Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/16/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 16/45 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) - Drucksache 16/227 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({2}) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben - Drucksache 16/54 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile das Wort dem Bundesminister Wolfgang Tiefensee. ({4})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Gesetzesvorhaben mit langen Titeln: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz und Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Die Länge der Titel ist reziprok zur Wirkung, die diese beiden Gesetze haben sollen: Wir wollen einen Beitrag leisten, dass Planungsverfahren für Verkehrswege und weitere Infrastrukturvorhaben verkürzt werden, damit Investitionen schneller umgesetzt werden können. Ich denke, mit diesen beiden Gesetzesvorhaben unterstreicht die Regierung einmal mehr, dass sie zügig das verwirklicht, was in der Koalitionsvereinbarung steht, besonders an den Punkten, wo es um bessere Bedingungen für Investitionen und wirtschaftliches Wachstum geht. Sie wissen, dass das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Osten bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Wirkung entfaltet. Das ist ein wichtiger Aspekt. Wir wollen das, was sich im Osten bewährt hat, mit dem zweiten Gesetz auf das ganze Land übertragen. Wir wollen die Erstinstanzlichkeit - die Befassung mit bestimmten Vorhaben in nur einer gerichtlichen Instanz - auf die ganze Republik übertragen. ({0}) Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht, wissen aber auch, dass wir das Bundesverwaltungsgericht nicht überlasten dürfen. Aus diesem Grund werden im Gesetz 86 Vorhaben benannt - für Schienenwege, Straßenwege sowie Wasserwege -, die speziell unter diese Regelung fallen sollen. Wir haben eine ganze Reihe von Anregungen mit den Ländern diskutiert und in den Gesetzentwurf übernommen. Ich greife einige kurz heraus: Wir wollen bestimmte Vorarbeiten zur Bauvorbereitung im Verfahren ermöglichen. Mit anderen Worten: Wir werden Vorbereitungen nicht nur auf die Planung, sondern auch auf den Bau bezogen vorantreiben können. In bestimmten Fällen werden wir keine Erörterungstermine mehr brauchen; sie sollen beispielsweise dann entfallen, wenn keine Einwendungen von Bürgern vorliegen und keine Stellungnahmen auf dem Tisch liegen. Wir wollen reagieren, wenn bei Grundstücksfragen die entsprechenden Eigentümer nicht ortsansässig sind: Die Ermittlungszeiträume Redetext sollen verkürzt werden bzw. solche Ermittlungen sollen nicht mehr notwendig sein - um nur einige Beispiele zu nennen. Mit dem neuen Gesetz werden wir aber auch die Umweltbelange im Blick behalten: Wir werden alle Standards - sowohl bei den FFH-Gebieten als auch bei der Umweltverträglichkeitsprüfung - einhalten, wie das auch im Osten gang und gäbe war; es hat den Verfahren in dieser Beziehung nicht geschadet. Darüber hinaus setzen wir einen Akzent bei der Bürgerbeteiligung. Das ist wichtig auch für Bürgervereine und Bürgerinitiativen. Die Naturschutzverbände werden im Rahmen der so genannten Präklusion, beim Anhörungsrecht, was die Fristen angeht, den Bürgerinnen und Bürgern gleichgestellt. Das könnte ein Wermutstropfen sein. Ich denke, das ist zumutbar und führt zu einer weiteren Verkürzung. Summa summarum: Durch die Umsetzung dieser beiden Vorhaben können wir erreichen, dass die Dauer bestimmter Verfahren in ganz Deutschland, so wie das schon jetzt im Osten der Fall ist, um bis zu zwei Jahre verkürzt werden kann. Das ist ein Anreiz für Investoren, ist gut für Investitionen und gibt einen Impuls für die Wirtschaft. ({1}) Es gibt darüber hinaus vonseiten der Länder noch Ergänzungen, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens natürlich eingebracht werden können und diskutiert werden. Wir haben schon eine Reihe von Vorschlägen aufgenommen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich empfehle Ihnen heute die Annahme des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes. Dieses wird bis zum 31. Dezember 2006 verlängert, damit das Verfahren im Osten nicht abbricht; das neue Gesetz wird parallel dazu eingeführt, aber bitte nicht mit einer Frist von zwölf Monaten, sondern möglichst mit einer kürzeren Frist. Damit wollen wir ein deutliches Signal für einen wirtschaftlichen Aufschwung setzen. Dieser kommt den Menschen, der Baubranche, der Wirtschaft und damit unserem Land insgesamt zugute. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Jan Mücke, FDP-Fraktion. ({0})

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die beiden Gesetzesvorhaben, die heute zur Beratung auf dem Tisch liegen. Der Bereich der Verkehrsplanung ist ganz klar ein Feld für Bürokratieabbau. Wir als FDP stehen für Bürokratieabbau. Wir wissen, dass die Überregulierung in diesem Bereich - aber nicht nur in diesem - in unserem Land erheblich ist und dass großer Handlungsbedarf besteht, um insbesondere bei Verkehrsplanungen schneller zu Entscheidungen zu kommen. Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Überregulierung in unserem Land anschaulich wird, dann im Bereich der Verkehrsplanungsgesetze. Die Abkürzung BRD steht nicht umsonst nicht nur für Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für „beinahe regelungsdicht“. Diese Regelungsdichte führt aber dazu, dass wir bei entscheidenden Verkehrsvorhaben sehr viel Zeit benötigen. Wir brauchen zu lange. Dadurch verschenken wir unsere Zukunft. ({0}) Wie sehr man seine Zukunft verschenken kann, möchte ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen, die für jeden nachvollziehbar machen, wie wichtig es ist, dass wir zu einer deutlichen Straffung der Planungsverfahren kommen. Ich nenne Ihnen als erstes Beispiel den Bau des Riederwaldtunnels an der A 66 in Hessen. Die Planungen begannen 1971, der erste Anhörungstermin fand 1989 statt, der Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ist für das nächste Jahr vorgesehen. Bis heute ist dort also noch kein Bagger gefahren, bis heute ist dort noch keine Schaufel in die Hand genommen worden. Das zweite Beispiel ist die Ortsumfahrung von Weimar im Lahntal an der B 255. Der Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ist ebenfalls für das nächste Jahr vorgesehen. Der Erörterungstermin fand im vergangenen Jahr statt. Der Planungsbeginn war 1968. ({1}) Diese Planungsvorhaben sind deutlich älter als ich selber. Es kann doch nicht der Normalzustand sein, dass wir in Deutschland für eine Planung 37 Jahre benötigen. Hier wird die Zukunft unseres Landes verschenkt. ({2}) Als Land in der Mitte Europas sind wir ein Transitland. Wir sind ein Land mit großer wirtschaftlicher Bedeutung. Deswegen und weil damit auch Ansiedlungsentscheidungen von Unternehmen verbunden sind, sind wir auf vernünftige Verkehrswege angewiesen. Es ist also ganz wichtig, dass wir durch gestraffte Verfahren schneller zu Entscheidungen kommen. Das ist der überragende politische Aspekt bei diesen beiden Vorhaben, die heute auf dem Tisch liegen. Es gibt aber noch einen persönlichen Aspekt, der uns Politikern wichtig sein sollte. Es ist den Planern durchaus zu gönnen, dass sie die Umsetzung ihrer Planungen auch persönlich noch erleben können. ({3}) Herr Minister Tiefensee, ich finde es deshalb sehr schön, dass auch Sie als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz jetzt für ein gutes Projekt halten; ({4}) denn wenn ich richtig informiert bin, hat die SPD-Bundestagsfraktion dem damaligen gemeinsamen Vorhaben der FDP-Bundestagsfraktion und der CDU/CSU-Fraktion, also dem der alten Koalition, 1991 nicht zugestimmt. ({5}) Herr Minister, wir freuen uns sehr, dass Sie nun gemeinsam mit Ihrer Fraktion zu einer höheren Einsicht gelangt sind. Vielleicht können Sie ja auch ein Einsichtsbeschleunigungsgesetz machen. Dadurch könnten hier vielleicht viele Prozesse deutlich gestrafft werden. ({6}) Wir stimmen heute der nochmaligen Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes für die neuen Länder zu, wie wir das in den vergangenen Jahren auch schon getan haben, damit die begonnenen Planungsprozesse in den neuen Ländern nicht künstlich verlängert werden. Für uns ist es aber wichtig, dass wir ein einheitliches Planungsrecht für ganz Deutschland bekommen. ({7}) Ich betone, dass das Niveau dieses einheitlichen Planungsrechts so sein muss, das es wirklich möglich sein wird, schneller zu Entscheidungen zu kommen. Dabei gelten für uns einige wichtige Grundsätze. Ein wichtiger Grundsatz für uns ist, dass es für die Bürgerinnen und Bürger möglich sein muss, einen effektiven Rechtsschutz zu erlangen. Es macht gar keinen Sinn, dass das Bundesverwaltungsgericht Erstinstanz für Projekte mit einer so genannten überragenden verkehrlichen Bedeutung ist, wie das im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Ich komme später noch zur Definition der überragenden verkehrlichen Bedeutung. Es wäre wünschenswert, wenn wir hier zu einem effektiven Rechtsschutz kommen würden, das heißt, die Oberverwaltungsgerichte sollten Erstinstanz sein. Es ist eigentlich regelwidrig, dass das Bundesverwaltungsgericht Tatsacheninstanz ist. Das gibt es in keinem anderen Bereich in der Gerichtsorganisation. Die Bundesgerichte sind dafür zuständig, Rechtsfehler zu beheben, und sie sind nicht dazu da, Tatsachen zu erheben. ({8}) Deshalb sind wir dafür, dass die Oberverwaltungsgerichte bei diesen Projekten Erstinstanz sind. Das führt auch nicht zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die Oberverwaltungsgerichte sehr schnell arbeiten können, da sie sehr viel einfacher als das Bundesverwaltungsgericht einen Termin machen können. Die Zahlen in der Statistik zeigen auch, dass bisher nur circa 2 Prozent aller Fälle beim Bundesverwaltungsgericht gelandet sind. Deshalb denke ich, dass es zumutbar und kein großes Risiko ist, dass die Oberverwaltungsgerichte Erstinstanz werden. Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Beteiligung der Bürger; der Herr Bundesminister hat es angesprochen. Wir legen als Rechtsstaatspartei natürlich auch Wert darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen effektiv wahrnehmen können. Sie können ihre Interessen aber immer dann nicht effektiv wahrnehmen, wenn es Erörterungstermine gibt, zu denen 2 000 Betroffene geladen sind und auf denen jeder versucht, sein Anliegen vorzubringen. Teilweise werden dort auch Anliegen vorgebracht, die gar nicht persönlich begründet sind. Deshalb ist es aus meiner Sicht und aus Sicht der FDPBundestagsfraktion völlig sinnlos, an den Anhörungsterminen als einer Art Mammutveranstaltung festzuhalten. Wir müssen hier zu einer deutlichen Straffung kommen. Wir können uns vorstellen, dass man das Verfahren in diesem Bereich durch eine gezielte Ansprache der wirklich Betroffenen deutlich strafft. ({9}) Ich komme zu den letzten zwei Aspekten, dann bin ich am Ende meiner Rede. Wir wollen nicht, dass man die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen bis in alle Ewigkeit verlängern kann, und wir wollen auch nicht, dass man Vorratsplanung betreibt, wie das in den letzten Jahren bedauerlicherweise Einzug gehalten hat. Wir wollen, dass ein Planfeststellungsbeschluss zehn Jahre lang gilt und dann verfällt und dass keine Verlängerungsmöglichkeit besteht. Einen entsprechenden Änderungsantrag werden wir in das Gesetzgebungsverfahren einbringen. Wer nach zehn Jahren nicht gebaut hat, der hat keine wirklich ernsthafte Bauabsicht. Deshalb ist es nicht zumutbar, dass wir Planungsverfahren über Jahrzehnte hinweg fortführen. Es muss erreicht werden, dass man schnell plant, dann aber auch schnell umsetzt. Herr Bundesminister, ich komme zum letzten Aspekt. Das beste Baurecht und die schönsten Planfeststellungsbeschlüsse nützen gar nichts, wenn kein Geld vorhanden ist, um die Planfeststellungsbeschlüsse umzusetzen. ({10}) Deshalb wünschen wir Ihnen viel Spaß und vor allen Dingen viel Erfolg dabei, wenn Sie mit Ihrem Kollegen Finanzminister über die Finanzierung dieser Bundesprojekte reden. Wir sind gespannt, ob es dann wirklich zu einer Beschleunigung bei den Planungsverfahren und vor allen Dingen bei der Umsetzung dieser Planung kommt. Ihnen persönlich wünschen wir alles Gute und Ihnen, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für die ungeteilte Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Mücke, dies war Ihre erste Rede. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit! ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heute geltenden Vorschriften zur Planung des Baus und der Veränderung von Verkehrswegen werden den Anforderungen, die man an zügige Entscheidungsprozesse und an eine zügige Umsetzung stellen muss, in keiner Weise mehr gerecht. Sie entsprechen insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland in der Mitte Europas befinden, die EU-Osterweiterung unsere zentrale Position noch gestärkt hat, neue Verkehrsströme auf uns zukommen, nicht mehr den europäischen Anforderungen, weder in Bezug auf Transparenz noch auf die nötige Schnelligkeit. Deshalb ist es ein guter Ansatz, dass wir hier und heute anfangen, daran etwas zu ändern. Das ist die Voraussetzung dafür, um mit einem funktionierenden Logistikmarkt zusätzliche Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Unsere zentrale Lage in Europa bedingt geradezu, dass wir diese Chance ergreifen und sie nicht verstreichen lassen. Hier muss Wachstum entstehen. Das können wir dann erreichen, wenn wir die Entscheidungsprozesse stark beschleunigen. Dazu haben wir heute den entsprechenden Einstieg vorbereitet. Ich will aber auch deutlich machen, dass Infrastruktur mehr als nur Straße ist. Wir werden den Energiebereich in den nächsten Jahren neu ordnen müssen. Das ist für die Bundesrepublik von ganz entscheidender Bedeutung. Ein Nachholbedarf in der Größenordnung von mehrstelligen Milliardensummen Euro an Investitionen in Großprojekte ist vorhanden. Diese Großprojekte müssen zügig angegangen werden. Wenn wir diese Großprojekte angehen, werden sich natürlich für den Leitungsbau neue Anforderungen und Herausforderungen ergeben. Auch das müssen wir gestalten können. Das werden wir zügig umsetzen müssen. Ein Kraftwerk, das nicht an den Ballungsraum angeschlossen ist, den es mit Strom beliefern soll, macht schlechthin keinen Sinn. Wenn wir, was wir ja vorhaben, zum Beispiel im Offshorebereich neue Anlagen bauen und in diesem Bereich in andere Dimensionen vorstoßen wollen, dann bedingt das natürlich auch, dass wir an den Leitungsbau denken, um vom Offshorebereich hin zu den Ballungszentren in unserem Land eine entsprechende Stromversorgung zu gewährleisten. ({0}) Ich will auf den Gasbereich gar nicht mehr eingehen. Diese Positionen sind unabweisbar notwendig. Wir können - Minister Tiefensee hat dies angesprochen - auf einen Erfolg in den neuen Bundesländern zurückschauen. Die Entscheidung, die wir damals getroffen haben, war gut. Sie hat dazu geführt, dass wir in den neuen Bundesländern gut vorangekommen sind. Es muss erlaubt sein, darauf zu verweisen, wie sich nach 1990 andere Länder im Osten hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur entwickelt haben und was wir in den neuen Bundesländern erreichen konnten. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel. Ich will nicht sagen, dass die Entwicklung damit abgeschlossen ist; denn vor uns liegen noch Aufgaben, denen wir uns werden stellen müssen. Sicher ist, dass wir dies dann, wenn wir dieses Gesetz weiter gelten lassen, tun können. Ich glaube, dass das, was für die neuen Bundesländer gut war, auch für die alten Bundesländer gut ist. Diese Vorstellung habe ich schon immer gehegt. Sie war bislang nicht umzusetzen. Insofern sind wir jetzt in der Umsetzung dieser Vorstellung ein gutes Stück weiter. ({1}) Wir sollten dabei Vorstellungen, Vorschläge, Anregungen und Ideen einbeziehen, die aus den Bundesländern, etwa aus Hessen und Schleswig-Holstein, kommen. Ich glaube, das ist wichtig. Die Effizienz des Gesetzgebungsvorhabens könnte durch das, was wir hier miteinander sorgfältig diskutieren und prüfen werden, gestärkt werden. Ich sehe gute Ansätze darin, in einem gemeinsamen Denkprozess konstruktive Lösungen für unser Land zu finden. Wir sollten das aufgreifen und entsprechend umsetzen. Zu einem späteren Zeitpunkt sollten wir vielleicht auch darüber nachdenken, Herr Minister, unsererseits Initiativen in die Europäische Union einzubringen, um auch auf dieser Ebene einen Beschleunigungsprozess einzuleiten und den Bürokratieabbau voranzutreiben. Wir können heute unser Land nicht mehr isoliert betrachten. Wenn wir uns nicht damit befassen, was auf europäischer Ebene passiert, werden wir in der Bundesrepublik nicht weiterkommen. Wir werden dies frühzeitig tun müssen. Das sollten wir auch in dieser Debatte berücksichtigen. Herr Kollege Mücke, Sie haben zu Recht festgestellt, dass allein die Schaffung von Planungsrecht nicht ausreicht. Ich glaube deshalb, dass der Ansatz der Koalition zu begrüßen ist, trotz der schwierigen Haushaltslage die Mittel für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen zu erhöhen. Wir werden diesen Ansatz nach Kräften unterstützen, weil das der Komplementärbereich zur Umsetzung des Planungsrechts ist. Wir wollen mehr Maßnahmen realisieren - sei es im Bereich der Straße, sei es im Bereich der Bahn -, aber wir sollten sie gemeinschaftlich angehen und umsetzen. Wir sollten nicht nur den Bestand erhalten, sondern auch den Neubau forcieren. Der Ansatz der Koalition ist gut und wir sollten ihn gemeinschaftlich tragen. Damit werden auch über die Bundesrepublik Deutschland hinaus Zeichen gesetzt. Wer jetzt von außen nach Deutschland blickt, erkennt, dass wir den Bürokratieabbau angehen und etwas für konjunkturelle Entwicklung, Wachstum und Arbeitsplätze tun wollen. Ich Dr. Klaus W. Lippold ({2}) glaube, das ist auch für ausländische Investoren ein entscheidender Anreiz, sich für die Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden. Wir sollten in diesen Prozess auch neue Finanzierungsinstrumente einbringen und nach Möglichkeiten suchen, um die öffentlich-privaten Partnerschaften noch stärker als bisher für unseren Part der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung zu nutzen und die Umsetzung mit neuen Managementgesellschaften zu begleiten. Alles in allem sehe ich einen positiven Gesamtansatz. Es handelt sich nicht um eine enge Beschränkung auf scheibchenweise Maßnahmen; wir denken vielmehr im System. Damit werden wir weiterkommen. Das wird der Bundesrepublik Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplätzen zugute kommen. Deshalb sollten wir das gemeinsam anpacken. Wir sind dabei für neue Ideen offen. ({3}) Da dies die letzte Sitzung vor Weihnachten ist, darf ich all denjenigen, die ich bis dahin nicht mehr sehen werde, ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herzlichen Dank, Kollege Lippold, für die freundlichen Wünsche. Ich erteile der Kollegin Dorothee Menzner, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 16/45 soll ein stets umstrittenes Gesetz nochmals - diesmal um ein Jahr - in seiner Geltungsdauer verlängert werden. Bildlich gesehen geht es darum, im Advent schnell noch ein paar Türchen zu öffnen, damit noch mehr Beton in die Landschaft gepumpt werden kann, ({0}) getreu der Devise: mehr Infrastruktur gleich mehr Wettbewerb gleich mehr Arbeit. Dem ist aber nicht so. Die bestens ausgebauten Verkehrswege stärken längst die Kerngebiete und weniger die ländlichen Regionen. Die schnellen Verbindungen tragen längst mit dazu bei, die Regionen buchstäblich auszuwaschen. Immer mehr Menschen müssen der Arbeit hinterherfahren, immer öfter und über immer weitere Entfernungen. Welch ein Armutszeugnis der Verkehrspolitik! ({1}) Der Kurzschluss zwischen Infrastruktur und Arbeit führt in die falsche Richtung. Er wird noch fragwürdiger, wenn er zulasten der Lebensräume oder der Rechte der Anwohner geht. Genau dies steckt hinter dem Wortungetüm „Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz“. Dies lehnt die Linke im Deutschen Bundestag ab. ({2}) Zur Begründung beziehe ich mich auf den Erfahrungsbericht der vorherigen Bundesregierung auf Drucksache 15/2311, in dem auf Seite 13 festgestellt wurde, dass die Sondersituation in den neuen Ländern nicht mehr besteht. In der Tat ist der Nachholbedarf weitgehend gedeckt. Die vereinfachten Planungsverfahren, die verkürzten Bearbeitungsfristen und das verengte Klagerecht haben keine aktuelle Bedeutung mehr. Ich komme nun zu dem gravierend weiter reichenden Gesetzentwurf auf Drucksache 16/54. Offenbar will die Bundesregierung damit das beschnittene Planungsrecht, das bisher nur im Osten unseres Landes gilt, bundesweit zementieren, und zwar für 58 Fernstraßenprojekte, 22 Eisenbahnstrecken, sechs Wasserstraßen, imaginäre Transrapidstrecken, eine nach oben offene Zahl an Flugplätzen und letztlich auch für Energiefernleitungen - all das vor der Kulisse, dass etliche Projekte in einer ganzen Reihe von Bundesländern schon längst die Baureife erlangt haben und in der Schublade liegen. Wer sich dazu umhorcht, wird Erstaunliches hören. Es soll Bundesländer geben, in denen baureife und komplett durchgeplante Verkehrsprojekte mit einem Volumen von rund 1 Milliarde Euro in der Schublade liegen. Hier muss keine Planung mehr erfolgen oder beschleunigt werden. Man könnte längst bauen. Das Einzige, was fehlt, ist das liebe Geld. Nun soll sozusagen Plan B hinzukommen, weil nicht annähernd genug Geld für Hunderte Projekte da ist, die bereits als Bedarf gelistet sind. Für eine ungewisse Zahl weiterer Projekte will man jetzt offenbar das große Los und die freie Auswahl. Man will den Bulldozern weitere Flächen zum Fraß vorwerfen, dabei die Bearbeitungsfristen kürzen, die Pflicht, die Planungen bekannt zu machen, ausdünnen und die Klagezuständigkeit dem Bundesverwaltungsgericht alleine anlasten. Mit Verlaub, werte Kolleginnen und Kollegen, mit einem solchen Plan B werden wir uns einen Bärendienst erweisen. ({3}) Denn bei allen Projekten, für die der Plan B, das verkürzte Klagerecht, gelten soll, könnten die Bürgerinnen und Bürger dann munter darauflosklagen. Sie könnten vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und in der Sache einwenden, dass die Oberverwaltungsgerichte nichts mehr zu melden hätten. Dann würde gewaltig gebremst statt beschleunigt. Lassen wir das! Besinnen wir uns und nehmen wir hier und heute den Grundsatz der Nachhaltigkeit mit in das neue Jahr! ({4}) Alles, was der Bundestag beschließt, sollte sowohl sozial als auch ökologisch und ökonomisch selbsttragend sein. Beachten wir deshalb zukünftig stärker die Sogeffekte, den wirklichen Bedarf und die so genannten Null-plusVarianten! Vielleicht schaffen wir es, dass dann nur noch dort in neue Fernstraßen investiert wird, wo der Autostau wirklich nicht anders abzuwenden ist. Wir fordern: Schluss mit ellenlangen Listen mit angeblich vordringlichen Verkehrsprojekten! Schluss mit dem erklärten Bedarf! Bringen wir die Verkehrsentwicklung so voran, dass sie tatsächlich nachhaltig ist! Es täte uns allen gut, wenn wir uns stärker an den Bedürfnissen der Fußgänger und Fahrradfahrer sowie an den Belangen der öffentlichen Verkehrsmittel orientierten. Beziehen wir deren Interessengemeinschaften und Verbände in unsere Arbeit ein! ({5}) In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine besinnliche Weihnacht und ein erfreuliches neues Jahr. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist eine unendliche Geschichte. Wir haben in der letzten Legislaturperiode darüber im Ausschuss in schöner Wiederkehr - jedes Jahr einmal - intensiv diskutiert. Bevor ich auf die erneute Verlängerung zu sprechen komme, möchte ich kurz rekapitulieren, warum das Gesetz damals in Kraft gesetzt worden ist. 1991 war unser vordringlichstes Problem, dass in den neuen Bundesländern weder Behörden noch Planungskapazitäten in ausreichendem Maße bestanden. Hier gab es eindeutig Handlungsbedarf. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt war - daran können sich sicherlich viele erinnern - die Vielzahl ungeklärter Eigentumsverhältnisse. Auch hier bestand Handlungsbedarf. Der dritte Punkt war, dass Gerichtskapazitäten fehlten. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob damals in Sachsen schon Verwaltungsgerichte existierten. Jedenfalls waren die Kapazitäten deutlich zu gering, um die Probleme zu bewältigen. Das sind die Gründe dafür, dass das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz erarbeitet und in Kraft gesetzt wurde. ({0}) Damals ist die Entscheidung getroffen worden, den Instanzenweg auf eine Instanz, das Bundesverwaltungsgericht, zu verengen. Das war eine Sondersituation. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Wir Grüne hatten zwar immer Probleme mit der Einschränkung der Bürgerrechte in diesem Fall. Aber wir waren der Meinung, dass man damit leben kann. Heute, 15 Jahre danach, kann von einer Sondersituation keine Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil: In Ostdeutschland sind genau diese Instanzen bestens ausgebaut. Die Infrastruktur in diesem Bereich ist vorbildlich. Sie ist sogar besser als in Westdeutschland. An dieser Stelle jedenfalls - das muss ich deutlich sagen - gibt es keine Probleme mehr. Daher gibt es aus unserer Sicht keine Rechtfertigung, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz um ein weiteres Jahr zu verlängern. ({1}) Wir haben schon am Mittwoch im Verkehrsausschuss darüber debattiert. Der Kollege Friedrich hat darauf hingewiesen - da sind wir einer Meinung gewesen -, dass die großen Verkehrsprojekte in Ostdeutschland schon alle gebaut bzw. im Bau oder planfestgestellt sind. Schauen wir uns die Planvorrangliste aus dem Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz an. Da finde ich keine einzige Autobahn mehr in Ostdeutschland, sondern nur noch Bundesstraßen oder Ortsumfahrungen. Da finden sich durchaus auch wichtige Projekte - das ist keine Frage und das will ich nicht bestreiten -, aber eines ist doch klar: Die großen Projekte in Ostdeutschland sind gebaut. Dafür brauchen wir kein Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Sie liefern uns mit genau diesem Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben und der Projektvorrangliste den Beweis. ({2}) Um es deutlich zu machen: Wir sind nicht gegen eine Planungsbeschleunigung. Das anzunehmen wäre ein großer Irrtum. Ich sage aber auch: Die Planung muss transparent, nachvollziehbar und demokratisch sein. An diesem Grundsatz werden wir festhalten. Für mich ist die Qualität der Planung wichtig, nicht die Beschleunigung. Ich frage hier in die Runde und werde auch in den nächsten Jahren immer wieder im Ministerium bei Mängeln nachfragen. Verzögerungen bei Projekten wie der A 38 sind zum Teil - aus meiner Sicht jedenfalls - auch mit Planungsmängeln zu erklären. ({3}) Wer ein Tagebaugebiet durchquert, muss wissen, dass er bei Gründungsmaßnahmen auf Probleme stößt. Ich frage mich: Hat die Beschleunigung der Planung möglicherweise dort zu Planungsmängeln geführt? Die Kosten, die dort entstehen - übrigens auch bei der A 17 -, bedeuten nichts anderes, als dass dieses Geld später anderen Verkehrsprojekten, beispielsweise in Sachsen, nicht mehr zur Verfügung steht. Das können wir nicht dulden und das können wir nicht akzeptieren. Da verkehrt sich Planungsbeschleunigung in ihr Gegenteil. ({4}) Ein weiteres Problem sind aus meiner Sicht weniger die planfestgestellten Projekte - das hat eben auch der Kollege Mücke gesagt -, sondern die Tatsache, dass wir keine Prioritäten setzen. Welche Projekte sind eigentlich für uns wichtig und welche sind für uns weniger wichtig? Geht man nach den Wünschen, die aus den Wahlkreisen bzw. Landkreisen kommen, dann sind alle Projekte gleich wichtig. Deswegen wird alles in gleicher Weise geplant. Dadurch kommt es zu einem erheblichen Planungsüberhang. Das ist in Ostdeutschland vielleicht nicht so ausgeprägt, aber in Baden-Württemberg gibt es nach Auskunft meines Kollegen Winfried Hermann planfestgestellte Projekte mit einem Volumen von 2 Milliarden Euro, in Bayern beläuft sich das Volumen der planfestgestellten Projekte auf 750 Millionen Euro. Das zeigt ganz deutlich, dass das Problem nicht die Planungsbeschleunigung ist, sondern dass die finanziellen Mittel nicht zur Verfügung stehen und dass keine Prioritäten gesetzt werden. ({5}) Kurz und gut: Aus unserer Sicht hat das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz seine Schuldigkeit getan. Es sollte ins Haus der Geschichte überwiesen werden. ({6}) Das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz weist viele Parallelen zu dem Gesetz auf, das wir eben besprochen haben. Die Beschränkung auf eine Instanz ist für uns wirklich ein Problem. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Professor Hien, hat immer wieder deutlich gesagt, dass die Kapazitäten seines Gerichts bei weitem nicht ausreichen, um sich mit den möglichen Klagen auseinander zu setzen. Er will entweder einen zweiten Senat, vielleicht sogar einen dritten Senat, oder er kann diese Arbeit nach eigener Aussage nicht mehr leisten. Es wäre ein Treppenwitz, wenn wir das Bundesverwaltungsgericht zum Flaschenhals einer Planungsbeschleunigung machen würden. Wenn es diese Vielzahl von neuen Projekten gäbe, würden wir im Bundesverwaltungsgericht diesen Flaschenhals produzieren. Lieber Kollege Mücke, ich finde Ihren Hinweis auf das Oberverwaltungsgericht gut. Aber auch die Oberverwaltungsgerichte haben nur begrenzte Kapazitäten. Wir müssen uns schon überlegen, worauf wir das Augenmerk legen. Nur 5 Prozent der Projekte, die beklagt werden, gehen tatsächlich in die nächste Instanz. Wir sind der Meinung, dass die Eininstanzlichkeit entbehrlich ist. Ein FDP-Kollege aus dem hessischen Landtag, der ehemalige Staatsminister Posch, hat eine sehr bemerkenswerte Rede gehalten. Ich zitiere: Ganz abgesehen davon, dass ich persönlich es für problematisch halte, den Rechtsweg so drastisch zu verkürzen, ist dies der völlig falsche Ansatz; denn die Verfahrensdauer bei Gericht ist nicht das Problem, sondern die Dauer der Verfahren selbst einschließlich der vorbereitenden Aufgaben und Arbeiten. - Dem kann ich nichts hinzufügen. Wir sollten uns daher intensiv mit diesem Gesetz auseinander setzen und es kritisch anschauen. ({7}) Zum Schluss möchte ich auf die Verlängerung der Gültigkeit von Planfeststellungsbeschlüssen zu sprechen kommen. Herr Mücke hat bereits darauf hingewiesen: Fünf plus fünf ist zehn; wir wollten immer an der bisherigen Regelung festhalten. Da kann man sich einigen. Folgendes zeigt sich ganz deutlich: Wenn wir mit planfestgestellten Beschlüssen an dieser Stelle kein Problem hätten, dann hätten Sie in den Koalitionsvertrag nicht hineinschreiben müssen, dass die Geltungsdauer dieser Beschlüsse verlängert wird, nämlich auf „zehn plus fünf“. Damit geben Sie doch zu, dass die Planfeststellung in Deutschland, auch in Westdeutschland, offensichtlich kein Problem darstellt. Lassen Sie uns versuchen, diese Angelegenheit zu versachlichen. Lassen Sie uns in den nächsten Monaten versuchen, im Ausschuss Argumente auszutauschen und zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Wir werden unseren Teil dazu beitragen. Aber wir werden eine inhaltliche Auseinandersetzung - auch in aller gebotenen Schärfe - nicht scheuen. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit, ein frohes Fest und einen guten Rutsch. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker, SPD-Fraktion.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hettlich, Ihren Appell nehmen wir gern auf. Wir werden im Ausschuss über die Fragen, die Sie angesprochen haben, sicherlich sehr sachlich diskutieren und wir werden am Ende eine sachgerechte Lösung finden. ({0}) Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - ein Wortungetüm - gilt noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Wir werden den Geltungszeitraum dieses Gesetzes heute um ein Jahr verlängern. Das ist notwendig, weil in den neuen Bundesländern eine Reihe von Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs des Bundesverkehrswegeplans 2003 noch nicht über die Verfahrensreife verfügt, die nötig ist, um ein beschleunigtes Planungsverfahren durchzuführen. Es gibt keinen Grund, bei diesen Vorhaben die positiven wachstums- und beschäftigungsfördernden Effekte dieses Gesetzes nicht anzuwenden. Ich wiederhole: Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Für Entbürokratisierung und für Beschleunigung von Planungsverfahren ist das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ein Musterbeispiel gewesen. Wir sichern damit zugleich einen gleitenden Übergang zu einem gesamtdeutschen Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz. Wir brauchen diese Zeit einfach, um - Herr Minister hat darauf hingewiesen - hier im Osten keinen Abriss zuzulassen. Zu diesem Zweck findet heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben statt. Die bisherigen Sonderregelungen für die neuen Länder im Planungsrecht und die bei der Umsetzung gesammelten praktischen Erfahrungen werden in ein neues Planungsrecht für das gesamte Bundesgebiet einfließen. Darauf komme ich später zurück. Zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Es gibt Kritiker - sie haben sich in dieser Debatte auch gemeldet -, die eine erneute Verlängerung ablehnen. Sie verweisen darauf, dass der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern abgeschlossen ist und dass die ungeklärten Eigentumsverhältnisse dort geordnet sind. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Natürlich ist das so. Es wäre auch schlimm, wenn es in den neuen Ländern noch keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gäbe. Es wäre auch schlimm, wenn wir die Unordnung im Vermögensbereich, die wir 1989/90 vorgefunden haben, nicht beseitigt hätten. Aber das sind nicht die einzigen Fragen, die wir beantworten müssen. Wir wollen auf jeden Fall, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ planungsseitig und bauseitig zügig realisiert werden. Außerdem wollen wir die Verkehrsprojekte des vordringlichen Bedarfs in dieses beschleunigte Planungsverfahren integrieren. ({1}) Für uns ist völlig klar: Wir wollen, dass es bei den einzügigen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht bleibt. Wir fordern grünes Licht für Projekte wie die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, deren Bau genauso wie jener der Ostseeautobahn beschleunigt werden soll. Die positiven Wirkungen des Planungsbeschleunigungsgesetzes müssen wir erhalten. Wir müssen auf diesem Wege neue Beschäftigung fördern und vorhandene Arbeitsplätze sichern. Wie ich bereits kurz angesprochen habe, ist die Ostseeautobahn A 20 ein herausragendes Beispiel für Infrastrukturmaßnahmen. Ich kann mich hier nur wundern, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, was Sie zu diesen Maßnahmen heute gesagt haben. Die aus den hinteren Reihen der PDS dazwischengerufene Frage, wo in den neuen Ländern man denn davon etwas merkt, ist in einer Art wirklichkeitsfremd, die wirklich nicht mehr zu toppen ist. ({2}) Ich hatte erwartet, dass sich die PDS wenigstens heute positiv zu der Ostseeautobahn erklärt. Ich kenne die Widerstände aus den 90er-Jahren, als es darum ging, diese Autobahn zu planen und zu bauen. Ich kenne die Widerstände gegen die A 14 zwischen Schwerin und Magdeburg. Das alles ist bekannt. Ich hatte erwartet, dass Sie heute wenigstens so clever sind, sich wie andere Kritiker auch zu Müttern und Vätern dieses guten Projekts zu erklären; denn in der Regel ist es so, dass bei Erfolg eines Projekts alle Mütter und Väter dieses Projekts sein wollen. Es ist für mich schon etwas ernüchternd, dass Sie diese Verkehrsprojekte für die neuen Länder auch heute in einer derartigen Weise infrage stellen. ({3}) Wir haben mit der A 20, die die Region Lübeck mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern und mit dem polnischen Stettin verbindet, eine ganz wichtige Infrastrukturmaßnahme für die neuen Länder realisiert. ({4}) Wir schaffen dort Wirtschaftsansiedlungen. Jeder, der durch die neuen Länder fährt, sieht, dass dort an Verkehrsadern Betriebe entstehen. Frau Kollegin, Sie kommen aus Niedersachsen. Fahren Sie nach Wittenburg, einer ganz kleinen, verschlafenen Kleinbürgerstadt zu DDR-Zeiten! Das ist ein Ort, in dem vier oder fünf mittelgroße Unternehmen und Hunderte neuer Arbeitsplätze entstanden sind. Auch so etwas kann durch Infrastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern geschehen. Denken Sie gerade bezogen auf die Ostseeautobahn auch an Folgendes: Über Jahre, insbesondere nach der Maueröffnung, haben sich PKW- und LKW-Kolonnen durch die Kleinstädte an der Ostsee gequält. ({5}) Der Bau der A 20 ist dort nicht nur für die Kraftfahrer eine Erleichterung; der Bau der A 20 ist auch für die Menschen, die in diesen Ortschaften leben, eine Erleichterung. Das hat doch etwas mit Lebensqualität zu tun. ({6}) Zwischen dem Spatenstich für die Ostseeautobahn im Jahr 1992 und der Freigabe des letzten Teilstücks dieser Autobahn vor wenigen Tagen liegen weniger als 13 Jahre Bauzeit. Rund 330 Kilometer Autobahntrasse sind gebaut worden, gleichzeitig 19 Brücken und ein Tunnel. Die guten Erfahrungen aus der Planung von Verkehrsanlagen werden wir in ein kompaktes Infrastrukturgesetz einfließen lassen. Wir beginnen die Diskussion heute mit der ersten Lesung. Herr Hettlich, ich will nur noch einmal daran erinnern, dass wir genug Zeit haben, das im Ausschuss zu diskutieren. Wir sind für Diskussion offen. Aber für Stagnation und rückwärts gewandtes Denken, wie das heute von der PDS vorgetragen worden ist, sind wir nicht zu haben. ({7}) Die Bürgerinnen und Bürger fordern zu Recht Bürokratieabbau und Stärkung der Demokratie. Das sichern wir mit diesem Gesetz. Bauwirtschaft und Transportgewerbe fordern Impulse zur Beschleunigung bei der Umsetzung von Baumaßnahmen der öffentlichen Hand. Dieses Gesetz ist eine Antwort darauf.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramelow?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Bodo Ramelow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003824, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nachdem Sie ständig von der schon gebauten Autobahn an der Ostsee gesprochen haben, die keine Beschleunigung mehr braucht und die hier auch nicht mehr nachdiskutiert werden muss, möchte ich Sie gern fragen ({0}) - Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich das Wort „Schwachsinn“ kommentieren muss; diese Kommentierung von der linken Seite, die sich nicht mehr links nennt, finde ich etwas unangemessen -, ({1}) ob unter das Gesetz, über das wir reden, auch die zu planenden Stromtrassen fallen, wie Sie es bewerten, dass mithilfe genau des Beschleunigungsgesetzes, von dem Sie reden, eine Stromtrasse quer durch den Thüringer Wald gezogen werden soll, wie Sie da den wirtschaftlichen Effekt bewerten wollen und ob Sie glauben, dass neben dieser Hochspannungstrasse, die durch den Thüringer Wald gebaut werden soll, deren ökologischer Sinn etwas zweifelhaft ist, ebenfalls die Ausweisung von Gewerbegebieten zu erwarten ist. ({2})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ramelow, Sie konstruieren hier wieder einen Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie. Die Stromtrasse im Thüringer Wald wird von dem vorgelegten Gesetzentwurf, glaube ich, gar nicht erfasst. ({0}) - Ich meine, das ist nicht der Fall. Das können wir im Ausschuss noch einmal prüfen. - Dieser Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie hat etwas mit Ideologie zu tun. ({1}) Wir müssen bei Verkehrsvorhaben, bei Projekten im Bereich der Infrastruktur natürlich auch Maßgaben der Ökologie beachten. Deswegen haben wir die Mitbestimmungsrechte vorgesehen. Deswegen haben wir - der Minister hat darauf verwiesen - in diesem Gesetzentwurf die erweiterte Mitwirkungsmöglichkeit für Bürgerinnen und Bürger verankert. Gehen Sie davon aus: Wir werden die Bürgerrechte mit diesem Gesetz nicht beschneiden. Schönen Dank. ({2}) Wir stärken mit den beabsichtigten Regelungen den Standort Deutschland als einen wichtigen Logistikstandort in Europa. Eine leistungsfähige Infrastruktur wird gefördert. Wir geben konkrete, praktische Antworten auf das brennende Thema der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit kann nur bekämpft werden, wenn wir Rahmenbedingungen für mehr Arbeit schaffen bzw. verbessern. Das Planungsbeschleunigungsgesetz für Infrastrukturvorhaben ist darauf eine Antwort. Ein zentraler Gedanke des Koalitionsvertrages zwischen Union und SPD ist die Schaffung von mehr Chancen für Innovation und Arbeit, für Wohlstand und Teilhabe. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein zur Umsetzung dieses Zieles. Ich lade Sie alle ganz herzlich ein: Bringen Sie sich ein bei der Gestaltung eines Stücks Zukunft für Deutschland! Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Renate Blank, CDU/ CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hettlich, bei der Begründung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes von 1991 haben Sie etwas vergessen, nämlich dass die Straßen in den neuen Bundesländern damals in einem vollkommen desolaten Zustand waren. Dafür waren weder Sie noch wir verantwortlich, sondern die Vorgänger der Linkspartei. ({0}) Das leugnen Sie heute ({1}) und fordern auch noch mehr Geld. Die große Koalition wird in den nächsten vier Jahren 4,3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Man sollte über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz positiv reden. Sie hätten durchaus anerkennen können, dass durch dieses Gesetz etwas bewegt worden ist. Aber wenn man immer dagegen war - die Widerstände Anfang der 90er-Jahre haben das gezeigt -, kann man das natürlich nicht positiv finden. Aber das ist Ihr und nicht unser Problem. Wir sind überzeugt, dass - mein Vorredner hat es schon gesagt - dieses Gesetz zum Beispiel enorm zu dem schnellen Bau der A 20 beigetragen hat. Das gilt auch für andere Projekte; ich denke da an die A 9 von Berlin nach Nürnberg, die wir noch nicht hätten, wenn dieses Gesetz im Jahr 1991 nicht trotz aller Widerstände durchgesetzt worden wäre, und zwar von der damaligen Koalition, bestehend aus uns, der Union, und der FDP. Das ist positiv und man kann auch einmal positiv darüber reden. ({2}) Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, der nun in die parlamentarischen Beratungen geht, wollen wir die guten Erfahrungen auch auf die alten Bundesländer übertragen. Ich denke, das ist ganz wichtig. Ich verhehle nicht, dass es in der letzten Zeit leider nicht gelungen ist, diesen Vorgang zu beschleunigen. Im Frühjahr dieses Jahres hätte es so weit sein können; da gab es einen Gesetzentwurf im Kabinett. Aber in der damaligen Koalition haben die Grünen verhindert, dass dieser in die parlamentarischen Beratungen ging, weil sie Einschränkungen bei der Verbandsklage nicht hinnehmen wollten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wenn ein Eigentümer weniger Rechte an seinem Grundstück hat als ein Verband, zum Beispiel der BUND, dann stimmt in den bisherigen Gesetzen etwas nicht und dann müssen wir das dringend ändern. ({4}) Es kann nicht sein, dass die Rechte der Eigentümer bei einer Klage gegenüber denen der Verbände beschnitten werden. Ganz offensichtlich nimmt der Faktor Zeit im internationalen Wettbewerb in einer Gesellschaft, die auf Knopfdruck Milliarden an Geldern in Sekundenbruchteilen rund um den Globus schicken kann, an Bedeutung stetig zu. Deshalb wollen wir verkrustete Strukturen gerade im Planungsrecht, die ein Investitionshemmnis erster Kategorie darstellen, aufbrechen. Wir wollen einen bedarfsgerechten und vor allem einen zeitnahen Ausbau der Infrastruktur. Unsere Bürgerinnen und Bürger sind zu Recht nicht mehr bereit zu akzeptieren, dass eventuell erst ihre Enkel in den Genuss einer heute benötigten und von der Politik zugesagten Ortsumgehung oder schnellen Verbindung von A nach B kommen. Wir beobachten doch mit Sorge, dass die gesellschaftliche Entwicklung in der Verkehrspolitik und der Infrastrukturplanung zunehmend in einer Blockade endet. Dabei ist es nicht nur das Umweltbewusstsein, das die Wege versperrt, sondern es sind oft Ideologen oder Bürger, die ihre Individualinteressen über das Gemeinwohl stellen und damit wichtige Entscheidungen verzögern bzw. zu Fall bringen. Das Gemeinwohl droht angesichts wachsender Partikularinteressen zunehmend ins Hintertreffen zu geraten. Ich kann es wirklich nicht mehr einsehen, warum 2 Prozent der Bevölkerung ein Projekt über Jahre, ja sogar über Jahrzehnte verschleppen können, obwohl die anderen 98 Prozent beispielsweise die Straße wollen, aber lange auf die Fertigstellung warten müssen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Menzner?

