Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 16/45 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({1})
- Drucksache 16/227 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({2})
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben
- Drucksache 16/54 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister Wolfgang
Tiefensee.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Gesetzesvorhaben mit langen
Titeln: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz und
Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Die Länge
der Titel ist reziprok zur Wirkung, die diese beiden Gesetze haben sollen: Wir wollen einen Beitrag leisten, dass
Planungsverfahren für Verkehrswege und weitere Infrastrukturvorhaben verkürzt werden, damit Investitionen
schneller umgesetzt werden können. Ich denke, mit diesen beiden Gesetzesvorhaben unterstreicht die Regierung
einmal mehr, dass sie zügig das verwirklicht, was in der
Koalitionsvereinbarung steht, besonders an den Punkten,
wo es um bessere Bedingungen für Investitionen und
wirtschaftliches Wachstum geht.
Sie wissen, dass das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Osten bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Wirkung entfaltet. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Wir wollen das, was sich im Osten bewährt hat, mit dem
zweiten Gesetz auf das ganze Land übertragen.
Wir wollen die Erstinstanzlichkeit - die Befassung
mit bestimmten Vorhaben in nur einer gerichtlichen Instanz - auf die ganze Republik übertragen.
({0})
Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht, wissen
aber auch, dass wir das Bundesverwaltungsgericht nicht
überlasten dürfen. Aus diesem Grund werden im Gesetz
86 Vorhaben benannt - für Schienenwege, Straßenwege
sowie Wasserwege -, die speziell unter diese Regelung
fallen sollen.
Wir haben eine ganze Reihe von Anregungen mit den
Ländern diskutiert und in den Gesetzentwurf übernommen. Ich greife einige kurz heraus: Wir wollen bestimmte Vorarbeiten zur Bauvorbereitung im Verfahren
ermöglichen. Mit anderen Worten: Wir werden Vorbereitungen nicht nur auf die Planung, sondern auch auf den
Bau bezogen vorantreiben können. In bestimmten Fällen
werden wir keine Erörterungstermine mehr brauchen; sie
sollen beispielsweise dann entfallen, wenn keine Einwendungen von Bürgern vorliegen und keine Stellungnahmen auf dem Tisch liegen. Wir wollen reagieren,
wenn bei Grundstücksfragen die entsprechenden Eigentümer nicht ortsansässig sind: Die Ermittlungszeiträume
Redetext
sollen verkürzt werden bzw. solche Ermittlungen sollen
nicht mehr notwendig sein - um nur einige Beispiele zu
nennen.
Mit dem neuen Gesetz werden wir aber auch die Umweltbelange im Blick behalten: Wir werden alle Standards - sowohl bei den FFH-Gebieten als auch bei der
Umweltverträglichkeitsprüfung - einhalten, wie das auch
im Osten gang und gäbe war; es hat den Verfahren in dieser Beziehung nicht geschadet.
Darüber hinaus setzen wir einen Akzent bei der Bürgerbeteiligung. Das ist wichtig auch für Bürgervereine
und Bürgerinitiativen.
Die Naturschutzverbände werden im Rahmen der so
genannten Präklusion, beim Anhörungsrecht, was die
Fristen angeht, den Bürgerinnen und Bürgern gleichgestellt. Das könnte ein Wermutstropfen sein. Ich denke,
das ist zumutbar und führt zu einer weiteren Verkürzung.
Summa summarum: Durch die Umsetzung dieser beiden Vorhaben können wir erreichen, dass die Dauer bestimmter Verfahren in ganz Deutschland, so wie das
schon jetzt im Osten der Fall ist, um bis zu zwei Jahre
verkürzt werden kann. Das ist ein Anreiz für Investoren, ist gut für Investitionen und gibt einen Impuls für
die Wirtschaft.
({1})
Es gibt darüber hinaus vonseiten der Länder noch Ergänzungen, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens natürlich eingebracht werden können und diskutiert
werden. Wir haben schon eine Reihe von Vorschlägen
aufgenommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich empfehle Ihnen heute die Annahme des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes. Dieses wird bis zum
31. Dezember 2006 verlängert, damit das Verfahren im
Osten nicht abbricht; das neue Gesetz wird parallel dazu
eingeführt, aber bitte nicht mit einer Frist von zwölf Monaten, sondern möglichst mit einer kürzeren Frist. Damit
wollen wir ein deutliches Signal für einen wirtschaftlichen Aufschwung setzen. Dieser kommt den Menschen,
der Baubranche, der Wirtschaft und damit unserem Land
insgesamt zugute.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Jan Mücke, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die beiden
Gesetzesvorhaben, die heute zur Beratung auf dem Tisch
liegen. Der Bereich der Verkehrsplanung ist ganz klar
ein Feld für Bürokratieabbau. Wir als FDP stehen für
Bürokratieabbau.
Wir wissen, dass die Überregulierung in diesem Bereich - aber nicht nur in diesem - in unserem Land erheblich ist und dass großer Handlungsbedarf besteht, um
insbesondere bei Verkehrsplanungen schneller zu Entscheidungen zu kommen. Wenn es einen Bereich gibt, in
dem die Überregulierung in unserem Land anschaulich
wird, dann im Bereich der Verkehrsplanungsgesetze. Die
Abkürzung BRD steht nicht umsonst nicht nur für Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für „beinahe regelungsdicht“. Diese Regelungsdichte führt aber dazu,
dass wir bei entscheidenden Verkehrsvorhaben sehr viel
Zeit benötigen. Wir brauchen zu lange. Dadurch verschenken wir unsere Zukunft.
({0})
Wie sehr man seine Zukunft verschenken kann,
möchte ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen,
die für jeden nachvollziehbar machen, wie wichtig es ist,
dass wir zu einer deutlichen Straffung der Planungsverfahren kommen.
Ich nenne Ihnen als erstes Beispiel den Bau des Riederwaldtunnels an der A 66 in Hessen. Die Planungen
begannen 1971, der erste Anhörungstermin fand 1989
statt, der Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ist für
das nächste Jahr vorgesehen. Bis heute ist dort also noch
kein Bagger gefahren, bis heute ist dort noch keine
Schaufel in die Hand genommen worden.
Das zweite Beispiel ist die Ortsumfahrung von Weimar im Lahntal an der B 255. Der Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ist ebenfalls für das nächste Jahr
vorgesehen. Der Erörterungstermin fand im vergangenen
Jahr statt. Der Planungsbeginn war 1968.
({1})
Diese Planungsvorhaben sind deutlich älter als ich
selber. Es kann doch nicht der Normalzustand sein, dass
wir in Deutschland für eine Planung 37 Jahre benötigen.
Hier wird die Zukunft unseres Landes verschenkt.
({2})
Als Land in der Mitte Europas sind wir ein Transitland. Wir sind ein Land mit großer wirtschaftlicher Bedeutung. Deswegen und weil damit auch Ansiedlungsentscheidungen von Unternehmen verbunden sind,
sind wir auf vernünftige Verkehrswege angewiesen. Es
ist also ganz wichtig, dass wir durch gestraffte Verfahren
schneller zu Entscheidungen kommen. Das ist der überragende politische Aspekt bei diesen beiden Vorhaben,
die heute auf dem Tisch liegen.
Es gibt aber noch einen persönlichen Aspekt, der uns
Politikern wichtig sein sollte. Es ist den Planern durchaus zu gönnen, dass sie die Umsetzung ihrer Planungen
auch persönlich noch erleben können.
({3})
Herr Minister Tiefensee, ich finde es deshalb sehr
schön, dass auch Sie als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz jetzt für ein gutes Projekt halten;
({4})
denn wenn ich richtig informiert bin, hat die SPD-Bundestagsfraktion dem damaligen gemeinsamen Vorhaben
der FDP-Bundestagsfraktion und der CDU/CSU-Fraktion, also dem der alten Koalition, 1991 nicht zugestimmt.
({5})
Herr Minister, wir freuen uns sehr, dass Sie nun gemeinsam mit Ihrer Fraktion zu einer höheren Einsicht gelangt
sind. Vielleicht können Sie ja auch ein Einsichtsbeschleunigungsgesetz machen. Dadurch könnten hier
vielleicht viele Prozesse deutlich gestrafft werden.
({6})
Wir stimmen heute der nochmaligen Verlängerung
der Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes für die neuen Länder zu, wie wir das in
den vergangenen Jahren auch schon getan haben, damit
die begonnenen Planungsprozesse in den neuen Ländern
nicht künstlich verlängert werden. Für uns ist es aber
wichtig, dass wir ein einheitliches Planungsrecht für
ganz Deutschland bekommen.
({7})
Ich betone, dass das Niveau dieses einheitlichen Planungsrechts so sein muss, das es wirklich möglich sein
wird, schneller zu Entscheidungen zu kommen. Dabei
gelten für uns einige wichtige Grundsätze.
Ein wichtiger Grundsatz für uns ist, dass es für die Bürgerinnen und Bürger möglich sein muss, einen effektiven
Rechtsschutz zu erlangen. Es macht gar keinen Sinn,
dass das Bundesverwaltungsgericht Erstinstanz für Projekte mit einer so genannten überragenden verkehrlichen
Bedeutung ist, wie das im Gesetzentwurf vorgesehen ist.
Ich komme später noch zur Definition der überragenden
verkehrlichen Bedeutung. Es wäre wünschenswert, wenn
wir hier zu einem effektiven Rechtsschutz kommen würden, das heißt, die Oberverwaltungsgerichte sollten
Erstinstanz sein. Es ist eigentlich regelwidrig, dass das
Bundesverwaltungsgericht Tatsacheninstanz ist. Das gibt
es in keinem anderen Bereich in der Gerichtsorganisation.
Die Bundesgerichte sind dafür zuständig, Rechtsfehler zu
beheben, und sie sind nicht dazu da, Tatsachen zu erheben.
({8})
Deshalb sind wir dafür, dass die Oberverwaltungsgerichte bei diesen Projekten Erstinstanz sind.
Das führt auch nicht zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die
Oberverwaltungsgerichte sehr schnell arbeiten können,
da sie sehr viel einfacher als das Bundesverwaltungsgericht einen Termin machen können. Die Zahlen in der
Statistik zeigen auch, dass bisher nur circa 2 Prozent aller Fälle beim Bundesverwaltungsgericht gelandet sind.
Deshalb denke ich, dass es zumutbar und kein großes Risiko ist, dass die Oberverwaltungsgerichte Erstinstanz
werden.
Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Beteiligung der
Bürger; der Herr Bundesminister hat es angesprochen.
Wir legen als Rechtsstaatspartei natürlich auch Wert darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen effektiv wahrnehmen können. Sie können ihre Interessen
aber immer dann nicht effektiv wahrnehmen, wenn es
Erörterungstermine gibt, zu denen 2 000 Betroffene
geladen sind und auf denen jeder versucht, sein Anliegen
vorzubringen. Teilweise werden dort auch Anliegen vorgebracht, die gar nicht persönlich begründet sind. Deshalb ist es aus meiner Sicht und aus Sicht der FDPBundestagsfraktion völlig sinnlos, an den Anhörungsterminen als einer Art Mammutveranstaltung festzuhalten.
Wir müssen hier zu einer deutlichen Straffung kommen.
Wir können uns vorstellen, dass man das Verfahren in
diesem Bereich durch eine gezielte Ansprache der wirklich Betroffenen deutlich strafft.
({9})
Ich komme zu den letzten zwei Aspekten, dann bin
ich am Ende meiner Rede. Wir wollen nicht, dass man
die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen bis
in alle Ewigkeit verlängern kann, und wir wollen auch
nicht, dass man Vorratsplanung betreibt, wie das in den
letzten Jahren bedauerlicherweise Einzug gehalten hat.
Wir wollen, dass ein Planfeststellungsbeschluss zehn
Jahre lang gilt und dann verfällt und dass keine Verlängerungsmöglichkeit besteht. Einen entsprechenden Änderungsantrag werden wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen. Wer nach zehn Jahren nicht gebaut hat,
der hat keine wirklich ernsthafte Bauabsicht. Deshalb ist
es nicht zumutbar, dass wir Planungsverfahren über
Jahrzehnte hinweg fortführen. Es muss erreicht werden,
dass man schnell plant, dann aber auch schnell umsetzt.
Herr Bundesminister, ich komme zum letzten Aspekt.
Das beste Baurecht und die schönsten Planfeststellungsbeschlüsse nützen gar nichts, wenn kein Geld vorhanden
ist, um die Planfeststellungsbeschlüsse umzusetzen.
({10})
Deshalb wünschen wir Ihnen viel Spaß und vor allen
Dingen viel Erfolg dabei, wenn Sie mit Ihrem Kollegen
Finanzminister über die Finanzierung dieser Bundesprojekte reden. Wir sind gespannt, ob es dann wirklich zu
einer Beschleunigung bei den Planungsverfahren und
vor allen Dingen bei der Umsetzung dieser Planung
kommt.
Ihnen persönlich wünschen wir alles Gute und Ihnen,
meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die ungeteilte Aufmerksamkeit.
({11})
Kollege Mücke, dies war Ihre erste Rede. Herzliche
Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus
Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die heute geltenden Vorschriften zur Planung des Baus und der Veränderung von Verkehrswegen
werden den Anforderungen, die man an zügige Entscheidungsprozesse und an eine zügige Umsetzung stellen
muss, in keiner Weise mehr gerecht. Sie entsprechen insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland in der Mitte Europas befinden,
die EU-Osterweiterung unsere zentrale Position noch gestärkt hat, neue Verkehrsströme auf uns zukommen,
nicht mehr den europäischen Anforderungen, weder in
Bezug auf Transparenz noch auf die nötige Schnelligkeit. Deshalb ist es ein guter Ansatz, dass wir hier und
heute anfangen, daran etwas zu ändern.
Das ist die Voraussetzung dafür, um mit einem funktionierenden Logistikmarkt zusätzliche Arbeitsplätze in
der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Unsere
zentrale Lage in Europa bedingt geradezu, dass wir diese
Chance ergreifen und sie nicht verstreichen lassen. Hier
muss Wachstum entstehen. Das können wir dann erreichen, wenn wir die Entscheidungsprozesse stark beschleunigen. Dazu haben wir heute den entsprechenden
Einstieg vorbereitet.
Ich will aber auch deutlich machen, dass Infrastruktur
mehr als nur Straße ist. Wir werden den Energiebereich
in den nächsten Jahren neu ordnen müssen. Das ist für
die Bundesrepublik von ganz entscheidender Bedeutung.
Ein Nachholbedarf in der Größenordnung von mehrstelligen Milliardensummen Euro an Investitionen in
Großprojekte ist vorhanden. Diese Großprojekte müssen
zügig angegangen werden.
Wenn wir diese Großprojekte angehen, werden sich
natürlich für den Leitungsbau neue Anforderungen und
Herausforderungen ergeben. Auch das müssen wir gestalten können. Das werden wir zügig umsetzen müssen.
Ein Kraftwerk, das nicht an den Ballungsraum angeschlossen ist, den es mit Strom beliefern soll, macht
schlechthin keinen Sinn. Wenn wir, was wir ja vorhaben,
zum Beispiel im Offshorebereich neue Anlagen bauen
und in diesem Bereich in andere Dimensionen vorstoßen
wollen, dann bedingt das natürlich auch, dass wir an den
Leitungsbau denken, um vom Offshorebereich hin zu
den Ballungszentren in unserem Land eine entsprechende Stromversorgung zu gewährleisten.
({0})
Ich will auf den Gasbereich gar nicht mehr eingehen.
Diese Positionen sind unabweisbar notwendig.
Wir können - Minister Tiefensee hat dies angesprochen - auf einen Erfolg in den neuen Bundesländern
zurückschauen. Die Entscheidung, die wir damals getroffen haben, war gut. Sie hat dazu geführt, dass wir in
den neuen Bundesländern gut vorangekommen sind. Es
muss erlaubt sein, darauf zu verweisen, wie sich nach
1990 andere Länder im Osten hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur entwickelt haben und was wir in den neuen
Bundesländern erreichen konnten. Ich glaube, das ist ein
gutes Beispiel. Ich will nicht sagen, dass die Entwicklung damit abgeschlossen ist; denn vor uns liegen noch
Aufgaben, denen wir uns werden stellen müssen.
Sicher ist, dass wir dies dann, wenn wir dieses Gesetz
weiter gelten lassen, tun können. Ich glaube, dass das,
was für die neuen Bundesländer gut war, auch für die alten Bundesländer gut ist. Diese Vorstellung habe ich
schon immer gehegt. Sie war bislang nicht umzusetzen.
Insofern sind wir jetzt in der Umsetzung dieser Vorstellung ein gutes Stück weiter.
({1})
Wir sollten dabei Vorstellungen, Vorschläge, Anregungen und Ideen einbeziehen, die aus den Bundesländern, etwa aus Hessen und Schleswig-Holstein, kommen. Ich glaube, das ist wichtig. Die Effizienz des
Gesetzgebungsvorhabens könnte durch das, was wir hier
miteinander sorgfältig diskutieren und prüfen werden,
gestärkt werden. Ich sehe gute Ansätze darin, in einem
gemeinsamen Denkprozess konstruktive Lösungen für
unser Land zu finden. Wir sollten das aufgreifen und entsprechend umsetzen.
Zu einem späteren Zeitpunkt sollten wir vielleicht
auch darüber nachdenken, Herr Minister, unsererseits
Initiativen in die Europäische Union einzubringen, um
auch auf dieser Ebene einen Beschleunigungsprozess
einzuleiten und den Bürokratieabbau voranzutreiben.
Wir können heute unser Land nicht mehr isoliert betrachten. Wenn wir uns nicht damit befassen, was auf europäischer Ebene passiert, werden wir in der Bundesrepublik nicht weiterkommen. Wir werden dies frühzeitig
tun müssen. Das sollten wir auch in dieser Debatte berücksichtigen.
Herr Kollege Mücke, Sie haben zu Recht festgestellt,
dass allein die Schaffung von Planungsrecht nicht ausreicht. Ich glaube deshalb, dass der Ansatz der Koalition
zu begrüßen ist, trotz der schwierigen Haushaltslage die
Mittel für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen zu erhöhen. Wir werden diesen Ansatz nach Kräften unterstützen, weil das der Komplementärbereich zur Umsetzung des Planungsrechts ist.
Wir wollen mehr Maßnahmen realisieren - sei es im
Bereich der Straße, sei es im Bereich der Bahn -, aber
wir sollten sie gemeinschaftlich angehen und umsetzen.
Wir sollten nicht nur den Bestand erhalten, sondern auch
den Neubau forcieren. Der Ansatz der Koalition ist gut
und wir sollten ihn gemeinschaftlich tragen.
Damit werden auch über die Bundesrepublik
Deutschland hinaus Zeichen gesetzt. Wer jetzt von außen
nach Deutschland blickt, erkennt, dass wir den Bürokratieabbau angehen und etwas für konjunkturelle Entwicklung, Wachstum und Arbeitsplätze tun wollen. Ich
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
glaube, das ist auch für ausländische Investoren ein entscheidender Anreiz, sich für die Bundesrepublik
Deutschland zu entscheiden. Wir sollten in diesen Prozess auch neue Finanzierungsinstrumente einbringen
und nach Möglichkeiten suchen, um die öffentlich-privaten Partnerschaften noch stärker als bisher für unseren
Part der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung zu nutzen
und die Umsetzung mit neuen Managementgesellschaften zu begleiten.
Alles in allem sehe ich einen positiven Gesamtansatz.
Es handelt sich nicht um eine enge Beschränkung auf
scheibchenweise Maßnahmen; wir denken vielmehr im
System. Damit werden wir weiterkommen. Das wird der
Bundesrepublik Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplätzen zugute kommen. Deshalb sollten wir das gemeinsam anpacken. Wir sind dabei für neue Ideen offen.
({3})
Da dies die letzte Sitzung vor Weihnachten ist, darf
ich all denjenigen, die ich bis dahin nicht mehr sehen
werde, ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest und
einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen.
Herzlichen Dank.
({4})
Herzlichen Dank, Kollege Lippold, für die freundlichen Wünsche.
Ich erteile der Kollegin Dorothee Menzner, Fraktion
Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 16/45
soll ein stets umstrittenes Gesetz nochmals - diesmal um
ein Jahr - in seiner Geltungsdauer verlängert werden.
Bildlich gesehen geht es darum, im Advent schnell noch
ein paar Türchen zu öffnen, damit noch mehr Beton in
die Landschaft gepumpt werden kann,
({0})
getreu der Devise: mehr Infrastruktur gleich mehr Wettbewerb gleich mehr Arbeit. Dem ist aber nicht so.
Die bestens ausgebauten Verkehrswege stärken längst
die Kerngebiete und weniger die ländlichen Regionen.
Die schnellen Verbindungen tragen längst mit dazu bei,
die Regionen buchstäblich auszuwaschen. Immer mehr
Menschen müssen der Arbeit hinterherfahren, immer öfter und über immer weitere Entfernungen. Welch ein Armutszeugnis der Verkehrspolitik!
({1})
Der Kurzschluss zwischen Infrastruktur und Arbeit
führt in die falsche Richtung. Er wird noch fragwürdiger, wenn er zulasten der Lebensräume oder der
Rechte der Anwohner geht. Genau dies steckt hinter
dem Wortungetüm „Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz“. Dies lehnt die Linke im Deutschen Bundestag ab.
({2})
Zur Begründung beziehe ich mich auf den Erfahrungsbericht der vorherigen Bundesregierung auf
Drucksache 15/2311, in dem auf Seite 13 festgestellt
wurde, dass die Sondersituation in den neuen Ländern
nicht mehr besteht. In der Tat ist der Nachholbedarf
weitgehend gedeckt. Die vereinfachten Planungsverfahren, die verkürzten Bearbeitungsfristen und das verengte
Klagerecht haben keine aktuelle Bedeutung mehr.
Ich komme nun zu dem gravierend weiter reichenden
Gesetzentwurf auf Drucksache 16/54. Offenbar will die
Bundesregierung damit das beschnittene Planungsrecht,
das bisher nur im Osten unseres Landes gilt, bundesweit
zementieren, und zwar für 58 Fernstraßenprojekte,
22 Eisenbahnstrecken, sechs Wasserstraßen, imaginäre
Transrapidstrecken, eine nach oben offene Zahl an Flugplätzen und letztlich auch für Energiefernleitungen - all
das vor der Kulisse, dass etliche Projekte in einer ganzen
Reihe von Bundesländern schon längst die Baureife erlangt haben und in der Schublade liegen. Wer sich dazu
umhorcht, wird Erstaunliches hören. Es soll Bundesländer geben, in denen baureife und komplett durchgeplante
Verkehrsprojekte mit einem Volumen von rund
1 Milliarde Euro in der Schublade liegen. Hier muss
keine Planung mehr erfolgen oder beschleunigt werden.
Man könnte längst bauen. Das Einzige, was fehlt, ist das
liebe Geld.
Nun soll sozusagen Plan B hinzukommen, weil nicht
annähernd genug Geld für Hunderte Projekte da ist, die
bereits als Bedarf gelistet sind. Für eine ungewisse Zahl
weiterer Projekte will man jetzt offenbar das große Los
und die freie Auswahl. Man will den Bulldozern weitere
Flächen zum Fraß vorwerfen, dabei die Bearbeitungsfristen kürzen, die Pflicht, die Planungen bekannt zu machen, ausdünnen und die Klagezuständigkeit dem Bundesverwaltungsgericht alleine anlasten. Mit Verlaub,
werte Kolleginnen und Kollegen, mit einem solchen
Plan B werden wir uns einen Bärendienst erweisen.
({3})
Denn bei allen Projekten, für die der Plan B, das verkürzte Klagerecht, gelten soll, könnten die Bürgerinnen
und Bürger dann munter darauflosklagen. Sie könnten
vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und in der Sache einwenden, dass die Oberverwaltungsgerichte nichts
mehr zu melden hätten. Dann würde gewaltig gebremst
statt beschleunigt.
Lassen wir das! Besinnen wir uns und nehmen wir
hier und heute den Grundsatz der Nachhaltigkeit mit in
das neue Jahr!
({4})
Alles, was der Bundestag beschließt, sollte sowohl sozial
als auch ökologisch und ökonomisch selbsttragend sein.
Beachten wir deshalb zukünftig stärker die Sogeffekte,
den wirklichen Bedarf und die so genannten Null-plusVarianten! Vielleicht schaffen wir es, dass dann nur noch
dort in neue Fernstraßen investiert wird, wo der Autostau wirklich nicht anders abzuwenden ist.
Wir fordern: Schluss mit ellenlangen Listen mit angeblich vordringlichen Verkehrsprojekten! Schluss mit
dem erklärten Bedarf! Bringen wir die Verkehrsentwicklung so voran, dass sie tatsächlich nachhaltig ist! Es täte
uns allen gut, wenn wir uns stärker an den Bedürfnissen
der Fußgänger und Fahrradfahrer sowie an den Belangen
der öffentlichen Verkehrsmittel orientierten. Beziehen
wir deren Interessengemeinschaften und Verbände in unsere Arbeit ein!
({5})
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine besinnliche Weihnacht und ein erfreuliches neues Jahr.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist eine unendliche Geschichte. Wir haben in der
letzten Legislaturperiode darüber im Ausschuss in schöner Wiederkehr - jedes Jahr einmal - intensiv diskutiert.
Bevor ich auf die erneute Verlängerung zu sprechen
komme, möchte ich kurz rekapitulieren, warum das Gesetz damals in Kraft gesetzt worden ist.
1991 war unser vordringlichstes Problem, dass in den
neuen Bundesländern weder Behörden noch Planungskapazitäten in ausreichendem Maße bestanden. Hier gab
es eindeutig Handlungsbedarf. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt war - daran können sich sicherlich
viele erinnern - die Vielzahl ungeklärter Eigentumsverhältnisse. Auch hier bestand Handlungsbedarf. Der dritte
Punkt war, dass Gerichtskapazitäten fehlten. Ich kann
mich nicht mehr daran erinnern, ob damals in Sachsen
schon Verwaltungsgerichte existierten. Jedenfalls waren
die Kapazitäten deutlich zu gering, um die Probleme zu
bewältigen. Das sind die Gründe dafür, dass das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz erarbeitet
und in Kraft gesetzt wurde.
({0})
Damals ist die Entscheidung getroffen worden, den
Instanzenweg auf eine Instanz, das Bundesverwaltungsgericht, zu verengen. Das war eine Sondersituation. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Wir Grüne hatten zwar immer Probleme mit der
Einschränkung der Bürgerrechte in diesem Fall. Aber
wir waren der Meinung, dass man damit leben kann.
Heute, 15 Jahre danach, kann von einer Sondersituation keine Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil: In Ostdeutschland sind genau diese Instanzen bestens ausgebaut.
Die Infrastruktur in diesem Bereich ist vorbildlich.
Sie ist sogar besser als in Westdeutschland. An dieser
Stelle jedenfalls - das muss ich deutlich sagen - gibt es
keine Probleme mehr. Daher gibt es aus unserer Sicht
keine Rechtfertigung, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz um ein weiteres Jahr zu verlängern.
({1})
Wir haben schon am Mittwoch im Verkehrsausschuss
darüber debattiert. Der Kollege Friedrich hat darauf hingewiesen - da sind wir einer Meinung gewesen -, dass
die großen Verkehrsprojekte in Ostdeutschland schon alle
gebaut bzw. im Bau oder planfestgestellt sind. Schauen
wir uns die Planvorrangliste aus dem Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz an. Da finde ich keine einzige Autobahn mehr in Ostdeutschland, sondern nur noch
Bundesstraßen oder Ortsumfahrungen. Da finden sich
durchaus auch wichtige Projekte - das ist keine Frage und
das will ich nicht bestreiten -, aber eines ist doch klar:
Die großen Projekte in Ostdeutschland sind gebaut. Dafür brauchen wir kein Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Sie liefern uns mit genau diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben und der Projektvorrangliste
den Beweis.
({2})
Um es deutlich zu machen: Wir sind nicht gegen eine
Planungsbeschleunigung. Das anzunehmen wäre ein
großer Irrtum. Ich sage aber auch: Die Planung muss
transparent, nachvollziehbar und demokratisch sein. An
diesem Grundsatz werden wir festhalten. Für mich ist
die Qualität der Planung wichtig, nicht die Beschleunigung. Ich frage hier in die Runde und werde auch in den
nächsten Jahren immer wieder im Ministerium bei Mängeln nachfragen. Verzögerungen bei Projekten wie der
A 38 sind zum Teil - aus meiner Sicht jedenfalls - auch
mit Planungsmängeln zu erklären.
({3})
Wer ein Tagebaugebiet durchquert, muss wissen, dass er
bei Gründungsmaßnahmen auf Probleme stößt. Ich frage
mich: Hat die Beschleunigung der Planung möglicherweise dort zu Planungsmängeln geführt? Die Kosten, die
dort entstehen - übrigens auch bei der A 17 -, bedeuten
nichts anderes, als dass dieses Geld später anderen Verkehrsprojekten, beispielsweise in Sachsen, nicht mehr
zur Verfügung steht. Das können wir nicht dulden und
das können wir nicht akzeptieren. Da verkehrt sich Planungsbeschleunigung in ihr Gegenteil.
({4})
Ein weiteres Problem sind aus meiner Sicht weniger
die planfestgestellten Projekte - das hat eben auch der
Kollege Mücke gesagt -, sondern die Tatsache, dass wir
keine Prioritäten setzen. Welche Projekte sind eigentlich für uns wichtig und welche sind für uns weniger
wichtig? Geht man nach den Wünschen, die aus den
Wahlkreisen bzw. Landkreisen kommen, dann sind alle
Projekte gleich wichtig. Deswegen wird alles in gleicher
Weise geplant. Dadurch kommt es zu einem erheblichen
Planungsüberhang. Das ist in Ostdeutschland vielleicht
nicht so ausgeprägt, aber in Baden-Württemberg gibt es
nach Auskunft meines Kollegen Winfried Hermann
planfestgestellte Projekte mit einem Volumen von
2 Milliarden Euro, in Bayern beläuft sich das Volumen
der planfestgestellten Projekte auf 750 Millionen Euro.
Das zeigt ganz deutlich, dass das Problem nicht die Planungsbeschleunigung ist, sondern dass die finanziellen
Mittel nicht zur Verfügung stehen und dass keine Prioritäten gesetzt werden.
({5})
Kurz und gut: Aus unserer Sicht hat das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz seine Schuldigkeit
getan. Es sollte ins Haus der Geschichte überwiesen
werden.
({6})
Das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz
weist viele Parallelen zu dem Gesetz auf, das wir eben
besprochen haben. Die Beschränkung auf eine Instanz
ist für uns wirklich ein Problem. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Professor Hien, hat immer
wieder deutlich gesagt, dass die Kapazitäten seines Gerichts bei weitem nicht ausreichen, um sich mit den
möglichen Klagen auseinander zu setzen. Er will entweder einen zweiten Senat, vielleicht sogar einen dritten
Senat, oder er kann diese Arbeit nach eigener Aussage
nicht mehr leisten. Es wäre ein Treppenwitz, wenn wir
das Bundesverwaltungsgericht zum Flaschenhals einer
Planungsbeschleunigung machen würden. Wenn es diese
Vielzahl von neuen Projekten gäbe, würden wir im Bundesverwaltungsgericht diesen Flaschenhals produzieren.
Lieber Kollege Mücke, ich finde Ihren Hinweis auf
das Oberverwaltungsgericht gut. Aber auch die Oberverwaltungsgerichte haben nur begrenzte Kapazitäten. Wir
müssen uns schon überlegen, worauf wir das Augenmerk legen. Nur 5 Prozent der Projekte, die beklagt werden, gehen tatsächlich in die nächste Instanz. Wir sind
der Meinung, dass die Eininstanzlichkeit entbehrlich ist.
Ein FDP-Kollege aus dem hessischen Landtag, der ehemalige Staatsminister Posch, hat eine sehr bemerkenswerte Rede gehalten. Ich zitiere: Ganz abgesehen davon,
dass ich persönlich es für problematisch halte, den
Rechtsweg so drastisch zu verkürzen, ist dies der völlig
falsche Ansatz; denn die Verfahrensdauer bei Gericht ist
nicht das Problem, sondern die Dauer der Verfahren
selbst einschließlich der vorbereitenden Aufgaben und
Arbeiten. - Dem kann ich nichts hinzufügen. Wir sollten
uns daher intensiv mit diesem Gesetz auseinander setzen
und es kritisch anschauen.
({7})
Zum Schluss möchte ich auf die Verlängerung der
Gültigkeit von Planfeststellungsbeschlüssen zu sprechen kommen. Herr Mücke hat bereits darauf hingewiesen: Fünf plus fünf ist zehn; wir wollten immer an der
bisherigen Regelung festhalten. Da kann man sich einigen. Folgendes zeigt sich ganz deutlich: Wenn wir mit
planfestgestellten Beschlüssen an dieser Stelle kein Problem hätten, dann hätten Sie in den Koalitionsvertrag
nicht hineinschreiben müssen, dass die Geltungsdauer
dieser Beschlüsse verlängert wird, nämlich auf „zehn
plus fünf“. Damit geben Sie doch zu, dass die Planfeststellung in Deutschland, auch in Westdeutschland, offensichtlich kein Problem darstellt.
Lassen Sie uns versuchen, diese Angelegenheit zu
versachlichen. Lassen Sie uns in den nächsten Monaten
versuchen, im Ausschuss Argumente auszutauschen und
zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Wir werden
unseren Teil dazu beitragen. Aber wir werden eine inhaltliche Auseinandersetzung - auch in aller gebotenen
Schärfe - nicht scheuen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit, ein frohes
Fest und einen guten Rutsch.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Hettlich, Ihren Appell nehmen wir gern
auf. Wir werden im Ausschuss über die Fragen, die Sie
angesprochen haben, sicherlich sehr sachlich diskutieren
und wir werden am Ende eine sachgerechte Lösung finden.
({0})
Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - ein
Wortungetüm - gilt noch bis zum 31. Dezember dieses
Jahres. Wir werden den Geltungszeitraum dieses Gesetzes heute um ein Jahr verlängern. Das ist notwendig,
weil in den neuen Bundesländern eine Reihe von Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs des Bundesverkehrswegeplans 2003 noch nicht über die Verfahrensreife verfügt, die nötig ist, um ein beschleunigtes
Planungsverfahren durchzuführen.
Es gibt keinen Grund, bei diesen Vorhaben die positiven wachstums- und beschäftigungsfördernden Effekte
dieses Gesetzes nicht anzuwenden. Ich wiederhole: Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Für Entbürokratisierung und für Beschleunigung von Planungsverfahren ist
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ein
Musterbeispiel gewesen. Wir sichern damit zugleich
einen gleitenden Übergang zu einem gesamtdeutschen
Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Wir brauchen diese Zeit einfach, um - Herr Minister hat darauf
hingewiesen - hier im Osten keinen Abriss zuzulassen.
Zu diesem Zweck findet heute die erste Lesung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben statt. Die bisherigen Sonderregelungen für die neuen Länder im Planungsrecht und die bei der Umsetzung gesammelten
praktischen Erfahrungen werden in ein neues Planungsrecht für das gesamte Bundesgebiet einfließen. Darauf
komme ich später zurück.
Zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz.
Es gibt Kritiker - sie haben sich in dieser Debatte auch
gemeldet -, die eine erneute Verlängerung ablehnen. Sie
verweisen darauf, dass der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern abgeschlossen ist
und dass die ungeklärten Eigentumsverhältnisse dort
geordnet sind. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Natürlich ist das so. Es wäre auch schlimm, wenn es in den
neuen Ländern noch keine Verwaltungsgerichtsbarkeit
gäbe. Es wäre auch schlimm, wenn wir die Unordnung
im Vermögensbereich, die wir 1989/90 vorgefunden haben, nicht beseitigt hätten.
Aber das sind nicht die einzigen Fragen, die wir beantworten müssen. Wir wollen auf jeden Fall, dass die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ planungsseitig und
bauseitig zügig realisiert werden. Außerdem wollen wir
die Verkehrsprojekte des vordringlichen Bedarfs in dieses beschleunigte Planungsverfahren integrieren.
({1})
Für uns ist völlig klar: Wir wollen, dass es bei den
einzügigen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht
bleibt. Wir fordern grünes Licht für Projekte wie die
A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, deren Bau genauso wie jener der Ostseeautobahn beschleunigt werden soll. Die positiven Wirkungen des Planungsbeschleunigungsgesetzes müssen wir erhalten. Wir müssen
auf diesem Wege neue Beschäftigung fördern und vorhandene Arbeitsplätze sichern.
Wie ich bereits kurz angesprochen habe, ist die Ostseeautobahn A 20 ein herausragendes Beispiel für Infrastrukturmaßnahmen. Ich kann mich hier nur wundern,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
Linke, was Sie zu diesen Maßnahmen heute gesagt haben. Die aus den hinteren Reihen der PDS dazwischengerufene Frage, wo in den neuen Ländern man denn davon etwas merkt, ist in einer Art wirklichkeitsfremd, die
wirklich nicht mehr zu toppen ist.
({2})
Ich hatte erwartet, dass sich die PDS wenigstens heute
positiv zu der Ostseeautobahn erklärt. Ich kenne die Widerstände aus den 90er-Jahren, als es darum ging, diese
Autobahn zu planen und zu bauen. Ich kenne die Widerstände gegen die A 14 zwischen Schwerin und Magdeburg. Das alles ist bekannt. Ich hatte erwartet, dass Sie
heute wenigstens so clever sind, sich wie andere Kritiker
auch zu Müttern und Vätern dieses guten Projekts zu erklären; denn in der Regel ist es so, dass bei Erfolg eines
Projekts alle Mütter und Väter dieses Projekts sein wollen. Es ist für mich schon etwas ernüchternd, dass Sie
diese Verkehrsprojekte für die neuen Länder auch heute
in einer derartigen Weise infrage stellen.
({3})
Wir haben mit der A 20, die die Region Lübeck mit
dem Land Mecklenburg-Vorpommern und mit dem polnischen Stettin verbindet, eine ganz wichtige Infrastrukturmaßnahme für die neuen Länder realisiert.
({4})
Wir schaffen dort Wirtschaftsansiedlungen. Jeder, der
durch die neuen Länder fährt, sieht, dass dort an Verkehrsadern Betriebe entstehen. Frau Kollegin, Sie kommen aus Niedersachsen. Fahren Sie nach Wittenburg, einer ganz kleinen, verschlafenen Kleinbürgerstadt zu
DDR-Zeiten! Das ist ein Ort, in dem vier oder fünf mittelgroße Unternehmen und Hunderte neuer Arbeitsplätze
entstanden sind. Auch so etwas kann durch Infrastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern geschehen.
Denken Sie gerade bezogen auf die Ostseeautobahn
auch an Folgendes: Über Jahre, insbesondere nach der
Maueröffnung, haben sich PKW- und LKW-Kolonnen
durch die Kleinstädte an der Ostsee gequält.
({5})
Der Bau der A 20 ist dort nicht nur für die Kraftfahrer
eine Erleichterung; der Bau der A 20 ist auch für die
Menschen, die in diesen Ortschaften leben, eine Erleichterung. Das hat doch etwas mit Lebensqualität zu tun.
({6})
Zwischen dem Spatenstich für die Ostseeautobahn im
Jahr 1992 und der Freigabe des letzten Teilstücks dieser
Autobahn vor wenigen Tagen liegen weniger als
13 Jahre Bauzeit. Rund 330 Kilometer Autobahntrasse
sind gebaut worden, gleichzeitig 19 Brücken und ein
Tunnel.
Die guten Erfahrungen aus der Planung von Verkehrsanlagen werden wir in ein kompaktes Infrastrukturgesetz
einfließen lassen. Wir beginnen die Diskussion heute mit
der ersten Lesung. Herr Hettlich, ich will nur noch einmal daran erinnern, dass wir genug Zeit haben, das im
Ausschuss zu diskutieren. Wir sind für Diskussion offen.
Aber für Stagnation und rückwärts gewandtes Denken,
wie das heute von der PDS vorgetragen worden ist, sind
wir nicht zu haben.
({7})
Die Bürgerinnen und Bürger fordern zu Recht Bürokratieabbau und Stärkung der Demokratie. Das sichern
wir mit diesem Gesetz. Bauwirtschaft und Transportgewerbe fordern Impulse zur Beschleunigung bei der Umsetzung von Baumaßnahmen der öffentlichen Hand. Dieses Gesetz ist eine Antwort darauf.
Herr Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramelow?
Bitte schön.
Nachdem Sie ständig von der schon gebauten Autobahn an der Ostsee gesprochen haben, die keine Beschleunigung mehr braucht und die hier auch nicht mehr
nachdiskutiert werden muss, möchte ich Sie gern fragen
({0})
- Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich das Wort
„Schwachsinn“ kommentieren muss; diese Kommentierung von der linken Seite, die sich nicht mehr links
nennt, finde ich etwas unangemessen -,
({1})
ob unter das Gesetz, über das wir reden, auch die zu planenden Stromtrassen fallen, wie Sie es bewerten, dass
mithilfe genau des Beschleunigungsgesetzes, von dem
Sie reden, eine Stromtrasse quer durch den Thüringer
Wald gezogen werden soll, wie Sie da den wirtschaftlichen Effekt bewerten wollen und ob Sie glauben, dass
neben dieser Hochspannungstrasse, die durch den Thüringer Wald gebaut werden soll, deren ökologischer Sinn
etwas zweifelhaft ist, ebenfalls die Ausweisung von Gewerbegebieten zu erwarten ist.
({2})
Herr Ramelow, Sie konstruieren hier wieder einen
Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie. Die
Stromtrasse im Thüringer Wald wird von dem vorgelegten Gesetzentwurf, glaube ich, gar nicht erfasst.
({0})
- Ich meine, das ist nicht der Fall. Das können wir im
Ausschuss noch einmal prüfen. - Dieser Widerspruch
zwischen Ökonomie und Ökologie hat etwas mit Ideologie zu tun.
({1})
Wir müssen bei Verkehrsvorhaben, bei Projekten im Bereich der Infrastruktur natürlich auch Maßgaben der
Ökologie beachten. Deswegen haben wir die Mitbestimmungsrechte vorgesehen. Deswegen haben wir - der Minister hat darauf verwiesen - in diesem Gesetzentwurf
die erweiterte Mitwirkungsmöglichkeit für Bürgerinnen
und Bürger verankert. Gehen Sie davon aus: Wir werden
die Bürgerrechte mit diesem Gesetz nicht beschneiden. Schönen Dank.
({2})
Wir stärken mit den beabsichtigten Regelungen den
Standort Deutschland als einen wichtigen Logistikstandort in Europa. Eine leistungsfähige Infrastruktur
wird gefördert. Wir geben konkrete, praktische Antworten auf das brennende Thema der Arbeitslosigkeit in
Deutschland. Die Arbeitslosigkeit kann nur bekämpft
werden, wenn wir Rahmenbedingungen für mehr Arbeit
schaffen bzw. verbessern. Das Planungsbeschleunigungsgesetz für Infrastrukturvorhaben ist darauf eine
Antwort.
Ein zentraler Gedanke des Koalitionsvertrages zwischen Union und SPD ist die Schaffung von mehr Chancen für Innovation und Arbeit, für Wohlstand und Teilhabe. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein
zur Umsetzung dieses Zieles. Ich lade Sie alle ganz herzlich ein: Bringen Sie sich ein bei der Gestaltung eines
Stücks Zukunft für Deutschland!
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Renate Blank, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Hettlich, bei der Begründung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes von 1991 haben Sie etwas vergessen, nämlich dass die Straßen in den neuen
Bundesländern damals in einem vollkommen desolaten
Zustand waren. Dafür waren weder Sie noch wir verantwortlich, sondern die Vorgänger der Linkspartei.
({0})
Das leugnen Sie heute
({1})
und fordern auch noch mehr Geld. Die große Koalition
wird in den nächsten vier Jahren 4,3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen. Ich glaube, das ist ganz
wichtig. Man sollte über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz positiv reden. Sie hätten durchaus
anerkennen können, dass durch dieses Gesetz etwas bewegt worden ist. Aber wenn man immer dagegen war
- die Widerstände Anfang der 90er-Jahre haben das gezeigt -, kann man das natürlich nicht positiv finden.
Aber das ist Ihr und nicht unser Problem.
Wir sind überzeugt, dass - mein Vorredner hat es
schon gesagt - dieses Gesetz zum Beispiel enorm zu
dem schnellen Bau der A 20 beigetragen hat. Das gilt
auch für andere Projekte; ich denke da an die A 9 von
Berlin nach Nürnberg, die wir noch nicht hätten, wenn
dieses Gesetz im Jahr 1991 nicht trotz aller Widerstände
durchgesetzt worden wäre, und zwar von der damaligen
Koalition, bestehend aus uns, der Union, und der FDP.
Das ist positiv und man kann auch einmal positiv darüber reden.
({2})
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, der nun in
die parlamentarischen Beratungen geht, wollen wir die
guten Erfahrungen auch auf die alten Bundesländer
übertragen. Ich denke, das ist ganz wichtig. Ich verhehle
nicht, dass es in der letzten Zeit leider nicht gelungen ist,
diesen Vorgang zu beschleunigen. Im Frühjahr dieses
Jahres hätte es so weit sein können; da gab es einen
Gesetzentwurf im Kabinett. Aber in der damaligen Koalition haben die Grünen verhindert, dass dieser in die
parlamentarischen Beratungen ging, weil sie Einschränkungen bei der Verbandsklage nicht hinnehmen wollten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wenn
ein Eigentümer weniger Rechte an seinem Grundstück
hat als ein Verband, zum Beispiel der BUND, dann
stimmt in den bisherigen Gesetzen etwas nicht und dann
müssen wir das dringend ändern.
({4})
Es kann nicht sein, dass die Rechte der Eigentümer bei
einer Klage gegenüber denen der Verbände beschnitten
werden.
Ganz offensichtlich nimmt der Faktor Zeit im internationalen Wettbewerb in einer Gesellschaft, die auf
Knopfdruck Milliarden an Geldern in Sekundenbruchteilen rund um den Globus schicken kann, an Bedeutung
stetig zu. Deshalb wollen wir verkrustete Strukturen gerade im Planungsrecht, die ein Investitionshemmnis erster Kategorie darstellen, aufbrechen. Wir wollen einen
bedarfsgerechten und vor allem einen zeitnahen Ausbau
der Infrastruktur.
Unsere Bürgerinnen und Bürger sind zu Recht nicht
mehr bereit zu akzeptieren, dass eventuell erst ihre Enkel
in den Genuss einer heute benötigten und von der Politik
zugesagten Ortsumgehung oder schnellen Verbindung
von A nach B kommen. Wir beobachten doch mit Sorge,
dass die gesellschaftliche Entwicklung in der Verkehrspolitik und der Infrastrukturplanung zunehmend in einer
Blockade endet. Dabei ist es nicht nur das Umweltbewusstsein, das die Wege versperrt, sondern es sind oft
Ideologen oder Bürger, die ihre Individualinteressen
über das Gemeinwohl stellen und damit wichtige Entscheidungen verzögern bzw. zu Fall bringen.
Das Gemeinwohl droht angesichts wachsender Partikularinteressen zunehmend ins Hintertreffen zu geraten. Ich kann es wirklich nicht mehr einsehen, warum
2 Prozent der Bevölkerung ein Projekt über Jahre, ja sogar über Jahrzehnte verschleppen können, obwohl die
anderen 98 Prozent beispielsweise die Straße wollen,
aber lange auf die Fertigstellung warten müssen.
Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Nein.
({0})
Mit anderen Worten: Wir brauchen eine schnellere
Planung und vor allen Dingen eine schnellere Durchführung. Jeder von uns hat in seinem Wahlkreis Projekte,
die über 30 Jahre geplant werden und deren Planungen
oft hinfällig werden, weil aus ideologischen Gründen im
Bundesverkehrswegeplan bestimmte Projekte gestrichen
werden.
({1})
- Richtig.
Wir werden auch ein bevorzugter internationaler
Standort für Logistikdienstleister. Als Transitland Nummer eins brauchen wir schnellere Planungen. Der nun
vorliegende Gesetzentwurf wird einen wichtigen Beitrag
dazu leisten, dass die Planungsblockade in Deutschland
durchbrochen wird, nach dem Motto der Regierungserklärung „Mehr Freiheit wagen!“.
