich mit dem Bundestag auf eine echte und direkte Kontrolle von Spezialeinsätzen zu einigen. Das gebietet der Anspruch der Parlamentsarmee, und es liegt nicht zuletzt im Interesse der Soldaten, von denen die politische und militärische Führung den allerhöchsten und riskantesten Einsatz verlangt und die nicht im Regen stehen gelassen werden dürfen. ({4}) Ansonsten wünsche ich nicht nur Ihnen und uns gute Ostern, sondern in den drei vor uns liegenden sitzungsfreien Wochen vor allem auch eine einigermaßen ruhige Entwicklung in Afghanistan; denn die Situation ist dort zurzeit sehr kritisch. Darin sind wir uns, wie ich glaube, einig. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4674 und 16/121 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN Konsequenzen der Bundesregierung aus den UN-Berichten des Sonderberichterstatters, Vernor Muñoz, zum deutschen Bildungssystem Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Hirsch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich aus dem Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, zur Situation des deutschen Bildungswesens zitieren. Er stellt fest: In Deutschland lebenden Mädchen und Jungen wird das Recht auf Bildung vorenthalten. ({0}) Wenn solch eine grundsätzliche Kritik am deutschen Bildungswesen geübt wird, dann kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber das ist in den Stellungnahmen der Bundesregierung leider der Fall. Als wir im Bildungsausschuss darüber diskutiert haben, hat die Bildungsministerin erstens festgestellt, dass sie die ganze Aufregung nicht verstehe; schließlich sei das Recht auf Bildung formal verfassungsrechtlich abgesichert. Sie hat uns leider nicht erklärt, was das hilft, wenn Muñoz in seinem Bericht feststellt, dass die Realität anders aussieht. Die Ministerin hat zweitens festgestellt, dass die wesentliche Kompetenz für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung bei den Ländern liege. Sie hat aber auch in diesem Punkt nicht deutlich gemacht, was es hilft, nur mit dem Finger auf die Länder zu zeigen, statt eigene Maßnahmen zu ergreifen, wenn die bildungspolitische Situation bundesweit so fatal ist, dass das Recht auf Bildung eben nicht eingehalten wird. Der Gipfel der Ignoranz und Arroganz war die Feststellung, Muñoz habe die Situation in Deutschland nicht richtig verstanden, insbesondere das Prinzip des gegliederten Schulsystems; insofern müsse man den Bericht nicht so ernst nehmen. ({1}) Für die Linke halte ich fest: Das ist eine falsche, unzureichende und geradezu dreiste Reaktion, die wir in dieser Form ablehnen. ({2}) Wir sind der Auffassung, dass sich auch das Parlament der Verantwortung für eine solche grundsätzliche Kritik stellen muss. Ich möchte ein weiteres Zitat aus dem Bericht von Vernor Muñoz anführen. Er schreibt, ... dass hinter den Ungleichheiten im Bildungsbereich eine soziale Ungleichheit steht, die über diese hinausgeht und sie determiniert. ({3}) Diese soziale Ungleichheit ist nicht das Ergebnis der Schulpolitik in den Ländern, sondern sie ist das Ergebnis konkreter politischer Entscheidungen, die Sie treffen. ({4}) Es ist unter anderem das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik. Heute Vormittag haben wir über eine weitere Senkung der Unternehmensteuer diskutiert. Man kann auch die Hartz-Gesetzgebung anführen, mit der Sie darauf hinwirken, dass immer mehr Menschen erpressbar werden und zu Niedrigstlöhnen arbeiten. Sie legen Regelsätze fest, die klar zur Folge haben, dass immer mehr Kinder und Jugendliche in diesem Land in Armut leben. Die Zahlen sprechen für sich. In den Regelsätzen ist kein einziger Euro für Schulsachen oder Tagesausflüge vorgesehen. Der Regelsatz für Essen und Trinken eines 15-jährigen Mädchens beträgt nicht einmal 3 Euro pro Tag. - Diese zutiefst unsoziale Politik lehnen wir entschieden ab. ({5}) Vor diesem Hintergrund muss man die Debatte über die Schulstruktur noch einmal aufmachen. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, die Debatte über das gegliederte Schulsystem sei überzogen und gehöre gar nicht in den Fokus der bildungspolitischen Diskussion, man müsse einfach bei den einzelnen Schulformen ansetzen und dafür sorgen, dass die Qualität jeder einzelnen Schulform hoch ist, dann ist das einfach nur falsch und verlogen. ({6}) Muñoz hat festgestellt - das wurde auch in allen anderen bildungspolitischen Studien über die Bundesrepublik Deutschland immer wieder festgehalten -, dass Kinder aus armen Schichten deutlich weniger Chancen haben, auf ein Gymnasium oder eine Realschule zu kommen, als Kinder aus reichen Schichten. Mit Ihrem verzweifelten Festhalten am gegliederten Schulsystem versuchen Sie nichts anderes, als die soziale Ungleichheit zu erhalten und festzuzurren. Das finden wir falsch. ({7}) Man kann in die Geschichte schauen, um Beispiele zu finden, die das belegen. Wenn „Reichtum für wenige und Ausgrenzung für viele“ nicht das gesellschaftspolitische Ziel Ihrer Politik wäre, sondern Sie Teilhabe für alle erreichen wollten, dann bräuchte es keines gegliederten Schulsystems, keiner Hauptschule. Die DDR hatte nicht ohne Grund ein integratives Schulsystem. So wurde sichergestellt, dass alle Kinder zusammen lernen können und keine Ausgrenzung erfolgt. ({8}) Vernor Muñoz hat das in seinem Bericht sehr deutlich beschrieben. Er hat gesagt, dass die Diskussion über das mehrgliedrige Schulsystem „große Angst und Widerstand“ auslöst, „insbesondere Besorgnis über den Verlust von Privilegien für diejenigen, die am meisten vom aktuellen System profitieren“. Ihre Zwischenrufe bestätigen dieses Problem. ({9}) Wir sind deshalb sehr froh, dass wir uns in Berlin gegen die SPD durchgesetzt haben, damit es hier Modellprojekte für ein längeres gemeinsames Lernen geben kann. ({10}) Wowereit sagte noch im Wahlkampf, er unterschreibe keinen Koalitionsvertrag, in dem „Gemeinschaftsschule“ steht. Wir sind froh, dass wir das jetzt trotzdem gemeinsam umsetzen können. ({11}) Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung solche Versuche unterstützt und nicht durch verlogene Argumente versucht, solche Entwicklungen zu behindern. Ich danke Ihnen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir nehmen die Reden des Parlamentarischen Staatssekretärs Andreas Storm, des Kollegen Patrick Meinhardt für die FDP-Fraktion, des Kollegen Jörg Tauss für die SPD-Fraktion, der Kollegin Priska Hinz ({0}) für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und des Kollegen Marcus Weinberg für die Unionsfraktion zu Protokoll.1) Das Wort hat der Staatsminister für Kultus des Freistaates Sachsen, Steffen Flath. Bitte. ({1}) Steffen Flath, Staatsminister ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich denke, es ist ganz gut, wenn ich als Mitglied der Kultusministerkonferenz und aus Ländersicht, in deren Verantwortung die Bildungsfragen in der Bundesrepublik überwiegend liegen, nach dieser Rede von Frau Hirsch zu dem Muñoz-Bericht einige Anmerkungen mache. Sie müssen uns nicht mahnen. Seit Jahren beschäftigen wir uns in der Kultusministerkonferenz mit den Fragen, die Herr Muñoz - man sollte übrigens den gesamten Bericht lesen - angeführt hat. ({3}) Frau Bundesministerin, ich erinnere mich an die Zeit, in der Sie in Baden-Württemberg Verantwortung getragen haben. Ich bin wahrlich nicht unglücklich darüber, dass Sachsen nach 1990 das Schulsystem von BadenWürttemberg und Bayern und nicht das Schulsystem der DDR als Vorbild gewählt hat. ({4}) Natürlich ist über einige Fragen, die Herr Muñoz in seinem ausführlichen Bericht aufwirft, zu reden. Das tun wir auch. Im Zeitalter der medialen Verkürzung, in dem wir leben, sind im Wesentlichen zwei Kritikpunkte öf- fentlich bekannt geworden; Frau Hirsch, Sie haben sie in Ihrem Redebeitrag gerade stark betont. Das eine ist die Kritik am gegliederten Schulsystem. Hier sollten wir keinen Rückschritt machen. Die Kultusminister haben sich viele Jahre sehr ausführlich über diese Frage gestrit- ten. Wir sind schon ein ganzes Stück weiter, da die Län- 1) Anlage 2 Staatsminister Steffen Flath ({5}) der anerkennen, dass man, wenn Schule gut gemacht ist, mit unterschiedlichen Schulformen zu einem sehr positiven Ergebnis kommen kann. ({6}) Wir in Sachsen haben nicht das dreigliedrige System; wir haben uns für ein zweigliedriges entschieden. Wir haben in der Mittelschule den Hauptschul- und den Realschulbildungsgang zu einer Schulart zusammengefasst. Daneben haben wir die Gymnasien. ({7}) Damit komme ich zu dem zweiten Kritikpunkt, den Herr Muñoz anführt, der Koppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Ich will mit einigem Stolz anführen: Es ist einigen Bundesländern, unter anderem Sachsen, gelungen, mit der internationalen Spitzengruppe, nämlich Finnland, Kanada und Japan, auf einer Stufe zu stehen. Das fällt bei Ihnen, den Linken, unter den Tisch. Jetzt erzähle ich