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Mit anderen Worten: Wir brauchen eine schnellere Planung und vor allen Dingen eine schnellere Durchführung. Jeder von uns hat in seinem Wahlkreis Projekte, die über 30 Jahre geplant werden und deren Planungen oft hinfällig werden, weil aus ideologischen Gründen im Bundesverkehrswegeplan bestimmte Projekte gestrichen werden. ({1}) - Richtig. Wir werden auch ein bevorzugter internationaler Standort für Logistikdienstleister. Als Transitland Nummer eins brauchen wir schnellere Planungen. Der nun vorliegende Gesetzentwurf wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Planungsblockade in Deutschland durchbrochen wird, nach dem Motto der Regierungserklärung „Mehr Freiheit wagen!“. Es wäre gut, wenn die folgende Geschichte wieder als Witz und nicht als Zustandsbeschreibung verstanden werden würde: Ein amerikanischer und ein deutscher Brückenbauer wetten darum, wer sein Projekt zuerst fertig stellt. Nach einem Jahr ruft der Amerikaner bei seinem deutschen Kollegen an und sagt: „Noch zehn Tage und wir sind fertig.“ Darauf sagt der Deutsche: „Noch zehn Formulare und wir fangen an.“ Damit diese Geschichte ein Witz bleibt und keine Zustandsbeschreibung wird, wollen wir mit dem neuen Gesetz die Planungen beschleunigen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem sächsischen Staatsminister Geert Mackenroth. Geert Mackenroth, Staatsminister ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte Sie noch einmal für ein dem Freistaat Sachsen und auch den anderen neuen Ländern besonders wichtiges Anliegen sensibilisieren. Das Gesetz mit dem rekordverdächtig langen Namen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat in den vergangenen 14 Jahren die Planungszeiträume für Verkehrswege in den fünf neuen Ländern in der Tat rekordverdächtig verkürzt. Es hat entscheidend dazu beigetragen, die marode DDR-Verkehrsinfrastruktur in den ostdeutschen Bundesländern in weiten Teilen zügig zu sanieren. Dank dieses Gesetzes konnten wir einen großen Teil der Infrastrukturlücke bereits schließen. Es ist damit zugleich ein Baustein zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Neue Verkehrswege konnten wir auf der Grundlage dieses Gesetzes in wenigen Jahren von den ersten Entwürfen bis zur Baureife führen. Allein die Begrenzung des Rechtsweges auf eine Instanz ersparte im Schnitt zwei Jahre. Zwischen dem Antrag auf Planfeststellung und dessen Unanfechtbarkeit vergingen beispielsweise im Freistaat Sachsen oft nur ein bis zwei Jahre. Selbst bei großen Projekten wie dem Neubau der Autobahn A 17 zwischen Dresden und der tschechischen Grenze waren es trotz mehr als 2 500 Einwendungen pro Abschnitt nur etwas mehr als drei Jahre. Wie wurde das erreicht? Durch die Beschleunigung bei den Genehmigungs- und Gerichtsverfahren. Beispielhaft sind dort vor allem zwei Dinge zu nennen: zum einen das vereinfachte Plangenehmigungsverfahren und zum anderen der bereits mehrfach angesprochene verStaatsminister Geert Mackenroth ({1}) kürzte Instanzenzug mit dem Bundesverwaltungsgericht als erster und letzter Instanz. Dieses Gesetz ist ein gutes Beispiel sowohl für Bürokratieabbau - der Abgeordnete Lippold hat dies zu Recht betont - als auch für den Erfolg von Experimentierklauseln. Es schafft eben die notwendigen Freiräume. Die Plangenehmigung und die Fristenregelungen wurden bereits nach wenigen Jahren positiver Erfahrung in das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes und in die Fachgesetze übernommen. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts dagegen ist bisher allein in unserem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz verblieben. Meine Damen und Herren, für die neuen Länder ist es unabdingbar, das Gesetz um ein weiteres Jahr zu verlängern. Nur so können wir den nach wie vor erforderlichen besonderen Anreiz für unsere Investoren erhalten. ({2}) Die so auch im Freistaat Sachsen schnell geschaffene gute Infrastruktur zog Investoren ins Land, brachte Arbeitsplätze. Beispiele dafür sind die Ansiedlungen von BMW, Porsche und DHL im Leipziger Raum und der Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle. Wenn der Ausbau des Flughafens, der Autobahnen und des Güterverkehrszentrums so lange wie in Westdeutschland gedauert hätte - die Planung und der Bau des neuen Flughafens in München dauerten weit mehr als 20 Jahre -, ({3}) dann wären die genannten Unternehmen jetzt woanders und dann gäbe es in Leipzig über 15 000 Arbeitsplätze weniger. Diese höchst erfreuliche Entwicklung liegt natürlich auch im Interesse der westdeutschen Länder. Den Menschen in den neuen Ländern ist klar: Ostdeutschland muss stärker wachsen, wenn es aufholen will und wenn die westdeutschen Länder nachhaltig von Transferzahlungen entlastet werden sollen. Noch sind durchaus nicht alle erforderlichen Infrastrukturvorhaben in Ostdeutschland verwirklicht. Allein im Freistaat Sachsen stehen 50 Vorhaben im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans - dessen Lektüre lege ich Ihnen dringend ans Herz -, die nach derzeitigem Planungsstand nicht unter die Überleitungsregelungen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes fallen. Wenn das Gesetz ohne Folgeregelung ausliefe, riskieren wir, dass die Verwirklichung gerade dieser Vorhaben deutlich verzögert wird. Neue Projekte würden um Jahre hinausgeschoben, wenn Klagen wieder mehrere Instanzen durchlaufen müssten, und die Planung dieser Projekte würde schließlich schlicht und ergreifend erheblich teurer. Ich freue mich deshalb, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben in zahlreichen konkreten Fällen die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts vorsieht. Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes, dessen erste Beratung heute auf Ihrer Tagesordnung steht, wird allerdings noch etwas Zeit beanspruchen. Der Westen jedenfalls kann in diesem Punkt von den guten Erfahrungen des Ostens nur lernen. Ostdeutschland ist auf eine übergangsweise Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein weiteres Jahr bis Ende 2006 angewiesen. Eine Regelungslücke wollen wir unbedingt vermeiden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist notwendig, damit die Verwirklichung neuer Verkehrsprojekte in Ostdeutschland nicht in Verzug gerät. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Marko Mühlstein, SPDFraktion. ({0})

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst freue ich mich, dass ich als Mitglied des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Möglichkeit erhalten habe, zu diesem wichtigen verkehrspolitischen Thema reden zu dürfen. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, zu den beiden Gesetzentwürfen, die heute hier behandelt werden, aus umweltpolitischer Sicht kurz Stellung zu nehmen. Die Arbeitsgruppe Umwelt der SPD-Bundestagsfraktion hat am vergangenen Mittwoch im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der einjährigen Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes zugestimmt, auch wenn wir die Notwendigkeit der Verkürzung des Rechtsweges auf eine Instanz für diskussionswürdig halten. ({0}) Diese ursprünglich als Sonderfall für die neuen Bundesländer vorgesehene Regelung entspricht in dieser Form nicht mehr dem Stand der Dinge. So haben die neuen Bundesländer bereits seit einigen Jahren leistungsfähige Oberverwaltungsgerichte, die als Tatsacheninstanz zur Prüfung von Planungsentscheidungen besser geeignet sind als das Bundesverwaltungsgericht. Des Weiteren möchte ich zu bedenken geben, dass die Bundesregierung in ihrem Erfahrungsbericht vom 2. Januar 2004 darauf hinweist, dass die beschleunigenden Verfahrensschritte des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bereits in die bundesweit geltenden Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die jeweiligen Fachgesetze übernommen worden sind. Dass wir der einjährigen Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes heute in abschließender Lesung dennoch zustimmen werden, liegt darin begründet, dass wir hierin einen Zeitvorteil sehen, um in Ruhe und mit der gebotenen Gründlichkeit den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben zu beraten. Wir sehen hier noch einen beachtlichen Beratungsbedarf und hoffen deshalb sehr, in einem intensiven Abstimmungsprozess mit den beteiligten Häusern, innerhalb der Fraktionen sowie mit dem Koalitionspartner zu einem für alle Beteiligten guten Ergebnis zu kommen. ({1}) Inhaltlich sehen wir hauptsächlich bei der geplanten bundesweiten Eininstanzlichkeit sowie bei den Forderungen des Bundesrates nach einer längeren Geltungsdauer von Planungsentscheidungen und dem Sofortvollzug beim Ausbau von Bundeswasserstraßen und kleinen Flugplätzen Diskussionsbedarf. ({2}) Weiterhin sollten wir darauf achten, dass die Regelungen zur Öffentlichkeitsbeteiligung von Verbänden denen der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie entsprechen. Auch hinsichtlich der geplanten Regelungen bezüglich Erdkabelverlegungen besteht aus unserer Sicht Beratungsbedarf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir Umweltpolitiker das Ziel der Beschleunigung von Planungsverfahren unterstützen möchten. Wir stehen lediglich einigen Punkten kritisch gegenüber. Ich gehe aber davon aus, dass wir es gemeinsam in guter parlamentarischer Manier schaffen werden, bei den strittigen Punkten eine einvernehmliche Lösung zu finden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Mühlstein, dies war Ihre erste Rede in diesem Hause. Gratulation und alles Gute für Ihre weitere politische Arbeit! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes- rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 16/45. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/227, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be- ratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von der Linken und dem Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in zweiter Lesung angenommen. Tagesordnungspunkt 16 b: Interfraktionell wird Über- weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/54 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 16/118 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebenundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 16/117 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal ohne allzu viele Geräusche zu verlassen, damit wir in eine ruhige Debatte eintreten können, die dieses Thema auch verdient. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in unserem Land kaum ein größeres Aufregerthema als die Diäten der Abgeordneten. Ich bin sehr dankbar, dass der Präsident darauf hingewiesen hat, dass Ruhe und Vernunft dieser Diskussion außerordentlich gut tun. Deshalb darf ich schon ankündigen: Ich werde all denen, die diese Diskussion mit grüner Gesichtsfarbe bestreiten wollen, heute keine Munition geben, ({0}) schon deshalb, weil ich das Gefühl habe, dass wir als Parlament in Deutschland mit dem Geld des Steuerzahlers grundsätzlich sorgfältig umgehen. ({1}) Der Steuerzahler hat auch Anspruch darauf. Demokratie darf nie ein Billigmodell werden. Demokratie kostet. Die Aufstellungen, die ich mehrfach beim Bundestagspräsidenten angefordert habe, haben aber gezeigt, dass wir sorgfältig mit dem Geld umgehen. Sie haben beispielsweise gezeigt, dass der Deutsche Bundestag nach dem Kongress der Vereinigten Staaten das zweitkleinste Parlament ist. Es wird immer übersehen, dass es nicht auf die schiere Zahl der Abgeordneten, sondern auf die Zahl pro Einwohner ankommt. Demnach ist der Bundestag das zweitkleinste Parlament. Ganz wichtig finde ich auch: Wenn man sich die Kosten der Parlamente für den Steuerzahler anschaut, dann sieht man, dass der Bundestag auch dort ganz weit hinten, auf dem zweitletzten Platz, liegt. Ich finde, das sind gute Botschaften, die wir leider nie in den Medien lesen können. ({2}) Trotzdem ist es - ich habe es gesagt - ein Aufregerthema. Deswegen müssen wir uns damit befassen. Wir müssen uns auch deshalb damit befassen, weil der Bundestagspräsident in den letzten Wochen Vorschläge aufgegriffen hat, die die FDP-Bundestagsfraktion seit nunmehr zehn Jahren immer wieder in das Parlament einbringt. Grundlage unserer Vorschläge sind die Überlegungen, die wir im Jahre 1995 angestellt haben. ({3}) - Ja, in diesem Fall bin ich gern Wiederholungstäter, Herr Kollege Wiefelspütz. - Damals, im Jahre 1995, hatten sich die beiden großen Fraktionen - in vorweggenommener großer Koalition - dazu entschlossen, die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten weitgehend an die der Beamten anzulehnen. Für uns war vollkommen klar: Abgeordnete sind keine Beamten und haben auch keine beamtenähnliche Tätigkeit. ({4}) Das muss sich auch bei der Gestaltung der Rechtsverhältnisse ganz eindeutig zeigen. Der wichtigste Punkt, bei dem sich das zeigen muss, ist aus unserer Sicht die Altersversorgung. Wir haben im Augenblick eine beamtenähnliche Pension. Wir sind schon deshalb nicht mit den Beamten zu vergleichen, weil unsere verfassungsrechtliche Stellung klar und eindeutig besagt: Abgeordnete sind unabhängig. ({5}) Sie haben keinen Chef, obwohl sich mancher Fraktionsvorsitzender, vielleicht auch mancher Geschäftsführer, so fühlen mag. ({6}) Sie haben keinen Chef. Deshalb, denke ich, sind wir gut beraten, uns bei der Altersversorgung an den Modellen zu orientieren, die es bei den freien Berufen, beispielsweise bei den Journalisten, Ärzten und Rechtsanwälten, gibt: Sie zahlen eigene Mittel in die Altersversorgung ein - sie haben Altersversorgungswerke -, mit denen schließlich die Pension bezahlt wird. Mit unserem Vorschlag orientieren wir uns klar und eindeutig daran. In den letzten zehn Jahren haben wir immer wieder hören müssen: Das lässt sich nicht machen, das ist nicht umsetzbar; da wird es einen Sturm der Entrüstung in den Medien, beim Bund der Steuerzahler geben. ({7}) Es gibt inzwischen ein Beispiel, das zeigt, dass es geht: Nordrhein-Westfalen hat es umgesetzt. ({8}) Die Medien haben deutlich gemacht, dass es vernünftig war. Auch der Bund der Steuerzahler hat zugestimmt. Das Allerwichtigste ist: Die Lösung, die gefunden worden ist, hat unter dem Strich erhebliche Einsparungen für den Steuerzahler gebracht. Auch das ist uns in der Situation, in der sich im Augenblick unsere öffentlichen Haushalte befinden, wichtig. ({9}) Der zweite Vorschlag, den wir machen, ist, die Bestimmung der Höhe der Diäten aus dem Parlament herauszuverlagern. Die Bestimmung der Höhe ist nicht deshalb unsere Aufgabe, weil wir es uns wünschen, sondern weil das Bundesverfassungsgericht klar und deutlich gesagt hat: Die Abgeordnetenbezüge müssen durch ein Gesetz und damit durch die Abgeordneten selbst festgelegt werden. Wer aber die Chance hat, die Höhe seiner Bezüge selbst festzulegen, der ist natürlich sofort im Verdacht, dass er das nicht zu seinem Nachteil tut. Deshalb werden wir uns immer wieder mit dem Vorwurf der Selbstbedienung konfrontiert sehen. ({10}) - Genau, das kann man dem Bundestag nicht vorwerfen. Wie gesagt: Wir sind durch das Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen worden. Wir machen Ihnen deshalb erneut den Vorschlag, dies aus dem Parlament auf eine unabhängige Kommission herauszuverlagern, die die Höhe der Diäten festsetzt. Damit gar nicht erst der Vorwurf entsteht, die Zusammensetzung dieser Kommission werde so gesteuert, dass es für die Abgeordneten günstig sei, ist unser Vorschlag an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese Kommission vom Bundespräsidenten als neutrale Institution eingesetzt wird. ({11}) Auch dafür, wer in diese Kommission gehört, zeigt Nordrhein-Westfalen Beispiele: Kollegen, die im Parlament Erfahrung gesammelt haben, aber auch Kritiker wie beispielsweise der Bund der Steuerzahler, der sich mit Gehältern im eigenen Bereich sehr gut auskennt, wie man kürzlich hören könnte, als es um die Höhe der Einkünfte des Präsidenten des Bundes der Steuerzahler ging. ({12}) - Der Bund der Steuerzahler kennt sich offensichtlich aus, Herr Kollege Wiefelspütz. Deshalb soll er sich ausdrücklich als Kritiker in dieser Kommission wiederfinden. Ich glaube, dass das kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip ist. Wir kennen solche Verlagerungen aus dem Parlament heraus - beispielsweise an das Bundesverfassungsgericht - durchaus auch aus anderen Bereichen. Wir müssen natürlich im Abgeordnetengesetz den Rahmen vorgeben, in dem sich die Kommission zu bewegen hat. Von daher ist das aus meiner Sicht kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. ({13}) Eine letzte Bemerkung. Aufregerthema ist auch immer wieder die Kostenpauschale der Abgeordneten. Auch das soll selbstverständlich von der Kommission geprüft und entschieden werden. Trotzdem rate ich auch da zu einer sachlichen Diskussion. Wer mit Freunden in der Wirtschaft spricht, der stellt fest, dass die Wirtschaft sehr oft zu dem Mittel der Pauschale greift, weil es die für die Wirtschaft günstigere Lösung ist. Ich habe das Gefühl, dass die Kostenpauschale, die wir jetzt als Abgeordnete bekommen, ebenfalls für den Steuerzahler - das ist für die FDP-Bundestagsfraktion das Entscheidende die kostengünstigere Lösung ist. ({14}) Wenn wir eine Einzelabrechnung haben, bedeutet das, dass wir eine entsprechende Verwaltung im Bundestag oder auch in der Finanzverwaltung brauchen, die das Ganze nachprüfen muss. Das kostet Geld. Deshalb, denke ich, sind wir gut beraten, auch hier sachlich zu bleiben. Wir sind in der Verpflichtung gegenüber dem Steuerzahler, die für ihn günstigste Lösung zu wählen. Aus unserer Sicht ist, wie gesagt, die Pauschale die für den Steuerzahler günstigere Lösung. Ich freue mich sehr, dass wir jetzt endlich sachlich diskutieren können, auch aufgrund der Vorschläge, die der Bundestagspräsident gemacht hat; wir werden ja im Januar zusammenkommen. Damit wir das auf einer guten Grundlage tun können, bringen wir unseren Gesetzentwurf hier wieder ein, einschließlich unseres Vorschlages für die Verfassungsänderung. Wir bitten um Zustimmung. Wir freuen uns auf eine sachliche Diskussion. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige erste Lesung der beiden Gesetzentwürfe der FDP, Änderungen des Grundgesetzes und des Abgeordnetengesetzes betreffend, finden einen Monat vor jenem Gespräch im Januar statt, zu dem der Bundestagspräsident die Bundestagsfraktionen eingeladen hat und bei dem es um die Fragen der Abgeordnetenentschädigung und der Abgeordnetenversorgung gehen soll. Geht es um die Prüfung dieser Vergütung und Versorgung, etwaigen Reformbedarf und konkrete Reformvorschläge, darf ich Ihnen für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusagen, dass wir alle Vorschläge in diesem Bereich sachlich und unvoreingenommen prüfen werden. Dabei lassen wir uns bei allen Fragen, die den Abgeordnetenstatus betreffen, auch von dem Bemühen leiten, nach Möglichkeit zu einer gemeinsamen Auffassung hier im Haus zu gelangen; denn angesichts der verständlichen Fragen in diesem Bereich, aber auch mancher Vereinfachung und zum Teil auch inakzeptabler Verächtlichmachung des Parlaments wäre ein Konsens hier im Parlament ein erstrebenswertes Ziel. ({0}) In diesem Sinne werden wir die heute in erster Lesung zu beratenden Vorschläge der FDP intensiv prüfen, auch wenn diese Vorschläge bereits in der 14. und 15. Wahlperiode eingebracht wurden und seinerzeit keine Mehrheit fanden. Im Kern zielt der FDP-Vorschlag darauf, die Festlegung der Höhe der Abgeordnetenentschädigung einer unabhängigen, vom Bundespräsidenten zu berufenden Kommission zu übertragen. Zugleich soll diese Kommission damit beauftragt werden, Vorschläge für eine Veränderung der Altersversorgung zu erarbeiten. Damit, so die FDP-Bundestagsfraktion, soll dem in der Öffentlichkeit immer wieder erhobenen Vorwurf der Selbstbedienung entgegengewirkt werden. ({1}) Das ist sicherlich ein überaus sympathisches Anliegen. Auch Ihr Lösungsvorschlag wirkt zunächst sehr plausibel; er hat bestimmt einiges für sich. ({2}) - Ich habe von einem sympathischen Anliegen gesprochen. Sympathische Kolleginnen und Kollegen gibt es doch in allen Bundestagsfraktionen. Bevor ich nun einige Ausführungen zum konkreten Vorschlag der FDP und damit zu den Themen der vor uns liegenden Ausschussberatungen mache, möchte ich etwas zum in der Tat sehr häufig erhobenen Vorwurf der Selbstbedienung sagen. Wir diskutieren die Frage der Abgeordnetenentschädigung - das gehört sich so für ein Parlament - in öffentlicher Debatte. Also ist Klartext gefragt. Deshalb weise ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vorwurf, im Deutschen Bundestag herrsche eine Selbstbedienungsmentalität, mit Entschiedenheit zurück. ({3}) Die Zurückweisung dieses Vorwurfs ist auch dann geboten, wenn ihn keine Fraktion hier im Hause erhebt; denn er spielt in der öffentlichen Debatte in der Tat eine große Rolle. Nun zu den Fakten: Die Abgeordnetenentschädigung wurde zuletzt am 1. Januar 2003 erhöht. Bereits im Januar 2003 stellte der damalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, fest, dass die Abgeordnetenentschädigung seit In-Kraft-Treten des Abgeordnetengesetzes im Jahr 1977 jährlich um durchschnittlich 2,5 Prozent stieg, während die Beamtenbezüge um 2,95 Prozent pro Jahr stiegen, die Tarifverdienste im öffentlichen Dienst um 3,12 Prozent, die Einkommen in der Gesamtwirtschaft um 3,1 Prozent und die Renten um 3,31 Prozent. Zu dieser vergleichsweise geringeren Steigerungsrate der Diäten haben zehn Nullrunden maßgeblich beigetragen. Vom Ziel, das seinerzeit eine unabhängige Expertenkommission vorgeschlagen hatte und das in § 11 Abs. 1 des Abgeordnetengesetzes ausdrücklich genannt wird - der Angleichung der Abgeordnetenbezüge an das Gehalt eines Richters an einem obersten Bundesgericht oder an das Gehalt eines hauptamtlichen Bürgermeisters einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern -, entfernten wir uns mehr und mehr. Ich will ausdrücklich betonen, dass wir an diesem Vergleichsmaßstab - man könnte auch das Gehalt eines Abteilungsleiters in einem Ministerium heranziehen - festhalten und ihn für grundsätzlich angemessen halten. ({4}) Faktisch nahm die Entwicklung der Abgeordnetenbezüge aber einen anderen Weg. Von einer inakzeptablen, überzogenen Großzügigkeit in eigener Sache kann also keine Rede sein. Wir haben daher allen Anlass - ja, das ist sogar ein Gebot der Selbstachtung -, den billigen Vorwurf, im Bundestag herrsche eine Selbstbedienungsmentalität, gemeinsam und entschieden zurückzuweisen. ({5}) Ich habe sogar die umgekehrte Vermutung: Gerade weil wir Abgeordnete über die Höhe unserer Entschädigung selbst entscheiden und hier folglich ein erheblicher öffentlicher Rechtfertigungsdruck besteht, kam es wiederholt zu Nullrunden. Was den Vorschlag der FDP - die Übertragung der Entscheidung über die Diätenhöhe auf eine Sachverständigenkommission - angeht, werden weiterhin rechtliche Fragen zu prüfen sein. Verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung einer solchen Übertragung allein im Abgeordnetengesetz - das Stichwort lautet hier in Anlehnung an die Diätenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975: umfassender Parlamentsvorbehalt - begegnet die FDP wie in den Vorjahren mit dem Vorschlag einer Verfassungsänderung. Auch dieses Vorgehen ist verfassungsrechtlich nicht unumstritten, da die vorgeschlagene Änderung das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes in einer Weise tangieren könnte, die eine derartige Regelung an Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes scheitern lassen könnte. Allerdings will ich nicht verhehlen, dass in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages die Zulässigkeit einer entsprechenden Verfassungsänderung bejaht wird. ({6}) Die juristischen Fragen, an deren Klärung wir arbeiten müssen, liegen also auf dem Tisch. Aber wir müssen auch und vor allem den politischen Fragen weiterhin nachgehen. Auch will ich nicht verhehlen, dass ich, wie viele in unserer Fraktion, Zweifel daran habe, ob die Übertragung der Entscheidung über die Diätenhöhe auf eine Sachverständigenkommission ein taugliches Mittel ist, um dem Vorwurf der Selbstbedienung zu begegnen. ({7}) Politikerinnen und Politiker müssen unabhängig vom Verfahren in der Öffentlichkeit für die Höhe ihrer Vergütung geradestehen. ({8}) Das zeigen auch da und dort zu erlebende Debatten über die Gehaltshöhe von Bürgermeistern und Landräten, die bekanntlich nicht über die Höhe ihres Gehaltes selbst entscheiden müssen. Ein solcher Rechtfertigungszwang ist auch gar nichts Falsches - wenn er nicht oft mit billigen Verzerrungen verbunden wäre. Glauben Sie, die Entscheidung einer unabhängigen Sachverständigenkommission, die Diäten zu erhöhen, bleibe lange ohne die öffentlich und öffentlichkeitswirksam erhobene Aufforderung an uns, gleichwohl auf eine Erhöhung zu verzichten? Bisherige Empfehlungen unabhängiger Kommissionen - die es in der Vergangenheit wiederholt gab - hatten kaum Auswirkungen auf das Ausmaß und die Form öffentlicher Kritik; darauf verweist die FDP-Fraktion selbst in der Begründung ihres Gesetzentwurfs. Warum sollte es der Entscheidung einer Kommission anders gehen? Welchem Druck wären die Mitglieder dieser Kommission ausgesetzt, wenn erst in großen Lettern über die Gehaltshöhe jener spekuliert würde, die die Diäten festlegen! All diese Fragen werden wir gemeinsam zu erwägen haben. Mir liegt aber noch etwas anderes am Herzen: Öffentliche Akzeptanz für die Höhe unserer Aufwandsentschädigung und die Transparenz unseres Handelns hängen eng zusammen. Die Bevölkerung wird ein Parlament, dem sie die Lösung der sie bedrängenden Probleme nicht zutraut, immer für überbezahlt halten. Was immer wir also tun können, um das argumentative Ringen um menschengerechte Lösungen für anstehende Probleme transparenter werden zu lassen - übrigens auch die mit der Abgeordnetentätigkeit verbundene Belastung -, sollten wir tun. Als kleines Beispiel sei in diesem Zusammenhang nur die Wanderausstellung des Deutschen Bundestages genannt. Letztlich werden wir alle aber nicht an den Freuden und Belastungen unserer Arbeit gemessen, sondern an deren Ergebnissen. Überzeugende Arbeit ist die beste Antwort auf billigen Populismus. ({9}) Das leider nicht unerheblich erschütterte Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie und die in ihr Handelnden - damit auch in uns als Abgeordnete - wird in dem Maße wiederhergestellt werden können, in dem es uns gelingt, die Probleme unseres Landes zu lösen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Enkelmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es ist allerhöchste Zeit, dass sich das Hohe Haus mit den Bezügen der Abgeordneten befasst. Ungerechtfertigte Privilegien gehören endlich auf den Prüfstand. ({0}) „Frontal 21“ hat Recht: Wir sind in manchen Fragen, was die Entschädigung anbetrifft, Wesen einer anderen Finanzwelt. Da man in eigener Sache ungern zum eigenen Nachteil entscheidet, ist die Einrichtung einer unabhängigen Kommission beim Bundespräsidenten sinnvoll; dem kann meine Fraktion durchaus zustimmen. Wir gehen allerdings davon aus, dass in dieser Kommission auch Vertreter der Wohlfahrtsverbände und natürlich des Bundes der Steuerzahler sitzen sollten. Dennoch sollte bei dieser Kommission nicht die alleinige Entscheidung über die Abgeordnetenbezüge liegen. Wir sollten in den Ausschüssen über eine angemessene Beteiligung des Parlaments sprechen. Wir können uns da auch gar nicht herausnehmen - immerhin sind wir diejenigen, die über den Haushalt des Bundestags entscheiden; damit entscheiden wir letztlich auch über die Abgeordnetenbezüge. Meine Damen und Herren, jeder, der ein Gutachten bestellt, weiß, dass dessen Ergebnis schon vom gegebenen Auftrag abhängt. Die Aufgaben, mit denen die FDPFraktion die unabhängige Kommission befasst sehen will, sind uns allerdings viel zu eng umrissen. Nach Ihrem Willen, meine Damen und Herren von der FDP, sollen lediglich die Höhe der Abgeordnetenentschädigung und die Altersversorgung neu geregelt werden. Es ist sicher kein Zufall - der Antrag kommt ja von Ihnen -, dass beispielsweise die Frage von Nebentätigkeiten oder Nebeneinkommen völlig ausgeklammert wird; es ist ja nicht ganz unbekannt, dass die Diäten für eine ganze Reihe der Kolleginnen und Kollegen von der FDP nur ein willkommenes Taschengeld darstellen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns denn schon für die Einrichtung einer unabhängigen Kommission aussprechen, dann sollten wir die Aufgaben, die diese Kommission haben soll, wesentlich weiter fassen. Die jüngsten Ereignisse bei VW, dem Kölner Müllskandal, dem Berliner Bankenskandal, der Leipziger Olympia-Gesellschaft etc. - die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen ({2}) zeigen eigentlich deutlich, wie nahe Nebentätigkeiten und Korruption liegen können. ({3}) Die Vergabe des Aufsichtsratspostens an den Ex-Bundeskanzler und Ex-Bundestagsabgeordneten Gerhard Schröder hat mehr als ein unangenehmes Geschmäckle. Sie ist Ausdruck einer moralischen Verkommenheit ({4}) und erschüttert ein weiteres Mal die Glaubwürdigkeit von Politikern. Wir dürfen uns nicht wundern, dass Politiker, was die Frage der Glaubwürdigkeit und der moralischen Integrität betrifft, weit unten in der Rangliste stehen. Gerhard Schröder hat seinen Beitrag dazu auf alle Fälle geleistet. Ich finde, die Aufstellung eines Ehrenkodex ist eindeutig zu wenig. Die unabhängige Kommission sollte sich auch mit den Regelungen befassen, mit denen bezüglich der Nebentätigkeiten bzw. Nebeneinkommen von Abgeordneten Transparenz geschaffen werden kann, ohne dass Interessen Dritter verletzt werden. Das ist völlig klar. ({5}) - Ihnen ist sehr gut bekannt, dass diese Regelungen gegenwärtig noch nicht in Kraft gesetzt sind. Wir tun uns offenkundig schwer damit, sie in Kraft zu setzen. Wenn wir eine solche Kommission einsetzen, dann sollte sie sich, wie ich denke, mit diesen Fragen durchaus befassen. ({6}) Wer aber von vornherein ausschließt, dass eine solche Regelung möglich ist, der will im Grunde genommen nicht wirklich Transparenz. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass wesentlich mehr möglich ist, ohne dass Demokratie leidet oder dass allzu private Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Zum Abgeordnetenleben gehört, wie wir alle wissen, finanziell mehr als die zu versteuernde Grunddiät. So darf aus unserer Sicht bei einer Neuregelung die steuerfreie Kostenpauschale keineswegs außer Acht gelassen werden. Sonst setzen wir uns erneut dem Vorwurf aus, es gehe uns lediglich darum, unsere Privilegien zu sichern. ({7}) Wir sollten uns fragen, ob die Pauschale noch ihren ursprünglichen Zweck erfüllt, nämlich die politische Arbeit auf praktikable Weise zu finanzieren, oder ob sie nicht für den einen oder anderen inzwischen zu einem angenehmen Zusatzeinkommen geworden ist. Natürlich gehören auch die Leistungen für die Mitglieder der Bundesregierung, die gleichzeitig Abgeordnete sind, mit auf den Prüfstand. Das betrifft auch die Leistungen für Staatssekretäre, deren Zahl sich wundersam vermehrt hat. Man muss sich fragen, ob es noch zeitgemäß ist, nach wenigen Jahren Tätigkeit einen lebenslangen Anspruch auf Bezüge zu erhalten. ({8}) Derjenige, der drei Jahre ein Amt in der Bundesregierung bekleidet hat, bekommt ab 55 Jahren immerhin schon 20 Prozent der Bezüge. Das halte ich für zutiefst ungerecht. ({9}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird sich vor allem dafür einsetzen, dass die Zeiten einer beitragsfreien Altersversorgung für Abgeordnete vorbei sind. Man muss sich einmal die Relationen vor Augen führen: Den so genannten statistischen Eckrentner erwartet nach 45 Beitragsjahren monatlich eine Rente von knapp über 1 000 Euro. Ein Abgeordneter dieses Hauses dagegen kann sich nach zwölf Jahren Mitgliedschaft im Bundestag bereits über 36 Prozent seiner Bezüge freuen. Das sind rund 2 400 Euro. Dieses Einkommen ist zwar zu versteuern; dennoch stimmt das Verhältnis nicht. Auch Abgeordnete haben für ihre Altersversorgung einzuzahlen. ({10}) Es ist nicht länger hinzunehmen, dass Abgeordnete dafür keinen Cent aufbringen müssen. ({11}) Auch wir müssen unseren Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten. ({12}) Auch bei der Sozialpflichtigkeit der Abgeordnetenbezüge sehen wir weiter gehenden Handlungsbedarf. Bei den Vorhaben der Bundesregierung haben wir wenig Hoffnung, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren tatsächlich deutlich verringert wird. Das kann unter anderem zur Folge haben, dass Abgeordnete nach dem Ende ihrer Amtszeit, also nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag, keine neue Arbeit finden. Das ist so abwegig nicht. Zumindest haben Mitglieder meiner Fraktion 2002 die Erfahrung machen müssen, arbeitslos zu werden. Abgeordnete haben dann keinen Anspruch auf entsprechende Regelungen des SGB II bzw. SGB III. Sie haben keinen Anspruch auf Vermittlung oder Umschulung durch die Arbeitsagenturen. Wir meinen, dass auch Abgeordnete in die Arbeitslosenversicherung einzahlen sollten. Im Übrigen hat das damals nicht nur Abgeordnete der PDS-Fraktion getroffen, sondern auch Abgeordnete anderer Fraktionen. ({13}) Meine Damen und Herren, wir brauchen kein Reförmchen, sondern eine umfassende Reform der finanziellen Leistungen für die Abgeordneten. Wer es wirklich ernst damit meint, der gibt sich mit kleinen kosmetischen Operationen nicht zufrieden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Olaf Scholz, SPD-Fraktion.