Es wäre gut, wenn die folgende Geschichte wieder als
Witz und nicht als Zustandsbeschreibung verstanden
werden würde: Ein amerikanischer und ein deutscher
Brückenbauer wetten darum, wer sein Projekt zuerst fertig stellt. Nach einem Jahr ruft der Amerikaner bei seinem deutschen Kollegen an und sagt: „Noch zehn Tage
und wir sind fertig.“ Darauf sagt der Deutsche: „Noch
zehn Formulare und wir fangen an.“ Damit diese Geschichte ein Witz bleibt und keine Zustandsbeschreibung
wird, wollen wir mit dem neuen Gesetz die Planungen
beschleunigen.
({2})
Ich erteile das Wort dem sächsischen Staatsminister
Geert Mackenroth.
Geert Mackenroth, Staatsminister ({0}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
möchte Sie noch einmal für ein dem Freistaat Sachsen
und auch den anderen neuen Ländern besonders wichtiges Anliegen sensibilisieren.
Das Gesetz mit dem rekordverdächtig langen Namen
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat in den
vergangenen 14 Jahren die Planungszeiträume für Verkehrswege in den fünf neuen Ländern in der Tat rekordverdächtig verkürzt. Es hat entscheidend dazu beigetragen, die marode DDR-Verkehrsinfrastruktur in den
ostdeutschen Bundesländern in weiten Teilen zügig zu
sanieren. Dank dieses Gesetzes konnten wir einen großen Teil der Infrastrukturlücke bereits schließen. Es ist
damit zugleich ein Baustein zur Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ost und West.
Neue Verkehrswege konnten wir auf der Grundlage
dieses Gesetzes in wenigen Jahren von den ersten Entwürfen bis zur Baureife führen. Allein die Begrenzung
des Rechtsweges auf eine Instanz ersparte im Schnitt
zwei Jahre. Zwischen dem Antrag auf Planfeststellung
und dessen Unanfechtbarkeit vergingen beispielsweise
im Freistaat Sachsen oft nur ein bis zwei Jahre. Selbst
bei großen Projekten wie dem Neubau der Autobahn
A 17 zwischen Dresden und der tschechischen Grenze
waren es trotz mehr als 2 500 Einwendungen pro Abschnitt nur etwas mehr als drei Jahre.
Wie wurde das erreicht? Durch die Beschleunigung
bei den Genehmigungs- und Gerichtsverfahren. Beispielhaft sind dort vor allem zwei Dinge zu nennen: zum
einen das vereinfachte Plangenehmigungsverfahren und
zum anderen der bereits mehrfach angesprochene verStaatsminister Geert Mackenroth ({1})
kürzte Instanzenzug mit dem Bundesverwaltungsgericht
als erster und letzter Instanz.
Dieses Gesetz ist ein gutes Beispiel sowohl für Bürokratieabbau - der Abgeordnete Lippold hat dies zu Recht
betont - als auch für den Erfolg von Experimentierklauseln. Es schafft eben die notwendigen Freiräume. Die
Plangenehmigung und die Fristenregelungen wurden bereits nach wenigen Jahren positiver Erfahrung in das
Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes und in die
Fachgesetze übernommen. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts dagegen ist bisher allein in unserem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz verblieben.
Meine Damen und Herren, für die neuen Länder ist es
unabdingbar, das Gesetz um ein weiteres Jahr zu verlängern. Nur so können wir den nach wie vor erforderlichen
besonderen Anreiz für unsere Investoren erhalten.
({2})
Die so auch im Freistaat Sachsen schnell geschaffene
gute Infrastruktur zog Investoren ins Land, brachte Arbeitsplätze. Beispiele dafür sind die Ansiedlungen von
BMW, Porsche und DHL im Leipziger Raum und der
Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle. Wenn der Ausbau
des Flughafens, der Autobahnen und des Güterverkehrszentrums so lange wie in Westdeutschland gedauert hätte
- die Planung und der Bau des neuen Flughafens in
München dauerten weit mehr als 20 Jahre -,
({3})
dann wären die genannten Unternehmen jetzt woanders
und dann gäbe es in Leipzig über 15 000 Arbeitsplätze
weniger.
Diese höchst erfreuliche Entwicklung liegt natürlich
auch im Interesse der westdeutschen Länder. Den Menschen in den neuen Ländern ist klar: Ostdeutschland
muss stärker wachsen, wenn es aufholen will und wenn
die westdeutschen Länder nachhaltig von Transferzahlungen entlastet werden sollen. Noch sind durchaus nicht
alle erforderlichen Infrastrukturvorhaben in Ostdeutschland verwirklicht. Allein im Freistaat Sachsen stehen
50 Vorhaben im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans - dessen Lektüre lege ich Ihnen dringend ans Herz -, die nach derzeitigem Planungsstand
nicht unter die Überleitungsregelungen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes fallen. Wenn das
Gesetz ohne Folgeregelung ausliefe, riskieren wir, dass
die Verwirklichung gerade dieser Vorhaben deutlich verzögert wird. Neue Projekte würden um Jahre hinausgeschoben, wenn Klagen wieder mehrere Instanzen durchlaufen müssten, und die Planung dieser Projekte würde
schließlich schlicht und ergreifend erheblich teurer.
Ich freue mich deshalb, dass der Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben in zahlreichen konkreten Fällen die erstinstanzliche Zuständigkeit des
Bundesverwaltungsgerichts vorsieht. Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes, dessen erste Beratung
heute auf Ihrer Tagesordnung steht, wird allerdings noch
etwas Zeit beanspruchen. Der Westen jedenfalls kann in
diesem Punkt von den guten Erfahrungen des Ostens nur
lernen.
Ostdeutschland ist auf eine übergangsweise Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein weiteres Jahr bis Ende 2006 angewiesen.
Eine Regelungslücke wollen wir unbedingt vermeiden.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist notwendig, damit die
Verwirklichung neuer Verkehrsprojekte in Ostdeutschland nicht in Verzug gerät. Deshalb bitte ich Sie um Ihre
Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Marko Mühlstein, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst freue ich mich, dass ich als Mitglied
des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Möglichkeit erhalten habe, zu diesem
wichtigen verkehrspolitischen Thema reden zu dürfen.
Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, zu den beiden
Gesetzentwürfen, die heute hier behandelt werden, aus
umweltpolitischer Sicht kurz Stellung zu nehmen.
Die Arbeitsgruppe Umwelt der SPD-Bundestagsfraktion hat am vergangenen Mittwoch im Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der einjährigen Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes zugestimmt, auch wenn wir die Notwendigkeit der Verkürzung des Rechtsweges auf eine
Instanz für diskussionswürdig halten.
({0})
Diese ursprünglich als Sonderfall für die neuen Bundesländer vorgesehene Regelung entspricht in dieser Form
nicht mehr dem Stand der Dinge. So haben die neuen
Bundesländer bereits seit einigen Jahren leistungsfähige
Oberverwaltungsgerichte, die als Tatsacheninstanz zur
Prüfung von Planungsentscheidungen besser geeignet
sind als das Bundesverwaltungsgericht.
Des Weiteren möchte ich zu bedenken geben, dass die
Bundesregierung in ihrem Erfahrungsbericht vom 2. Januar 2004 darauf hinweist, dass die beschleunigenden
Verfahrensschritte des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bereits in die bundesweit geltenden
Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die
jeweiligen Fachgesetze übernommen worden sind.
Dass wir der einjährigen Verlängerung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes heute in
abschließender Lesung dennoch zustimmen werden,
liegt darin begründet, dass wir hierin einen Zeitvorteil
sehen, um in Ruhe und mit der gebotenen Gründlichkeit
den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von
Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben zu beraten. Wir sehen hier noch einen beachtlichen Beratungsbedarf und hoffen deshalb sehr, in einem intensiven Abstimmungsprozess mit den beteiligten Häusern,
innerhalb der Fraktionen sowie mit dem Koalitionspartner zu einem für alle Beteiligten guten Ergebnis zu kommen.
({1})
Inhaltlich sehen wir hauptsächlich bei der geplanten
bundesweiten Eininstanzlichkeit sowie bei den Forderungen des Bundesrates nach einer längeren Geltungsdauer von Planungsentscheidungen und dem Sofortvollzug beim Ausbau von Bundeswasserstraßen und kleinen
Flugplätzen Diskussionsbedarf.
({2})
Weiterhin sollten wir darauf achten, dass die Regelungen
zur Öffentlichkeitsbeteiligung von Verbänden denen der
Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie entsprechen. Auch
hinsichtlich der geplanten Regelungen bezüglich Erdkabelverlegungen besteht aus unserer Sicht Beratungsbedarf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir Umweltpolitiker
das Ziel der Beschleunigung von Planungsverfahren unterstützen möchten. Wir stehen lediglich einigen Punkten kritisch gegenüber. Ich gehe aber davon aus, dass wir
es gemeinsam in guter parlamentarischer Manier schaffen werden, bei den strittigen Punkten eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Lieber Kollege Mühlstein, dies war Ihre erste Rede in
diesem Hause. Gratulation und alles Gute für Ihre weitere politische Arbeit!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf
Drucksache 16/45. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/227, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen von der Linken und dem Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in zweiter Lesung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 b: Interfraktionell wird Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/54 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({1})
- Drucksache 16/118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Siebenundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal ohne allzu viele Geräusche zu verlassen, damit wir in eine ruhige Debatte eintreten
können, die dieses Thema auch verdient.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt in unserem Land kaum ein größeres Aufregerthema
als die Diäten der Abgeordneten. Ich bin sehr dankbar,
dass der Präsident darauf hingewiesen hat, dass Ruhe
und Vernunft dieser Diskussion außerordentlich gut tun.
Deshalb darf ich schon ankündigen: Ich werde all denen,
die diese Diskussion mit grüner Gesichtsfarbe bestreiten
wollen, heute keine Munition geben,
({0})
schon deshalb, weil ich das Gefühl habe, dass wir als
Parlament in Deutschland mit dem Geld des Steuerzahlers grundsätzlich sorgfältig umgehen.
({1})
Der Steuerzahler hat auch Anspruch darauf.
Demokratie darf nie ein Billigmodell werden. Demokratie kostet. Die Aufstellungen, die ich mehrfach beim
Bundestagspräsidenten angefordert habe, haben aber gezeigt, dass wir sorgfältig mit dem Geld umgehen. Sie haben beispielsweise gezeigt, dass der Deutsche Bundestag nach dem Kongress der Vereinigten Staaten das
zweitkleinste Parlament ist. Es wird immer übersehen,
dass es nicht auf die schiere Zahl der Abgeordneten, sondern auf die Zahl pro Einwohner ankommt. Demnach ist
der Bundestag das zweitkleinste Parlament. Ganz wichtig finde ich auch: Wenn man sich die Kosten der Parlamente für den Steuerzahler anschaut, dann sieht man,
dass der Bundestag auch dort ganz weit hinten, auf dem
zweitletzten Platz, liegt. Ich finde, das sind gute Botschaften, die wir leider nie in den Medien lesen können.
({2})
Trotzdem ist es - ich habe es gesagt - ein Aufregerthema. Deswegen müssen wir uns damit befassen. Wir
müssen uns auch deshalb damit befassen, weil der Bundestagspräsident in den letzten Wochen Vorschläge aufgegriffen hat, die die FDP-Bundestagsfraktion seit nunmehr zehn Jahren immer wieder in das Parlament
einbringt. Grundlage unserer Vorschläge sind die Überlegungen, die wir im Jahre 1995 angestellt haben.
({3})
- Ja, in diesem Fall bin ich gern Wiederholungstäter,
Herr Kollege Wiefelspütz. - Damals, im Jahre 1995, hatten sich die beiden großen Fraktionen - in vorweggenommener großer Koalition - dazu entschlossen, die
Rechtsverhältnisse der Abgeordneten weitgehend an die
der Beamten anzulehnen. Für uns war vollkommen klar:
Abgeordnete sind keine Beamten und haben auch keine
beamtenähnliche Tätigkeit.
({4})
Das muss sich auch bei der Gestaltung der Rechtsverhältnisse ganz eindeutig zeigen.
Der wichtigste Punkt, bei dem sich das zeigen muss,
ist aus unserer Sicht die Altersversorgung. Wir haben
im Augenblick eine beamtenähnliche Pension. Wir sind
schon deshalb nicht mit den Beamten zu vergleichen,
weil unsere verfassungsrechtliche Stellung klar und eindeutig besagt: Abgeordnete sind unabhängig.
({5})
Sie haben keinen Chef, obwohl sich mancher Fraktionsvorsitzender, vielleicht auch mancher Geschäftsführer,
so fühlen mag.
({6})
Sie haben keinen Chef. Deshalb, denke ich, sind wir
gut beraten, uns bei der Altersversorgung an den Modellen zu orientieren, die es bei den freien Berufen, beispielsweise bei den Journalisten, Ärzten und Rechtsanwälten,
gibt: Sie zahlen eigene Mittel in die Altersversorgung
ein - sie haben Altersversorgungswerke -, mit denen
schließlich die Pension bezahlt wird. Mit unserem Vorschlag orientieren wir uns klar und eindeutig daran.
In den letzten zehn Jahren haben wir immer wieder
hören müssen: Das lässt sich nicht machen, das ist nicht
umsetzbar; da wird es einen Sturm der Entrüstung in den
Medien, beim Bund der Steuerzahler geben.
({7})
Es gibt inzwischen ein Beispiel, das zeigt, dass es geht:
Nordrhein-Westfalen hat es umgesetzt.
({8})
Die Medien haben deutlich gemacht, dass es vernünftig
war. Auch der Bund der Steuerzahler hat zugestimmt.
Das Allerwichtigste ist: Die Lösung, die gefunden worden ist, hat unter dem Strich erhebliche Einsparungen für
den Steuerzahler gebracht. Auch das ist uns in der Situation, in der sich im Augenblick unsere öffentlichen
Haushalte befinden, wichtig.
({9})
Der zweite Vorschlag, den wir machen, ist, die Bestimmung der Höhe der Diäten aus dem Parlament herauszuverlagern. Die Bestimmung der Höhe ist nicht
deshalb unsere Aufgabe, weil wir es uns wünschen, sondern weil das Bundesverfassungsgericht klar und deutlich gesagt hat: Die Abgeordnetenbezüge müssen durch
ein Gesetz und damit durch die Abgeordneten selbst
festgelegt werden. Wer aber die Chance hat, die Höhe
seiner Bezüge selbst festzulegen, der ist natürlich sofort
im Verdacht, dass er das nicht zu seinem Nachteil tut.
Deshalb werden wir uns immer wieder mit dem Vorwurf
der Selbstbedienung konfrontiert sehen.
({10})
- Genau, das kann man dem Bundestag nicht vorwerfen.
Wie gesagt: Wir sind durch das Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen worden.
Wir machen Ihnen deshalb erneut den Vorschlag, dies
aus dem Parlament auf eine unabhängige Kommission
herauszuverlagern, die die Höhe der Diäten festsetzt.
Damit gar nicht erst der Vorwurf entsteht, die Zusammensetzung dieser Kommission werde so gesteuert, dass
es für die Abgeordneten günstig sei, ist unser Vorschlag
an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese
Kommission vom Bundespräsidenten als neutrale Institution eingesetzt wird.
({11})
Auch dafür, wer in diese Kommission gehört, zeigt
Nordrhein-Westfalen Beispiele: Kollegen, die im Parlament Erfahrung gesammelt haben, aber auch Kritiker
wie beispielsweise der Bund der Steuerzahler, der sich
mit Gehältern im eigenen Bereich sehr gut auskennt, wie
man kürzlich hören könnte, als es um die Höhe der Einkünfte des Präsidenten des Bundes der Steuerzahler
ging.
({12})
- Der Bund der Steuerzahler kennt sich offensichtlich
aus, Herr Kollege Wiefelspütz. Deshalb soll er sich ausdrücklich als Kritiker in dieser Kommission wiederfinden.
Ich glaube, dass das kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip ist. Wir kennen solche Verlagerungen aus
dem Parlament heraus - beispielsweise an das Bundesverfassungsgericht - durchaus auch aus anderen Bereichen. Wir müssen natürlich im Abgeordnetengesetz den
Rahmen vorgeben, in dem sich die Kommission zu bewegen hat. Von daher ist das aus meiner Sicht kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip.
({13})
Eine letzte Bemerkung. Aufregerthema ist auch immer wieder die Kostenpauschale der Abgeordneten.
Auch das soll selbstverständlich von der Kommission
geprüft und entschieden werden. Trotzdem rate ich auch
da zu einer sachlichen Diskussion. Wer mit Freunden in
der Wirtschaft spricht, der stellt fest, dass die Wirtschaft
sehr oft zu dem Mittel der Pauschale greift, weil es die
für die Wirtschaft günstigere Lösung ist. Ich habe das
Gefühl, dass die Kostenpauschale, die wir jetzt als Abgeordnete bekommen, ebenfalls für den Steuerzahler - das
ist für die FDP-Bundestagsfraktion das Entscheidende die kostengünstigere Lösung ist.
({14})
Wenn wir eine Einzelabrechnung haben, bedeutet das,
dass wir eine entsprechende Verwaltung im Bundestag
oder auch in der Finanzverwaltung brauchen, die das
Ganze nachprüfen muss. Das kostet Geld. Deshalb,
denke ich, sind wir gut beraten, auch hier sachlich zu
bleiben. Wir sind in der Verpflichtung gegenüber dem
Steuerzahler, die für ihn günstigste Lösung zu wählen.
Aus unserer Sicht ist, wie gesagt, die Pauschale die für
den Steuerzahler günstigere Lösung.
Ich freue mich sehr, dass wir jetzt endlich sachlich
diskutieren können, auch aufgrund der Vorschläge, die
der Bundestagspräsident gemacht hat; wir werden ja im
Januar zusammenkommen. Damit wir das auf einer
guten Grundlage tun können, bringen wir unseren Gesetzentwurf hier wieder ein, einschließlich unseres Vorschlages für die Verfassungsänderung. Wir bitten um Zustimmung. Wir freuen uns auf eine sachliche Diskussion.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hermann Gröhe,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige erste Lesung der beiden Gesetzentwürfe der FDP,
Änderungen des Grundgesetzes und des Abgeordnetengesetzes betreffend, finden einen Monat vor jenem Gespräch im Januar statt, zu dem der Bundestagspräsident
die Bundestagsfraktionen eingeladen hat und bei dem es
um die Fragen der Abgeordnetenentschädigung und der
Abgeordnetenversorgung gehen soll.
Geht es um die Prüfung dieser Vergütung und Versorgung, etwaigen Reformbedarf und konkrete Reformvorschläge, darf ich Ihnen für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusagen, dass wir alle Vorschläge in diesem
Bereich sachlich und unvoreingenommen prüfen werden. Dabei lassen wir uns bei allen Fragen, die den Abgeordnetenstatus betreffen, auch von dem Bemühen leiten, nach Möglichkeit zu einer gemeinsamen Auffassung
hier im Haus zu gelangen; denn angesichts der verständlichen Fragen in diesem Bereich, aber auch mancher
Vereinfachung und zum Teil auch inakzeptabler Verächtlichmachung des Parlaments wäre ein Konsens hier im
Parlament ein erstrebenswertes Ziel.
({0})
In diesem Sinne werden wir die heute in erster Lesung zu beratenden Vorschläge der FDP intensiv prüfen,
auch wenn diese Vorschläge bereits in der 14. und
15. Wahlperiode eingebracht wurden und seinerzeit
keine Mehrheit fanden.
Im Kern zielt der FDP-Vorschlag darauf, die Festlegung der Höhe der Abgeordnetenentschädigung einer
unabhängigen, vom Bundespräsidenten zu berufenden
Kommission zu übertragen. Zugleich soll diese Kommission damit beauftragt werden, Vorschläge für eine
Veränderung der Altersversorgung zu erarbeiten. Damit,
so die FDP-Bundestagsfraktion, soll dem in der Öffentlichkeit immer wieder erhobenen Vorwurf der Selbstbedienung entgegengewirkt werden.
({1})
Das ist sicherlich ein überaus sympathisches Anliegen. Auch Ihr Lösungsvorschlag wirkt zunächst sehr
plausibel; er hat bestimmt einiges für sich.
({2})
- Ich habe von einem sympathischen Anliegen gesprochen. Sympathische Kolleginnen und Kollegen gibt es
doch in allen Bundestagsfraktionen.
Bevor ich nun einige Ausführungen zum konkreten
Vorschlag der FDP und damit zu den Themen der vor
uns liegenden Ausschussberatungen mache, möchte ich
etwas zum in der Tat sehr häufig erhobenen Vorwurf
der Selbstbedienung sagen. Wir diskutieren die Frage
der Abgeordnetenentschädigung - das gehört sich so für
ein Parlament - in öffentlicher Debatte. Also ist Klartext
gefragt. Deshalb weise ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vorwurf, im Deutschen Bundestag herrsche eine Selbstbedienungsmentalität, mit Entschiedenheit zurück.
({3})
Die Zurückweisung dieses Vorwurfs ist auch dann geboten, wenn ihn keine Fraktion hier im Hause erhebt; denn
er spielt in der öffentlichen Debatte in der Tat eine große
Rolle.
Nun zu den Fakten: Die Abgeordnetenentschädigung wurde zuletzt am 1. Januar 2003 erhöht. Bereits im
Januar 2003 stellte der damalige Bundestagspräsident,
Wolfgang Thierse, fest, dass die Abgeordnetenentschädigung seit In-Kraft-Treten des Abgeordnetengesetzes
im Jahr 1977 jährlich um durchschnittlich 2,5 Prozent
stieg, während die Beamtenbezüge um 2,95 Prozent pro
Jahr stiegen, die Tarifverdienste im öffentlichen Dienst
um 3,12 Prozent, die Einkommen in der Gesamtwirtschaft um 3,1 Prozent und die Renten um 3,31 Prozent.
Zu dieser vergleichsweise geringeren Steigerungsrate
der Diäten haben zehn Nullrunden maßgeblich beigetragen. Vom Ziel, das seinerzeit eine unabhängige Expertenkommission vorgeschlagen hatte und das in § 11
Abs. 1 des Abgeordnetengesetzes ausdrücklich genannt
wird - der Angleichung der Abgeordnetenbezüge an das
Gehalt eines Richters an einem obersten Bundesgericht
oder an das Gehalt eines hauptamtlichen Bürgermeisters
einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern -, entfernten wir uns mehr und mehr. Ich will ausdrücklich betonen, dass wir an diesem Vergleichsmaßstab - man
könnte auch das Gehalt eines Abteilungsleiters in einem
Ministerium heranziehen - festhalten und ihn für grundsätzlich angemessen halten.
({4})
Faktisch nahm die Entwicklung der Abgeordnetenbezüge aber einen anderen Weg. Von einer inakzeptablen,
überzogenen Großzügigkeit in eigener Sache kann also
keine Rede sein. Wir haben daher allen Anlass - ja, das
ist sogar ein Gebot der Selbstachtung -, den billigen
Vorwurf, im Bundestag herrsche eine Selbstbedienungsmentalität, gemeinsam und entschieden zurückzuweisen.
({5})
Ich habe sogar die umgekehrte Vermutung: Gerade
weil wir Abgeordnete über die Höhe unserer Entschädigung selbst entscheiden und hier folglich ein erheblicher
öffentlicher Rechtfertigungsdruck besteht, kam es wiederholt zu Nullrunden. Was den Vorschlag der FDP - die
Übertragung der Entscheidung über die Diätenhöhe auf
eine Sachverständigenkommission - angeht, werden
weiterhin rechtliche Fragen zu prüfen sein.
Verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung einer solchen Übertragung allein im Abgeordnetengesetz - das Stichwort lautet hier in Anlehnung an die
Diätenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus
dem Jahr 1975: umfassender Parlamentsvorbehalt - begegnet die FDP wie in den Vorjahren mit dem Vorschlag
einer Verfassungsänderung. Auch dieses Vorgehen ist
verfassungsrechtlich nicht unumstritten, da die vorgeschlagene Änderung das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes in einer
Weise tangieren könnte, die eine derartige Regelung an
Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes scheitern lassen
könnte.
Allerdings will ich nicht verhehlen, dass in einem
Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages die Zulässigkeit einer entsprechenden Verfassungsänderung bejaht wird.
({6})
Die juristischen Fragen, an deren Klärung wir arbeiten
müssen, liegen also auf dem Tisch. Aber wir müssen
auch und vor allem den politischen Fragen weiterhin
nachgehen.
Auch will ich nicht verhehlen, dass ich, wie viele in
unserer Fraktion, Zweifel daran habe, ob die Übertragung der Entscheidung über die Diätenhöhe auf eine
Sachverständigenkommission ein taugliches Mittel ist,
um dem Vorwurf der Selbstbedienung zu begegnen.
({7})
Politikerinnen und Politiker müssen unabhängig vom
Verfahren in der Öffentlichkeit für die Höhe ihrer Vergütung geradestehen.
({8})
Das zeigen auch da und dort zu erlebende Debatten über
die Gehaltshöhe von Bürgermeistern und Landräten, die
bekanntlich nicht über die Höhe ihres Gehaltes selbst
entscheiden müssen. Ein solcher Rechtfertigungszwang
ist auch gar nichts Falsches - wenn er nicht oft mit billigen Verzerrungen verbunden wäre.
Glauben Sie, die Entscheidung einer unabhängigen
Sachverständigenkommission, die Diäten zu erhöhen,
bleibe lange ohne die öffentlich und öffentlichkeitswirksam erhobene Aufforderung an uns, gleichwohl auf eine
Erhöhung zu verzichten? Bisherige Empfehlungen unabhängiger Kommissionen - die es in der Vergangenheit
wiederholt gab - hatten kaum Auswirkungen auf das
Ausmaß und die Form öffentlicher Kritik; darauf
verweist die FDP-Fraktion selbst in der Begründung ihres Gesetzentwurfs. Warum sollte es der Entscheidung
einer Kommission anders gehen? Welchem Druck wären
die Mitglieder dieser Kommission ausgesetzt, wenn erst
in großen Lettern über die Gehaltshöhe jener spekuliert
würde, die die Diäten festlegen! All diese Fragen werden
wir gemeinsam zu erwägen haben.
Mir liegt aber noch etwas anderes am Herzen: Öffentliche Akzeptanz für die Höhe unserer Aufwandsentschädigung und die Transparenz unseres Handelns hängen
eng zusammen. Die Bevölkerung wird ein Parlament,
dem sie die Lösung der sie bedrängenden Probleme nicht
zutraut, immer für überbezahlt halten. Was immer wir
also tun können, um das argumentative Ringen um menschengerechte Lösungen für anstehende Probleme transparenter werden zu lassen - übrigens auch die mit der
Abgeordnetentätigkeit verbundene Belastung -, sollten
wir tun. Als kleines Beispiel sei in diesem Zusammenhang nur die Wanderausstellung des Deutschen Bundestages genannt. Letztlich werden wir alle aber nicht an
den Freuden und Belastungen unserer Arbeit gemessen,
sondern an deren Ergebnissen. Überzeugende Arbeit ist
die beste Antwort auf billigen Populismus.
({9})
Das leider nicht unerheblich erschütterte Vertrauen in
unsere parlamentarische Demokratie und die in ihr Handelnden - damit auch in uns als Abgeordnete - wird in
dem Maße wiederhergestellt werden können, in dem es
uns gelingt, die Probleme unseres Landes zu lösen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Enkelmann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es ist
allerhöchste Zeit, dass sich das Hohe Haus mit den Bezügen der Abgeordneten befasst. Ungerechtfertigte Privilegien gehören endlich auf den Prüfstand.
({0})
„Frontal 21“ hat Recht: Wir sind in manchen Fragen,
was die Entschädigung anbetrifft, Wesen einer anderen
Finanzwelt. Da man in eigener Sache ungern zum eigenen Nachteil entscheidet, ist die Einrichtung einer unabhängigen Kommission beim Bundespräsidenten sinnvoll; dem kann meine Fraktion durchaus zustimmen. Wir
gehen allerdings davon aus, dass in dieser Kommission
auch Vertreter der Wohlfahrtsverbände und natürlich des
Bundes der Steuerzahler sitzen sollten. Dennoch sollte
bei dieser Kommission nicht die alleinige Entscheidung
über die Abgeordnetenbezüge liegen. Wir sollten in den
Ausschüssen über eine angemessene Beteiligung des
Parlaments sprechen. Wir können uns da auch gar nicht
herausnehmen - immerhin sind wir diejenigen, die über
den Haushalt des Bundestags entscheiden; damit entscheiden wir letztlich auch über die Abgeordnetenbezüge.
Meine Damen und Herren, jeder, der ein Gutachten
bestellt, weiß, dass dessen Ergebnis schon vom gegebenen Auftrag abhängt. Die Aufgaben, mit denen die FDPFraktion die unabhängige Kommission befasst sehen
will, sind uns allerdings viel zu eng umrissen. Nach Ihrem Willen, meine Damen und Herren von der FDP, sollen lediglich die Höhe der Abgeordnetenentschädigung
und die Altersversorgung neu geregelt werden. Es ist sicher kein Zufall - der Antrag kommt ja von Ihnen -,
dass beispielsweise die Frage von Nebentätigkeiten oder
Nebeneinkommen völlig ausgeklammert wird; es ist ja
nicht ganz unbekannt, dass die Diäten für eine ganze
Reihe der Kolleginnen und Kollegen von der FDP nur
ein willkommenes Taschengeld darstellen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns denn
schon für die Einrichtung einer unabhängigen Kommission aussprechen, dann sollten wir die Aufgaben, die
diese Kommission haben soll, wesentlich weiter fassen.
Die jüngsten Ereignisse bei VW, dem Kölner Müllskandal, dem Berliner Bankenskandal, der Leipziger Olympia-Gesellschaft etc. - die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen ({2})
zeigen eigentlich deutlich, wie nahe Nebentätigkeiten
und Korruption liegen können.
({3})
Die Vergabe des Aufsichtsratspostens an den Ex-Bundeskanzler und Ex-Bundestagsabgeordneten Gerhard
Schröder hat mehr als ein unangenehmes Geschmäckle.
Sie ist Ausdruck einer moralischen Verkommenheit
({4})
und erschüttert ein weiteres Mal die Glaubwürdigkeit
von Politikern. Wir dürfen uns nicht wundern, dass Politiker, was die Frage der Glaubwürdigkeit und der moralischen Integrität betrifft, weit unten in der Rangliste stehen. Gerhard Schröder hat seinen Beitrag dazu auf alle
Fälle geleistet. Ich finde, die Aufstellung eines Ehrenkodex ist eindeutig zu wenig.
Die unabhängige Kommission sollte sich auch mit
den Regelungen befassen, mit denen bezüglich der Nebentätigkeiten bzw. Nebeneinkommen von Abgeordneten Transparenz geschaffen werden kann, ohne dass Interessen Dritter verletzt werden. Das ist völlig klar.
({5})
- Ihnen ist sehr gut bekannt, dass diese Regelungen gegenwärtig noch nicht in Kraft gesetzt sind. Wir tun uns
offenkundig schwer damit, sie in Kraft zu setzen.
Wenn wir eine solche Kommission einsetzen, dann
sollte sie sich, wie ich denke, mit diesen Fragen durchaus befassen.
({6})
Wer aber von vornherein ausschließt, dass eine solche
Regelung möglich ist, der will im Grunde genommen
nicht wirklich Transparenz. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass wesentlich mehr möglich ist, ohne dass
Demokratie leidet oder dass allzu private Dinge an die
Öffentlichkeit gezerrt werden.
Zum Abgeordnetenleben gehört, wie wir alle wissen,
finanziell mehr als die zu versteuernde Grunddiät. So
darf aus unserer Sicht bei einer Neuregelung die steuerfreie Kostenpauschale keineswegs außer Acht gelassen
werden. Sonst setzen wir uns erneut dem Vorwurf aus, es
gehe uns lediglich darum, unsere Privilegien zu sichern.
({7})
Wir sollten uns fragen, ob die Pauschale noch ihren ursprünglichen Zweck erfüllt, nämlich die politische Arbeit auf praktikable Weise zu finanzieren, oder ob sie
nicht für den einen oder anderen inzwischen zu einem
angenehmen Zusatzeinkommen geworden ist.
Natürlich gehören auch die Leistungen für die Mitglieder der Bundesregierung, die gleichzeitig Abgeordnete sind, mit auf den Prüfstand. Das betrifft auch die
Leistungen für Staatssekretäre, deren Zahl sich wundersam vermehrt hat. Man muss sich fragen, ob es noch
zeitgemäß ist, nach wenigen Jahren Tätigkeit einen lebenslangen Anspruch auf Bezüge zu erhalten.
({8})
Derjenige, der drei Jahre ein Amt in der Bundesregierung bekleidet hat, bekommt ab 55 Jahren immerhin
schon 20 Prozent der Bezüge. Das halte ich für zutiefst
ungerecht.
({9})
Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird sich
vor allem dafür einsetzen, dass die Zeiten einer beitragsfreien Altersversorgung für Abgeordnete vorbei sind.
Man muss sich einmal die Relationen vor Augen führen:
Den so genannten statistischen Eckrentner erwartet nach
45 Beitragsjahren monatlich eine Rente von knapp über
1 000 Euro. Ein Abgeordneter dieses Hauses dagegen
kann sich nach zwölf Jahren Mitgliedschaft im Bundestag
bereits über 36 Prozent seiner Bezüge freuen. Das sind
rund 2 400 Euro. Dieses Einkommen ist zwar zu versteuern; dennoch stimmt das Verhältnis nicht. Auch Abgeordnete haben für ihre Altersversorgung einzuzahlen.
({10})
Es ist nicht länger hinzunehmen, dass Abgeordnete dafür
keinen Cent aufbringen müssen.
({11})
Auch wir müssen unseren Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten.
({12})
Auch bei der Sozialpflichtigkeit der Abgeordnetenbezüge sehen wir weiter gehenden Handlungsbedarf. Bei
den Vorhaben der Bundesregierung haben wir wenig
Hoffnung, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten
Jahren tatsächlich deutlich verringert wird. Das kann unter anderem zur Folge haben, dass Abgeordnete nach
dem Ende ihrer Amtszeit, also nach dem Ausscheiden
aus dem Bundestag, keine neue Arbeit finden. Das ist so
abwegig nicht. Zumindest haben Mitglieder meiner
Fraktion 2002 die Erfahrung machen müssen, arbeitslos
zu werden. Abgeordnete haben dann keinen Anspruch
auf entsprechende Regelungen des SGB II bzw. SGB III.
Sie haben keinen Anspruch auf Vermittlung oder Umschulung durch die Arbeitsagenturen. Wir meinen, dass
auch Abgeordnete in die Arbeitslosenversicherung einzahlen sollten. Im Übrigen hat das damals nicht nur Abgeordnete der PDS-Fraktion getroffen, sondern auch Abgeordnete anderer Fraktionen.
({13})
Meine Damen und Herren, wir brauchen kein Reförmchen, sondern eine umfassende Reform der finanziellen Leistungen für die Abgeordneten. Wer es wirklich ernst damit meint, der gibt sich mit kleinen
kosmetischen Operationen nicht zufrieden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Olaf Scholz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erleben heute einen sehr interessanten Vorgang, nämlich
den Einzug der Ökologie bei der FDP.
({0})
- Recycling, ein Gedanke der Nachhaltigkeit. Das hatte
ich bisher auf die stoffliche Welt bezogen. Dass man
jetzt schon längst abgelegte Gedanken immer wieder neu
auflegen und recyceln kann, ist ein neuer Nachhaltigkeitsaspekt.
({1})
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Sie haben
dieses Gesetz und sämtliche damit verbundenen Gedanken und Begründungen schon zweimal in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Dreimal schadet ja auch nicht.
({2})
Ich glaube allerdings, dass hier einer der Fälle vorliegt,
zu denen man sagen kann: Dadurch, dass man es wiederholt, wird es nicht viel durchdachter.
({3})
Insofern ist es richtig, sich mit dem auseinander zu setzen, was Sie uns hier vorlegen, und dass man über die
Dinge, um die es hier geht, debattiert.
Sie haben ein Gesetz eingebracht, in dem eigentlich
nur steht, dass über die Erhöhung der Diäten eine unabhängige Kommission entscheiden soll. Bei der öffentlichen Debatte geht es aber nicht um die einzelne Entscheidung, sie zu erhöhen, sondern um die Fragen, wie
es mit der Abgeordnetenentschädigung, der Regelung
der Altersversorgung und der Kostenpauschale überhaupt aussieht. All das hat mit dem Thema, das Sie hier
verhandeln wollen, nur wenig zu tun.
({4})
Letztendlich haben Sie wahrscheinlich gedacht - vielleicht hatte Ihre Presseabteilung die Idee zu diesem Antrag -: Es wird gerade wieder über Diäten diskutiert, also
nehmen wir doch diesen Antrag, sodass alle annehmen
können, dass wir über die Sache reden.
({5})
Die Sache, über die man sich verständigen soll, hat aber
eine ganz andere Dimension.
Ich sage für mich: Es ist nicht wirklich problematisch,
dass wir bei bestimmten Gelegenheiten über eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung entscheiden
müssen. Das kann man auch anders tun, man kann es
aber auch so machen. Wir müssen in dieser Diskussion
darüber sprechen, wie die Struktur dessen, über das wir
hier verhandeln, überhaupt aussehen soll.
({6})
Zunächst geht es um die Entschädigung selbst. Ich bin
mit Ihnen einig darin: Es ist völlig richtig, dass der Deutsche Bundestag im Hinblick auf die Höhe der Abgeordnetenentschädigung bisher vernünftig vorgegangen ist.
Ich finde auch, dass es richtig ist, in solchen Debatten
nicht immer nur mit abstrakten Begriffen zu arbeiten,
sondern zu sagen - das tue ich auch in jedem Brief an einen Bürger -, wie die gegenwärtige gesetzliche Lage
aussieht. Ein Abgeordneter erhält 7 009 Euro.
({7})
- Brutto. - Die Bürgerinnen und Bürger können sich Gedanken darüber machen, ob sie das für zu viel oder zu
wenig halten.
({8})
Die Abgeordneten müssen wissen, dass das aus der
Perspektive fast aller Wählerinnen und Wähler ein hoher
Betrag ist. Jeder Abgeordnete wird von sehr vielen Menschen gewählt - jedenfalls gilt das für meine Partei -, die
wesentlich weniger verdienen als das, was die Abgeordneten erhalten. Deshalb sind alle immer wieder einmal
anzutreffenden Klagen von Abgeordneten darüber, dass
nicht genügend gezahlt werde, völlig unangemessen. Die
Entschädigung ist sehr hoch, sie ist sehr ordentlich und
sie ist auch angemessen. Für Armutsklagen vonseiten
der Abgeordneten gibt es keinen Anlass. Allerdings gibt
es auch keinen Anlass, sich zu verstecken. Dafür werbe
ich in einer solchen Diskussion auch.
({9})
Was mir bei der Debatte auch nicht gefällt, ist, dass
gelegentlich Vergleiche darüber angestellt werden, ob jemand, der außerhalb der Politik arbeitet, mehr verdient.
Es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Menschen, über
die mancher Abgeordnete denkt: Ich kann doch viel
mehr und trotzdem erhält er ein höheres Gehalt.
({10})
Das kommt vor und das ist im übrigen Leben auch verbreitet. Insofern sollte uns die Angemessenheit als Maßstab leiten. Es geht um die Frage, ob das, was wir erhalten, für das Parlament der Bundesrepublik Deutschland
und für etwas mehr als 600 Abgeordnete, die dieses
Land vertreten, die im Schnitt über 200 000 Bürgerinnen
und Bürger aus ihrem Wahlkreis zu vertreten haben, die
darüber zu entscheiden haben, ob am Irakkrieg teilgenommen wird oder nicht - so haben wir entschieden -,
die über den Einsatz im Kosovo und in Afghanistan zu
entscheiden haben und die darüber entscheiden, wie es
mit den Steuern aussieht und wie es mit der Renten- und
Krankenversicherung weitergeht, angemessen ist. Ich
habe anhand der Antworten auf diese Frage festgestellt:
In der Öffentlichkeit gibt es nur wenig Kritik an der
Höhe der Entschädigung.
({11})
Wer seine Bürgerinnen und Bürger, ohne ihnen den
Betrag vorher zu nennen, direkt fragt, welche Entschädigung jemand erhalten soll, der eine solche Aufgabe
wahrnimmt und der ein sehr ehrenvolles Amt in der Demokratie ausübt, der erhält als Antwort eine Angabe, die
meist oberhalb der aktuell gezahlten Entschädigung
liegt.
({12})
Insofern müssen wir uns vor einer öffentlichen Debatte
nicht verstecken. Deshalb halte ich auch nichts von dem
Vorschlag, die Verantwortung dafür auf andere zu delegieren. Wir können offen für das, was wir richtig finden,
eintreten.
({13})
Komplizierter ist die Diskussion über die Abgeordnetenversorgung. Die Altersversorgung ist in der Diskussion. Es ist darüber geredet worden, dies sorgfältig
neu zu betrachten. Das halte ich für richtig. Über den
Hinweis, den Sie gegeben haben, Herr van Essen, dass
sich die Abgeordnetenversorgung ursprünglich am Modell der Beamtenaltersversorgung orientiert hat, kann
man sorgfältig diskutieren. Wer Beamter ist, tritt - das
ist jedenfalls die Idee - früh in den Dienst für die Demokratie und den Staat ein und beendet diesen Dienst, wenn
er in Pension geht.
Abgeordnete weisen selten eine so lange Berufsbiografie für den Bundestag auf. Im Abgeordnetenhandbuch entdeckt man zwar einige mit einer langen Sternenliste, wobei die Zahl der Sterne anzeigt, wie viele
Legislaturperioden der Abgeordnete schon dabei ist.
Diejenigen Abgeordneten, die dem Bundestag am längsten angehören, haben 1972 begonnen. Wenn ich mich
richtig erinnere, sind das Frau Däubler-Gmelin und Herr
Schäuble. Die meisten von uns sind aber eine kürzere
Zeit dabei.
({14})
Insofern ist es vernünftig, zu überlegen, ob die bisherige
Organisation richtig ist. Ich begrüße daher die Tatsache,
dass wir solche Diskussionen angefangen haben.
Ich komme zum Schluss. Wenn das Recycling eines
abgelegten Gedankens ein Bestandteil einer insgesamt
notwendigen Debatte ist, dann soll das in Ordnung sein.
Die Überweisung an die Ausschüsse schadet nicht weiter.
Schönen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der öffentlichen Debatte über die Versorgung der
Abgeordneten und ihre Entschädigung sollte man sich
noch einmal daran erinnern, dass die Bezahlung der Abgeordneten historisch ein Fortschritt für unsere Demokratie war.
({0})
Noch 1871 las man in der Reichsverfassung:
Die Mitglieder des Reichstages
- also das historische Vorgängerparlament dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen.
Das bedeutete damals: Wer es sich leisten konnte, wer
genügend Geld hatte, konnte sich ins Parlament wählen
lassen. Der damalige Bundesrat hat gesagt, diese Regelung sei ein Korrektiv gegen das allgemeine Wahlrecht.
Wenn also schon jeder wählen konnte, sollte wenigstens
nicht jeder gewählt werden können, wenn er sich das
nicht leisten konnte. Deshalb muss man daran erinnern,
dass es ein Fortschritt für die Demokratie ist, dass man
von dem, was man hier tut, leben kann, ohne auf Zuwendungen von außen - das wäre sehr problematisch - oder
auf sein eigenes Vermögen angewiesen zu sein.
({1})
Max Weber hat in seinem berühmten Vortrag „Politik
als Beruf“ darauf hingewiesen - ich zitiere -:
daß eine nicht plutokratische Rekrutierung der politischen Interessenten, der Führerschaft und ihrer
Gefolgschaft, an die selbstverständliche Voraussetzung gebunden ist, daß diesen Interessenten aus
dem Betrieb der Politik regelmäßige und verläßliche Einnahmen zufließen. Die Politik kann entweder „ehrenamtlich“ und dann von, wie man zu sagen pflegt, „unabhängigen“, d. h. vermögenden
Leuten, Rentnern vor allem,
- damals sagte man das zumindest geführt werden. Oder aber ihre Führung wird Vermögenslosen zugänglich gemacht, und dann muß
sie entgolten werden.
Angesichts der öffentlichen Debatte muss man an diese
Zusammenhänge durchaus erinnern.
({2})
Das Grundgesetz bestimmt in Art. 48 Abs. 3, dass
Abgeordnete „Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ haben. Das
Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Urteil zu
den Diäten noch einmal umfangreich hervorgehoben und
darauf aufmerksam gemacht, dass die Entschädigung so
ausgestaltet werden muss, dass sie die Unabhängigkeit
sichert und der Tatsache Rechnung trägt, dass der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes ist.
Dies hat das Bundesverfassungsgericht übrigens 1975
erklärt. Damals war die Abgeordnetenentschädigung mit
7 500 DM ungefähr auf der Höhe eines Mitglieds eines
obersten Gerichts des Bundes mit der Besoldungsgruppe
R 6. Seitdem hat der Bundestag angesichts der Gesetze,
die er beschließen musste und mit denen er den Bürgern
viel zugemutet hat, wiederholt festgestellt, dass eine Erhöhung der Diäten nicht angemessen sei. Deswegen haben wir uns von diesem Level, das auch das Abgeordnetengesetz als Zielvorgabe vorsieht, immer weiter
entfernt. Die Diäten sind nachweislich hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückgeblieben.
({3})
Ich denke, auch das muss der Öffentlichkeit mitgeteilt
werden. Denn immer, wenn wir bei den Abgeordneten
Kürzungen vorgenommen oder die Diäten nicht erhöht
haben, war dies der „Bild“-Zeitung nicht einmal eine
Zeile auf der letzten Seite wert.
({4})
Volker Beck ({5})
Es wird aber immer wieder darüber berichtet, was die
Abgeordneten bzw. die Politiker im Allgemeinen bekommen.
({6})
Als rot-grüne Koalition in der letzten Wahlperiode
sind wir davon ausgegangen, dass wir das, was wir den
Bürgerinnen und Bürgern durch die Sozialreformen bei
der Rente, dem Sterbegeld, der Bezahlung der Krankenversicherungsbeiträge und der Pflegeversicherung zumuten, auch uns selbst zumuten müssen. Das haben wir
nach und nach in sehr vielen Gesetzen eins zu eins umgesetzt.
({7})
Auch daran will ich an dieser Stelle erinnern.
Trotzdem kommen wir nicht um die Frage herum,
welche Entschädigung und welche Altersversorgung der
Abgeordneten angemessen sind. Angesichts des öffentlichen Drucks wünschte man sich manchmal - insofern
verstehe ich den Vorschlag der FDP gut -, man müsste
diese Debatte nicht durchstehen, sondern könnte sie an
eine höhere Instanz delegieren.
({8})
Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der FDP zu
verstehen, im Grundgesetz eine Kommission festzuschreiben - obwohl die FDP, wie ich zumindest in der
letzten Wahlperiode öfter gehört habe, Kommissionen
eigentlich nicht besonders schätzt -, den ich aus verfassungsrechtlicher Sicht eher für bizarr halte.
({9})
- Der Wissenschaftliche Dienst meint, dass der Vorschlag nicht bizarr ist? Wie gut, dass Sie den Wissenschaftlichen Dienst für dieses Urteil in Anspruch nehmen konnten.
({10})
Ich glaube, es ist eine politische Frage, ob wir als Parlamentarier den Mut aufbringen, selbst zu definieren,
was für die Tätigkeit eines Abgeordneten angemessen
ist. Wir sollten auch klar machen, dafür werben und uns
der Diskussion argumentativ stellen - darin waren wir,
das gebe ich gerne zu, in der Vergangenheit nicht immer
gut -,
({11})
was der Abgeordnete braucht, um seine Unabhängigkeit
wahren zu können. Viele Aspekte der Abgeordnetenversorgung tragen dem Spezifikum dieses Amtes Rechnung. Wir werden für maximal vier Jahre gewählt
({12})
- wie wir jüngst erfahren haben, kann dieser Zeitraum
auch kürzer sein - und wir haben anders als Beamte keinen Anspruch auf eine Anschlussversorgung.
Insofern ist es zwar richtig, dass die Abgeordneten
keine Beamten sind. Sie sind aber auch keine Selbstständigen, Freiberufler oder Unternehmer. Sie sind keine
Angestellten, sondern
({13})
sie sind eine Kategorie sui generis. Deshalb müssen wir
uns mit der Frage befassen, in welcher Art und Weise
wir bei der Versorgung der Abgeordneten dem Umstand
Rechnung tragen können, dass sie unabhängig sein müssen.