Ihnen einmal, wie das in der DDR war. Hätte Herr Muñoz jemals eine Schule in der DDR besucht und dieselbe Elle angelegt, die er jetzt anlegt, ({8}) dann wäre er zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses System am Ende der DDR ein höchst sozial ungerechtes Bildungssystem war. Ganze 10 Prozent der Arbeiterund Bauernkinder - so hat man damals immer gesagt haben noch das Abitur gemacht. ({9}) Es war ein höchst selektives System. Man hat die Schüler acht Schuljahre lang gemeinsam lernen lassen. Am Ende der DDR hat man 8,9 Prozent der Schüler ausgewählt und diese dann zum Abitur geführt. ({10}) Das ist keine Kunst. Sie sollten jetzt, bloß weil Ostern ist, nicht so tun, als ob uns mit einer Auferstehung von linken, ideologischen Patentrezepten geholfen wäre. Die haben wir alle ausprobiert. Sie sind im Wesentlichen im letzten Jahrhundert gescheitert. ({11}) Es wäre erfreulich gewesen, wenn Herr Muñoz ein bisschen gewürdigt hätte, dass wir insbesondere nach PISA in den Ländern umfangreiche Bemühungen in die Wege geleitet haben. Lassen Sie uns diesen Weg jetzt unaufgeregt fortsetzen. Ich glaube, dass uns das mit unserem Bildungssystem gelingen kann. Ich will hier einen kurzen Schwenk machen. Ich durfte im letzten Jahr die Bundesrepublik beim G-8Treffen der Bildungsminister vertreten. Wissen Sie, was mir in Moskau aufgefallen ist? In keinem anderen Land dieser Erde wird so geringschätzig über das eigene Bildungssystem gesprochen, wie sogenannte Bildungsexperten in Deutschland es gelegentlich tun. ({12}) Lassen Sie uns ruhig einmal mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein an dieses Problem herangehen! ({13}) Das würde den Schülern viel mehr Motivation geben als immerzu diese Schlagzeilen. Leider ist der Muñoz-Bericht zum Anlass genommen worden, um mehr Demotivation in den Schulen zu verbreiten. Unsere Schulen, insbesondere die Schüler, brauchen Motivation. Daran sollten wir arbeiten. Dann ist mir nicht bange, dass die eingeleiteten Maßnahmen durchaus zu guten Ergebnissen führen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Osterfest. Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute vor einem Jahr haben sich die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule an die Politik gewandt und um Hilfe gebeten. Heute ist an der RütliSchule Tag der offenen Tür. Man hatte die Gelegenheit, sich einen Überblick zu verschaffen über die schulischen und außerschulischen Aktivitäten, die an der RütliSchule angeboten werden. Man konnte sich einen direkten Einblick verschaffen. Die Rütli-Schule wurde letztes Jahr zum Synonym für das bildungspolitische Auslaufmodell in Deutschland: das dreigliedrige Schulsystem. ({0}) Es hat uns eindringlich gezeigt, wozu Perspektivlosigkeit und Armut führen können. Ich weiß, wovon ich rede. Ich wohne nur ein paar Straßen von der RütliSchule entfernt. Ich will Ihnen eines sagen, meine Damen und Herren, vor allem Ihnen, Frau Ministerin: ({1}) Ich kann, will und werde mich nicht damit abfinden, dass wir in einem Land leben, in dem Zehnjährige bereits alle ihre Träume aufgegeben haben, weil sie wissen, dass aus Hauptschülern in diesem Lande nichts wird. ({2}) Das kann nicht unser bildungspolitischer Ansatz sein. ({3}) Das Recht auf Bildung ist nicht nur ein eigenständiges Menschenrecht, sondern auch ein zentrales Instru9410 ment, um andere Menschenrechte wahrnehmen zu können. ({4}) Umso kritikwürdiger ist es, wenn bestimmten Menschen dieses Recht teilweise oder ganz vorenthalten wird. Insbesondere auf diesen Zusammenhang hat auch Herr Muñoz in seinem Deutschlandreport deutlich hingewiesen. Wenn Kinder in Armut aufwachsen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie in ihrer Schullaufbahn Benachteiligungen erfahren. Umgekehrt mindert eine geringe Bildung die Chancen der Menschen, an der Gesellschaft zu partizipieren. ({5}) Zu den Betroffenen zählen in unserer Gesellschaft auch die Kinder der Migrantinnen und Migranten, vor allem die Kinder der Flüchtlinge. Sie leben in prekären sozialen und ökonomischen Verhältnissen. Weil Sie das immer wieder zu leugnen versuchen, möchte ich zur Illustration auf Folgendes hinweisen: Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die vorzeitig eingeschult werden, ist um etwa ein Drittel geringer, als es bei deutschen Kindern der Fall ist. Dagegen ist die Zahl der Zurückstellungen bei diesen Kindern etwa doppelt so hoch wie bei deutschen