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben heute einen sehr interessanten Vorgang, nämlich den Einzug der Ökologie bei der FDP. ({0}) - Recycling, ein Gedanke der Nachhaltigkeit. Das hatte ich bisher auf die stoffliche Welt bezogen. Dass man jetzt schon längst abgelegte Gedanken immer wieder neu auflegen und recyceln kann, ist ein neuer Nachhaltigkeitsaspekt. ({1}) Es ist schon darauf hingewiesen worden: Sie haben dieses Gesetz und sämtliche damit verbundenen Gedanken und Begründungen schon zweimal in den Deutschen Bundestag eingebracht. Dreimal schadet ja auch nicht. ({2}) Ich glaube allerdings, dass hier einer der Fälle vorliegt, zu denen man sagen kann: Dadurch, dass man es wiederholt, wird es nicht viel durchdachter. ({3}) Insofern ist es richtig, sich mit dem auseinander zu setzen, was Sie uns hier vorlegen, und dass man über die Dinge, um die es hier geht, debattiert. Sie haben ein Gesetz eingebracht, in dem eigentlich nur steht, dass über die Erhöhung der Diäten eine unabhängige Kommission entscheiden soll. Bei der öffentlichen Debatte geht es aber nicht um die einzelne Entscheidung, sie zu erhöhen, sondern um die Fragen, wie es mit der Abgeordnetenentschädigung, der Regelung der Altersversorgung und der Kostenpauschale überhaupt aussieht. All das hat mit dem Thema, das Sie hier verhandeln wollen, nur wenig zu tun. ({4}) Letztendlich haben Sie wahrscheinlich gedacht - vielleicht hatte Ihre Presseabteilung die Idee zu diesem Antrag -: Es wird gerade wieder über Diäten diskutiert, also nehmen wir doch diesen Antrag, sodass alle annehmen können, dass wir über die Sache reden. ({5}) Die Sache, über die man sich verständigen soll, hat aber eine ganz andere Dimension. Ich sage für mich: Es ist nicht wirklich problematisch, dass wir bei bestimmten Gelegenheiten über eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung entscheiden müssen. Das kann man auch anders tun, man kann es aber auch so machen. Wir müssen in dieser Diskussion darüber sprechen, wie die Struktur dessen, über das wir hier verhandeln, überhaupt aussehen soll. ({6}) Zunächst geht es um die Entschädigung selbst. Ich bin mit Ihnen einig darin: Es ist völlig richtig, dass der Deutsche Bundestag im Hinblick auf die Höhe der Abgeordnetenentschädigung bisher vernünftig vorgegangen ist. Ich finde auch, dass es richtig ist, in solchen Debatten nicht immer nur mit abstrakten Begriffen zu arbeiten, sondern zu sagen - das tue ich auch in jedem Brief an einen Bürger -, wie die gegenwärtige gesetzliche Lage aussieht. Ein Abgeordneter erhält 7 009 Euro. ({7}) - Brutto. - Die Bürgerinnen und Bürger können sich Gedanken darüber machen, ob sie das für zu viel oder zu wenig halten. ({8}) Die Abgeordneten müssen wissen, dass das aus der Perspektive fast aller Wählerinnen und Wähler ein hoher Betrag ist. Jeder Abgeordnete wird von sehr vielen Menschen gewählt - jedenfalls gilt das für meine Partei -, die wesentlich weniger verdienen als das, was die Abgeordneten erhalten. Deshalb sind alle immer wieder einmal anzutreffenden Klagen von Abgeordneten darüber, dass nicht genügend gezahlt werde, völlig unangemessen. Die Entschädigung ist sehr hoch, sie ist sehr ordentlich und sie ist auch angemessen. Für Armutsklagen vonseiten der Abgeordneten gibt es keinen Anlass. Allerdings gibt es auch keinen Anlass, sich zu verstecken. Dafür werbe ich in einer solchen Diskussion auch. ({9}) Was mir bei der Debatte auch nicht gefällt, ist, dass gelegentlich Vergleiche darüber angestellt werden, ob jemand, der außerhalb der Politik arbeitet, mehr verdient. Es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Menschen, über die mancher Abgeordnete denkt: Ich kann doch viel mehr und trotzdem erhält er ein höheres Gehalt. ({10}) Das kommt vor und das ist im übrigen Leben auch verbreitet. Insofern sollte uns die Angemessenheit als Maßstab leiten. Es geht um die Frage, ob das, was wir erhalten, für das Parlament der Bundesrepublik Deutschland und für etwas mehr als 600 Abgeordnete, die dieses Land vertreten, die im Schnitt über 200 000 Bürgerinnen und Bürger aus ihrem Wahlkreis zu vertreten haben, die darüber zu entscheiden haben, ob am Irakkrieg teilgenommen wird oder nicht - so haben wir entschieden -, die über den Einsatz im Kosovo und in Afghanistan zu entscheiden haben und die darüber entscheiden, wie es mit den Steuern aussieht und wie es mit der Renten- und Krankenversicherung weitergeht, angemessen ist. Ich habe anhand der Antworten auf diese Frage festgestellt: In der Öffentlichkeit gibt es nur wenig Kritik an der Höhe der Entschädigung. ({11}) Wer seine Bürgerinnen und Bürger, ohne ihnen den Betrag vorher zu nennen, direkt fragt, welche Entschädigung jemand erhalten soll, der eine solche Aufgabe wahrnimmt und der ein sehr ehrenvolles Amt in der Demokratie ausübt, der erhält als Antwort eine Angabe, die meist oberhalb der aktuell gezahlten Entschädigung liegt. ({12}) Insofern müssen wir uns vor einer öffentlichen Debatte nicht verstecken. Deshalb halte ich auch nichts von dem Vorschlag, die Verantwortung dafür auf andere zu delegieren. Wir können offen für das, was wir richtig finden, eintreten. ({13}) Komplizierter ist die Diskussion über die Abgeordnetenversorgung. Die Altersversorgung ist in der Diskussion. Es ist darüber geredet worden, dies sorgfältig neu zu betrachten. Das halte ich für richtig. Über den Hinweis, den Sie gegeben haben, Herr van Essen, dass sich die Abgeordnetenversorgung ursprünglich am Modell der Beamtenaltersversorgung orientiert hat, kann man sorgfältig diskutieren. Wer Beamter ist, tritt - das ist jedenfalls die Idee - früh in den Dienst für die Demokratie und den Staat ein und beendet diesen Dienst, wenn er in Pension geht. Abgeordnete weisen selten eine so lange Berufsbiografie für den Bundestag auf. Im Abgeordnetenhandbuch entdeckt man zwar einige mit einer langen Sternenliste, wobei die Zahl der Sterne anzeigt, wie viele Legislaturperioden der Abgeordnete schon dabei ist. Diejenigen Abgeordneten, die dem Bundestag am längsten angehören, haben 1972 begonnen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind das Frau Däubler-Gmelin und Herr Schäuble. Die meisten von uns sind aber eine kürzere Zeit dabei. ({14}) Insofern ist es vernünftig, zu überlegen, ob die bisherige Organisation richtig ist. Ich begrüße daher die Tatsache, dass wir solche Diskussionen angefangen haben. Ich komme zum Schluss. Wenn das Recycling eines abgelegten Gedankens ein Bestandteil einer insgesamt notwendigen Debatte ist, dann soll das in Ordnung sein. Die Überweisung an die Ausschüsse schadet nicht weiter. Schönen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der öffentlichen Debatte über die Versorgung der Abgeordneten und ihre Entschädigung sollte man sich noch einmal daran erinnern, dass die Bezahlung der Abgeordneten historisch ein Fortschritt für unsere Demokratie war. ({0}) Noch 1871 las man in der Reichsverfassung: Die Mitglieder des Reichstages - also das historische Vorgängerparlament dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen. Das bedeutete damals: Wer es sich leisten konnte, wer genügend Geld hatte, konnte sich ins Parlament wählen lassen. Der damalige Bundesrat hat gesagt, diese Regelung sei ein Korrektiv gegen das allgemeine Wahlrecht. Wenn also schon jeder wählen konnte, sollte wenigstens nicht jeder gewählt werden können, wenn er sich das nicht leisten konnte. Deshalb muss man daran erinnern, dass es ein Fortschritt für die Demokratie ist, dass man von dem, was man hier tut, leben kann, ohne auf Zuwendungen von außen - das wäre sehr problematisch - oder auf sein eigenes Vermögen angewiesen zu sein. ({1}) Max Weber hat in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ darauf hingewiesen - ich zitiere -: daß eine nicht plutokratische Rekrutierung der politischen Interessenten, der Führerschaft und ihrer Gefolgschaft, an die selbstverständliche Voraussetzung gebunden ist, daß diesen Interessenten aus dem Betrieb der Politik regelmäßige und verläßliche Einnahmen zufließen. Die Politik kann entweder „ehrenamtlich“ und dann von, wie man zu sagen pflegt, „unabhängigen“, d. h. vermögenden Leuten, Rentnern vor allem, - damals sagte man das zumindest geführt werden. Oder aber ihre Führung wird Vermögenslosen zugänglich gemacht, und dann muß sie entgolten werden. Angesichts der öffentlichen Debatte muss man an diese Zusammenhänge durchaus erinnern. ({2}) Das Grundgesetz bestimmt in Art. 48 Abs. 3, dass Abgeordnete „Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ haben. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Urteil zu den Diäten noch einmal umfangreich hervorgehoben und darauf aufmerksam gemacht, dass die Entschädigung so ausgestaltet werden muss, dass sie die Unabhängigkeit sichert und der Tatsache Rechnung trägt, dass der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes ist. Dies hat das Bundesverfassungsgericht übrigens 1975 erklärt. Damals war die Abgeordnetenentschädigung mit 7 500 DM ungefähr auf der Höhe eines Mitglieds eines obersten Gerichts des Bundes mit der Besoldungsgruppe R 6. Seitdem hat der Bundestag angesichts der Gesetze, die er beschließen musste und mit denen er den Bürgern viel zugemutet hat, wiederholt festgestellt, dass eine Erhöhung der Diäten nicht angemessen sei. Deswegen haben wir uns von diesem Level, das auch das Abgeordnetengesetz als Zielvorgabe vorsieht, immer weiter entfernt. Die Diäten sind nachweislich hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückgeblieben. ({3}) Ich denke, auch das muss der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Denn immer, wenn wir bei den Abgeordneten Kürzungen vorgenommen oder die Diäten nicht erhöht haben, war dies der „Bild“-Zeitung nicht einmal eine Zeile auf der letzten Seite wert. ({4}) Volker Beck ({5}) Es wird aber immer wieder darüber berichtet, was die Abgeordneten bzw. die Politiker im Allgemeinen bekommen. ({6}) Als rot-grüne Koalition in der letzten Wahlperiode sind wir davon ausgegangen, dass wir das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern durch die Sozialreformen bei der Rente, dem Sterbegeld, der Bezahlung der Krankenversicherungsbeiträge und der Pflegeversicherung zumuten, auch uns selbst zumuten müssen. Das haben wir nach und nach in sehr vielen Gesetzen eins zu eins umgesetzt. ({7}) Auch daran will ich an dieser Stelle erinnern. Trotzdem kommen wir nicht um die Frage herum, welche Entschädigung und welche Altersversorgung der Abgeordneten angemessen sind. Angesichts des öffentlichen Drucks wünschte man sich manchmal - insofern verstehe ich den Vorschlag der FDP gut -, man müsste diese Debatte nicht durchstehen, sondern könnte sie an eine höhere Instanz delegieren. ({8}) Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der FDP zu verstehen, im Grundgesetz eine Kommission festzuschreiben - obwohl die FDP, wie ich zumindest in der letzten Wahlperiode öfter gehört habe, Kommissionen eigentlich nicht besonders schätzt -, den ich aus verfassungsrechtlicher Sicht eher für bizarr halte. ({9}) - Der Wissenschaftliche Dienst meint, dass der Vorschlag nicht bizarr ist? Wie gut, dass Sie den Wissenschaftlichen Dienst für dieses Urteil in Anspruch nehmen konnten. ({10}) Ich glaube, es ist eine politische Frage, ob wir als Parlamentarier den Mut aufbringen, selbst zu definieren, was für die Tätigkeit eines Abgeordneten angemessen ist. Wir sollten auch klar machen, dafür werben und uns der Diskussion argumentativ stellen - darin waren wir, das gebe ich gerne zu, in der Vergangenheit nicht immer gut -, ({11}) was der Abgeordnete braucht, um seine Unabhängigkeit wahren zu können. Viele Aspekte der Abgeordnetenversorgung tragen dem Spezifikum dieses Amtes Rechnung. Wir werden für maximal vier Jahre gewählt ({12}) - wie wir jüngst erfahren haben, kann dieser Zeitraum auch kürzer sein - und wir haben anders als Beamte keinen Anspruch auf eine Anschlussversorgung. Insofern ist es zwar richtig, dass die Abgeordneten keine Beamten sind. Sie sind aber auch keine Selbstständigen, Freiberufler oder Unternehmer. Sie sind keine Angestellten, sondern ({13}) sie sind eine Kategorie sui generis. Deshalb müssen wir uns mit der Frage befassen, in welcher Art und Weise wir bei der Versorgung der Abgeordneten dem Umstand Rechnung tragen können, dass sie unabhängig sein müssen. ({14}) Das Thema ist meines Erachtens von zwei Seiten zu betrachten - darüber haben wir diese Woche bereits diskutiert -: Ein Teil der Abgeordnetenversorgung - zum Beispiel die Übergangsgelder - ist dem Umstand geschuldet, dass nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag kein Arbeitslosengeld gezahlt wird. Die Übergangsgelder für die Regierungsmitglieder sind wesentlich üppiger. Sie haben - wenn auch nicht im rechtlichen Sinne, aber zumindest in politischer Hinsicht - die Aufgabe, uns davor zu schützen, politische Entscheidungen im Amt unter der Perspektive zu treffen, was sich im Anschluss an das Mandat ergeben und wer sich eventuell dankbar erweisen könnte. Insofern meine ich, dass das Verhalten des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder dem Ansehen der politischen Klasse und der Akzeptanz der Versorgungssysteme für Abgeordnete wie für Regierungsmitglieder enormen Schaden zugefügt hat. ({15}) Einerseits sollten wir für eine angemessene Versorgung streiten. Andererseits sollten wir uns Regeln geben, die transparent sind und den Bürgern deutlich machen, dass unsere Entschädigung bzw. Besoldung angemessen ist. Aber dann sollten wir uns bei den Nebentätigkeiten zurückhalten und dürfen nicht jeden Job annehmen, insbesondere dann nicht, wenn bestimmte Dinge anrüchig sind.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, Sie müssen zum Schluss kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein letzter Satz. Volker Beck ({0}) Wir müssen den Verhaltenskodex betreffend die Nebentätigkeiten von Abgeordneten umsetzen. Er verbietet keinem Abgeordneten, einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Aber er verpflichtet uns zur Transparenz, sodass die Bürgerinnen und Bürger wissen, was wir sonst noch tun. Ich finde, darauf haben sie einen Anspruch. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin versucht, zu sagen: Alle Jahre wieder - tatsächlich ist es nur jede Legislaturperiode - kommt der FDP-Antrag zu diesem Thema. Er begleitet zumindest mich in den drei Legislaturperioden, in denen ich diesem Hause angehöre. Ich kann aber dem Vorschlag, eine Kommission einzuberufen, noch immer nichts abgewinnen. ({0}) Ich habe noch immer meine Probleme - ich denke, diese teilen sehr viele Kollegen mit mir - damit. Ich möchte Ihnen gerne darlegen, warum. Ich habe ein Problem damit, dass eine Kommission - egal wie sie besetzt ist - in irgendeinem Hinterzimmer darüber berät, welche Entschädigung für die Tätigkeit eines Abgeordneten angemessen ist; denn ich glaube, dass die Beratungen einer solchen Kommission nicht öffentlich sein werden. Genau das wird nicht zu mehr, sondern zu weniger Transparenz führen. ({1}) Wenn wir hier darüber debattieren, ob es eine Diätenerhöhung geben soll oder nicht, wie es in den letzten Jahren häufig der Fall war - das wird auch in den kommenden Jahren so sein -, dann geschieht das öffentlich. In unseren Debatten wird das Für und Wider abgewogen. Jeder kann teilnehmen, zuhören, nachvollziehen und sich eine Meinung bilden. Wenn aber eine Kommission hinter verschlossenen Türen tagt, dann ist das nicht möglich. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Lösung ablehne. Ein weiterer Grund, warum ich der Meinung bin, dass eine solche Lösung nicht sinnvoll ist, ist die mangelnde Unabhängigkeit einer solchen Kommission. Es sind Verbände genannt worden, die zwar immer den Anschein erwecken, unabhängig zu sein. Aber ich glaube, dass wir alle in der Realität leben und wissen, dass Verbände ihre Interessen vertreten. Dafür sind sie da. Schließlich sind sie Interessenvertretungen. ({2}) Kein Verband ist vom Himmel gefallen und hat die absolute Unabhängigkeit gepachtet. Die Verbände werden in den Beratungen vielmehr ihre Interessen vertreten. Das ist sicherlich legitim. Aber die Frage ist, ob das der Sache dient. Wenn es eine solche Kommission gäbe, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien sie entscheiden würde. Hat sie überhaupt die Möglichkeit, Einblick in den parlamentarischen Alltag, in die Arbeit eines Abgeordneten zu nehmen und dann entsprechend zu entscheiden? Ich bestreite dies. Wenn man Gespräche mit Verbandsvertretern führt, die durchaus schon eine gewisse Nähe zu uns Abgeordneten haben, ist man manchmal verwundert, welche Vorstellungen dort über die Arbeit, den Aufwand und das Engagement eines Abgeordneten herrschen. Daher halte ich es für sehr problematisch, dass Verbandsvertreter über uns entscheiden und unsere Arbeit einschätzen sollen, die sie zum Teil gar nicht kennen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich sage: Eine solche Kommission bitte nicht. ({3}) Darüber hinaus wird eine solche Kommission Kosten verursachen; das ist doch klar. Diese werden sicherlich nicht dramatisch hoch sein; das gebe ich zu. Aber dieser Punkt ist nicht von der Hand zu weisen. Zudem bin ich der Meinung, dass die Kommissionen, die es bisher in anderen politischen Bereichen gab, entgegen der ursprünglichen Meinung nicht zu mehr Akzeptanz geführt haben, weil irgendwer irgendwo etwas beraten und entschieden hat, was man dann nicht nachvollziehen konnte. Das ist das beste Beispiel dafür, dass dies in einem solch sensiblen Bereich nicht der beste Weg ist. ({4}) Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns selbstkritisch sein! Das waren wir in den letzten Jahren bereits; denn sonst wäre es nicht zu so vielen Einschnitten gekommen. Wir haben uns sehr wohl in die eigene Tasche gelangt. Es ist nicht so, dass hier ständig draufgepackt worden wäre. Ich habe als Abgeordnete mehrere Nullrunden erlebt. Das wird wohl auch in Zukunft so sein. Das ist richtig; denn wir muten auch den Bürgerinnen und Bürgern Einschnitte zu. Wir haben also die Änderungen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern für Einschnitte gesorgt haben - Herr Beck hat das schon erwähnt -, auf uns selbst übertragen. Darüber muss ich nicht diskutieren. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Lassen Sie uns selbstkritisch, aber auch selbstbewusst über diese Angelegenheit hier diskutieren und hier beraten. Hier haben wir den Sachverstand und die Öffentlichkeit, die das bewerten kann. Dann kommen wir auch zu akzeptablen Ergebnissen. Deswegen sage ich: Keine Verlagerung in Hinterzimmer auf irgendwelche Vertreter. Das ist vielmehr Angelegenheit des Parlaments. Herr van Essen, das ist keine verfassungsrechtliche oder juristische Einschätzung, sondern das ist eine politische Einschätzung, die ich hier abgebe. ({5}) Es wird im Januar ein Gespräch der Fraktionsvorsitzenden geben, in dem sie sich über diese Fragen austauschen. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich gehe davon aus, dass die Vorschläge nicht in Richtung einer Kommission gehen werden, sondern dass man andere Wege einschlägt. Ich persönlich - da rede ich aber nur für mich und nicht für die SPD-Fraktion - kann mir durchaus vorstellen, die Diäten an die Entwicklung der Gehälter bestimmter Berufsgruppen im öffentlichen Dienst zu koppeln. Aber das ist alles offen. Darüber muss man ohne Scheuklappen miteinander diskutieren. Was die Altersversorgung betrifft, ist es wirklich angebracht, sich vielleicht einmal das Düsseldorfer Modell genau anzuschauen und zu prüfen, ob das ein gangbarer Weg ist. ({6}) Ich kann es momentan noch nicht einschätzen. Wir sollten aber auch diese Entscheidung selbst treffen und sie nicht an irgendjemanden delegieren. Diesen Mut sollten wir haben. Dazu kann ich Sie alle nur auffordern. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Götzer, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon angesprochen worden, dass uns die beiden heute vorliegenden Gesetzentwürfe der FDP-Fraktion nicht gänzlich unbekannt sind. Sie wurden bereits in der letzten und in der vorletzten Wahlperiode eingebracht und diskutiert. Sehr viel Neues kann man deshalb dazu wahrlich nicht sagen. Es geht um die Rechtsstellung der Mitglieder des Deutschen Bundestages und dabei letztlich um die Frage, wie die Mitglieder des Bundestages ausgestattet sein müssen, um ihren Aufgaben als Gesetzgebungsorgan und Kontrollorgan der Bundesregierung sachgerecht nachkommen zu können. Dabei dürfen wir uns von der Polemik, mit der dieses Thema regelmäßig von einem nicht geringen Teil der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung begleitet wird, nicht irremachen lassen. Es ist nun einmal so und es bleibt so, dass nur ein guter Bundestag gute Arbeit leisten kann. Gute und engagierte Arbeit verdient auch eine sachgemäße Ausstattung und eine finanzielle Absicherung der Abgeordneten. Nicht zuletzt geht es auch um die Ausführung eines Verfassungsgebotes, nämlich des Art. 48 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten „eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ haben müssen. Kommen wir nun konkret zu den vorliegenden Gesetzentwürfen der FDP. Wesentlicher Teil der Gesetzentwürfe ist die Übertragung der Entscheidung über eine angemessene Abgeordnetenentschädigung auf eine vom Bundespräsidenten zu berufende unabhängige Kommission. Das ist eine bekannte Forderung. Anders als früher etwa die Kissel-Kommission soll diese Kommission jedoch ein eigenes, verbindliches Entscheidungsrecht über die Höhe der Diäten haben und nicht nur ein Vorschlagsrecht mit empfehlendem Charakter. Diese Anträge der FDP wurden sowohl in der 14. als auch in der 15. Wahlperiode abgelehnt. ({0}) Ich verhehle nicht ein gewisses Verständnis für die Grundintention, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die hinter den Anträgen steht, weil Sie damit der öffentlichen Kritik und dem Vorwurf der Selbstbedienung, der heute schon wiederholt angesprochen worden ist, begegnen wollen. Wir alle wissen, dass dieser Vorwurf nicht nur polemisch und unsachlich, sondern schlicht falsch ist. ({1}) - Vielen Dank für den Applaus. Wir müssen das immer wieder sagen, Herr Kollege Stünker. Deshalb bin ich Ihnen dafür dankbar. In der Öffentlichkeit wird mit diesem falschen Vorwurf immer wieder operiert. Vor allem die selbst ernannten Experten, die ihn immer wieder erheben, müssten eigentlich wissen - ich glaube, sie wissen es auch -, dass dieser Vorwurf nicht zutreffend ist. Aber er ist so schön griffig, er setzt sich in den Köpfen fest und niemand redet davon - deswegen müssen wir es immer wieder tun -, dass wir die Entscheidung nicht an uns gezogen haben, sondern dass wir durch die Diätenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet worden sind, über die Höhe der Entschädigung selbst zu entscheiden. Folgerichtig sehen die Gesetzentwürfe der FDP die Änderung des Grundgesetzes vor. Wie ich schon gesagt habe, habe ich durchaus eine gewisse Sympathie für die Position der FDP. Man bedenke, dass die Öffentlichkeit Selbstbeschränkungen, die wir seit Jahren beschließen, kaum wahrnimmt. Wie war denn das Echo in der Öffentlichkeit, als wir in der letzten Wahlperiode die Rückführung unserer Altersversorgung beschlossen haben? Wie war das öffentliche Echo auf zehn Nullrunden, die schon angesprochen worden sind? Dazu gab es vielleicht eine Randnotiz, mehr nicht. Ich behaupte sogar, dass fast niemand in unserem Land davon Kenntnis genommen hat. Das erleben wir beinahe täglich in Diskussionen und in unseren Veranstaltungen. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass ich gegenüber den Gesetzentwürfen der FDP-Kollegen verfassungsrechtliche und vor allem verfassungspolitische Bedenken habe. Eine unabhängige Kommission beim Bundespräsidenten mit eigener Entscheidungsbefugnis ist verfassungsrechtlich bedenklich. Unter Berücksichtigung der Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht 1975 in dem schon zitierten Diätenurteil dargelegt hat, wird vielfach ein umfassender Parlamentsvorbehalt angenommen. Ob die Übertragung bei Änderung von Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz - wie die FDP es vorschlägt - möglich ist, wird in Fachkreisen sehr unterschiedlich beurteilt. Als Maßstab wird hier von vielen die Unantastbarkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz wegen Berührung des Rechtsstaatsund Demokratieprinzips nach Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz herangezogen. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, mit dieser Kommission möglicherweise ein weiteres Verfassungsorgan zu schaffen, dessen einzige Aufgabe es ist, die Höhe der Abgeordnetenentschädigung festzusetzen. Unabhängig von diesen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Fragen bleibt weiterer wichtiger Erörterungsbedarf. Ist denn wirklich sicher, dass die von der FDP angestrebte Übertragung der Entscheidungsbefugnis ihr Ziel erreicht, nämlich eine politische Entlastung der Abgeordneten? Wird eine solche Kommission auch in der Öffentlichkeit die erforderliche Anerkennung finden? ({2}) Dies wird von der FDP zwar als Konsequenz angenommen, bleibt für mich aber zweifelhaft. Ich sehe auch bei einer Neuregelung, wie sie die FDP vorsieht, gleichwohl politischen Druck auf das Parlament zukommen, eine von der Kommission etwa getroffene Entscheidung für eine Diätenerhöhung durch Parlamentsbeschluss aufzuheben und auf diese Erhöhung letztlich doch zu verzichten. Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir uns dem Thema Diäten auch künftig selbst stellen müssen - mit Verantwortungsbewusstsein, aber auch mit Selbstbewusstsein. Hier im Parlament gibt es keine Selbstbedienung. Hier gibt es nur die Erfüllung eines Verfassungsauftrages mit Augenmaß und politischem Einfühlungsvermögen. ({3}) Nun möchte ich noch zum zweiten Teil des FDP-Gesetzentwurfs kommen, zum Prüfauftrag zur Änderung der Altersversorgung. Dabei geht es um die grundsätzliche Umstellung des Systems hin zu einer stärkeren Eigenverantwortung. Darüber kann man diskutieren. Ich halte aber nichts von einer voreiligen Festlegung darauf; vielmehr bin ich für eine ergebnisoffene Prüfung. Das gilt insbesondere für das jetzt immer wieder zitierte Nordrhein-Westfalen-Modell, das die Schaffung eines eigenen Versorgungswerkes vorsieht. Dies bedarf einer eingehenden kritischen Prüfung, auch unter Einbeziehung der dortigen Erfahrungen. Jedenfalls sehe ich erhebliche Probleme auf uns zukommen, wenn als Konsequenz einer solchen Umstellung eine massive Diätenerhöhung für erforderlich gehalten würde, was ja viele Experten tun. Dies wäre politisch kaum vermittelbar, obwohl es zur Gewährleistung einer angemessenen Altersvorsorge nach Meinung vieler Sachverständiger unumgänglich wäre. ({4}) Völlig inakzeptabel wäre aber, wenn dann schließlich nur die Abschaffung des bisherigen Systems der Altersversorgung beschlossen würde, nicht aber der dazugehörende zweite Teil, nämlich eine entsprechende angemessene Erhöhung der Diäten. Deswegen plädiere ich für eine ruhige und sachliche Diskussion, die mit den Gesprächen zu Beginn des neuen Jahres ohnehin stattfinden wird. In diese Diskussion werden die heute vorliegenden FDP-Gesetzentwürfe natürlich wiederum einbezogen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt in Sachen Abgeordnetenentschädigung und Abgeordnetenversorgung vielfältige Vorschläge. Aber es gibt einen besonders unsinnigen Vorschlag. Das ist der der FDP, eine Kommissionslösung zu wählen. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Die Höhe der Abgeordnetenentschädigung soll in Zukunft durch eine Kommission verbindlich festgelegt werden. ({0}) Nun räume ich ein: In eigener Sache die Bezahlung und auch die Versorgung festzulegen ist keine besonders angenehme Entscheidung. Wer drängt sich schon danach? Wir werden von der Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit in vielfältiger Weise sehr kritisch beobachtet. Ich will nun nicht wiederholen, was hier schon zutreffend gesagt worden ist, aber unterstreichen: So unangenehm das ist - sollen wir in Zukunft auch in anderen Bereichen unangenehme Entscheidungen aus dem Parlament hinausverlagern? Ist das Ihr Weg, um verantwortlich Politik zu machen, Herr van Essen? Es kann doch wohl nicht gemeint sein, dass wir uns drücken sollen! Sie wollen Verantwortlichkeit aus dem Parlament in nicht kontrollierbare Kommissionen verlagern. Überlegen Sie sich doch einmal die Konsequenz! Ist das, was Sie uns hier vortragen, das Modell für verantwortliche Politikgestaltung? Das ist nicht zu Ende gedacht. Das ist übrigens weniger eine verfassungsrechtliche Frage. Sie wollen das per Verfassungsänderung machen. Das ist ungewöhnlich, aber so etwas kann man - da würde ich dem Wissenschaftlichen Dienst durchaus Recht geben - verfassungsrechtlich tun. ({1}) Ich glaube nicht, dass der neue Satz 2 in Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz sozusagen verfassungswidriges Verfassungsrecht wäre. Aber politisch ist das, was Sie da vorschlagen, unsinnig. ({2}) Wir müssen nach der Verfassung als Gesetzgeber selbst entscheiden, vor den Augen der Öffentlichkeit. Ich kenne kein Verfahren, das transparenter ist, das klarer ist, das auch disziplinierender ist als das, bei dem der Öffentlichkeit gesagt wird: Das wollen wir, und das wollen wir nicht. - Sie wollen das in ein vertraulich oder geheim tagendes Gremium verlagern, ({3}) das verbindlich entscheidet. Überlegen Sie sich doch einmal, welche verfassungspolitischen Folgen das hat! ({4}) Was Sie da vorschlagen, ist nicht zu Ende gedacht. Demnächst kommen Sie auch noch auf die Idee, die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr in irgendeine unabhängige Kommission zu verlagern. ({5}) - Herr van Essen, ich bitte Sie! In Ihrem Antrag steht, dass diese Kommission verbindlich, mit Rechtsverbindlichkeit entscheidet. ({6}) Das ist nicht in Ordnung. Dieser Vorschlag wird in diesem Deutschen Bundestag zum Glück nicht den Hauch einer Chance haben. Er ist nicht zu Ende gedacht. Er ist verfassungspolitisch ein Irrweg, der uns keinen Millimeter weiterbringt. Zu dem zweiten Vorschlag, den Sie unterbreiten, nach dem die Kommission Vorschläge erarbeiten soll, muss ich sagen: Wir können natürlich auch externen Sachverstand heranziehen; überhaupt kein Problem. ({7}) Ich rate aber sehr dazu, dass wir - Sie, wir alle - in dieser Angelegenheit unsere Verantwortung wahrnehmen. ({8}) - Das schließt das nicht aus; richtig. Aber ich bin schon der Auffassung, dass wir an dieser Stelle diese Kommissionitis nicht fortsetzen ({9}) und eher den Weg gehen sollten, unsere Vorschläge offen zu diskutieren, sie mit der Öffentlichkeit zu diskutieren und dann in eigener Verantwortung eine Entscheidung zu treffen. Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass es hier im Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit gibt, die das, was Sie vorschlagen, nicht nur kritisch sieht, sondern ablehnt. Dabei soll es auch bleiben. Schönen Dank fürs Zuhören. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 16/118 und 16/117 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union ({1}) in Darfur/Sudan auf Grundlage der Resolutionen 1556 ({2}) und 1564 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 30. Juli 2004 und 18. September - Drucksachen 16/100, 16/268 Berichterstattung: Abgeordnete Anke Eymer ({4}) Brunhilde Irber Dr. Werner Hoyer Marieluise Beck ({5}) b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/269 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Carsten Schneider ({7}) Jürgen Koppelin Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Mogg, SPD-Fraktion.