({14})
Das Thema ist meines Erachtens von zwei Seiten zu
betrachten - darüber haben wir diese Woche bereits diskutiert -: Ein Teil der Abgeordnetenversorgung - zum
Beispiel die Übergangsgelder - ist dem Umstand geschuldet, dass nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag kein Arbeitslosengeld gezahlt wird. Die Übergangsgelder für die Regierungsmitglieder sind wesentlich
üppiger. Sie haben - wenn auch nicht im rechtlichen
Sinne, aber zumindest in politischer Hinsicht - die Aufgabe, uns davor zu schützen, politische Entscheidungen
im Amt unter der Perspektive zu treffen, was sich im
Anschluss an das Mandat ergeben und wer sich eventuell
dankbar erweisen könnte. Insofern meine ich, dass das
Verhalten des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder dem
Ansehen der politischen Klasse und der Akzeptanz der
Versorgungssysteme für Abgeordnete wie für Regierungsmitglieder enormen Schaden zugefügt hat.
({15})
Einerseits sollten wir für eine angemessene Versorgung streiten. Andererseits sollten wir uns Regeln geben,
die transparent sind und den Bürgern deutlich machen,
dass unsere Entschädigung bzw. Besoldung angemessen
ist. Aber dann sollten wir uns bei den Nebentätigkeiten
zurückhalten und dürfen nicht jeden Job annehmen, insbesondere dann nicht, wenn bestimmte Dinge anrüchig
sind.
Kollege Beck, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ein letzter Satz.
Volker Beck ({0})
Wir müssen den Verhaltenskodex betreffend die Nebentätigkeiten von Abgeordneten umsetzen. Er verbietet
keinem Abgeordneten, einer wirtschaftlichen Tätigkeit
nachzugehen. Aber er verpflichtet uns zur Transparenz,
sodass die Bürgerinnen und Bürger wissen, was wir
sonst noch tun. Ich finde, darauf haben sie einen Anspruch.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Christine Lambrecht,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin versucht, zu sagen:
Alle Jahre wieder - tatsächlich ist es nur jede Legislaturperiode - kommt der FDP-Antrag zu diesem Thema. Er
begleitet zumindest mich in den drei Legislaturperioden,
in denen ich diesem Hause angehöre. Ich kann aber dem
Vorschlag, eine Kommission einzuberufen, noch immer
nichts abgewinnen.
({0})
Ich habe noch immer meine Probleme - ich denke, diese
teilen sehr viele Kollegen mit mir - damit. Ich möchte
Ihnen gerne darlegen, warum.
Ich habe ein Problem damit, dass eine Kommission
- egal wie sie besetzt ist - in irgendeinem Hinterzimmer
darüber berät, welche Entschädigung für die Tätigkeit
eines Abgeordneten angemessen ist; denn ich glaube,
dass die Beratungen einer solchen Kommission nicht öffentlich sein werden. Genau das wird nicht zu mehr, sondern zu weniger Transparenz führen.
({1})
Wenn wir hier darüber debattieren, ob es eine Diätenerhöhung geben soll oder nicht, wie es in den letzten
Jahren häufig der Fall war - das wird auch in den kommenden Jahren so sein -, dann geschieht das öffentlich.
In unseren Debatten wird das Für und Wider abgewogen.
Jeder kann teilnehmen, zuhören, nachvollziehen und
sich eine Meinung bilden. Wenn aber eine Kommission
hinter verschlossenen Türen tagt, dann ist das nicht möglich. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Lösung
ablehne.
Ein weiterer Grund, warum ich der Meinung bin, dass
eine solche Lösung nicht sinnvoll ist, ist die mangelnde
Unabhängigkeit einer solchen Kommission. Es sind
Verbände genannt worden, die zwar immer den Anschein erwecken, unabhängig zu sein. Aber ich glaube,
dass wir alle in der Realität leben und wissen, dass Verbände ihre Interessen vertreten. Dafür sind sie da.
Schließlich sind sie Interessenvertretungen.
({2})
Kein Verband ist vom Himmel gefallen und hat die absolute Unabhängigkeit gepachtet. Die Verbände werden in
den Beratungen vielmehr ihre Interessen vertreten. Das
ist sicherlich legitim. Aber die Frage ist, ob das der Sache dient.
Wenn es eine solche Kommission gäbe, stellt sich die
Frage, nach welchen Kriterien sie entscheiden würde.
Hat sie überhaupt die Möglichkeit, Einblick in den parlamentarischen Alltag, in die Arbeit eines Abgeordneten
zu nehmen und dann entsprechend zu entscheiden? Ich
bestreite dies. Wenn man Gespräche mit Verbandsvertretern führt, die durchaus schon eine gewisse Nähe zu uns
Abgeordneten haben, ist man manchmal verwundert,
welche Vorstellungen dort über die Arbeit, den Aufwand
und das Engagement eines Abgeordneten herrschen. Daher halte ich es für sehr problematisch, dass Verbandsvertreter über uns entscheiden und unsere Arbeit einschätzen sollen, die sie zum Teil gar nicht kennen. Das
ist ein weiterer Grund, warum ich sage: Eine solche
Kommission bitte nicht.
({3})
Darüber hinaus wird eine solche Kommission Kosten
verursachen; das ist doch klar. Diese werden sicherlich
nicht dramatisch hoch sein; das gebe ich zu. Aber dieser
Punkt ist nicht von der Hand zu weisen. Zudem bin ich
der Meinung, dass die Kommissionen, die es bisher in
anderen politischen Bereichen gab, entgegen der ursprünglichen Meinung nicht zu mehr Akzeptanz geführt
haben, weil irgendwer irgendwo etwas beraten und entschieden hat, was man dann nicht nachvollziehen
konnte. Das ist das beste Beispiel dafür, dass dies in einem solch sensiblen Bereich nicht der beste Weg ist.
({4})
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns selbstkritisch
sein! Das waren wir in den letzten Jahren bereits; denn
sonst wäre es nicht zu so vielen Einschnitten gekommen.
Wir haben uns sehr wohl in die eigene Tasche gelangt.
Es ist nicht so, dass hier ständig draufgepackt worden
wäre. Ich habe als Abgeordnete mehrere Nullrunden erlebt. Das wird wohl auch in Zukunft so sein. Das ist richtig; denn wir muten auch den Bürgerinnen und Bürgern
Einschnitte zu. Wir haben also die Änderungen, die bei
den Bürgerinnen und Bürgern für Einschnitte gesorgt haben - Herr Beck hat das schon erwähnt -, auf uns selbst
übertragen. Darüber muss ich nicht diskutieren. Das ist
eine Selbstverständlichkeit.
Lassen Sie uns selbstkritisch, aber auch selbstbewusst
über diese Angelegenheit hier diskutieren und hier beraten. Hier haben wir den Sachverstand und die Öffentlichkeit, die das bewerten kann. Dann kommen wir auch
zu akzeptablen Ergebnissen. Deswegen sage ich: Keine
Verlagerung in Hinterzimmer auf irgendwelche Vertreter. Das ist vielmehr Angelegenheit des Parlaments. Herr
van Essen, das ist keine verfassungsrechtliche oder juristische Einschätzung, sondern das ist eine politische Einschätzung, die ich hier abgebe.
({5})
Es wird im Januar ein Gespräch der Fraktionsvorsitzenden geben, in dem sie sich über diese Fragen austauschen. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich gehe davon
aus, dass die Vorschläge nicht in Richtung einer Kommission gehen werden, sondern dass man andere Wege
einschlägt. Ich persönlich - da rede ich aber nur für mich
und nicht für die SPD-Fraktion - kann mir durchaus vorstellen, die Diäten an die Entwicklung der Gehälter bestimmter Berufsgruppen im öffentlichen Dienst zu koppeln. Aber das ist alles offen. Darüber muss man ohne
Scheuklappen miteinander diskutieren.
Was die Altersversorgung betrifft, ist es wirklich
angebracht, sich vielleicht einmal das Düsseldorfer Modell genau anzuschauen und zu prüfen, ob das ein gangbarer Weg ist.
({6})
Ich kann es momentan noch nicht einschätzen. Wir sollten aber auch diese Entscheidung selbst treffen und sie
nicht an irgendjemanden delegieren. Diesen Mut sollten
wir haben. Dazu kann ich Sie alle nur auffordern.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Götzer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon angesprochen worden, dass uns die beiden
heute vorliegenden Gesetzentwürfe der FDP-Fraktion
nicht gänzlich unbekannt sind. Sie wurden bereits in der
letzten und in der vorletzten Wahlperiode eingebracht
und diskutiert. Sehr viel Neues kann man deshalb dazu
wahrlich nicht sagen. Es geht um die Rechtsstellung der
Mitglieder des Deutschen Bundestages und dabei letztlich um die Frage, wie die Mitglieder des Bundestages
ausgestattet sein müssen, um ihren Aufgaben als Gesetzgebungsorgan und Kontrollorgan der Bundesregierung
sachgerecht nachkommen zu können. Dabei dürfen wir
uns von der Polemik, mit der dieses Thema regelmäßig
von einem nicht geringen Teil der öffentlichen und der
veröffentlichten Meinung begleitet wird, nicht irremachen lassen. Es ist nun einmal so und es bleibt so,
dass nur ein guter Bundestag gute Arbeit leisten kann.
Gute und engagierte Arbeit verdient auch eine sachgemäße Ausstattung und eine finanzielle Absicherung der
Abgeordneten. Nicht zuletzt geht es auch um die Ausführung eines Verfassungsgebotes, nämlich des Art. 48
Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten
„eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ haben müssen.
Kommen wir nun konkret zu den vorliegenden Gesetzentwürfen der FDP. Wesentlicher Teil der Gesetzentwürfe ist die Übertragung der Entscheidung über eine
angemessene Abgeordnetenentschädigung auf eine vom
Bundespräsidenten zu berufende unabhängige Kommission. Das ist eine bekannte Forderung. Anders als
früher etwa die Kissel-Kommission soll diese Kommission jedoch ein eigenes, verbindliches Entscheidungsrecht über die Höhe der Diäten haben und nicht nur ein
Vorschlagsrecht mit empfehlendem Charakter. Diese
Anträge der FDP wurden sowohl in der 14. als auch in
der 15. Wahlperiode abgelehnt.
({0})
Ich verhehle nicht ein gewisses Verständnis für die
Grundintention, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, die hinter den Anträgen steht, weil Sie damit
der öffentlichen Kritik und dem Vorwurf der Selbstbedienung, der heute schon wiederholt angesprochen
worden ist, begegnen wollen. Wir alle wissen, dass dieser Vorwurf nicht nur polemisch und unsachlich, sondern schlicht falsch ist.
({1})
- Vielen Dank für den Applaus. Wir müssen das immer
wieder sagen, Herr Kollege Stünker. Deshalb bin ich Ihnen dafür dankbar.
In der Öffentlichkeit wird mit diesem falschen Vorwurf immer wieder operiert. Vor allem die selbst ernannten Experten, die ihn immer wieder erheben, müssten eigentlich wissen - ich glaube, sie wissen es auch -, dass
dieser Vorwurf nicht zutreffend ist. Aber er ist so schön
griffig, er setzt sich in den Köpfen fest und niemand redet davon - deswegen müssen wir es immer wieder
tun -, dass wir die Entscheidung nicht an uns gezogen
haben, sondern dass wir durch die Diätenentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet worden
sind, über die Höhe der Entschädigung selbst zu entscheiden. Folgerichtig sehen die Gesetzentwürfe der
FDP die Änderung des Grundgesetzes vor.
Wie ich schon gesagt habe, habe ich durchaus eine
gewisse Sympathie für die Position der FDP. Man bedenke, dass die Öffentlichkeit Selbstbeschränkungen,
die wir seit Jahren beschließen, kaum wahrnimmt. Wie
war denn das Echo in der Öffentlichkeit, als wir in der
letzten Wahlperiode die Rückführung unserer Altersversorgung beschlossen haben? Wie war das öffentliche
Echo auf zehn Nullrunden, die schon angesprochen worden sind? Dazu gab es vielleicht eine Randnotiz, mehr
nicht. Ich behaupte sogar, dass fast niemand in unserem
Land davon Kenntnis genommen hat. Das erleben wir
beinahe täglich in Diskussionen und in unseren Veranstaltungen.
Ich möchte aber nicht verhehlen, dass ich gegenüber
den Gesetzentwürfen der FDP-Kollegen verfassungsrechtliche und vor allem verfassungspolitische Bedenken habe. Eine unabhängige Kommission beim Bundespräsidenten mit eigener Entscheidungsbefugnis ist
verfassungsrechtlich bedenklich.
Unter Berücksichtigung der Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht 1975 in dem schon zitierten Diätenurteil dargelegt hat, wird vielfach ein umfassender
Parlamentsvorbehalt angenommen. Ob die Übertragung bei Änderung von Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz
- wie die FDP es vorschlägt - möglich ist, wird in Fachkreisen sehr unterschiedlich beurteilt. Als Maßstab wird
hier von vielen die Unantastbarkeitsgarantie aus Art. 79
Abs. 3 Grundgesetz wegen Berührung des Rechtsstaatsund Demokratieprinzips nach Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz herangezogen.
Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist,
mit dieser Kommission möglicherweise ein weiteres
Verfassungsorgan zu schaffen, dessen einzige Aufgabe
es ist, die Höhe der Abgeordnetenentschädigung festzusetzen.
Unabhängig von diesen verfassungsrechtlichen und
verfassungspolitischen Fragen bleibt weiterer wichtiger
Erörterungsbedarf. Ist denn wirklich sicher, dass die von
der FDP angestrebte Übertragung der Entscheidungsbefugnis ihr Ziel erreicht, nämlich eine politische Entlastung der Abgeordneten? Wird eine solche Kommission
auch in der Öffentlichkeit die erforderliche Anerkennung finden?
({2})
Dies wird von der FDP zwar als Konsequenz angenommen, bleibt für mich aber zweifelhaft.
Ich sehe auch bei einer Neuregelung, wie sie die FDP
vorsieht, gleichwohl politischen Druck auf das Parlament zukommen, eine von der Kommission etwa getroffene Entscheidung für eine Diätenerhöhung durch Parlamentsbeschluss aufzuheben und auf diese Erhöhung
letztlich doch zu verzichten. Deshalb bin ich nach wie
vor der Meinung, dass wir uns dem Thema Diäten auch
künftig selbst stellen müssen - mit Verantwortungsbewusstsein, aber auch mit Selbstbewusstsein. Hier im Parlament gibt es keine Selbstbedienung. Hier gibt es nur
die Erfüllung eines Verfassungsauftrages mit Augenmaß
und politischem Einfühlungsvermögen.
({3})
Nun möchte ich noch zum zweiten Teil des FDP-Gesetzentwurfs kommen, zum Prüfauftrag zur Änderung
der Altersversorgung. Dabei geht es um die grundsätzliche Umstellung des Systems hin zu einer stärkeren
Eigenverantwortung. Darüber kann man diskutieren. Ich
halte aber nichts von einer voreiligen Festlegung darauf;
vielmehr bin ich für eine ergebnisoffene Prüfung. Das
gilt insbesondere für das jetzt immer wieder zitierte
Nordrhein-Westfalen-Modell, das die Schaffung eines
eigenen Versorgungswerkes vorsieht. Dies bedarf einer
eingehenden kritischen Prüfung, auch unter Einbeziehung der dortigen Erfahrungen.
Jedenfalls sehe ich erhebliche Probleme auf uns zukommen, wenn als Konsequenz einer solchen Umstellung eine massive Diätenerhöhung für erforderlich gehalten würde, was ja viele Experten tun. Dies wäre
politisch kaum vermittelbar, obwohl es zur Gewährleistung einer angemessenen Altersvorsorge nach Meinung
vieler Sachverständiger unumgänglich wäre.
({4})
Völlig inakzeptabel wäre aber, wenn dann schließlich
nur die Abschaffung des bisherigen Systems der Altersversorgung beschlossen würde, nicht aber der dazugehörende zweite Teil, nämlich eine entsprechende angemessene Erhöhung der Diäten. Deswegen plädiere ich für
eine ruhige und sachliche Diskussion, die mit den Gesprächen zu Beginn des neuen Jahres ohnehin stattfinden
wird. In diese Diskussion werden die heute vorliegenden
FDP-Gesetzentwürfe natürlich wiederum einbezogen.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Wiefelspütz,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt in Sachen Abgeordnetenentschädigung
und Abgeordnetenversorgung vielfältige Vorschläge.
Aber es gibt einen besonders unsinnigen Vorschlag. Das
ist der der FDP, eine Kommissionslösung zu wählen.
Sie müssen sich das einmal vorstellen: Die Höhe der
Abgeordnetenentschädigung soll in Zukunft durch eine
Kommission verbindlich festgelegt werden.
({0})
Nun räume ich ein: In eigener Sache die Bezahlung
und auch die Versorgung festzulegen ist keine besonders
angenehme Entscheidung. Wer drängt sich schon danach? Wir werden von der Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit in vielfältiger Weise sehr kritisch beobachtet. Ich will nun nicht wiederholen, was hier schon
zutreffend gesagt worden ist, aber unterstreichen: So unangenehm das ist - sollen wir in Zukunft auch in anderen Bereichen unangenehme Entscheidungen aus dem
Parlament hinausverlagern? Ist das Ihr Weg, um verantwortlich Politik zu machen, Herr van Essen? Es kann
doch wohl nicht gemeint sein, dass wir uns drücken sollen! Sie wollen Verantwortlichkeit aus dem Parlament
in nicht kontrollierbare Kommissionen verlagern. Überlegen Sie sich doch einmal die Konsequenz! Ist das, was
Sie uns hier vortragen, das Modell für verantwortliche
Politikgestaltung? Das ist nicht zu Ende gedacht.
Das ist übrigens weniger eine verfassungsrechtliche
Frage. Sie wollen das per Verfassungsänderung machen.
Das ist ungewöhnlich, aber so etwas kann man - da
würde ich dem Wissenschaftlichen Dienst durchaus
Recht geben - verfassungsrechtlich tun.
({1})
Ich glaube nicht, dass der neue Satz 2 in Art. 48 Abs. 3
Grundgesetz sozusagen verfassungswidriges Verfassungsrecht wäre. Aber politisch ist das, was Sie da vorschlagen, unsinnig.
({2})
Wir müssen nach der Verfassung als Gesetzgeber
selbst entscheiden, vor den Augen der Öffentlichkeit. Ich
kenne kein Verfahren, das transparenter ist, das klarer
ist, das auch disziplinierender ist als das, bei dem der Öffentlichkeit gesagt wird: Das wollen wir, und das wollen
wir nicht. - Sie wollen das in ein vertraulich oder geheim tagendes Gremium verlagern,
({3})
das verbindlich entscheidet. Überlegen Sie sich doch
einmal, welche verfassungspolitischen Folgen das hat!
({4})
Was Sie da vorschlagen, ist nicht zu Ende gedacht. Demnächst kommen Sie auch noch auf die Idee, die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr in
irgendeine unabhängige Kommission zu verlagern.
({5})
- Herr van Essen, ich bitte Sie! In Ihrem Antrag steht,
dass diese Kommission verbindlich, mit Rechtsverbindlichkeit entscheidet.
({6})
Das ist nicht in Ordnung. Dieser Vorschlag wird in diesem Deutschen Bundestag zum Glück nicht den Hauch
einer Chance haben. Er ist nicht zu Ende gedacht. Er ist
verfassungspolitisch ein Irrweg, der uns keinen Millimeter weiterbringt.
Zu dem zweiten Vorschlag, den Sie unterbreiten, nach
dem die Kommission Vorschläge erarbeiten soll, muss
ich sagen: Wir können natürlich auch externen Sachverstand heranziehen; überhaupt kein Problem.
({7})
Ich rate aber sehr dazu, dass wir - Sie, wir alle - in dieser Angelegenheit unsere Verantwortung wahrnehmen.
({8})
- Das schließt das nicht aus; richtig. Aber ich bin schon
der Auffassung, dass wir an dieser Stelle diese Kommissionitis nicht fortsetzen
({9})
und eher den Weg gehen sollten, unsere Vorschläge offen zu diskutieren, sie mit der Öffentlichkeit zu diskutieren und dann in eigener Verantwortung eine Entscheidung zu treffen. Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass
es hier im Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit
gibt, die das, was Sie vorschlagen, nicht nur kritisch
sieht, sondern ablehnt. Dabei soll es auch bleiben.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/118 und 16/117 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der
Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union ({1}) in Darfur/Sudan auf
Grundlage der Resolutionen 1556 ({2}) und
1564 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 30. Juli 2004 und 18. September
- Drucksachen 16/100, 16/268 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer ({4})
Brunhilde Irber
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({5})
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/269 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Carsten Schneider ({7})
Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Mogg, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Darfur ist die „Hölle auf Erden“ - so hat es
der Generalsekretär der Vereinten Nationen im Februar
dieses Jahres formuliert. Lassen Sie mich versuchen, einen kurzen Einblick in diese Hölle zu wagen.
Die Konkurrenz um knappe Ressourcen zwischen
afrikanischstämmigen Bauern und arabischstämmigen
Nomaden wurde durch Dürrekatastrophen und die fortschreitende Ausbreitung von Wüsten weiter verschärft.
Traditionelle Konfliktlösungsmechanismen brachen zusammen. Milizen und Banden übernahmen, geschützt
durch staatliche Gewalt, das Kommando. Sie haben sich
schwerste Menschenrechtsverletzungen gegenüber der
Zivilbevölkerung zuschulden kommen lassen. Die Folge
ist eine humanitäre Katastrophe.
300 Dörfer wurden zerstört. Hunderttausende sind als
Folge des Konfliktes ums Leben gekommen; die Schätzungen schwanken zwischen 180 000 und
300 000 Menschen. 2 Millionen Menschen wurden vertrieben. Nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen brauchen 3,5 Millionen Menschen humanitäre
Hilfe. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf terroristische Aktivitäten. Rebellen entführen Angestellte von
Entwicklungshilfeorganisationen. Banditen überfallen
Nahrungsmittelkonvois. Das Minenrisiko ist nicht zu
vernachlässigen.
Der Afrikakorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ Kurt Pelda schrieb vor wenigen Wochen, am
3. November, im „Rheinischen Merkur“:
In ... Darfur hat die humanitäre Krise ein bislang
nie da gewesenes Maß an Brutalität angenommen.
Eine EKD-Delegation unter Leitung von Bischof
Huber bereiste kürzlich eine Woche lang den Sudan und
nannte nach ihrer Rückkehr die alltägliche Situation
schlicht „deprimierend“. Ursache sind die ethnischen
Probleme zwischen Arabern und Afrikanern, die zugleich Probleme zwischen Reich und Arm sowie zwischen Moslems und Christen sind.
Vor diesem Hintergrund hatten alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages im Mai des vergangenen Jahres
einen umfassenden Forderungskatalog zusammengestellt, zu dem auch die militärische Flankierung der
vielfältigen politischen Aktivitäten gehört. Unser Beitrag im Rahmen des AMIS-Mandates, das wir heute zum
zweiten Mal verlängern wollen, um die Gewalt in Darfur
im Zaum zu halten, kann nicht mehr und nicht weniger
als ein kleiner, vielleicht nur symbolischer, Beitrag sein.
Denn eine zentrale Erkenntnis ist: Die Sicherheitslage
ist zum größten Problem bei der Versorgung der Bevölkerung geworden. Selbst die Flüchtlingslager werden
angegriffen.
Wir, die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion, werden deshalb dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Ich sage es frei heraus: Ich
wünschte mir, wir wären in der Lage, mehr zu tun. Aber
angesichts der Situation in Darfur würde auch eine umfassendere Beteiligung der Bundeswehr derzeit keine
substanziellen Verbesserungen bringen können.
Dennoch steht außer Zweifel, dass die Verlängerung
des bestehenden Mandates aus humanitären und aus
politischen Gründen eine Verpflichtung ist. Die Anwesenheit deutscher und anderer europäischer Kräfte zur
Unterstützung von Soldaten und Polizisten der Afrikanischen Union schafft eine Öffentlichkeit über den afrikanischen Kontinent hinaus, die die marodierenden Banden und vor allem ihre Anstifter scheuen. Dies belegen
die Diskussionen im internationalen Rahmen.
Deutschland leistet logistische Hilfe, damit zunächst
die afrikanischen Nachbarn selbst den bedrohten Menschen beistehen können. Dies betrifft insbesondere den
Transport von Soldaten und Polizisten sowie Gerät aus
den Staaten der Afrikanischen Union, die finanziellen
Beiträge zu AMIS in Höhe von 3 Millionen Euro und die
Bereitstellung von technischem Gerät und Beratungskapazitäten.
Am 3. Dezember des vergangenen Jahres hat der
Deutsche Bundestag erstmals über den Einsatz zur
Unterstützung der Überwachungsmission der Afrikanischen Union abgestimmt. Wir entscheiden heute
über eine unveränderte Fortsetzung. So muss auch die
Frage gestellt werden, ob sich der Einsatz als sinnvoll erwiesen hat. Die Antwort lautet Ja.
Wir sollten uns von Berichten über eine weiterhin besorgniserregende Situation nicht irritieren lassen. Natürlich ist aus der „Hölle auf Erden“ nicht über Nacht der
„Himmel auf Erden“ geworden. Die Lage bleibt schwierig. Trotzdem gibt es kleine, ermutigende Neuigkeiten.
Die Bundesregierung stellt in dem uns vorliegenden Antrag vom 29. November fest, dass „die AU-Mission in
den Gebieten, in denen AMIS präsent ist, zu einer spürbaren Verringerung der Gewalt“ beiträgt. Dabei kann sie
sich auf Berichte der UN stützen, die über positive
Trends einer umfassenderen Präsenz humanitärer Hilfe
berichten ebenso wie über „significant progress in all
life-saving sectors in comparison to the situation last
year“.
Der Druck der internationalen Gemeinschaft führte
dazu, dass zum ersten Mal ein Gericht im Sudan ein Urteil wegen Menschenrechtsverletzungen in Darfur gesprochen hat. Der sudanesische Justizminister spricht
von 160 Verdächtigen.
In der „Welt“ vom 30. November ist nachzulesen,
dass es „nicht nur Schreckliches“ zu berichten gibt,
„sondern auch kleine Fortschritte“ gemeldet werden
können. Zitat:
Diese Fortschritte sehen so aus: Es gibt wieder Feuerholzpatrouillen. Die Afrikanische Union hat …
Soldaten geschickt, um die Zivilisten zu schützen,
und einige von ihnen begleiten jetzt Frauen, die
sich außerhalb der Flüchtlingslager aufmachen
müssen, um Feuerholz zu sammeln. Dabei werden
sie häufig von Reitermilizen angegriffen ... Solche
Missionen, wen wundert’s, sind nicht beliebt bei
den Soldaten. Doch scheinen sie manchmal das
Schlimmste zu verhüten.
Kleine Schritte, kleine Fortschritte - zugegeben. Aber
Grund genug, unser kleines Engagement fortzusetzen.
Wir, der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung, haben in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass unser sicherheitspolitisches Konzept ein
umfassendes Angebot sein muss. Diplomatische, wirtschaftliche, humanitäre und militärische Aspekte spielen
dabei eine Rolle. Daran müssen wir auch für Darfur festhalten. Sie schaffen die Voraussetzungen für Entwicklung.
Ich weiß und bin froh darüber, dass eben darüber in
diesem Hause große Einigkeit herrscht. Das haben die
Debatten gezeigt. Es geht um eine umfassende politische
Lösung. Das humanitäre und das militärische Engagement können nur erste Schritte sein.
Der internationale Druck auf die Zentralregierung
im Sudan darf um der Menschen willen nicht nachlassen.
So zitiert der Bonner „General-Anzeiger“ vom
30. November dieses Jahres Bischof Huber nach der bereits zitierten Reise durch den Sudan. Immer wieder
habe er in seinen Gesprächen mit Vertretern des Staates
sowie der Kirchen und der Bevölkerung festgestellt, dass
es ein großes Vertrauen in Deutschland gebe. Bischof
Huber wörtlich:
Von dem Vertrauen, das uns Deutschen entgegengebracht wird, müssen wir auch Gebrauch machen.
({0})
Es ist nach Meinung des Bischofs auch im Interesse Europas, dass der Sudan und mit ihm ganz Afrika „Zukunft
hat“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mit
dem notwendigen Blick auf die Realitäten und einem
großen Maß an Zuversicht weiter dazu beitragen, dass
die Menschen in Darfur eine Zukunft haben. Die Verlängerung des AMIS-Mandats ist dafür eine wichtige Voraussetzung.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Anfang Mai 2004 wurde hier im Deutschen Bundestag ein Antrag der FDP-Fraktion mit dem
Titel „Völkermord im Sudan verhindern“ debattiert. Zur
selben Zeit tobte in Darfur im Westen des Sudan bereits
ein Konflikt, der zu einer der größten menschenrechtlichen und humanitären Krisen weltweit führte. Frau Kollegin Mogg hat eben schon sehr anschaulich die Situation geschildert und sie zutreffend beschrieben. Das
muss nicht wiederholt werden.
Am 30. Juli 2004 beschloss der UN-Sicherheitsrat
den Einsatz einer militärischen Überwachungsmission
der Afrikanischen Union, das AMIS-Mandat. Im Rahmen einer Ausweitung wurde auf internationaler Ebene
darum gebeten, diese Mission finanziell und logistisch
zu unterstützen.
Dem hat sich die Bundesrepublik Deutschland angeschlossen. Neben bereits geleisteten erheblichen finanziellen Hilfen haben wir zugestimmt, der Mission AMIS
logistische Unterstützung zu gewähren. Dazu hat der
Deutsche Bundestag am 3. Dezember des letzten Jahres
den Antrag angenommen, bis zu 200 Soldaten für den
Lufttransport, inklusive Sicherungs- und Unterstützungskräfte, einzusetzen. Seit Bestehen des Mandats hat
die Bundeswehr insgesamt zwei Lufttransporte von
Gambia und Ghana in den Westen des Sudan durchgeführt. Das Mandat war begrenzt und wurde im Mai 2005
im vereinfachten Verfahren verlängert.
Ich möchte ganz klar und deutlich sagen: Die FDPBundestagsfraktion unterstützt die Fortsetzung dieses
begrenzten und sinnvollen Mandats. Wir hätten in diesem Fall auch kein Problem mit einem vereinfachten
Verfahren gehabt. Ich denke, es führt zu keiner zusätzlichen Verbesserung, dass wir hier heute noch einmal über
die Verlängerung debattieren.
({0})
Ich möchte anlässlich dieser Diskussion zwei Punkte
aufgreifen. Der erste Punkt richtet sich an die Bundesregierung. Dieses Mandat, das bisher bestand, ist am
3. Dezember ausgelaufen. Wir führen heute, am 16. Dezember, eine Debatte darüber, das heißt 14 Tage nach
Ablauf des Mandats. Nun ist zwar auch der FDP-Bundestagsfraktion § 7 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
bekannt, der diese Terminüberschreitung legalisiert.
Aber für meine Fraktion will ich sehr deutlich sagen: Die
Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Wir fordern die
Bundesregierung erneut auf, solche Anträge nicht erst
vier Tage vor Ablauf eines Mandats in den Deutschen
Bundestag einzubringen. Das ist, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Bundesregierung, keine gewissenhafte Arbeit.
({1})
Wir sind nach wie vor der Auffassung: Auch wenn
Sie vonseiten der Bundesregierung vielleicht damit, dass
eine Zustimmung wieder in einem vereinfachten Verfahren erfolgen kann, und - zu Recht - auch damit gerechnet haben, dass es eine Zustimmung zu diesem Mandat
geben wird, sollte es immer noch so sein, dass der Deutsche Bundestag selbst entscheidet, ob er eine Frage debattieren will oder nicht.
({2})
Daher ist es notwendig, dass Anträge pünktlich vorgelegt werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen zweiten
Punkt aufgreifen, der genauso relevant ist. Ich glaube,
wir sollten uns angesichts der Debatte über dieses Mandat die Frage stellen, ob wir in Zukunft einer Mandatsverlängerung immer im Rahmen einer Plenardebatte zustimmen wollen oder ob es vielleicht nicht doch besser
wäre, das zu tun, was die FDP-Bundestagsfraktion schon
einmal im Rahmen eines Gesetzentwurfs eingebracht
hat, nämlich im Deutschen Bundestag einen Ausschuss
für besondere Auslandseinsätze einzurichten, in dem
über diese Dinge entschieden wird. Das hätte erhebliche
Vorteile. Deswegen finde ich, wir sollten noch einmal
über ein Auslandseinsätzemitwirkungsgesetz sprechen.
({3})
Dies hätte erstens den Vorteil, dass solche Einsätze im
vereinfachten Verfahren beschlossen werden können.
Es hätte zweitens den Vorteil, dass es zu einer stärkeren
Einbindung des Deutschen Bundestages auch bei geheimhaltungspflichtigen Vorgängen kommen könnte. Ich
möchte betonen: Die Tatsache, dass wir immer wieder
klar machen, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, ist kein Selbstzweck. Denn jedes Mal, wenn sich
der Deutsche Bundestag zu Beginn eines neuen Mandats
mit einem solchen Mandat befasst hat, hat dies dazu geführt, dass es zu Verbesserungen für die Soldatinnen und
Soldaten kam. Dies rechtfertigt das Nachdenken über einen solchen besonderen Ausschuss.
({4})
Wir kämen darüber hinaus - das ist der letzte Punkt mit einem solchen Ausschuss zu einem schnelleren Handeln des Parlaments. Ich glaube, auch das wäre angebracht.
Unbenommen davon danke ich allen Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr, die auch in diesem Auslandseinsatz durch ihr hohes Engagement und ihren vorbildlichen Leistungswillen daran mitwirken, eine humanitäre Katastrophe einzudämmen.
Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Mandat zu.
({5})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Franz Josef Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bitte Sie namens der Bundesregierung um
Zustimmung zur Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr in Darfur für weitere sechs Monate bis zum
2. Juni 2006.
Meine Vorrednerinnen haben schon in überzeugender
Weise den Grund für die Verlängerung dieses Einsatzes
vorgetragen. Ich glaube aber, noch einmal unterstreichen
zu sollen, dass wir uns im Sudan deshalb so stark engagieren, weil wir die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union darin unterstützen möchten, das von Krisen
und humanitären Notlagen geschüttelte Land und die gesamte Region zu stabilisieren. Hier hat - das ist wahr eine humanitäre Katastrophe in größtem Ausmaß stattgefunden. Mehr als 200 000 Menschen sind dort ums Leben gekommen. Ich denke, wir können uns unserer internationalen Verpflichtung im Hinblick auf Humanität
und Friedenssicherung nicht entziehen. Deshalb müssen wir dieses Mandat wahrnehmen.
({0})
Im Rahmen dieses Mandates wollen wir die Grundlage für den Aufbau von Strukturen schaffen, die den
Menschen die Perspektive für ein Leben ohne Not und
Gewalt bieten, und dafür sorgen, dass diese Staaten in
der Lage sind, derartige kriegerische Auseinandersetzungen in Zukunft zu verhindern, also selber ihren Beitrag zur Stabilität und Friedenssicherung in dieser Region zu leisten. Das ist ein entscheidender Punkt, der im
Zusammenhang mit diesem Mandat gesehen werden
muss. Ich glaube, wir sollten deshalb weiterhin zu einer
friedenssichernden Unterstützung im Sudan bereit sein.
Wir treten für eine Förderung von AMIS auch aus
EU-Mitteln ein, weil wir glauben, dass eine Finanzierung der laufenden Friedensverhandlungen in Abuja und
eine entsprechende Unterstützung notwendig sind, um
die Voraussetzungen für Strukturen im Sudan zu schaffen, mit denen dieses Land wie andere Länder aus eigener
Kraft Friedenssicherung und Stabilität in der gesamten
Region betreiben kann, sodass wir solche Unterstützungsaktionen künftig nicht mehr brauchen.
({1})
Unser Engagement ist unter dem Stichwort „Hilfe zur
Selbsthilfe“ zu verstehen. Wir unterstützen eigenständige Entwicklungen und helfen damit, regionale friedenssichernde Strukturen aufzubauen. Die Unterstützung des Mandats für AMIS ist notwendig. Dies dient
der Humanität, der Friedenssicherung, aber auch dem
Aufbau stabiler Strukturen in diesen Ländern, damit
sie in Zukunft selbst in der Lage sind, für Friedenssicherung und dafür zu sorgen, dass die Menschen dort ohne
Not und ohne Gewalt leben können.
({2})
Es ist zutreffend - das wurde bereits angesprochen -,
dass die Lage in Darfur weiterhin besorgniserregend ist.
Deshalb ist eine Fortsetzung des internationalen Engagements seitens der NATO und der Europäischen
Union für die VN-mandatierte Operation AMIS zwingend erforderlich. Leider gibt es weiterhin Vertreibungen, Tötungen und Plünderungen. Aber dort, wo AMIS
präsent und aktiv ist, ist eine spürbare Verringerung der
Gewalt zu beobachten. Das zeigt, dass AMIS positive
Ergebnisse zu verzeichnen hat. Dies muss auch weiterhin so sein.
Ich denke, dass eine weitere Unterstützung durch
Transportmaßnahmen notwendig ist. Wir arbeiten sehr
eng mit unseren französischen Partnern zusammen, um
die Voraussetzungen dafür zu gewährleisten, dass eine
Stabilisierung der Situation im Sudan erreicht wird.
Deshalb bitte ich Sie im Interesse von Humanität und
Friedenssicherung, aber auch im Interesse der Stabilisierung in der Region und der Hilfe zur Selbsthilfe um ein
klares Votum dieses Hauses für die Fortsetzung des
Mandats.
Besten Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Norman Paech, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir haben den Antrag zur heutigen Debatte gestellt, weil wir grundsätzlich der Ansicht sind, dass jeder
außenpolitisch relevante Einsatz der Bundeswehr hier
diskutiert werden muss. Wir wollen keine Vorratsbeschlüsse.
({0})
Wir stehen heute vor einer nicht leichten Entscheidung. Ich bekenne ganz offen, dass wir in der Linkspartei eine sehr intensive und aufklärende Diskussion darüber geführt haben. Alle Fakten und Gründe für eine
Fortsetzung des Einsatzes der deutschen Streitkräfte im
Sudan sind von den Vorrednern genannt worden: das
völkerrechtliche Mandant durch die UNO, die Führung
der Mission durch die afrikanischen Staaten und die unverändert dramatische Situation der Flüchtlinge, die Vertreibungen und die massiven Menschenrechtsverletzungen. Nichts hieran hat sich seit der Einrichtung des
Mandats verändert. Das ist wichtig: Nichts hat sich verändert!
Wir müssen uns also fragen: Warum brauchen wir die
Erneuerung und Erweiterung dieses Mandats? Als die
Linkspartei noch PDS hieß, hat sie - es war vor fast genau einem Jahr, am 3. Dezember 2004 - das Bundeswehrmandat abgelehnt, und zwar vor allem deswegen,
weil sie einen derartigen militärischen Einsatz für untauglich hielt, sowohl die ökonomischen und die sozialen Ursachen als auch deren furchtbare Auswirkungen in
den Griff zu bekommen und zu beheben.
({1})
Nach einem Jahr können wir nur eines sicher feststellen: Es hat sich im Grunde nichts geändert.
({2})
Wir haben nicht einmal eine Evaluation über den Nutzen
des Einsatzes vor Ort; sie findet zwar statt, aber ihre Ergebnisse liegen uns noch nicht vor.
({3})
Die schon lange bestehenden skeptischen Einschätzungen, ob ein solcher Einsatz überhaupt Erfolg haben kann,
die die ehemalige Staatsministerin Kerstin Müller damals vortrug, haben sich verdichtet.
Wir haben uns also zu fragen: Bewahrheitet sich hier
vielleicht schon bald das, wovon die International Crisis
Group, eine unverdächtige Organisation, bereits heute
ausgeht: die Ausdehnung des Mandats, die massive Aufstockung der Truppen und die Führungsübernahme
durch die EU oder NATO, da die afrikanischen Staaten
es voraussichtlich doch nicht schaffen werden?
Wir sehen durchaus nicht über all das Elend und die
Gewalt hinweg, wir halten lediglich das Militär auch in
diesem Fall nicht für das taugliche Mittel,
({4})
in einem Konflikt, der vornehmlich zwischen Nomaden
und Bauern über Weideflächen und das ökonomische
Überleben in einer kargen Region ausgetragen wird.
({5})
Wir haben sogar die Befürchtung, dass das absehbare
Scheitern zur Eskalation des Militäreinsatzes auch in
dieser Region benutzt werden wird.
Der Sicherheitsrat hat bereits ein Mandat für militärische Zwangsmaßnahmen nach dem VII. Kapitel der
UNO-Charta mit seinen Resolutionen ausgestellt, obwohl das für die gegenwärtige AMIS-Überwachungsmission überhaupt nicht notwendig ist.
({6})
Der aktuelle Einsatz ähnelt eher einem Blauhelmeinsatz.
Wir haben es also hier schon mit einem Vorratsbeschluss
zu tun, der ohne Schwierigkeit - wir kennen das, das
Beispiel der USA lehrt uns das - so interpretiert werden
kann, wie es die International Crisis Group heute schon
haben will: Erweiterung und Eskalation, Einsatz von
EU und NATO.
Sie mögen das alles für sehr weit hergeholt halten.
({7})
- Herr Struck, nehmen Sie Ihre eigenen Äußerungen als
Verteidigungsminister - heute sind Sie Fraktionsvorsitzender - ernst. Sie kündigten im Juni dieses Jahres an,
dass die Bundeswehr bald auch in Afrika präsent sein
müsse.
Den Hintergrund und die Motivation für eine solche
Afrikastrategie der Bundeswehr hat offensichtlich bereits ein Jahr vorher Herr Pflüger geliefert. Herr Pflüger,
wenn Sie sich dieses Artikels nicht mehr erinnern können, kann ich Ihnen den Artikel gern zeigen. Ich zitiere
aber erst einmal daraus.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meckel, SPD-Fraktion?
Gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben hier eben deutlich gemacht, wie schwierig die Situation in Afrika ist
und dass nicht genügend geschehen ist, um den Terror
gegenüber der Zivilbevölkerung zu beenden. Sie haben
auch den Vorschlag der International Crisis Group angeführt, die sagt: Die Afrikaner werden auch mit der Hilfe,
die geleistet wird, nicht mit den Problemen fertig. Das
heißt, die EU oder die NATO sollten etwas tun; wir sollten uns also stärker engagieren - ich persönlich bin übrigens dafür. Müssten Sie nicht sagen: „Um den Konflikt,
das Sterben und das Leid zu beenden, müssen wir auf jeden Fall fortsetzen, was wir bisher getan haben, und
müssen eher noch mehr tun, dürfen aber auf keinen Fall
Hilfsgesuche ablehnen“?
Herr Meckel, das ist Ihre Logik. Unsere Logik funktioniert andersherum. Wir sagen: In solchen Konflikten,
die ökonomische, soziale Ursachen haben, müssen wir
ganz anders reagieren.
({0})
Wir kennen das zu lange, als dass wir dann sagen würden: Rein mit dem Militär!
Darf ich jetzt zitieren? Ich habe Herrn Pflüger noch
nicht zitiert; auf dieses Zitat kommt es an. Er sagte:
Weil Europa ... zunehmend Energie aus anderen
Regionen importieren muss, müssen wir dem afrikanischen Ölreichtum als Potenzial zur Diversifizierung unserer Bezugsquellen mehr Aufmerksamkeit schenken. ... Anders als wir haben die USA die
Bedeutung des afrikanischen Öls bereits erkannt
und werden 2015 ein Viertel ihrer Öleinfuhren aus
Westafrika bestreiten.
Er erwähnt dann in dem Artikel in aller Offenheit, dass
zur Sicherung dieser Ressourcen auch militärischer Einsatz notwendig werden könne. Herr Pflüger, ich werde
Ihnen den Artikel geben.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie
ist zu Ende.
Darf ich das noch kurz zu Ende führen?
Bitte.
Herr Pflüger, Sie sind ja kein einsamer Professor, sondern Sie sind jetzt Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Das hat Gewicht.
Wir erkennen schon all die Probleme an. Wir wissen
aber auch, dass ein seit einem Jahr erfolgloser Weg auch
in der Zukunft nicht mehr Erfolg haben wird. Wir befürchten, dass das der Ansatz für eine Afrikastrategie ist,
gegen die wir immer sein werden. Deswegen können wir
Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Rede noch
eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Paech, ich verstehe viele Ihrer Argumente, auch das mit dem Öl. Aber geben Sie mir Recht,
dass es ein ganz wichtiges Anliegen von uns Europäern
sein muss, dass die afrikanischen Völker, die afrikanischen Staaten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand
nehmen und solche schrecklichen Konflikte mit so vielen
Toten selber regeln? Die Afrikanische Union tritt zum
ersten Mal - soweit ich mich erinnere - derart gemeinschaftlich auf, um in diesem Konflikt Frieden zu garantieren, und hat um unsere Hilfe im logistischen Bereich
gebeten, weil sie ohne unsere Hilfe - nicht nur Deutschlands, sondern auch der Europäischen Union - ihre Aufgabe dort nicht wahrnehmen kann. Stimmen Sie mir zu,
dass es deshalb in diesem Falle völlig unverantwortlich
wäre, die Afrikanische Union in dieser wichtigen Mission allein zu lassen, und dass die Selbstbestimmung der
Afrikaner und die Selbstregulierung afrikanischer Probleme durch die Afrikaner selber unterlaufen würden,
wenn wir hier dem Antrag heute nicht folgen würden?
({0})
Herr Ströbele, es ist ja richtig, dass der Ansatz, die
afrikanischen Staaten das selbst machen zu lassen und
sie dabei zu unterstützen, von uns akzeptiert werden
muss.
({0})
Das Problem ist allerdings die Frage: Mit welchen Mitteln? Die Mittel sind entscheidend.
({1})
Im Auswärtigen Amt gibt es ein Referat, das sich mit
Konfliktprävention und Mediation beschäftigt. Es gibt
sehr viele Mittel zur Friedensförderung, die ohne militärische Einsätze auskommen. Diese Instrumente müssen
wir nutzen.
({2})
Durch den Einsatz dieser Mittel haben wir in den vergangenen 20, 30 Jahren Reputation erworben, auch in
Afrika. Der Einsatz der Bundeswehr bzw. militärischer
Mittel wird zu einer Eskalation und zu immer größeren
Problemen führen bis hin zu der Situation, die wir in
Afghanistan haben: dass der Terror zu uns kommt.
({3})
Deswegen sagen wir zur militärischen Unterstützung
Nein.
({4})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Dazu herzlichen Glückwunsch und weiterhin alles Gute!
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.
Es tut mir sehr Leid, dass ich am heutigen Freitag
noch eine Kurzintervention machen muss. Aber da Sie,
Herr Kollege Paech, heute eine Behauptung wiederholt
haben, die Sie bereits gestern im Auswärtigen Ausschuss
und auch in der „Frankfurter Rundschau“ aufgestellt haben, die allerdings nicht wahr ist, muss ich dazu ein paar
klärende Worte sagen.
Ich habe im Jahr 2004 in der Zeitschrift „Die Politische Meinung“ einen Artikel geschrieben, den ich inzwischen auch noch einmal gelesen habe. Auf Seite 5 dieses
Artikels habe ich in der Tat ausgeführt, dass es zur
Diversifizierung unserer Energiequellen notwendig ist,
auch das Öl in Afrika nicht aus den Augen zu verlieren.
({0})
Andere Länder, zum Beispiel die Vereinigten Staaten
von Amerika, tun das seit langem.
Daraufhin habe ich mich in diesem Artikel allen möglichen Problemen, die es in Afrika gibt, zugewandt: zum
Beispiel Aids, der Benachteiligung von Frauen und der
Bekämpfung von Seuchen.
({1})
Auf Seite 8 habe ich mich - allerdings in einem völlig
anderen Zusammenhang - zu dem geäußert, was eben
auch der Minister gesagt hat: dass wir NEPAD unterstützen und der Afrikanischen Union dabei helfen, selbst
militärisch einzugreifen. Diese Ausführungen hatten mit
dem Thema Energiequellen überhaupt nichts mehr zu
tun. Vielmehr handelte es sich um eine Grundsatzbetrachtung.
In absoluter Kontinuität zu den vorherigen Bundesregierungen habe ich dann darauf hingewiesen, dass es
Fälle geben könne, in denen diese Mittel der Afrikanischen Union versagen, sodass auch wir - der UN-Charta
entsprechend und gemeinsam mit anderen europäischen
Ländern - einen militärischen Beitrag leisten müssten,
wie es zum Beispiel bei der Artemis-Mission im Kongo
der Fall war.