Kindern. Es machen doppelt so viele von ihnen keinen Schulabschluss, und es gehen doppelt so viele von ihnen auf die Hauptschule. Das hat auch Auswirkungen darauf, wie viele von ihnen die Fachhochschul- oder Hochschulreife erlangen, ob sie eine Berufsausbildung machen und wie das spätere Erwerbsleben verläuft. ({6}) Ich möchte klarstellen: Die Linke teilt die Auffassung von Herrn Muñoz, dass es sich dabei nicht um ein ethnisches Problem handelt, sondern um ein soziales Problem. Begreifen Sie das endlich! ({7}) Dass dem so ist, das wird an den eklatanten Unterschieden im Hinblick auf die Lesekompetenz der Schüler deutlich. ({8}) - Ich möchte Ihnen eines sagen, Herr Tauss: Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie das schon seit PISA I und PISA II wissen, und wenn Ihnen jetzt auch der MuñozBericht bekannt ist, dann muss ich Sie darauf aufmerksam machen, ({9}) was Brecht in „Das Leben des Galilei“ geschrieben hat: Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, aber wer die Wahrheit kennt und sie einfach verleugnet, ist ein Verbrecher. ({10}) Ich möchte Sie auffordern, diese Wahrheiten endlich anzuerkennen und Konzepte zu entwickeln. ({11}) - Selbstverständlich sind auch wir für die Ganztagsschule und für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf kostenlose Kita- und Kindergartenplätze, und das nicht erst im letztem Jahr. ({12}) Machen Sie uns das erst einmal nach. Ich möchte mit Blick auf unsere lieben Zuschauerinnen und Zuschauer sagen, dass man, wenn man sich die Liste der Rednerinnen und Redner ansieht, auf eine Unart aufmerksam wird: Herr Staatssekretär Andreas Storm ist anwesend, hat seine Rede aber zu Protokoll gegeben. Herr Jörg Tauss von der SPD ist anwesend, hat seine Rede aber auch zu Protokoll gegeben. Gleiches gilt für Herrn Swen Schulz. - Wenn Sie hier im Parlament anwesend sind und an dieser Debatte teilnehmen können, dann sollten Sie auch mit uns über den überaus wichtigen Bericht von Herrn Muñoz debattieren. ({13}) Sehr geehrte Damen und Herren, es sind nicht nur die Kinder der Migrantinnen und Migranten, deren Menschenrecht auf Bildung in Deutschland beschnitten wird. Das selektive Bildungssystem der Bundesrepublik grenzt auch Menschen mit Behinderungen aus. Herr Muñoz hat am 19. Februar 2007 einen gesonderten Bericht zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen vorgelegt. Vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf forderte er die deutsche Politik auf, endlich die Probleme der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen und des Abschiebens dieser Kinder und Jugendlichen in Sonderschulen aufzugreifen und geeignete Schritte zu unternehmen, um gerechte und gleiche Lernbedingungen zu schaffen. ({14}) Um für alle Kinder und Jugendlichen einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung sicherzustellen, bedarf es eines Bildungssystems, das an den individuellen Bildungsbedürfnissen anknüpft. ({15}) Eine Abschiebung und Aussonderung der Kinder von Migrantinnen und Migranten in Sonderschulen aufgrund Sevim DaðdelenSevim Dağdelen fehlender bzw. mangelhafter Sprachkenntnisse ist nicht hinnehmbar. Ebenso ist es nicht hinnehmbar, dass Kinder mit motorischen Behinderungen allein deshalb, weil die entsprechenden Vorrichtungen fehlen, abgeschoben und ausgegrenzt werden. ({16}) Ziel muss ein Bildungssystem sein, das die Individualität und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder zum Ausgangspunkt der Pädagogik macht und ihre individuelle Förderung damit verbindet, dass mit- und voneinander gelernt wird. Abschließend möchte ich noch kurz anmerken -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das geht wirklich nicht mehr, Kollegin Dağdelen. ({0}) - Das ist kein Grund für Beifallsbekundungen, sondern schlicht der Geschäftsordnung und der Verabredung zwischen den Fraktionen geschuldet.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir haben die Reden des Kollegen Swen Schulz ({0}) von der SPD-Fraktion, der Kollegin Dorothee Bär von der Unionsfraktion, der Kollegin Gesine Multhaupt von der SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe Schummer von der Unionsfraktion und der Kollegin Renate Schmidt ({1}) von der SPD-Fraktion zu Protokoll genommen.1) Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. April 2007, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise, ein erfolgreiches Wochenende und natürlich ein wunderschönes Osterfest.