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Darfur ist die „Hölle auf Erden“ - so hat es der Generalsekretär der Vereinten Nationen im Februar dieses Jahres formuliert. Lassen Sie mich versuchen, einen kurzen Einblick in diese Hölle zu wagen. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen zwischen afrikanischstämmigen Bauern und arabischstämmigen Nomaden wurde durch Dürrekatastrophen und die fortschreitende Ausbreitung von Wüsten weiter verschärft. Traditionelle Konfliktlösungsmechanismen brachen zusammen. Milizen und Banden übernahmen, geschützt durch staatliche Gewalt, das Kommando. Sie haben sich schwerste Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Zivilbevölkerung zuschulden kommen lassen. Die Folge ist eine humanitäre Katastrophe. 300 Dörfer wurden zerstört. Hunderttausende sind als Folge des Konfliktes ums Leben gekommen; die Schätzungen schwanken zwischen 180 000 und 300 000 Menschen. 2 Millionen Menschen wurden vertrieben. Nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen brauchen 3,5 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf terroristische Aktivitäten. Rebellen entführen Angestellte von Entwicklungshilfeorganisationen. Banditen überfallen Nahrungsmittelkonvois. Das Minenrisiko ist nicht zu vernachlässigen. Der Afrikakorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ Kurt Pelda schrieb vor wenigen Wochen, am 3. November, im „Rheinischen Merkur“: In ... Darfur hat die humanitäre Krise ein bislang nie da gewesenes Maß an Brutalität angenommen. Eine EKD-Delegation unter Leitung von Bischof Huber bereiste kürzlich eine Woche lang den Sudan und nannte nach ihrer Rückkehr die alltägliche Situation schlicht „deprimierend“. Ursache sind die ethnischen Probleme zwischen Arabern und Afrikanern, die zugleich Probleme zwischen Reich und Arm sowie zwischen Moslems und Christen sind. Vor diesem Hintergrund hatten alle Fraktionen des Deutschen Bundestages im Mai des vergangenen Jahres einen umfassenden Forderungskatalog zusammengestellt, zu dem auch die militärische Flankierung der vielfältigen politischen Aktivitäten gehört. Unser Beitrag im Rahmen des AMIS-Mandates, das wir heute zum zweiten Mal verlängern wollen, um die Gewalt in Darfur im Zaum zu halten, kann nicht mehr und nicht weniger als ein kleiner, vielleicht nur symbolischer, Beitrag sein. Denn eine zentrale Erkenntnis ist: Die Sicherheitslage ist zum größten Problem bei der Versorgung der Bevölkerung geworden. Selbst die Flüchtlingslager werden angegriffen. Wir, die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion, werden deshalb dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Ich sage es frei heraus: Ich wünschte mir, wir wären in der Lage, mehr zu tun. Aber angesichts der Situation in Darfur würde auch eine umfassendere Beteiligung der Bundeswehr derzeit keine substanziellen Verbesserungen bringen können. Dennoch steht außer Zweifel, dass die Verlängerung des bestehenden Mandates aus humanitären und aus politischen Gründen eine Verpflichtung ist. Die Anwesenheit deutscher und anderer europäischer Kräfte zur Unterstützung von Soldaten und Polizisten der Afrikanischen Union schafft eine Öffentlichkeit über den afrikanischen Kontinent hinaus, die die marodierenden Banden und vor allem ihre Anstifter scheuen. Dies belegen die Diskussionen im internationalen Rahmen. Deutschland leistet logistische Hilfe, damit zunächst die afrikanischen Nachbarn selbst den bedrohten Menschen beistehen können. Dies betrifft insbesondere den Transport von Soldaten und Polizisten sowie Gerät aus den Staaten der Afrikanischen Union, die finanziellen Beiträge zu AMIS in Höhe von 3 Millionen Euro und die Bereitstellung von technischem Gerät und Beratungskapazitäten. Am 3. Dezember des vergangenen Jahres hat der Deutsche Bundestag erstmals über den Einsatz zur Unterstützung der Überwachungsmission der Afrikanischen Union abgestimmt. Wir entscheiden heute über eine unveränderte Fortsetzung. So muss auch die Frage gestellt werden, ob sich der Einsatz als sinnvoll erwiesen hat. Die Antwort lautet Ja. Wir sollten uns von Berichten über eine weiterhin besorgniserregende Situation nicht irritieren lassen. Natürlich ist aus der „Hölle auf Erden“ nicht über Nacht der „Himmel auf Erden“ geworden. Die Lage bleibt schwierig. Trotzdem gibt es kleine, ermutigende Neuigkeiten. Die Bundesregierung stellt in dem uns vorliegenden Antrag vom 29. November fest, dass „die AU-Mission in den Gebieten, in denen AMIS präsent ist, zu einer spürbaren Verringerung der Gewalt“ beiträgt. Dabei kann sie sich auf Berichte der UN stützen, die über positive Trends einer umfassenderen Präsenz humanitärer Hilfe berichten ebenso wie über „significant progress in all life-saving sectors in comparison to the situation last year“. Der Druck der internationalen Gemeinschaft führte dazu, dass zum ersten Mal ein Gericht im Sudan ein Urteil wegen Menschenrechtsverletzungen in Darfur gesprochen hat. Der sudanesische Justizminister spricht von 160 Verdächtigen. In der „Welt“ vom 30. November ist nachzulesen, dass es „nicht nur Schreckliches“ zu berichten gibt, „sondern auch kleine Fortschritte“ gemeldet werden können. Zitat: Diese Fortschritte sehen so aus: Es gibt wieder Feuerholzpatrouillen. Die Afrikanische Union hat … Soldaten geschickt, um die Zivilisten zu schützen, und einige von ihnen begleiten jetzt Frauen, die sich außerhalb der Flüchtlingslager aufmachen müssen, um Feuerholz zu sammeln. Dabei werden sie häufig von Reitermilizen angegriffen ... Solche Missionen, wen wundert’s, sind nicht beliebt bei den Soldaten. Doch scheinen sie manchmal das Schlimmste zu verhüten. Kleine Schritte, kleine Fortschritte - zugegeben. Aber Grund genug, unser kleines Engagement fortzusetzen. Wir, der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung, haben in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass unser sicherheitspolitisches Konzept ein umfassendes Angebot sein muss. Diplomatische, wirtschaftliche, humanitäre und militärische Aspekte spielen dabei eine Rolle. Daran müssen wir auch für Darfur festhalten. Sie schaffen die Voraussetzungen für Entwicklung. Ich weiß und bin froh darüber, dass eben darüber in diesem Hause große Einigkeit herrscht. Das haben die Debatten gezeigt. Es geht um eine umfassende politische Lösung. Das humanitäre und das militärische Engagement können nur erste Schritte sein. Der internationale Druck auf die Zentralregierung im Sudan darf um der Menschen willen nicht nachlassen. So zitiert der Bonner „General-Anzeiger“ vom 30. November dieses Jahres Bischof Huber nach der bereits zitierten Reise durch den Sudan. Immer wieder habe er in seinen Gesprächen mit Vertretern des Staates sowie der Kirchen und der Bevölkerung festgestellt, dass es ein großes Vertrauen in Deutschland gebe. Bischof Huber wörtlich: Von dem Vertrauen, das uns Deutschen entgegengebracht wird, müssen wir auch Gebrauch machen. ({0}) Es ist nach Meinung des Bischofs auch im Interesse Europas, dass der Sudan und mit ihm ganz Afrika „Zukunft hat“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mit dem notwendigen Blick auf die Realitäten und einem großen Maß an Zuversicht weiter dazu beitragen, dass die Menschen in Darfur eine Zukunft haben. Die Verlängerung des AMIS-Mandats ist dafür eine wichtige Voraussetzung. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Anfang Mai 2004 wurde hier im Deutschen Bundestag ein Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Völkermord im Sudan verhindern“ debattiert. Zur selben Zeit tobte in Darfur im Westen des Sudan bereits ein Konflikt, der zu einer der größten menschenrechtlichen und humanitären Krisen weltweit führte. Frau Kollegin Mogg hat eben schon sehr anschaulich die Situation geschildert und sie zutreffend beschrieben. Das muss nicht wiederholt werden. Am 30. Juli 2004 beschloss der UN-Sicherheitsrat den Einsatz einer militärischen Überwachungsmission der Afrikanischen Union, das AMIS-Mandat. Im Rahmen einer Ausweitung wurde auf internationaler Ebene darum gebeten, diese Mission finanziell und logistisch zu unterstützen. Dem hat sich die Bundesrepublik Deutschland angeschlossen. Neben bereits geleisteten erheblichen finanziellen Hilfen haben wir zugestimmt, der Mission AMIS logistische Unterstützung zu gewähren. Dazu hat der Deutsche Bundestag am 3. Dezember des letzten Jahres den Antrag angenommen, bis zu 200 Soldaten für den Lufttransport, inklusive Sicherungs- und Unterstützungskräfte, einzusetzen. Seit Bestehen des Mandats hat die Bundeswehr insgesamt zwei Lufttransporte von Gambia und Ghana in den Westen des Sudan durchgeführt. Das Mandat war begrenzt und wurde im Mai 2005 im vereinfachten Verfahren verlängert. Ich möchte ganz klar und deutlich sagen: Die FDPBundestagsfraktion unterstützt die Fortsetzung dieses begrenzten und sinnvollen Mandats. Wir hätten in diesem Fall auch kein Problem mit einem vereinfachten Verfahren gehabt. Ich denke, es führt zu keiner zusätzlichen Verbesserung, dass wir hier heute noch einmal über die Verlängerung debattieren. ({0}) Ich möchte anlässlich dieser Diskussion zwei Punkte aufgreifen. Der erste Punkt richtet sich an die Bundesregierung. Dieses Mandat, das bisher bestand, ist am 3. Dezember ausgelaufen. Wir führen heute, am 16. Dezember, eine Debatte darüber, das heißt 14 Tage nach Ablauf des Mandats. Nun ist zwar auch der FDP-Bundestagsfraktion § 7 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes bekannt, der diese Terminüberschreitung legalisiert. Aber für meine Fraktion will ich sehr deutlich sagen: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Wir fordern die Bundesregierung erneut auf, solche Anträge nicht erst vier Tage vor Ablauf eines Mandats in den Deutschen Bundestag einzubringen. Das ist, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bundesregierung, keine gewissenhafte Arbeit. ({1}) Wir sind nach wie vor der Auffassung: Auch wenn Sie vonseiten der Bundesregierung vielleicht damit, dass eine Zustimmung wieder in einem vereinfachten Verfahren erfolgen kann, und - zu Recht - auch damit gerechnet haben, dass es eine Zustimmung zu diesem Mandat geben wird, sollte es immer noch so sein, dass der Deutsche Bundestag selbst entscheidet, ob er eine Frage debattieren will oder nicht. ({2}) Daher ist es notwendig, dass Anträge pünktlich vorgelegt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich einen zweiten Punkt aufgreifen, der genauso relevant ist. Ich glaube, wir sollten uns angesichts der Debatte über dieses Mandat die Frage stellen, ob wir in Zukunft einer Mandatsverlängerung immer im Rahmen einer Plenardebatte zustimmen wollen oder ob es vielleicht nicht doch besser wäre, das zu tun, was die FDP-Bundestagsfraktion schon einmal im Rahmen eines Gesetzentwurfs eingebracht hat, nämlich im Deutschen Bundestag einen Ausschuss für besondere Auslandseinsätze einzurichten, in dem über diese Dinge entschieden wird. Das hätte erhebliche Vorteile. Deswegen finde ich, wir sollten noch einmal über ein Auslandseinsätzemitwirkungsgesetz sprechen. ({3}) Dies hätte erstens den Vorteil, dass solche Einsätze im vereinfachten Verfahren beschlossen werden können. Es hätte zweitens den Vorteil, dass es zu einer stärkeren Einbindung des Deutschen Bundestages auch bei geheimhaltungspflichtigen Vorgängen kommen könnte. Ich möchte betonen: Die Tatsache, dass wir immer wieder klar machen, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, ist kein Selbstzweck. Denn jedes Mal, wenn sich der Deutsche Bundestag zu Beginn eines neuen Mandats mit einem solchen Mandat befasst hat, hat dies dazu geführt, dass es zu Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten kam. Dies rechtfertigt das Nachdenken über einen solchen besonderen Ausschuss. ({4}) Wir kämen darüber hinaus - das ist der letzte Punkt mit einem solchen Ausschuss zu einem schnelleren Handeln des Parlaments. Ich glaube, auch das wäre angebracht. Unbenommen davon danke ich allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die auch in diesem Auslandseinsatz durch ihr hohes Engagement und ihren vorbildlichen Leistungswillen daran mitwirken, eine humanitäre Katastrophe einzudämmen. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Mandat zu. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte Sie namens der Bundesregierung um Zustimmung zur Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr in Darfur für weitere sechs Monate bis zum 2. Juni 2006. Meine Vorrednerinnen haben schon in überzeugender Weise den Grund für die Verlängerung dieses Einsatzes vorgetragen. Ich glaube aber, noch einmal unterstreichen zu sollen, dass wir uns im Sudan deshalb so stark engagieren, weil wir die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union darin unterstützen möchten, das von Krisen und humanitären Notlagen geschüttelte Land und die gesamte Region zu stabilisieren. Hier hat - das ist wahr eine humanitäre Katastrophe in größtem Ausmaß stattgefunden. Mehr als 200 000 Menschen sind dort ums Leben gekommen. Ich denke, wir können uns unserer internationalen Verpflichtung im Hinblick auf Humanität und Friedenssicherung nicht entziehen. Deshalb müssen wir dieses Mandat wahrnehmen. ({0}) Im Rahmen dieses Mandates wollen wir die Grundlage für den Aufbau von Strukturen schaffen, die den Menschen die Perspektive für ein Leben ohne Not und Gewalt bieten, und dafür sorgen, dass diese Staaten in der Lage sind, derartige kriegerische Auseinandersetzungen in Zukunft zu verhindern, also selber ihren Beitrag zur Stabilität und Friedenssicherung in dieser Region zu leisten. Das ist ein entscheidender Punkt, der im Zusammenhang mit diesem Mandat gesehen werden muss. Ich glaube, wir sollten deshalb weiterhin zu einer friedenssichernden Unterstützung im Sudan bereit sein. Wir treten für eine Förderung von AMIS auch aus EU-Mitteln ein, weil wir glauben, dass eine Finanzierung der laufenden Friedensverhandlungen in Abuja und eine entsprechende Unterstützung notwendig sind, um die Voraussetzungen für Strukturen im Sudan zu schaffen, mit denen dieses Land wie andere Länder aus eigener Kraft Friedenssicherung und Stabilität in der gesamten Region betreiben kann, sodass wir solche Unterstützungsaktionen künftig nicht mehr brauchen. ({1}) Unser Engagement ist unter dem Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu verstehen. Wir unterstützen eigenständige Entwicklungen und helfen damit, regionale friedenssichernde Strukturen aufzubauen. Die Unterstützung des Mandats für AMIS ist notwendig. Dies dient der Humanität, der Friedenssicherung, aber auch dem Aufbau stabiler Strukturen in diesen Ländern, damit sie in Zukunft selbst in der Lage sind, für Friedenssicherung und dafür zu sorgen, dass die Menschen dort ohne Not und ohne Gewalt leben können. ({2}) Es ist zutreffend - das wurde bereits angesprochen -, dass die Lage in Darfur weiterhin besorgniserregend ist. Deshalb ist eine Fortsetzung des internationalen Engagements seitens der NATO und der Europäischen Union für die VN-mandatierte Operation AMIS zwingend erforderlich. Leider gibt es weiterhin Vertreibungen, Tötungen und Plünderungen. Aber dort, wo AMIS präsent und aktiv ist, ist eine spürbare Verringerung der Gewalt zu beobachten. Das zeigt, dass AMIS positive Ergebnisse zu verzeichnen hat. Dies muss auch weiterhin so sein. Ich denke, dass eine weitere Unterstützung durch Transportmaßnahmen notwendig ist. Wir arbeiten sehr eng mit unseren französischen Partnern zusammen, um die Voraussetzungen dafür zu gewährleisten, dass eine Stabilisierung der Situation im Sudan erreicht wird. Deshalb bitte ich Sie im Interesse von Humanität und Friedenssicherung, aber auch im Interesse der Stabilisierung in der Region und der Hilfe zur Selbsthilfe um ein klares Votum dieses Hauses für die Fortsetzung des Mandats. Besten Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Norman Paech, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben den Antrag zur heutigen Debatte gestellt, weil wir grundsätzlich der Ansicht sind, dass jeder außenpolitisch relevante Einsatz der Bundeswehr hier diskutiert werden muss. Wir wollen keine Vorratsbeschlüsse. ({0}) Wir stehen heute vor einer nicht leichten Entscheidung. Ich bekenne ganz offen, dass wir in der Linkspartei eine sehr intensive und aufklärende Diskussion darüber geführt haben. Alle Fakten und Gründe für eine Fortsetzung des Einsatzes der deutschen Streitkräfte im Sudan sind von den Vorrednern genannt worden: das völkerrechtliche Mandant durch die UNO, die Führung der Mission durch die afrikanischen Staaten und die unverändert dramatische Situation der Flüchtlinge, die Vertreibungen und die massiven Menschenrechtsverletzungen. Nichts hieran hat sich seit der Einrichtung des Mandats verändert. Das ist wichtig: Nichts hat sich verändert! Wir müssen uns also fragen: Warum brauchen wir die Erneuerung und Erweiterung dieses Mandats? Als die Linkspartei noch PDS hieß, hat sie - es war vor fast genau einem Jahr, am 3. Dezember 2004 - das Bundeswehrmandat abgelehnt, und zwar vor allem deswegen, weil sie einen derartigen militärischen Einsatz für untauglich hielt, sowohl die ökonomischen und die sozialen Ursachen als auch deren furchtbare Auswirkungen in den Griff zu bekommen und zu beheben. ({1}) Nach einem Jahr können wir nur eines sicher feststellen: Es hat sich im Grunde nichts geändert. ({2}) Wir haben nicht einmal eine Evaluation über den Nutzen des Einsatzes vor Ort; sie findet zwar statt, aber ihre Ergebnisse liegen uns noch nicht vor. ({3}) Die schon lange bestehenden skeptischen Einschätzungen, ob ein solcher Einsatz überhaupt Erfolg haben kann, die die ehemalige Staatsministerin Kerstin Müller damals vortrug, haben sich verdichtet. Wir haben uns also zu fragen: Bewahrheitet sich hier vielleicht schon bald das, wovon die International Crisis Group, eine unverdächtige Organisation, bereits heute ausgeht: die Ausdehnung des Mandats, die massive Aufstockung der Truppen und die Führungsübernahme durch die EU oder NATO, da die afrikanischen Staaten es voraussichtlich doch nicht schaffen werden? Wir sehen durchaus nicht über all das Elend und die Gewalt hinweg, wir halten lediglich das Militär auch in diesem Fall nicht für das taugliche Mittel, ({4}) in einem Konflikt, der vornehmlich zwischen Nomaden und Bauern über Weideflächen und das ökonomische Überleben in einer kargen Region ausgetragen wird. ({5}) Wir haben sogar die Befürchtung, dass das absehbare Scheitern zur Eskalation des Militäreinsatzes auch in dieser Region benutzt werden wird. Der Sicherheitsrat hat bereits ein Mandat für militärische Zwangsmaßnahmen nach dem VII. Kapitel der UNO-Charta mit seinen Resolutionen ausgestellt, obwohl das für die gegenwärtige AMIS-Überwachungsmission überhaupt nicht notwendig ist. ({6}) Der aktuelle Einsatz ähnelt eher einem Blauhelmeinsatz. Wir haben es also hier schon mit einem Vorratsbeschluss zu tun, der ohne Schwierigkeit - wir kennen das, das Beispiel der USA lehrt uns das - so interpretiert werden kann, wie es die International Crisis Group heute schon haben will: Erweiterung und Eskalation, Einsatz von EU und NATO. Sie mögen das alles für sehr weit hergeholt halten. ({7}) - Herr Struck, nehmen Sie Ihre eigenen Äußerungen als Verteidigungsminister - heute sind Sie Fraktionsvorsitzender - ernst. Sie kündigten im Juni dieses Jahres an, dass die Bundeswehr bald auch in Afrika präsent sein müsse. Den Hintergrund und die Motivation für eine solche Afrikastrategie der Bundeswehr hat offensichtlich bereits ein Jahr vorher Herr Pflüger geliefert. Herr Pflüger, wenn Sie sich dieses Artikels nicht mehr erinnern können, kann ich Ihnen den Artikel gern zeigen. Ich zitiere aber erst einmal daraus.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel, SPD-Fraktion?

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerne.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben hier eben deutlich gemacht, wie schwierig die Situation in Afrika ist und dass nicht genügend geschehen ist, um den Terror gegenüber der Zivilbevölkerung zu beenden. Sie haben auch den Vorschlag der International Crisis Group angeführt, die sagt: Die Afrikaner werden auch mit der Hilfe, die geleistet wird, nicht mit den Problemen fertig. Das heißt, die EU oder die NATO sollten etwas tun; wir sollten uns also stärker engagieren - ich persönlich bin übrigens dafür. Müssten Sie nicht sagen: „Um den Konflikt, das Sterben und das Leid zu beenden, müssen wir auf jeden Fall fortsetzen, was wir bisher getan haben, und müssen eher noch mehr tun, dürfen aber auf keinen Fall Hilfsgesuche ablehnen“?

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Meckel, das ist Ihre Logik. Unsere Logik funktioniert andersherum. Wir sagen: In solchen Konflikten, die ökonomische, soziale Ursachen haben, müssen wir ganz anders reagieren. ({0}) Wir kennen das zu lange, als dass wir dann sagen würden: Rein mit dem Militär! Darf ich jetzt zitieren? Ich habe Herrn Pflüger noch nicht zitiert; auf dieses Zitat kommt es an. Er sagte: Weil Europa ... zunehmend Energie aus anderen Regionen importieren muss, müssen wir dem afrikanischen Ölreichtum als Potenzial zur Diversifizierung unserer Bezugsquellen mehr Aufmerksamkeit schenken. ... Anders als wir haben die USA die Bedeutung des afrikanischen Öls bereits erkannt und werden 2015 ein Viertel ihrer Öleinfuhren aus Westafrika bestreiten. Er erwähnt dann in dem Artikel in aller Offenheit, dass zur Sicherung dieser Ressourcen auch militärischer Einsatz notwendig werden könne. Herr Pflüger, ich werde Ihnen den Artikel geben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie ist zu Ende.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Darf ich das noch kurz zu Ende führen?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Pflüger, Sie sind ja kein einsamer Professor, sondern Sie sind jetzt Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Das hat Gewicht. Wir erkennen schon all die Probleme an. Wir wissen aber auch, dass ein seit einem Jahr erfolgloser Weg auch in der Zukunft nicht mehr Erfolg haben wird. Wir befürchten, dass das der Ansatz für eine Afrikastrategie ist, gegen die wir immer sein werden. Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Ich danke Ihnen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Paech, ich verstehe viele Ihrer Argumente, auch das mit dem Öl. Aber geben Sie mir Recht, dass es ein ganz wichtiges Anliegen von uns Europäern sein muss, dass die afrikanischen Völker, die afrikanischen Staaten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und solche schrecklichen Konflikte mit so vielen Toten selber regeln? Die Afrikanische Union tritt zum ersten Mal - soweit ich mich erinnere - derart gemeinschaftlich auf, um in diesem Konflikt Frieden zu garantieren, und hat um unsere Hilfe im logistischen Bereich gebeten, weil sie ohne unsere Hilfe - nicht nur Deutschlands, sondern auch der Europäischen Union - ihre Aufgabe dort nicht wahrnehmen kann. Stimmen Sie mir zu, dass es deshalb in diesem Falle völlig unverantwortlich wäre, die Afrikanische Union in dieser wichtigen Mission allein zu lassen, und dass die Selbstbestimmung der Afrikaner und die Selbstregulierung afrikanischer Probleme durch die Afrikaner selber unterlaufen würden, wenn wir hier dem Antrag heute nicht folgen würden? ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Ströbele, es ist ja richtig, dass der Ansatz, die afrikanischen Staaten das selbst machen zu lassen und sie dabei zu unterstützen, von uns akzeptiert werden muss. ({0}) Das Problem ist allerdings die Frage: Mit welchen Mitteln? Die Mittel sind entscheidend. ({1}) Im Auswärtigen Amt gibt es ein Referat, das sich mit Konfliktprävention und Mediation beschäftigt. Es gibt sehr viele Mittel zur Friedensförderung, die ohne militärische Einsätze auskommen. Diese Instrumente müssen wir nutzen. ({2}) Durch den Einsatz dieser Mittel haben wir in den vergangenen 20, 30 Jahren Reputation erworben, auch in Afrika. Der Einsatz der Bundeswehr bzw. militärischer Mittel wird zu einer Eskalation und zu immer größeren Problemen führen bis hin zu der Situation, die wir in Afghanistan haben: dass der Terror zu uns kommt. ({3}) Deswegen sagen wir zur militärischen Unterstützung Nein. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Dazu herzlichen Glückwunsch und weiterhin alles Gute! ({1}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es tut mir sehr Leid, dass ich am heutigen Freitag noch eine Kurzintervention machen muss. Aber da Sie, Herr Kollege Paech, heute eine Behauptung wiederholt haben, die Sie bereits gestern im Auswärtigen Ausschuss und auch in der „Frankfurter Rundschau“ aufgestellt haben, die allerdings nicht wahr ist, muss ich dazu ein paar klärende Worte sagen. Ich habe im Jahr 2004 in der Zeitschrift „Die Politische Meinung“ einen Artikel geschrieben, den ich inzwischen auch noch einmal gelesen habe. Auf Seite 5 dieses Artikels habe ich in der Tat ausgeführt, dass es zur Diversifizierung unserer Energiequellen notwendig ist, auch das Öl in Afrika nicht aus den Augen zu verlieren. ({0}) Andere Länder, zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika, tun das seit langem. Daraufhin habe ich mich in diesem Artikel allen möglichen Problemen, die es in Afrika gibt, zugewandt: zum Beispiel Aids, der Benachteiligung von Frauen und der Bekämpfung von Seuchen. ({1}) Auf Seite 8 habe ich mich - allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang - zu dem geäußert, was eben auch der Minister gesagt hat: dass wir NEPAD unterstützen und der Afrikanischen Union dabei helfen, selbst militärisch einzugreifen. Diese Ausführungen hatten mit dem Thema Energiequellen überhaupt nichts mehr zu tun. Vielmehr handelte es sich um eine Grundsatzbetrachtung. In absoluter Kontinuität zu den vorherigen Bundesregierungen habe ich dann darauf hingewiesen, dass es Fälle geben könne, in denen diese Mittel der Afrikanischen Union versagen, sodass auch wir - der UN-Charta entsprechend und gemeinsam mit anderen europäischen Ländern - einen militärischen Beitrag leisten müssten, wie es zum Beispiel bei der Artemis-Mission im Kongo der Fall war. Wenn Sie also weiterhin behaupten, dass ich zur Sicherung von Energiequellen die Bundeswehr einsetzen will, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist die Unwahrheit. Ich fordere jeden, der das glaubt, auf, meinen Artikel zu lesen. Es ist absurd, diese Behauptung aufrechtzuerhalten. Notfalls werde ich Sie rechtlich dafür belangen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie haben das Wort zur Erwiderung. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Pflüger, ich finde es entlastend, wenn Sie sich jetzt von dem Inhalt Ihres Artikels distanzieren. ({0}) Er trägt ja die Überschrift „Unsere Interessen in Afrika“. Wenn in diesem Kontext die militärische Karte gezeigt wird, dann betrifft das ja nicht nur die Probleme Aids und Armut, ({1}) sondern auch Rohstoffe; denn das sind unsere Interessen. Da Sie in diesem Bereich arbeiten, werde ich Sie in Zukunft daran erinnern, dass Sie sich in diesem Kontext gegen jegliche militärische Intervention und gegen jegliches Engagement in Afrika ausgesprochen haben. Ich danke Ihnen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor wir die Beratungen fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Sie bitten, Ihre Unterhaltungen nach Möglichkeit einzustellen und Ihre Aufmerksamkeit den beiden letzten Rednern zu geben. Das Wort hat nun die Kollegin Uschi Eid, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Paech, ich bin tief erschüttert von den Argumenten, die Sie hier geliefert haben. ({0}) Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Meine Partei ist vor elf Jahren nicht auf die Straße gegangen, um dafür zu demonstrieren, dass man in Ruanda militärisch interveniert, um einen Völkermord zu verhindern. ({1}) Ich schäme mich dafür noch heute! Gott sei Dank haben sich meine Partei und meine Fraktion von dieser fundamentalistischen Haltung abgewandt, ({2}) aber ohne den Pazifismus als Prinzip unserer Außenpolitik über Bord zu werfen. Ich finde, davon können Sie lernen! ({3}) Ich möchte Ihnen einen ersten Grund nennen, warum man das Mandat unterstützen sollte. Ich lade Sie alle ein, mit mir den Film „Hotel Ruanda“ anzusehen. ({4}) Darin wird nämlich sehr deutlich, was es bedeutet, wenn die Blauhelme kein robustes Mandat haben: ({5}) Dann können sie die Gefangenen, die Flüchtlinge, die Männer und die Frauen nicht schützen. ({6}) Denken Sie doch nur an Ihre Freunde aus der Zeit der internationalen Solidarität, ({7}) etwa Thabo Mbeki, den Vorsitzenden des ANC. Sie haben diese Organisationen damals unterstützt, als sie den militärischen Kampf geführt haben. ({8}) Damals haben weder Sie noch ich danach gefragt, ob die Probleme dadurch eskalieren. Sie müssen in Ihrer Argumentation schon stringent sein! Joaquim Chissano, der Vorsitzende der Frelimo, einer Partei, die den Befreiungskampf geführt hat, sagt uns heute: Wir brauchen die Unterstützung der Europäer. Was sagen Sie denn Chissano oder dem von Ihnen immer sehr geachteten Linken Dr. Salim Achmed Salim, der OAE-Generalsekretär war? Sie sind es doch, die uns heute auffordern, sie auch militärisch zu unterstützen: weil die AU heute noch nicht in der Lage ist, alles selbst in den Griff zu bekommen. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. ({0}) - Dass ich feige wäre, muss ich mir von Ihnen nicht vorwerfen lassen! ({1}) Ich weiß nämlich, was es bedeutet, in dieser Frage eine ganz klare Meinung zu haben: In den 80er-, 90er-Jahren haben nämlich Freunde in meiner Partei Ausschlussanträge gegen mich gestellt: weil ich immer für eine humanitär begründete militärische Intervention war. Da war ich alles andere als feige; das kann ich Ihnen sagen! ({2}) Ich will noch einen zweiten Grund nennen: In diesem Konflikt stehen auf der einen Seite die Regierung in Khartoum - eine ganz elitäre politische Klasse, die nur das Interesse hat, das Land für sich, für die eigene Tasche auszuplündern -, die Reitermilizen und die Rebellenorganisationen - die auch immer mehr zu Tätern werden - und auf der anderen Seite das Volk: Frauen, Männer, Kinder, die vertrieben werden, die ermordet werden, die vergewaltigt werden. Dann frage ich Sie: Auf wessen Seite stehen Sie denn als Linke? ({3}) Als Linker steht man doch auf Seite der Opfer und nicht auf der Seite der Täter! Doch auf der Seite der Täter steht man, wenn man sich raushält. Durch Wegschauen macht man sich schuldig! ({4}) Der dritte Grund, weshalb es gut ist, diesen Antrag zu unterstützen: Es ist die Afrikanische Union - der Kollege Ströbele ist sehr ausführlich darauf eingegangen -, die eigene Verantwortung übernehmen will. Sie versucht dies seit zehn Jahren, nachdem Gott sei Dank das OAEPrinzip der Nichtintervention über Bord geworfen worden ist und die Afrikaner sich selber eine neue Friedensund Sicherheitsarchitektur gegeben und damit eine völkerrechtliche Grundlage für solche Interventionen geschaffen haben. Diese AU bittet uns, sie zu unterstützen. ({5}) Sie aber stellen sich hier hin und sagen: Nein, nicht mit uns. - So geht das nicht. ({6}) Frau Präsidentin, dies ist meine erste Rede in dieser Legislaturperiode, aber zugleich meine letzte Rede in diesem Jahr. Ich wünsche Ihnen allen schöne Feiertage, in die wir gehen können, nachdem wir diesen Antrag unterstützt haben. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir sind noch nicht am Ende dieser Debatte. Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Uschi Eid, ich komme aus der Friedensbewegung in Baden-Württemberg. In den letzten 20 Jahren war ich sehr viel auf der Straße. Die Grünen habe ich in Jugoslawien nie erlebt. Ich habe nicht erlebt, dass die Grünen im Vorfeld der Ereignisse in Ruanda Aktionen entwickelt haben. Wir haben Entwürfe für eine alternative Politik entwickelt. Wir haben vorgeschlagen, alternative Medien zu unterstützen. Ich habe die Grünen nirgends gesehen, auch Sie nicht, liebe Uschi Eid. Ich habe die Grünen in Belgrad nicht gesehen, als Kriegsgegner die Grünen gefragt haben, wo sie bei der Unterstützung gegen Milosevic sind. ({0}) Sie haben keine friedenspolitische Praxis entwickelt. Das Militär ist für Sie Ersatz. Deswegen sind Sie in dieser Form gegen neue Ansätze, wie wir sie hier einbringen. Wir haben eine politische Praxis, weil wir uns über Konflikte vor Ort informieren. Wer von Ihnen war im Sudan? Wer von Ihnen weiß, was die Menschen dort brauchen? Wir müssen uns über Konflikte konkret kundig machen und dürfen andere nicht propagandistisch und emotional in die Ecke stellen. Das erwarte ich von Ihnen. ({1}) Wir müssen über das Parlament hinaus aktiv werden und uns konkret anschauen, was Militär vor Ort bedeutet. Sie betreiben hier reine Demagogie. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Anke Eymer, CDU/ CSU-Fraktion.