Wenn Sie also weiterhin behaupten, dass ich zur Sicherung von Energiequellen die Bundeswehr einsetzen
will, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist die Unwahrheit. Ich fordere jeden, der das glaubt, auf, meinen Artikel zu lesen. Es ist absurd, diese Behauptung aufrechtzuerhalten. Notfalls werde ich Sie rechtlich dafür belangen.
({2})
Herr Kollege, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
({0})
Herr Pflüger, ich finde es entlastend, wenn Sie sich
jetzt von dem Inhalt Ihres Artikels distanzieren.
({0})
Er trägt ja die Überschrift „Unsere Interessen in Afrika“.
Wenn in diesem Kontext die militärische Karte gezeigt
wird, dann betrifft das ja nicht nur die Probleme Aids
und Armut,
({1})
sondern auch Rohstoffe; denn das sind unsere Interessen.
Da Sie in diesem Bereich arbeiten, werde ich Sie in
Zukunft daran erinnern, dass Sie sich in diesem Kontext
gegen jegliche militärische Intervention und gegen jegliches Engagement in Afrika ausgesprochen haben.
Ich danke Ihnen.
({2})
Bevor wir die Beratungen fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Sie bitten, Ihre Unterhaltungen nach Möglichkeit einzustellen und Ihre Aufmerksamkeit den beiden letzten Rednern zu geben.
Das Wort hat nun die Kollegin Uschi Eid, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Abgeordneter Paech, ich bin tief erschüttert von den Argumenten, die Sie hier geliefert haben.
({0})
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Meine Partei ist vor
elf Jahren nicht auf die Straße gegangen, um dafür zu demonstrieren, dass man in Ruanda militärisch interveniert, um einen Völkermord zu verhindern.
({1})
Ich schäme mich dafür noch heute! Gott sei Dank haben
sich meine Partei und meine Fraktion von dieser fundamentalistischen Haltung abgewandt,
({2})
aber ohne den Pazifismus als Prinzip unserer Außenpolitik über Bord zu werfen. Ich finde, davon können Sie lernen!
({3})
Ich möchte Ihnen einen ersten Grund nennen, warum
man das Mandat unterstützen sollte. Ich lade Sie alle ein,
mit mir den Film „Hotel Ruanda“ anzusehen.
({4})
Darin wird nämlich sehr deutlich, was es bedeutet, wenn
die Blauhelme kein robustes Mandat haben:
({5})
Dann können sie die Gefangenen, die Flüchtlinge, die
Männer und die Frauen nicht schützen.
({6})
Denken Sie doch nur an Ihre Freunde aus der Zeit der internationalen Solidarität,
({7})
etwa Thabo Mbeki, den Vorsitzenden des ANC. Sie haben diese Organisationen damals unterstützt, als sie den
militärischen Kampf geführt haben.
({8})
Damals haben weder Sie noch ich danach gefragt, ob die
Probleme dadurch eskalieren. Sie müssen in Ihrer Argumentation schon stringent sein!
Joaquim Chissano, der Vorsitzende der Frelimo, einer
Partei, die den Befreiungskampf geführt hat, sagt uns
heute: Wir brauchen die Unterstützung der Europäer.
Was sagen Sie denn Chissano oder dem von Ihnen immer sehr geachteten Linken Dr. Salim Achmed Salim,
der OAE-Generalsekretär war? Sie sind es doch, die uns
heute auffordern, sie auch militärisch zu unterstützen:
weil die AU heute noch nicht in der Lage ist, alles selbst
in den Griff zu bekommen.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
({0})
- Dass ich feige wäre, muss ich mir von Ihnen nicht vorwerfen lassen!
({1})
Ich weiß nämlich, was es bedeutet, in dieser Frage eine
ganz klare Meinung zu haben: In den 80er-, 90er-Jahren
haben nämlich Freunde in meiner Partei Ausschlussanträge gegen mich gestellt: weil ich immer für eine humanitär begründete militärische Intervention war. Da war
ich alles andere als feige; das kann ich Ihnen sagen!
({2})
Ich will noch einen zweiten Grund nennen: In diesem
Konflikt stehen auf der einen Seite die Regierung in
Khartoum - eine ganz elitäre politische Klasse, die nur
das Interesse hat, das Land für sich, für die eigene Tasche auszuplündern -, die Reitermilizen und die Rebellenorganisationen - die auch immer mehr zu Tätern werden - und auf der anderen Seite das Volk: Frauen,
Männer, Kinder, die vertrieben werden, die ermordet
werden, die vergewaltigt werden. Dann frage ich Sie:
Auf wessen Seite stehen Sie denn als Linke?
({3})
Als Linker steht man doch auf Seite der Opfer und nicht
auf der Seite der Täter! Doch auf der Seite der Täter
steht man, wenn man sich raushält. Durch Wegschauen
macht man sich schuldig!
({4})
Der dritte Grund, weshalb es gut ist, diesen Antrag zu
unterstützen: Es ist die Afrikanische Union - der Kollege Ströbele ist sehr ausführlich darauf eingegangen -,
die eigene Verantwortung übernehmen will. Sie versucht
dies seit zehn Jahren, nachdem Gott sei Dank das OAEPrinzip der Nichtintervention über Bord geworfen worden ist und die Afrikaner sich selber eine neue Friedensund Sicherheitsarchitektur gegeben und damit eine völkerrechtliche Grundlage für solche Interventionen geschaffen haben. Diese AU bittet uns, sie zu unterstützen.
({5})
Sie aber stellen sich hier hin und sagen: Nein, nicht mit
uns. - So geht das nicht.
({6})
Frau Präsidentin, dies ist meine erste Rede in dieser
Legislaturperiode, aber zugleich meine letzte Rede in
diesem Jahr. Ich wünsche Ihnen allen schöne Feiertage,
in die wir gehen können, nachdem wir diesen Antrag unterstützt haben.
({7})
Wir sind noch nicht am Ende dieser Debatte. Das
Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Heike
Hänsel von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Liebe Uschi Eid, ich komme aus der Friedensbewegung in Baden-Württemberg. In den letzten 20 Jahren
war ich sehr viel auf der Straße. Die Grünen habe ich in
Jugoslawien nie erlebt. Ich habe nicht erlebt, dass die
Grünen im Vorfeld der Ereignisse in Ruanda Aktionen
entwickelt haben. Wir haben Entwürfe für eine alternative Politik entwickelt. Wir haben vorgeschlagen, alternative Medien zu unterstützen. Ich habe die Grünen nirgends gesehen, auch Sie nicht, liebe Uschi Eid. Ich habe
die Grünen in Belgrad nicht gesehen, als Kriegsgegner
die Grünen gefragt haben, wo sie bei der Unterstützung
gegen Milosevic sind.
({0})
Sie haben keine friedenspolitische Praxis entwickelt.
Das Militär ist für Sie Ersatz. Deswegen sind Sie in dieser
Form gegen neue Ansätze, wie wir sie hier einbringen.
Wir haben eine politische Praxis, weil wir uns über Konflikte vor Ort informieren. Wer von Ihnen war im Sudan?
Wer von Ihnen weiß, was die Menschen dort brauchen?
Wir müssen uns über Konflikte konkret kundig machen
und dürfen andere nicht propagandistisch und emotional
in die Ecke stellen. Das erwarte ich von Ihnen.
({1})
Wir müssen über das Parlament hinaus aktiv werden
und uns konkret anschauen, was Militär vor Ort bedeutet. Sie betreiben hier reine Demagogie.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Anke Eymer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte von
dieser Stelle aus Uschi Eid sehr herzlich zu ihren Worten
gratulieren. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen,
dass im Sudan ein brutaler Bürgerkrieg herrscht. Milizen töten und marodieren. Millionen sind auf der Flucht
in andere Regionen und in das Nachbarland Tschad. Wir
wissen, wie schrecklich die Auswirkungen sind. Der Minister hat detailliert von der humanitären Katastrophe
gesprochen.
Es besteht weiterhin die Gefahr der Destabilisierung
sowohl des Sudans als auch der Region insgesamt. In einer Zeit des internationalen Terrorismus muss die Staatengemeinschaft alles unternehmen, um dies zu verhindern. Ein Land wie der Sudan darf nicht zu einem
unkontrollierbaren Rückzugsbecken für verschiedene
terroristische Gruppen werden. Ein internationales Eingreifen zum Schutze der bedrohten Bevölkerung auf der
Grundlage der UN-Resolution 1556 aus dem vergangenen Jahr war und ist unerlässlich.
({1})
Ich bin Uschi Eid sehr dankbar dafür, dass sie die
Rolle der Afrikanischen Union hier noch einmal deutlich herausgestellt hat. Die Afrikanische Union hat sich
in dieser Frage entscheidend engagiert. Wir sprechen
heute über die Verlängerung unserer Unterstützung der
AMIS-Mission und stimmen darüber ab. Ziel der AMISMission der Afrikanischen Union ist es, die Einhaltung
eines Waffenstillstands zwischen den Konfliktparteien
durch eine erhöhte Präsenz von Beobachtern zu überwachen. Sie trägt zur Stabilisierung der Lage bei und ermöglicht humanitäre Hilfeleistungen sowie den Schutz
unmittelbar betroffener Bevölkerungsteile.
Die AMIS-Mission der AU war und ist dabei unverzichtbar auf die Unterstützung der Vereinten Nationen
und der EU angewiesen. Deutschland hat seine Unterstützung als Ausdruck seiner internationalen Solidarität
und humanitären Verpflichtung zugesagt. Die internationalen Bemühungen haben partiell zu mehr Sicherheit für
die Bevölkerung und auch zu einer Verbesserung der humanitären Hilfe geführt. Angesichts der herrschenden
Gewalt ist dies alles aber nur Stückwerk.
Die im Jahr 2004 in diesem Haus getroffene Entscheidung, den Einsatz der Afrikanischen Union zur Lösung
des Konflikts durch den Einsatz der Bundeswehr zu unterstützen, war richtig. Es ist eine logische Konsequenz
und eine humanitäre Unumgänglichkeit, in dem begonnenen Bemühen nicht nachzulassen. Das heißt: Zur Verlängerung der Unterstützung von AMIS durch die Bundeswehr kann und darf es keine Alternative geben.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung verdient
daher eine breite Zustimmung, damit eine Verlängerung
des Einsatzes der Bundeswehr ermöglicht werden kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Bundesregierung auf Drucksache 16/100 zur Fortset-
zung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte
zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der
Afrikanischen Union in Darfur im Sudan. Dazu liegt
eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Kol-
legen Jürgen Koppelin1) vor. Der Ausschuss empfiehlt
auf Drucksache 16/268, den Antrag anzunehmen. Es ist
namentliche Abstimmung verlangt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Wie mir gerade gesagt wurde, fehlt links oben von meiner Seite aus noch
ein Schriftführer der FDP-Fraktion. Ich bitte, auch diesen Platz einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen
besetzt? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die
Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf kurz um
Ihre Aufmerksamkeit bitten. Die Stimmkarten des Kollegen Dr. Ramsauer sind seinem Fach entnommen worden, aber von jemandem, dem sie wohl nicht gehören,
also nicht vom Kollegen Ramsauer.
({0})
Weiß jemand, wo sie sein könnten? Wir kümmern uns
sofort um Ersatz und werden kurzfristig klären, wie wir
das mit der laufenden Abstimmung regeln. Einen kleinen Moment.
({1})
Jetzt hat auch der Kollege Ramsauer seine Karte ab-
gegeben. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend,
das seine Stimme nicht abgeben hat? - Offensichtlich ist
das nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir können die Beratungen nun fortsetzen. Bevor wir
dies tun, bitte ich sehr herzlich darum, dass diejenigen,
die den weiteren Beratungen folgen wollen, Platz neh-
men und die anderen ihre Gespräche außerhalb des Ple-
narsaals führen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-
wie die Zusatzpunkte 10 bis 12 auf:
19 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Siebter Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen
Beziehungen und in anderen Politikbereichen
- Drucksache 15/5800 -
1) Siehe Stenografischer Bericht 10. Sitzung, Anlage 3
2) Ergebnis Seite 603
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai 2004 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention
- Drucksache 16/42 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung
- Drucksache 16/197 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhardt Müller-Sönksen, Florian Toncar,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Menschenrechte in Usbekistan einfordern
- Drucksache 16/225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter
- Drucksache 16/226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer von der
SPD-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der siebte
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung bescheinigt
dem Iran nur wenige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte in den letzten Jahren. Dennoch bestand in
den letzten Jahren die Hoffnung, dass reformorientierte
Kräfte im Iran mehr erreichen könnten. Diese Hoffnung
ist seit der Entwicklung der letzten Woche verflogen. In
diesen Tagen erreichen uns fast täglich neue erschreckende Nachrichten aus dem Land.
Nachdem der ehemalige Präsident Chatami menschenrechtsrelevante Reformen - wenn auch mit kleinen
Schritten - auf den Weg gebracht hat und in seiner Ära
die Zivilgesellschaft gestärkt wurde, wurde weltweit die
Wahl von Ahmadinedschad zum neuen Präsidenten des
Iran sehr kritisch beobachtet. Heute wissen wir: Unsere
schlimmsten Befürchtungen werden noch übertroffen.
Der Aufruf des iranischen Präsidenten zur „Auslöschung“ der staatlichen Existenz Israels und zur Leugnung des Holocaust ist nicht nur inakzeptabel, sondern
er ist unfassbar und schockierend.
({0})
Diese Äußerungen lassen jeden zivilisierten Anstand
vermissen. Sie verletzen in ihrer Substanz jegliches Wertegefühl der Völkergemeinschaft und rufen nicht nur im
Westen, sondern bis weit in die arabische Welt hinein zu
Recht tiefe Empörung hervor. Deshalb ist es zwar eine
Selbstverständlichkeit, die aber an diesem Tag und von
dieser Stelle aus gegebenem Anlass unmissverständlich
wiederholt werden muss: Das Recht Israels auf seine
staatliche Existenz, auf ein Leben in international anerkannten Grenzen, frei von Angst, Terror und Gewalt
- ich füge hinzu: das gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes -, aber auch
die historische Wahrheit des Holocaust als organisierter
Völkermord und die daraus resultierende Verantwortung
waren, sind und bleiben konstitutive Bestandteile deutscher Politik nach innen und außen, gerade auch im Bereich der Menschenrechtspolitik.
({1})
Den Äußerungen des iranischen Präsidenten kann ich
nur eines entgegenhalten: Das ist eine Verhöhnung von
mindestens sechs Millionen Opfern der Schoah. Wir
Deutschen stehen national wie auch international zu dieser Verantwortung und wir sollten die Bundesregierung
bitten, dies auch vor den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen zur Sprache zu bringen. Ich halte das für
notwendig.
({2})
Der siebte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist nach unserer Auffassung ein hervorragendes
Kompendium sowohl in den großen Leitlinien als auch
in den Einzelheiten und der institutionellen Absicherung
deutscher Menschenrechtspolitik der letzten Jahre. Ich
danke allen, die an der Erstellung mitgewirkt haben insbesondere unserer Vorgängerregierung; Sie haben sicherlich Verständnis dafür -, dass sie den Bericht mit
den darin behandelten Inhalten in einer Weise auf den
Weg gebracht haben, die deutlich macht, dass die deutsche Regierung - ich gehe von der Kontinuität dieser
Politik auch unter der neuen Regierung aus - Menschenrechtspolitik als einen Querschnittsbereich betrachtet,
der alle außen- und innenpolitischen Belange berührt.
Deshalb müssen wir als Parlament dafür sorgen, dass die
Menschenrechtspolitik bei allen politischen Aktivitäten
im Vordergrund steht und mit verhandelt wird. Insofern
begrüßen wir die Vorlage des Berichts sowohl hinsichtlich seiner Form als auch hinsichtlich seines Inhalts.
({3})
Wir begrüßen auch - aus gutem Grund -, dass die
Menschenrechtspolitik in unserem Land Schritt für
Schritt stärker institutionell verankert worden ist. Wir
begrüßen außerordentlich und bewerten sehr positiv die
Arbeit des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der
Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und
im Bundesministerium der Justiz wie auch die institutionelle Verankerung im Forum Menschenrechte in dem
Dialog mit den NGOs, die bei der Umsetzung der Menschenrechtspolitik weltweit unverzichtbar sind.
({4})
Ich füge hinzu: Wir sind auch sehr dankbar dafür,
dass die Bundesregierung dem Auftrag des Parlaments
nachgekommen ist und einen nationalen Aktionsplan
zur Umsetzung der Menschenrechtspolitik als integralen
Bestandteil in den Bericht aufgenommen und als Handlungslinie für die Politik und damit auch für uns vorgegeben hat.
Ich möchte noch zu einigen Punkten in materieller
Hinsicht Stellung nehmen, die im siebten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung eine gewisse Rolle
spielen. Ich möchte mit einem Punkt beginnen, der sehr
deutlich macht, wie sich die Bundesregierung und die internationale Politik, die von uns betrieben wird, zur
Todesstrafe verhalten. Wir haben durch die gerade stattgefundenen Hinrichtungen in den Vereinigten Staaten
wieder erlebt, dass auch in Ländern der westlichen Hemisphäre das Thema Todesstrafe noch zu diskutieren ist.
Wir erinnern an dieser Stelle die Regierung der Vereinigten Staaten an ihre internationalen Verpflichtungen aus
den entsprechenden VN-Konventionen. Wir erwarten,
dass hier Klartext gesprochen wird. Die Todesstrafe ist
unmenschlich und darf kein Mittel der Repression in einer staatlichen Gemeinschaft sein.
({5})
Im Jahr 2004 wurden 3 800 Todesurteile in 25 Staaten
vollstreckt. lch erwähne dabei ausdrücklich, dass davon
nach unseren Kenntnissen 3 400 allein in China vollzogen wurden. Die klare Botschaft lautet deshalb: Dies
muss ständig ein Thema aller Gespräche sein, die wir
mit unseren internationalen Partnern führen.
({6})
- Wir sind hier sicherlich einer Meinung, jedenfalls was
mich betrifft.
Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der
die Innenpolitik betrifft. Als Schwerpunkt der Innenpolitik ist im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
die Flüchtlings- und Asylpolitik festgelegt. Wir haben
im Koalitionsvertrag unter anderem festgehalten, dass
das Zuwanderungsgesetz, auf das wir, die alte Koalition,
stolz sind, anhand der Anwendungspraxis überprüft
wird. Dabei geht es für uns insbesondere um eine befriedigende Lösung des Problems der so genannten Kettenduldung. Ich halte eine vernünftige Altfallregelung
- wenn man dieses Wort ausspricht, wird einem schon
ein bisschen schummerig - für dringend geboten,
({7})
da das neue Aufenthaltsgesetz die Erwartungen hier
nicht erfüllt. Ich frage: Welchen Sinn macht es, Kinder
abzuschieben, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, deren Muttersprache Deutsch ist, die das
Land ihrer Eltern nie gesehen haben und deren Sprache
nicht oder nur kaum sprechen, die sich hier bei uns integriert haben? Welchen Sinn macht es, Menschen, die
hier seit langem leben, arbeiten und Steuern und Sozialabgaben zahlen, plötzlich die Arbeitserlaubnis zu verweigern und sie damit in die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu bringen, die wir doch - zu
Recht - reduzieren wollen? Die Innenministerkonferenz
hat sich gerade wieder einmal mit diesem Thema ohne
Ergebnis befasst. Wir werden einfordern, dass dieses
Thema auf der Tagesordnung bleibt und dass eine entsprechende Regelung kommt. Es geht um „nur“
200 000 Menschen.
Das Menschenrechtsthema ist allumfassend. Wir haben in diesem Jahr schwere Katastrophen erlebt: den
Tsunami und die Erdbeben in Pakistan, wo es sehr viele
Opfer gab und die Menschen noch heute um ihre Existenz bangen. Ich möchte deshalb all denjenigen herzlich
danken, die im Auftrag der internationalen Staatengemeinschaft, von Regierungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen, in den betroffenen Ländern eingesetzt sind, insbesondere den Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr - ich betone das angesichts der Debatte,
die wir gerade geführt haben; ich glaube, ich muss mich
nicht dafür entschuldigen, dass ich im Sudan war und
gesehen habe, was dort passiert -, die für Frieden und
Menschenrechte in der ganzen Welt eintreten. Ich wünsche ihnen allen ein friedliches und möglichst katastrophenfreies Jahr sowie der Menschenrechtspolitik eine
gute Zukunft.
Herzlichen Dank.
({8})
Bevor wir zum nächsten Redner kommen, komme ich
zum Tagesordnungspunkt 18 zurück und gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung des
Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS auf den
Drucksachen 16/100 und 16/268 bekannt. Abgegebene
Stimmen 542. Mit Ja haben gestimmt 487, mit Nein haben gestimmt 39, Enthaltungen 16. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung sind
angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 542;
davon
ja: 487
nein: 39
enthalten: 16
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Maria Eichhorn
Anke Eymer ({1})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Siegfried Kauder ({7})
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({8})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Paul Lehrieder
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Stephan Mayer ({10})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Maria Michalk
Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Bernward Müller ({13})
Bernd Neumann ({14})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Rupprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({15})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({16})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Richard Schiewerling
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({17})
Andreas Schmidt
({18})
Ingo Schmitt ({19})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({20})
Gerald Weiß ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ernst Bahr ({22})
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Dr. Axel Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({23})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({25})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({26})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({27})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({28})
Frank Hofmann ({29})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({30})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({31})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({32})
Dr. Matthias Miersch
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({33})
Michael Müller ({34})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({35})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({36})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Michael Roth ({37})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({38})
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Ulla Schmidt ({39})
Silvia Schmidt ({40})
Heinz Schmitt ({41})
Carsten Schneider ({42})
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({43})
Swen Schulz ({44})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({45})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({46})
Heidi Wright
Uta Zapf
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Uwe Barth
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({47})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({48})
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({49})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
Martin Zeil
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Hans Josef Fell
Joseph Fischer ({53})
Kai Boris Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Priska Hinz ({54})
Dr. Anton Hofreiter
Ute Koczy
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({55})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({56})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Gerhard Schick
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({57})
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Wolfgang Börnsen
({58})
FDP
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Sevim Dagdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger-Neuling
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Ulrich Maurer
Kornelia Möller
Elke Reinke
Paul Schäfer ({59})
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Gert Winkelmeier
Enthaltung
FDP
Otto Fricke
Gisela Piltz
DIE LINKE
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Dr. Gesine Lötzsch
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Petra Pau
Volker Schneider
({60})
Dr. Petra Sitte
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nun setzen wir die Beratung zum Tagesordnungspunkt 19 fort. Das Wort hat der Kollege Florian Toncar,
FDP-Fraktion.
({61})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sollten die heutige Parlamentsdebatte über
den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung dazu
nutzen, eine Standortbestimmung der deutschen
Menschenrechtspolitik vorzunehmen, und zwar sowohl
im Hinblick auf die Situation in anderen Staaten als auch
im Hinblick auf die Menschenrechtssituation hier bei
uns in Deutschland. Im Hinblick auf die anderen Staaten
wird es nicht immer streitig sein, ob die Menschenrechtssituation in dem jeweiligen Land für uns befriedigend ist. Das sehen wir oft ähnlich. Viel eher erwarte ich
Diskussionen mit der neuen Bundesregierung darüber,
ob die Bundesregierung dem Thema Menschenrechte in
Konkurrenz zu anderen wichtigen außen- oder wirtschaftspolitischen Interessen oder Zielen ein angemessenes Gewicht beimisst.
({0})
Ich habe eine angemessene Gewichtung der Menschenrechte beim Auftreten anderen Ländern gegenüber
in der Vergangenheit nicht selten vermisst. Ganz gleich,
ob es um die massiven Menschenrechtsverletzungen in
China oder um den schrittweisen Abbau des Rechtsstaates in Russland ging - in beiden Fragen hat der ehemalige Bundeskanzler die allen bekannten sehr eigenen Akzente gesetzt. Der ehemalige Bundesaußenminister hat
sich ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in
Menschenrechtsfragen schrittweise zu einem Leisetreter
entwickelt. Leider.
({1})
Auf die Kritik an einer oft allzu kumpeligen, Schattenseiten ausblendenden Russland- oder Chinapolitik
wurde oft entgegnet, denjenigen, die das vortrügen, gehe
es in Wahrheit doch nur darum, die Partnerschaft zu diesen Ländern zu diskreditieren. Das wurde zum Teil auch
gestern wieder angedeutet. Dazu kann ich nur eines sagen: Es ist doch das russische Volk, das darunter leidet,
dass Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, dass
Demokratie und Rechtsstaat beschnitten werden. Von
Tschetschenien reden wir gar nicht erst.
({2})
Wir akzeptieren auch nicht, dass in China Dissidenten
unterdrückt werden, dass in Gefängnissen gefoltert wird,
dass Minderheiten ihre kulturelle Identität preisgeben
sollen oder dass gegenüber Taiwan mit dem Säbel gerasselt wird. All das ist es doch, was die Menschen bewegt
und worunter die Menschen in diesen Ländern am meisten leiden. Wir verstehen Freundschaft zu diesen Ländern auch und gerade als Freundschaft zu den Menschen
und nicht zu einer bestimmten Staatsführung.
({3})
Aber wenn wir Deutsche - für unsere Verbündeten
gilt das Gleiche - anderen gegenüber in der ganzen Welt
glaubhaft für unsere Werte eintreten wollen, dann müssen wir sie selbst mit größter Konsequenz und am
strengsten Maßstab gemessen vorleben.
({4})
Aus diesem Grunde halte ich es für völlig inakzeptabel,
wenn im Kampf gegen den Terrorismus in Guantanamo und offensichtlich leider auch an vielen anderen
Orten dieser Welt Menschen quasi rechtlos gestellt, ohne
richterliche Anordnung, ohne Rechtsbehelfe, ohne Kontakt zu Angehörigen und ohne Kontakt zu Anwälten
festgehalten und vernommen werden. An dieser Stelle
verbieten sich jegliche Diskussionen über die Frage, ob
das, was dort gemacht wird, Folter oder vielleicht gerade
so keine Folter mehr ist.
({5})
Ich denke, dass es unzweifelhaft ist, dass der Zwang,
über mehrere Stunden oder vielleicht sogar Tage stehen
zu bleiben, oder gar die Praxis, diese Menschen durch
die Simulation von Ertrinken in Todesangst zu versetzen,
({6})
menschenunwürdig ist und von uns nicht akzeptiert werden kann.
({7})
Deshalb muss man den USA mit aller Klarheit sagen:
Wer im Kampf für die Freiheit und die offene Gesellschaft Menschenrechte selbst massiv verletzt, der sägt an
dem Ast, auf dem er selber sitzt. Das müssen die Amerikaner begreifen.
({8})
Letztendlich geht es bei aller Repression gegen die
Terroristen, die schreckliche Verbrecher sind, um eine
andere Frage. Der Terrorismus ist wesentlich durch die
Auseinandersetzung in vielen islamischen Staaten geprägt. Es geht um die Frage, ob wir einen Gottesstaat
oder eine islamische offene Gesellschaft, eine demokratische Gesellschaft wollen. Wenn wir unser eigenes Gesellschaftsmodell diskreditieren, indem wir unsere eigenen Werte selbst nicht vorleben, dann schwächen wir
doch die Menschen in den islamischen Ländern, die wir
eigentlich als Unterstützer brauchen, damit sich auch in
diesen Ländern Menschenrechte und Demokratie durchsetzen können.
({9})
Das ist der Grund, warum Menschenrechtsverletzungen
im Kampf gegen den Terror nicht allein illegitim, sondern auch schlicht und ergreifend dumm sind.
Wenn sich bewahrheiten sollte, dass deutsche BKABeamte an Verhören in Syrien oder anderswo teilgeFlorian Toncar
nommen haben, und zwar in Gefängnissen, in denen bekanntermaßen regelmäßig gefoltert worden ist,
({10})
dann stellen sich auch an das Innenministerium weitere
drängende Fragen. Die werden Ihnen nicht erspart bleiben.
Auch die überzogenen Sicherheitsgesetze, die in
Deutschland in den letzten Jahren verabschiedet wurden
- der neue Bundesinnenminister will Berichten zufolge
auf diesem Gebiet fleißig weitermachen -, werden wir
kritisch bewerten. Wo Bürger unter Generalverdacht gestellt werden - das geschieht auch hier in Deutschland -,
wo die Beweislast plötzlich beim Bürger liegt, da wird
das Menschenbild unserer Verfassung ins Gegenteil verkehrt. Die FDP hält diese Tendenz für ausgesprochen gefährlich.
({11})
Wir wünschen uns auch in Deutschland wirksame
Präventionsinstrumente gegen Menschenrechtsverletzungen. Ein Antrag, der Ihnen vorliegt, enthält den Vorschlag, zu UN-mandatierten Militäreinsätzen Menschenrechtsbeobachter zu schicken. Darüber hinaus sprechen
wir uns auch dafür aus, dass Deutschland das Zusatzprotokoll zur Folterkonvention zügig unterzeichnet. Dieses
Protokoll enthält wichtige Präventionsinstrumente zur
Verhinderung von unmenschlichen Behandlungen.
Der Prototyp eines fundamentalistischen Gottesstaates hat im Übrigen jüngst mehrfach sein wahres Gesicht
gezeigt; ich meine den Iran. Was dort abläuft, sind nicht
verquere Fehltritte eines unerfahrenen Provinzpolitikers,
sondern mehrfach vorgetragene, gezielte, wiederholte,
unerträgliche und geradezu widerliche Attacken, die wir
strikt zurückweisen.
({12})
Wer so redet, der stellt sich selbst weit fernab der Grundsätze der Vereinten Nationen und der friedlichen Völkergemeinschaft. Ich freue mich, dass wir als Bundestag
heute eine entsprechende Resolution verabschieden können.
Die FDP wünscht sich eine Bundesregierung, die die
deutsche Menschenrechtspolitik aufwertet, die begreift,
dass der Einsatz für Menschenrechte mehr ist als nur
eine Notwendigkeit. Der Einsatz für Menschenrechte ist
gerade nach den deutschen Erfahrungen vom letzten
Jahrhundert schlicht und ergreifend unsere Pflicht.
({13})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause.
({0})
Herzlichen Glückwunsch dazu und weiterhin alles Gute.
({1})
Nun hat die Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Albert Einstein war nicht nur ein genialer Physiker,
sondern auch ein unermüdlicher Verfechter für Frieden
und für Menschenrechte. Das wissen die allerwenigsten.
In der heutigen Menschenrechtsdebatte im Einsteinjahr
2005 will ich daran erinnern, was er im Jahre 1954 gesagt hat:
Die Existenz und die Geltung der Menschenrechte
stehen nicht in den Sternen geschrieben. ... Die Geschichte ist zum großen Teil erfüllt vom Kampf um
Menschenrechte, einem ewigen Kampf, in dem es
keinen endgültigen Sieg geben kann und dessen Erlahmen den Ruin der Gesellschaft bedeuten würde.
Ich sage Ihnen: Einstein hat Recht. Wir dürfen im
Kampf für die Menschenrechte nicht erlahmen. Die
Fraktionen des Deutschen Bundestages haben in der
letzten Legislaturperiode insgesamt bewiesen - das ist
sehr erfreulich -, dass deutsche Politik den weltweiten
Menschenrechten weit über Fraktionsgrenzen hinaus
eine herausragende Bedeutung beimisst.
Der siebte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der - wie von allen Fraktionen des Bundestages
seinerzeit gefordert - zum ersten Mal auch einen
„Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung“
enthält, macht das sehr deutlich.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will, dass Menschenrechtsverletzungen klar benannt werden, wo immer sie vorkommen. Wir treten ganz konsequent dafür
ein, dass Menschenrechte gewahrt, dass Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Eigentlich sollte
man meinen, dass Politiker aller Staaten auf diesem Erdball aus den millionenfachen Menschenrechtsverbrechen
quer durch das 20. Jahrhundert mit Genozid, mit Massenvertreibungen, mit Massenmorden, mit Massenvergewaltigungen und mit dem singulären Holocaust inzwischen die Lehren gezogen haben. - Weit gefehlt! Leider
ist das nicht der Fall. Tagtäglich können wir das beobachten.
Die jüngsten Äußerungen seitens des iranischen Präsidenten machen das jedoch schlaglichtartig ganz erschreckend deutlich. Seine Aufforderung, den Staat Israel nach Europa oder Kanada zu verlegen und die
Israelis dorthin zu vertreiben - nichts anderes bedeutet
das -, ist zutiefst empörend und menschenverachtend.
({0})
Wenn dieser Präsident tatsächlich glaubt - ich glaube
ihm wiederum nicht, dass er das wirklich glaubt -, dass
der Holocaust ein Märchen sei, empfehle ich ihm einen
Besuch in Auschwitz; dann wird er wohl eines Besseren
belehrt werden.
({1})
Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Paul
Spiegel, hat völlig Recht mit seiner Feststellung, dass die
Äußerungen des iranischen Präsidenten ungeheuerlich,
widerwärtig und abscheulich sind.
({2})
In einem aber muss ich Paul Spiegel wirklich widersprechen: Das jüdische Volk wird nicht allein gelassen, wie
er meint. Die Bundesrepublik Deutschland, alle ihre Regierungen und der Deutsche Bundestag standen und stehen an der Seite Israels und seiner Menschen. Das ist
kein Lippenbekenntnis, sondern das ist Gott sei Dank
tagtäglich gelebte Politik und das wird so bleiben.
({3})
Der interfraktionelle Antrag zum Existenzrecht des Staates Israels, der heute mit auf der Tagesordnung steht, belegt diesen Willen ganz nachdrücklich.
Einsteins Mahnung, nicht zu erlahmen im Kampf um
Menschenrechte, gilt auch gegenüber dem Terrorismus.
Terrorismus ist menschenrechtsfeindlich. Unschuldige
Bürger sind täglich die Zielscheibe von Mördern. Die
Terroranschläge des Jahres 2005 in London, in Bali, in
Jordanien, im Irak und in Israel - nur beispielhaft - haben erneut auf grausamste Weise das teuflische Gesicht
des Terrorismus gezeigt.
Wir dürfen auch nicht erlahmen in unserem Engagement für die universelle Ächtung und Abschaffung der
Todesstrafe und in unserem Eintreten gegen Folter. Obwohl 140 Staaten das Antifolterabkommen der Vereinten
Nationen ratifiziert haben oder diesem auch beigetreten
sind, sind Misshandlungen und Folterungen in vielen
Ländern heute immer noch an der Tagesordnung. Das
Verbot von Folter und grausamer, unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe gilt absolut; es
gilt ohne Ausnahme. Ich begrüße, dass sich der amerikanische Kongress und das Weiße Haus gestern endlich auf
ein Antifoltergesetz geeinigt haben. Das ist ein guter
Schritt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen des Weiteren auch nicht erlahmen im Kampf gegen Fluchtursachen und Vertreibung. Nach Schätzungen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen betrug die Zahl
aller Flüchtlinge und Menschen in flüchtlingsähnlichen
Situationen im letzten Jahr 44 Millionen, 10 Prozent
mehr noch als im Jahr davor. Das sind 44 Millionen
menschliche Schicksale und menschliche Tragödien. Es
war im Fall Simbabwes und des Sudans nötig und richtig, dass der Deutsche Bundestag schon im Juni 2005 die
Operation „Murambatsvina“, also „Abfallbeseitigung“,
von Präsident Mugabe einstimmig verurteilt hat.
({5})
Wir dürfen auch nicht erlahmen in unserem Einsatz
für die Prävention, um Menschenrechtsverletzungen zu
verhindern. Die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen ist ein zentrales Anliegen unserer Menschenrechtspolitik. Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, die
Gewähr, dass Menschenrechtsverletzungen nicht straflos
bleiben, sondern geahndet werden, sowie Menschenrechtsbildung sind für eine wirkungsvolle Prävention
wesentlich.
Unverzichtbar für ein weltweites Menschenrechtsbewusstsein sind aber Sanktionen. Es gibt zu wenig Sanktionen. Wenn es sie gibt, kommen sie häufig genug zu
spät. Es darf sich niemals lohnen, Menschen zu quälen,
zu foltern, zu morden oder zu vertreiben. Das geht häufig nur mit Sanktionen.
({6})
Solange es keine ausreichenden international abgesicherten Strafen gibt, ist in vielen Staaten der Welt die
Verlockung groß, sich über Menschenrechte einfach hinwegzusetzen; das ist für manche Staaten sehr bequem.
Deutsche Politik kann und muss in ihrem Handeln dazu
beitragen, dass das Bewusstsein dafür international deutlich geschärft wird.
Auch das will ich hinzufügen: In den vergangenen
Jahren wurden aus meiner Sicht zu oft in bilateralen
Gesprächen Menschenrechtsprobleme aus wirtschaftlichen Erwägungen - da kann ich dem Kollegen von der
FDP nur zustimmen - einfach ausgeklammert. Russland
und China sind Beispiele dafür. Das muss sich ändern.
Man muss auch in befreundeten Ländern und in Ländern, mit denen man Wirtschaftsabkommen trifft, deutlich auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen.
({7})
Unser Ziel ist es, für eine Kultur der Menschenrechte weltweit zu werben und die Herzen dafür zu öffnen. Dazu braucht es ein glühendes Engagement für
Menschenrechte, damit die Welt sich endlich bessert.
Ein friedvolles Weihnachtsfest wünsche ich Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte über den vorliegenden Bericht ist meines
Erachtens nicht von den aktuellen Ereignissen zu trennen. Ein Ex-Außenminister, der sich gerade sehr zurückgezogen hat, hinterließ folgendes schöne Zitat:
Menschenrechte sind kein Luxusgut, kein Orchideenthema, das in den Hintergrund rücken kann,
wenn die Stunde der Sicherheitspolitik wieder
schlägt. Das Gegenteil ist wahr: Die Förderung von
Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist auf Dauer die verlässlichste Grundlage für
Stabilität und Frieden. … Es wäre ein fataler Rückschlag, wenn die Terroristen uns dazu bringen würden, unsere eigenen Werte in Frage zu stellen. Unter keinen Umständen darf es zu einer Aushebelung
von menschenrechtlichen Grundnormen unter dem
Deckmantel von Terrorismusbekämpfung kommen.
({0})
- Da kann man ruhig applaudieren; es war immerhin der
ehemalige Außenminister Joschka Fischer, der das vor
der UN-Menschenrechtskommission gesagt hat, wie im
vorliegenden Bericht nachzulesen.
Aber kann mir vielleicht irgendjemand erklären, wie
dies mit den Vorkommnissen und bisherigen Erkenntnissen im Zusammenhang mit den CIA-Gefangenentransporten und Entführungen deutscher Staatsbürger
durch amerikanische Geheimdienste zusammengeht?
Immerhin hat Herr Fischer zu jener Zeit eine hohe Verantwortung getragen.
Minister Schäuble hat diese Woche hier im Plenum
gesagt, dass Mitarbeiter deutscher Behörden Gefangene
in Guantánamo und Syrien vernommen haben. Das
heißt, wir arbeiten mit ausländischen Geheimdiensten
zusammen, die die elementaren Menschenrechte mit Füßen treten. Das muss man sich einmal vorstellen, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Genau das untergräbt letztendlich unsere Glaubwürdigkeit und leistet denjenigen
Vorschub, die eigentlich bekämpft werden sollen. Ich
finde das unglaublich; das ist unter gar keinen Umständen hinnehmbar.
({1})
Der jetzige Außenminister, Herr Steinmeier, betonte
ebenfalls hier im Plenum gebetsmühlenartig, dass es
zwecks Terrorabwehr notwendig sei, dass Geheimdienste zusammenarbeiten. Wer dies nicht einsehen
würde, sei unverantwortlich. Die Gegenfrage lautet: Ist
es denn verantwortlich, mit Diensten zusammenzuarbeiten, die Lizenzen zum Foltern ausstellen? Ist es verantwortlich, mit Geheimdiensten zusammenzuarbeiten, die
Staatsbürger anderer Länder entführen? Ich denke, nein.
({2})
Und wie verhält sich dies alles nun zu folgender Aussage aus dem Bericht - ich zitiere -:
Die von den Staaten zur Bekämpfung des Terrorismus getroffenen Maßnahmen haben dabei die Menschenrechte zu achten und müssen Gegenstand angemessener Kontrolle sein. Bei der Bekämpfung
des Terrorismus dürfen die Staaten keinesfalls von
den zwingenden Normen des Völkerrechts … abweichen. Insbesondere die Anwendung von Folter,
unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung … ist … unter allen Umständen absolut
untersagt.
Dies steht zumindest unter der Überschrift „Leitlinien
über die Menschenrechte und den Kampf gegen den Terrorismus“.
Unter „Teil D - Aktionsplan Menschenrechte der
Bundesregierung“ wird ausgeführt:
Für die Bundesregierung ist die Einhaltung der
Menschenrechte auch bei der Terrorismusbekämpfung unabdingbar. Sie hat ihre eigene Praxis daran
ausgerichtet und wird darauf auch weiterhin bei ihrer Zusammenarbeit mit anderen Staaten zur Terrorismusbekämpfung sowie in internationalen Gremien bestehen.
Ich möchte die Frage an unseren Außenminister,
Herrn Steinmeier, richten, ob diese Aussagen auch in
Zukunft noch Geltung haben werden oder ob er mit seinen Worten im Plenum einen Kurswechsel ankündigen
wollte. Wenn dem so sein sollte, dann sagen Sie bitte
rechtzeitig Bescheid. Ich kann schon jetzt ankündigen,
dass unsere Fraktion einem solchen Kurswechsel erbitterten Widerstand entgegensetzen wird.
({3})
Weiter heißt es auf Seite 27 des Berichts:
Die Bundesregierung ist in ihren Maßnahmen zur
Terrorismusbekämpfung diesen Prinzipien gefolgt.
Wie soll man das verstehen? Laut Bericht ist sozusagen
alles schön in unserer Menschenrechtspolitik. Aber die
Medien berichten derzeit ununterbrochenen von Entführungsfällen, von Mitwisserschaft der Behörden, von geheimen Gefangenenflügen und -lagern usw. Sie kennen
das alles selbst. Hier passt meines Erachtens irgendetwas
nicht zusammen. Ich frage: Ist das ein Verlust an Realitätssinn? Das wäre die eine Möglichkeit. Oder wird bewusst nicht die volle Wahrheit gesagt? Das wäre die andere Möglichkeit.
Wir müssen uns schon fragen, wie wir eigentlich auf
internationaler Ebene einen ernsthaften Dialog insbesondere - das wurde heute schon mehrmals angesprochen mit Russland und China führen wollen, wenn wir selbst
gegen Gesetze verstoßen oder explizit gegenüber den
Vereinigten Staaten von Amerika bestimmte Sachen
durchgehen lassen. Da stellt sich schon die Frage unserer
Glaubwürdigkeit.
({4})
Zum Schluss möchte ich etwas zu unseren Positionen
sagen. Die Linke unterstützt bedingungslos die definierten Ansprüche und Ziele, wie sie im Bericht festgehalten
sind. Wir kritisieren aber das tatsächliche Verhalten der
Behörden. Kritisieren heißt, Maßstäbe ansetzen. Wir setzen lediglich die an - darauf will ich hinweisen -, die
von Ihnen hier niedergeschrieben wurden.
Aufgabe in naher Zukunft ist also, die Realität mit
dem Bericht in Übereinstimmung zu bringen. Bis dahin
sollten wir das 200-Seiten-Werk doch eher als Leitbild
statt als Bericht betrachten. Diese Aufgabe umfasst letztendlich:
Erstens. Die Vereinigten Staaten von Amerika müssen
mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass auch
sie an Menschenrechte, Völkerrecht und insbesondere
die Anti-Folterkonvention gebunden sind und sich daran
auch zu halten haben.
({5})
Zweitens: Sollten sie dies nicht tun, können sie auch
keine Privilegien wie zum Beispiel dauerhafte Überfluggenehmigungen mehr in Anspruch nehmen. Diese müssen ihnen dann entzogen werden.
({6})
Drittens. Auch der Austausch von bestimmten Informationen mit den amerikanischen Geheimdiensten muss
jetzt sofort auf den Prüfstand.
Viertens. Sollte sich wirklich herausstellen, dass deutsche Behörden in die Entführungsfälle verwickelt waren
oder sind oder zumindest davon gewusst haben, muss
das natürlich Konsequenzen haben.
({7})
Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung sehr oft auf die Kampagne „Du bist Deutschland“ verwiesen und uns Abgeordnete daran erinnert,
dass dies genau auf uns zutreffe. Einmal abgesehen davon, dass ich dieser Kampagne nicht ganz so aufgeschlossen gegenüberstehe wie vielleicht manch anderer
hier im Saal,
({8})
muss ich sagen: Wenn man dieser Logik folgt, dann
müsste der Spruch „Du bist Deutschland“ - damit ist ja
in erster Linie auch unser Wertesystem gemeint - erst
recht auf unsere im Ausland agierenden Institutionen
und Repräsentanten zutreffen. Wenn dem so ist, dann
dürfen wir denen aber natürlich nicht das durchgehen
lassen, was derzeit, zumindest spekulativ, langsam ans
Licht der Öffentlichkeit kommt. Ansonsten können wir
nur noch sagen: „Gute Nacht, Deutschland!“
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Demokratien sind
in ihrem Antiterrorkampf an ihren eigenen Maßstäben zu
messen. So steht es zumindest auch im Bericht. Also
halten wir uns bitte daran! Die Linke wird für die bedingungslose Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte und des Völkerrechts kämpfen. Die Regierung
werden wir bei Anlass immer wieder daran erinnern.
Ich danke Ihnen.
({10})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles Gute!
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Menschenrechtsbericht und einen interfraktionellen Antrag zum Existenzrecht Israels.
Mit Letzterem will ich beginnen.
Der iranische Präsident Ahmadinedschad hat in beispielloser Weise Israels Existenzrecht infrage gestellt,
den Holocaust geleugnet und damit allen nahe gelegt,
dass das jüdische Volk und die Menschen in Israel kein
Recht auf Leben, kein Recht auf einen Staat und kein
Recht auf ihre Existenz haben. Wenn Staatsregierungen
so etwas äußern, dann muss die gesamte Völkergemeinschaft dagegen aufstehen und klar zeigen, dass sie bedingungslos an der Seite Israels steht.
({0})
Ich freue mich darüber, dass die anderen Fraktionen
unserer Initiative beigetreten sind. Wir als Deutscher
Bundestag finden damit heute klare Worte und senden
ein eindeutiges Signal an Israel: ein Signal der Unterstützung, ein Signal der Freundschaft und Solidarität.
Aber ich meine, bei diesen Worten heute darf es nicht
bleiben.
({1})
Wir müssen Konsequenzen ziehen und die wirtschaftlichen, diplomatischen und anderweitigen Beziehungen
zum Iran daraufhin überprüfen, wie wir Druck auf den
Iran ausüben, sodass er sich als normales Mitglied der
Völkergemeinschaft benimmt.
({2})
Meine Damen und Herren, der 7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist Gegenstand der heutigen
Debatte. Unsere Fraktion begrüßt diesen Bericht ausdrücklich. Denn er greift zwei unserer Forderungen aus
der Vergangenheit auf. Im Februar 2003 haben wir gefordert, einen Aktionsplan Menschenrechte aufzunehmen und die Zielvorgaben und Strategien der Bundesregierung zu den wichtigsten Problemfeldern der
Menschenrechtspolitik klar zu formulieren und auszuführen. Dem kommt der Bericht nach.
Wir haben damals wie auch schon beim Vorgängerbericht ebenfalls gefordert, dass alle Politikbereiche - nicht
nur die des Auswärtigen - in diesem Bericht vorkommen. Denn es gibt einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen der Menschenrechtspolitik im Inneren
und der Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik im
Äußeren. Dem kommt der Bericht nach. Ich zitiere:
Eine Trennung zwischen der internationalen, auf
den weltweiten Schutz der Menschenrechte ausgerichteten Politik vom politischen Handeln im InVolker Beck ({3})
nern ist nicht möglich. Menschenrechtsschutz fängt
immer zu Hause an.
Wir sehen gerade in diesen Tagen, wie richtig und wie
wichtig dieser Satz ist.
({4})
Ich glaube, wir müssen unseren amerikanischen
Freunden deutlich sagen, dass der Kampf gegen den Terror nicht gewonnen werden kann, wenn wir beim Kampf
gegen den Terror nicht Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz zu seiner Grundlage machen.
({5})
Wir zerstören die Glaubwürdigkeit und wir bestätigen
die Vorurteile in dem kulturellen Raum, aus dem sich die
Terroristen zum großen Teil rekrutieren.
Deshalb appelliere ich an die amerikanische Regierung: Lassen Sie davon ab! Machen Sie Schluss mit
Guantanamo! Stellen Sie bedingungslos ab, dass amerikanische Behörden direkt oder indirekt Folter zu verantworten haben! Nur so können wir die Menschen überzeugen, dass Terrorismus der falsche Weg ist und
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie
unser gemeinsames Anliegen sein müssen.
({6})
Bei Menschenrechtsverletzungen darf man nicht wegschauen. Man muss handeln. Das gilt im Sudan; das gilt
bei CIA-Gefängnissen. Da darf man nicht mit unterschiedlichen Maßen messen; damit muss man sich auseinander setzen.
Ich will aber eines ganz klar sagen: Bei einer Kooperation im Bereich der Sicherheitspolitik zur Vermeidung
von Anschlägen in unserem Land oder anderswo kommen wir selbstverständlich auch nicht um eine Kooperation mit Sicherheitsdiensten, Geheimdiensten oder der
Polizei aus Ländern herum, die sich bislang nicht an unsere Standards halten. Entscheidend ist natürlich, dass
wir, wenn wir Informationen bekommen, sie zur Vermeidung eines Anschlags nutzen müssen. Kein Mensch
würde es verstehen, wenn wir das anders machten.
Aber wir müssen eine klare Linie ziehen. Wir dürfen
nicht durch unser Verhalten den Eindruck erwecken, wir
würden bei Folter und Verschleppung wegschauen und
indirekt von deren Früchten profitieren wollen. Deshalb
ist es falsch, wenn deutsche Polizisten in Gefängnissen
Menschen vernehmen oder anhören, von denen sie wissen, dass in ihnen gefoltert wird. Im Fall Zammar ist
eine rote Linie überschritten worden. Das muss abgestellt werden.
Wir müssen im Bundestag noch eine intensive Debatte darüber führen, wo im Sicherheitsbereich die Grenzen der Kooperation mit solch problematischen Staaten
sind. Diese Debatte kann nicht naiv geführt werden. Es
muss aber eine klare ethische Grundorientierung in diesem Bereich geben. Ansonsten verlieren wir unsere
Glaubwürdigkeit als menschenrechtsorientiertes Land.
({7})
Zur Glaubwürdigkeit gehört selbstverständlich auch,
dass wir das Zusatzprotokoll zum UN-Antifolterabkommen unterzeichnen. Hier kann ich nur an Sie appellieren.
({8})
- Nein, bislang scheiterte das am Widerstand einiger
unionsgeführter Bundesländer. Ich sage gar nicht, dass
es an der Unionsfraktion liegt. Aber sorgen Sie dafür,
dass diese Landesregierungen ihren Widerstand aufgeben, damit wir als Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich glaubwürdig sind; denn glaubwürdige Menschenrechtspolitik beginnt, wie bereits gesagt, immer
vor der eigenen Haustür.
({9})
Meine Damen und Herren, wenn ich mir Ihren Koalitionsvertrag zum Thema Menschenrechte anschaue, mache ich mir ein bisschen Sorgen, ob es wirklich eine
Kontinuität - von der vergangenen Wahlperiode in die
Zukunft - in der Menschenrechtspolitik gibt.
({10})
Denn mir fällt auf, was benannt wird und was fehlt. In
den lateinamerikanischen Ländern will die Koalition
tapfer gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen.
Belarus wird immerhin noch angesprochen. China
kommt schon nur noch im Zusammenhang mit dem
Rechtsstaatsdialog vor.
({11})
Was will uns diese so in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Gewichtung sagen? Was bedeutet es, wenn Menschenrechte für die Koalition im Zusammenhang mit der
Terrorismusbekämpfung offenbar kein Thema sind?
Dieses Problem taucht überhaupt nicht auf. Dabei sehen
wir in diesen Tagen, welch massives Problem das ist.
Warum fehlen zumindest Absichtserklärungen, internationale Menschenrechtsabkommen wie die ILOKonvention 169 zu unterzeichnen oder endlich die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen? Ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam weiterkommen und diese Leerstellen nicht auf
Dauer zu Lücken in der Menschenrechtspolitik Deutschlands werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Problemfall ansprechen, der in einem Antrag abgehandelt wird, und zwar zum Thema Usbekistan. Auch
hier geht es um eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik unserer Regierung. Das Massaker von Andischan ist
uns allen noch präsent ebenso wie die Verweigerung einer unabhängigen Untersuchung zu diesen Vorfällen und
die Schauprozesse gegen die Opfer. Ich denke, dass wir
alle dies verurteilen und uns dies zutiefst bestürzt hat.
Volker Beck ({12})
Die EU hat im Zuge dieser Entwicklung Sanktionen
gegen Usbekistan verhängt; das ist richtig. Der deutschen Bundesregierung kommt angesichts des deutschen
Bundeswehrstützpunktes in Termes - wir sind die einzigen, die dort einen Stützpunkt unterhalten - eine besondere Verantwortung zu, die Menchenrechtslage in Usbekistan nicht nur kritisch zu beobachten, sondern der
usbekischen Regierung gegenüber diese Probleme auch
mit Nachdruck anzusprechen und sich für eine unabhängige Untersuchung zu den Vorfällen in Andischan einzusetzen.
Herr Kollege!
Deshalb reicht die von der Regierungsseite angekündigte „Belebung des Dialogs“ nicht aus. Vielmehr muss
mit deutlichen und offenen Worten thematisiert werden,
welche Probleme aus unserer Sicht bestehen. Der usbekischen Seite muss klar gemacht werden, dass wir auf einer Verbesserung der Menschenrechtslage bestehen. Ansonsten müssen wir Konsequenzen ziehen.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, würden Sie noch eine Zwischenfrage
gestatten?
({0})
- Die Wortmeldung erfolgte zum Ende seiner Redezeit;
die Frage war angemeldet. Ich wollte ihn nur nicht unterbrechen.
Ja.
Herr Kollege Beck, ich teile voll, was Sie zum Thema
„Massaker in Andischan“ gesagt haben. Ich hätte aber
von Ihnen gerne noch einige Worte dazu gehört, was der
vorherige Außenminister in dieser Angelegenheit getan
hat. Das ist ja schon viele Monate her; Herr Fischer war
also noch viele Monate im Amt. Sicher können Sie uns
darüber aufklären, was er in dieser Sache unternommen
hat.
Erstens bin ich nicht der Pressesprecher des vorherigen Außenministers. Zweitens hat der Außenminister in
diesen Fragen die Menschenrechtspolitik immer besonders hervorgehoben. Lassen Sie uns die Debatte doch
nicht auf diesem parteipolitischen Niveau führen.
({0})
Mir reicht das, was in dieser Hinsicht bislang von deutscher Seite getan wurde - damit meine ich die Bundesregierung, die ein Verfassungsorgan über alle Wahlperioden ist -, im Ergebnis nicht aus.
Angesichts dessen, dass wir dort einen Stützpunkt
nutzen, müssen wir uns besonders verantwortlich verhalten. Wir müssen uns klar überlegen, ob wir die Kooperation, die wir dort bislang als einzige haben, aufrechterhalten können oder nicht. Das ist für mich eine Frage,
die wir in nächster Zeit klären müssen. Darüber werden
wir im Menschenrechtsausschuss diskutieren, vielleicht
nicht nur mit dem Auswärtigen Amt, sondern auch mit
dem Verteidigungsministerium; denn das ist davon zumindest mit betroffen.
Wir müssen sehen, wie wir in dieser Sache weiterkommen und die Instrumente, die wir dazu in der Hand
haben, nutzen können, um Druck auf die usbekische Regierung auszuüben. Wenn die Bundesregierung uns
hierzu keine Perspektive aufzeigen kann, müssen wir
weitere Schritte gehen und möglicherweise auch diskutieren, den dortigen Stützpunkt aufzugeben, weil wir mit
einem solchen Land auf Dauer in dieser Form nicht kooperieren können, obwohl es praktisch ist. Praktikabilitätsüberlegungen dürfen die Menschenrechtspolitik jedoch nicht dominieren.
({1})
Nun hat für die Bundesregierung der Staatsminister
im Auswärtigen Amt Gernot Erler das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende 7. Bericht zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung wurde dem Deutschen Bundestag im Juni dieses Jahres vorgelegt und deckt den
Zeitraum von April 2002 bis Februar 2005 ab. Das vom
Deutschen Bundestag positiv aufgenommene erweiterte
Format des 6. Menschenrechtsberichts wurde grundsätzlich beibehalten, wobei der Teil über die thematischen
Schwerpunkte der deutschen Menschenrechtspolitik
nochmals erweitert wurde.
In diesem Kernstück des Berichts werden neben den
Entwicklungen und Maßnahmen auf internationaler
Ebene auch die von der Bundesregierung in Deutschland
im Berichtszeitraum ergriffenen Maßnahmen dargestellt.
Thematische Schwerpunkte waren unter anderem das
Thema Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung.
Dort wird auch die im August letzten Jahres im Auswärtigen Amt durchgeführte Konferenz der Internationalen
Juristenkommission zu „Menschenrechtsschutz bei der
Terrorismusbekämpfung“ ausführlich dargestellt.
Ein weiteres Thema stellten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte dar. Hier finden sich Erläuterungen zu den auf Initiative der Bundesregierung
zustande gekommenen „Leitlinien zum Recht auf Ernährung“. Darüber hinaus gibt es das Kapitel zur
Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus. Hierzu verweise ich auf die große AntiStaatsminister Gernot Erler
semitismuskonferenz des Auswärtigen Amtes, bei der
die „Berliner Erklärung“ angenommen wurde.
Der Bericht beinhaltet einen ausführlichen Länderteil,
der Kurzprofile zur Menschenrechtssituation in über
50 Staaten enthält. Wenn Sie das Kapitel über den Sudan
gelesen haben, werden Sie wissen, warum wir uns mit
dem Sudan vorrangig beschäftigen mussten.
Um spontan auf das einzugehen, was der Kollege
Beck gerade zum Thema Usbekistan gesagt hat, möchte
ich an den Besuch von Staatssekretär Dr. Pflüger vor
kurzem in Usbekistan erinnern. In einem Achtpunktekommunique wurde ausdrücklich ausgeführt, dass die
Zusammenarbeit mit Usbekistan in Bezug auf die Demokratisierung und die Achtung der Menschenrechte angestrebt wird. Dieser Aspekt ist bei den Verhandlungen
keineswegs beiseite geschoben worden.
Auf Wunsch des Deutschen Bundestages enthält der
7. Menschenrechtsbericht erstmals einen Aktionsplan
Menschenrechte mit Zielvorgaben und Strategien zu
wichtigen Aktionsfeldern der Menschenrechtspolitik.
Darauf wurde bereits positiv von den Kollegen Strässer
und Beck hingewiesen. Ebenfalls auf Wunsch des Deutschen Bundestages hat die Bundesregierung auf eine abschließende Auflistung aller menschenrechtspolitischen
Ziele verzichtet und stattdessen Schwerpunkte dargestellt. Zu den Schwerpunkten im Aktionsplan gehören
übrigens auch die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen und eine Darstellung des Gender Mainstreaming.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 7. Menschenrechtsbericht gibt in detaillierter Weise Auskunft über
das Engagement der rot-grünen Bundesregierung in den
Jahren 2002 bis 2005. Die neue Bundesregierung wird
dieses Engagement fortsetzen; darauf können Sie sich
verlassen.
({1})
Im Koalitionsvertrag vom 11. November dieses Jahres heißt es dazu wörtlich - das will ich jetzt doch einmal vorlesen; es wäre mir besonders angenehm, wenn
mir dabei der Kollege Beck sein Ohr leiht, weil er hier
eben Zweifel geäußert hat, ob es diese Kontinuität geben
wird -:
Menschenrechtspolitik ist ein wichtiger Bestandteil
unserer Friedens- und Sicherheitspolitik. Systematische Menschenrechtsverletzungen können auch
eine Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit sein. Menschenrechte sind unteilbar.
Unsere Außen- und Entwicklungspolitik wird nicht
schweigen, wenn Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte in Gefahr
sind.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen uns bei
dieser Verbindung von Menschenrechts- und Friedenspolitik in voller Übereinstimmung mit Kofi Annan, der
in seinem visionären Bericht zur Reform der Vereinten
Nationen vom März dieses Jahres klargestellt hat, dass
Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte sich gegenseitig bedingen.
Unser Verständnis von „Einsatz für Menschenrechte“
heißt: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Deshalb
haben wir auch großen Respekt vor dem Engagement
der Zivilgesellschaft sowohl in unserem Land wie auch
in anderen Ländern. Wir wollen ausdrücklich eine enge
Kooperation. In diesem Zusammenhang haben wir eben
auch eine Druckversion des 7. Menschenrechtsberichtes
vorgelegt - mit immerhin 374 Seiten ein wirklich umfassendes Kompendium. Wir hoffen, dass das zu der guten
Zusammenarbeit mit den Aktivisten der Zivilgesellschaft beitragen wird.
Wir werden uns auch weiterhin anstrengen, Defizite
im Menschenrechtsbereich bilateral anzusprechen. Dazu
werden wir natürlich auch die multilateralen Institutionen nutzen, ganz besonders die EU - als wichtigster Rahmen für uns - und das Forum der Vereinten Nationen.
Wir setzen uns besonders für eine Stärkung des Menschenrechtsschutzsystems der Vereinten Nationen ein.
Aktuell geht es hierbei um die Ablösung der Menschenrechtskommission, die bisher gearbeitet hat, durch
den Menschenrechtsrat, von dem wir uns versprechen,
dass er ein schnelleres und wirkungsvolleres Vorgehen
gegen schwere Menschenrechtsverletzungen ermöglichen wird.
({3})
Ich möchte dabei ausdrücklich betonen - auch im Hinblick auf einige Tagesmeldungen von heute -, dass der
Wechsel von der Menschenrechtskommission zu einem
Menschenrechtsrat auf keinen Fall ein Minus an Einwirkungsmöglichkeiten bringen darf; es muss zu einem
Mehr kommen. Das ist auch wichtiger als die Einhaltung
von bestimmten Zeitvorgaben.
({4})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Gegenstand dieser Beratung ist auch ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen des Deutschen Bundestages unter der Überschrift „Existenzrecht Israels ist
deutsche Verpflichtung“. Anlass dazu sind die wiederholten menschenrechtswidrigen und menschenverachtenden Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten
Ahmadinedschad, die das Existenzrecht des Staates
Israel infrage stellen, die den Holocaust in provozierender Weise leugnen und damit das tragische Schicksal
von Millionen von Menschen regelrecht verhöhnen. Die
Bundesregierung verurteilt diese Äußerungen auf das
Schärfste.
({5})
Für uns bleibt das bedingungslose Bekenntnis zum
Existenzrecht des Staates Israel einer der Grundpfeiler
der deutschen Außenpolitik. Die Bundesregierung bekennt sich vorbehaltlos zu dem Recht der Bürgerinnen
und Bürger Israels, in sicheren Grenzen in Frieden mit
ihren Nachbarn und frei von Angst vor Terror und Gewalt zu leben.
({6})
Gemeinsam mit ihren europäischen Partnern ruft die
Bundesregierung Iran dazu auf, sich dem internationalen
Konsens im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung des Nahostkonflikts anzuschließen, die
Bemühungen um Frieden zwischen Israel und seinen
Nachbarn zu unterstützen und seine Unterstützung von
Gruppierungen, die Gewalt ausüben oder dazu aufrufen,
umgehend zu beenden.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Burkhardt MüllerSönksen, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Staatsminister Erler, ich darf Ihnen für Ihren Bericht sehr herzlich danken und Ihnen für Ihren zukünftigen Einsatz für die Menschenrechte die Unterstützung der Oppositionsfraktion der FDP zusagen. Wir
werden Sie immer konstruktiv unterstützen, insbesondere wenn es um Zielkonflikte mit anderen Ressorts,
beispielsweise mit dem Wirtschaftsministerium oder
dem Innenministerium, gehen sollte. Wir wünschen Ihnen von dieser Stelle alles Gute und hoffen auf eine gute
Zusammenarbeit.
({0})
An die Kollegen Beck und Leutert gerichtet möchte
ich feststellen, dass ich von Ihnen - wir Liberale denken:
zu Recht - zwar Bemerkungen über die Wertegemeinsamkeiten mit den Vereinigten Staaten und die aktuellen
Vorkommnisse gehört habe; auch wir prangern die dortigen Vorgänge an. Aber interessant ist, was Sie in Ihren
Redebeiträgen nicht erwähnt haben: die derzeitigen
Menschenrechtsverletzungen in Russland. Das scheint
bereits ein kleiner Teil eines linken Schaulaufens zu
sein. Denn auch dieses Thema gehört in eine Rede, wenn
wir in diesem Hause über die Menschenrechte sprechen.
({1})
Gemeinsam tragen wir Abgeordnete nicht nur für unser Land und unsere Mitbürger Verantwortung. Jedes
Mitglied dieses Hauses trägt auch Verantwortung für die
Einhaltung der Menschenrechte in Deutschland und in
der ganzen Welt. Solange es für diesen Bereich keinen
eigenen Bundesminister gibt und sich kein eigenständiges Ministerium zuständig fühlt, haben wir, das Parlament, als erste Gewalt eine ganz besondere Verantwortung. Mit dem Menschenrechtsausschuss haben wir ein
geeignetes Gremium gefunden, um dieser Querschnittsaufgabe gerecht zu werden. Angesichts der besonderen
Verantwortung für dieses Spezialthema und der Unterstützung durch verschiedene Ressorts freue ich mich als
neuer Abgeordneter, die parlamentarische Arbeit im
Menschenrechtsausschuss betreuen zu dürfen.
({2})
Die Menschenrechte werden in allen Teilen der Erde
verletzt, leider praktisch ohne Ausnahme. Das müssen
wir im Rahmen unserer Menschenrechtspolitik weltweit
thematisieren und hier Verbesserungen einfordern. Dabei dürfen keine Doppelstandards angewandt werden.
Das habe ich gemeint, als ich die Reden der Kollegen
moniert habe: Sie können keine Forderungen aufstellen,
die für die Vereinigten Staaten von Amerika gelten sollen, gleichzeitig aber andere Menschenrechtsverletzungen einfach außer Acht lassen. Das ist bereits der Anfang von Doppelstandards, die wir Liberale ablehnen.
({3})
Menschenrechte sind nicht verkäuflich. Sie sind unverkäuflich. Auch für politisch befreundete Länder darf
es keinen Rabatt geben. An jedes Land der Erde muss
ein und derselbe Maßstab angelegt werden. Die letzte
Bundesregierung hat das im Umgang mit wichtigen Partnern leider nicht immer beherzigt. Von der neuen Bundesregierung werden wir das aus der Opposition heraus
mit Nachdruck einfordern. Das gilt insbesondere für die
wichtigen Partnerländer Deutschlands auf dem Gebiet
der ehemaligen Sowjetunion. Ich schließe mich Ihrer
Kritik an der Menschenrechtsverletzung der Vereinigten
Staaten ausdrücklich an, werde dieses Thema aber nicht
noch einmal aufgreifen.
Die heute Situation der Menschenrechte in Russland
ist bedenklich. Als Stichpunkte nenne ich nur die massive Beschränkung bzw. Beeinträchtigung der Pressefreiheit, die rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahren
gegen Oligarchen, die Beschneidung der Rechte der
parlamentarischen und der außerparlamentarischen Opposition und die dauernden schlimmen Menschenrechtsverletzungen durch russische Sicherheitsorgane in
Tschetschenien. Hinzu kommt das nun drohende Gesetz
zur Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten von in- und
ausländischen Nichtregierungsorganisationen.
Auch an dieser Stelle schließe ich mich im Namen der
Liberalen den Ausführungen der Kollegen von der SPD
an: Als Parlamentarier sind wir auf die Nichtregierungsorganisationen, die Non-Governmental Organizations,
elementar angewiesen. Das bedeutet auch: Diese Organisationen müssen mit unserem Schutz und mit unserer
Hilfe weltweit völlig diskriminierungsfrei agieren können. Sie sind die Sensoren, mit denen wir hier im Hause
im Vorfeld arbeiten können. Deswegen müssen wir uns
um sie kümmern und sie besonders betreuen.
({4})
Ich denke, wir haben einen Antrag zu Usbekistan eingebracht, der zustimmungsfähig ist. Dass der ehemalige
Außenminister heute bei dieser Debatte nicht da ist und
dass er auch sonst nicht viel dazu beigetragen hat, dass
dieser Antrag überflüssig geworden ist, brauche ich
nicht weiter zu betonen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Wir gratulieren herzlich dazu und wünschen Ihnen
alles Gute!
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Leutert.
({1})
Herr Kollege Müller-Sönksen, ich möchte darauf hinweisen - Sie können es gern nachlesen -, dass ich in
meiner Rede ausdrücklich China und Russland genannt
habe, und zwar als ich gefragt habe: Wie wollen wir
ernsthaft und glaubwürdig auf internationaler Ebene einen Dialog über die Menschenrechte führen - explizit
mit China und Russland -, wenn wir uns selber an bestimmte Dinge nicht halten? Meine Fraktion ist der Auffassung, die Menschenrechte sind universell und unteilbar. Sie müssen in jedem Land gelten: in Russland wie in
China, hier bei uns in Deutschland und genauso in den
USA.
({0})
Herr Müller-Sönksen, wollen Sie darauf reagieren? Nein.
Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Holger
Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Menschenrechtsdebatte ist ja traditionell eine,
in der eher überparteilich gesprochen wird. Ich bin eigentlich auch froh, dass das so ist; aber ich erlaube mir,
weil es nun einmal so gekommen ist, wie es gekommen
ist, schon noch ein paar Worte zu dem, was der Kollege
Beck und der Kollege Leutert gesagt haben.
Herr Kollege Beck, ich bin immer wieder fasziniert,
mit welcher Geschwindigkeit sich die Grünen aus der
Regierungsverantwortung verabschiedet haben.
({0})
Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung trägt
das Datum 17. Juni 2005; da war, wenn ich es richtig
sehe, Herr Fischer noch Außenminister.
({1})
- Ich komme gleich darauf.
Es ist gesagt worden, dass in Sachen Usbekistan zu
wenig getan worden ist. Einverstanden. Aber ich weise
noch einmal darauf hin: Er war Ihr Außenminister; bei
ihm hätten Sie Druck machen können.
Nun sind sowohl der Kollege Beck als auch der Kollege Leutert Mitglied des Menschenrechtsausschusses.
Damit werden Sie sicher die Gelegenheit bekommen,
mit nach Genf zur Menschenrechtskommission zu reisen. Ich lade Sie ein, mit viel Freude - wie das der Kollege Strässer, die Kollegin Graf oder auch die Kollegin
Nickels, die jetzt nicht mehr mit dabei ist, und der Kollege Funke von der FDP und ich getan haben - das Gespräch mit der amerikanischen Delegation zu suchen,
das Gespräch mit der chinesischen Delegation zu suchen, das Gespräch mit der russischen Delegation zu suchen. Wenn wir alle so gut sind, wie wir immer behaupten, dann werden wir gemeinsam etwas erreichen; das
wäre ein konstruktiver Beitrag zu dieser Debatte.
({2})
Ansonsten diskutieren wir im Zusammenhang mit
dem Tag der Menschenrechte wieder darüber, was sich
in Bezug auf die Menschenrechte in den letzten Jahren
ereignet hat. Ich will an dieser Stelle für meine Fraktion
deutlich machen: Folter kann niemals und nirgendwo
ein Mittel von Politik und schon gar nicht von rechtsstaatlichem Handeln sein. Das gilt für Deutschland und
für den Rest der Welt.
({3})
Wenn deutsche Behörden oder auch ausländische Behörden in dieser Hinsicht etwas falsch gemacht haben, dann
muss das geklärt werden, dann müssen wir in aller Ruhe
darüber reden. Aber das machen wir dann, wenn die
Fakten auf dem Tisch liegen, und nicht jetzt, wo wir nur
Halbwissen und Vermutungen haben. Nur so können wir
vernünftig Aufklärungsarbeit leisten und so etwas für die
Zukunft verhindern.
({4})
Es gibt einige Themen, die uns in diesem Jahr bewegt
haben und die uns schon seit vielen Jahren bewegen - eines hat Staatsminister Erler schon angesprochen -, zum
Beispiel die UN-Reform. Ich bin noch vor wenigen
Wochen ein gutes Stück optimistischer gewesen, als ich
es heute bin. Ich sage Ihnen auch, warum: Im Grunde genommen läuft es jetzt darauf hinaus, dass die Menschenrechtskommission - vielleicht 2006, auf jeden Fall aber
2007 - von einem Menschenrechtsrat abgelöst wird.
Doch was ist das für ein Rat, der da eingerichtet wird?
Wenn das nur die Menschenrechtskommission unter
neuem Namen ist, haben wir dadurch nichts gewonnen;
dann werden wir immer wieder nur die gleichen Blockaden bekommen, wie wir sie schon die ganzen Jahre hatten, und immer wieder die gleichen Probleme. Es muss
also etwas Substanzielles verändert werden. Deswegen
ist richtig: Hier geht Sorgfalt vor Eile. Dabei müssen wir
die Bundesregierung, die übrigens eine Position übernimmt, die die CDU/CSU-Fraktion Anfang des Jahres
schon einmal in einem Antrag dokumentiert hat
({5})
- der Antrag der SPD sah ein bisschen anders aus! -, in
dieser Angelegenheit nachhaltig und mit Kräften unterstützen.
Das ist ganz wichtig. Im Rahmen der Reformdebatte
kann man nämlich deutlich erkennen, wo das eigentliche
Problem liegt. Das eigentliche Problem liegt tiefer: Es
sind nicht nur die Bremserländer, sozusagen die großen
Bösen, die sowohl bei der jetzigen MRK als auch bei der
Reform auf die Bremse treten und sagen: Das alles wollen wir so nicht haben. Auch die Länder, die uns durchaus wohl gesonnen sind und die bei den Menschenrechten etwas erreichen wollen, sagen inzwischen, dass das
Ganze langsam, aber sicher zu einer Veranstaltung wird,
bei der die westlichen Industriestaaten gegen den Rest
der Welt einen Block bilden und umgekehrt.
Es kann nicht im Sinne der allgemeinen Förderung
der Menschenrechte sein, wenn wir nicht mehr die Möglichkeit haben, klar in den Grundsätzen, aber flexibel
und vernünftig hinsichtlich der Umsetzung zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das ist symptomatisch für das internationale Klima, das momentan herrscht, wenn es um
Menschenrechte geht. Es ist eine Moraldebatte geworden. Eine solche darf es aber nicht geben; sonst werden
wir auf diesem Gebiet niemals vernünftige internationale
Mechanismen bekommen.
Ich will auf einige weitere Punkte hinweisen, die mir
in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind. Diese
kann man nicht nur an der Reformdebatte festmachen,
sondern auch an einem ganz anderen Thema. Vor wenigen Wochen ist der Weltinformationsgipfel in Tunis zu
Ende gegangen. Dass man sich ausgerechnet in einem
Staat, der die Presse- und Meinungsfreiheit aufs Äußerste einschränkt, zusammengefunden hat, um die
Presse- und Meinungsfreiheit hochzuhalten, kann man
so oder so bewerten. Dort ging es insbesondere um die
Frage der Zukunft des Internets. Man hat sich aber nicht
nur mit Fragen der Kontrolle beschäftigt, sondern auch
damit, wie wir es schaffen können, dass Menschen in
Entwicklungsländern Zugang zum Internet bekommen.
Weiteres Thema war die Presse- und Meinungsfreiheit
im Internet.
Ich glaube, das Ergebnis fällt ambivalent aus: Bei der
Frage, wie man das Internet kontrolliert, ist man ein gutes Stück vorangekommen; dazu wurde sicherlich etwas
erreicht. Auch bei der Frage, wie wir erreichen können,
dass mehr Menschen aus Entwicklungsländern die
Möglichkeit zum Zugang zu digitalen Medien haben, ist
ein Anfang gemacht worden. Enttäuscht hat mich auf der
anderen Seite, dass es nicht möglich war, klare Worte
dazu zu finden, dass sehr viele Staaten, egal ob in
Europa, in Asien, im Nahen Osten oder in Afrika,
Presse- und Meinungsfreiheit einschränken, und zwar
auch im Internet, und auf das Schlimmste zensieren. Tunesien ist ein Beispiel dafür. Ich bin froh, dass es gelungen ist, am Rande des Gipfels einiges anzusprechen. In
der Gipfelerklärung hätte ich mir deutlichere Worte vorstellen können.
({6})
Ein weiterer Bereich ist für mich in ganz besonderem
Maße wichtig, wenn wir über die UN reden. Es gibt einen Antrag der FDP zu der Frage, ob bei UN-Friedensmissionen Menschenrechtsbeobachter zugelassen werden sollen. Dieser Antrag wurde in der letzten
Legislaturperiode eingebracht, fiel aber wegen der vorgezogenen Bundestagswahl der Diskontinuität anheim
und konnte nicht mehr verabschiedet werden.
Mich interessiert übrigens, warum Sie den Antrag mit
dem ursprünglichen Text eingebracht haben und nicht
die Fassung, auf die wir uns schon geeinigt hatten. Das
sei aber nur am Rande bemerkt. Sicherlich werden wir
zu einer vernünftigen Lösung kommen.
({7})
Richtig ist: Es ist ganz wichtig, dass man die Möglichkeit hat, schon vorher durch Beschluss Menschenrechtsbeobachter hinzuzuziehen. Das, was wir vorhin
über AMIS gehört und beschlossen haben, kann stilbildend sein. Die Europäische Union und Deutschland sind
daran beteiligt. Wir können, ohne dass wir einen formellen Beschluss haben, die Möglichkeit finden, dort mitzuhelfen.
Meine Damen und Herren, ich hätte in dieser Debatte
gerne noch einige Punkte mehr angesprochen. Mit Blick
auf meine Redezeit kann ich diese aber nicht mehr anbringen. Abschließend will ich nur noch Folgendes sagen: Ich hoffe, dass wir den hehren Vorsatz zu den Menschenrechten, den wir in der Koalitionsvereinbarung
formuliert haben - er ist schon erwähnt worden -, gemeinsam über die gesamte Breite der Fraktionen dieses
Hauses in die Wirklichkeit umsetzen werden.
Ihnen allen ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes
neues Jahr!
Danke sehr.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es ist gut - die Diskussion hat das ja auch gezeigt -, dass wir uns heute ausführlicher mit Menschenrechtsfragen beschäftigen und auseinander setzen. Die
Diskussion hat deutlich gemacht, dass wir uns über die
Parteigrenzen hinweg in ganz vielen Punkten einig sind.
Diese Gemeinsamkeit sollten wir bitte nicht untergehen
lassen, auch dann nicht, wenn wir die Schwerpunkte
fraktions- oder parteibedingt möglicherweise anders setzen.
Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass es eine
Reihe von Problemen gibt, mit denen wir uns im Ausschuss und dann auch im Plenum beschäftigen müssen.
Diese Punkte haben natürlich auch mit der deutschen
Politik - mit der Innenpolitik ebenso wie mit der Außenpolitik - zu tun.
Den Anlass unserer jährlichen Debatte zu diesem
Zeitpunkt möchte ich gerne noch einmal erwähnen. Das
ist nämlich der Tag der Menschenrechte. Es ist gut, dass
es ihn gibt. Er soll uns daran erinnern, dass eigentlich jedes Land darauf achten muss, dass die Verpflichtungen,
die es zum Schutz der Menschenrechte eingegangen ist,
in der Praxis auch im Einzelnen erfüllt werden. Ich
glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das
darf, möchte ich im Namen des ganzen Bundestages sagen: Es ist ein guter Anlass, den vielen tausenden Menschen - hauptsächlich jungen Menschen - zu danken,
die sich bei uns und international für Menschenrechte in
der Praxis einsetzen.
({1})
Das sind Menschenrechtsgruppierungen kirchlicher
und nichtkirchlicher Art. Sie bringen sich dabei durchaus in Gefahr - nicht bei uns, aber in anderen Ländern.
Wir wissen ganz genau: Ohne deren Arbeit könnten wir
nicht so deutlich machen, dass wir etwas zur Erhaltung
und Verbesserung der Menschenrechtssituation tun. Deswegen sollten wir ihnen hier danken. Ich möchte auch
sehr deutlich sagen, dass wir unsere Zusammenarbeit gerade mit diesen Organisationen der Zivilgesellschaft sehr
gerne intensivieren.
({2})
Herr Staatsminister, zum Menschenrechtsbericht ist
viel gesagt worden. Ich bedanke mich ebenfalls dafür.
Ich glaube, das ist ein guter Bericht. Man kann nicht alle
Berichte lesen; aber es lohnt sich, diesen zu lesen.
({3})
Wenn also der eine oder die andere über Weihnachten
noch ein wenig Zeit hat, dann empfehle ich, dort hineinzuschauen. Dieser Bericht ist eine wirklich außerordentlich gute Grundlage für die Menschenrechtsarbeit in allen Bereichen. Ich bin deswegen auch sehr dankbar, dass
Sie ihn in einer solchen Breite veröffentlichen und
streuen, Herr Staatsminister. Er hilft uns bei der Arbeit
im Bundestag sehr. In ihm werden die Schwerpunkte benannt. Ich denke, die Auswahl der Brennpunkte, auf die
in ihm mit dem Finger gedeutet wird - die Finger werden in die jeweiligen Wunden gelegt -, ist korrekt.
Herr Toncar, es ist wichtig, dass wir hier diese Gemeinsamkeit haben und dass wir diese Brennpunkte
deutlich benennen. Nicht richtig ist, wenn man meint,
das sei sozusagen das Vorrecht der Opposition. Der
Menschenrechtsbericht und auch unsere Arbeit zeigen,
dass wir uns in dieser Frage einig sind.
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich bin der Meinung, dass wir nicht nur die Finger in die Wunden legen
sollten; wir sollten vielmehr auch die Bewegung erkennen, wo es sie gibt. Wir müssen die Bewegung würdigen, weil uns das die Möglichkeit bietet, sie an der
Stelle, an der es sie gibt, zu unterstützen.
({4})
Wir tun das alles keineswegs in dem Verständnis, dass
wir Recht und die anderen Unrecht haben. Das ist ausdrücklich nicht unsere Haltung. Im Rahmen unserer
Menschenrechtsarbeit arbeiten wir mit allen Ländern daran, eine Rechtsordnung und Weltordnung mitzugestalten, wie wir sie in der zunehmenden Vernetzung im
21. Jahrhundert natürlich ganz dringend brauchen. Das
ist unsere Motivation. Ich freue mich sehr, dass wir sie
gemeinsam haben, das heißt, dass wir hier eine Einigkeit
des Deutschen Bundestages feststellen können.
Lassen Sie mich jetzt noch auf die aktuellen Punkte
zurückkommen, die uns in diesen Tagen richtig bedrängt
haben. Es geht dabei ja nicht nur um Aufklärung; das ist
nur einer der Punkte. Es geht auch um die Frage, welche
Gewissheiten wir für die Zukunft eigentlich haben. Ich
möchte gerne sagen, dass dieser unglaublich winkeladvokatorisch anmutende Streit um die Folterdefinition
endlich beendet werden muss. Das ist unwürdig und unmöglich.
({5})
Frau Steinbach, ich hoffe, dass wir durch die eindrucksvolle Diskussion in den Vereinigten Staaten die Möglichkeit haben, zu sagen, dass es dort einen Schritt nach
vorne gibt. Wir werden auch die Argumente der Skeptiker zur Kenntnis nehmen und bei der Debatte berücksichtigen. Aber das Ziel, dass dieser Streit aufhören
muss, dass kein einzelnes Land und schon gar kein Geheimdienst definieren kann, was Folter ist, wie weit sie
reicht und gegenüber wem sie hilft, eint uns.
Es gibt, wie Sie alle wissen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie gilt als eine der Grundlagen des Völkerrechts überall. Es gibt die sehr deutliche
Antifolterkonvention. Es gibt die Rechtsprechung der
internationalen Gerichte, die Formulierungen im Römischen Statut. Auch der Internationale Strafgerichtshof
wird hier noch weitermachen, sodass wir uns nicht auf
die unwürdige Diskussion einlassen sollten: Ist nun „water boarding“ grausam und unwürdig oder nicht? Natürlich ist es das. All das, was Menschen in Angst und
Schrecken versetzt oder ihnen Schmerzen zufügt, ist verboten.
({6})
Selbstverständlich gehört zu diesem klaren Ziel, dass
der Streit beendet werden muss. Dazu gehört auch, dass
dies nicht nur offizielle Personen betrifft, die von Staaten
beauftragt wurden, Verhöre vorzunehmen; das Folterverbot gilt vielmehr auch gegenüber Privaten, Drittstaaten
und Outgesourcten in jeder Form, die man sich ausdenken kann. Dies bedeutet das Wort „absolut“. Daran halten wir fest. Wir werden uns damit ganz sicher weiterhin
beschäftigen.
Ein weiterer Punkt wird natürlich die Frage sein: Wie
ist das mit der Verwendung von erpressten oder unter
Folter gewonnenen Informationen? Auch das macht uns
Sorgen. Ich teile die Auffassung, dass dies kein Problem
der deutschen Ermittler ist. Ich bin aber der Meinung,
wir werden uns damit auseinander setzen müssen, um
auch hier unser Ziel ganz klar und deutlich zu machen:
Wir sagen Ja zur rechtsstaatlichen Bekämpfung des Terrorismus und zur rechtsstaatlichen Zusammenarbeit der
Dienste; aber in diesem Zusammenhang ein Augenzwinkern zuzulassen - um ein Wort des neuen Innenministers
aufzugreifen -, lehnen wir ab, weil uns das in all dem,
was wir tun und sagen, ausgesprochen unglaubwürdig
macht.
({7})
Über all diese Dinge wollen wir nicht mehr diskutieren. Aber es ist abzusehen, dass wir die Argumente noch
brauchen. Ich teile die Auffassung des Kollegen Haibach
zur Umwandlung der Menschenrechtskommission in einen Menschenrechtsrat. Ich teile auch die Auffassung
zur frühzeitigen Entsendung der Menschenrechtsbeauftragten. Aber Sie wissen vielleicht nicht, dass dies in der
Sache ein abgesprochener Antrag war. Deswegen wird
uns die Zustimmung nicht besonders schwer fallen.
Lassen Sie mich noch einmal sagen: Es geht auch darum, dass wir jetzt unsere Aufgaben erfüllen. Das ist
schon im Zusammenhang mit dem Zusatzprotokoll zur
Antifolterkonvention angesprochen worden. Hier sollten
Bund und Länder, zumal es hier keine inhaltlichen Differenzen gibt, endlich zum Ende kommen. Das sollten wir
wirklich angehen.
Ein anderer Punkt ist das 14. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Es ist klar, worum
es geht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof genießt überall in den 46 Staaten des Europarats großes
Vertrauen. Das schlägt sich in den unglaublich vielen
Klagen nieder, die das Gericht zu ersticken drohen. Hier
muss man dem Gericht die Möglichkeit geben, Abhilfe
zu schaffen. Ich glaube, der vorgeschlagene Weg ist dafür geeignet.
Sie sehen, wir haben eine Menge zu tun. Ich freue
mich darüber, dass wir das in einem konstruktiven Geist
machen können. Ich bedanke mich ausdrücklich für die
Kontinuität in der Menschenrechtspolitik und für den
Bericht der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Lintner, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das 14. Zusatzprotokoll, das
meine Vorrednerin angesprochen hat, wird Gegenstand
meiner Rede sein. Diesen Punkt möchte ich gerne detaillierter erörtern. Die sehr technische Bezeichnung in der
Tagesordnung täuscht über die Bedeutung dieses Vorgangs hinweg; denn immerhin handelt es sich um einen
Sachverhalt, der potenziell 800 Millionen Menschen in
46 europäischen Staaten angeht und betrifft. Sie sind
aufgrund des Verfahrens, das nun geändert wird, berechtigt, den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anzurufen.
Der Gerichtshof leidet unter der Flut ihm vorliegender Klagen. Dazu nur ein paar Zahlen, damit die Dimension klar wird: Allein im Jahr 2003 sind mehr als
38 500 neue Fälle beim Gerichtshof eingegangen. 2004
waren es schon fast 45 000 neue Klagen. Inzwischen hat
sich ein Rückstau von etwa 80 000 Verfahren gebildet,
weil der Gerichtshof beispielsweise im Jahr 2004 nur
32 300 Verfahren bearbeiten konnte.
Dass wir an dieser Stelle mehr Effizienz erreichen, ist
von entscheidender Bedeutung für einen wirksamen und
ernstzunehmenden Rechtsschutz und für die Wahrnehmung dieser elementaren Rechte. Wir sind uns sicherlich
darüber einig, dass ohne einen solchen Rechtsschutz vieles nur auf dem Papier steht und in der Praxis nicht eingeklagt oder durchgesetzt werden kann.
Lassen Sie mich kurz die Änderungen im Einzelnen
vorstellen. Zum Beispiel wird es künftig möglich sein,
dass Einzelrichter über die Zulässigkeit von Klagen entscheiden. Außerdem muss der Beschwerdeführer einen
erheblichen Nachteil plausibel machen - es reicht also
nicht aus, nur einen Rechtsstandpunkt durchzufechten und es darf noch keine gefestigte Rechtsprechung in der
Sache geben. Nur wenn diese Anforderungen erfüllt
sind, ist die Klage zulässig. Schon heute erweisen sich
rund 80 Prozent der eingehenden Klagen als unzulässig.
Dieser Prozentsatz wird sich künftig noch weiter erhöhen.
Des Weiteren werden die Möglichkeiten zur Durchsetzung solcher Urteile erweitert. Dieses Thema beschäftigt uns im Europarat - ich war selbst Vorsitzender
des Rechtsausschusses - immer wieder. Künftig kann
der Ministerrat mit Zweidrittelmehrheit bei der Großen
Kammer des Gerichtshofs ein so genanntes Nichtbefolgungsverfahren einleiten. Die damit verbundene Öffentlichkeitswirkung und die denkbaren Sanktionen, beispielsweise hinsichtlich der Mitgliedschaft im
Europarat, dürften als Druckmittel ausreichen, um auch
hartnäckige Verweigerer zum Einhalten zu bewegen.
Wir haben damit unsere Erfahrungen gemacht. Es ist erstaunlich, welches Gehör solche Voten und Urteile des
Europarats finden.
Nicht unwichtig ist eine Bestimmung, durch die die
Amtszeit der Richter zwar auf neun Jahre verlängert,
aber eine Wiederwahl ausgeschlossen wird. Es hat sich
nämlich immer wieder gezeigt, dass vor der Wiederwahl
eine Art Wahlkampf hinter den Kulissen inszeniert worden ist. Das entspricht jedoch nicht der Würde eines solchen Gerichts.
Wichtig ist auch, dass alle Überlegungen, die in den
Beratungen darüber angestellt worden sind, den Zugang
von Individualklagen zu erschweren, letztlich nicht weiterverfolgt wurden. Denn die materielle Einschränkung
des Klagerechts wäre für die vielen Bürger, die in ihren
Heimatländern noch nicht auf einen adäquaten Grundrechtsschutz durch Gerichte zählen können, ein völlig
falsches Signal gewesen. Bei den Staaten selbst - das haben unsere Erfahrungen gezeigt - hätte es zu dem fatalen
Fehlschluss kommen können, dass uns der Schutz der
Menschenrechte nicht mehr ganz so wichtig sei, wie dies
bisher der Fall war. Diese beiden falschen Signale sollten vermieden werden.
({0})
Die Verfahrensänderungen sind insofern kein reines
Prozessrecht; sie sind letztlich notwendig, um die geschützten Rechte in der Substanz zu verteidigen und ihre
Realisierung zu ermöglichen. Die entsprechenden Konventionen sind bereits erwähnt worden.
Wir sorgen mit unserer Zustimmung zu dem Gesetzentwurf zum Protokoll Nr. 14 - das sollten wir uns bewusst machen - konkret und wirksam für einen effizienteren Schutz dieser Rechte. Insofern ist heute ein
wichtiger Tag für die Geschichte der Menschenrechte.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/5800, 16/42, 16/225 und 16/226
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 10: Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP,
der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/197 mit dem Titel „Existenzrecht Israels
ist deutsche Verpflichtung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
({0})
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Volker Beck ({1}), Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Überwachung von Journalisten durch den
Bundesnachrichtendienst
- Drucksache 16/85 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Christian Ströbele das Wort.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute, kurz vor Weihnachten, noch einmal
eine Geheimdienstaktion als Thema einer Plenardebatte,
nachdem wir uns in den letzten Tagen vor allen Dingen
mit ausländischen Geheimdiensten intensiv befasst haben.
Vor etwa zwei Wochen kam eine Kollegin aus dem
Bundestag zu mir und erzählte, sie habe in einem wichtigen Fall aus ihrem Wahlkreis Kontakt mit einem bekannten Journalisten. Sie fragte mich anschließend ganz
geheimnisvoll, ob ich ihr zuverlässig sagen könne, ob
dieser Journalist vom deutschen Geheimdienst beobachtet werde oder sogar auf der Gehaltsliste eines deutschen
Geheimdienstes stehe.
Dieses Beispiel zeigt, dass es bei der Diskussion über
die Beobachtung von Journalisten durch einen deutschen
Geheimdienst nicht nur darum geht, dass vielleicht die
Grundrechte einzelner Journalisten verletzt worden sind,
dass in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen worden ist, sondern um sehr viel
mehr, nämlich um die allgemeine Frage, inwieweit das
Vertrauen der Bevölkerung in den unabhängigen Journalismus und damit in die Pressefreiheit infrage gestellt ist.
Das ist das grundsätzliche Thema, das wir hier behandeln, unabhängig davon, dass wir uns natürlich auch darum kümmern, wenn die Rechte einzelner Journalisten
verletzt sind.
Wenn dem so ist und wir wissen, wie wichtig ein unabhängiger, insbesondere ein investigativer Journalismus
ist, das heißt ein Journalismus, der bei seinen Recherchen
auf Informationen aus der Bevölkerung und ihr Vertrauen
angewiesen ist, und dass gerade ein solcher Journalismus
konstitutiv für die Pressefreiheit und unsere Demokratie
ist, dann müssen wir allen Gefährdungen der Pressefreiheit und insbesondere dieses Journalismus entschieden
entgegentreten, wo immer es notwendig ist.
({0})
Das ist kein theoretischer Fall, über den wir hier diskutieren. Vielmehr hat das Misstrauen der Kollegin aus
dem Bundestag - wie weit wird das dann erst in der Bevölkerung verbreitet sein? - eine tatsächliche Grundlage.
Es gibt Meldungen, dass Anfang der 90er-Jahre - möglicherweise auch sehr viel später - in Deutschland Journalisten von einem deutschen Nachrichtendienst observiert
worden sind, und zwar bis weit in ihren privaten Bereich, und dass darüber hinaus - möglicherweise sogar
bekannte - Journalisten auf den Gehaltslisten deutscher Geheimdienste stehen. Hier ist Misstrauen angebracht. Wenn wir aber das Vertrauen der Bevölkerung
wiederherstellen wollen, dann müssen wir alle Fakten
auf den Tisch legen, und zwar nicht nur in einem geheim
tagenden parlamentarischen Gremium, sondern in der
Öffentlichkeit, hier im Deutschen Bundestag. Ich hoffe,
dass sich dann, wenn die Recherchen dazu abgeschlossen sind, Herr Hanning, der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes und heutige Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern, hierhin stellt, die Fakten auf
den Tisch legt, sich bei den Journalisten entschuldigt, die
davon betroffen waren und darunter gelitten haben,
({1})
und damit der Öffentlichkeit kundtut, erstens dass wir so
etwas nicht dulden, zweitens dass solche Sachen immer
herauskommen und drittens dass solche Aktionen Konsequenzen haben.
({2})
Nur auf diese Art und Weise können wir das Vertrauen wiederherstellen. Wir müssen uns darüber hinaus
weitere Schlussfolgerungen überlegen: Wie können die
Bundesregierung und das Parlament in Zukunft sicherstellen, dass Journalisten in Deutschland nicht observiert
werden und nicht auf die Gehaltslisten von Geheimdiensten kommen? Wie kann man da gesetzgeberisch
und kontrollierend tätig werden?