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte von dieser Stelle aus Uschi Eid sehr herzlich zu ihren Worten gratulieren. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, dass im Sudan ein brutaler Bürgerkrieg herrscht. Milizen töten und marodieren. Millionen sind auf der Flucht in andere Regionen und in das Nachbarland Tschad. Wir wissen, wie schrecklich die Auswirkungen sind. Der Minister hat detailliert von der humanitären Katastrophe gesprochen. Es besteht weiterhin die Gefahr der Destabilisierung sowohl des Sudans als auch der Region insgesamt. In einer Zeit des internationalen Terrorismus muss die Staatengemeinschaft alles unternehmen, um dies zu verhindern. Ein Land wie der Sudan darf nicht zu einem unkontrollierbaren Rückzugsbecken für verschiedene terroristische Gruppen werden. Ein internationales Eingreifen zum Schutze der bedrohten Bevölkerung auf der Grundlage der UN-Resolution 1556 aus dem vergangenen Jahr war und ist unerlässlich. ({1}) Ich bin Uschi Eid sehr dankbar dafür, dass sie die Rolle der Afrikanischen Union hier noch einmal deutlich herausgestellt hat. Die Afrikanische Union hat sich in dieser Frage entscheidend engagiert. Wir sprechen heute über die Verlängerung unserer Unterstützung der AMIS-Mission und stimmen darüber ab. Ziel der AMISMission der Afrikanischen Union ist es, die Einhaltung eines Waffenstillstands zwischen den Konfliktparteien durch eine erhöhte Präsenz von Beobachtern zu überwachen. Sie trägt zur Stabilisierung der Lage bei und ermöglicht humanitäre Hilfeleistungen sowie den Schutz unmittelbar betroffener Bevölkerungsteile. Die AMIS-Mission der AU war und ist dabei unverzichtbar auf die Unterstützung der Vereinten Nationen und der EU angewiesen. Deutschland hat seine Unterstützung als Ausdruck seiner internationalen Solidarität und humanitären Verpflichtung zugesagt. Die internationalen Bemühungen haben partiell zu mehr Sicherheit für die Bevölkerung und auch zu einer Verbesserung der humanitären Hilfe geführt. Angesichts der herrschenden Gewalt ist dies alles aber nur Stückwerk. Die im Jahr 2004 in diesem Haus getroffene Entscheidung, den Einsatz der Afrikanischen Union zur Lösung des Konflikts durch den Einsatz der Bundeswehr zu unterstützen, war richtig. Es ist eine logische Konsequenz und eine humanitäre Unumgänglichkeit, in dem begonnenen Bemühen nicht nachzulassen. Das heißt: Zur Verlängerung der Unterstützung von AMIS durch die Bundeswehr kann und darf es keine Alternative geben. Der vorliegende Antrag der Bundesregierung verdient daher eine breite Zustimmung, damit eine Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr ermöglicht werden kann. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 16/100 zur Fortset- zung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union in Darfur im Sudan. Dazu liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Kol- legen Jürgen Koppelin1) vor. Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/268, den Antrag anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Wie mir gerade gesagt wurde, fehlt links oben von meiner Seite aus noch ein Schriftführer der FDP-Fraktion. Ich bitte, auch diesen Platz einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Die Stimmkarten des Kollegen Dr. Ramsauer sind seinem Fach entnommen worden, aber von jemandem, dem sie wohl nicht gehören, also nicht vom Kollegen Ramsauer. ({0}) Weiß jemand, wo sie sein könnten? Wir kümmern uns sofort um Ersatz und werden kurzfristig klären, wie wir das mit der laufenden Abstimmung regeln. Einen kleinen Moment. ({1}) Jetzt hat auch der Kollege Ramsauer seine Karte ab- gegeben. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgeben hat? - Offensichtlich ist das nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- mung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Wir können die Beratungen nun fortsetzen. Bevor wir dies tun, bitte ich sehr herzlich darum, dass diejenigen, die den weiteren Beratungen folgen wollen, Platz neh- men und die anderen ihre Gespräche außerhalb des Ple- narsaals führen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so- wie die Zusatzpunkte 10 bis 12 auf: 19 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Siebter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen - Drucksache 15/5800 - 1) Siehe Stenografischer Bericht 10. Sitzung, Anlage 3 2) Ergebnis Seite 603 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 14 vom 13. Mai 2004 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention - Drucksache 16/42 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung - Drucksache 16/197 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechte in Usbekistan einfordern - Drucksache 16/225 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4}) Auswärtiger Ausschuss ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter - Drucksache 16/226 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion. ({6})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der siebte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung bescheinigt dem Iran nur wenige Fortschritte im Bereich der Menschenrechte in den letzten Jahren. Dennoch bestand in den letzten Jahren die Hoffnung, dass reformorientierte Kräfte im Iran mehr erreichen könnten. Diese Hoffnung ist seit der Entwicklung der letzten Woche verflogen. In diesen Tagen erreichen uns fast täglich neue erschreckende Nachrichten aus dem Land. Nachdem der ehemalige Präsident Chatami menschenrechtsrelevante Reformen - wenn auch mit kleinen Schritten - auf den Weg gebracht hat und in seiner Ära die Zivilgesellschaft gestärkt wurde, wurde weltweit die Wahl von Ahmadinedschad zum neuen Präsidenten des Iran sehr kritisch beobachtet. Heute wissen wir: Unsere schlimmsten Befürchtungen werden noch übertroffen. Der Aufruf des iranischen Präsidenten zur „Auslöschung“ der staatlichen Existenz Israels und zur Leugnung des Holocaust ist nicht nur inakzeptabel, sondern er ist unfassbar und schockierend. ({0}) Diese Äußerungen lassen jeden zivilisierten Anstand vermissen. Sie verletzen in ihrer Substanz jegliches Wertegefühl der Völkergemeinschaft und rufen nicht nur im Westen, sondern bis weit in die arabische Welt hinein zu Recht tiefe Empörung hervor. Deshalb ist es zwar eine Selbstverständlichkeit, die aber an diesem Tag und von dieser Stelle aus gegebenem Anlass unmissverständlich wiederholt werden muss: Das Recht Israels auf seine staatliche Existenz, auf ein Leben in international anerkannten Grenzen, frei von Angst, Terror und Gewalt - ich füge hinzu: das gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes -, aber auch die historische Wahrheit des Holocaust als organisierter Völkermord und die daraus resultierende Verantwortung waren, sind und bleiben konstitutive Bestandteile deutscher Politik nach innen und außen, gerade auch im Bereich der Menschenrechtspolitik. ({1}) Den Äußerungen des iranischen Präsidenten kann ich nur eines entgegenhalten: Das ist eine Verhöhnung von mindestens sechs Millionen Opfern der Schoah. Wir Deutschen stehen national wie auch international zu dieser Verantwortung und wir sollten die Bundesregierung bitten, dies auch vor den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen zur Sprache zu bringen. Ich halte das für notwendig. ({2}) Der siebte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist nach unserer Auffassung ein hervorragendes Kompendium sowohl in den großen Leitlinien als auch in den Einzelheiten und der institutionellen Absicherung deutscher Menschenrechtspolitik der letzten Jahre. Ich danke allen, die an der Erstellung mitgewirkt haben insbesondere unserer Vorgängerregierung; Sie haben sicherlich Verständnis dafür -, dass sie den Bericht mit den darin behandelten Inhalten in einer Weise auf den Weg gebracht haben, die deutlich macht, dass die deutsche Regierung - ich gehe von der Kontinuität dieser Politik auch unter der neuen Regierung aus - Menschenrechtspolitik als einen Querschnittsbereich betrachtet, der alle außen- und innenpolitischen Belange berührt. Deshalb müssen wir als Parlament dafür sorgen, dass die Menschenrechtspolitik bei allen politischen Aktivitäten im Vordergrund steht und mit verhandelt wird. Insofern begrüßen wir die Vorlage des Berichts sowohl hinsichtlich seiner Form als auch hinsichtlich seines Inhalts. ({3}) Wir begrüßen auch - aus gutem Grund -, dass die Menschenrechtspolitik in unserem Land Schritt für Schritt stärker institutionell verankert worden ist. Wir begrüßen außerordentlich und bewerten sehr positiv die Arbeit des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium der Justiz wie auch die institutionelle Verankerung im Forum Menschenrechte in dem Dialog mit den NGOs, die bei der Umsetzung der Menschenrechtspolitik weltweit unverzichtbar sind. ({4}) Ich füge hinzu: Wir sind auch sehr dankbar dafür, dass die Bundesregierung dem Auftrag des Parlaments nachgekommen ist und einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Menschenrechtspolitik als integralen Bestandteil in den Bericht aufgenommen und als Handlungslinie für die Politik und damit auch für uns vorgegeben hat. Ich möchte noch zu einigen Punkten in materieller Hinsicht Stellung nehmen, die im siebten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung eine gewisse Rolle spielen. Ich möchte mit einem Punkt beginnen, der sehr deutlich macht, wie sich die Bundesregierung und die internationale Politik, die von uns betrieben wird, zur Todesstrafe verhalten. Wir haben durch die gerade stattgefundenen Hinrichtungen in den Vereinigten Staaten wieder erlebt, dass auch in Ländern der westlichen Hemisphäre das Thema Todesstrafe noch zu diskutieren ist. Wir erinnern an dieser Stelle die Regierung der Vereinigten Staaten an ihre internationalen Verpflichtungen aus den entsprechenden VN-Konventionen. Wir erwarten, dass hier Klartext gesprochen wird. Die Todesstrafe ist unmenschlich und darf kein Mittel der Repression in einer staatlichen Gemeinschaft sein. ({5}) Im Jahr 2004 wurden 3 800 Todesurteile in 25 Staaten vollstreckt. lch erwähne dabei ausdrücklich, dass davon nach unseren Kenntnissen 3 400 allein in China vollzogen wurden. Die klare Botschaft lautet deshalb: Dies muss ständig ein Thema aller Gespräche sein, die wir mit unseren internationalen Partnern führen. ({6}) - Wir sind hier sicherlich einer Meinung, jedenfalls was mich betrifft. Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der die Innenpolitik betrifft. Als Schwerpunkt der Innenpolitik ist im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung die Flüchtlings- und Asylpolitik festgelegt. Wir haben im Koalitionsvertrag unter anderem festgehalten, dass das Zuwanderungsgesetz, auf das wir, die alte Koalition, stolz sind, anhand der Anwendungspraxis überprüft wird. Dabei geht es für uns insbesondere um eine befriedigende Lösung des Problems der so genannten Kettenduldung. Ich halte eine vernünftige Altfallregelung - wenn man dieses Wort ausspricht, wird einem schon ein bisschen schummerig - für dringend geboten, ({7}) da das neue Aufenthaltsgesetz die Erwartungen hier nicht erfüllt. Ich frage: Welchen Sinn macht es, Kinder abzuschieben, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, deren Muttersprache Deutsch ist, die das Land ihrer Eltern nie gesehen haben und deren Sprache nicht oder nur kaum sprechen, die sich hier bei uns integriert haben? Welchen Sinn macht es, Menschen, die hier seit langem leben, arbeiten und Steuern und Sozialabgaben zahlen, plötzlich die Arbeitserlaubnis zu verweigern und sie damit in die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu bringen, die wir doch - zu Recht - reduzieren wollen? Die Innenministerkonferenz hat sich gerade wieder einmal mit diesem Thema ohne Ergebnis befasst. Wir werden einfordern, dass dieses Thema auf der Tagesordnung bleibt und dass eine entsprechende Regelung kommt. Es geht um „nur“ 200 000 Menschen. Das Menschenrechtsthema ist allumfassend. Wir haben in diesem Jahr schwere Katastrophen erlebt: den Tsunami und die Erdbeben in Pakistan, wo es sehr viele Opfer gab und die Menschen noch heute um ihre Existenz bangen. Ich möchte deshalb all denjenigen herzlich danken, die im Auftrag der internationalen Staatengemeinschaft, von Regierungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen, in den betroffenen Ländern eingesetzt sind, insbesondere den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr - ich betone das angesichts der Debatte, die wir gerade geführt haben; ich glaube, ich muss mich nicht dafür entschuldigen, dass ich im Sudan war und gesehen habe, was dort passiert -, die für Frieden und Menschenrechte in der ganzen Welt eintreten. Ich wünsche ihnen allen ein friedliches und möglichst katastrophenfreies Jahr sowie der Menschenrechtspolitik eine gute Zukunft. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor wir zum nächsten Redner kommen, komme ich zum Tagesordnungspunkt 18 zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS auf den Drucksachen 16/100 und 16/268 bekannt. Abgegebene Stimmen 542. Mit Ja haben gestimmt 487, mit Nein haben gestimmt 39, Enthaltungen 16. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 542; davon ja: 487 nein: 39 enthalten: 16 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Gitta Connemann Leo Dautzenberg Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Maria Eichhorn Anke Eymer ({1}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder ({7}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({9}) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Paul Lehrieder Eduard Lintner Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Stephan Mayer ({10}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Maria Michalk Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Carsten Müller ({11}) Stefan Müller ({12}) Bernward Müller ({13}) Bernd Neumann ({14}) Henry Nitzsche Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Rupprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Klaus Riegert Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({15}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({16}) Hermann-Josef Scharf Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Richard Schiewerling Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({17}) Andreas Schmidt ({18}) Ingo Schmitt ({19}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({20}) Gerald Weiß ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Ernst Bahr ({22}) Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Dr. Axel Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({23}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({24}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Renate Gradistanac Angelika Graf ({25}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({26}) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz ({27}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({28}) Frank Hofmann ({29}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({30}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Christian Kleiminger Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({31}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({32}) Dr. Matthias Miersch Marko Mühlstein Detlef Müller ({33}) Michael Müller ({34}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Mechthild Rawert Steffen Reiche ({35}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Christel RiemannHanewinckel Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({36}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Michael Roth ({37}) Ortwin Runde Anton Schaaf Axel Schäfer ({38}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Ulla Schmidt ({39}) Silvia Schmidt ({40}) Heinz Schmitt ({41}) Carsten Schneider ({42}) Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({43}) Swen Schulz ({44}) Ewald Schurer Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({45}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({46}) Heidi Wright Uta Zapf Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Christian Ahrendt Uwe Barth Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Ulrike Flach Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({47}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther ({48}) Elke Hoff Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({49}) Detlef Parr Cornelia Pieper Jörg Rohde Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({50}) Martin Zeil BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({51}) Volker Beck ({52}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Hans Josef Fell Joseph Fischer ({53}) Kai Boris Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Winfried Hermann Priska Hinz ({54}) Dr. Anton Hofreiter Ute Koczy Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({55}) Monika Lazar Anna Lührmann Jerzy Montag Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Claudia Roth ({56}) Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Gerhard Schick Silke Stokar von Neuforn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({57}) Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Wolfgang Börnsen ({58}) FDP Jürgen Koppelin DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Karin Binder Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Sevim Dagdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Wolfgang Gehrcke-Reymann Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Cornelia Hirsch Inge Höger-Neuling Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Jan Korte Katrin Kunert Ulrich Maurer Kornelia Möller Elke Reinke Paul Schäfer ({59}) Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Frank Spieth Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Gert Winkelmeier Enthaltung FDP Otto Fricke Gisela Piltz DIE LINKE Dr. Martina Bunge Roland Claus Diana Golze Dr. Gregor Gysi Dr. Barbara Höll Dr. Gesine Lötzsch Kersten Naumann Wolfgang Neskovic Petra Pau Volker Schneider ({60}) Dr. Petra Sitte Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Nun setzen wir die Beratung zum Tagesordnungspunkt 19 fort. Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Fraktion. ({61})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sollten die heutige Parlamentsdebatte über den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung dazu nutzen, eine Standortbestimmung der deutschen Menschenrechtspolitik vorzunehmen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Situation in anderen Staaten als auch im Hinblick auf die Menschenrechtssituation hier bei uns in Deutschland. Im Hinblick auf die anderen Staaten wird es nicht immer streitig sein, ob die Menschenrechtssituation in dem jeweiligen Land für uns befriedigend ist. Das sehen wir oft ähnlich. Viel eher erwarte ich Diskussionen mit der neuen Bundesregierung darüber, ob die Bundesregierung dem Thema Menschenrechte in Konkurrenz zu anderen wichtigen außen- oder wirtschaftspolitischen Interessen oder Zielen ein angemessenes Gewicht beimisst. ({0}) Ich habe eine angemessene Gewichtung der Menschenrechte beim Auftreten anderen Ländern gegenüber in der Vergangenheit nicht selten vermisst. Ganz gleich, ob es um die massiven Menschenrechtsverletzungen in China oder um den schrittweisen Abbau des Rechtsstaates in Russland ging - in beiden Fragen hat der ehemalige Bundeskanzler die allen bekannten sehr eigenen Akzente gesetzt. Der ehemalige Bundesaußenminister hat sich ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in Menschenrechtsfragen schrittweise zu einem Leisetreter entwickelt. Leider. ({1}) Auf die Kritik an einer oft allzu kumpeligen, Schattenseiten ausblendenden Russland- oder Chinapolitik wurde oft entgegnet, denjenigen, die das vortrügen, gehe es in Wahrheit doch nur darum, die Partnerschaft zu diesen Ländern zu diskreditieren. Das wurde zum Teil auch gestern wieder angedeutet. Dazu kann ich nur eines sagen: Es ist doch das russische Volk, das darunter leidet, dass Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, dass Demokratie und Rechtsstaat beschnitten werden. Von Tschetschenien reden wir gar nicht erst. ({2}) Wir akzeptieren auch nicht, dass in China Dissidenten unterdrückt werden, dass in Gefängnissen gefoltert wird, dass Minderheiten ihre kulturelle Identität preisgeben sollen oder dass gegenüber Taiwan mit dem Säbel gerasselt wird. All das ist es doch, was die Menschen bewegt und worunter die Menschen in diesen Ländern am meisten leiden. Wir verstehen Freundschaft zu diesen Ländern auch und gerade als Freundschaft zu den Menschen und nicht zu einer bestimmten Staatsführung. ({3}) Aber wenn wir Deutsche - für unsere Verbündeten gilt das Gleiche - anderen gegenüber in der ganzen Welt glaubhaft für unsere Werte eintreten wollen, dann müssen wir sie selbst mit größter Konsequenz und am strengsten Maßstab gemessen vorleben. ({4}) Aus diesem Grunde halte ich es für völlig inakzeptabel, wenn im Kampf gegen den Terrorismus in Guantanamo und offensichtlich leider auch an vielen anderen Orten dieser Welt Menschen quasi rechtlos gestellt, ohne richterliche Anordnung, ohne Rechtsbehelfe, ohne Kontakt zu Angehörigen und ohne Kontakt zu Anwälten festgehalten und vernommen werden. An dieser Stelle verbieten sich jegliche Diskussionen über die Frage, ob das, was dort gemacht wird, Folter oder vielleicht gerade so keine Folter mehr ist. ({5}) Ich denke, dass es unzweifelhaft ist, dass der Zwang, über mehrere Stunden oder vielleicht sogar Tage stehen zu bleiben, oder gar die Praxis, diese Menschen durch die Simulation von Ertrinken in Todesangst zu versetzen, ({6}) menschenunwürdig ist und von uns nicht akzeptiert werden kann. ({7}) Deshalb muss man den USA mit aller Klarheit sagen: Wer im Kampf für die Freiheit und die offene Gesellschaft Menschenrechte selbst massiv verletzt, der sägt an dem Ast, auf dem er selber sitzt. Das müssen die Amerikaner begreifen. ({8}) Letztendlich geht es bei aller Repression gegen die Terroristen, die schreckliche Verbrecher sind, um eine andere Frage. Der Terrorismus ist wesentlich durch die Auseinandersetzung in vielen islamischen Staaten geprägt. Es geht um die Frage, ob wir einen Gottesstaat oder eine islamische offene Gesellschaft, eine demokratische Gesellschaft wollen. Wenn wir unser eigenes Gesellschaftsmodell diskreditieren, indem wir unsere eigenen Werte selbst nicht vorleben, dann schwächen wir doch die Menschen in den islamischen Ländern, die wir eigentlich als Unterstützer brauchen, damit sich auch in diesen Ländern Menschenrechte und Demokratie durchsetzen können. ({9}) Das ist der Grund, warum Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen den Terror nicht allein illegitim, sondern auch schlicht und ergreifend dumm sind. Wenn sich bewahrheiten sollte, dass deutsche BKABeamte an Verhören in Syrien oder anderswo teilgeFlorian Toncar nommen haben, und zwar in Gefängnissen, in denen bekanntermaßen regelmäßig gefoltert worden ist, ({10}) dann stellen sich auch an das Innenministerium weitere drängende Fragen. Die werden Ihnen nicht erspart bleiben. Auch die überzogenen Sicherheitsgesetze, die in Deutschland in den letzten Jahren verabschiedet wurden - der neue Bundesinnenminister will Berichten zufolge auf diesem Gebiet fleißig weitermachen -, werden wir kritisch bewerten. Wo Bürger unter Generalverdacht gestellt werden - das geschieht auch hier in Deutschland -, wo die Beweislast plötzlich beim Bürger liegt, da wird das Menschenbild unserer Verfassung ins Gegenteil verkehrt. Die FDP hält diese Tendenz für ausgesprochen gefährlich. ({11}) Wir wünschen uns auch in Deutschland wirksame Präventionsinstrumente gegen Menschenrechtsverletzungen. Ein Antrag, der Ihnen vorliegt, enthält den Vorschlag, zu UN-mandatierten Militäreinsätzen Menschenrechtsbeobachter zu schicken. Darüber hinaus sprechen wir uns auch dafür aus, dass Deutschland das Zusatzprotokoll zur Folterkonvention zügig unterzeichnet. Dieses Protokoll enthält wichtige Präventionsinstrumente zur Verhinderung von unmenschlichen Behandlungen. Der Prototyp eines fundamentalistischen Gottesstaates hat im Übrigen jüngst mehrfach sein wahres Gesicht gezeigt; ich meine den Iran. Was dort abläuft, sind nicht verquere Fehltritte eines unerfahrenen Provinzpolitikers, sondern mehrfach vorgetragene, gezielte, wiederholte, unerträgliche und geradezu widerliche Attacken, die wir strikt zurückweisen. ({12}) Wer so redet, der stellt sich selbst weit fernab der Grundsätze der Vereinten Nationen und der friedlichen Völkergemeinschaft. Ich freue mich, dass wir als Bundestag heute eine entsprechende Resolution verabschieden können. Die FDP wünscht sich eine Bundesregierung, die die deutsche Menschenrechtspolitik aufwertet, die begreift, dass der Einsatz für Menschenrechte mehr ist als nur eine Notwendigkeit. Der Einsatz für Menschenrechte ist gerade nach den deutschen Erfahrungen vom letzten Jahrhundert schlicht und ergreifend unsere Pflicht. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. ({0}) Herzlichen Glückwunsch dazu und weiterhin alles Gute. ({1}) Nun hat die Kollegin Erika Steinbach, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({2})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Albert Einstein war nicht nur ein genialer Physiker, sondern auch ein unermüdlicher Verfechter für Frieden und für Menschenrechte. Das wissen die allerwenigsten. In der heutigen Menschenrechtsdebatte im Einsteinjahr 2005 will ich daran erinnern, was er im Jahre 1954 gesagt hat: Die Existenz und die Geltung der Menschenrechte stehen nicht in den Sternen geschrieben. ... Die Geschichte ist zum großen Teil erfüllt vom Kampf um Menschenrechte, einem ewigen Kampf, in dem es keinen endgültigen Sieg geben kann und dessen Erlahmen den Ruin der Gesellschaft bedeuten würde. Ich sage Ihnen: Einstein hat Recht. Wir dürfen im Kampf für die Menschenrechte nicht erlahmen. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages haben in der letzten Legislaturperiode insgesamt bewiesen - das ist sehr erfreulich -, dass deutsche Politik den weltweiten Menschenrechten weit über Fraktionsgrenzen hinaus eine herausragende Bedeutung beimisst. Der siebte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der - wie von allen Fraktionen des Bundestages seinerzeit gefordert - zum ersten Mal auch einen „Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung“ enthält, macht das sehr deutlich. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will, dass Menschenrechtsverletzungen klar benannt werden, wo immer sie vorkommen. Wir treten ganz konsequent dafür ein, dass Menschenrechte gewahrt, dass Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Eigentlich sollte man meinen, dass Politiker aller Staaten auf diesem Erdball aus den millionenfachen Menschenrechtsverbrechen quer durch das 20. Jahrhundert mit Genozid, mit Massenvertreibungen, mit Massenmorden, mit Massenvergewaltigungen und mit dem singulären Holocaust inzwischen die Lehren gezogen haben. - Weit gefehlt! Leider ist das nicht der Fall. Tagtäglich können wir das beobachten. Die jüngsten Äußerungen seitens des iranischen Präsidenten machen das jedoch schlaglichtartig ganz erschreckend deutlich. Seine Aufforderung, den Staat Israel nach Europa oder Kanada zu verlegen und die Israelis dorthin zu vertreiben - nichts anderes bedeutet das -, ist zutiefst empörend und menschenverachtend. ({0}) Wenn dieser Präsident tatsächlich glaubt - ich glaube ihm wiederum nicht, dass er das wirklich glaubt -, dass der Holocaust ein Märchen sei, empfehle ich ihm einen Besuch in Auschwitz; dann wird er wohl eines Besseren belehrt werden. ({1}) Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, hat völlig Recht mit seiner Feststellung, dass die Äußerungen des iranischen Präsidenten ungeheuerlich, widerwärtig und abscheulich sind. ({2}) In einem aber muss ich Paul Spiegel wirklich widersprechen: Das jüdische Volk wird nicht allein gelassen, wie er meint. Die Bundesrepublik Deutschland, alle ihre Regierungen und der Deutsche Bundestag standen und stehen an der Seite Israels und seiner Menschen. Das ist kein Lippenbekenntnis, sondern das ist Gott sei Dank tagtäglich gelebte Politik und das wird so bleiben. ({3}) Der interfraktionelle Antrag zum Existenzrecht des Staates Israels, der heute mit auf der Tagesordnung steht, belegt diesen Willen ganz nachdrücklich. Einsteins Mahnung, nicht zu erlahmen im Kampf um Menschenrechte, gilt auch gegenüber dem Terrorismus. Terrorismus ist menschenrechtsfeindlich. Unschuldige Bürger sind täglich die Zielscheibe von Mördern. Die Terroranschläge des Jahres 2005 in London, in Bali, in Jordanien, im Irak und in Israel - nur beispielhaft - haben erneut auf grausamste Weise das teuflische Gesicht des Terrorismus gezeigt. Wir dürfen auch nicht erlahmen in unserem Engagement für die universelle Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe und in unserem Eintreten gegen Folter. Obwohl 140 Staaten das Antifolterabkommen der Vereinten Nationen ratifiziert haben oder diesem auch beigetreten sind, sind Misshandlungen und Folterungen in vielen Ländern heute immer noch an der Tagesordnung. Das Verbot von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe gilt absolut; es gilt ohne Ausnahme. Ich begrüße, dass sich der amerikanische Kongress und das Weiße Haus gestern endlich auf ein Antifoltergesetz geeinigt haben. Das ist ein guter Schritt. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen des Weiteren auch nicht erlahmen im Kampf gegen Fluchtursachen und Vertreibung. Nach Schätzungen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen betrug die Zahl aller Flüchtlinge und Menschen in flüchtlingsähnlichen Situationen im letzten Jahr 44 Millionen, 10 Prozent mehr noch als im Jahr davor. Das sind 44 Millionen menschliche Schicksale und menschliche Tragödien. Es war im Fall Simbabwes und des Sudans nötig und richtig, dass der Deutsche Bundestag schon im Juni 2005 die Operation „Murambatsvina“, also „Abfallbeseitigung“, von Präsident Mugabe einstimmig verurteilt hat. ({5}) Wir dürfen auch nicht erlahmen in unserem Einsatz für die Prävention, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen ist ein zentrales Anliegen unserer Menschenrechtspolitik. Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, die Gewähr, dass Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben, sondern geahndet werden, sowie Menschenrechtsbildung sind für eine wirkungsvolle Prävention wesentlich. Unverzichtbar für ein weltweites Menschenrechtsbewusstsein sind aber Sanktionen. Es gibt zu wenig Sanktionen. Wenn es sie gibt, kommen sie häufig genug zu spät. Es darf sich niemals lohnen, Menschen zu quälen, zu foltern, zu morden oder zu vertreiben. Das geht häufig nur mit Sanktionen. ({6}) Solange es keine ausreichenden international abgesicherten Strafen gibt, ist in vielen Staaten der Welt die Verlockung groß, sich über Menschenrechte einfach hinwegzusetzen; das ist für manche Staaten sehr bequem. Deutsche Politik kann und muss in ihrem Handeln dazu beitragen, dass das Bewusstsein dafür international deutlich geschärft wird. Auch das will ich hinzufügen: In den vergangenen Jahren wurden aus meiner Sicht zu oft in bilateralen Gesprächen Menschenrechtsprobleme aus wirtschaftlichen Erwägungen - da kann ich dem Kollegen von der FDP nur zustimmen - einfach ausgeklammert. Russland und China sind Beispiele dafür. Das muss sich ändern. Man muss auch in befreundeten Ländern und in Ländern, mit denen man Wirtschaftsabkommen trifft, deutlich auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen. ({7}) Unser Ziel ist es, für eine Kultur der Menschenrechte weltweit zu werben und die Herzen dafür zu öffnen. Dazu braucht es ein glühendes Engagement für Menschenrechte, damit die Welt sich endlich bessert. Ein friedvolles Weihnachtsfest wünsche ich Ihnen. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über den vorliegenden Bericht ist meines Erachtens nicht von den aktuellen Ereignissen zu trennen. Ein Ex-Außenminister, der sich gerade sehr zurückgezogen hat, hinterließ folgendes schöne Zitat: Menschenrechte sind kein Luxusgut, kein Orchideenthema, das in den Hintergrund rücken kann, wenn die Stunde der Sicherheitspolitik wieder schlägt. Das Gegenteil ist wahr: Die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist auf Dauer die verlässlichste Grundlage für Stabilität und Frieden. … Es wäre ein fataler Rückschlag, wenn die Terroristen uns dazu bringen würden, unsere eigenen Werte in Frage zu stellen. Unter keinen Umständen darf es zu einer Aushebelung von menschenrechtlichen Grundnormen unter dem Deckmantel von Terrorismusbekämpfung kommen. ({0}) - Da kann man ruhig applaudieren; es war immerhin der ehemalige Außenminister Joschka Fischer, der das vor der UN-Menschenrechtskommission gesagt hat, wie im vorliegenden Bericht nachzulesen. Aber kann mir vielleicht irgendjemand erklären, wie dies mit den Vorkommnissen und bisherigen Erkenntnissen im Zusammenhang mit den CIA-Gefangenentransporten und Entführungen deutscher Staatsbürger durch amerikanische Geheimdienste zusammengeht? Immerhin hat Herr Fischer zu jener Zeit eine hohe Verantwortung getragen. Minister Schäuble hat diese Woche hier im Plenum gesagt, dass Mitarbeiter deutscher Behörden Gefangene in Guantánamo und Syrien vernommen haben. Das heißt, wir arbeiten mit ausländischen Geheimdiensten zusammen, die die elementaren Menschenrechte mit Füßen treten. Das muss man sich einmal vorstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Genau das untergräbt letztendlich unsere Glaubwürdigkeit und leistet denjenigen Vorschub, die eigentlich bekämpft werden sollen. Ich finde das unglaublich; das ist unter gar keinen Umständen hinnehmbar. ({1}) Der jetzige Außenminister, Herr Steinmeier, betonte ebenfalls hier im Plenum gebetsmühlenartig, dass es zwecks Terrorabwehr notwendig sei, dass Geheimdienste zusammenarbeiten. Wer dies nicht einsehen würde, sei unverantwortlich. Die Gegenfrage lautet: Ist es denn verantwortlich, mit Diensten zusammenzuarbeiten, die Lizenzen zum Foltern ausstellen? Ist es verantwortlich, mit Geheimdiensten zusammenzuarbeiten, die Staatsbürger anderer Länder entführen? Ich denke, nein. ({2}) Und wie verhält sich dies alles nun zu folgender Aussage aus dem Bericht - ich zitiere -: Die von den Staaten zur Bekämpfung des Terrorismus getroffenen Maßnahmen haben dabei die Menschenrechte zu achten und müssen Gegenstand angemessener Kontrolle sein. Bei der Bekämpfung des Terrorismus dürfen die Staaten keinesfalls von den zwingenden Normen des Völkerrechts … abweichen. Insbesondere die Anwendung von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung … ist … unter allen Umständen absolut untersagt. Dies steht zumindest unter der Überschrift „Leitlinien über die Menschenrechte und den Kampf gegen den Terrorismus“. Unter „Teil D - Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung“ wird ausgeführt: Für die Bundesregierung ist die Einhaltung der Menschenrechte auch bei der Terrorismusbekämpfung unabdingbar. Sie hat ihre eigene Praxis daran ausgerichtet und wird darauf auch weiterhin bei ihrer Zusammenarbeit mit anderen Staaten zur Terrorismusbekämpfung sowie in internationalen Gremien bestehen. Ich möchte die Frage an unseren Außenminister, Herrn Steinmeier, richten, ob diese Aussagen auch in Zukunft noch Geltung haben werden oder ob er mit seinen Worten im Plenum einen Kurswechsel ankündigen wollte. Wenn dem so sein sollte, dann sagen Sie bitte rechtzeitig Bescheid. Ich kann schon jetzt ankündigen, dass unsere Fraktion einem solchen Kurswechsel erbitterten Widerstand entgegensetzen wird. ({3}) Weiter heißt es auf Seite 27 des Berichts: Die Bundesregierung ist in ihren Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung diesen Prinzipien gefolgt. Wie soll man das verstehen? Laut Bericht ist sozusagen alles schön in unserer Menschenrechtspolitik. Aber die Medien berichten derzeit ununterbrochenen von Entführungsfällen, von Mitwisserschaft der Behörden, von geheimen Gefangenenflügen und -lagern usw. Sie kennen das alles selbst. Hier passt meines Erachtens irgendetwas nicht zusammen. Ich frage: Ist das ein Verlust an Realitätssinn? Das wäre die eine Möglichkeit. Oder wird bewusst nicht die volle Wahrheit gesagt? Das wäre die andere Möglichkeit. Wir müssen uns schon fragen, wie wir eigentlich auf internationaler Ebene einen ernsthaften Dialog insbesondere - das wurde heute schon mehrmals angesprochen mit Russland und China führen wollen, wenn wir selbst gegen Gesetze verstoßen oder explizit gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika bestimmte Sachen durchgehen lassen. Da stellt sich schon die Frage unserer Glaubwürdigkeit. ({4}) Zum Schluss möchte ich etwas zu unseren Positionen sagen. Die Linke unterstützt bedingungslos die definierten Ansprüche und Ziele, wie sie im Bericht festgehalten sind. Wir kritisieren aber das tatsächliche Verhalten der Behörden. Kritisieren heißt, Maßstäbe ansetzen. Wir setzen lediglich die an - darauf will ich hinweisen -, die von Ihnen hier niedergeschrieben wurden. Aufgabe in naher Zukunft ist also, die Realität mit dem Bericht in Übereinstimmung zu bringen. Bis dahin sollten wir das 200-Seiten-Werk doch eher als Leitbild statt als Bericht betrachten. Diese Aufgabe umfasst letztendlich: Erstens. Die Vereinigten Staaten von Amerika müssen mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass auch sie an Menschenrechte, Völkerrecht und insbesondere die Anti-Folterkonvention gebunden sind und sich daran auch zu halten haben. ({5}) Zweitens: Sollten sie dies nicht tun, können sie auch keine Privilegien wie zum Beispiel dauerhafte Überfluggenehmigungen mehr in Anspruch nehmen. Diese müssen ihnen dann entzogen werden. ({6}) Drittens. Auch der Austausch von bestimmten Informationen mit den amerikanischen Geheimdiensten muss jetzt sofort auf den Prüfstand. Viertens. Sollte sich wirklich herausstellen, dass deutsche Behörden in die Entführungsfälle verwickelt waren oder sind oder zumindest davon gewusst haben, muss das natürlich Konsequenzen haben. ({7}) Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung sehr oft auf die Kampagne „Du bist Deutschland“ verwiesen und uns Abgeordnete daran erinnert, dass dies genau auf uns zutreffe. Einmal abgesehen davon, dass ich dieser Kampagne nicht ganz so aufgeschlossen gegenüberstehe wie vielleicht manch anderer hier im Saal, ({8}) muss ich sagen: Wenn man dieser Logik folgt, dann müsste der Spruch „Du bist Deutschland“ - damit ist ja in erster Linie auch unser Wertesystem gemeint - erst recht auf unsere im Ausland agierenden Institutionen und Repräsentanten zutreffen. Wenn dem so ist, dann dürfen wir denen aber natürlich nicht das durchgehen lassen, was derzeit, zumindest spekulativ, langsam ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Ansonsten können wir nur noch sagen: „Gute Nacht, Deutschland!“ ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Demokratien sind in ihrem Antiterrorkampf an ihren eigenen Maßstäben zu messen. So steht es zumindest auch im Bericht. Also halten wir uns bitte daran! Die Linke wird für die bedingungslose Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte und des Völkerrechts kämpfen. Die Regierung werden wir bei Anlass immer wieder daran erinnern. Ich danke Ihnen. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles Gute! ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Menschenrechtsbericht und einen interfraktionellen Antrag zum Existenzrecht Israels. Mit Letzterem will ich beginnen. Der iranische Präsident Ahmadinedschad hat in beispielloser Weise Israels Existenzrecht infrage gestellt, den Holocaust geleugnet und damit allen nahe gelegt, dass das jüdische Volk und die Menschen in Israel kein Recht auf Leben, kein Recht auf einen Staat und kein Recht auf ihre Existenz haben. Wenn Staatsregierungen so etwas äußern, dann muss die gesamte Völkergemeinschaft dagegen aufstehen und klar zeigen, dass sie bedingungslos an der Seite Israels steht. ({0}) Ich freue mich darüber, dass die anderen Fraktionen unserer Initiative beigetreten sind. Wir als Deutscher Bundestag finden damit heute klare Worte und senden ein eindeutiges Signal an Israel: ein Signal der Unterstützung, ein Signal der Freundschaft und Solidarität. Aber ich meine, bei diesen Worten heute darf es nicht bleiben. ({1}) Wir müssen Konsequenzen ziehen und die wirtschaftlichen, diplomatischen und anderweitigen Beziehungen zum Iran daraufhin überprüfen, wie wir Druck auf den Iran ausüben, sodass er sich als normales Mitglied der Völkergemeinschaft benimmt. ({2}) Meine Damen und Herren, der 7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist Gegenstand der heutigen Debatte. Unsere Fraktion begrüßt diesen Bericht ausdrücklich. Denn er greift zwei unserer Forderungen aus der Vergangenheit auf. Im Februar 2003 haben wir gefordert, einen Aktionsplan Menschenrechte aufzunehmen und die Zielvorgaben und Strategien der Bundesregierung zu den wichtigsten Problemfeldern der Menschenrechtspolitik klar zu formulieren und auszuführen. Dem kommt der Bericht nach. Wir haben damals wie auch schon beim Vorgängerbericht ebenfalls gefordert, dass alle Politikbereiche - nicht nur die des Auswärtigen - in diesem Bericht vorkommen. Denn es gibt einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen der Menschenrechtspolitik im Inneren und der Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik im Äußeren. Dem kommt der Bericht nach. Ich zitiere: Eine Trennung zwischen der internationalen, auf den weltweiten Schutz der Menschenrechte ausgerichteten Politik vom politischen Handeln im InVolker Beck ({3}) nern ist nicht möglich. Menschenrechtsschutz fängt immer zu Hause an. Wir sehen gerade in diesen Tagen, wie richtig und wie wichtig dieser Satz ist. ({4}) Ich glaube, wir müssen unseren amerikanischen Freunden deutlich sagen, dass der Kampf gegen den Terror nicht gewonnen werden kann, wenn wir beim Kampf gegen den Terror nicht Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz zu seiner Grundlage machen. ({5}) Wir zerstören die Glaubwürdigkeit und wir bestätigen die Vorurteile in dem kulturellen Raum, aus dem sich die Terroristen zum großen Teil rekrutieren. Deshalb appelliere ich an die amerikanische Regierung: Lassen Sie davon ab! Machen Sie Schluss mit Guantanamo! Stellen Sie bedingungslos ab, dass amerikanische Behörden direkt oder indirekt Folter zu verantworten haben! Nur so können wir die Menschen überzeugen, dass Terrorismus der falsche Weg ist und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie unser gemeinsames Anliegen sein müssen. ({6}) Bei Menschenrechtsverletzungen darf man nicht wegschauen. Man muss handeln. Das gilt im Sudan; das gilt bei CIA-Gefängnissen. Da darf man nicht mit unterschiedlichen Maßen messen; damit muss man sich auseinander setzen. Ich will aber eines ganz klar sagen: Bei einer Kooperation im Bereich der Sicherheitspolitik zur Vermeidung von Anschlägen in unserem Land oder anderswo kommen wir selbstverständlich auch nicht um eine Kooperation mit Sicherheitsdiensten, Geheimdiensten oder der Polizei aus Ländern herum, die sich bislang nicht an unsere Standards halten. Entscheidend ist natürlich, dass wir, wenn wir Informationen bekommen, sie zur Vermeidung eines Anschlags nutzen müssen. Kein Mensch würde es verstehen, wenn wir das anders machten. Aber wir müssen eine klare Linie ziehen. Wir dürfen nicht durch unser Verhalten den Eindruck erwecken, wir würden bei Folter und Verschleppung wegschauen und indirekt von deren Früchten profitieren wollen. Deshalb ist es falsch, wenn deutsche Polizisten in Gefängnissen Menschen vernehmen oder anhören, von denen sie wissen, dass in ihnen gefoltert wird. Im Fall Zammar ist eine rote Linie überschritten worden. Das muss abgestellt werden. Wir müssen im Bundestag noch eine intensive Debatte darüber führen, wo im Sicherheitsbereich die Grenzen der Kooperation mit solch problematischen Staaten sind. Diese Debatte kann nicht naiv geführt werden. Es muss aber eine klare ethische Grundorientierung in diesem Bereich geben. Ansonsten verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit als menschenrechtsorientiertes Land. ({7}) Zur Glaubwürdigkeit gehört selbstverständlich auch, dass wir das Zusatzprotokoll zum UN-Antifolterabkommen unterzeichnen. Hier kann ich nur an Sie appellieren. ({8}) - Nein, bislang scheiterte das am Widerstand einiger unionsgeführter Bundesländer. Ich sage gar nicht, dass es an der Unionsfraktion liegt. Aber sorgen Sie dafür, dass diese Landesregierungen ihren Widerstand aufgeben, damit wir als Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich glaubwürdig sind; denn glaubwürdige Menschenrechtspolitik beginnt, wie bereits gesagt, immer vor der eigenen Haustür. ({9}) Meine Damen und Herren, wenn ich mir Ihren Koalitionsvertrag zum Thema Menschenrechte anschaue, mache ich mir ein bisschen Sorgen, ob es wirklich eine Kontinuität - von der vergangenen Wahlperiode in die Zukunft - in der Menschenrechtspolitik gibt. ({10}) Denn mir fällt auf, was benannt wird und was fehlt. In den lateinamerikanischen Ländern will die Koalition tapfer gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen. Belarus wird immerhin noch angesprochen. China kommt schon nur noch im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsdialog vor. ({11}) Was will uns diese so in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Gewichtung sagen? Was bedeutet es, wenn Menschenrechte für die Koalition im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung offenbar kein Thema sind? Dieses Problem taucht überhaupt nicht auf. Dabei sehen wir in diesen Tagen, welch massives Problem das ist. Warum fehlen zumindest Absichtserklärungen, internationale Menschenrechtsabkommen wie die ILOKonvention 169 zu unterzeichnen oder endlich die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen? Ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam weiterkommen und diese Leerstellen nicht auf Dauer zu Lücken in der Menschenrechtspolitik Deutschlands werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Problemfall ansprechen, der in einem Antrag abgehandelt wird, und zwar zum Thema Usbekistan. Auch hier geht es um eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik unserer Regierung. Das Massaker von Andischan ist uns allen noch präsent ebenso wie die Verweigerung einer unabhängigen Untersuchung zu diesen Vorfällen und die Schauprozesse gegen die Opfer. Ich denke, dass wir alle dies verurteilen und uns dies zutiefst bestürzt hat. Volker Beck ({12}) Die EU hat im Zuge dieser Entwicklung Sanktionen gegen Usbekistan verhängt; das ist richtig. Der deutschen Bundesregierung kommt angesichts des deutschen Bundeswehrstützpunktes in Termes - wir sind die einzigen, die dort einen Stützpunkt unterhalten - eine besondere Verantwortung zu, die Menchenrechtslage in Usbekistan nicht nur kritisch zu beobachten, sondern der usbekischen Regierung gegenüber diese Probleme auch mit Nachdruck anzusprechen und sich für eine unabhängige Untersuchung zu den Vorfällen in Andischan einzusetzen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb reicht die von der Regierungsseite angekündigte „Belebung des Dialogs“ nicht aus. Vielmehr muss mit deutlichen und offenen Worten thematisiert werden, welche Probleme aus unserer Sicht bestehen. Der usbekischen Seite muss klar gemacht werden, dass wir auf einer Verbesserung der Menschenrechtslage bestehen. Ansonsten müssen wir Konsequenzen ziehen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, würden Sie noch eine Zwischenfrage gestatten? ({0}) - Die Wortmeldung erfolgte zum Ende seiner Redezeit; die Frage war angemeldet. Ich wollte ihn nur nicht unterbrechen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beck, ich teile voll, was Sie zum Thema „Massaker in Andischan“ gesagt haben. Ich hätte aber von Ihnen gerne noch einige Worte dazu gehört, was der vorherige Außenminister in dieser Angelegenheit getan hat. Das ist ja schon viele Monate her; Herr Fischer war also noch viele Monate im Amt. Sicher können Sie uns darüber aufklären, was er in dieser Sache unternommen hat.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens bin ich nicht der Pressesprecher des vorherigen Außenministers. Zweitens hat der Außenminister in diesen Fragen die Menschenrechtspolitik immer besonders hervorgehoben. Lassen Sie uns die Debatte doch nicht auf diesem parteipolitischen Niveau führen. ({0}) Mir reicht das, was in dieser Hinsicht bislang von deutscher Seite getan wurde - damit meine ich die Bundesregierung, die ein Verfassungsorgan über alle Wahlperioden ist -, im Ergebnis nicht aus. Angesichts dessen, dass wir dort einen Stützpunkt nutzen, müssen wir uns besonders verantwortlich verhalten. Wir müssen uns klar überlegen, ob wir die Kooperation, die wir dort bislang als einzige haben, aufrechterhalten können oder nicht. Das ist für mich eine Frage, die wir in nächster Zeit klären müssen. Darüber werden wir im Menschenrechtsausschuss diskutieren, vielleicht nicht nur mit dem Auswärtigen Amt, sondern auch mit dem Verteidigungsministerium; denn das ist davon zumindest mit betroffen. Wir müssen sehen, wie wir in dieser Sache weiterkommen und die Instrumente, die wir dazu in der Hand haben, nutzen können, um Druck auf die usbekische Regierung auszuüben. Wenn die Bundesregierung uns hierzu keine Perspektive aufzeigen kann, müssen wir weitere Schritte gehen und möglicherweise auch diskutieren, den dortigen Stützpunkt aufzugeben, weil wir mit einem solchen Land auf Dauer in dieser Form nicht kooperieren können, obwohl es praktisch ist. Praktikabilitätsüberlegungen dürfen die Menschenrechtspolitik jedoch nicht dominieren. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat für die Bundesregierung der Staatsminister im Auswärtigen Amt Gernot Erler das Wort.