Ich will mit einem letzten, ganz kurzen Beispiel enden. Einer der betroffenen Journalisten hat mich, als er
vor wenigen Tagen um ein Gespräch mit mir gebeten
hatte, angerufen und gefragt, wo wir das Gespräch führen könnten. Er hat darum gebeten, mich hier im Deutschen Bundestag aufsuchen zu können und hier das Gespräch zu führen, weil er nicht sicher sei, ob er nicht
observiert werde, wenn wir das Gespräch außerhalb der
Gebäude des Deutschen Bundestages führten. Er sagte,
er hätte es nicht so gerne, wenn er mit dem Abgeordneten Ströbele abgelichtet würde. Auch daraus wird deutlich, welche Gefahren alleine in der Observation bestehen. Abgeordnete könnten daran gehindert werden, dass
sie von Skandalen Kenntnis erlangen. Wir sollten deshalb eine Idee des ehemaligen SPD-Abgeordneten
Neumann aufgreifen und ein Recht der Mitarbeiter des
Bundesnachrichtendienstes schaffen,
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben weit überzogen.
- letzter Satz - sich direkt an die Abgeordneten, die
im PKGr sind, zu wenden, weil es nicht sein kann, dass
das nur über Journalisten läuft. Sie müssen zu Abgeordneten kommen und diese über solche Skandale aufklären
können, damit diese rechtzeitig dafür sorgen können,
dass solche in Zukunft verhindert werden.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Ströbele, es hat Fehlentwicklungen gegeben, über die wir aus Anlass Ihres Antrages reden werden. Aber ich finde, Sie sollten es jetzt nicht übertreiben.
Wir sollten nicht gegenüber der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als ob Journalisten reihenweise auf den
Gehaltslisten des BND oder des Verfassungsschutzes
stünden.
({0})
Das ist auch eine Unterstellung den Journalisten gegenüber. Ich habe den Eindruck, dass investigativ arbeitende
Journalisten sehr wohl wissen, wie sie ihr Verhältnis zu
den Geheimdiensten zu definieren haben, und dass sie
sich nicht mit Geheimdiensten gemein machen. Man
sollte nicht mit solchen Unterstellungen arbeiten. Nach
meinem Eindruck ist bei der übergroßen Mehrheit der
Journalisten in unserem Land die Gefahr, dass die Unabhängigkeit verloren gehen würde, wirklich nicht gegeben; vielmehr macht die große Zahl der Journalisten einen guten Job. Das sollte man nicht infrage stellen.
({1})
Ich finde, dass diese Debatte überhaupt keinen Anlass
für einen parteipolitischen Schlagabtausch bietet. Das
Parlamentarische Kontrollgremium hat einvernehmlich festgestellt, dass der BND bei seiner Vorgehensweise gegen einzelne Journalisten teilweise die ihm eingeräumten Befugnisse überschritten hat. Das PKGr hat
einen Sachverständigen mit der weiteren Untersuchung
der Angelegenheit beauftragt.
Überwachungsmaßnahmen gegen Journalisten, Herr
Kollege Ströbele - das sollten Sie zur Kenntnis
nehmen -, gab es nicht nur in den 90er-Jahren, sondern
es gab sie bis ins Jahr 2003 unter der Verantwortung von
Rot-Grün. Da sollte jeder vor seiner eigenen Haustür
kehren.
({2})
Ich finde, dieser Fall bietet Anlass zu einem grundsätzlichen Nachdenken über das Verhältnis von Presse
einerseits und Justizbehörden oder Nachrichtendiensten
andererseits. Ob es die „Cicero“-Affäre war, in der Redaktions- und Privaträume durchsucht und Material beschlagnahmt wurde, das ersichtlich mit dem eigentlichen
Ermittlungsverfahren nichts zu tun hatte, oder die Observation von Journalisten durch Mitarbeiter des BND: Der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist beim Kampf
gegen undichte Stellen in den Sicherheitsbehörden von
den Verantwortlichen nicht immer hinreichend beachtet
worden.
({3})
Es ist daran zu erinnern - man soll seine eigene berufliche Erfahrung in die Arbeit des Bundestags
einbringen -: Das Grundrecht der Pressefreiheit ist
nicht irgendein Verfassungsgrundrecht.
({4})
Dieser Verfassungsgrundsatz ist für unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung schlechthin konstituierend. Wer glaubt, unseren freiheitlichen Rechtsstaat dadurch stärken zu können, dass er Journalisten einfach
einmal so und ohne wasserdichte rechtliche Vorprüfung
observiert oder Redaktionsräume durchsucht, der wird
unseren Rechtsstaat in Wahrheit schwächen. Davon bin
ich zutiefst überzeugt.
Aber auch Journalisten - warum wollen wir aus Anlass dieser Debatte darüber nicht reden? - sind dafür verantwortlich, die Konsequenzen ihrer Veröffentlichungen
zu bedenken. Es ist unstreitig, dass Journalisten Leib und
Leben von Quellen oder zumindest für unsere Sicherheit
wichtige BND-Operationen gefährdet haben. Das geschah beispielsweise durch das Buch von Herrn
Schmidt-Eenboom. Ein anderes Beispiel aus jüngerer
Zeit: Die Veröffentlichung von Handynummern von alQaida-Führern in dem von mir angesprochenen
„Cicero“-Artikel war journalistisch nicht zwingend, hat
unseren Sicherheitsbehörden aber massiv geschadet. Ich
finde, journalistische Ethik verlangt auch, dass man die
Folgen seines Tuns selbstkritisch prüft und dazu sind
Journalisten aufgerufen. Das gehört zu dieser Debatte.
({5})
Eines ist aber auch wahr: Das eigentliche Problem der
undichten Stellen in Sicherheitsbehörden sind nicht die
Journalisten, sondern Mitarbeiter, die unserem Staat
durch ihre Indiskretionen schweren Schaden zufügen.
Das sind keine Kavaliersdelikte, sondern Straftaten, die
mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden müssen. Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich, dass in
aller Regel nicht Journalisten zum Durchstechen anstiften, sondern dass es vielmehr so ist, dass Material oftmals frei Haus geliefert wird, aus Frust über Vorgesetzte,
aus politischer Unzufriedenheit, aus Wichtigtuerei und
in Einzelfällen auch aus finanziellen Gründen. Deswegen bin ich der Auffassung: Die Politik muss den Chefs
unserer Sicherheitsbehörden volle Rückendeckung geben, wenn es darum geht, undichte Stellen aufzuspüren.
Ich sage es noch einmal: Das sind keine Kavaliersdelikte. Das muss verfolgt werden. Auch daran darf es keinen Zweifel geben.
({6})
Nur: Ich finde, wir dürfen die roten Linien nicht überschreiten. Überwachungskameras haben vor Redaktionen oder Wohnräumen von Journalisten nichts zu suchen.
({7})
Etwas anderes wäre es natürlich - das darf nicht vermengt werden; Herr Kollege Wieland, ich hoffe, dass Sie
mir auch da zustimmen werden -, wenn diese Kameras
vor Wohnungen von verdächtigen Mitarbeitern, etwa des
BND, ständen. Im Rahmen solcher Operationen zur
Eigensicherung würden dann selbstverständlich auch
Treffen verdächtiger Mitarbeiter von Nachrichtendiensten mit Journalisten festgehalten. Um es klar zu sagen:
Dagegen ist nichts einzuwenden. Investigativ arbeitende
Journalisten wissen das auch.
Der entscheidende Unterschied ist: Ausgangspunkt
der Observation muss der verdächtige Mitarbeiter sein
und es darf natürlich nicht der Journalist sein.
({8})
Im Ausland kann der BND auf Quellen, die unter der
Legende eines Journalisten auftreten, natürlich nicht verzichten. Das gilt gerade angesichts der neuartigen Bedrohung durch islamistische Terroristen. Wichtig ist
auch hier eine klare Trennung: Journalisten können
selbstverständlich im Ausland zur Informationsgewinnung im Rahmen des Auftrags des BND eingesetzt werden, aber nicht als Quelle zum Aufspüren undichter Stellen im BND selbst oder um im Inland im Sinne des
Dienstes zu wirken. Auch auf diesen Unterschied müssen wir großen Wert legen.
Ein großer Teil der Aufklärung, die die Grünen in ihrem Antrag fordern, findet bereits statt. Ich finde es erwähnenswert - Herr Kollege Ströbele, Sie hätten es hier
ansprechen können; denn es ist öffentlich gemacht
worden -, dass Herr Schmidt-Eenboom nach seinem Gespräch mit Herrn Hanning vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt hat, der BND sei ernsthaft bemüht, die Wahrheit zu ermitteln. Wenn ich es richtig
mitbekommen habe, hat sich Herr Hanning bei Herrn
Schmidt-Eenboom für die Überschreitung des dem BND
rechtlich Möglichen entschuldigt.
Es ist nun Aufgabe des neuen BND-Präsidenten und
des Koordinators im Kanzleramt, dafür zu sorgen, dass
sich der Dienst bei Operationen zur Eigensicherung in
seinem gesetzlichen Rahmen bewegt. Es ist zu hören,
dass die entsprechende Dienstanweisung mit diesem
Ziel überarbeitet wird und dass es künftig zeitlich befristete Maßnahmen geben wird, ergänzt durch klare Berichtspflichten. Das alles geht in die richtige Richtung.
Dass der Altbundeskanzler Gerhard Schröder jetzt
ausgerechnet Berater des Verlages ist, in dem der
„Cicero“ erscheint, dessen Durchsuchung wiederum der
Schröder-Freund und Altinnenminister Otto Schily gutgeheißen hat, lässt ebenso allgemeine Besserung erwarten. Insofern denke ich, dass sich die „Cicero“-Affäre so
nicht wiederholen würde. Es wäre dann fast eine Altbundeskanzleraffäre. Das werden wir wohl nicht erleben.
Die Pressefreiheit auf der einen Seite und die Eigensicherung der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden auf der anderen Seite müssen ins richtige Lot gebracht werden. Wenn der Antrag der Grünen ein Anlass
ist, um in dieser Debatte deutlich zu machen, dass wir
das ins Lot bringen wollen, dann hätte Ihr Antrag sogar
noch etwas Positives.
({9})
Auch ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Spätestens seit der berühmten „Spiegel“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der hohe Wert
der Pressefreiheit für unsere Demokratie eigentlich geklärt.
({0})
Wer hätte gedacht, dass wir uns heute, im Jahr 2005,
noch einmal mit Gefährdungen der Pressefreiheit auseinander setzen müssen, die teils schon länger zurückliegen, teils durchaus aktuell sind und eben in den letzten
Wochen bekannt geworden sind?
Es ging in allen Fällen um ein Grundproblem: Staatliche Stellen haben geltend gemacht, sie hätten das Bedürfnis, undichte Stellen im eigenen Apparat herauszufinden. Um dies zu erreichen, sind Journalisten unter
Beobachtung genommen worden, sind Redaktionsräume
durchsucht worden und ist selbst recherchiertes Material
beschlagnahmt worden. Dem muss das deutsche Parlament entschieden widersprechen. Dazu gibt die heutige
Debatte Gelegenheit.
({1})
Ich bin wirklich der Meinung, dass die Vorgänge, die
im Verhältnis des Bundesnachrichtendienstes zu dem
Journalisten Schmidt-Eenboom und anderen bekannt geworden sind, dem Ansehen des BND ungeheuer geschadet haben. Da kann man nur durch rückhaltlose Aufklärung Abhilfe schaffen.
({2})
Das wird jetzt durch einen Sonderermittler, einen
ehemaligen Richter des Bundesgerichtshofs, versucht.
Ich bin der Überzeugung, dass das Parlamentarische
Kontrollgremium dann, wenn der Bericht vorliegt - hoffentlich möglichst bald -, geeignete Wege finden wird,
um das, was nicht geheimdienstrelevant und nicht geheimhaltungsbedürftig ist, der Öffentlichkeit zugänglich
zu machen.
Wir warten auch darauf, dass uns der Sonderermittler
Hinweise zu der Frage gibt, ob es erforderlich ist, das
BND-Gesetz zu ändern. Es fällt auf, dass hier eine
Schwachstelle in rechtsstaatlicher Hinsicht besteht. Dem
Bundesnachrichtendienst ist es erlaubt, zur Eigensicherung im Inland tätig zu werden. In den Fällen, über die
wir sprechen, in denen Journalisten und Publizisten observiert worden sind, war aber immer schon der Verdacht des Geheimnisverrates durch Mitarbeiter des BND
gegeben. Also hätte rechtmäßigerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft eingeschaltet
werden müssen. Das ist wichtig; denn dann sind wir in
einem geordneten Verfahren nach der Strafprozessordnung und dann werden solche Maßnahmen richterlich
angeordnet und überprüft.
({3})
Das ist im Normalfall eine Garantie dafür, dass nicht so
über das Ziel hinausgeschossen wird, wie das durch den
BND selbst geschehen ist.
Wir haben am Fall „Cicero“ und an vielen anderen
Fällen, die der Deutsche Journalisten-Verband dokumentiert hat, gesehen, dass in der Rechtspraxis die bisher bestehenden Vorschriften des Strafrechts und des Strafprozessrechts leider keinen hinreichenden Schutz davor
bieten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
missachtet wird. Das geschieht leider. Daher hat die
FDP-Fraktion eine Initiative ergriffen und eine fraktionsinterne Sachverständigenanhörung durchgeführt.
Dabei ist deutlich geworden, dass wir wahrscheinlich
sehr radikal - im Sinne von: an der Wurzel des Problems ansetzen müssen.
({4})
Niemand versteht, warum sich ein Journalist, der eine
ihm mitgeteilte Information verwendet und veröffentDr. Max Stadler
licht, der Beihilfe zum Geheimnisverrat schuldig
macht, wenn doch der Geheimnisverrat bei den Mitarbeitern von Behörden liegt, die solche Informationen
unzulässigerweise herausgeben. Trotzdem existiert eine
solche Rechtsprechung. Wir werden gemeinsam überlegen müssen, ob wir als Gesetzgeber klarstellen, dass
diese Strafbarkeit des Verhaltens der Journalisten auszuschließen ist. Strafbar ist das Verhalten der Mitarbeiter
von Behörden, die gegen ihre Vorschriften handeln und
solche Informationen herausgeben. In diese Richtung
müssen wir gehen.
({5})
Wir werden darüber hinaus erörtern müssen, ob man
nicht auch in der Strafprozessordnung das Redaktionsgeheimnis klarer als bisher schützt, indem recherchiertes Material schlechthin beschlagnahmefrei gestellt
wird. Damit entfallen auch Durchsuchungen in Redaktionsräumen sowie in Arbeits- und Wohnräumen der einzelnen Journalisten, wie sie, wie gesagt, nicht nur im
Fall „Cicero“, sondern leider in einer Vielzahl von Fällen vorgekommen sind.
Wir sollten daher all diese Fälle zum Anlass nehmen,
nach der Weihnachtspause als Gesetzgeber initiativ zu
werden. Die FDP jedenfalls wird in Auswertung der von
uns durchgeführten Anhörung hier bald Vorschläge unterbreiten. Ich lade Sie ein, diesen Vorschlägen zu folgen; denn sie haben das gemeinsame Ziel, einen besseren Schutz des Redaktionsgeheimnisses sicherzustellen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus-Uwe Benneter,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Stadler, so blauäugig
können selbst Sie nicht sein, dass Sie meinen, nach der
„Spiegel“-Entscheidung gebe es keine Probleme mehr
zwischen journalistischer Tätigkeit auf der einen Seite
und den Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite.
({0})
- Der Wert der Pressefreiheit ist nicht erst seither geklärt; er war auch vorher schon geklärt. Deshalb haben
die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Pressefreiheit in Art. 5 durch institutionelle Garantie auch einen
besonderen Stellenwert verschafft.
({1})
Es geht in dieser Debatte um den Antrag der Grünenfraktion „Überwachung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst“. Ich habe nicht so richtig verstanden, warum er gerade zu diesem Zeitpunkt gestellt wird.
Das Parlamentarische Kontrollgremium ist einstimmig zu der Auffassung gekommen, dass hier offensichtlich klare Rechtsverletzungen vorliegen, die aber noch
nicht genügend aufgeklärt sind, und hat deshalb einen
Sonderermittler eingesetzt, aufgrund einer Bestimmung, die gerade zu diesem Zweck in das Gesetz für das
Parlamentarische Kontrollgremium mit aufgenommen
wurde. Deshalb, denke ich, ist es selbstverständlich, dass
wir alle erst einmal abwarten, was dieser Sonderermittler
an Erkenntnissen gewinnen wird. Diese wird er dann natürlich dem Parlamentarischen Kontrollgremium vortragen.
({2})
Wir sind uns, weil es hier um das hohe Gut der Pressefreiheit geht, sicher alle einig, dass die Erkenntnisse
nicht dem Parlamentarischen Kontrollgremium vorbehalten bleiben, sondern auch uns zur Verfügung gestellt
werden, soweit diese - da stimme ich mit dem Kollegen
Stadler überein - nicht geheimhaltungsbedürftig sind.
Ich gehe davon aus, dass der jetzige Innenminister, genau wie der vorherige Innenminister, und sein Staatssekretär das nicht zu eng sehen werden, sondern bereit sein
werden, das, was notwendig ist, um Erkenntnisse zu gewinnen - anhand deren wir dann beispielsweise auch
über Ihre Vorschläge, inwieweit den Strafverfolgungsbehörden in einer gesetzlichen Vorschrift eine Grenze gesetzt werden sollte, genauer nachdenken könnten -, zu
ermöglichen.
Sie haben vorgeschlagen, dass wir Schlussfolgerungen in diesem Antrag jetzt positiv zur Kenntnis nehmen
sollen. Ich sehe diese Schlussfolgerungen nicht.
({3})
Wir können den Beschluss zustimmend zur Kenntnis
nehmen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium
hier eine weitere Aufklärung für erforderlich hält und die
Ergebnisse dann dem Plenum vorträgt.
Wirklich wichtig ist - auch das ist vom Parlamentarischen Kontrollgremium so zum Ausdruck gebracht
worden -, dass ausdrücklich gefordert wird, dass sofort
Maßnahmen ergriffen werden, um Derartiges jedenfalls
für die Zukunft auszuschließen.
Wir alle wissen ja noch nicht, wie lange diese Vorgänge andauerten und auf welchen Wegen bzw. mit welchen Mitteln solche Beobachtungen stattgefunden haben. Deshalb denke ich, dass diese Forderung sicherlich
von uns übernommen werden kann. Aber hinsichtlich
der anderen Forderungen sollten wir abwarten, bis das
Parlamentarische Kontrollgremium eine entsprechende
Aufklärung gegeben hat.
Diese Auseinandersetzung gibt Gelegenheit, noch
einmal grundsätzlich zum Wert der Pressefreiheit Stellung zu nehmen. Kollege Stadler hat darauf hingewiesen, dass die Pressefreiheit für jede moderne Demokratie
konstitutiv und unentbehrlich ist. Für die freie Meinungsbildung ist unabdingbar, dass Informationen gewonnen und zur Verfügung gestellt werden können.
Diese Meinungsbildung ist die Grundlage für die politische Auseinandersetzung. All dies ist grundlegend für
demokratische Werte schlechthin. Ich denke, dem Staat
ist es grundsätzlich immer verwehrt, unmittelbar bei der
Presse einzugreifen. Deshalb gibt es ein Zensurverbot
und deshalb ist es wichtig, dass sich der Staat in diesem
Bereich sehr zurückhalten muss.
Es sind Beispiele angesprochen worden, die offensichtlich zeigen, dass der Staat versucht, mittelbar auf
Presseorgane Einfluss zu nehmen, indem einschüchternd
auf Journalisten eingewirkt werden soll. Zumindest soll
es den Journalisten erschwert werden, die Informationsbeschaffung so frei zu handhaben, wie es für eine freie
Presse notwendig ist.
Zur verfassungsrechtlich verbürgten Pressefreiheit
gehört der Schutz der Informationsbeschaffung, auch
der Schutz der Vertraulichkeit der gesamten Redaktionsarbeit. Das Verhältnis zwischen Journalisten und den Informanten muss von jeglicher staatlichen Gewalt grundsätzlich respektiert werden. Denn die Presse kann nicht
auf private Mitteilungen verzichten.
Herr Ströbele, Sie übertreiben natürlich ein wenig,
wenn Sie davon sprechen, dass sich nun alle Menschen
an Sie wenden, weil sie Angst haben, sie würden unter
Beobachtung stehen,
({4})
und dass sie sich mit Ihnen nur noch in diesem Hause
treffen wollen. Der Punkt ist, dass hier wahrscheinlich
ein seriöseres Ambiente gegeben ist als in Ihrem Wahlkreisbüro.
({5})
- Ich wusste, dass Sie das sagen.
Jedenfalls muss uns klar sein, dass sich die Informationsquelle, die auf privaten Mitteilungen beruht, auf die
Wahrung dieser Vertraulichkeit in unserem Staate verlassen können muss. Auch das gehört zum Grundrecht
der Pressefreiheit. Eine Voraussetzung für die Pressefreiheit ist nämlich, gründliche Recherchen durchzuführen
und eine entsprechende Informationsbeschaffung vornehmen zu können. Diese Rechte sind konstitutiv für die
Demokratie.
Wir alle wissen aber, dass die Pressefreiheit keinen
absoluten Vorrang gegenüber anderen sehr wichtigen
Grundrechten genießt. Auch die Strafverfolgung und ein
geordnetes rechtsstaatliches Verfahren sind ein hohes
Gut. Ein hohes Maß an Gerechtigkeit erfordert eben,
dass wir beispielsweise geordnete Strafverfahren durchführen können, damit der Wahrheit letztendlich zum
Durchbruch verholfen werden kann. Insofern können
Grundrechte in Konkurrenz zueinander treten.
Es geht hier nicht um irgendwelche Privilegien von
einzelnen Journalisten, sondern es geht hier grundsätzlich darum, sicherzustellen, dass die Presse ihre Aufgaben erfüllen kann. Dabei ist abzuwägen, ob nicht ein anderer Grundrechtsträger Vorrang genießt bzw. die
Beachtung anderer Gemeinschaftsgüter wie beispielsweise einer geordneten Strafverfolgung eine gewisse
Einschränkung der Pressefreiheit bedingt.
Angesichts der Tatsache allerdings, dass in letzter
Zeit - das betrifft nicht den vorliegenden Antrag - ganze
Keller ausgeräumt wurden und das alles zu Zufallsfunden erklärt wurde, sollten wir uns alle Gedanken darüber
machen, wie mit Journalisten umgegangen wird und hier
offensichtlich die Möglichkeiten einer Strafverfolgungsbehörde missbraucht worden sind, die nicht im Regierungsauftrag,
({6})
sondern offensichtlich in Wahrnehmung eigener Rechte
gehandelt hat. Das sollte uns schon zu denken geben.
Dies alles sollten wir uns bei der Beratung dieses Antrages in den zuständigen Ausschüssen im Einzelnen vor
Augen führen und daraus gegebenenfalls die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen.
Auch ich wünsche Ihnen allen geruhsame Tage.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der Grünen ist ein erster Schritt in die richtige
Richtung,
({0})
den die Linksfraktion auf jeden Fall unterstützen wird.
Jahrelang haben Agenten des Bundesnachrichtendienstes Journalisten bespitzelt, sie gefilmt und sie in Supermärkte verfolgt. Es soll sogar dazu gekommen sein, dass
man ihnen in die Sauna nachgestiegen ist.
({1})
Auch dem Leiter des Friedensforschungsinstituts in
Weilheim, Erich Schmidt-Eenboom, sind sie offenbar zu
einem Termin mit Politikern nachgereist.
Der BND hat Journalisten als informelle Mitarbeiter angeworben, die dem Dienst über andere Journalisten berichten. Er hat Journalisten - um ein Wort des
neuen BND-Chefs Ernst Uhrlau zu zitieren - als „Fliegenfänger“ eingesetzt.
Von der Pressefreiheit hält man beim Bundesnachrichtendienst offensichtlich nicht viel. Der Geheimdienst
pflegt ein Freund-Feind-Denken, in dem Journalisten
entweder willige Instrumente sind oder aber Gegner, gegen die operative Maßnahmen eingesetzt werden. Die
Linksfraktion warnt schon lange davor, dass Geheimdienste nicht dem Schutz der Demokratie dienen, sondern eine Gefährdung darstellen. Wir haben leider, wie
sich jetzt zeigt, wieder einmal Recht behalten.
({2})
Anstatt nun endlich alle Fakten auf den Tisch zu legen, setzt die Bundesregierung weiter auf Konspiration.
Sie gibt höchstens das preis, was wir sowieso in den Medien nachlesen können. Herr Uhrlau hat uns Obleute
heute zwar dankenswerterweise informiert;
({3})
aber wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet und dürfen hier nichts sagen.
({4})
- Herr Grindel, das wissen auch Sie. Auch Sie waren dabei.
Ich denke, dass mit dieser Geheimniskrämerei gegenüber der Öffentlichkeit endlich Schluss gemacht werden
muss; denn sie hat ein Recht darauf, informiert zu werden.
({5})
Dass der Skandal mehr als zehn Jahre lang unentdeckt
blieb, zeigt überdeutlich, dass es keine effektive Kontrolle der Geheimdienste gibt. Die Öffentlichkeit weiß
bis heute nicht, wer diese Aktionen damals angeordnet
hat. Die Öffentlichkeit weiß auch nicht, mit welchen
Methoden der BND gearbeitet hat.
({6})
Es gab Lauschangriffe, Briefe wurden geöffnet; wir kennen das ganze Repertoire.
Die Öffentlichkeit weiß bis heute auch nicht, ob Abgeordnete betroffen sind und von Fahndern ins Visier genommen worden sind. Hinweise darauf gibt es nur in der
Presse. Ebenso wenig weiß die Öffentlichkeit, ob der
BND-Präsident oder sogar das Kanzleramt Bescheid
wusste. Wenn ja, dann hätten höchste Regierungsstellen
rechtswidrige Aktionen geduldet. Wenn nein, dann wäre
das wieder ein Beleg dafür, dass wir keine wirkliche
Kontrolle von Geheimdiensten haben.
Das Wenige, was wir überhaupt wissen, wissen wir,
wie gesagt, aus den Medien. Die Bundesregierung,
meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, hält
sich hartnäckig weiter daran, keine lückenlose Aufklärung vorzulegen. Das ist wirklich ein Armutszeugnis für
Ihr Verständnis von Pressefreiheit und Demokratie.
Was nun den Antrag der Grünen angeht: Es reicht
meines Erachtens nicht aus, zu fordern, dass über diesen
Skandal berichtet wird.
Ich glaube auch, dass wir nicht nur fordern sollten,
dass die Regierung demnächst keine Fehler mehr macht.
Vielmehr muss sich das Parlament selbst mit diesen Vorgängen beschäftigen und geeignete Maßnahmen und
Schritte einleiten, damit so etwas nicht wieder geschieht.
({7})
- Im Antrag steht dazu nichts, Herr Kollege.
Die Fraktion der Linken hat auch kein Verständnis dafür, dass gemäß dem Antrag der Zwischenbericht des
Parlamentarischen Kontrollgremiums nur in einer zensierten Fassung vorgelegt werden soll. Wir fordern, Ross
und Reiter zu nennen. Wir fordern, Schluss mit dieser
Geheimpolitik zu machen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/85 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Vereinbarte Debatte
Entwicklung des Friedensprozesses in Bosnien
und Herzegowina ({0})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Franz Josef Jung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, am
14. Dezember 1995, wurde das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Seit diesem Zeitpunkt wird die Umsetzung
des Friedensabkommens von einer multinationalen Friedenstruppe abgesichert.
Wenn man diese zehn Jahre Revue passieren lässt, ist
hier, wie ich meine, eine vom Grundsatz her mehr als
positive Entwicklung eingeleitet worden. Ich sage Ihnen
ganz offen, dass ich mir in der Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel, nicht vorstellen konnte, dass wir mitten in
Europa wieder Massenvergewaltigungen und Massenvertreibungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen haben würden. Man kann also froh
darüber sein, dass diese Entwicklung zu einer Stabilisierung der Situation im Balkan geführt hat.
({0})
Die multinationale Friedenstruppe gewährleistet den
Rahmen für den Prozess der politischen Normalisierung
und den gesellschaftlichen Wiederaufbau des Landes.
Nach der erfolgreichen Beendigung der unter NATOFührung stehenden Operation SFOR hat die Europäische
Union vor einem Jahr die Verantwortung für den friedenssichernden Einsatz in Bosnien-Herzegowina übernommen. Derzeit sind rund 6 200 Soldaten aus mehr als
30 Nationen, auch aus Nicht-EU-Staaten, bei EUFOR
eingesetzt. Dazu gehören etwas mehr als 1 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Die Operation Althea ist die bislang größte militärische Operation im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie ist eine sinnvolle Ergänzung des zivilen Engagements der EU. Es bedarf
einer militärischen Komponente. Die Europäische Union
hat hier gezeigt, dass sie auch im Hinblick auf die Friedenssicherung im militärischen Bereich umfassend
handlungsfähig ist. Das ist im Zusammenhang mit dieser
Debatte positiv festzuhalten.
({1})
Ich glaube, die Ergebnisse können sich sehen lassen.
Auch der Übergang der Verantwortung von der NATO
zur EU hat nicht zu einem Sicherheitsvakuum geführt.
Althea vermittelt der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina das gleiche Gefühl von Sicherheit wie die vorherigen Operationen IFOR und SFOR unter NATO-Führung. Diese Erfahrung zeigt, dass sich der zivilmilitärische Ansatz der EU im Bereich des Krisenmanagements bewährt hat.
Es ist festzustellen, dass in Bosnien-Herzegowina bis
heute große Fortschritte erzielt worden sind. Das Land
ist auf seinem Weg zu einem stabilen und lebensfähigen
multiethnischen Staat weit vorangekommen. Die Empfehlung der EU-Kommission für den Beginn von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ist der jüngste Beweis dafür.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
Sie stimmen mir zu, wenn ich sage, dass mit der Entscheidung für den neuen Repräsentanten in Person unseres ehemaligen Kollegen Dr. Christian SchwarzSchilling eine gute Entscheidung getroffen worden ist,
die diesen Prozess positiv unterstützt.
({2})
Meine Damen und Herren, auch die Einigung der bosnischen Teilrepubliken und des Zentralparlamentes auf
gesamtbosnische Verteidigungsstrukturen ist ein Meilenstein auf dem Weg des Landes in die euroatlantischen
Strukturen. Dort rechnet man mit einer baldigen Einladung zum Partnership-for-Peace-Programm der NATO.
Ich habe meinem bosnischen Amtskollegen bei seinem Besuch vor zwei Wochen in Berlin deutlich gemacht, dass Bosnien-Herzegowina den Prozess seiner
Westintegration ein Stück weit selbst bestimmt. Denn
vom Erfolg der Fortschritte bei der Stabilisierung und
der Sicherung im eigenen Land - wichtig ist zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof - wird es abhängen, wie schnell man sich bezüglich der Westintegration die Hand reichen kann.
({3})
Es kommt darauf an, die eingeleiteten Reformen positiv weiterzuentwickeln. Die bisherige positive Entwicklung wäre aber ohne die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und die militärische Absicherung
des Friedensprozesses nicht möglich gewesen. Deshalb
möchte ich bei dieser Gelegenheit all unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort im Einsatz waren und noch
sind, herzlich für ihren Einsatz für die Friedenssicherung
und die Stabilisierung dieses Landes danken. Sie leisten
einen großartigen Beitrag, der Anerkennung findet. Deshalb möchte ich ihnen von hier aus meinen Dank aussprechen.
({4})
Zur Fortsetzung des begonnenen Prozesses bleibt die
Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft und die Fortführung der militärischen Sicherheitspräsenz weiterhin notwendig; denn trotz der erzielten Erfolge gibt es derzeit noch keine dauerhafte, sich selbst
tragende Stabilität in Bosnien-Herzegowina. Auch aus
diesem Grund müssen wir dort weiterhin unseren Beitrag leisten.
Wir können aber zuversichtlich sein, dass sich bei einer weiterhin positiven Entwicklung des Landes mittelfristig Perspektiven für die Reduzierung der internationalen Streitkräftepräsenz ergeben. Derzeit ist es aber
noch notwendig - so wurde es auch gemeinsam vereinbart -, dass wir dort unseren Beitrag leisten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland handelt in Solidarität mit seinen Verbündeten und
Partnern auf der Grundlage der Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Deshalb ist unser Engagement in Bosnien-Herzegowina weiterhin notwendig. Es dient der Sicherheit und dem Wohl der Menschen
dort, aber es dient letztlich auch der Sicherheit unseres
eigenen Landes und entspricht unserer Verantwortung in
den Vereinten Nationen. Deshalb halte ich es weiterhin
für notwendig, dass wir dort unseren Beitrag leisten. Ich
bitte daher um die weitere Unterstützung des Parlamentes für die friedenssichernden Maßnahmen.
Besten Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Stinner,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach meinem Dafürhalten
ist der militärische Einsatz, auch der Einsatz der Bundeswehr, in Bosnien-Herzegowina über die Zeit hinweg
ohne jeden Zweifel ein großer Erfolg gewesen. Es ist ein
großer Erfolg für das Land Bosnien-Herzegowina, weil
in der Tat ausschließlich durch den Schutz der internationalen Truppen gewährleistet wurde, dass sich überhaupt
ein gesellschaftlicher und politischer Prozess entwickeln
konnte. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Militär
friedenserhaltend und friedenssichernd eingesetzt werden kann.
Es ist aber auch ein Erfolg für Europa. Europa hat
sich hier erstmals selbst und der Welt gezeigt, dass es in
der Lage ist, ein größeres militärisches Engagement in
Eigenverantwortung durchzuführen. Wir erinnern uns
daran, dass wir alle durchaus Bedenken hatten, ob SFOR
wirklich abgelöst werden kann. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es möglich ist. Das ist ein weiterer Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Außenund Sicherheitspolitik; und das ist gut so.
({0})
Deutsche Soldaten haben bei diesem Prozess eine
große Rolle gespielt. Wir stellen nach wie vor mit über
1 000 Soldaten ein großes Truppenkontingent. Ich
glaube - Herr Minister Sie haben es angesprochen -, wir
alle können stolz darauf sein, dass und wie unsere
Soldaten auch in diesem Falle Dienst leisten für den
Frieden, für die Friedenserhaltung. Wir sind stolz darauf
und bedanken uns bei den Soldaten für ihren Einsatz.
({1})
Am 25. November, an einem symbolischen Tag, hat
die Europäische Union beschlossen, den Prozess der
Verhandlung über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina anzugehen ein wichtiger Schritt auf dem gemeinsam verabredeten
Weg nach Europa. Wir alle wissen, dass die Europäische
Union im Jahre 2003 in Thessaloniki ein sehr starkes
politisches Signal für diese Richtung gegeben hat. Das
SAA ist hier sicherlich ein ganz wichtiger Schritt.
Wir müssen zehn Jahre nach Dayton erkennen: Jawohl, es gibt eine ganze Menge an Erfolgen. Mit der
Mehrwertsteuer gibt es ab dem 1. Januar 2006 erstmals
- längst überfällig - zentrale Steuern. Es gibt eine Polizeireform. Das Zollregime wurde vereinheitlicht. Das alles sind Schritte in die richtige Richtung.
Auch ich bin froh - genau wie es der Herr Minister
gesagt hat -, dass wir mit Herrn Schwarz-Schilling einen neuen Hohen Repräsentanten haben, der tatsächlich
wie kein Zweiter für dieses Amt geeignet ist;
({2})
denn unser ehemaliger Kollege Schwarz-Schilling bringt
Eigenschaften mit, die gerade jetzt in diesem Lande
dringend notwendig sind. Durch seine jahrelange Tätigkeit als Streitschlichter bringt er die Fähigkeit zum Kompromiss, zum Ausgleich und zu Verhandlungen mit. Genau das ist in Bosnien-Herzegowina in den kommenden
Monaten und Jahren wichtig. In Richtung auf dieses
Land und auf die Politiker dort sage ich: Das ist auch
wichtig für die politische Klasse in diesem Land.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Europäische Union versteht sich als Gemeinschaft guter Nachbarn. Ich erwarte - wir alle sollten
das erwarten - von Ländern, die zu uns kommen wollen,
dass auch sie dieses europäische Konzept verstehen und
leben wollen.
({3})
Wir sagen deutlich: Jawohl, ihr könnt zu uns kommen,
aber nur dann, wenn ihr diese europäischen Werte verinnerlicht und sie auch auf euch anwendet. Es ist wichtig,
dass wir dies sehr deutlich sagen. Ich halte es für unzuträglich für Europa, dass wir Länder zu uns holen, die
nicht in der Lage und willens sind, ihre eigenen ethnischen, regionalen und nationalen Konflikte vorher zu lösen. Wir helfen ihnen dabei, aber die Konflikte müssen
vorher gelöst sein und es müssen vorher gute Nachbarschaftsbeziehungen zu allen in der Region hergestellt
worden sein.
Der nächste Schritt ist nun die Verfassung, von allen
angefordert und ein sehr wichtiger Prozess für das Land
Bosnien-Herzegowina. Ohne vorgreifen zu wollen: Es
ist sicherlich richtig, dass wir vom Verfassungsprozess
zwei Dinge auf jeden Fall erwarten, nämlich erstens eine
deutliche Stärkung des Zentralstaates und zweitens eine
deutliche Vereinfachung der staatlichen Strukturen. Wir
alle wissen, dass durch die dysfunktionalen Strukturen
- um diesen Terminus technicus einzuführen - sehr viele
Mittel und sehr viel Energie aufgewendet werden, was
nicht gerade zur Entwicklung des Landes beiträgt.
In diesem Zusammenhang werden von uns immer die
Begriffe „Eigenverantwortung“ und „Ownership“
- sehr richtige, sehr wichtige Begriffe - im Mund geführt. Ich frage mich aber, ob wir diesen Begrifflichkeiten auch Taten folgen lassen. Da möchte ich insbesondere auf die immer noch bestehenden Kompetenzen des
obersten Repräsentanten eingehen, und zwar insbesondere auf die Bonn Powers, die im Jahre 1997 eingeführt
worden sind. Sie waren sicherlich am Anfang sinnvoll,
aber seitdem sind acht Jahre vergangen. Für mich ist es
völlig unverständlich, wie wir einen Verfassungsprozess
beginnen und durchführen wollen, ohne uns vorher - ich
betone ausdrücklich, liebe Kolleginnen und Kollegen:
vorher - über die Abschaffung der Bonn Powers einig
geworden zu sein.
Wir wollen einen Verfassungsprozess. Wir wollen
Ownership. Wir wollen eine Inangriffnahme der Verfassung durch Bürger und Politiker dieses Landes. Wie
können wir dann zulassen, dass, wenn eine Verfassung
verabschiedet ist, immer noch ein internationales Gremium existiert, das uneingeschränkte Kompetenzen hat?
Deshalb sage ich: Bonn Powers am Anfang ja, aber jetzt
ist es hohe Zeit, die Bonn Powers abzuschaffen, und
zwar bevor die Verfassung endgültig verabschiedet ist.
Es zeugt meines Erachtens von einem unglaubwürdigen
Verfassungsverständnis, wenn wir dem Volk sagen: Jawohl, verabschiedet eure Verfassung, aber am Ende des
Tages gibt es den Hohen Repräsentanten, der mit uneingeschränkten Bonn Powers handeln kann.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat meine
Fraktion, haben wir als FDP einen entsprechenden Antrag eingebracht, den wir jetzt behandeln werden. Ich
möchte Sie ganz herzlich bitten, mit uns diesen Weg zu
gehen, damit wir gemeinsam dafür sorgen, dass dieses
geschundene Land den Weg nach Europa in Frieden,
Freiheit und positiver gesellschaftlicher Entwicklung
finden kann.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Staatsminister Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
zehn Jahren beendete das Friedensabkommen von Dayton den blutigsten und verlustreichsten der vier Balkankriege der 90er-Jahre. In der Tat: Am 21. November
dieses Jahres, genau am zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens, hat die EU die
Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina aufgenommen und damit, was den Prozess der Integration dieses
Landes in Europa betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Zwischen der Tragödie des Krieges, der von 1992 bis
1995 andauerte, und heute liegen zehn Jahre intensivsten
Engagements der internationalen Gemeinschaft: für einen Friedensprozess und ein Nation Building, das es in
diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat. Dieser
Prozess erforderte den Einsatz von vielen Soldaten, Polizisten, Helfern, Experten und auch von sehr viel Geld.
Dieser Einsatz hat sich gelohnt. Ich habe erfreut zur
Kenntnis genommen, dass der regionalkundige Kollege
Dr. Stinner das genauso sieht.
Für die Menschen in Bosnien-Herzegowina ist der
Krieg heute eine schlimme Erinnerung. Das Land selbst
ist weitgehend stabil. Zieht man eine politische Zwischenbilanz, wird man auf Licht und Schatten stoßen;
aber allmählich überwiegt das Licht. Die Mehrheit der
Flüchtlinge ist zurückgekehrt und das, was im Krieg an
Gut, Boden und Häusern requiriert worden war, wurde
zurückgegeben.
Leider hat sich die Mehrheit der Binnenflüchtlinge
nicht dazu entschließen können, in die ehemaligen Siedlungsorte zurückzukehren. Aber bei der Demokratisierung gibt es erhebliche Fortschritte. Heute sind freie und
faire Wahlen in Bosnien-Herzegowina an der Tagesordnung. Der Gesamtstaat mit seinen beiden unterschiedlichen Entitäten - auf der einen Seite die Serbische Republik, auf der anderen Seite die Bosnisch-Kroatische
Föderation - wächst Schritt für Schritt zusammen. Eingeleitet ist zum Beispiel die Bildung einer gesamtstaatlichen Armee mit einem gemeinsamen Verteidigungsministerium. Dasselbe ist auch für die Polizei geplant. Es
gibt schon eine funktionierende gemeinsame Grenzpolizei, ein oberstes Gericht, eine Staatsanwaltschaft und
eine Steuerbehörde. Was aber noch fehlt, ist die Identifizierung aller Bürger mit ihrem gemeinsamen Staat.
Als habe die schwierige Wegstrecke die Menschen erschöpft, engagieren sie sich nur zögerlich in Politik und
Gesellschaft. Gesellschaftliches Engagement ist im jetzt
beginnenden Verfassungsprozess aber notwendig. Wahrscheinlich muss es noch einige Fortschritte in der Wirtschaftsstruktur und der Wirtschaftsentwicklung geben,
bis die Bosnier Vertrauen in ihre eigene Zukunft schöpfen. Noch bleibt, Herr Kollege Stinner, die ordnende
Hand des Hohen Repräsentanten der internationalen
Staatengemeinschaft vor Ort unverzichtbar. Lord Paddy
Ashdown hat dieses Amt, das er im Mai 2002 angetreten
hat, bis heute mit hoher Autorität, geradezu mit Leidenschaft wahrgenommen. Ich finde, der Deutsche Bundestag hat allen Anlass, ihm dafür herzlich zu danken.
({0})
Vor zwei Tagen, am 14. Dezember 2005, hat der Dayton-Implementierungsrat beschlossen, unseren früheren
Kollegen und ehemaligen Bundesminister Dr. Christian
Schwarz-Schilling, der als Mediator und Streitschlichter
viel Erfahrung in exakt diesem Land hat, zu seinem
Nachfolger zu ernennen. Dazu gratulieren wir ihm herzlich. Diese Ernennung drückt die Anerkennung seiner
Arbeit aus, aber auch ein wenig die Anerkennung und
den Respekt für das, was Deutschland in diesem Friedens- und Stabilisierungsprozess geleistet hat.
Althea ist in diesem Kontext tatsächlich ein sehr
wichtiger Teil, aber nicht der einzige. Deutschland hat
im Rahmen von Projekten zur Flüchtlingsrückkehr, zur
Demokratisierung, zur Medienhilfe und zur Wirtschaftsförderung mehr als 100 Millionen Euro beigesteuert.
Darüber hinaus stellt Deutschland das größte Truppenkontingent, nämlich annähernd 1 000 der bei Althea eingesetzten 6 200 Soldaten.
Nirgendwo kann man die ESVP, die Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, besser als in
Bosnien-Herzegowina in der Praxis beobachten, und
zwar sowohl ihren zivilen als auch ihren militärischen
Teil. Auf den EU-Gipfeln in Köln und Helsinki im Jahre
1999, also unmittelbar nach dem Kosovokrieg, wurde
die Bildung europäischer Fähigkeiten beschlossen, die
jetzt und auch in Zukunft in Bosnien zum Einsatz kommen. Mit der EUPM, der europäischen Polizeimission,
hat es 2003 begonnen. Noch heute versuchen 170 Polizeiberater, eine eigene, wirksame Polizei in BosnienHerzegowina auszubilden. Mit Althea ist es weitergegangen, diesem in der Tat umfangreichsten europäischen
Beitrag zur Friedenskonsolidierung. Wie Bundesminister Jung schon gesagt hat: Hier ist der Übergang von der
NATO zur EU und auch die Zusammenarbeit gut verlaufen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, der weitere Weg Bosnien-Herzegowinas ist
vorgezeichnet. Wir wollen, dass das Land mehr und
mehr Eigenverantwortung übernimmt. Dabei werden
die für Oktober nächsten Jahres vorgesehenen Wahlen
eine wichtige Rolle spielen, sie werden einen Meilenstein darstellen. Herr Kollege Dr. Stinner, wenn der
demokratische Transformations- und Stabilisierungsprozess in Bosnien-Herzegowina bis Ende 2006 ausreichende Fortschritte gemacht haben wird, dann soll die
Eigenverantwortung deutlich ausgeweitet werden,
({1})
auch dadurch, dass dann der Hohe Repräsentant einem
Sonderbeauftragten der EU - den werden wir weiter
brauchen - weichen kann, der aber, so viel ist klar, verringerte Einwirkungsrechte auf die bosnische Politik haben wird; ich glaube, in diesem Punkt liegen wir nicht
weit auseinander.
Entscheidend für eine gute Zukunft des Landes wird
aber auch sein, dass die EU bei ihrer Westbalkanpolitik
bleibt, wie sie auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki formuliert und beschlossen worden ist: die EUPerspektive für Bosnien-Herzegowina und die Westbalkanregion muss eindeutig bestehen bleiben. Gerade ist,
wie gesagt, mit der Aufnahme von Verhandlungen über
ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ein
neues Kapitel eröffnet worden. Ich will an dieser Stelle
noch einmal festhalten: Die neue Bundesregierung hat
sich in ihrem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005
eindeutig zur Aufrechterhaltung der europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten - auch aus friedenspolitischen Gründen - entschlossen. Wir werden bei diesem Prozess ein guter Partner sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Norman Paech, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wenigen Wochen, die wir uns jetzt im neuen Bundestag mit
der Außenpolitik beschäftigt haben, sind ganz vom Militär und vom Geheimdienst bestimmt worden. Sie kennen
ja nun allmählich unsere Allergie gegen diese Themen,
({0})
sodass es Sie nicht überrascht haben wird, dass wir auch
den Abzug der deutschen Truppen aus Bosnien und Herzegowina fordern.
({1})
Wir halten Militärmissionen zur Befriedung und zum
Aufbau eines Staates trotz dessen, was Herr Erler und
Herr Stinner hier an Erfolgen der bisherigen Missionen
genannt haben, für überhaupt nicht mehr zeitgemäß.
({2})
Als vor zwölf Monaten die SFOR-Mission durch die
Operation Althea abgelöst wurde, hat man nicht etwa ein
neues Kapitel aufgeschlagen, sondern man vertraute bei
der Stabilisierung eines Staates immer noch auf den militärischen Weg. Damals hat die Bundesregierung Althea
als sozusagen erste Militärmission der EU gefeiert.
Schon damals konnten wir nicht mitfeiern. Denn Bundesregierung und Bundestag haben eines überhaupt nicht
berücksichtigt.
({3})
- Ja, genau darum geht es; darauf werde ich eingehen. Die wirtschaftliche und soziale Situation der Mehrheit
der Bevölkerung ist nach wie vor äußerst miserabel.
Bosnien-Herzegowina ist immer noch, trotz aller Erfolge, weit von dem entfernt, was wir ein friedliches und
demokratisches Land nennen können. Doch in einer
Hinsicht hat sich die Lage in Bosnien-Herzegowina seit
dem Daytoner Friedensabkommen von 1995 in der Tat
entscheidend verändert: Gefahr für den Friedensprozess
geht heute nicht mehr von militärischen Konfrontationen
und bewaffneten Strukturen aus. Im Rahmen des AltheaMandats wurde die Bundeswehr aber noch damit beauftragt - ich zitiere -,
die ehemaligen Kriegsgegner und andere bewaffnete Gruppen von der Aufnahme erneuter Feindseligkeiten und Gewalttaten
abzuschrecken. Es geht aber nicht mehr um die Trennung solcher bewaffneter Kriegsparteien. Das AltheaMandat hat nichts mehr mit dem zu tun, was das Land
braucht.
Die Sicherheit der Menschen dort ist zuallererst durch
das gefährdet, was wir als mafiöse Strukturen und organisiertes Verbrechen bezeichnen: Zwangsprostitution,
Menschen-, Drogen- und Waffenhandel. Das sind die
realen Gefahren, die die Menschenrechte und die demokratische Entwicklung in diesem Land heute bedrohen.
Diese Probleme lassen sich aber nicht durch Militärpräsenz lösen.
({4})
Sie haben während der Feiern zum 10. Jahrestag das
durch die Straßen Sarajewos flanierende Militär gesehen. Das hat nichts mehr damit zu tun, dieses Land zu
stabilisieren. Das Militär gerät höchstens selber in die
Gefahr, in diesem mafiösen Sumpf mit zu versinken.
Man braucht andere Waffen als Panzer.
Das organisierte Verbrechen ist immer so stark, wie
die zivile Gesellschaft schwach und die wirtschaftliche
Lage katastrophal ist; denn dann sind auch die staatlichen Institutionen schwach. Das ist das Problem Bosnien-Herzegowinas. Die katastrophale wirtschaftliche
und soziale Situation in diesem Land schürt Konflikte,
die dann immer wieder ausbrechen. Diese werden - das
sei nur nebenbei bemerkt - nicht durch die liberalen
Konzepte von Deregulierung, Privatisierung und Entstaatlichung behoben, wie sie die EU aktuell vorschlägt.
({5})
Diese Einschätzung der Situation entspricht übrigens
den Analysen renommierter internationaler Organisationen wie auch der Lageeinschätzung des Bundesverteidigungsministeriums. Das Internationale Institut für Strategische Studien in London hat Bosnien bereits aus
seiner Armed Conflict Database herausgenommen.
Was die Situation in Bosnien-Herzegowina wirklich
so instabil macht, ist die Tatsache, dass die staatlichen
Institutionen weitgehend zerstört oder geschwächt sind.
Deshalb ist es notwendig - darauf haben Sie sehr richtig
hingewiesen, Herr Stinner -, dass die staatlichen Institutionen für eine absehbare Übergangszeit von außen gestützt und ergänzt werden.
({6})
Dafür ist das Militär vollkommen ungeeignet.
Wir schlagen deshalb vor, mit dem eingesparten Geld
eine internationale Polizeimission aufzubauen, eine
Mission mit weit gehenden kriminalpolizeilichen Befugnissen, die - das steht im Gegensatz zu den unlängst geäußerten Überlegungen des damaligen Verteidigungsministers Struck - außerhalb militärischer Strukturen
organisiert ist. Es ist doch vollkommen absurd: Wir senden ein paar Polizisten nach Bosnien, die nicht einmal
Dienstpistolen tragen dürfen und nicht in die korrupten
Strukturen der bosnischen Polizei eingreifen dürfen.
Gleichzeitig fordert uns die Bundesregierung auf, der
Stationierung einer völlig überrüsteten militärischen
Truppe zuzustimmen.
Kollege Paech, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
Bosnien-Herzegowina ist nicht mehr irgendein Hort
des Terrors. Dort ist nicht mehr das Heim von Bin Laden
und al-Qaida. Herr Minister Jung, Sie haben am
27. November im „Deutschlandfunk“ gefordert, dass die
Bundeswehr nicht
für Maßnahmen eingesetzt wird, für die sie gerade
nicht ausgebildet ist.
Im Fall Bosnien-Herzegowinas sollten Sie Ihre Überlegungen wahr machen.
Gestatten Sie mir -
Nein, ich gestatte es nicht. Kommen Sie bitte sofort
zum Ende. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Dann sage ich nur noch: Wir werden diesem Antrag
nicht zustimmen. Es ist unser Credo und wird es immer
sein, internationale Konflikte nicht durch Militär zu lösen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Paech, bei allem Respekt: Sie haben nahtlos an die außenpolitische Talfahrt von heute Morgen angeschlossen.
({0})
Das darf an dieser Stelle einmal gesagt werden. Leider
schmückt die Kollegin Eid bereits ihren Christbaum;
sonst hätte ich ihr meine Redezeit übertragen, weil man
vieles von heute Morgen in diesen Beitrag hätte einbauen können. Es wäre aber vergebene Liebesmüh.
Bevor ich den Blick auf Bosnien-Herzegowina richte,
möchte ich noch einen Blick über die Grenze hinaus
werfen. In diesen Tagen diskutieren wir darüber, ob
Mazedonien der Status eines Beitrittskandidaten verliehen werden soll und kann. Die CDU/CSU würde diesen Schritt gerade auch vor dem Hintergrund der stabilisierenden Wirkung der Anreize, die damit entfaltet
würden, begrüßen. Es erscheint uns allerdings auch
wichtig, dass mit einem solchen Schritt kein starres Datum verbunden wird und dass die Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union vielleicht unter der österreichischen
Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr noch einmal einer
wirklichen Debatte im Gesamtkontext unterzogen wird.
({1})
Die EU hat mit Althea vor einem Jahr noch einmal
ein deutliches Zeichen dafür gesetzt, dass man mehr Verantwortung auf dem Balkan übernehmen will; Herr
Staatsminister Erler, Sie haben es angesprochen. Herr
Staatsminister Erler, Sie haben auch angedeutet, dass das
tatsächlich Ausdruck eines gelungenen Zusammenwirkens der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO ist, deren Verhältnis nicht immer
leicht und spannungsfrei ist. Das zeigt, dass dieses Verhältnis auch zielführend ausgestaltet und auf Komplementarität aufgebaut werden kann. Von daher glaube ich,
dass man sagen kann, dass hier ein gelungenes Beispiel
für eine notwendige Sicherheitsstruktur geschaffen worden ist.
Gerade in Zeiten, in denen das transatlantische Verhältnis wie derzeit einmal mehr in der Diskussion steht,
darf man sich auch noch einmal Folgendes in Erinnerung
rufen: Ohne die Sicherheitspräsenz der transatlantischen
Allianz und damit auch der Vereinigten Staaten hätte
Bosnien-Herzegowina nicht aus den Schreckensszenarien entkommen können. Von daher sollten wir diesen
Bezug immer wieder herstellen. Auch angesichts dessen,
was wir gerade vonseiten der Linkspartei zur Gesamtstruktur hören durften, verdient dieser Ansatz sicherlich
auch eine gewisse Dankbarkeit.
Wir haben heute bereits die besondere Verantwortung
der Europäischen Union hervorgehoben. Dieses Haus
hat auch eine besondere Verantwortung gegenüber unseren Soldaten, denen ich vonseiten der CDU/CSU noch
einmal herzlich danken will. Dies gilt auch für die zivilen Kräfte, die vor Ort sind. Sie leisten eine großartige
Arbeit für uns. Von unserer Seite noch einmal herzlichen
Dank dafür.
({2})
Es kann allerdings auch nicht oft genug darauf hingewiesen werden - das haben wir in den vergangenen Jahren deshalb immer wieder getan -, dass der Verdienst
unserer Soldaten vor Ort nicht politikersetzend ist. In
diesem Gesamtkontext haben wir auf Fortschritte hingewiesen und die Probleme immer wieder hervorgehoben.
Es ist richtig: Zehn Jahren nach Dayton ist ein positives
Fazit zu ziehen. Nach vielen kleinen Schritten, die gegangen wurden, wird eine Gesamtstruktur erkennbar, die
insgesamt erfreulich ist.
Es scheint sich langsam eine Schwelle aufzutun. Ausgehend vom Krisenmanagement kommt man jetzt über
einen gesellschaftlichen Bereich, der sich in einer Phase
des Postkonflikts befindet, langsam dazu, vom Aufbau
einer staatlichen Struktur sprechen zu können. Das ist
einmal ein erfreulicher Tatbestand, den man in diesem
Kontext nennen sollte.
({3})
Gerade im Jahr 2005, das Jahr, auf das wir jetzt zurückblicken dürfen, gab es einige sehr erfreuliche und
sehr positive Entwicklungen. Es wurde eine Reform der
Armee auf den Weg gebracht und es gibt gerade im gesamtstaatlichen Kontext - die Schwierigkeiten dort müssen wir sehen - bemerkenswerte Reformansätze im Hinblick auf die Polizei. Im Justizbereich gibt es ebenfalls
entsprechende Fortschritte. Selbst im Bereich der Steuergesetzgebung sind einige Ansätze erkennbar, etwa bei
der Mehrwertsteuer. Dieses Thema ist uns ja nicht gänzlich fremd.
Der entscheidende Ansatz aber - das wurde immer
wieder benannt - ist die europäische Perspektive. Das
muss mit aller Nüchternheit und Klarheit angesprochen
werden. Es kann aber nicht allein auf die europäische
Perspektive ankommen. Das ist nicht das allein entscheidende Merkmal. Wir müssen gerade auch die politischen
Verantwortungsträger vor Ort in Bosnien-Herzegowina
immer wieder darauf hinweisen, was Eigenverantwortung eigentlich heißt und was ein wirkliches Engagement bedeutet. Es muss zu einer entsprechenden Dynamik in der Sache kommen. Das dürfen wir von unserer
Seite vehement einfordern. Sich nur auf die europäische
Perspektive zu berufen wäre in diesem Gesamtzusammenhang etwas dünn.
Dem Hohen Repräsentanten - Herr Kollege Stinner,
Sie haben es angesprochen - wächst hierbei eine besondere Rolle zu. Auch die CDU/CSU-Fraktion begrüßt mit
Nachdruck die Berufung von Christian SchwarzSchilling. Wir bezeichnen die Ernennung angesichts seiner Erfahrung, die er in diesem Bereich gesammelt hat,
als Glücksfall. Herr Bundesverteidigungsminister, Hessen hat nicht nur einen Jung, sondern Hessen hält offensichtlich auch jung, wie man an Christian SchwarzSchilling mit seiner ewigen Jugend sehen kann. Wir
freuen uns über seine Berufung.
({4})
Bei allen Fortschritten, die wir heute sehen, dürfen
wir die Augen nicht vor den Problemfeldern verschließen, die in Bosnien-Herzegowina weiter existieren. Eines davon sind sicherlich die organisierte Kriminalität
und gewisse nationalistische Ausprägungen, die weiterhin gegeben sind. Das gilt auch für das immer noch sehr
unglückliche Wechselspiel zwischen Gesamtstaat und
den Entitäten, die wir antreffen. Daher ist der Verfassungsgebungsprozess, den Kollege Stinner noch einmal
hervorgehoben hat, von essenzieller Bedeutung.
Diesen Prozess müssen wir allerdings auf eine lokale
Ebene herunterholen, damit das Verständnis in der Breite
der Bevölkerung im Hinblick auf diesen Verfassungsgebungsprozess wächst und damit sich etwas aufbaut, woran es in vielerlei Hinsicht noch fehlt: eine Identifikation
mit dem Gesamtstaat. Die Idee des Gesamtstaates muss
sich letztlich in der Breite durchsetzen und darstellen.
({5})
Das Engagement der Europäischen Union, der Einsatz unserer Soldaten, aber eben nicht zuletzt der spürbare Wille der Bevölkerung vor Ort werden der Maßstab
sein, der Bosnien-Herzegowina eine Zukunft in den europäischen Netzwerken mit den jeweiligen Perspektiven
gewährleistet. Dieser Maßstab ist für uns alle wichtig.
Für ihn sollten wir uns mit aller Kraft einsetzen.
Gesegnete Weihnachten! Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Marieluise Beck, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte gerne von diesem
Platz dem Kollegen Schwarz-Schilling alles Gute und
viel Kraft wünschen. Es gibt kaum jemanden, der wie er
dazu berufen ist, dieses Amt für die nächsten Jahre auszufüllen. Er hat mit einer Herzenswärme und mit einer
Beharrlichkeit viele Jahre lang, als Europa nicht den Mut
hatte, sich den Morden einig entgegenzustellen, für die
Intervention in Bosnien gestritten. Er ist wirklich der
Richtige, um vielleicht das Land an den Punkt zu führen,
an dem es eines solchen Amtes nicht mehr bedarf.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Hier ist von der Linkspartei schlichtweg in Verkennung der Realitäten in Bosnien so getan worden, als ob
auf Militär verzichtet werden könnte. Was es für eine
Katastrophe bedeutet hat, dass viel zu lange nicht gesehen worden ist, dass es aus humanitären Gründen notwendig gewesen wäre, Militär einzusetzen, wissen wir
alle. Das haben wir erleben müssen, bis dem endlich
1995 nach dem Massaker von Srebrenica durch ein entschiedenes militärisches Eingreifen ein Ende gesetzt
worden ist.
({2})
Aber all das, was danach entstanden ist, ist fragil geblieben. Wir sollten uns klar machen: Bei den Verhandlungen in Dayton haben die Kriegsverbrecher mit am Tisch
gesessen. Entsprechend unzulänglich ist der Vertrag von
Dayton geworden.
({3})
Wer im Juli dieses Jahres nach Srebrenica zu den Feiern anlässlich des zehnjährigen Gedenktages der Ermordung der Menschen von Podgorica gefahren ist, der
konnte, wenn er wollte, zur Kenntnis nehmen, dass der
jetzige Polizeipräsident der Republik Srpska namens
Andan derjenige ist, der zusammen mit Mladić an diesem 10./11. Juli 1995 in Podgorica einmarschiert ist und
dort die Männer und Jungen entführt und ermordet hat.
Das ist auch ein Teil der Realität, wie sie in Bosnien
nach wie vor gegeben ist. Ich glaube, auch aus symbolischen Gründen ist eines unendlich wichtig: Solange
Mladić und Karadzic noch frei herumlaufen, wird dieses
Land fragil bleiben.
({4})
Denn Wahrheit und Gerechtigkeit sind unabdingbar für
ein Land, das zu sich selber finden will. Wir alle wissen,
dass es auch um die Frage einer staatlichen Identität dieses Landes geht, das nach wie vor sehr zerrissen ist.
Das Land ist deshalb so zerrissen, weil in Dayton
nicht nur die Kriegsverbrecher am Verhandlungstisch
gesessen haben, sondern auch diejenigen, die die nationalistischen Parteien der ethnischen Zuordnung angeführt haben. Damit ist ein Gebilde entstanden, das kaum
als Staat bezeichnet werden kann; es ist zweigeteilt und
von äußerst unzureichenden Strukturen geprägt. Beispielsweise gibt es 180 Minister. Dieses Gebilde ist in
eine Phase hineingeraten, die von einer Parallelität zwischen einem Quasiprotektorat einerseits und einem gewählten Parlament andererseits bestimmt war. Das hat
faktisch zu einer Art organisierter Verantwortungslosigkeit geführt.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass der Demokratisierungsprozess in dem Land von innen heraus in Fahrt
kommen muss. Das bedeutet, dass das Dayton-Abkommen in den Punkten überwunden werden muss, durch
die die Zweiteilung des Landes festgeschrieben wurde.
Schließlich ist uns bekannt, dass sich viele Kroaten in
Westherzegowina nationalistisch mit Kroatien verbunden fühlen.
Es geht also um die Stärkung des Zentralstaates durch
eine Verfassungsgebung. Gleichzeitig geht es um die
Stärkung der Gemeinden, damit die Autonomie und
das Zusammenwachsen vor Ort weiterhin erfolgreich
fortgeführt werden können. An diesem Prozess, innerhalb dessen mit 120 Ortschaften Rücksiedlungsverträge
zustande gekommen sind, ist Herr Schwarz-Schilling
sehr stark beteiligt gewesen.
Der Prozess des Nation Building wird nur dann erfolgreich sein können, wenn die Menschen in diesem
Land eine Perspektive bekommen, die sie lockt. Wie
wir alle wissen, stellt die Europäische Union diese Perspektive dar. Gerade weil die internationale Staatengemeinschaft nicht mutig genug gewesen ist, Karadzic und
Mladić selbst festzunehmen, möchte ich die EU auffordern, hinsichtlich der Bedingungen, die gestellt werden,
nicht weich zu werden. Das Land muss selbst zur
Rechtsstaatlichkeit finden.
({5})
Die EU muss nicht nur um des Landes willen, sondern auch um ihrer selbst willen auf diesen Bedingungen
bestehen. Wir alle wissen, was sich vor zehn Jahren als
richtig erwiesen hat: Mit Bosnien stirbt Europa. Heute
kann vielleicht im Umkehrschluss festgestellt werden:
Mit Bosnien kann Europa den nächsten Schritt in die Zukunft gehen.
Schönen Dank.
({6})
Ich erteile Kollegen Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich an die Diskussion, die wir zur Operation Althea vor einem Jahr in
diesem Hause geführt haben. Schon damals zeichnete
sich ab, dass wir mit Optimismus davon ausgehen würden, dass sie zu einem gemeinsamen und erfolgreichen
europäischen Projekt werden würde.
Heute kann man in einer Rückschau feststellen, dass
wir uns dabei nicht übernommen haben. Das ist eine
wohltuende Erkenntnis. Ich finde es im Übrigen sehr angenehm, dass das Haus bis auf eine kleine Ausnahme gemeinsam die Politik, die von uns und der Europäischen
Union in Bosnien-Herzegowina verfolgt wird, akzeptiert
und unterstützt. Das ist ein gutes Zeichen.
({0})
Es wäre verlockend, die Diskussion, an der die Kollegen Eid beteiligt war, an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen. Ich will aber nur eine Bemerkung dazu machen.
Ich bin kurz nach den kriegerischen Ereignissen nach
Bosnien-Herzegowina gefahren und habe mir das Land
angeschaut; denn allein bei uns in Berlin waren über
30 000 Flüchtlinge und wir mussten uns ständig die
Frage stellen, wann diese Menschen endlich wieder zurückkehren können. Was ich damals in Bosnien-Herzegowina erlebt und gesehen habe - die zerstörten Häuser
und die zerstörte Infrastruktur -, hielt ich in Europa für
nicht vorstellbar. Verehrte Kolleginnen und Kollegen
von den Linken, Ihre Vorstellung, dass dies alles ausschließlich mit Diskussionen und Goodwill zu beenden
gewesen wäre, ist so naiv,
({1})
dass Ihre Argumente und Vorschläge betreffend den zivilen Bereich - darüber hätte man ruhig einmal im Detail
diskutieren und das eine oder andere aufgreifen können;
Sie haben ja zum Teil Recht; das ist unbestreitbar - unglaubwürdig werden. Das gilt auch für die Vorwürfe, die
Sie uns gemacht haben, als wir die Mühen des militärischen Einsatzes auf uns genommen haben.
({2})
Man kann den Soldatinnen und Soldaten für die dort
übernommenen Aufgaben nur dankbar sein.
({3})
Man begegnet ihnen dort übrigens nicht mit Vorurteilen
gegenüber dem Militär, sondern man verbindet mit ihrer
Anwesenheit Sicherheit. Das Kennzeichen, die Qualität
des Einsatzes der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina
ist gerade, dass sie in der Bevölkerung Anerkennung findet. Das habe ich persönlich gespürt. Es war beinahe beschämend, als sich die Menschen bei mir, einem Zivilisten, für den Einsatz der Bundeswehr bedankt haben.
({4})
Ich möchte an die Ausführungen von Frau Kollegin
Beck anschließen. Der zehnte Jahrestag von Dayton
zwingt uns quasi, zu schauen, was bewegt worden ist,
und darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Es
gibt ja durchaus positive Aspekte: die Aufnahme der
Verhandlungen zur Stabilisierung des EU-Assoziierungsabkommens und - da dies heute noch nicht angesprochen worden ist, möchte ich es erwähnen - das Bekenntnis der Vorsitzenden aller relevanten bosnischen
Parteien zur Notwendigkeit einer Verfassungsreform.
Die entsprechende Zusage ist auf der Dayton-plus-ZehnKonferenz gegeben worden. Es ist wirklich bemerkenswert, dass sich diese gesellschaftlichen Gruppen zu der
Notwendigkeit eines Veränderungsprozesses bekennen.
Ein weiteres positives Signal - das haben schon fast
alle angesprochen - ist die Wahl des Kollegen SchwarzSchilling zum Nachfolger des Hohen Repräsentanten
Paddy Ashdown. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie
alle haben ihm Glück gewünscht. Ich hingegen bekunde
erst einmal meinen Respekt, dass er sich diese Aufgabe
aufgeladen hat.
({5})
Ich hätte gedacht, dass er nach dem, was er schon alles
eingebracht hat, ein bisschen zögern würde, dieses Amt
zu übernehmen. Kollege Guttenberg hat ja auf sympathische Weise gesagt, dass Herr Schwarz-Schilling einige
Jahre nach der Pensionierung offenbar schauen müsse,
was er noch tun könne. Mein Respekt und die Dankbarkeit meiner Fraktion, dass er sich dieser Herausforderung stellt!
({6})
Die Ereignisse in Bosnien-Herzegowina zeigen aber
ein Stück weit auch, dass all das, was sich dort entwickelt hat, nur unter äußerem Druck möglich war. Es ist
nicht so, dass die Kolleginnen und Kollegen vor Ort das,
was wir nun begrüßen, eigenverantwortlich auf den Weg
gebracht hätten. Es war immer notwendig, von außen
Druck auszuüben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur daran, wie die Verantwortlichen der Republik
Srpska quasi gezwungen werden mussten, der Polizeireform als notwendiger Voraussetzung für den Stabilisierungs- und Anpassungsprozess der EU zuzustimmen.
Ich glaube, dass man die Bonn Powers differenzierter
betrachten muss. Wir alle sind damit nicht glücklich.
Paddy Ashdown ist sicherlich manchmal ein kleiner
Vizekönig gewesen; das ist nicht wegzudiskutieren. Die
Bonn Powers, die so stark sind, bieten den Verantwortlichen vor Ort auch die Möglichkeit - das räumen zum
Teil die Kollegen in Bosnien-Herzegowina selber ein;
viele von außen bestätigen das -, sich zu verstecken, die
unliebsamen, möglicherweise mit Kritik behafteten Entscheidungen vom Hohen Repräsentanten treffen zu lassen und sich so der eigenen Verantwortung zu entziehen.
Deswegen, Kollege Stinner, haben Sie völlig Recht.
Wir haben mit dem Kollegen Schwarz-Schilling jemanden, der es - ich sage das als Sozialpädagoge - wirklich
in den Fingerspitzen hat, diesen Prozess so zu gestalten,
dass er sich selbst überflüssig macht. Ich wünsche ihm
Erfolg und viel Glück.
({7})
Es muss aber auch erkennbar werden, dass die Akteure in Bosnien-Herzegowina das Wohlergehen des Gesamtstaates und aller Bürgerinnen und Bürger wollen.
Das muss in den Prozess einer neuen Verfassung einfließen. Es gibt heute schon Möglichkeiten, ohne dass diese
Verfassung schon vollendet ist, identitätsstiftende
gesamtstaatliche Projekte durchzuführen. Wir haben
von der Verteidigungsreform gehört. Aber solange die
Republik Srpska ihre Soldaten noch in Serbien ausbildet
und die anderen ihre Soldaten in Kroatien ausbilden und
sie nicht zu einer gemeinsamen Philosophie kommen,
wird da nichts Gesamtstaatsbildendes sein. Man muss
also schauen, dass etwas mehr geschieht, als auf dem
Papier Freundlichkeiten zu bereiten. Ich glaube, dass wir
da auf einem ganz guten Weg sind.
({8})
Ich will abschließend sagen: Wir dürfen nie den Eindruck entstehen lassen, dass die gute Entwicklung, die
wir in den zurückliegenden Jahren in Bosnien-Herzegowina erlebt haben, selbstverständlich war. Der Kollege
Erler hat das angesprochen. Wer weiß, was die Menschen dort einander angetan haben, und wer weiß, wie
dicht das Erlebte noch ist, der wird seinen Respekt und
seine Anerkennung dafür aussprechen, dass diese Menschen aufeinander zugegangen sind und der Hass doch
überwunden worden ist.
Die gute Weihnachtsbotschaft ist doch, dass Frieden
in dieser Welt möglich ist und dass Hass überwunden
werden kann. Wenn wir als Deutscher Bundestag dabei
ein bisschen helfen konnten, dann haben wir gemeinsam
fröhliche Weihnachten verdient.
Alles Gute.
({9})
Der so oft erwähnte und mit allen guten Wünschen
begleitete Kollege Schwarz-Schilling sitzt dort oben auf
der Tribüne. Ich begrüße Sie herzlich.
({0})
Sie haben es gehört, aber ich will es noch einmal sagen:
Alle unsere guten Wünsche für Ihre so wichtige Friedensaufgabe, die Sie in Bosnien-Herzegowina übernommen haben! Gott befohlen auf Ihrem Weg!
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur europäischen Chemikalienpolitik ({2})
Die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, eine Ihrer ersten
Aussagen im Umweltausschuss war: Wir brauchen eine
innovative Umweltpolitik. Niemand stimmt Ihnen, lieber
Herr Minister, da mehr zu als die Grünen. Solange das
Umweltministerium in grüner Hand war, ist dieser Anspruch auch ein gutes Stück eingelöst worden. Ich hoffe
sehr, dass Sie in der Umweltpolitik da weitermachen, wo
die rot-grüne Koalition aufgehört hat. Zumindest die Lyrik Ihres neuen Koalitionsvertrages klingt durchaus so.
Allerdings, sehr geehrter Herr Minister Gabriel, zeugt
Ihr erstes Handeln in Ihrem neuen Feld eher vom Gegenteil. Sie haben sich im Vorfeld der Verhandlungen zum
REACH-Entwurf für Abschwächungen desselben stark
gemacht. Die Verordnung zur Chemikalienzulassung
zielte auf mehr Umwelt- und Gesundheitsschutz und
hätte damit einen ungeheuren Innovationsdruck in die
Chemieindustrie getragen. Diesen Innovationsdruck haben Sie mit abgebogen und Sie sprechen jetzt von einem
guten Kompromiss zwischen Umwelt- und Verbraucherschutz und den Interessen der deutschen Chemieindustrie. Damit machen Sie, Herr Umweltminister, jetzt genau den gleichen Fehler, mit dem Ihre neue
Koalitionspartnerin schon in den Wahlkampf gezogen
ist: zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen einen
Widerspruch aufzubauen, der dann zulasten der Umwelt
gelöst werden muss. Das ist eine Sichtweise, die völlig
ignoriert, worum es in Zukunft gehen wird und womit
neue Wirtschafts- und Exportchancen generiert werden
können.
Wenn Ihr Kollege Wirtschaftsminister Glos REACH
als eine wirtschaftsfreundliche Lösung bezeichnet, dann
hat er Recht - solange er im Hier und Jetzt bleibt und
den Blick nicht in die Zukunft richtet. Auch die Chemieindustrie, die mit der hierzulande üblichen Drohung des
Arbeitsplatzabbaus auf Erleichterungen bei REACH gedrungen hat, gründet ihr Erpressungspotenzial auf der
falschen Annahme, dass die Zukunft mit dem Festhalten
an den heutigen Bedingungen und an den heutigen Instrumenten zu gewinnen wäre.
Das ist gerade beim Verhältnis von Umwelt und Wirtschaft ein nachhaltiger Irrtum. Es liegt doch auf der
Hand, welche Märkte sich ungefährliche Substitute gefährlicher Chemikalien erobern könnten. Angesichts
dessen begeistern Sie sich öffentlich dafür, dass die Vorlage des EU-Parlaments nicht übernommen wurde, in
die Verordnung einen Zwang zur Entwicklung von Alternativen zu besonders gefährlichen Stoffen aufzunehmen. Sie loben, dass die Befristung der Zulassung dieser
besonders gefährlichen Stoffe auf fünf Jahre gestrichen
wurde. Alles, was an innovationsfördernden Ideen zu
dieser Verordnung da war, ist damit gestrichen. So viel
zum Stichwort „innovative Umweltpolitik“.
({0})
Lassen Sie uns auch über das originäre Ziel von
REACH reden, das jetzt, nachdem der Ministerrat seine
Spuren hinterlassen hat, völlig verfehlt wird. Dieses Ziel
ist der bessere Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor
gefährlichen Chemikalien. Die Bundesregierung hat
dazu beigetragen, die Datenanforderungen für den Produktionsbereich von eine bis zehn Tonnen pro Jahr gegenüber dem Kommissionsentwurf gravierend abzuschwächen.
({1})
Von den bislang 100 000 Altstoffen bleiben so weiterhin
mindestens 90 000 ungeprüft. Es stellt sich die
Frage - zumindest für uns Grüne -, ob der Preis für die
Datenanforderung bei Altstoffen, nämlich die weit gehende Deregulierung bei Neustoffen, vor diesem Hintergrund nicht zu hoch ist.
Herr Minister Gabriel, Sie verteidigen den Einsatz der
Bundesregierung gegen die befristete Zulassung gefährlicher Stoffe damit, dass Sie „nicht viele Unternehmen
kennen, die sich mit einer fünfjährigen Befristung in
Forschungsvorhaben stürzen“. Dazu sage ich Ihnen: Von
einem Umweltminister erwarte ich die Unterstützung anderer Forschungsvorhaben. In diesem Fall erwarte ich
die Unterstützung von Forschung und Entwicklung in
Bezug auf für Mensch und Umwelt ungefährliche Stoffe.
Die befristete Zulassung gefährlicher Stoffe wäre ein
Schritt in genau diese Richtung gewesen.
({2})
Wir alle kennen das beliebte Bild von etwas, was als
Tiger losspringt und als Bettvorleger landet. REACH
hätte ein Tiger sein können. Der Ministerrat hat daraus
einen Bettvorleger gemacht. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was REACH bedeutet - Registrierung, Evaluierung, Autorisierung von Chemikalien -, dann stellen wir
fest, dass außer Autorisierung nicht viel übrig geblieben
ist und damit von einem ambitionierten REACH nicht
mehr als ein leises Ach.
Als ein Erzengel Gabriel der Umweltpolitik haben Sie
sich, Herr Minister, in diesem ersten Akt noch nicht erwiesen und das ist mehr als schade.
({3})
Im Sinne des Gesundheitsschutzes von Bürgerinnen und
Bürgern, im Sinne einer innovativen Umweltpolitik ist
die Erlegung des Tigers REACH, zu der Sie beigetragen
haben, fatal. Wir schließen daraus, dass innovative Umweltpolitik wohl weiterhin zuallererst eine Aufgabe der
Grünen bleiben wird. Wir widmen uns dieser Aufgabe
mit Freuden und geben die Hoffnung noch nicht auf,
dass diese Freude auch auf Sie ansteckend wirken wird.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede im Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit bei uns!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Bundesminister Sigmar
Gabriel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Kotting-Uhl, einer Ihrer Hauptvorwürfe
mir gegenüber war, dass ich mich gegen die Forderung
des Europäischen Parlaments ausgesprochen habe, die
Zulassungen nach REACH generell auf fünf Jahre zu befristen. Vielleicht darf ich hierzu die von meinem Vorgänger ausgehandelte Position zu exakt dieser Frage einmal darstellen. Es gibt ein gemeinsames Papier der
Bundesregierung - der, wenn ich mich richtig erinnere,
mein Vorgänger natürlich angehört hat -, des VCI und
der IG BCE.
Dort wird die Verhandlungslinie zu der Frage der Befristung bei gefährlichen Substanzen im Rahmen von
REACH beschrieben. Ich zitiere:
Die Autorisierung für die Stoffe wird grundsätzlich
unbefristet erteilt.
({0})
Sie steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die
materiellen Voraussetzungen für die Autorisierung
fortbestehen. Im Rahmen einer regelmäßigen Überprüfung … haben die Unternehmen dies in geeigneter Form darzulegen. Geschieht dies nicht innerhalb
einer bestimmten Frist, erlischt die Autorisierung.
({1})
Nun müssen Sie klären und entscheiden, ob schon
Jürgen Trittin ein Bettvorleger gewesen ist.
({2})
Das ist eine Debatte, an der ich viel Freude habe. Ich
finde übrigens, dass er ein engagierter Umweltminister
war.
({3})
- Sie müssen nicht gleich von Ihrer früheren Meinung
abrücken. - In dieser Frage hat er die richtige Linie vertreten. Diese Linie, Frau Kollegin, haben wir exakt eingehalten. Wir haben uns an das gehalten, gerade in der
Frage der Substituierung, was vorher besprochen worden ist, und zwar einvernehmlich zwischen Bundesregierung, VCI und IG BCE.
Es ist auch vernünftig, dass man den Versuch unternimmt, mit den betroffenen Unternehmen sowie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über die Frage zu
reden, wie man Verbraucher- und Gesundheitsschutz und
das Interesse an der Erhaltung von Arbeitsplätzen in
Übereinstimmung bekommt. Das haben wir getan.
({4})
Bei REACH steht für die Verbraucher das Verbraucher- und Gesundheitsschutzinteresse im Mittelpunkt.
Dabei geht es um die rund 30 000 Altstoffe, die bislang,
anders als Neustoffe, in der EU großenteils keinerlei Registrierungs-, Evaluierungs- oder Zulassungsverfahren
unterworfen sind. Ihre Gefährlichkeit ist bislang in völlig unzureichendem Maß untersucht worden. Gelegentlich wird dabei eingewandt - das hat meine Vorrednerin
auch getan -, dass es rund 100 000 Altstoffe gibt. Das ist
richtig, allerdings sind rund 70 000 dieser Altstoffe entweder überhaupt nicht oder in einem so geringen Maß
im Markt vertreten, dass ein Verzicht auf die Überprüfung dieser Stoffe mehr als sinnvoll erscheint. Auch dies
war übrigens eine Position, die schon die vorherige Bundesregierung eingenommen hat.
In dieser Woche konnte nun ein aus Sicht der Bundesregierung wirklich guter Kompromiss erreicht werden,
der einerseits den Gesundheits- und Verbraucherschutz
deutlich stärkt, ihn in den Mittelpunkt stellt, andererseits
die technische Umsetzung der Verordnung so gestaltet,
dass die dadurch entstehenden Kosten für die Industrie
nicht wettbewerbsgefährdend sind. Dies gilt insbesondere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Alle 25 Mitgliedstaaten und auch die Kommission haben
diesem Kompromissvorschlag der britischen Ratspräsidentschaft zugestimmt.
Was sind die zentralen Bestandteile der Verordnung?
Die Altstoffe werden endlich einem Registrierungsverfahren unterworfen. Die dafür erforderlichen Daten und
Unterlagen müssen die Hersteller der Chemikalien liefern. Es trifft also nicht zu, was öffentlich manchmal behauptet wird, auch in Pressemitteilungen Ihrer Fraktion,
besser gesagt: der grünen Fraktion im EP, dass diese Verantwortung auf die Chemikalienagentur verlagert worden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verantwortung
bleibt bei den Herstellern.
Der Vorschlag einiger Teile der Industrie, diese Verantwortung auf die europäische Chemikalienagentur abzuwälzen, hat sich nicht durchsetzen können. Die Agentur hätte diese Arbeit überhaupt nicht bewältigen
können, sondern wäre vermutlich an Herzinfarkt gestorben.
Deutschland hat bei den Stoffen mit einem Produktionsvolumen zwischen einer Tonne und zehn Tonnen
pro Jahr in diesem Registrierungsverfahren übrigens
zwei weitere Tests durchsetzen können, die insbesondere
für einen besseren Arbeitsschutz von Bedeutung sind.
({5})
Bei höheren Tonnagen sind Langzeittests vorgeschrieben, von denen nur dann abgewichen werden
kann, wenn die betroffenen Chemikalien weder die Arbeitnehmer noch die Verbraucher, noch die Umwelt erreichen. Dieses so genannte Waving-Verfahren in der
Registrierung führt zu erheblichen Kostenentlastungen
und ist aus meiner Sicht mehr als sinnvoll; denn es geht
um die Stoffe, die die Biosphäre, den Menschen oder
speziell den Arbeitnehmer erreichen, nicht um diejenigen, die in Stoffkreisläufen oder in der Matrix von Produkten gebunden bleiben.
Sollten sich in der Datenerhebung Gefahren bei einer
betroffenen Chemikalie abzeichnen, wird diese einem
Evaluierungsprozess unterworfen. Ergibt sich bei diesem
Evaluierungsprozess der Hinweis auf eine besondere
Gefährlichkeit, so wird diese Chemikalie einem besonderen Zulassungsverfahren unterworfen.
Das Verfahren für die besonders gefährlichen Stoffe
sieht zwei Wege vor. Die Stoffe, die einer adäquaten
Kontrolle unterzogen werden können, zum Beispiel nur
in geschlossenen Stoffkreisläufen gebunden sind, sodass
sie die Umwelt nicht erreichen können, können zugelassen werden. Allerdings - das ist wichtig - muss der Hersteller einer solchen Chemikalie bei seinem Zulassungsantrag trotzdem eine Substitutionsprüfung vornehmen,
aus der hervorgeht, ob eine Substitution durch weniger
gefährliche Stoffe möglich ist oder nicht. Eine vorhandene Substitutionsmöglichkeit ist allerdings dann kein
Grund für die Versagung der Zulassung, wenn der Stoff
unter dieser adäquaten Kontrolle steht.
Bei besonders gefährlichen Stoffen - das ist der
zweite Weg -, die aber aus wirtschaftlicher Sicht unverzichtbar erscheinen und bei denen bislang keine Wirkungsschwelle einen Gradmesser für die Zulassung
ermöglicht, ist die Substitutionsprüfung Zulassungsvoraussetzung, Frau Kollegin. Die Kommission will aber
mit Zustimmung der Mitgliedstaaten in den kommenden
zwölf Monaten im Komitologieverfahren klären, ob wissenschaftliche Methoden entwickelt werden können,
eine Wirkungsschwelle auch bei diesen besonders gefährlichen Chemikalien zu finden, oberhalb deren dann
eine Zulassung nicht erfolgt bzw. eine Substitution vorgeschrieben ist.
Der ursprüngliche Vorschlag des EP für eine lediglich
auf fünf Jahre begrenzte Zulassung der besonders gefährlichen Chemikalien fand keine Mehrheit. Eine auf
fünf Jahre begrenzte Zulassung ist wirtschaftspolitisch
außerordentlich unrealistisch
({6})
und übrigens auch ökologisch fragwürdig, weil das Zulassungsverfahren selbst schon sehr lange dauert. Wir
haben jetzt ein Verfahren gefunden, bei dem dann, wenn
Informationen darauf hindeuten, dass eine Gefährlichkeit für die Umwelt besteht, die Genehmigung jederzeit
widerrufen werden kann, und zwar unabhängig von der
Frage, für welchen Zeitraum eine Genehmigung vorliegt. Permanente Kontrolle, Frau Kollegin, ist besser als
eine unrealistische Annahme von Zeitspannen.
({7})
- Vielleicht kann Jürgen Trittin herkommen; dann müssen Sie nicht mit ihm telefonieren. Ich kann Ihnen versichern, dass das Zitat, das ich vorgelesen habe, echt war.
Der aus umweltpolitischer Sicht - das will ich offen
sagen - viel schwierigere Kompromiss musste nicht bei
der Zulassungsfrist oder der Substitution geschlossen
werden, sondern - da haben Sie Recht - bei der Registrierung. Das räume ich ausdrücklich ein. Wir mussten
zustimmen, dass bei der Registrierung der Stoffe zwischen einer und zehn Tonnen pro Jahr nur die bereits verfügbaren Daten abgegeben werden müssen. Ich konnte
diesem Kompromiss aber auch aus umweltpolitischer
Sicht zustimmen, weil diese Daten in der deutschen chemischen Industrie bereits in einem großen Umfang vorBundesminister Sigmar Gabriel
handen sind. Das sollten Sie wissen. Denn nach den
Hoechst-Unfällen in den 90er-Jahren hat es dazu eine
sehr umfangreiche Selbstverpflichtung der chemischen
Industrie gegeben, die auch eingehalten wird. Sie ist übrigens von der damaligen Umweltministerin Angela
Merkel durchgesetzt und später von Umweltminister
Jürgen Trittin stichprobenartig überprüft worden. Das
heißt, wir haben diese Daten. Deswegen ist dieser Kompromiss aus deutscher Sicht verantwortbar gewesen.
({8})
Noch nie war ein umweltpolitisches Vorhaben so umstritten. Wo die einen den Ausverkauf des Gesundheitsund Umweltschutzes an die Industrie sehen, beschwören
die anderen den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf
den internationalen Märkten. Mit REACH verbindet sich
aber tatsächlich eine Pionierleistung bei der Folgenabschätzung bezüglich europäischer Vorhaben. Der heftige
Streit um die Verordnung führte zum Beispiel dazu, dass
unter Einbeziehung der Industrie und übrigens auch der
Umweltverbände erstmals eine breit angelegte systematische Folgenabschätzung vorgenommen wurde.
In Deutschland wurde die Diskussion um REACH
streckenweise ideologisch geführt. Wenn man die Lobbyisten hörte, gab es nur die Wahl zwischen dem Verrat
an der Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik und
der Verlagerung der chemischen Industrie ins Ausland.
Ich glaube, dass eine derart verengte Sichtweise den
Blick auf die wirkliche Kernfrage verstellt. Sie lautet:
Wie kann ein hohes Niveau für den Schutz von Mensch
und Umwelt, auf den es keinen Rabatt geben kann, mit
möglichst kostengünstigen und unbürokratischen Regelungen erreicht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen und der europäischen Industrie zu erhalten?
({9})
Darauf, meine Damen und Herren, hat REACH die
angemessene Antwort gegeben. Das private Chemikalienlager, das uns alle zu Hause umgibt, wird keine Blackbox mehr sein. Bei Farben, Lacken, Klebstoffen, Imprägniersprays, Putzmitteln und Bastelprodukten - Dingen,
die man auch unter dem Weihnachtsbaum finden kann werden wir jetzt endlich das Vertrauen gewinnen können, dass deren Inhaltstoffe auf die grundlegenden Sicherheitseigenschaften überprüft worden sind und dass
ihr Einsatz zu dem gewünschten Zweck vertretbar ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Kauch, FDPFraktion.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Frau
Kotting-Uhl, egal was der Rat beschlossen hätte, Sie hätten es kritisiert, weil Sie ein parteipolitisches Interesse
daran haben, darzustellen, dass nur grüne Umweltminister gute Umweltpolitik machen können. Der Kompromiss im Rat zeigt, dass das offensichtlich nicht so ist.
({0})
Für Deutschland ist die Chemikalienpolitik wirtschaftlich von entscheidender Bedeutung, weil wir mit
Abstand der wichtigste Chemiestandort in Europa sind.
Ich möchte aber betonen, es geht nicht nur um die
Chemieindustrie, es geht eben auch um die nachgelagerten Industrien, die in der politischen Debatte oft genug
aus dem Blick zu geraten drohen. Nur wenn man auch
diese Industriezweige mit einbezieht, dann wird die gesamte wirtschaftliche Bedeutung dieses Reformprojektes
wirklich klar.
Für die FDP war es deshalb von Anfang an ein großes
Anliegen, einen hohen Gesundheitsschutz zu erreichen,
aber ohne Arbeitsplätze zu gefährden.
({1})
REACH muss im Interesse des Umwelt- und Gesundheitsschutzes wirkungsvoll und im Interesse der betroffenen Unternehmen praktikabel sein, sonst droht die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft geschwächt
zu werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher im Wesentlichen die politische Einigung des EU-Ministerrates,
die nun auf Initiative der britischen Präsidentschaft als
Kompromiss zustande gekommen ist.
({2})
Die Einigung enthält wesentliche Verbesserungen und
verwirklicht langjährige Forderungen der FDP, die die
rot-grüne Bundesregierung immer abgelehnt hat. Ich betone das hier, weil es auch die SPD im Deutschen Bundestag und vor allen Dingen die SPD im Europäischen
Parlament war, die hier den Zug jahrelang in die falsche
Richtung hat fahren lassen.
({3})
Positiv an der jetzigen Einigung ist vor allem die unbefristete Zulassung von Stoffen. Eine Befristung hätte
aus unserer Sicht vor allem für die weiterverarbeitende
Industrie Planungsunsicherheit bedeutet. Nehmen wir
einmal das Beispiel Automobilproduktion: Wenn es für
eine Chemikalie, die in der Produktion eines PKWs verwendet wird, mitten in der Modellreihe nach fünf Jahren
plötzlich keine Zulassung mehr gibt, dann müsste es ein
Re-Engineering geben. Jeder Hersteller müsste sich
dann fragen, ob das gute Voraussetzungen für die Industrieproduktion am Standort Deutschland und am Standort Europa sind. Deshalb ist es ein kluger Weg, den der
Ministerrat hier geht.
({4})
Die jetzt gefundene Risikobewertung des Einzelfalls
ist eine gute Lösung. Noch besser wäre es gewesen, explizit auf Produktionszyklen in der weiterverarbeitenden
Industrie abzustellen.
Neben den Zulassungsverbesserungen begrüßen wir
vor allem die Verbesserungen im Registrierungsverfahren, die mit breiter schwarz-rot-gelber Mehrheit im Europaparlament durchgesetzt worden sind. Es ist absolut
richtig, dass in den unteren Tonnagenbereichen stärker
auf die Risiken und weniger auf die Mengen abgestellt
wird. Auch das wurde im Deutschen Bundestag von RotGrün bisher immer abgelehnt. Die SPD scheint hier zumindest lernfähig zu sein.
({5})
Beim Registrierungsverfahren muss man jedoch einige Punkte kritisch anmerken, beispielsweise was die
Testverfahren im Tonnagebereich zwischen zehn und
100 Tonnen angeht. Das sind Mengen, die auch kleine
und mittlere Unternehmen betreffen können. Das Verfahren wird nun für diese Unternehmen teuer und bürokratisch. Die Folge wird sein, dass man eher auf einen
Stoff verzichtet, als ein aufwendiges Testverfahren
durchzuführen. Das geht letztendlich zulasten der Innovationsfähigkeit in der Chemiewirtschaft.
Alles in allem sind wir aber der Meinung, dass der
Kompromiss, der im EU-Ministerrat gefunden worden
ist, ein guter Schritt ist, der zu einer ausgewogenen Lösung zwischen Arbeitsplatzsicherheit auf der einen Seite
und Gesundheitsschutz für die Bürger auf der anderen
Seite führt. Nun sind Rat und Europaparlament gefordert, entlang dieser Linie voranzugehen und zum Abschluss zu kommen, damit am Ende im Jahr 2007, möglicherweise nach einem Vermittlungsverfahren, die neue
Verordnung für die Bürgerinnen und Bürger und für die
Arbeitnehmer in der Chemieindustrie tatsächlich eine
sinnvolle Lösung ist.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Marie-Luise Dött, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat am 13. Dezember
in Brüssel ein Ausrufezeichen gesetzt, ein Ausrufezeichen für die Umweltpolitik der neuen Bundesregierung.
Dem Bundesumweltminister ist gelungen, was vorher
viele für nur schwer möglich gehalten haben: Er hat den
Verhandlungen zu REACH im Wettbewerbsfähigkeitsrat
eine entscheidende Wendung gegeben.
({0})
Die neue deutsche Handschrift wird damit im Europäischen Rat zum ersten Mal deutlich sichtbar.
Schon im Vorfeld waren erste Erfolge zu verzeichnen.
Die britische Ratspräsidentschaft konnte von der Bundesregierung überzeugt werden, die politische Einigung
zu REACH um einige Wochen nach hinten zu verschieben. Damit hatten wir in Deutschland ausreichend Zeit,
die neue Position zu REACH und unsere Änderungsvorschläge zu dem von Großbritannien vorgelegten Kompromiss schlüssig zu formulieren. In der Ratssitzung
Ende November hat der Umweltminister die neuen,
wichtigen Aspekte in die Beratungen auf europäischer
Ebene eingebracht.
Wie wichtig dieser Schritt war, zeigt die Abstimmung
vom Dienstag. Die Vorschläge der Bundesregierung sind
in weiten Teilen auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten
gestoßen. Daran, wie positiv die Vorschläge angenommen wurden, kann man deutlich ablesen, wie sehr manche Mitgliedstaaten darauf gewartet haben, dass diese
Aspekte einmal zur Sprache gebracht werden.