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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende 7. Bericht zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung wurde dem Deutschen Bundestag im Juni dieses Jahres vorgelegt und deckt den Zeitraum von April 2002 bis Februar 2005 ab. Das vom Deutschen Bundestag positiv aufgenommene erweiterte Format des 6. Menschenrechtsberichts wurde grundsätzlich beibehalten, wobei der Teil über die thematischen Schwerpunkte der deutschen Menschenrechtspolitik nochmals erweitert wurde. In diesem Kernstück des Berichts werden neben den Entwicklungen und Maßnahmen auf internationaler Ebene auch die von der Bundesregierung in Deutschland im Berichtszeitraum ergriffenen Maßnahmen dargestellt. Thematische Schwerpunkte waren unter anderem das Thema Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung. Dort wird auch die im August letzten Jahres im Auswärtigen Amt durchgeführte Konferenz der Internationalen Juristenkommission zu „Menschenrechtsschutz bei der Terrorismusbekämpfung“ ausführlich dargestellt. Ein weiteres Thema stellten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte dar. Hier finden sich Erläuterungen zu den auf Initiative der Bundesregierung zustande gekommenen „Leitlinien zum Recht auf Ernährung“. Darüber hinaus gibt es das Kapitel zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Hierzu verweise ich auf die große AntiStaatsminister Gernot Erler semitismuskonferenz des Auswärtigen Amtes, bei der die „Berliner Erklärung“ angenommen wurde. Der Bericht beinhaltet einen ausführlichen Länderteil, der Kurzprofile zur Menschenrechtssituation in über 50 Staaten enthält. Wenn Sie das Kapitel über den Sudan gelesen haben, werden Sie wissen, warum wir uns mit dem Sudan vorrangig beschäftigen mussten. Um spontan auf das einzugehen, was der Kollege Beck gerade zum Thema Usbekistan gesagt hat, möchte ich an den Besuch von Staatssekretär Dr. Pflüger vor kurzem in Usbekistan erinnern. In einem Achtpunktekommunique wurde ausdrücklich ausgeführt, dass die Zusammenarbeit mit Usbekistan in Bezug auf die Demokratisierung und die Achtung der Menschenrechte angestrebt wird. Dieser Aspekt ist bei den Verhandlungen keineswegs beiseite geschoben worden. Auf Wunsch des Deutschen Bundestages enthält der 7. Menschenrechtsbericht erstmals einen Aktionsplan Menschenrechte mit Zielvorgaben und Strategien zu wichtigen Aktionsfeldern der Menschenrechtspolitik. Darauf wurde bereits positiv von den Kollegen Strässer und Beck hingewiesen. Ebenfalls auf Wunsch des Deutschen Bundestages hat die Bundesregierung auf eine abschließende Auflistung aller menschenrechtspolitischen Ziele verzichtet und stattdessen Schwerpunkte dargestellt. Zu den Schwerpunkten im Aktionsplan gehören übrigens auch die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen und eine Darstellung des Gender Mainstreaming. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 7. Menschenrechtsbericht gibt in detaillierter Weise Auskunft über das Engagement der rot-grünen Bundesregierung in den Jahren 2002 bis 2005. Die neue Bundesregierung wird dieses Engagement fortsetzen; darauf können Sie sich verlassen. ({1}) Im Koalitionsvertrag vom 11. November dieses Jahres heißt es dazu wörtlich - das will ich jetzt doch einmal vorlesen; es wäre mir besonders angenehm, wenn mir dabei der Kollege Beck sein Ohr leiht, weil er hier eben Zweifel geäußert hat, ob es diese Kontinuität geben wird -: Menschenrechtspolitik ist ein wichtiger Bestandteil unserer Friedens- und Sicherheitspolitik. Systematische Menschenrechtsverletzungen können auch eine Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit sein. Menschenrechte sind unteilbar. Unsere Außen- und Entwicklungspolitik wird nicht schweigen, wenn Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte in Gefahr sind. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen uns bei dieser Verbindung von Menschenrechts- und Friedenspolitik in voller Übereinstimmung mit Kofi Annan, der in seinem visionären Bericht zur Reform der Vereinten Nationen vom März dieses Jahres klargestellt hat, dass Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte sich gegenseitig bedingen. Unser Verständnis von „Einsatz für Menschenrechte“ heißt: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Deshalb haben wir auch großen Respekt vor dem Engagement der Zivilgesellschaft sowohl in unserem Land wie auch in anderen Ländern. Wir wollen ausdrücklich eine enge Kooperation. In diesem Zusammenhang haben wir eben auch eine Druckversion des 7. Menschenrechtsberichtes vorgelegt - mit immerhin 374 Seiten ein wirklich umfassendes Kompendium. Wir hoffen, dass das zu der guten Zusammenarbeit mit den Aktivisten der Zivilgesellschaft beitragen wird. Wir werden uns auch weiterhin anstrengen, Defizite im Menschenrechtsbereich bilateral anzusprechen. Dazu werden wir natürlich auch die multilateralen Institutionen nutzen, ganz besonders die EU - als wichtigster Rahmen für uns - und das Forum der Vereinten Nationen. Wir setzen uns besonders für eine Stärkung des Menschenrechtsschutzsystems der Vereinten Nationen ein. Aktuell geht es hierbei um die Ablösung der Menschenrechtskommission, die bisher gearbeitet hat, durch den Menschenrechtsrat, von dem wir uns versprechen, dass er ein schnelleres und wirkungsvolleres Vorgehen gegen schwere Menschenrechtsverletzungen ermöglichen wird. ({3}) Ich möchte dabei ausdrücklich betonen - auch im Hinblick auf einige Tagesmeldungen von heute -, dass der Wechsel von der Menschenrechtskommission zu einem Menschenrechtsrat auf keinen Fall ein Minus an Einwirkungsmöglichkeiten bringen darf; es muss zu einem Mehr kommen. Das ist auch wichtiger als die Einhaltung von bestimmten Zeitvorgaben. ({4}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Gegenstand dieser Beratung ist auch ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen des Deutschen Bundestages unter der Überschrift „Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung“. Anlass dazu sind die wiederholten menschenrechtswidrigen und menschenverachtenden Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad, die das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen, die den Holocaust in provozierender Weise leugnen und damit das tragische Schicksal von Millionen von Menschen regelrecht verhöhnen. Die Bundesregierung verurteilt diese Äußerungen auf das Schärfste. ({5}) Für uns bleibt das bedingungslose Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel einer der Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik. Die Bundesregierung bekennt sich vorbehaltlos zu dem Recht der Bürgerinnen und Bürger Israels, in sicheren Grenzen in Frieden mit ihren Nachbarn und frei von Angst vor Terror und Gewalt zu leben. ({6}) Gemeinsam mit ihren europäischen Partnern ruft die Bundesregierung Iran dazu auf, sich dem internationalen Konsens im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung des Nahostkonflikts anzuschließen, die Bemühungen um Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn zu unterstützen und seine Unterstützung von Gruppierungen, die Gewalt ausüben oder dazu aufrufen, umgehend zu beenden. Ich danke Ihnen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Burkhardt MüllerSönksen, FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister Erler, ich darf Ihnen für Ihren Bericht sehr herzlich danken und Ihnen für Ihren zukünftigen Einsatz für die Menschenrechte die Unterstützung der Oppositionsfraktion der FDP zusagen. Wir werden Sie immer konstruktiv unterstützen, insbesondere wenn es um Zielkonflikte mit anderen Ressorts, beispielsweise mit dem Wirtschaftsministerium oder dem Innenministerium, gehen sollte. Wir wünschen Ihnen von dieser Stelle alles Gute und hoffen auf eine gute Zusammenarbeit. ({0}) An die Kollegen Beck und Leutert gerichtet möchte ich feststellen, dass ich von Ihnen - wir Liberale denken: zu Recht - zwar Bemerkungen über die Wertegemeinsamkeiten mit den Vereinigten Staaten und die aktuellen Vorkommnisse gehört habe; auch wir prangern die dortigen Vorgänge an. Aber interessant ist, was Sie in Ihren Redebeiträgen nicht erwähnt haben: die derzeitigen Menschenrechtsverletzungen in Russland. Das scheint bereits ein kleiner Teil eines linken Schaulaufens zu sein. Denn auch dieses Thema gehört in eine Rede, wenn wir in diesem Hause über die Menschenrechte sprechen. ({1}) Gemeinsam tragen wir Abgeordnete nicht nur für unser Land und unsere Mitbürger Verantwortung. Jedes Mitglied dieses Hauses trägt auch Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte in Deutschland und in der ganzen Welt. Solange es für diesen Bereich keinen eigenen Bundesminister gibt und sich kein eigenständiges Ministerium zuständig fühlt, haben wir, das Parlament, als erste Gewalt eine ganz besondere Verantwortung. Mit dem Menschenrechtsausschuss haben wir ein geeignetes Gremium gefunden, um dieser Querschnittsaufgabe gerecht zu werden. Angesichts der besonderen Verantwortung für dieses Spezialthema und der Unterstützung durch verschiedene Ressorts freue ich mich als neuer Abgeordneter, die parlamentarische Arbeit im Menschenrechtsausschuss betreuen zu dürfen. ({2}) Die Menschenrechte werden in allen Teilen der Erde verletzt, leider praktisch ohne Ausnahme. Das müssen wir im Rahmen unserer Menschenrechtspolitik weltweit thematisieren und hier Verbesserungen einfordern. Dabei dürfen keine Doppelstandards angewandt werden. Das habe ich gemeint, als ich die Reden der Kollegen moniert habe: Sie können keine Forderungen aufstellen, die für die Vereinigten Staaten von Amerika gelten sollen, gleichzeitig aber andere Menschenrechtsverletzungen einfach außer Acht lassen. Das ist bereits der Anfang von Doppelstandards, die wir Liberale ablehnen. ({3}) Menschenrechte sind nicht verkäuflich. Sie sind unverkäuflich. Auch für politisch befreundete Länder darf es keinen Rabatt geben. An jedes Land der Erde muss ein und derselbe Maßstab angelegt werden. Die letzte Bundesregierung hat das im Umgang mit wichtigen Partnern leider nicht immer beherzigt. Von der neuen Bundesregierung werden wir das aus der Opposition heraus mit Nachdruck einfordern. Das gilt insbesondere für die wichtigen Partnerländer Deutschlands auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Ich schließe mich Ihrer Kritik an der Menschenrechtsverletzung der Vereinigten Staaten ausdrücklich an, werde dieses Thema aber nicht noch einmal aufgreifen. Die heute Situation der Menschenrechte in Russland ist bedenklich. Als Stichpunkte nenne ich nur die massive Beschränkung bzw. Beeinträchtigung der Pressefreiheit, die rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahren gegen Oligarchen, die Beschneidung der Rechte der parlamentarischen und der außerparlamentarischen Opposition und die dauernden schlimmen Menschenrechtsverletzungen durch russische Sicherheitsorgane in Tschetschenien. Hinzu kommt das nun drohende Gesetz zur Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten von in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen. Auch an dieser Stelle schließe ich mich im Namen der Liberalen den Ausführungen der Kollegen von der SPD an: Als Parlamentarier sind wir auf die Nichtregierungsorganisationen, die Non-Governmental Organizations, elementar angewiesen. Das bedeutet auch: Diese Organisationen müssen mit unserem Schutz und mit unserer Hilfe weltweit völlig diskriminierungsfrei agieren können. Sie sind die Sensoren, mit denen wir hier im Hause im Vorfeld arbeiten können. Deswegen müssen wir uns um sie kümmern und sie besonders betreuen. ({4}) Ich denke, wir haben einen Antrag zu Usbekistan eingebracht, der zustimmungsfähig ist. Dass der ehemalige Außenminister heute bei dieser Debatte nicht da ist und dass er auch sonst nicht viel dazu beigetragen hat, dass dieser Antrag überflüssig geworden ist, brauche ich nicht weiter zu betonen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Wir gratulieren herzlich dazu und wünschen Ihnen alles Gute! ({0}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Leutert. ({1})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Müller-Sönksen, ich möchte darauf hinweisen - Sie können es gern nachlesen -, dass ich in meiner Rede ausdrücklich China und Russland genannt habe, und zwar als ich gefragt habe: Wie wollen wir ernsthaft und glaubwürdig auf internationaler Ebene einen Dialog über die Menschenrechte führen - explizit mit China und Russland -, wenn wir uns selber an bestimmte Dinge nicht halten? Meine Fraktion ist der Auffassung, die Menschenrechte sind universell und unteilbar. Sie müssen in jedem Land gelten: in Russland wie in China, hier bei uns in Deutschland und genauso in den USA. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Müller-Sönksen, wollen Sie darauf reagieren? Nein. Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Menschenrechtsdebatte ist ja traditionell eine, in der eher überparteilich gesprochen wird. Ich bin eigentlich auch froh, dass das so ist; aber ich erlaube mir, weil es nun einmal so gekommen ist, wie es gekommen ist, schon noch ein paar Worte zu dem, was der Kollege Beck und der Kollege Leutert gesagt haben. Herr Kollege Beck, ich bin immer wieder fasziniert, mit welcher Geschwindigkeit sich die Grünen aus der Regierungsverantwortung verabschiedet haben. ({0}) Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung trägt das Datum 17. Juni 2005; da war, wenn ich es richtig sehe, Herr Fischer noch Außenminister. ({1}) - Ich komme gleich darauf. Es ist gesagt worden, dass in Sachen Usbekistan zu wenig getan worden ist. Einverstanden. Aber ich weise noch einmal darauf hin: Er war Ihr Außenminister; bei ihm hätten Sie Druck machen können. Nun sind sowohl der Kollege Beck als auch der Kollege Leutert Mitglied des Menschenrechtsausschusses. Damit werden Sie sicher die Gelegenheit bekommen, mit nach Genf zur Menschenrechtskommission zu reisen. Ich lade Sie ein, mit viel Freude - wie das der Kollege Strässer, die Kollegin Graf oder auch die Kollegin Nickels, die jetzt nicht mehr mit dabei ist, und der Kollege Funke von der FDP und ich getan haben - das Gespräch mit der amerikanischen Delegation zu suchen, das Gespräch mit der chinesischen Delegation zu suchen, das Gespräch mit der russischen Delegation zu suchen. Wenn wir alle so gut sind, wie wir immer behaupten, dann werden wir gemeinsam etwas erreichen; das wäre ein konstruktiver Beitrag zu dieser Debatte. ({2}) Ansonsten diskutieren wir im Zusammenhang mit dem Tag der Menschenrechte wieder darüber, was sich in Bezug auf die Menschenrechte in den letzten Jahren ereignet hat. Ich will an dieser Stelle für meine Fraktion deutlich machen: Folter kann niemals und nirgendwo ein Mittel von Politik und schon gar nicht von rechtsstaatlichem Handeln sein. Das gilt für Deutschland und für den Rest der Welt. ({3}) Wenn deutsche Behörden oder auch ausländische Behörden in dieser Hinsicht etwas falsch gemacht haben, dann muss das geklärt werden, dann müssen wir in aller Ruhe darüber reden. Aber das machen wir dann, wenn die Fakten auf dem Tisch liegen, und nicht jetzt, wo wir nur Halbwissen und Vermutungen haben. Nur so können wir vernünftig Aufklärungsarbeit leisten und so etwas für die Zukunft verhindern. ({4}) Es gibt einige Themen, die uns in diesem Jahr bewegt haben und die uns schon seit vielen Jahren bewegen - eines hat Staatsminister Erler schon angesprochen -, zum Beispiel die UN-Reform. Ich bin noch vor wenigen Wochen ein gutes Stück optimistischer gewesen, als ich es heute bin. Ich sage Ihnen auch, warum: Im Grunde genommen läuft es jetzt darauf hinaus, dass die Menschenrechtskommission - vielleicht 2006, auf jeden Fall aber 2007 - von einem Menschenrechtsrat abgelöst wird. Doch was ist das für ein Rat, der da eingerichtet wird? Wenn das nur die Menschenrechtskommission unter neuem Namen ist, haben wir dadurch nichts gewonnen; dann werden wir immer wieder nur die gleichen Blockaden bekommen, wie wir sie schon die ganzen Jahre hatten, und immer wieder die gleichen Probleme. Es muss also etwas Substanzielles verändert werden. Deswegen ist richtig: Hier geht Sorgfalt vor Eile. Dabei müssen wir die Bundesregierung, die übrigens eine Position übernimmt, die die CDU/CSU-Fraktion Anfang des Jahres schon einmal in einem Antrag dokumentiert hat ({5}) - der Antrag der SPD sah ein bisschen anders aus! -, in dieser Angelegenheit nachhaltig und mit Kräften unterstützen. Das ist ganz wichtig. Im Rahmen der Reformdebatte kann man nämlich deutlich erkennen, wo das eigentliche Problem liegt. Das eigentliche Problem liegt tiefer: Es sind nicht nur die Bremserländer, sozusagen die großen Bösen, die sowohl bei der jetzigen MRK als auch bei der Reform auf die Bremse treten und sagen: Das alles wollen wir so nicht haben. Auch die Länder, die uns durchaus wohl gesonnen sind und die bei den Menschenrechten etwas erreichen wollen, sagen inzwischen, dass das Ganze langsam, aber sicher zu einer Veranstaltung wird, bei der die westlichen Industriestaaten gegen den Rest der Welt einen Block bilden und umgekehrt. Es kann nicht im Sinne der allgemeinen Förderung der Menschenrechte sein, wenn wir nicht mehr die Möglichkeit haben, klar in den Grundsätzen, aber flexibel und vernünftig hinsichtlich der Umsetzung zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das ist symptomatisch für das internationale Klima, das momentan herrscht, wenn es um Menschenrechte geht. Es ist eine Moraldebatte geworden. Eine solche darf es aber nicht geben; sonst werden wir auf diesem Gebiet niemals vernünftige internationale Mechanismen bekommen. Ich will auf einige weitere Punkte hinweisen, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind. Diese kann man nicht nur an der Reformdebatte festmachen, sondern auch an einem ganz anderen Thema. Vor wenigen Wochen ist der Weltinformationsgipfel in Tunis zu Ende gegangen. Dass man sich ausgerechnet in einem Staat, der die Presse- und Meinungsfreiheit aufs Äußerste einschränkt, zusammengefunden hat, um die Presse- und Meinungsfreiheit hochzuhalten, kann man so oder so bewerten. Dort ging es insbesondere um die Frage der Zukunft des Internets. Man hat sich aber nicht nur mit Fragen der Kontrolle beschäftigt, sondern auch damit, wie wir es schaffen können, dass Menschen in Entwicklungsländern Zugang zum Internet bekommen. Weiteres Thema war die Presse- und Meinungsfreiheit im Internet. Ich glaube, das Ergebnis fällt ambivalent aus: Bei der Frage, wie man das Internet kontrolliert, ist man ein gutes Stück vorangekommen; dazu wurde sicherlich etwas erreicht. Auch bei der Frage, wie wir erreichen können, dass mehr Menschen aus Entwicklungsländern die Möglichkeit zum Zugang zu digitalen Medien haben, ist ein Anfang gemacht worden. Enttäuscht hat mich auf der anderen Seite, dass es nicht möglich war, klare Worte dazu zu finden, dass sehr viele Staaten, egal ob in Europa, in Asien, im Nahen Osten oder in Afrika, Presse- und Meinungsfreiheit einschränken, und zwar auch im Internet, und auf das Schlimmste zensieren. Tunesien ist ein Beispiel dafür. Ich bin froh, dass es gelungen ist, am Rande des Gipfels einiges anzusprechen. In der Gipfelerklärung hätte ich mir deutlichere Worte vorstellen können. ({6}) Ein weiterer Bereich ist für mich in ganz besonderem Maße wichtig, wenn wir über die UN reden. Es gibt einen Antrag der FDP zu der Frage, ob bei UN-Friedensmissionen Menschenrechtsbeobachter zugelassen werden sollen. Dieser Antrag wurde in der letzten Legislaturperiode eingebracht, fiel aber wegen der vorgezogenen Bundestagswahl der Diskontinuität anheim und konnte nicht mehr verabschiedet werden. Mich interessiert übrigens, warum Sie den Antrag mit dem ursprünglichen Text eingebracht haben und nicht die Fassung, auf die wir uns schon geeinigt hatten. Das sei aber nur am Rande bemerkt. Sicherlich werden wir zu einer vernünftigen Lösung kommen. ({7}) Richtig ist: Es ist ganz wichtig, dass man die Möglichkeit hat, schon vorher durch Beschluss Menschenrechtsbeobachter hinzuzuziehen. Das, was wir vorhin über AMIS gehört und beschlossen haben, kann stilbildend sein. Die Europäische Union und Deutschland sind daran beteiligt. Wir können, ohne dass wir einen formellen Beschluss haben, die Möglichkeit finden, dort mitzuhelfen. Meine Damen und Herren, ich hätte in dieser Debatte gerne noch einige Punkte mehr angesprochen. Mit Blick auf meine Redezeit kann ich diese aber nicht mehr anbringen. Abschließend will ich nur noch Folgendes sagen: Ich hoffe, dass wir den hehren Vorsatz zu den Menschenrechten, den wir in der Koalitionsvereinbarung formuliert haben - er ist schon erwähnt worden -, gemeinsam über die gesamte Breite der Fraktionen dieses Hauses in die Wirklichkeit umsetzen werden. Ihnen allen ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr! Danke sehr. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist gut - die Diskussion hat das ja auch gezeigt -, dass wir uns heute ausführlicher mit Menschenrechtsfragen beschäftigen und auseinander setzen. Die Diskussion hat deutlich gemacht, dass wir uns über die Parteigrenzen hinweg in ganz vielen Punkten einig sind. Diese Gemeinsamkeit sollten wir bitte nicht untergehen lassen, auch dann nicht, wenn wir die Schwerpunkte fraktions- oder parteibedingt möglicherweise anders setzen. Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass es eine Reihe von Problemen gibt, mit denen wir uns im Ausschuss und dann auch im Plenum beschäftigen müssen. Diese Punkte haben natürlich auch mit der deutschen Politik - mit der Innenpolitik ebenso wie mit der Außenpolitik - zu tun. Den Anlass unserer jährlichen Debatte zu diesem Zeitpunkt möchte ich gerne noch einmal erwähnen. Das ist nämlich der Tag der Menschenrechte. Es ist gut, dass es ihn gibt. Er soll uns daran erinnern, dass eigentlich jedes Land darauf achten muss, dass die Verpflichtungen, die es zum Schutz der Menschenrechte eingegangen ist, in der Praxis auch im Einzelnen erfüllt werden. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das darf, möchte ich im Namen des ganzen Bundestages sagen: Es ist ein guter Anlass, den vielen tausenden Menschen - hauptsächlich jungen Menschen - zu danken, die sich bei uns und international für Menschenrechte in der Praxis einsetzen. ({1}) Das sind Menschenrechtsgruppierungen kirchlicher und nichtkirchlicher Art. Sie bringen sich dabei durchaus in Gefahr - nicht bei uns, aber in anderen Ländern. Wir wissen ganz genau: Ohne deren Arbeit könnten wir nicht so deutlich machen, dass wir etwas zur Erhaltung und Verbesserung der Menschenrechtssituation tun. Deswegen sollten wir ihnen hier danken. Ich möchte auch sehr deutlich sagen, dass wir unsere Zusammenarbeit gerade mit diesen Organisationen der Zivilgesellschaft sehr gerne intensivieren. ({2}) Herr Staatsminister, zum Menschenrechtsbericht ist viel gesagt worden. Ich bedanke mich ebenfalls dafür. Ich glaube, das ist ein guter Bericht. Man kann nicht alle Berichte lesen; aber es lohnt sich, diesen zu lesen. ({3}) Wenn also der eine oder die andere über Weihnachten noch ein wenig Zeit hat, dann empfehle ich, dort hineinzuschauen. Dieser Bericht ist eine wirklich außerordentlich gute Grundlage für die Menschenrechtsarbeit in allen Bereichen. Ich bin deswegen auch sehr dankbar, dass Sie ihn in einer solchen Breite veröffentlichen und streuen, Herr Staatsminister. Er hilft uns bei der Arbeit im Bundestag sehr. In ihm werden die Schwerpunkte benannt. Ich denke, die Auswahl der Brennpunkte, auf die in ihm mit dem Finger gedeutet wird - die Finger werden in die jeweiligen Wunden gelegt -, ist korrekt. Herr Toncar, es ist wichtig, dass wir hier diese Gemeinsamkeit haben und dass wir diese Brennpunkte deutlich benennen. Nicht richtig ist, wenn man meint, das sei sozusagen das Vorrecht der Opposition. Der Menschenrechtsbericht und auch unsere Arbeit zeigen, dass wir uns in dieser Frage einig sind. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich bin der Meinung, dass wir nicht nur die Finger in die Wunden legen sollten; wir sollten vielmehr auch die Bewegung erkennen, wo es sie gibt. Wir müssen die Bewegung würdigen, weil uns das die Möglichkeit bietet, sie an der Stelle, an der es sie gibt, zu unterstützen. ({4}) Wir tun das alles keineswegs in dem Verständnis, dass wir Recht und die anderen Unrecht haben. Das ist ausdrücklich nicht unsere Haltung. Im Rahmen unserer Menschenrechtsarbeit arbeiten wir mit allen Ländern daran, eine Rechtsordnung und Weltordnung mitzugestalten, wie wir sie in der zunehmenden Vernetzung im 21. Jahrhundert natürlich ganz dringend brauchen. Das ist unsere Motivation. Ich freue mich sehr, dass wir sie gemeinsam haben, das heißt, dass wir hier eine Einigkeit des Deutschen Bundestages feststellen können. Lassen Sie mich jetzt noch auf die aktuellen Punkte zurückkommen, die uns in diesen Tagen richtig bedrängt haben. Es geht dabei ja nicht nur um Aufklärung; das ist nur einer der Punkte. Es geht auch um die Frage, welche Gewissheiten wir für die Zukunft eigentlich haben. Ich möchte gerne sagen, dass dieser unglaublich winkeladvokatorisch anmutende Streit um die Folterdefinition endlich beendet werden muss. Das ist unwürdig und unmöglich. ({5}) Frau Steinbach, ich hoffe, dass wir durch die eindrucksvolle Diskussion in den Vereinigten Staaten die Möglichkeit haben, zu sagen, dass es dort einen Schritt nach vorne gibt. Wir werden auch die Argumente der Skeptiker zur Kenntnis nehmen und bei der Debatte berücksichtigen. Aber das Ziel, dass dieser Streit aufhören muss, dass kein einzelnes Land und schon gar kein Geheimdienst definieren kann, was Folter ist, wie weit sie reicht und gegenüber wem sie hilft, eint uns. Es gibt, wie Sie alle wissen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie gilt als eine der Grundlagen des Völkerrechts überall. Es gibt die sehr deutliche Antifolterkonvention. Es gibt die Rechtsprechung der internationalen Gerichte, die Formulierungen im Römischen Statut. Auch der Internationale Strafgerichtshof wird hier noch weitermachen, sodass wir uns nicht auf die unwürdige Diskussion einlassen sollten: Ist nun „water boarding“ grausam und unwürdig oder nicht? Natürlich ist es das. All das, was Menschen in Angst und Schrecken versetzt oder ihnen Schmerzen zufügt, ist verboten. ({6}) Selbstverständlich gehört zu diesem klaren Ziel, dass der Streit beendet werden muss. Dazu gehört auch, dass dies nicht nur offizielle Personen betrifft, die von Staaten beauftragt wurden, Verhöre vorzunehmen; das Folterverbot gilt vielmehr auch gegenüber Privaten, Drittstaaten und Outgesourcten in jeder Form, die man sich ausdenken kann. Dies bedeutet das Wort „absolut“. Daran halten wir fest. Wir werden uns damit ganz sicher weiterhin beschäftigen. Ein weiterer Punkt wird natürlich die Frage sein: Wie ist das mit der Verwendung von erpressten oder unter Folter gewonnenen Informationen? Auch das macht uns Sorgen. Ich teile die Auffassung, dass dies kein Problem der deutschen Ermittler ist. Ich bin aber der Meinung, wir werden uns damit auseinander setzen müssen, um auch hier unser Ziel ganz klar und deutlich zu machen: Wir sagen Ja zur rechtsstaatlichen Bekämpfung des Terrorismus und zur rechtsstaatlichen Zusammenarbeit der Dienste; aber in diesem Zusammenhang ein Augenzwinkern zuzulassen - um ein Wort des neuen Innenministers aufzugreifen -, lehnen wir ab, weil uns das in all dem, was wir tun und sagen, ausgesprochen unglaubwürdig macht. ({7}) Über all diese Dinge wollen wir nicht mehr diskutieren. Aber es ist abzusehen, dass wir die Argumente noch brauchen. Ich teile die Auffassung des Kollegen Haibach zur Umwandlung der Menschenrechtskommission in einen Menschenrechtsrat. Ich teile auch die Auffassung zur frühzeitigen Entsendung der Menschenrechtsbeauftragten. Aber Sie wissen vielleicht nicht, dass dies in der Sache ein abgesprochener Antrag war. Deswegen wird uns die Zustimmung nicht besonders schwer fallen. Lassen Sie mich noch einmal sagen: Es geht auch darum, dass wir jetzt unsere Aufgaben erfüllen. Das ist schon im Zusammenhang mit dem Zusatzprotokoll zur Antifolterkonvention angesprochen worden. Hier sollten Bund und Länder, zumal es hier keine inhaltlichen Differenzen gibt, endlich zum Ende kommen. Das sollten wir wirklich angehen. Ein anderer Punkt ist das 14. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Es ist klar, worum es geht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof genießt überall in den 46 Staaten des Europarats großes Vertrauen. Das schlägt sich in den unglaublich vielen Klagen nieder, die das Gericht zu ersticken drohen. Hier muss man dem Gericht die Möglichkeit geben, Abhilfe zu schaffen. Ich glaube, der vorgeschlagene Weg ist dafür geeignet. Sie sehen, wir haben eine Menge zu tun. Ich freue mich darüber, dass wir das in einem konstruktiven Geist machen können. Ich bedanke mich ausdrücklich für die Kontinuität in der Menschenrechtspolitik und für den Bericht der Bundesregierung. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Lintner, CDU/ CSU-Fraktion.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 14. Zusatzprotokoll, das meine Vorrednerin angesprochen hat, wird Gegenstand meiner Rede sein. Diesen Punkt möchte ich gerne detaillierter erörtern. Die sehr technische Bezeichnung in der Tagesordnung täuscht über die Bedeutung dieses Vorgangs hinweg; denn immerhin handelt es sich um einen Sachverhalt, der potenziell 800 Millionen Menschen in 46 europäischen Staaten angeht und betrifft. Sie sind aufgrund des Verfahrens, das nun geändert wird, berechtigt, den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anzurufen. Der Gerichtshof leidet unter der Flut ihm vorliegender Klagen. Dazu nur ein paar Zahlen, damit die Dimension klar wird: Allein im Jahr 2003 sind mehr als 38 500 neue Fälle beim Gerichtshof eingegangen. 2004 waren es schon fast 45 000 neue Klagen. Inzwischen hat sich ein Rückstau von etwa 80 000 Verfahren gebildet, weil der Gerichtshof beispielsweise im Jahr 2004 nur 32 300 Verfahren bearbeiten konnte. Dass wir an dieser Stelle mehr Effizienz erreichen, ist von entscheidender Bedeutung für einen wirksamen und ernstzunehmenden Rechtsschutz und für die Wahrnehmung dieser elementaren Rechte. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass ohne einen solchen Rechtsschutz vieles nur auf dem Papier steht und in der Praxis nicht eingeklagt oder durchgesetzt werden kann. Lassen Sie mich kurz die Änderungen im Einzelnen vorstellen. Zum Beispiel wird es künftig möglich sein, dass Einzelrichter über die Zulässigkeit von Klagen entscheiden. Außerdem muss der Beschwerdeführer einen erheblichen Nachteil plausibel machen - es reicht also nicht aus, nur einen Rechtsstandpunkt durchzufechten und es darf noch keine gefestigte Rechtsprechung in der Sache geben. Nur wenn diese Anforderungen erfüllt sind, ist die Klage zulässig. Schon heute erweisen sich rund 80 Prozent der eingehenden Klagen als unzulässig. Dieser Prozentsatz wird sich künftig noch weiter erhöhen. Des Weiteren werden die Möglichkeiten zur Durchsetzung solcher Urteile erweitert. Dieses Thema beschäftigt uns im Europarat - ich war selbst Vorsitzender des Rechtsausschusses - immer wieder. Künftig kann der Ministerrat mit Zweidrittelmehrheit bei der Großen Kammer des Gerichtshofs ein so genanntes Nichtbefolgungsverfahren einleiten. Die damit verbundene Öffentlichkeitswirkung und die denkbaren Sanktionen, beispielsweise hinsichtlich der Mitgliedschaft im Europarat, dürften als Druckmittel ausreichen, um auch hartnäckige Verweigerer zum Einhalten zu bewegen. Wir haben damit unsere Erfahrungen gemacht. Es ist erstaunlich, welches Gehör solche Voten und Urteile des Europarats finden. Nicht unwichtig ist eine Bestimmung, durch die die Amtszeit der Richter zwar auf neun Jahre verlängert, aber eine Wiederwahl ausgeschlossen wird. Es hat sich nämlich immer wieder gezeigt, dass vor der Wiederwahl eine Art Wahlkampf hinter den Kulissen inszeniert worden ist. Das entspricht jedoch nicht der Würde eines solchen Gerichts. Wichtig ist auch, dass alle Überlegungen, die in den Beratungen darüber angestellt worden sind, den Zugang von Individualklagen zu erschweren, letztlich nicht weiterverfolgt wurden. Denn die materielle Einschränkung des Klagerechts wäre für die vielen Bürger, die in ihren Heimatländern noch nicht auf einen adäquaten Grundrechtsschutz durch Gerichte zählen können, ein völlig falsches Signal gewesen. Bei den Staaten selbst - das haben unsere Erfahrungen gezeigt - hätte es zu dem fatalen Fehlschluss kommen können, dass uns der Schutz der Menschenrechte nicht mehr ganz so wichtig sei, wie dies bisher der Fall war. Diese beiden falschen Signale sollten vermieden werden. ({0}) Die Verfahrensänderungen sind insofern kein reines Prozessrecht; sie sind letztlich notwendig, um die geschützten Rechte in der Substanz zu verteidigen und ihre Realisierung zu ermöglichen. Die entsprechenden Konventionen sind bereits erwähnt worden. Wir sorgen mit unserer Zustimmung zu dem Gesetzentwurf zum Protokoll Nr. 14 - das sollten wir uns bewusst machen - konkret und wirksam für einen effizienteren Schutz dieser Rechte. Insofern ist heute ein wichtiger Tag für die Geschichte der Menschenrechte. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5800, 16/42, 16/225 und 16/226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zusatzpunkt 10: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/197 mit dem Titel „Existenzrecht Israels ist deutsche Verpflichtung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. ({0}) Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Volker Beck ({1}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überwachung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst - Drucksache 16/85 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Christian Ströbele das Wort. ({3})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute, kurz vor Weihnachten, noch einmal eine Geheimdienstaktion als Thema einer Plenardebatte, nachdem wir uns in den letzten Tagen vor allen Dingen mit ausländischen Geheimdiensten intensiv befasst haben. Vor etwa zwei Wochen kam eine Kollegin aus dem Bundestag zu mir und erzählte, sie habe in einem wichtigen Fall aus ihrem Wahlkreis Kontakt mit einem bekannten Journalisten. Sie fragte mich anschließend ganz geheimnisvoll, ob ich ihr zuverlässig sagen könne, ob dieser Journalist vom deutschen Geheimdienst beobachtet werde oder sogar auf der Gehaltsliste eines deutschen Geheimdienstes stehe. Dieses Beispiel zeigt, dass es bei der Diskussion über die Beobachtung von Journalisten durch einen deutschen Geheimdienst nicht nur darum geht, dass vielleicht die Grundrechte einzelner Journalisten verletzt worden sind, dass in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen worden ist, sondern um sehr viel mehr, nämlich um die allgemeine Frage, inwieweit das Vertrauen der Bevölkerung in den unabhängigen Journalismus und damit in die Pressefreiheit infrage gestellt ist. Das ist das grundsätzliche Thema, das wir hier behandeln, unabhängig davon, dass wir uns natürlich auch darum kümmern, wenn die Rechte einzelner Journalisten verletzt sind. Wenn dem so ist und wir wissen, wie wichtig ein unabhängiger, insbesondere ein investigativer Journalismus ist, das heißt ein Journalismus, der bei seinen Recherchen auf Informationen aus der Bevölkerung und ihr Vertrauen angewiesen ist, und dass gerade ein solcher Journalismus konstitutiv für die Pressefreiheit und unsere Demokratie ist, dann müssen wir allen Gefährdungen der Pressefreiheit und insbesondere dieses Journalismus entschieden entgegentreten, wo immer es notwendig ist. ({0}) Das ist kein theoretischer Fall, über den wir hier diskutieren. Vielmehr hat das Misstrauen der Kollegin aus dem Bundestag - wie weit wird das dann erst in der Bevölkerung verbreitet sein? - eine tatsächliche Grundlage. Es gibt Meldungen, dass Anfang der 90er-Jahre - möglicherweise auch sehr viel später - in Deutschland Journalisten von einem deutschen Nachrichtendienst observiert worden sind, und zwar bis weit in ihren privaten Bereich, und dass darüber hinaus - möglicherweise sogar bekannte - Journalisten auf den Gehaltslisten deutscher Geheimdienste stehen. Hier ist Misstrauen angebracht. Wenn wir aber das Vertrauen der Bevölkerung wiederherstellen wollen, dann müssen wir alle Fakten auf den Tisch legen, und zwar nicht nur in einem geheim tagenden parlamentarischen Gremium, sondern in der Öffentlichkeit, hier im Deutschen Bundestag. Ich hoffe, dass sich dann, wenn die Recherchen dazu abgeschlossen sind, Herr Hanning, der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes und heutige Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, hierhin stellt, die Fakten auf den Tisch legt, sich bei den Journalisten entschuldigt, die davon betroffen waren und darunter gelitten haben, ({1}) und damit der Öffentlichkeit kundtut, erstens dass wir so etwas nicht dulden, zweitens dass solche Sachen immer herauskommen und drittens dass solche Aktionen Konsequenzen haben. ({2}) Nur auf diese Art und Weise können wir das Vertrauen wiederherstellen. Wir müssen uns darüber hinaus weitere Schlussfolgerungen überlegen: Wie können die Bundesregierung und das Parlament in Zukunft sicherstellen, dass Journalisten in Deutschland nicht observiert werden und nicht auf die Gehaltslisten von Geheimdiensten kommen? Wie kann man da gesetzgeberisch und kontrollierend tätig werden? Ich will mit einem letzten, ganz kurzen Beispiel enden. Einer der betroffenen Journalisten hat mich, als er vor wenigen Tagen um ein Gespräch mit mir gebeten hatte, angerufen und gefragt, wo wir das Gespräch führen könnten. Er hat darum gebeten, mich hier im Deutschen Bundestag aufsuchen zu können und hier das Gespräch zu führen, weil er nicht sicher sei, ob er nicht observiert werde, wenn wir das Gespräch außerhalb der Gebäude des Deutschen Bundestages führten. Er sagte, er hätte es nicht so gerne, wenn er mit dem Abgeordneten Ströbele abgelichtet würde. Auch daraus wird deutlich, welche Gefahren alleine in der Observation bestehen. Abgeordnete könnten daran gehindert werden, dass sie von Skandalen Kenntnis erlangen. Wir sollten deshalb eine Idee des ehemaligen SPD-Abgeordneten Neumann aufgreifen und ein Recht der Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes schaffen,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben weit überzogen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- letzter Satz - sich direkt an die Abgeordneten, die im PKGr sind, zu wenden, weil es nicht sein kann, dass das nur über Journalisten läuft. Sie müssen zu Abgeordneten kommen und diese über solche Skandale aufklären können, damit diese rechtzeitig dafür sorgen können, dass solche in Zukunft verhindert werden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ströbele, es hat Fehlentwicklungen gegeben, über die wir aus Anlass Ihres Antrages reden werden. Aber ich finde, Sie sollten es jetzt nicht übertreiben. Wir sollten nicht gegenüber der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als ob Journalisten reihenweise auf den Gehaltslisten des BND oder des Verfassungsschutzes stünden. ({0}) Das ist auch eine Unterstellung den Journalisten gegenüber. Ich habe den Eindruck, dass investigativ arbeitende Journalisten sehr wohl wissen, wie sie ihr Verhältnis zu den Geheimdiensten zu definieren haben, und dass sie sich nicht mit Geheimdiensten gemein machen. Man sollte nicht mit solchen Unterstellungen arbeiten. Nach meinem Eindruck ist bei der übergroßen Mehrheit der Journalisten in unserem Land die Gefahr, dass die Unabhängigkeit verloren gehen würde, wirklich nicht gegeben; vielmehr macht die große Zahl der Journalisten einen guten Job. Das sollte man nicht infrage stellen. ({1}) Ich finde, dass diese Debatte überhaupt keinen Anlass für einen parteipolitischen Schlagabtausch bietet. Das Parlamentarische Kontrollgremium hat einvernehmlich festgestellt, dass der BND bei seiner Vorgehensweise gegen einzelne Journalisten teilweise die ihm eingeräumten Befugnisse überschritten hat. Das PKGr hat einen Sachverständigen mit der weiteren Untersuchung der Angelegenheit beauftragt. Überwachungsmaßnahmen gegen Journalisten, Herr Kollege Ströbele - das sollten Sie zur Kenntnis nehmen -, gab es nicht nur in den 90er-Jahren, sondern es gab sie bis ins Jahr 2003 unter der Verantwortung von Rot-Grün. Da sollte jeder vor seiner eigenen Haustür kehren. ({2}) Ich finde, dieser Fall bietet Anlass zu einem grundsätzlichen Nachdenken über das Verhältnis von Presse einerseits und Justizbehörden oder Nachrichtendiensten andererseits. Ob es die „Cicero“-Affäre war, in der Redaktions- und Privaträume durchsucht und Material beschlagnahmt wurde, das ersichtlich mit dem eigentlichen Ermittlungsverfahren nichts zu tun hatte, oder die Observation von Journalisten durch Mitarbeiter des BND: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist beim Kampf gegen undichte Stellen in den Sicherheitsbehörden von den Verantwortlichen nicht immer hinreichend beachtet worden. ({3}) Es ist daran zu erinnern - man soll seine eigene berufliche Erfahrung in die Arbeit des Bundestags einbringen -: Das Grundrecht der Pressefreiheit ist nicht irgendein Verfassungsgrundrecht. ({4}) Dieser Verfassungsgrundsatz ist für unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung schlechthin konstituierend. Wer glaubt, unseren freiheitlichen Rechtsstaat dadurch stärken zu können, dass er Journalisten einfach einmal so und ohne wasserdichte rechtliche Vorprüfung observiert oder Redaktionsräume durchsucht, der wird unseren Rechtsstaat in Wahrheit schwächen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Aber auch Journalisten - warum wollen wir aus Anlass dieser Debatte darüber nicht reden? - sind dafür verantwortlich, die Konsequenzen ihrer Veröffentlichungen zu bedenken. Es ist unstreitig, dass Journalisten Leib und Leben von Quellen oder zumindest für unsere Sicherheit wichtige BND-Operationen gefährdet haben. Das geschah beispielsweise durch das Buch von Herrn Schmidt-Eenboom. Ein anderes Beispiel aus jüngerer Zeit: Die Veröffentlichung von Handynummern von alQaida-Führern in dem von mir angesprochenen „Cicero“-Artikel war journalistisch nicht zwingend, hat unseren Sicherheitsbehörden aber massiv geschadet. Ich finde, journalistische Ethik verlangt auch, dass man die Folgen seines Tuns selbstkritisch prüft und dazu sind Journalisten aufgerufen. Das gehört zu dieser Debatte. ({5}) Eines ist aber auch wahr: Das eigentliche Problem der undichten Stellen in Sicherheitsbehörden sind nicht die Journalisten, sondern Mitarbeiter, die unserem Staat durch ihre Indiskretionen schweren Schaden zufügen. Das sind keine Kavaliersdelikte, sondern Straftaten, die mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden müssen. Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich, dass in aller Regel nicht Journalisten zum Durchstechen anstiften, sondern dass es vielmehr so ist, dass Material oftmals frei Haus geliefert wird, aus Frust über Vorgesetzte, aus politischer Unzufriedenheit, aus Wichtigtuerei und in Einzelfällen auch aus finanziellen Gründen. Deswegen bin ich der Auffassung: Die Politik muss den Chefs unserer Sicherheitsbehörden volle Rückendeckung geben, wenn es darum geht, undichte Stellen aufzuspüren. Ich sage es noch einmal: Das sind keine Kavaliersdelikte. Das muss verfolgt werden. Auch daran darf es keinen Zweifel geben. ({6}) Nur: Ich finde, wir dürfen die roten Linien nicht überschreiten. Überwachungskameras haben vor Redaktionen oder Wohnräumen von Journalisten nichts zu suchen. ({7}) Etwas anderes wäre es natürlich - das darf nicht vermengt werden; Herr Kollege Wieland, ich hoffe, dass Sie mir auch da zustimmen werden -, wenn diese Kameras vor Wohnungen von verdächtigen Mitarbeitern, etwa des BND, ständen. Im Rahmen solcher Operationen zur Eigensicherung würden dann selbstverständlich auch Treffen verdächtiger Mitarbeiter von Nachrichtendiensten mit Journalisten festgehalten. Um es klar zu sagen: Dagegen ist nichts einzuwenden. Investigativ arbeitende Journalisten wissen das auch. Der entscheidende Unterschied ist: Ausgangspunkt der Observation muss der verdächtige Mitarbeiter sein und es darf natürlich nicht der Journalist sein. ({8}) Im Ausland kann der BND auf Quellen, die unter der Legende eines Journalisten auftreten, natürlich nicht verzichten. Das gilt gerade angesichts der neuartigen Bedrohung durch islamistische Terroristen. Wichtig ist auch hier eine klare Trennung: Journalisten können selbstverständlich im Ausland zur Informationsgewinnung im Rahmen des Auftrags des BND eingesetzt werden, aber nicht als Quelle zum Aufspüren undichter Stellen im BND selbst oder um im Inland im Sinne des Dienstes zu wirken. Auch auf diesen Unterschied müssen wir großen Wert legen. Ein großer Teil der Aufklärung, die die Grünen in ihrem Antrag fordern, findet bereits statt. Ich finde es erwähnenswert - Herr Kollege Ströbele, Sie hätten es hier ansprechen können; denn es ist öffentlich gemacht worden -, dass Herr Schmidt-Eenboom nach seinem Gespräch mit Herrn Hanning vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt hat, der BND sei ernsthaft bemüht, die Wahrheit zu ermitteln. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, hat sich Herr Hanning bei Herrn Schmidt-Eenboom für die Überschreitung des dem BND rechtlich Möglichen entschuldigt. Es ist nun Aufgabe des neuen BND-Präsidenten und des Koordinators im Kanzleramt, dafür zu sorgen, dass sich der Dienst bei Operationen zur Eigensicherung in seinem gesetzlichen Rahmen bewegt. Es ist zu hören, dass die entsprechende Dienstanweisung mit diesem Ziel überarbeitet wird und dass es künftig zeitlich befristete Maßnahmen geben wird, ergänzt durch klare Berichtspflichten. Das alles geht in die richtige Richtung. Dass der Altbundeskanzler Gerhard Schröder jetzt ausgerechnet Berater des Verlages ist, in dem der „Cicero“ erscheint, dessen Durchsuchung wiederum der Schröder-Freund und Altinnenminister Otto Schily gutgeheißen hat, lässt ebenso allgemeine Besserung erwarten. Insofern denke ich, dass sich die „Cicero“-Affäre so nicht wiederholen würde. Es wäre dann fast eine Altbundeskanzleraffäre. Das werden wir wohl nicht erleben. Die Pressefreiheit auf der einen Seite und die Eigensicherung der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden auf der anderen Seite müssen ins richtige Lot gebracht werden. Wenn der Antrag der Grünen ein Anlass ist, um in dieser Debatte deutlich zu machen, dass wir das ins Lot bringen wollen, dann hätte Ihr Antrag sogar noch etwas Positives. ({9}) Auch ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Spätestens seit der berühmten „Spiegel“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der hohe Wert der Pressefreiheit für unsere Demokratie eigentlich geklärt. ({0}) Wer hätte gedacht, dass wir uns heute, im Jahr 2005, noch einmal mit Gefährdungen der Pressefreiheit auseinander setzen müssen, die teils schon länger zurückliegen, teils durchaus aktuell sind und eben in den letzten Wochen bekannt geworden sind? Es ging in allen Fällen um ein Grundproblem: Staatliche Stellen haben geltend gemacht, sie hätten das Bedürfnis, undichte Stellen im eigenen Apparat herauszufinden. Um dies zu erreichen, sind Journalisten unter Beobachtung genommen worden, sind Redaktionsräume durchsucht worden und ist selbst recherchiertes Material beschlagnahmt worden. Dem muss das deutsche Parlament entschieden widersprechen. Dazu gibt die heutige Debatte Gelegenheit. ({1}) Ich bin wirklich der Meinung, dass die Vorgänge, die im Verhältnis des Bundesnachrichtendienstes zu dem Journalisten Schmidt-Eenboom und anderen bekannt geworden sind, dem Ansehen des BND ungeheuer geschadet haben. Da kann man nur durch rückhaltlose Aufklärung Abhilfe schaffen. ({2}) Das wird jetzt durch einen Sonderermittler, einen ehemaligen Richter des Bundesgerichtshofs, versucht. Ich bin der Überzeugung, dass das Parlamentarische Kontrollgremium dann, wenn der Bericht vorliegt - hoffentlich möglichst bald -, geeignete Wege finden wird, um das, was nicht geheimdienstrelevant und nicht geheimhaltungsbedürftig ist, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir warten auch darauf, dass uns der Sonderermittler Hinweise zu der Frage gibt, ob es erforderlich ist, das BND-Gesetz zu ändern. Es fällt auf, dass hier eine Schwachstelle in rechtsstaatlicher Hinsicht besteht. Dem Bundesnachrichtendienst ist es erlaubt, zur Eigensicherung im Inland tätig zu werden. In den Fällen, über die wir sprechen, in denen Journalisten und Publizisten observiert worden sind, war aber immer schon der Verdacht des Geheimnisverrates durch Mitarbeiter des BND gegeben. Also hätte rechtmäßigerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden müssen. Das ist wichtig; denn dann sind wir in einem geordneten Verfahren nach der Strafprozessordnung und dann werden solche Maßnahmen richterlich angeordnet und überprüft. ({3}) Das ist im Normalfall eine Garantie dafür, dass nicht so über das Ziel hinausgeschossen wird, wie das durch den BND selbst geschehen ist. Wir haben am Fall „Cicero“ und an vielen anderen Fällen, die der Deutsche Journalisten-Verband dokumentiert hat, gesehen, dass in der Rechtspraxis die bisher bestehenden Vorschriften des Strafrechts und des Strafprozessrechts leider keinen hinreichenden Schutz davor bieten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet wird. Das geschieht leider. Daher hat die FDP-Fraktion eine Initiative ergriffen und eine fraktionsinterne Sachverständigenanhörung durchgeführt. Dabei ist deutlich geworden, dass wir wahrscheinlich sehr radikal - im Sinne von: an der Wurzel des Problems ansetzen müssen. ({4}) Niemand versteht, warum sich ein Journalist, der eine ihm mitgeteilte Information verwendet und veröffentDr. Max Stadler licht, der Beihilfe zum Geheimnisverrat schuldig macht, wenn doch der Geheimnisverrat bei den Mitarbeitern von Behörden liegt, die solche Informationen unzulässigerweise herausgeben. Trotzdem existiert eine solche Rechtsprechung. Wir werden gemeinsam überlegen müssen, ob wir als Gesetzgeber klarstellen, dass diese Strafbarkeit des Verhaltens der Journalisten auszuschließen ist. Strafbar ist das Verhalten der Mitarbeiter von Behörden, die gegen ihre Vorschriften handeln und solche Informationen herausgeben. In diese Richtung müssen wir gehen. ({5}) Wir werden darüber hinaus erörtern müssen, ob man nicht auch in der Strafprozessordnung das Redaktionsgeheimnis klarer als bisher schützt, indem recherchiertes Material schlechthin beschlagnahmefrei gestellt wird. Damit entfallen auch Durchsuchungen in Redaktionsräumen sowie in Arbeits- und Wohnräumen der einzelnen Journalisten, wie sie, wie gesagt, nicht nur im Fall „Cicero“, sondern leider in einer Vielzahl von Fällen vorgekommen sind. Wir sollten daher all diese Fälle zum Anlass nehmen, nach der Weihnachtspause als Gesetzgeber initiativ zu werden. Die FDP jedenfalls wird in Auswertung der von uns durchgeführten Anhörung hier bald Vorschläge unterbreiten. Ich lade Sie ein, diesen Vorschlägen zu folgen; denn sie haben das gemeinsame Ziel, einen besseren Schutz des Redaktionsgeheimnisses sicherzustellen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus-Uwe Benneter, SPD-Fraktion.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Stadler, so blauäugig können selbst Sie nicht sein, dass Sie meinen, nach der „Spiegel“-Entscheidung gebe es keine Probleme mehr zwischen journalistischer Tätigkeit auf der einen Seite und den Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite. ({0}) - Der Wert der Pressefreiheit ist nicht erst seither geklärt; er war auch vorher schon geklärt. Deshalb haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Pressefreiheit in Art. 5 durch institutionelle Garantie auch einen besonderen Stellenwert verschafft. ({1}) Es geht in dieser Debatte um den Antrag der Grünenfraktion „Überwachung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst“. Ich habe nicht so richtig verstanden, warum er gerade zu diesem Zeitpunkt gestellt wird. Das Parlamentarische Kontrollgremium ist einstimmig zu der Auffassung gekommen, dass hier offensichtlich klare Rechtsverletzungen vorliegen, die aber noch nicht genügend aufgeklärt sind, und hat deshalb einen Sonderermittler eingesetzt, aufgrund einer Bestimmung, die gerade zu diesem Zweck in das Gesetz für das Parlamentarische Kontrollgremium mit aufgenommen wurde. Deshalb, denke ich, ist es selbstverständlich, dass wir alle erst einmal abwarten, was dieser Sonderermittler an Erkenntnissen gewinnen wird. Diese wird er dann natürlich dem Parlamentarischen Kontrollgremium vortragen. ({2}) Wir sind uns, weil es hier um das hohe Gut der Pressefreiheit geht, sicher alle einig, dass die Erkenntnisse nicht dem Parlamentarischen Kontrollgremium vorbehalten bleiben, sondern auch uns zur Verfügung gestellt werden, soweit diese - da stimme ich mit dem Kollegen Stadler überein - nicht geheimhaltungsbedürftig sind. Ich gehe davon aus, dass der jetzige Innenminister, genau wie der vorherige Innenminister, und sein Staatssekretär das nicht zu eng sehen werden, sondern bereit sein werden, das, was notwendig ist, um Erkenntnisse zu gewinnen - anhand deren wir dann beispielsweise auch über Ihre Vorschläge, inwieweit den Strafverfolgungsbehörden in einer gesetzlichen Vorschrift eine Grenze gesetzt werden sollte, genauer nachdenken könnten -, zu ermöglichen. Sie haben vorgeschlagen, dass wir Schlussfolgerungen in diesem Antrag jetzt positiv zur Kenntnis nehmen sollen. Ich sehe diese Schlussfolgerungen nicht. ({3}) Wir können den Beschluss zustimmend zur Kenntnis nehmen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium hier eine weitere Aufklärung für erforderlich hält und die Ergebnisse dann dem Plenum vorträgt. Wirklich wichtig ist - auch das ist vom Parlamentarischen Kontrollgremium so zum Ausdruck gebracht worden -, dass ausdrücklich gefordert wird, dass sofort Maßnahmen ergriffen werden, um Derartiges jedenfalls für die Zukunft auszuschließen. Wir alle wissen ja noch nicht, wie lange diese Vorgänge andauerten und auf welchen Wegen bzw. mit welchen Mitteln solche Beobachtungen stattgefunden haben. Deshalb denke ich, dass diese Forderung sicherlich von uns übernommen werden kann. Aber hinsichtlich der anderen Forderungen sollten wir abwarten, bis das Parlamentarische Kontrollgremium eine entsprechende Aufklärung gegeben hat. Diese Auseinandersetzung gibt Gelegenheit, noch einmal grundsätzlich zum Wert der Pressefreiheit Stellung zu nehmen. Kollege Stadler hat darauf hingewiesen, dass die Pressefreiheit für jede moderne Demokratie konstitutiv und unentbehrlich ist. Für die freie Meinungsbildung ist unabdingbar, dass Informationen gewonnen und zur Verfügung gestellt werden können. Diese Meinungsbildung ist die Grundlage für die politische Auseinandersetzung. All dies ist grundlegend für demokratische Werte schlechthin. Ich denke, dem Staat ist es grundsätzlich immer verwehrt, unmittelbar bei der Presse einzugreifen. Deshalb gibt es ein Zensurverbot und deshalb ist es wichtig, dass sich der Staat in diesem Bereich sehr zurückhalten muss. Es sind Beispiele angesprochen worden, die offensichtlich zeigen, dass der Staat versucht, mittelbar auf Presseorgane Einfluss zu nehmen, indem einschüchternd auf Journalisten eingewirkt werden soll. Zumindest soll es den Journalisten erschwert werden, die Informationsbeschaffung so frei zu handhaben, wie es für eine freie Presse notwendig ist. Zur verfassungsrechtlich verbürgten Pressefreiheit gehört der Schutz der Informationsbeschaffung, auch der Schutz der Vertraulichkeit der gesamten Redaktionsarbeit. Das Verhältnis zwischen Journalisten und den Informanten muss von jeglicher staatlichen Gewalt grundsätzlich respektiert werden. Denn die Presse kann nicht auf private Mitteilungen verzichten. Herr Ströbele, Sie übertreiben natürlich ein wenig, wenn Sie davon sprechen, dass sich nun alle Menschen an Sie wenden, weil sie Angst haben, sie würden unter Beobachtung stehen, ({4}) und dass sie sich mit Ihnen nur noch in diesem Hause treffen wollen. Der Punkt ist, dass hier wahrscheinlich ein seriöseres Ambiente gegeben ist als in Ihrem Wahlkreisbüro. ({5}) - Ich wusste, dass Sie das sagen. Jedenfalls muss uns klar sein, dass sich die Informationsquelle, die auf privaten Mitteilungen beruht, auf die Wahrung dieser Vertraulichkeit in unserem Staate verlassen können muss. Auch das gehört zum Grundrecht der Pressefreiheit. Eine Voraussetzung für die Pressefreiheit ist nämlich, gründliche Recherchen durchzuführen und eine entsprechende Informationsbeschaffung vornehmen zu können. Diese Rechte sind konstitutiv für die Demokratie. Wir alle wissen aber, dass die Pressefreiheit keinen absoluten Vorrang gegenüber anderen sehr wichtigen Grundrechten genießt. Auch die Strafverfolgung und ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren sind ein hohes Gut. Ein hohes Maß an Gerechtigkeit erfordert eben, dass wir beispielsweise geordnete Strafverfahren durchführen können, damit der Wahrheit letztendlich zum Durchbruch verholfen werden kann. Insofern können Grundrechte in Konkurrenz zueinander treten. Es geht hier nicht um irgendwelche Privilegien von einzelnen Journalisten, sondern es geht hier grundsätzlich darum, sicherzustellen, dass die Presse ihre Aufgaben erfüllen kann. Dabei ist abzuwägen, ob nicht ein anderer Grundrechtsträger Vorrang genießt bzw. die Beachtung anderer Gemeinschaftsgüter wie beispielsweise einer geordneten Strafverfolgung eine gewisse Einschränkung der Pressefreiheit bedingt. Angesichts der Tatsache allerdings, dass in letzter Zeit - das betrifft nicht den vorliegenden Antrag - ganze Keller ausgeräumt wurden und das alles zu Zufallsfunden erklärt wurde, sollten wir uns alle Gedanken darüber machen, wie mit Journalisten umgegangen wird und hier offensichtlich die Möglichkeiten einer Strafverfolgungsbehörde missbraucht worden sind, die nicht im Regierungsauftrag, ({6}) sondern offensichtlich in Wahrnehmung eigener Rechte gehandelt hat. Das sollte uns schon zu denken geben. Dies alles sollten wir uns bei der Beratung dieses Antrages in den zuständigen Ausschüssen im Einzelnen vor Augen führen und daraus gegebenenfalls die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Auch ich wünsche Ihnen allen geruhsame Tage. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, ({0}) den die Linksfraktion auf jeden Fall unterstützen wird. Jahrelang haben Agenten des Bundesnachrichtendienstes Journalisten bespitzelt, sie gefilmt und sie in Supermärkte verfolgt. Es soll sogar dazu gekommen sein, dass man ihnen in die Sauna nachgestiegen ist. ({1}) Auch dem Leiter des Friedensforschungsinstituts in Weilheim, Erich Schmidt-Eenboom, sind sie offenbar zu einem Termin mit Politikern nachgereist. Der BND hat Journalisten als informelle Mitarbeiter angeworben, die dem Dienst über andere Journalisten berichten. Er hat Journalisten - um ein Wort des neuen BND-Chefs Ernst Uhrlau zu zitieren - als „Fliegenfänger“ eingesetzt. Von der Pressefreiheit hält man beim Bundesnachrichtendienst offensichtlich nicht viel. Der Geheimdienst pflegt ein Freund-Feind-Denken, in dem Journalisten entweder willige Instrumente sind oder aber Gegner, gegen die operative Maßnahmen eingesetzt werden. Die Linksfraktion warnt schon lange davor, dass Geheimdienste nicht dem Schutz der Demokratie dienen, sondern eine Gefährdung darstellen. Wir haben leider, wie sich jetzt zeigt, wieder einmal Recht behalten. ({2}) Anstatt nun endlich alle Fakten auf den Tisch zu legen, setzt die Bundesregierung weiter auf Konspiration. Sie gibt höchstens das preis, was wir sowieso in den Medien nachlesen können. Herr Uhrlau hat uns Obleute heute zwar dankenswerterweise informiert; ({3}) aber wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet und dürfen hier nichts sagen. ({4}) - Herr Grindel, das wissen auch Sie. Auch Sie waren dabei. Ich denke, dass mit dieser Geheimniskrämerei gegenüber der Öffentlichkeit endlich Schluss gemacht werden muss; denn sie hat ein Recht darauf, informiert zu werden. ({5}) Dass der Skandal mehr als zehn Jahre lang unentdeckt blieb, zeigt überdeutlich, dass es keine effektive Kontrolle der Geheimdienste gibt. Die Öffentlichkeit weiß bis heute nicht, wer diese Aktionen damals angeordnet hat. Die Öffentlichkeit weiß auch nicht, mit welchen Methoden der BND gearbeitet hat. ({6}) Es gab Lauschangriffe, Briefe wurden geöffnet; wir kennen das ganze Repertoire. Die Öffentlichkeit weiß bis heute auch nicht, ob Abgeordnete betroffen sind und von Fahndern ins Visier genommen worden sind. Hinweise darauf gibt es nur in der Presse. Ebenso wenig weiß die Öffentlichkeit, ob der BND-Präsident oder sogar das Kanzleramt Bescheid wusste. Wenn ja, dann hätten höchste Regierungsstellen rechtswidrige Aktionen geduldet. Wenn nein, dann wäre das wieder ein Beleg dafür, dass wir keine wirkliche Kontrolle von Geheimdiensten haben. Das Wenige, was wir überhaupt wissen, wissen wir, wie gesagt, aus den Medien. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, hält sich hartnäckig weiter daran, keine lückenlose Aufklärung vorzulegen. Das ist wirklich ein Armutszeugnis für Ihr Verständnis von Pressefreiheit und Demokratie. Was nun den Antrag der Grünen angeht: Es reicht meines Erachtens nicht aus, zu fordern, dass über diesen Skandal berichtet wird. Ich glaube auch, dass wir nicht nur fordern sollten, dass die Regierung demnächst keine Fehler mehr macht. Vielmehr muss sich das Parlament selbst mit diesen Vorgängen beschäftigen und geeignete Maßnahmen und Schritte einleiten, damit so etwas nicht wieder geschieht. ({7}) - Im Antrag steht dazu nichts, Herr Kollege. Die Fraktion der Linken hat auch kein Verständnis dafür, dass gemäß dem Antrag der Zwischenbericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums nur in einer zensierten Fassung vorgelegt werden soll. Wir fordern, Ross und Reiter zu nennen. Wir fordern, Schluss mit dieser Geheimpolitik zu machen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/85 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf: Vereinbarte Debatte Entwicklung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Franz Josef Jung das Wort.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, am 14. Dezember 1995, wurde das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Seit diesem Zeitpunkt wird die Umsetzung des Friedensabkommens von einer multinationalen Friedenstruppe abgesichert. Wenn man diese zehn Jahre Revue passieren lässt, ist hier, wie ich meine, eine vom Grundsatz her mehr als positive Entwicklung eingeleitet worden. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich mir in der Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel, nicht vorstellen konnte, dass wir mitten in Europa wieder Massenvergewaltigungen und Massenvertreibungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen haben würden. Man kann also froh darüber sein, dass diese Entwicklung zu einer Stabilisierung der Situation im Balkan geführt hat. ({0}) Die multinationale Friedenstruppe gewährleistet den Rahmen für den Prozess der politischen Normalisierung und den gesellschaftlichen Wiederaufbau des Landes. Nach der erfolgreichen Beendigung der unter NATOFührung stehenden Operation SFOR hat die Europäische Union vor einem Jahr die Verantwortung für den friedenssichernden Einsatz in Bosnien-Herzegowina übernommen. Derzeit sind rund 6 200 Soldaten aus mehr als 30 Nationen, auch aus Nicht-EU-Staaten, bei EUFOR eingesetzt. Dazu gehören etwas mehr als 1 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Die Operation Althea ist die bislang größte militärische Operation im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie ist eine sinnvolle Ergänzung des zivilen Engagements der EU. Es bedarf einer militärischen Komponente. Die Europäische Union hat hier gezeigt, dass sie auch im Hinblick auf die Friedenssicherung im militärischen Bereich umfassend handlungsfähig ist. Das ist im Zusammenhang mit dieser Debatte positiv festzuhalten. ({1}) Ich glaube, die Ergebnisse können sich sehen lassen. Auch der Übergang der Verantwortung von der NATO zur EU hat nicht zu einem Sicherheitsvakuum geführt. Althea vermittelt der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina das gleiche Gefühl von Sicherheit wie die vorherigen Operationen IFOR und SFOR unter NATO-Führung. Diese Erfahrung zeigt, dass sich der zivilmilitärische Ansatz der EU im Bereich des Krisenmanagements bewährt hat. Es ist festzustellen, dass in Bosnien-Herzegowina bis heute große Fortschritte erzielt worden sind. Das Land ist auf seinem Weg zu einem stabilen und lebensfähigen multiethnischen Staat weit vorangekommen. Die Empfehlung der EU-Kommission für den Beginn von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ist der jüngste Beweis dafür. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, Sie stimmen mir zu, wenn ich sage, dass mit der Entscheidung für den neuen Repräsentanten in Person unseres ehemaligen Kollegen Dr. Christian SchwarzSchilling eine gute Entscheidung getroffen worden ist, die diesen Prozess positiv unterstützt. ({2}) Meine Damen und Herren, auch die Einigung der bosnischen Teilrepubliken und des Zentralparlamentes auf gesamtbosnische Verteidigungsstrukturen ist ein Meilenstein auf dem Weg des Landes in die euroatlantischen Strukturen. Dort rechnet man mit einer baldigen Einladung zum Partnership-for-Peace-Programm der NATO. Ich habe meinem bosnischen Amtskollegen bei seinem Besuch vor zwei Wochen in Berlin deutlich gemacht, dass Bosnien-Herzegowina den Prozess seiner Westintegration ein Stück weit selbst bestimmt. Denn vom Erfolg der Fortschritte bei der Stabilisierung und der Sicherung im eigenen Land - wichtig ist zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof - wird es abhängen, wie schnell man sich bezüglich der Westintegration die Hand reichen kann. ({3}) Es kommt darauf an, die eingeleiteten Reformen positiv weiterzuentwickeln. Die bisherige positive Entwicklung wäre aber ohne die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und die militärische Absicherung des Friedensprozesses nicht möglich gewesen. Deshalb möchte ich bei dieser Gelegenheit all unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort im Einsatz waren und noch sind, herzlich für ihren Einsatz für die Friedenssicherung und die Stabilisierung dieses Landes danken. Sie leisten einen großartigen Beitrag, der Anerkennung findet. Deshalb möchte ich ihnen von hier aus meinen Dank aussprechen. ({4}) Zur Fortsetzung des begonnenen Prozesses bleibt die Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft und die Fortführung der militärischen Sicherheitspräsenz weiterhin notwendig; denn trotz der erzielten Erfolge gibt es derzeit noch keine dauerhafte, sich selbst tragende Stabilität in Bosnien-Herzegowina. Auch aus diesem Grund müssen wir dort weiterhin unseren Beitrag leisten. Wir können aber zuversichtlich sein, dass sich bei einer weiterhin positiven Entwicklung des Landes mittelfristig Perspektiven für die Reduzierung der internationalen Streitkräftepräsenz ergeben. Derzeit ist es aber noch notwendig - so wurde es auch gemeinsam vereinbart -, dass wir dort unseren Beitrag leisten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland handelt in Solidarität mit seinen Verbündeten und Partnern auf der Grundlage der Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Deshalb ist unser Engagement in Bosnien-Herzegowina weiterhin notwendig. Es dient der Sicherheit und dem Wohl der Menschen dort, aber es dient letztlich auch der Sicherheit unseres eigenen Landes und entspricht unserer Verantwortung in den Vereinten Nationen. Deshalb halte ich es weiterhin für notwendig, dass wir dort unseren Beitrag leisten. Ich bitte daher um die weitere Unterstützung des Parlamentes für die friedenssichernden Maßnahmen. Besten Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Stinner, FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meinem Dafürhalten ist der militärische Einsatz, auch der Einsatz der Bundeswehr, in Bosnien-Herzegowina über die Zeit hinweg ohne jeden Zweifel ein großer Erfolg gewesen. Es ist ein großer Erfolg für das Land Bosnien-Herzegowina, weil in der Tat ausschließlich durch den Schutz der internationalen Truppen gewährleistet wurde, dass sich überhaupt ein gesellschaftlicher und politischer Prozess entwickeln konnte. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Militär friedenserhaltend und friedenssichernd eingesetzt werden kann. Es ist aber auch ein Erfolg für Europa. Europa hat sich hier erstmals selbst und der Welt gezeigt, dass es in der Lage ist, ein größeres militärisches Engagement in Eigenverantwortung durchzuführen. Wir erinnern uns daran, dass wir alle durchaus Bedenken hatten, ob SFOR wirklich abgelöst werden kann. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es möglich ist. Das ist ein weiterer Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Außenund Sicherheitspolitik; und das ist gut so. ({0}) Deutsche Soldaten haben bei diesem Prozess eine große Rolle gespielt. Wir stellen nach wie vor mit über 1 000 Soldaten ein großes Truppenkontingent. Ich glaube - Herr Minister Sie haben es angesprochen -, wir alle können stolz darauf sein, dass und wie unsere Soldaten auch in diesem Falle Dienst leisten für den Frieden, für die Friedenserhaltung. Wir sind stolz darauf und bedanken uns bei den Soldaten für ihren Einsatz. ({1}) Am 25. November, an einem symbolischen Tag, hat die Europäische Union beschlossen, den Prozess der Verhandlung über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina anzugehen ein wichtiger Schritt auf dem gemeinsam verabredeten Weg nach Europa. Wir alle wissen, dass die Europäische Union im Jahre 2003 in Thessaloniki ein sehr starkes politisches Signal für diese Richtung gegeben hat. Das SAA ist hier sicherlich ein ganz wichtiger Schritt. Wir müssen zehn Jahre nach Dayton erkennen: Jawohl, es gibt eine ganze Menge an Erfolgen. Mit der Mehrwertsteuer gibt es ab dem 1. Januar 2006 erstmals - längst überfällig - zentrale Steuern. Es gibt eine Polizeireform. Das Zollregime wurde vereinheitlicht. Das alles sind Schritte in die richtige Richtung. Auch ich bin froh - genau wie es der Herr Minister gesagt hat -, dass wir mit Herrn Schwarz-Schilling einen neuen Hohen Repräsentanten haben, der tatsächlich wie kein Zweiter für dieses Amt geeignet ist; ({2}) denn unser ehemaliger Kollege Schwarz-Schilling bringt Eigenschaften mit, die gerade jetzt in diesem Lande dringend notwendig sind. Durch seine jahrelange Tätigkeit als Streitschlichter bringt er die Fähigkeit zum Kompromiss, zum Ausgleich und zu Verhandlungen mit. Genau das ist in Bosnien-Herzegowina in den kommenden Monaten und Jahren wichtig. In Richtung auf dieses Land und auf die Politiker dort sage ich: Das ist auch wichtig für die politische Klasse in diesem Land. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union versteht sich als Gemeinschaft guter Nachbarn. Ich erwarte - wir alle sollten das erwarten - von Ländern, die zu uns kommen wollen, dass auch sie dieses europäische Konzept verstehen und leben wollen. ({3}) Wir sagen deutlich: Jawohl, ihr könnt zu uns kommen, aber nur dann, wenn ihr diese europäischen Werte verinnerlicht und sie auch auf euch anwendet. Es ist wichtig, dass wir dies sehr deutlich sagen. Ich halte es für unzuträglich für Europa, dass wir Länder zu uns holen, die nicht in der Lage und willens sind, ihre eigenen ethnischen, regionalen und nationalen Konflikte vorher zu lösen. Wir helfen ihnen dabei, aber die Konflikte müssen vorher gelöst sein und es müssen vorher gute Nachbarschaftsbeziehungen zu allen in der Region hergestellt worden sein. Der nächste Schritt ist nun die Verfassung, von allen angefordert und ein sehr wichtiger Prozess für das Land Bosnien-Herzegowina. Ohne vorgreifen zu wollen: Es ist sicherlich richtig, dass wir vom Verfassungsprozess zwei Dinge auf jeden Fall erwarten, nämlich erstens eine deutliche Stärkung des Zentralstaates und zweitens eine deutliche Vereinfachung der staatlichen Strukturen. Wir alle wissen, dass durch die dysfunktionalen Strukturen - um diesen Terminus technicus einzuführen - sehr viele Mittel und sehr viel Energie aufgewendet werden, was nicht gerade zur Entwicklung des Landes beiträgt. In diesem Zusammenhang werden von uns immer die Begriffe „Eigenverantwortung“ und „Ownership“ - sehr richtige, sehr wichtige Begriffe - im Mund geführt. Ich frage mich aber, ob wir diesen Begrifflichkeiten auch Taten folgen lassen. Da möchte ich insbesondere auf die immer noch bestehenden Kompetenzen des obersten Repräsentanten eingehen, und zwar insbesondere auf die Bonn Powers, die im Jahre 1997 eingeführt worden sind. Sie waren sicherlich am Anfang sinnvoll, aber seitdem sind acht Jahre vergangen. Für mich ist es völlig unverständlich, wie wir einen Verfassungsprozess beginnen und durchführen wollen, ohne uns vorher - ich betone ausdrücklich, liebe Kolleginnen und Kollegen: vorher - über die Abschaffung der Bonn Powers einig geworden zu sein. Wir wollen einen Verfassungsprozess. Wir wollen Ownership. Wir wollen eine Inangriffnahme der Verfassung durch Bürger und Politiker dieses Landes. Wie können wir dann zulassen, dass, wenn eine Verfassung verabschiedet ist, immer noch ein internationales Gremium existiert, das uneingeschränkte Kompetenzen hat? Deshalb sage ich: Bonn Powers am Anfang ja, aber jetzt ist es hohe Zeit, die Bonn Powers abzuschaffen, und zwar bevor die Verfassung endgültig verabschiedet ist. Es zeugt meines Erachtens von einem unglaubwürdigen Verfassungsverständnis, wenn wir dem Volk sagen: Jawohl, verabschiedet eure Verfassung, aber am Ende des Tages gibt es den Hohen Repräsentanten, der mit uneingeschränkten Bonn Powers handeln kann. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat meine Fraktion, haben wir als FDP einen entsprechenden Antrag eingebracht, den wir jetzt behandeln werden. Ich möchte Sie ganz herzlich bitten, mit uns diesen Weg zu gehen, damit wir gemeinsam dafür sorgen, dass dieses geschundene Land den Weg nach Europa in Frieden, Freiheit und positiver gesellschaftlicher Entwicklung finden kann. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Staatsminister Gernot Erler.