Nach der Abstimmung im Europäischen Parlament
war es vor allem wichtig, im Bereich der Zulassung Stellung zu beziehen. Die Befristung der Zulassung, die das
Europäische Parlament ohne Vorgabe im EU-Kommissionsentwurf beschlossen hatte, wäre unpraktikabel und
in meinen Augen ein unnötiges Stück Bürokratie. Jeder
zuzulassende Stoff würde einer periodisch wiederkehrenden Prüfung unterzogen, selbst dann, wenn die Unbedenklichkeit der Verwendung bereits in einem oder mehreren Verfahren bestätigt wurde. Ich bin daher sehr froh,
dass sich Minister Gabriel für die Streichung der Zulassungsbefristung eingesetzt und damit ein Kernanliegen
der Union im Rat durchgesetzt hat. Vielen Dank!
({1})
Auch in anderen Punkten hatte der Minister den
Rückhalt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, so im Falle
der in Forschung und Entwicklung eingesetzten Stoffe.
Die CDU/CSU hat bereits in der letzten Legislaturperiode die Förderung eines innovationsfreundlichen Klimas in den Mittelpunkt der REACH-Diskussion gerückt.
Denn Innovation schafft Wirtschaftskraft und sichert die
Arbeitsplätze, die wir in Deutschland brauchen.
Innovation lebt von Flexibilität und einer Vielfalt an
Möglichkeiten. Deswegen wollen wir, dass Stoffe, die in
der produktbezogenen Forschung und Entwicklung eingesetzt werden, von der Registrierung ausgenommen
werden, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass
diese Stoffe nicht an Verbraucher abgegeben werden.
Am Dienstag wurde nun dementsprechend von den Mitgliedstaaten beschlossen, dass die Notifizierungspflichten für in der Forschung und Entwicklung eingesetzte
Stoffe erheblich vereinfacht werden.
Im Bereich der Registrierung wurde erreicht, dass der
Umwelt- und Gesundheitsschutz im Vordergrund steht.
Das System knüpft nicht mehr ausschließlich an die
Menge eines Stoffes an, sondern berücksichtigt auch die
Gefährlichkeit. So sollen sich die Informationspflichten
in der Lieferkette an der Verwendung des Stoffes und an
seiner Exposition orientieren. Es werden verschiedene
Kategorien eingeführt, um diese Pflichten einfacher
handhabbar zu machen.
Für die Registrierung von Stoffen in Produktionsmengen von jährlich zehn bis 100 Tonnen konnten keine wesentlichen Erleichterungen der Testanforderungen erreicht werden; auch Herr Kauch hat das angesprochen.
Das ist ein Punkt, der vor allem die mittelständische
Wirtschaft betrifft. Hier werden Zeit- und Finanzbudgets
unnötig gebunden. Oft verfügen die kleinen und mittleren Unternehmen nicht über die notwendige Zeit und die
Personalkompetenz, um umfangreiche bürokratische
Anforderungen zu erfüllen. Es gilt also nach wie vor:
Die Registrierungskosten für kleinvolumige Stoffe müssen eingedämmt werden, damit sie in einem angemessenen Verhältnis zum Umsatz eines mittelständischen Unternehmens stehen.
({2})
Hierin sehe ich die Hauptaufgabe für die zweite Lesung
im Europäischen Parlament.
Unter dem Strich ziehen wir eine positive Bilanz der
Abstimmung im Wettbewerbsfähigkeitsrat. Bei 25 widerstrebenden Interessen in Europa erfordert es schon einiges Verhandlungsgeschick, die eigenen Wünsche
durchzubringen. Die Bundesregierung hat es geschafft,
({3})
in den Beratungen viele wichtige Kernanliegen der
Union durchzusetzen, was ein großer Erfolg ist. Nochmals vielen Dank, Herr Gabriel, dass Sie sich da so eingesetzt haben!
({4})
Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter von der Fraktion der Linken.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von
rund 30 000 relevanten chemischen Stoffen wurden bislang nur etwa 4 000 darauf geprüft, ob sie Gesundheit
oder Ökosysteme schädigen. Mit dem Rest, den so genannten Altstoffen, die vor 1981 auf den Markt kamen,
läuft faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt.
Allergien sowie Brustkrebs- und Atemwegserkrankungen haben drastisch zugenommen. Giftcocktails lassen
sich sogar noch in der Muttermilch nachweisen, ebenso
weitab der Chemiefabriken im Fettgewebe von Eisbären
und Walen.
Die EU-Kommission wollte diesen unhaltbaren Zustand mit ihrem Entwurf einer REACH-Verordnung beenden. Für Alt- und Neustoffe ab einer Tonne Jahresproduktion sollte nun gleichermaßen gelten: keine Daten kein Markt. Mengenabhängig hätten die Chemikalien
getestet und registriert werden müssen. Vor allem aber
sollten besonders gefährliche Stoffe identifiziert und
schrittweise ersetzt werden; denn genau das muss der
Kern einer verantwortlichen Chemikalienpolitik sein.
Ein solches REACH wäre mit 0,1 Prozent des Branchenumsatzes - 0,1 Prozent, Frau Dött und Herr
Kauch! - locker zu bezahlen gewesen. Allein die Ausgaben der Kranken- und Rentenkassen für chemikalienbedingte Erkrankungen und Todesfälle betragen ein Mehrfaches davon. Dazu habe ich von Ihnen heute noch gar
nichts gehört. Mit gutem Willen hätte man dabei auch
- ich denke, das ist uns allen ein Anliegen - die Anzahl
der Tierversuche auf das unvermeidbare Minimum beschränken können. Auch das ist nicht passiert.
({0})
Doch dieser Kommissionsentwurf wurde vor vier
Wochen vom EU-Parlament gnadenlos verwässert; das
wurde hier schon gelobt. In dieser Form hat ihn der
Ministerrat am Dienstag leider auch weitgehend bestätigt. Die Chemiekonzerne, die eine gewaltige Desinformationskampagne losgetreten haben, können einen
Etappensieg verbuchen: Nunmehr sind die Daten- und
Testanforderungen drastisch gesunken. Von den 30 000
relevanten Chemikalien bleiben nur noch 12 000 übrig,
die halbwegs vernünftig überprüft werden sollen. Es besteht zwar die Möglichkeit, von den Firmen Daten nachzufordern. Das wird jedoch enorm bürokratisch. So viel
zum Thema Bürokratie. Zudem wandert die Beweislast
wieder von den Herstellern zu den Behörden; genau das
sollte durch REACH umgekehrt werden. Die gescheiterte Altstoffverordnung, unter der in 24 Jahren gerade
einmal 65 Stoffe bewertet wurden, lässt schon jetzt grüßen.
Insgesamt ist das Rollback in der europäischen Chemikalienpolitik nicht nur ein dreister Frontalangriff auf
die Gesundheit der Menschen. Das Ganze ist außerdem
ökonomischer Unsinn. Schließlich verleiht eine saubere
Registrierung und Bewertung den Firmen Rechtssicherheit in Haftungsfragen, was sehr wichtig ist.
({1})
Alt- und Neuchemikalien könnten zudem in einen gerechten Wettbewerb miteinander treten - und die Schaffung von Wettbewerb ist doch immer Ihr Anliegen. Nun
aber werden Intransparenz und Ungleichbehandlung
fortgeführt. Innovationsfeindlicher geht es kaum.
({2})
In seiner ersten Lesung vor vier Wochen hat sich das
EU-Parlament wenigstens dafür ausgesprochen, gefährliche Chemikalien nur für fünf Jahre befristet zuzulassen. Danach hätten sie von den Unternehmen ersetzt
werden müssen, sofern dann unbedenkliche Alternativen
existieren. Genau darum geht es doch; wir wollen doch
Stoffe, die unbedenklich sind.
({3})
Aber selbst diese einzige positive Veränderung am Kommissionsentwurf wurde vom Rat kassiert.
Insgesamt stellt sich damit die Frage, ob ein solches
Chemikalienrecht nicht hinter das bisherige zurückfällt.
Schließlich gelten die weich gespülten Registrierungsund Zulassungskriterien nun ebenfalls für die Neustoffe
und diese unterliegen gegenwärtig noch einem vorbildlichen Registrierungsverfahren.
Der BUND hat in dieser Woche analysiert, wer in
Europa die Interessen der Chemiekonzerne gegen den
Verbraucherschutz besonders eifrig vertreten hat. Das
Papier ist wirklich lesenswert: Die deutschen Abgeordneten im Europaparlament haben - mit Ausnahme der
Linken und der Grünen - bei allen Änderungsanträgen
mehrheitlich für einen Abbau des Gesundheitsschutzes
gestimmt.
({4})
Im Falle von SPD und FDP geschah das sogar gegen die
jeweilige eigene Fraktion im Europaparlament. Aufgrund der Abgeordnetenanzahl haben deutsche EU-Parlamentarier somit ein fortschrittliches europäisches Chemikalienrecht verhindert.
Dass die Bundesregierung im Rat und in der EUKommission als Repräsentantin des VCI auftrat, weiß
inzwischen ganz Brüssel. Kommissionsvizepräsidentin
Margot Wallström hat öffentlich gegen einen besonders
dreisten Vorstoß Günter Verheugens protestiert. Auch
das ist bekannt.
REACH ist aus unserer Sicht ein trauriges Beispiel
dafür, wie Konzerne die Gesetzgebung nach ihren Profitinteressen zurechtbiegen können, wenn sie dafür nur
mächtig und frech genug sind.
({5})
Dies geschieht leider mithilfe von Politikern aus der
Bundesrepublik Deutschland, einem Land, welches sich
so gern als Weltmeister im Umweltschutz ausgibt.
Noch ein Wort zu den Grünen:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen, Sie
sind weit über Ihre Redezeit hinaus.
Ja, mein letzter Satz: Ein grüner Baum wächst nur auf
rotem Grund.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Schmitt,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der europäische Rat für Wettbewerbsfähigkeit hat in dieser Woche eine Einigung über die künftige
europäische Chemieverordnung REACH erzielt. Das
wichtigste Ergebnis dieser Einigung: REACH kommt!
Damit kommt eine neue, eine fortschrittliche Chemiepolitik.
Wir reden heute natürlich über einen Kompromiss.
Frau Bulling-Schröter, ein Kompromiss ist vom Geben
und Nehmen gekennzeichnet, vielleicht passt dazu der
berühmte Vergleich vom halb vollen und halb leeren
Glas. Ich sage: Das Glas ist halb voll.
Bei all den unterschiedlichen Interessen, die bei dieser Verordnung zu berücksichtigen waren, ist REACH
nämlich ein bedeutender Schritt hin zu einem besseren
Umgang mit Chemikalien in Europa. Was wurde erreicht? Wir überwinden mit REACH einen Zustand, der
heute alles andere als zufriedenstellend ist. Die Chemikalien, die jetzt in Gebrauch sind, werden systematisch
erfasst. Mit REACH entsteht ein zentraler Datenpool für
chemische Stoffe und damit eine Entscheidungsgrundlage für andere Bereiche, den Verbraucherschutz und
den Arbeitsschutz, die diese dringend benötigen.
REACH ist damit die Grundlage für ein wirksames Risikomanagement.
Eine sehr wichtige Neuerung ist, dass die Industrie
die Verantwortung für ihre Stoffe selbst übernehmen
muss.
({0})
Die Beweislast für einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen liegt bei der Industrie. Dabei bleibt es!
Gefährliche Stoffe, die sich im Körper ansammeln
oder Krebs und Mutationen auslösen können, dürfen in
Zukunft nur dann weiterverwendet werden, wenn ein gesicherter Umgang mit diesen Stoffen auch garantiert ist.
({1})
Ein besonderer Vorteil für kleine und mittlere Unternehmen: Es wird einen Mechanismus geben, dass ein
Stoff nur einmal registriert werden muss. Das Prinzip
„ein Stoff, eine Registrierung“ - für die Spezialisten:
OSOR, das ist die Abkürzung für „one substance, one
registration“ - soll so ausgestaltet sein, dass zum Beispiel notwendige Tierversuche an Wirbeltieren auch tatsächlich nur einmal durchgeführt werden müssen und
dürfen.
({2})
Damit wird - Frau Flachsbarth, Sie als Tierärztin werden
zustimmen - auch dem Tierschutz weitgehend Rechnung getragen. Meiner Meinung nach sind das alles bedeutende Fortschritte.
Aber natürlich gibt es auch Bereiche, in denen man
sich als Umweltpolitiker mehr gewünscht hätte. Ich hätte
mir für Chemikalien mit einer Produktionsmenge von einer Tonne bis zehn Tonnen pro Jahr strengere Anforderungen für die Registrierung vorstellen können. Hier hat
man den Anforderungen der Industrie ein Stück weit
Rechnung getragen. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum gerade von der deutschen Chemieindustrie
bis zuletzt gegen eine umfangreichere Lieferung von DaHeinz Schmitt ({3})
ten gekämpft wurde. Es geht dabei doch um Daten, die
ohnehin fast vollständig vorliegen.
({4})
Es gibt in Deutschland schon seit Jahren die so genannte Selbstverpflichtung der Unternehmen im Verband der Chemischen Industrie, die das Ziel verfolgt, einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen zu
gewährleisten.
Danach werden genau die Daten für Stoffe mit niedrigen Produktionsmengen pro Jahr erzeugt, deren Lieferung jetzt auf EU-Ebene quasi freiwillig sein wird.
REACH wäre von Anfang an noch ein Stück solider und
effektiver ausgefallen, hätte man hier ein bisschen mehr
guten Willen gezeigt.
Auch wenn es also Konzessionen gab, so erwarten
wir von den deutschen Chemieunternehmen, dass sie
auch in Zukunft ihre heutigen hohen Standards beibehalten. Wir erwarten ferner, dass die großen Unternehmen
ihre Zusage einhalten, gerade kleinen und mittleren Unternehmen die notwendigen Daten zur Verfügung zu
stellen;
({5})
denn gerade für ein mittelständisches Unternehmen ist es
natürlich aufwendiger, bestimmte Tests durchzuführen
und bestimmte Daten bereitzustellen. Hier gibt es die
Zusage, dass die Großen den Kleinen unter die Arme
greifen werden.
Mit REACH wird also ein System eingeführt, das Europa weltweit zum Vorbild für einen sicheren Umgang
mit chemischen Stoffen und Produkten machen wird.
Weil wir Wettbewerbsnachteile für unsere Industrie vermeiden wollen, muss dieses System - das ist eine weitere Aufgabe, die vor uns liegt - auch für importierte
Stoffe gelten. Dies ist wichtig, damit kein Ungleichgewicht entsteht zwischen Stoffen, die hier produziert werden, und Stoffen, die aus Nicht-EU-Staaten kommen.
Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt
muss die europäische Chemieindustrie und jetzt müssen
nicht zuletzt die deutschen Unternehmen ihren Beitrag
leisten. Die deutsche Chemieindustrie hat sich grundsätzlich zu einem sicheren Umgang mit chemischen
Stoffen und zur Notwendigkeit von REACH bekannt für einen besseren Gesundheitsschutz, für einen besseren
Umweltschutz und für einen besseren Verbraucherschutz. Wir legen großen Wert darauf, dass unsere Unternehmen REACH in diesem Sinne nutzen und damit
ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister! Wir sind hier eben Zeugen eines bemerkenswerten Widerspruches geworden, den man - wenn
ich das so sagen darf - wohl nur unter einem großkoalitionären Klima als stimmig bezeichnen kann. Auf der einen Seite hat der Herr Minister es in seinem Vortrag so
dargestellt, als hätten wir es bei REACH mit einer Kontinuitätslinie rot-grüner Politik zu tun. Auf der anderen
Seite hat Frau Dött dem Herrn Minister dafür gedankt,
dass er in Brüssel im Wettbewerbsrat die entscheidende
Wende im Sinne der CDU/CSU herbeigeführt habe. Ich
muss leider sagen: Frau Dött hat Recht; der Entwurf ist
zum Schlechteren hin verändert worden, ganz eindeutig.
({0})
Der Herr Minister ist heute ja schon als alles Mögliche tituliert worden: als Erzengel, als Tiger, als Bettvorleger. Das würde ich nie sagen,
({1})
aber eines kann man ihm heute definitiv zuschreiben,
nämlich die Rolle des Rosinenpickers - das ist er eindeutig. Es ist in der Tat gut, dass wir hier ein Telefon haben;
ich habe mir nämlich noch einmal von meinem Mitarbeiter die gemeinsame Stellungnahme von VCI, IG BCE
und Bundesregierung vom März 2002 heraussuchen lassen. Da werden verschiedene Positionen ausgeführt und
eine hat sich der Minister herausgesucht - das stimmt;
das war damals von Hubertus Schmoldt und von
Hambrecht mit Nachdruck vorgetragen worden -: Auf
gar keinen Fall zeitliche Befristungen. Es ist natürlich
eine ganze Reihe anderer Forderungen enthalten, für die
Sie sich dann leider nicht eingesetzt haben und die Sie in
Brüssel nicht durchgesetzt haben, zum Beispiel die Forderung, dass wir für Stoffe mit Produktionsmengen zwischen eine und zehn Jahrestonnen wesentlich weiter gehende Datensätze brauchen. Das geht wesentlich über
das hinaus, was die Kommission vorgeschlagen hat.
Dass für Zwischenprodukte aussagekräftigere Mindestdatensätze verpflichtend gemacht werden sollen, haben
Sie ebenfalls nicht durchgesetzt.
So gesehen ist das in der Tat ein deutliches Abweichen von dem, was die alte Regierung gemacht hat; da
beißt die Maus keinen Faden ab. So leicht es mir gefallen ist, Herr Minister, Sie vor wenigen Tagen öffentlich
für Ihren guten Auftritt auf der Klimaschutzkonferenz in
Montreal zu loben, so muss ich doch in dieser Sache eindeutig sagen: Das, was Sie da in Brüssel abgeliefert haben, ist absolut schlecht und inakzeptabel.
({2})
Sie haben dort nicht, wie das für einen Umweltminister
angemessen wäre, vorrangig Umwelt-, Verbraucher- und
Gesundheitsinteressen vertreten, sondern vor allen Dingen eben die vermeintlichen - ich komme gleich dazu Interessen der Chemieindustrie. Die Verbraucherverbände und die Umweltverbände haben dazu das Notwendige gesagt.
Wir halten es auch innovationspolitisch für falsch,
wenn es schwieriger ist, neue Chemikalien in den
Markt zu bringen, die aufwendige Test-, Genehmigungsund Registrierungsverfahren durchlaufen müssen, als
alte Chemikalien, die möglicherweise unbekannte Nebenwirkungen haben, im Markt zu lassen. Das ist keine
Innovationsförderung, sondern es ist Innovationsbehinderung, ganz eindeutig.
({3})
Der entscheidende Punkt, den ich ansprechen möchte,
ist - es ist ja schon viel anderes gesagt worden -:
REACH reiht sich ein in eine Liste von verbraucherpolitisch äußerst fragwürdigen Entscheidungen, die in den
letzten Tagen getroffen wurden.
Schauen wir doch einmal zurück: Gestern hat Minister Seehofer drei Bt-Maissorten, also gentechnisch veränderte Maissorten, genehmigt, die wir nicht brauchen
und die äußerst fragwürdig sind. Heute kündigt er an,
dass er das Gentechnikgesetz ändern will. Durch die geplanten Änderungen würden das Verursacherprinzip faktisch ausgehebelt und die Haftungsregelungen des jetzigen Gentechnikgesetzes so geändert werden, dass
jemand, der kontaminiert ist, nicht mehr geschützt ist,
sondern vielmehr nachweisen muss, wer ihn kontaminiert hat. Darüber hinaus will Herr Seehofer die im Verbraucherinformationsgesetz enthaltene Informationspflicht der Unternehmen komplett streichen.
In diese Liste reiht sich REACH ein. An den Konturen Ihrer Politik, die hier erkennbar werden, sieht man,
dass Sie einen Kniefall vor der Chemieindustrie machen,
aber die Verbraucherinteressen ignorieren. Das halten
wir für völlig falsch.
({4})
- Das ist kein dummes Zeug, sondern leider die Wahrheit.
({5})
Eines will ich Ihnen noch sagen: Bevor ich gerade
hierher kam, habe ich einen Brief an die Bayer AG geschrieben, der in Montreal ein Preis - der „Low Carbon
Leaders Award“ - verliehen wurde. Bayer wurde damit
als eines der Unternehmen ausgezeichnet, die sich weltweit am meisten für den Klimaschutz einsetzen. Dazu
sage ich nur: Chapeau! Weil mein Wahlkreis in Leverkusen ist, habe ich dem Unternehmen geschrieben; denn
ich finde das, was Bayer in diesem Bereich tut, prima.
Aber für viele andere Bereiche gilt ganz eindeutig: Es
ist gefährlich, wenn sich die Politik bzw. eine Bundesregierung die Positionen der Chemieindustrie, die wettbewerbspolitisch natürlich legitim sind, zu einseitig zu
Eigen macht.
({6})
Wenn man sich REACH anschaut, stellt man fest: Sie
haben sich die Forderungen der chemischen Industrie
sehr einseitig zu Eigen gemacht und sind über die vernünftigen Vorschläge derjenigen hinweggegangen, denen der Umwelt-, der Verbraucher- und der Gesundheitsschutz besondere Anliegen sind. Insofern sage ich: Hier
haben Sie einen Kniefall vor der Chemieindustrie gemacht,
({7})
der in dieser Form ganz eindeutig nicht nötig gewesen
wäre.
Danke schön und frohe Weihnachten.
({8})
Nun hat der Kollege Franz Obermeier, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Loske, Ihre Rede war wieder einmal ein Beweis
dafür, dass Ihre Grünen-Fraktion absolut unfähig ist, Innovationen und moderne Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland ausgewogen zu bewerten.
({0})
Durch die Politik, die Sie in den vergangenen Jahren
gemacht haben, hat sich die deutsche Wirtschaft immer
stranguliert gefühlt. Ob es nun so war oder nicht, lasse
ich einmal dahingestellt. Aber man hatte nicht das Gefühl, dass die Wirtschaft die Unterstützung der Politik
hatte, wenn es um die Weiterentwicklung von Unternehmen, die Sicherung bestehender Arbeitsplätze oder die
Schaffung neuer Arbeitsplätze ging. Sie haben immer
den Eindruck vermittelt, als seien die Unternehmen und
die Vorhaben, die sie in Deutschland umsetzen wollen,
eigentlich gar nicht erwünscht.
({1})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Ihren Einlassungen über die kleinen Unternehmen machen. Gerade die kleinen Unternehmen wären vom ursprünglichen REACH-Entwurf massiv betroffen gewesen.
({2})
Herr Minister, weil wir wissen, dass neue Arbeitsplätze
in der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich in den
kleinen und mittelständischen und nicht in den großen
Unternehmen geschaffen werden, sind wir über die Entscheidung, die im Europäischen Rat in Brüssel gelungen
ist, froh. Ich jedenfalls freue mich darüber. Denn durch
diese Entscheidung wird die Wettbewerbsfähigkeit der
europäischen chemischen Wirtschaft weit weniger beeinträchtigt, als es ursprünglich der Fall gewesen wäre.
Diese Entscheidung als Kniefall zu bezeichnen ist schon
ziemlich weit hergeholt, meine Damen und Herren von
den Grünen. Vielmehr bedeutet die jetzt getroffene Entscheidung tatsächlich ein Mehr an Verbraucherschutz, da
nun der Großteil der hunderttausend am Markt befindlichen Chemikalien auf ihre Risiken getestet wird.
Gleichwohl möchte ich nicht verschweigen, dass ich
den Eindruck habe, als müsste noch an einigen Stellen
nachgearbeitet werden:
Erstens. An den Kosten für die nötigen Testreihen
sollten alle Hersteller und Verarbeiter beteiligt werden auch jene aus Nicht-EU-Staaten.
Zweitens. Bei der Registrierung von Stoffen - dem
für die Wirtschaft bedeutsamsten Bereich - hat der Rat
die Testanforderungen im Gegensatz zum Parlamentskompromiss spürbar erhöht, ohne damit irgendeinen
zusätzlichen Gewinn für Umwelt oder Gesundheit zu erzielen. Das gilt besonders für den Bereich der Jahresproduktion von zehn bis 100 Tonnen und damit für die kleinen und mittleren Unternehmen. Somit besteht die große
Gefahr, dass Stoffe lediglich aus Kostengründen vom
Markt verschwinden werden, nicht aber weil sie besonders gefährlich wären. Dieser vom Rat zu verantwortende Effekt gefährdet Arbeitsplätze in Deutschland und
läuft der erklärten Zielsetzung der neuen Stoffpolitik
eklatant zuwider.
Drittens. Herr Minister, ich sehe Bedarf für einen umfassenden Datenschutz. Es ist ein berechtigtes Anliegen
der Hersteller, dass Zusammensetzung, Herstellung und
Verarbeitung ihrer Produkte Geschäftsgeheimnisse bleiben. Es muss gewährleistet sein, dass nicht mehr Daten
als unbedingt notwenig nach außen bekannt werden.
Sonst könnte weltweit jeder Konkurrent von den
REACH-Erhebungen profitieren und die chemischen
Rezepte einfach „nachkochen“.
Lassen Sie mich zum Abschluss ein Fazit ziehen: Es
ist anzuerkennen, dass der Rat den ursprünglichen Entwurf der Kommission - nicht zuletzt auf Betreiben unserer neuen Bundesregierung - für die Wirtschaft deutlich
praktikabler gestaltet hat - und das bei Aufrechterhaltung der gesundheits- und umweltpolitischen Ziele. Insgesamt liegt nun ein akzeptables Paket für das REACHSystem vor. Allerdings ist der Ratskompromiss zu
REACH in einigen Punkten noch verbesserungsbedürftig. Im weiteren Verfahren müssen wir getreu unserer
Koalitionsvereinbarung zu REACH vorgehen: Ziel von
CDU/CSU und SPD ist es, dass die Herstellung von
Chemikalien durch REACH im Ergebnis nicht verteuert
werden darf. Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie
Wettbewerbsfähigkeit müssen in diesem Rahmen sorgfältig ausbalanciert werden.
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
REACH hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte ist
noch nicht zu Ende, aber wir haben eine wichtige Etappe
erreicht. Es hat jahrelange Verhandlungen gegeben, es
hat Proteste der Industrie gegeben, der Umweltverbände,
der Tierschützer. Viele Studien wurden angefertigt, unter
anderem von Nordrhein-Westfalen. Jetzt haben wir einen
Mehrheitsbeschluss des Rates und nun ist die zweite Lesung im Europäischen Parlament abzuwarten.
In diesem ganzen Verfahren wurde der ursprüngliche
Entwurf der Kommission mehrfach verändert: durch das
Europäische Parlament und auch durch den Rat. Das
Ziel - den Umgang mit 30 000 Altstoffen sicherer zu
machen - teilen wir alle. Umwelt-, Verbraucher-, Gesundheits- und Arbeitsschutz stehen dabei im Mittelpunkt. Es ist schon gesagt worden: Besonders wichtig ist
der Ausschluss von kanzerogenen und erbgutverändernden Stoffen in verbrauchernahen Produkten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viele Lobbyisten
wie im Zusammenhang mit dieser gesetzlichen Regelung - auf allen politischen Ebenen - sind noch nie tätig
geworden. Aber - Frau Kotting-Uhl ist nicht mehr da ich finde, man kann an dieser Stelle nun wirklich nicht
von Erpressung reden. Ich glaube, sowohl Umweltverbände als auch die Industrielobby und die Gewerkschaften haben legitime Interessen vertreten
({0})
und es gehört zu einem demokratischen Prozess, dass
diese Interessen in einer ernsthaften Auseinandersetzung
vorgetragen und Konflikte ausgetragen werden.
({1})
Mit dem Ergebnis, das auf dieser Etappe erreicht worden ist, sind noch immer nicht alle zufrieden: Die Umweltschutz- und Verbraucherverbände hätten sich anderes und mehr gewünscht; die Wirtschaft und die
Industrielobby sind auch nicht zufrieden. Das haben wir
gerade aus dem Mund der Kollegen gehört. Es wird gesagt, die Kosten seien noch immer nicht tragbar. Es wird
vorgetragen, dass kleine und mittlere Unternehmen, die
oft nur geringe Mengen herstellen, über Gebühr belastet
würden. Auch wurde die Frage der internationalen Wettbewerbssituation aufgeworfen, wobei ich glaube, dass
das dadurch geregelt ist, dass auch die Importeure in das
Verfahren mit einbezogen werden.
Ja, es ist richtig, dass der Verordnungsentwurf ursprünglich rigoroser war. In ihm waren mehr Tests und
eine größere Testtiefe vorgesehen, es wurden mehr Daten auch bei kleineren Produktionsmengen verlangt.
Aber, Frau Bulling-Schröter, der jetzige Entwurf führt
nicht dazu, dass die Umwelt- und Verbraucherschutzinteressen vernachlässigt werden und ein fortschrittliches
EU-Chemikalienrecht verhindert wird. Selbstverständlich ging das Bestreben der Kommissarin, die den ursprünglichen Entwurf eingebracht hat - sie kommt aus
einem Land, das keine bedeutende chemische Industrie
hat -, dahin, dass möglichst wenig Veränderungen an ihrem Entwurf vorgenommen werden.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das
Ergebnis, das nun erreicht worden ist, sowohl die Wünsche aus den Chemiestandorten als auch die Forderung
nach mehr Umweltschutz erfüllt. In der Chemiepolitik
gibt es gegenüber der bisherigen Situation kein Rollback. Es wird verhindert, dass nicht registrierte Altstoffe
unkontrolliert weiter verwendet werden. Das ist ein riesengroßer Fortschritt, vor allem in den Bereichen der
Massenprodukte und der verbrauchernahen Produkte.
Dennoch ist die Belastung für die Wirtschaft in Grenzen
geblieben.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Punkte
ansprechen:
Erstens. Herr Loske hat im Zusammenhang mit der
Frage der Innovationen Schwarz-Weiß-Malerei betrieben. Ich bin davon überzeugt, dass diese Verordnung einen Innovationsschub bringen wird, weil gefährliche
und schädliche Stoffe ersetzt werden. Aber allein die
bessere Kenntnis von Stoffen kann dazu beitragen, dass
eine Produktoptimierung durchgeführt wird. Das alte
Stoffrecht dagegen hat genau diese Innovationen behindert. Dass die Opposition Schwarz-Weiß-Malerei betreibt, kann ich nachvollziehen. Die Koalitionsfraktionen
dagegen müssen eine Balance finden und das Machbare
durchsetzen.
Zweitens - das ist mir als Europapolitikerin wichtig -:
Solche Regelungen hätten national keinerlei Sinn gemacht. In diesem Fall bringt die EU konkrete Fortschritte für die Menschen. Sie können in Zukunft mehr
darauf vertrauen, dass sich die Stoffe, die sich in Kosmetika befinden, nicht in ihren Körpern anreichern, dass in
Spielzeugen keine giftigen Substanzen sind, die herausgelöst werden können, oder dass Lacke keine giftigen
Dämpfe absondern. Die Menschen können die EU in
diesem konkreten Fall positiv erfahren. Die Mitgliedstaaten haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich zu
einigen. Das ist wichtig, gerade vor dem Hintergrund des
heute stattfindenden schwierigen Gipfels. Ich freue
mich, dass unser Umweltminister dazu beigetragen hat,
dass die britische Ratspräsidentschaft wenigstens diesen
Erfolg in der Tasche hat.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
ein frohes Weihnachtsfest. Passen Sie auf, dass Sie sich
nicht an den Wunderkerzen verbrennen.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Ingbert Liebing, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich hätte ich mich gerne mit den Argumenten
meiner Vorredner von den Grünen auseinander gesetzt.
Beide haben das Plenum aber schon verlassen. Ich finde
es beschämend, dass Sie von den Grünen am Freitagnachmittag eine solche Debatte beantragen, dann aber
gerade einmal mit drei Abgeordneten aus Ihren Reihen
hier im Plenum vertreten sind.
({0})
Offensichtlich liegt Ihnen an pressewirksamen Showeffekten doch mehr als an der Sachdiskussion hier im Plenum.
({1})
Dabei bin ich den Grünen eigentlich ausgesprochen
dankbar für diese Aktuelle Stunde zum Thema REACH,
gibt mir die Debatte doch Gelegenheit, der deutschen
Öffentlichkeit den Unterschied zwischen einer pragmatischen, lösungsorientierten und ausgewogenen Politik,
die sich jetzt im EU-Rat durchgesetzt hat, und Ihrer
überzogenen Regulierungswut deutlich vor Augen zu
führen; denn darum geht es im Ergebnis ja.
({2})
Es geht darum, dass nach einem mehrjährigen Streit
in Europa eine Verständigung über die künftige Chemikalienpolitik endlich nahezu erreicht ist. Dies war vor
allem auch deshalb möglich, weil Deutschland mit unserer neuen Kanzlerin an der Spitze endlich wieder mit einer klaren Stimme und mit einem klaren Kurs in der EU
aufgetreten ist. Mit diesem Kurs werden beide Interessen
berücksichtigt, nämlich die Interessen des Verbraucherund Umweltschutzes genauso wie das legitime Interesse
- dieses sollten wir alle achten - an einer funktionsfähigen Wirtschaft, an einer funktionsfähigen Chemieindustrie und an der Lebensfähigkeit der vielen kleinen und
mittelständischen Unternehmen, die mit chemischen
Stoffen umgehen.
({3})
Beides ist wichtig. Dies findet jetzt in der Entscheidung
des EU-Wettbewerbsrates seinen Niederschlag.
Wir haben erlebt, wie die Grünen heute Sturm dagegen gelaufen sind.
({4})
- Genau, es war ein laues Lüftchen. - Das verwundert ja
auch nicht; denn letztlich ist genau das Ihr Problem: Sie
bekommen diesen Interessenausgleich eben nicht hin.
({5})
Sie wollen - das hat die Debatte wieder gezeigt - alles
bis ins Letzte reglementieren, koste es, was es wolle, und
koste es auch viele Betriebe die Existenz und viele Arbeitsplätze. Damit ist jetzt endlich Schluss.
({6})
Als Sie noch mit Ihrem Minister die Verantwortung
hatten, wollten Sie wieder nach Ihrem alten bekannten
Strickmuster verfahren: Was Sie in Deutschland national
nicht erreichen können, versuchen Sie uns über Bande
- über Europa - aufzudrücken. Auch damit ist jetzt
Schluss.
({7})
Deutschland hat nämlich wieder eine handlungsfähige
Regierung, eine Regierung, die ihre Gesamtverantwortung ernst nimmt und unterschiedliche Interessen ausgleicht. Damit ist Deutschlands Position in Europa deutlich gestärkt worden. Nur so ist es unserer neuen
Regierung möglich geworden, den Kompromiss im EURat deutlich zu befördern.
Mit Jürgen Trittin am Kabinettstisch und im Rat wäre
dies sicherlich nicht möglich gewesen. Denn was hätten
Sie mit Ihrer Position erreicht? Sie haben doch nur erreicht, dass es eben keine Verständigung gegeben hat.
Diente das denn den Interessen der Verbraucher mehr?
Haben Sie durchgesetzt, dass das Thema Altstoffe - es
geht um die Stoffe von vor 1981 - jetzt wirklich angepackt wird?
({8})
Nein, Ihre Position hätte eine Verständigung in weite
Ferne gerückt und es wäre alles beim Alten geblieben.
Deshalb ist es gerade das Verdienst der neuen Bundesregierung, dass jetzt der Durchbruch erreicht wurde und
dass 30 000 Altstoffe in angemessener Form aufgearbeitet werden.
({9})
Schon jetzt ist davon auszugehen, dass diese Aufarbeitung elf Jahre dauern wird. Mit Ihrer Regulierungswut würde es wohl noch länger dauern. Wenn alle Stoffe
nahezu gleich behandelt werden, können Schwerpunkte
nicht gesetzt werden. Da ist es doch wohl allemal sinnvoller, dort zu beginnen, wo besondere Risiken bestehen.
Dort, wo das eben nicht der Fall ist, kann mit viel weniger Aufwand viel schneller ein vernünftiges Ergebnis erzielt werden. Ich denke, das dient doch allemal mehr den
Interessen des Umwelt- und Verbraucherschutzes als
Ihre Position.
({10})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir wissen: Noch ist REACH nicht am Ende.
Wir wissen auch, dass es noch immer unterschiedliche
Auffassungen zwischen dem EU-Parlament und dem Rat
gibt. Meine Fraktion unterstützt die Regierung und Umweltminister Gabriel ausdrücklich darin, den jetzt eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Wir ermuntern Sie, konsequent zu bleiben und keine weiteren Verschärfungen
zuzulassen, durch die das jetzt gefundene austarierte
Gleichgewicht der Interessen wieder ins Rutschen geriete.
Herr Minister Gabriel, wir werden Sie gegen jede Anfeindung vonseiten der Grünen in Schutz nehmen, damit
unser Land nicht wieder in die unsäglichen Zeiten rotgrüner Verhinderungspolitik zurückfällt,
({11})
unter der Deutschland so lange zu leiden hatte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Kollege Liebing, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
Wünsche für Sie.
({0})
Nun hat Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion, das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
REACH ist mittlerweile ein „reach out“, ein Griff nach
den Sternen am europäischen Richtlinienhimmel. Der
Weg dahin ist mehr als beschwerlich gewesen.
Lassen Sie mich rekapitulieren: REACH ist ein sehr
ehrgeiziges Programm, das in einer Richtlinie über
40 verschiedene bestehende Vorschriften ersetzt und
gleichzeitig wichtige Ziele für eine europäische Chemikalienpolitik verfolgt. Es geht um den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, den Erhalt bzw. die
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Chemieunternehmen, die Verhinderung der Aufsplitterung des gemeinsamen Binnenmarktes, die verbesserte Information
über Chemikalien, die Integration der EU-Politik in internationale Programme, die Einhaltung bzw. Übereinstimmung mit WTO-Regelungen, die Förderung von Prüfmethoden ohne Tierversuche und nicht zuletzt um die
Substitution gefährlicher Stoffe durch ungefährlichere. Es
geht also praktisch um die Quadratur des Kreises.
Seit 1999 arbeiten wir alle an dieser Richtlinie: unsere
Kollegen vom Europäischen Parlament, die Kommission, der Ministerrat und auch wir. Selbst die Landesparlamente haben sich damit intensiv befasst und sogar im
Rahmen eines Planspieles die Auswirkungen der seinerzeitigen Regelungen auf Mensch und Wirtschaft durchgerechnet, also eine Gesetzesfolgenabschätzung gemacht und damit auch Veränderungen auf den Weg
gebracht.
Schließlich kommt der chemischen Industrie in Europa und natürlich auch in Deutschland große ökonomische Bedeutung zu. Über 34 000 Unternehmen mit über
1,7 Millionen direkt Beschäftigten gehören zur Chemieindustrie. Wie wir aus Veröffentlichungen wissen, ist
dieser Wirtschaftszweig nach wie vor bestens aufgestellt, hochinnovativ und produktiv. Diese Branche gibt
auch etwas zurück: Entgegen dem Trend hat sie ihr Ausbildungsplatzangebot um über 2,5 Prozent gesteigert.
({0})
15 Prozent der Wertschöpfung in unserem Land kommen aus der Chemieindustrie.
({1})
Aus diesem Grund liegt uns allen die europäische Chemiepolitik am Herzen. Ich gebe zu: mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.
Nach all den vielen Konsultationen, Verhandlungen
und Abstimmungen konnte vor drei Tagen im Ministerrat eine Einigung über die Chemikalienverordnung
REACH erzielt werden, auch wenn keine Seite ihre gewünschten Lösungen im Detail erreicht hat. Deshalb
kann von einem Kniefall kaum die Rede sein. Mit der
jetzt vorliegenden Entscheidung ist es weitestgehend gelungen, ökonomische, ökologische und soziale Belange
ausgewogen zusammenzubringen, und zwar - das stelle
man sich vor - unter 25 Mitgliedstaaten.
Der Ministerrat - damit auch unser Minister - konnte
sich dabei auf einen Verordnungsvorschlag des Parlaments stützen und übernahm zum großen Teil die Vorlage, zum Beispiel beim Registrierungsverfahren. Hier
wird bei Altstoffen, also denen, die vor 1981 in Verkehr
gebracht wurden, in Mengen von ein bis zehn Jahrestonnen regelmäßig nur ein Grunddatensatz gefordert, der
aber je nach Gefährdungspotenzial durch zusätzliche
Tests ausgeweitet werden kann. Für Neustoffe erfolgt die
Registrierung aber strikt nach dem Mengenansatz.
Beim Zulassungsverfahren hat sich der Rat darauf
geeinigt, bürokratische Hürden zu verringern. Deshalb
soll jetzt die Zulassung grundsätzlich unbefristet erfolgen, statt, wie vom Europäischen Parlament vorgesehen,
nach fünf Jahren auszulaufen. Eine derartige Einschränkung hätte den Unternehmen wenig Rechtssicherheit gebracht und Innovationen nicht unbedingt befördert, weshalb auch unsere SPD-Abgeordneten im Europäischen
Parlament über diese Fristenlösung nicht besonders
glücklich waren.
Auch wenn die Frist jetzt wohl vom Tisch ist, kann
die Agentur von Fall zu Fall periodische Überprüfungen
vornehmen. Man wird sehen, ob die Aufgabe des
Zwangs zur Substitution - ob sie nun wirklich eine Verbesserung gebracht hätte, steht dahin - tatsächlich zu der
befürchteten Konsequenz führt, dass damit der Anreiz
für Alternativprodukte entfällt. Ich bin überzeugt, dass
ein eingespielter Markt zu ständigen Verbesserungen
bzw. Alternativen drängen wird.
Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen
konnte im Sinne der Industrie erheblich verbessert werden. Das ist von großer Bedeutung, weil unsere Industrie
kein Interesse daran haben kann, aufgrund der weitreichenden Offenlegungspflichten außereuropäische Wettbewerber zu begünstigen, was uns als Verbraucher aber
auch keinen Vorteil gebracht hätte. Für die Stoffe, die in
der Forschung und Entwicklung, aber noch nicht auf
dem Markt sind, wird die Meldepflicht erheblich vereinfacht, damit Forschungsprogramme nicht gefährdet werden.
Im Zusammenhang mit der Datenerstellung soll das
Prinzip „one substance, one registration“ verpflichtend
bestehen bleiben, aber ein „opt out“ möglich sein, wenn
zum Beispiel Informationen vertraulich sind oder ein
Mitbewerber früher als der andere registrieren will.
Zusammenfassend kann ich feststellen, dass sich der
lange Diskussionsprozess um diese Chemikalienrichtlinie gelohnt hat. Ganz abgeschlossen ist er allerdings
noch nicht; denn es stehen noch die weiteren Beratungen
im Plenum und im Ministerrat aus. Allerdings wird es
wohl keine großen Änderungen mehr geben.
Aber eines stellt mich immer noch nicht zufrieden:
Während Produkte, die in Europa gefertigt werden und
Chemikalien beinhalten - vom Nagellack bis zum Auto,
vom Kunststofffenster bis zum Spielzeug -, dieser
Richtlinie unterliegen, gibt es keine Regelung für Fertigprodukte aus dem nichteuropäischen Ausland. Eigentlich müsste REACH aber auch bis dorthin reichen. Das
kann man sich vielleicht zu Weihnachten und zum Jahreswechsel wünschen.
Ich wünsche Ihnen einen guten Jahreswechsel.
({2})
Ich erteile nun als letztem Redner dem Kollegen
Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte eine kurze Bemerkung voranstellen. Ich finde es wichtig, dass nach jahrelangen Diskussionen REACH jetzt so schnell wie möglich umgesetzt
wird.
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Denn ich glaube, dass damit das Wissen über die verwendeten Stoffe erhöht wird; dies bedeutet eine Verbesserung für Umwelt und Gesundheit und damit für die
Verbraucher.
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Weil ich mich auch heute wieder darüber geärgert
habe, dass vonseiten der Grünen immer wieder so getan
wird, als hätten sie den Umweltschutz gepachtet, möchte
ich darauf hinweisen, dass das Thema auch für uns wichtig ist.
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Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang von einer
Begegnung berichten, die ich vor zwei Wochen hatte.
Ein Biobauer vom Bodensee kam zu mir und berichtete,
er habe gerade ein längeres Gespräch mit einem AuszuAndreas Jung ({3})
bildenden geführt, der ihm gesagt habe, er wolle zu den
Grünen gehen. Darauf hat der Biobauer erwidert: Du
darfst zwar ein grünes Herz haben und etwas für Umwelt- und Naturschutz übrig haben, aber du musst in einer gescheiten Partei sein. - Es wird Sie nicht überraschen, dass er damit unsere Partei gemeint hat.
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Für uns ist Umweltschutz genauso wichtig wie für andere. Die große Koalition will, kann und wird eine gute
Umweltpolitik gestalten.
Ich begrüße REACH auch aus einem weiteren Grund.
Derzeit gibt es 40 Richtlinien, die den Bereich der Chemikalienpolitik regeln. Wenn man es richtig macht, dann
bietet REACH die Möglichkeit, das zu erreichen, was
die Union immer wieder gefordert hat, nämlich die Vereinfachung von Gesetzen und den Abbau von Bürokratie.
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Wenn es darum geht, den gefundenen Kompromiss zu
bewerten, dann meine ich, dass er uns voranbringen
wird. Er bringt uns voran, weil auf der einen Seite die
Ziele - die Verbesserung des Umweltschutzes, des Verbraucherschutzes und der Gesundheit - erreicht werden
und auf der anderen Seite die Rahmenbedingungen für
diejenigen, die mit diesen Regelungen arbeiten müssen
- ich meine die Unternehmen -, verbessert werden.
Ich möchte einen Punkt aufgreifen, der schon mehrfach genannt wurde, nämlich den Wegfall der Befristung
für Zulassungen. Ich glaube, dass dies ein wichtiger
Schritt ist.
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Ich meine zwar, dass uns der Kompromiss voranbringt, aber ich möchte in diesem Zusammenhang einen
Punkt ansprechen, in dem meines Erachtens noch weiter
verhandelt werden muss: die Zulassung von Stoffen für
Testverfahren im Bereich einer Jahresproduktion zwischen 10 und 100 Tonnen. In diesem Punkt sind noch
Änderungen notwendig, weil die vorgesehenen Regelungen die kleinen und mittelständischen Unternehmen besonders treffen, da deren Umsetzung mit erheblichen
Kosten verbunden ist.
Ich meine, wir sollten etwas lassen, das in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen ist. Durch gesetzliche Regelungen wurden Normen geschaffen, die große
Unternehmen - wenn auch nicht gerne - erfüllen und
verkraften konnten, mit denen sich aber kleine und mittlere Unternehmen sehr viel schwerer taten, weil sie
durch diese sehr schwer belastet wurden und manchmal
sogar überfordert waren. Hier muss es Änderungen geben, die gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen zielführend sind.
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Wir sind auf einem guten Weg. Es muss allerdings
noch verhandelt werden, um weitere Fortschritte zu erreichen. Verschwinden sollen mit REACH die Stoffe, die
gesundheitsgefährdend sind, nicht aber Unternehmen,
insbesondere nicht die kleinen und mittleren. Denn diese
brauchen wir für all das, was wir uns in diesem Land
vorgenommen haben: mehr Innovationen, Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze.
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Gestatten Sie mir am Schluss eine persönliche Bemerkung. Die Letzte wird die Erste sein. So ähnlich steht
es in der Bibel. Ich komme aus dem Wahlkreis Konstanz. Zu Beginn dieses Jahres glaubte ich wie jeder andere, dass unser Bundestagsabgeordneter Hans-Peter
Repnik noch über ein Jahr sein Mandat ausüben würde.
Ich hätte nicht gedacht, dass die letzte Rede, die in diesem Jahr im Deutschen Bundestag gehalten wird, meine
erste sein würde. Ich habe mich gefreut, dass ich heute
hier sprechen konnte.
Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit und wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Lieber Kollege Jung, meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Bundestagsrede. Alles Gute für
Ihre Arbeit!
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Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Januar 2006, 13 Uhr, ein.
Ich schließe mich meinerseits den guten Wünschen
für eine frohe Weihnachtszeit und einen heiteren Jahreswechsel an. Alles Gute! Wir sehen uns hoffentlich wohlbehalten und bester Laune im neuen Jahr wieder.
Die Sitzung ist geschlossen.