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren beendete das Friedensabkommen von Dayton den blutigsten und verlustreichsten der vier Balkankriege der 90er-Jahre. In der Tat: Am 21. November dieses Jahres, genau am zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens, hat die EU die Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina aufgenommen und damit, was den Prozess der Integration dieses Landes in Europa betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zwischen der Tragödie des Krieges, der von 1992 bis 1995 andauerte, und heute liegen zehn Jahre intensivsten Engagements der internationalen Gemeinschaft: für einen Friedensprozess und ein Nation Building, das es in diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat. Dieser Prozess erforderte den Einsatz von vielen Soldaten, Polizisten, Helfern, Experten und auch von sehr viel Geld. Dieser Einsatz hat sich gelohnt. Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass der regionalkundige Kollege Dr. Stinner das genauso sieht. Für die Menschen in Bosnien-Herzegowina ist der Krieg heute eine schlimme Erinnerung. Das Land selbst ist weitgehend stabil. Zieht man eine politische Zwischenbilanz, wird man auf Licht und Schatten stoßen; aber allmählich überwiegt das Licht. Die Mehrheit der Flüchtlinge ist zurückgekehrt und das, was im Krieg an Gut, Boden und Häusern requiriert worden war, wurde zurückgegeben. Leider hat sich die Mehrheit der Binnenflüchtlinge nicht dazu entschließen können, in die ehemaligen Siedlungsorte zurückzukehren. Aber bei der Demokratisierung gibt es erhebliche Fortschritte. Heute sind freie und faire Wahlen in Bosnien-Herzegowina an der Tagesordnung. Der Gesamtstaat mit seinen beiden unterschiedlichen Entitäten - auf der einen Seite die Serbische Republik, auf der anderen Seite die Bosnisch-Kroatische Föderation - wächst Schritt für Schritt zusammen. Eingeleitet ist zum Beispiel die Bildung einer gesamtstaatlichen Armee mit einem gemeinsamen Verteidigungsministerium. Dasselbe ist auch für die Polizei geplant. Es gibt schon eine funktionierende gemeinsame Grenzpolizei, ein oberstes Gericht, eine Staatsanwaltschaft und eine Steuerbehörde. Was aber noch fehlt, ist die Identifizierung aller Bürger mit ihrem gemeinsamen Staat. Als habe die schwierige Wegstrecke die Menschen erschöpft, engagieren sie sich nur zögerlich in Politik und Gesellschaft. Gesellschaftliches Engagement ist im jetzt beginnenden Verfassungsprozess aber notwendig. Wahrscheinlich muss es noch einige Fortschritte in der Wirtschaftsstruktur und der Wirtschaftsentwicklung geben, bis die Bosnier Vertrauen in ihre eigene Zukunft schöpfen. Noch bleibt, Herr Kollege Stinner, die ordnende Hand des Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft vor Ort unverzichtbar. Lord Paddy Ashdown hat dieses Amt, das er im Mai 2002 angetreten hat, bis heute mit hoher Autorität, geradezu mit Leidenschaft wahrgenommen. Ich finde, der Deutsche Bundestag hat allen Anlass, ihm dafür herzlich zu danken. ({0}) Vor zwei Tagen, am 14. Dezember 2005, hat der Dayton-Implementierungsrat beschlossen, unseren früheren Kollegen und ehemaligen Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling, der als Mediator und Streitschlichter viel Erfahrung in exakt diesem Land hat, zu seinem Nachfolger zu ernennen. Dazu gratulieren wir ihm herzlich. Diese Ernennung drückt die Anerkennung seiner Arbeit aus, aber auch ein wenig die Anerkennung und den Respekt für das, was Deutschland in diesem Friedens- und Stabilisierungsprozess geleistet hat. Althea ist in diesem Kontext tatsächlich ein sehr wichtiger Teil, aber nicht der einzige. Deutschland hat im Rahmen von Projekten zur Flüchtlingsrückkehr, zur Demokratisierung, zur Medienhilfe und zur Wirtschaftsförderung mehr als 100 Millionen Euro beigesteuert. Darüber hinaus stellt Deutschland das größte Truppenkontingent, nämlich annähernd 1 000 der bei Althea eingesetzten 6 200 Soldaten. Nirgendwo kann man die ESVP, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, besser als in Bosnien-Herzegowina in der Praxis beobachten, und zwar sowohl ihren zivilen als auch ihren militärischen Teil. Auf den EU-Gipfeln in Köln und Helsinki im Jahre 1999, also unmittelbar nach dem Kosovokrieg, wurde die Bildung europäischer Fähigkeiten beschlossen, die jetzt und auch in Zukunft in Bosnien zum Einsatz kommen. Mit der EUPM, der europäischen Polizeimission, hat es 2003 begonnen. Noch heute versuchen 170 Polizeiberater, eine eigene, wirksame Polizei in BosnienHerzegowina auszubilden. Mit Althea ist es weitergegangen, diesem in der Tat umfangreichsten europäischen Beitrag zur Friedenskonsolidierung. Wie Bundesminister Jung schon gesagt hat: Hier ist der Übergang von der NATO zur EU und auch die Zusammenarbeit gut verlaufen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der weitere Weg Bosnien-Herzegowinas ist vorgezeichnet. Wir wollen, dass das Land mehr und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Dabei werden die für Oktober nächsten Jahres vorgesehenen Wahlen eine wichtige Rolle spielen, sie werden einen Meilenstein darstellen. Herr Kollege Dr. Stinner, wenn der demokratische Transformations- und Stabilisierungsprozess in Bosnien-Herzegowina bis Ende 2006 ausreichende Fortschritte gemacht haben wird, dann soll die Eigenverantwortung deutlich ausgeweitet werden, ({1}) auch dadurch, dass dann der Hohe Repräsentant einem Sonderbeauftragten der EU - den werden wir weiter brauchen - weichen kann, der aber, so viel ist klar, verringerte Einwirkungsrechte auf die bosnische Politik haben wird; ich glaube, in diesem Punkt liegen wir nicht weit auseinander. Entscheidend für eine gute Zukunft des Landes wird aber auch sein, dass die EU bei ihrer Westbalkanpolitik bleibt, wie sie auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki formuliert und beschlossen worden ist: die EUPerspektive für Bosnien-Herzegowina und die Westbalkanregion muss eindeutig bestehen bleiben. Gerade ist, wie gesagt, mit der Aufnahme von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ein neues Kapitel eröffnet worden. Ich will an dieser Stelle noch einmal festhalten: Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 eindeutig zur Aufrechterhaltung der europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten - auch aus friedenspolitischen Gründen - entschlossen. Wir werden bei diesem Prozess ein guter Partner sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Norman Paech, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wenigen Wochen, die wir uns jetzt im neuen Bundestag mit der Außenpolitik beschäftigt haben, sind ganz vom Militär und vom Geheimdienst bestimmt worden. Sie kennen ja nun allmählich unsere Allergie gegen diese Themen, ({0}) sodass es Sie nicht überrascht haben wird, dass wir auch den Abzug der deutschen Truppen aus Bosnien und Herzegowina fordern. ({1}) Wir halten Militärmissionen zur Befriedung und zum Aufbau eines Staates trotz dessen, was Herr Erler und Herr Stinner hier an Erfolgen der bisherigen Missionen genannt haben, für überhaupt nicht mehr zeitgemäß. ({2}) Als vor zwölf Monaten die SFOR-Mission durch die Operation Althea abgelöst wurde, hat man nicht etwa ein neues Kapitel aufgeschlagen, sondern man vertraute bei der Stabilisierung eines Staates immer noch auf den militärischen Weg. Damals hat die Bundesregierung Althea als sozusagen erste Militärmission der EU gefeiert. Schon damals konnten wir nicht mitfeiern. Denn Bundesregierung und Bundestag haben eines überhaupt nicht berücksichtigt. ({3}) - Ja, genau darum geht es; darauf werde ich eingehen. Die wirtschaftliche und soziale Situation der Mehrheit der Bevölkerung ist nach wie vor äußerst miserabel. Bosnien-Herzegowina ist immer noch, trotz aller Erfolge, weit von dem entfernt, was wir ein friedliches und demokratisches Land nennen können. Doch in einer Hinsicht hat sich die Lage in Bosnien-Herzegowina seit dem Daytoner Friedensabkommen von 1995 in der Tat entscheidend verändert: Gefahr für den Friedensprozess geht heute nicht mehr von militärischen Konfrontationen und bewaffneten Strukturen aus. Im Rahmen des AltheaMandats wurde die Bundeswehr aber noch damit beauftragt - ich zitiere -, die ehemaligen Kriegsgegner und andere bewaffnete Gruppen von der Aufnahme erneuter Feindseligkeiten und Gewalttaten abzuschrecken. Es geht aber nicht mehr um die Trennung solcher bewaffneter Kriegsparteien. Das AltheaMandat hat nichts mehr mit dem zu tun, was das Land braucht. Die Sicherheit der Menschen dort ist zuallererst durch das gefährdet, was wir als mafiöse Strukturen und organisiertes Verbrechen bezeichnen: Zwangsprostitution, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel. Das sind die realen Gefahren, die die Menschenrechte und die demokratische Entwicklung in diesem Land heute bedrohen. Diese Probleme lassen sich aber nicht durch Militärpräsenz lösen. ({4}) Sie haben während der Feiern zum 10. Jahrestag das durch die Straßen Sarajewos flanierende Militär gesehen. Das hat nichts mehr damit zu tun, dieses Land zu stabilisieren. Das Militär gerät höchstens selber in die Gefahr, in diesem mafiösen Sumpf mit zu versinken. Man braucht andere Waffen als Panzer. Das organisierte Verbrechen ist immer so stark, wie die zivile Gesellschaft schwach und die wirtschaftliche Lage katastrophal ist; denn dann sind auch die staatlichen Institutionen schwach. Das ist das Problem Bosnien-Herzegowinas. Die katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation in diesem Land schürt Konflikte, die dann immer wieder ausbrechen. Diese werden - das sei nur nebenbei bemerkt - nicht durch die liberalen Konzepte von Deregulierung, Privatisierung und Entstaatlichung behoben, wie sie die EU aktuell vorschlägt. ({5}) Diese Einschätzung der Situation entspricht übrigens den Analysen renommierter internationaler Organisationen wie auch der Lageeinschätzung des Bundesverteidigungsministeriums. Das Internationale Institut für Strategische Studien in London hat Bosnien bereits aus seiner Armed Conflict Database herausgenommen. Was die Situation in Bosnien-Herzegowina wirklich so instabil macht, ist die Tatsache, dass die staatlichen Institutionen weitgehend zerstört oder geschwächt sind. Deshalb ist es notwendig - darauf haben Sie sehr richtig hingewiesen, Herr Stinner -, dass die staatlichen Institutionen für eine absehbare Übergangszeit von außen gestützt und ergänzt werden. ({6}) Dafür ist das Militär vollkommen ungeeignet. Wir schlagen deshalb vor, mit dem eingesparten Geld eine internationale Polizeimission aufzubauen, eine Mission mit weit gehenden kriminalpolizeilichen Befugnissen, die - das steht im Gegensatz zu den unlängst geäußerten Überlegungen des damaligen Verteidigungsministers Struck - außerhalb militärischer Strukturen organisiert ist. Es ist doch vollkommen absurd: Wir senden ein paar Polizisten nach Bosnien, die nicht einmal Dienstpistolen tragen dürfen und nicht in die korrupten Strukturen der bosnischen Polizei eingreifen dürfen. Gleichzeitig fordert uns die Bundesregierung auf, der Stationierung einer völlig überrüsteten militärischen Truppe zuzustimmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Paech, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Ende. Bosnien-Herzegowina ist nicht mehr irgendein Hort des Terrors. Dort ist nicht mehr das Heim von Bin Laden und al-Qaida. Herr Minister Jung, Sie haben am 27. November im „Deutschlandfunk“ gefordert, dass die Bundeswehr nicht für Maßnahmen eingesetzt wird, für die sie gerade nicht ausgebildet ist. Im Fall Bosnien-Herzegowinas sollten Sie Ihre Überlegungen wahr machen. Gestatten Sie mir -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein, ich gestatte es nicht. Kommen Sie bitte sofort zum Ende. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dann sage ich nur noch: Wir werden diesem Antrag nicht zustimmen. Es ist unser Credo und wird es immer sein, internationale Konflikte nicht durch Militär zu lösen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Paech, bei allem Respekt: Sie haben nahtlos an die außenpolitische Talfahrt von heute Morgen angeschlossen. ({0}) Das darf an dieser Stelle einmal gesagt werden. Leider schmückt die Kollegin Eid bereits ihren Christbaum; sonst hätte ich ihr meine Redezeit übertragen, weil man vieles von heute Morgen in diesen Beitrag hätte einbauen können. Es wäre aber vergebene Liebesmüh. Bevor ich den Blick auf Bosnien-Herzegowina richte, möchte ich noch einen Blick über die Grenze hinaus werfen. In diesen Tagen diskutieren wir darüber, ob Mazedonien der Status eines Beitrittskandidaten verliehen werden soll und kann. Die CDU/CSU würde diesen Schritt gerade auch vor dem Hintergrund der stabilisierenden Wirkung der Anreize, die damit entfaltet würden, begrüßen. Es erscheint uns allerdings auch wichtig, dass mit einem solchen Schritt kein starres Datum verbunden wird und dass die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union vielleicht unter der österreichischen Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr noch einmal einer wirklichen Debatte im Gesamtkontext unterzogen wird. ({1}) Die EU hat mit Althea vor einem Jahr noch einmal ein deutliches Zeichen dafür gesetzt, dass man mehr Verantwortung auf dem Balkan übernehmen will; Herr Staatsminister Erler, Sie haben es angesprochen. Herr Staatsminister Erler, Sie haben auch angedeutet, dass das tatsächlich Ausdruck eines gelungenen Zusammenwirkens der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO ist, deren Verhältnis nicht immer leicht und spannungsfrei ist. Das zeigt, dass dieses Verhältnis auch zielführend ausgestaltet und auf Komplementarität aufgebaut werden kann. Von daher glaube ich, dass man sagen kann, dass hier ein gelungenes Beispiel für eine notwendige Sicherheitsstruktur geschaffen worden ist. Gerade in Zeiten, in denen das transatlantische Verhältnis wie derzeit einmal mehr in der Diskussion steht, darf man sich auch noch einmal Folgendes in Erinnerung rufen: Ohne die Sicherheitspräsenz der transatlantischen Allianz und damit auch der Vereinigten Staaten hätte Bosnien-Herzegowina nicht aus den Schreckensszenarien entkommen können. Von daher sollten wir diesen Bezug immer wieder herstellen. Auch angesichts dessen, was wir gerade vonseiten der Linkspartei zur Gesamtstruktur hören durften, verdient dieser Ansatz sicherlich auch eine gewisse Dankbarkeit. Wir haben heute bereits die besondere Verantwortung der Europäischen Union hervorgehoben. Dieses Haus hat auch eine besondere Verantwortung gegenüber unseren Soldaten, denen ich vonseiten der CDU/CSU noch einmal herzlich danken will. Dies gilt auch für die zivilen Kräfte, die vor Ort sind. Sie leisten eine großartige Arbeit für uns. Von unserer Seite noch einmal herzlichen Dank dafür. ({2}) Es kann allerdings auch nicht oft genug darauf hingewiesen werden - das haben wir in den vergangenen Jahren deshalb immer wieder getan -, dass der Verdienst unserer Soldaten vor Ort nicht politikersetzend ist. In diesem Gesamtkontext haben wir auf Fortschritte hingewiesen und die Probleme immer wieder hervorgehoben. Es ist richtig: Zehn Jahren nach Dayton ist ein positives Fazit zu ziehen. Nach vielen kleinen Schritten, die gegangen wurden, wird eine Gesamtstruktur erkennbar, die insgesamt erfreulich ist. Es scheint sich langsam eine Schwelle aufzutun. Ausgehend vom Krisenmanagement kommt man jetzt über einen gesellschaftlichen Bereich, der sich in einer Phase des Postkonflikts befindet, langsam dazu, vom Aufbau einer staatlichen Struktur sprechen zu können. Das ist einmal ein erfreulicher Tatbestand, den man in diesem Kontext nennen sollte. ({3}) Gerade im Jahr 2005, das Jahr, auf das wir jetzt zurückblicken dürfen, gab es einige sehr erfreuliche und sehr positive Entwicklungen. Es wurde eine Reform der Armee auf den Weg gebracht und es gibt gerade im gesamtstaatlichen Kontext - die Schwierigkeiten dort müssen wir sehen - bemerkenswerte Reformansätze im Hinblick auf die Polizei. Im Justizbereich gibt es ebenfalls entsprechende Fortschritte. Selbst im Bereich der Steuergesetzgebung sind einige Ansätze erkennbar, etwa bei der Mehrwertsteuer. Dieses Thema ist uns ja nicht gänzlich fremd. Der entscheidende Ansatz aber - das wurde immer wieder benannt - ist die europäische Perspektive. Das muss mit aller Nüchternheit und Klarheit angesprochen werden. Es kann aber nicht allein auf die europäische Perspektive ankommen. Das ist nicht das allein entscheidende Merkmal. Wir müssen gerade auch die politischen Verantwortungsträger vor Ort in Bosnien-Herzegowina immer wieder darauf hinweisen, was Eigenverantwortung eigentlich heißt und was ein wirkliches Engagement bedeutet. Es muss zu einer entsprechenden Dynamik in der Sache kommen. Das dürfen wir von unserer Seite vehement einfordern. Sich nur auf die europäische Perspektive zu berufen wäre in diesem Gesamtzusammenhang etwas dünn. Dem Hohen Repräsentanten - Herr Kollege Stinner, Sie haben es angesprochen - wächst hierbei eine besondere Rolle zu. Auch die CDU/CSU-Fraktion begrüßt mit Nachdruck die Berufung von Christian SchwarzSchilling. Wir bezeichnen die Ernennung angesichts seiner Erfahrung, die er in diesem Bereich gesammelt hat, als Glücksfall. Herr Bundesverteidigungsminister, Hessen hat nicht nur einen Jung, sondern Hessen hält offensichtlich auch jung, wie man an Christian SchwarzSchilling mit seiner ewigen Jugend sehen kann. Wir freuen uns über seine Berufung. ({4}) Bei allen Fortschritten, die wir heute sehen, dürfen wir die Augen nicht vor den Problemfeldern verschließen, die in Bosnien-Herzegowina weiter existieren. Eines davon sind sicherlich die organisierte Kriminalität und gewisse nationalistische Ausprägungen, die weiterhin gegeben sind. Das gilt auch für das immer noch sehr unglückliche Wechselspiel zwischen Gesamtstaat und den Entitäten, die wir antreffen. Daher ist der Verfassungsgebungsprozess, den Kollege Stinner noch einmal hervorgehoben hat, von essenzieller Bedeutung. Diesen Prozess müssen wir allerdings auf eine lokale Ebene herunterholen, damit das Verständnis in der Breite der Bevölkerung im Hinblick auf diesen Verfassungsgebungsprozess wächst und damit sich etwas aufbaut, woran es in vielerlei Hinsicht noch fehlt: eine Identifikation mit dem Gesamtstaat. Die Idee des Gesamtstaates muss sich letztlich in der Breite durchsetzen und darstellen. ({5}) Das Engagement der Europäischen Union, der Einsatz unserer Soldaten, aber eben nicht zuletzt der spürbare Wille der Bevölkerung vor Ort werden der Maßstab sein, der Bosnien-Herzegowina eine Zukunft in den europäischen Netzwerken mit den jeweiligen Perspektiven gewährleistet. Dieser Maßstab ist für uns alle wichtig. Für ihn sollten wir uns mit aller Kraft einsetzen. Gesegnete Weihnachten! Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Marieluise Beck, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte gerne von diesem Platz dem Kollegen Schwarz-Schilling alles Gute und viel Kraft wünschen. Es gibt kaum jemanden, der wie er dazu berufen ist, dieses Amt für die nächsten Jahre auszufüllen. Er hat mit einer Herzenswärme und mit einer Beharrlichkeit viele Jahre lang, als Europa nicht den Mut hatte, sich den Morden einig entgegenzustellen, für die Intervention in Bosnien gestritten. Er ist wirklich der Richtige, um vielleicht das Land an den Punkt zu führen, an dem es eines solchen Amtes nicht mehr bedarf. ({0}) Marieluise Beck ({1}) Hier ist von der Linkspartei schlichtweg in Verkennung der Realitäten in Bosnien so getan worden, als ob auf Militär verzichtet werden könnte. Was es für eine Katastrophe bedeutet hat, dass viel zu lange nicht gesehen worden ist, dass es aus humanitären Gründen notwendig gewesen wäre, Militär einzusetzen, wissen wir alle. Das haben wir erleben müssen, bis dem endlich 1995 nach dem Massaker von Srebrenica durch ein entschiedenes militärisches Eingreifen ein Ende gesetzt worden ist. ({2}) Aber all das, was danach entstanden ist, ist fragil geblieben. Wir sollten uns klar machen: Bei den Verhandlungen in Dayton haben die Kriegsverbrecher mit am Tisch gesessen. Entsprechend unzulänglich ist der Vertrag von Dayton geworden. ({3}) Wer im Juli dieses Jahres nach Srebrenica zu den Feiern anlässlich des zehnjährigen Gedenktages der Ermordung der Menschen von Podgorica gefahren ist, der konnte, wenn er wollte, zur Kenntnis nehmen, dass der jetzige Polizeipräsident der Republik Srpska namens Andan derjenige ist, der zusammen mit Mladić an diesem 10./11. Juli 1995 in Podgorica einmarschiert ist und dort die Männer und Jungen entführt und ermordet hat. Das ist auch ein Teil der Realität, wie sie in Bosnien nach wie vor gegeben ist. Ich glaube, auch aus symbolischen Gründen ist eines unendlich wichtig: Solange Mladić und Karadzic noch frei herumlaufen, wird dieses Land fragil bleiben. ({4}) Denn Wahrheit und Gerechtigkeit sind unabdingbar für ein Land, das zu sich selber finden will. Wir alle wissen, dass es auch um die Frage einer staatlichen Identität dieses Landes geht, das nach wie vor sehr zerrissen ist. Das Land ist deshalb so zerrissen, weil in Dayton nicht nur die Kriegsverbrecher am Verhandlungstisch gesessen haben, sondern auch diejenigen, die die nationalistischen Parteien der ethnischen Zuordnung angeführt haben. Damit ist ein Gebilde entstanden, das kaum als Staat bezeichnet werden kann; es ist zweigeteilt und von äußerst unzureichenden Strukturen geprägt. Beispielsweise gibt es 180 Minister. Dieses Gebilde ist in eine Phase hineingeraten, die von einer Parallelität zwischen einem Quasiprotektorat einerseits und einem gewählten Parlament andererseits bestimmt war. Das hat faktisch zu einer Art organisierter Verantwortungslosigkeit geführt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass der Demokratisierungsprozess in dem Land von innen heraus in Fahrt kommen muss. Das bedeutet, dass das Dayton-Abkommen in den Punkten überwunden werden muss, durch die die Zweiteilung des Landes festgeschrieben wurde. Schließlich ist uns bekannt, dass sich viele Kroaten in Westherzegowina nationalistisch mit Kroatien verbunden fühlen. Es geht also um die Stärkung des Zentralstaates durch eine Verfassungsgebung. Gleichzeitig geht es um die Stärkung der Gemeinden, damit die Autonomie und das Zusammenwachsen vor Ort weiterhin erfolgreich fortgeführt werden können. An diesem Prozess, innerhalb dessen mit 120 Ortschaften Rücksiedlungsverträge zustande gekommen sind, ist Herr Schwarz-Schilling sehr stark beteiligt gewesen. Der Prozess des Nation Building wird nur dann erfolgreich sein können, wenn die Menschen in diesem Land eine Perspektive bekommen, die sie lockt. Wie wir alle wissen, stellt die Europäische Union diese Perspektive dar. Gerade weil die internationale Staatengemeinschaft nicht mutig genug gewesen ist, Karadzic und Mladić selbst festzunehmen, möchte ich die EU auffordern, hinsichtlich der Bedingungen, die gestellt werden, nicht weich zu werden. Das Land muss selbst zur Rechtsstaatlichkeit finden. ({5}) Die EU muss nicht nur um des Landes willen, sondern auch um ihrer selbst willen auf diesen Bedingungen bestehen. Wir alle wissen, was sich vor zehn Jahren als richtig erwiesen hat: Mit Bosnien stirbt Europa. Heute kann vielleicht im Umkehrschluss festgestellt werden: Mit Bosnien kann Europa den nächsten Schritt in die Zukunft gehen. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion, das Wort.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich an die Diskussion, die wir zur Operation Althea vor einem Jahr in diesem Hause geführt haben. Schon damals zeichnete sich ab, dass wir mit Optimismus davon ausgehen würden, dass sie zu einem gemeinsamen und erfolgreichen europäischen Projekt werden würde. Heute kann man in einer Rückschau feststellen, dass wir uns dabei nicht übernommen haben. Das ist eine wohltuende Erkenntnis. Ich finde es im Übrigen sehr angenehm, dass das Haus bis auf eine kleine Ausnahme gemeinsam die Politik, die von uns und der Europäischen Union in Bosnien-Herzegowina verfolgt wird, akzeptiert und unterstützt. Das ist ein gutes Zeichen. ({0}) Es wäre verlockend, die Diskussion, an der die Kollegen Eid beteiligt war, an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen. Ich will aber nur eine Bemerkung dazu machen. Ich bin kurz nach den kriegerischen Ereignissen nach Bosnien-Herzegowina gefahren und habe mir das Land angeschaut; denn allein bei uns in Berlin waren über 30 000 Flüchtlinge und wir mussten uns ständig die Frage stellen, wann diese Menschen endlich wieder zurückkehren können. Was ich damals in Bosnien-Herzegowina erlebt und gesehen habe - die zerstörten Häuser und die zerstörte Infrastruktur -, hielt ich in Europa für nicht vorstellbar. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihre Vorstellung, dass dies alles ausschließlich mit Diskussionen und Goodwill zu beenden gewesen wäre, ist so naiv, ({1}) dass Ihre Argumente und Vorschläge betreffend den zivilen Bereich - darüber hätte man ruhig einmal im Detail diskutieren und das eine oder andere aufgreifen können; Sie haben ja zum Teil Recht; das ist unbestreitbar - unglaubwürdig werden. Das gilt auch für die Vorwürfe, die Sie uns gemacht haben, als wir die Mühen des militärischen Einsatzes auf uns genommen haben. ({2}) Man kann den Soldatinnen und Soldaten für die dort übernommenen Aufgaben nur dankbar sein. ({3}) Man begegnet ihnen dort übrigens nicht mit Vorurteilen gegenüber dem Militär, sondern man verbindet mit ihrer Anwesenheit Sicherheit. Das Kennzeichen, die Qualität des Einsatzes der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina ist gerade, dass sie in der Bevölkerung Anerkennung findet. Das habe ich persönlich gespürt. Es war beinahe beschämend, als sich die Menschen bei mir, einem Zivilisten, für den Einsatz der Bundeswehr bedankt haben. ({4}) Ich möchte an die Ausführungen von Frau Kollegin Beck anschließen. Der zehnte Jahrestag von Dayton zwingt uns quasi, zu schauen, was bewegt worden ist, und darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Es gibt ja durchaus positive Aspekte: die Aufnahme der Verhandlungen zur Stabilisierung des EU-Assoziierungsabkommens und - da dies heute noch nicht angesprochen worden ist, möchte ich es erwähnen - das Bekenntnis der Vorsitzenden aller relevanten bosnischen Parteien zur Notwendigkeit einer Verfassungsreform. Die entsprechende Zusage ist auf der Dayton-plus-ZehnKonferenz gegeben worden. Es ist wirklich bemerkenswert, dass sich diese gesellschaftlichen Gruppen zu der Notwendigkeit eines Veränderungsprozesses bekennen. Ein weiteres positives Signal - das haben schon fast alle angesprochen - ist die Wahl des Kollegen SchwarzSchilling zum Nachfolger des Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle haben ihm Glück gewünscht. Ich hingegen bekunde erst einmal meinen Respekt, dass er sich diese Aufgabe aufgeladen hat. ({5}) Ich hätte gedacht, dass er nach dem, was er schon alles eingebracht hat, ein bisschen zögern würde, dieses Amt zu übernehmen. Kollege Guttenberg hat ja auf sympathische Weise gesagt, dass Herr Schwarz-Schilling einige Jahre nach der Pensionierung offenbar schauen müsse, was er noch tun könne. Mein Respekt und die Dankbarkeit meiner Fraktion, dass er sich dieser Herausforderung stellt! ({6}) Die Ereignisse in Bosnien-Herzegowina zeigen aber ein Stück weit auch, dass all das, was sich dort entwickelt hat, nur unter äußerem Druck möglich war. Es ist nicht so, dass die Kolleginnen und Kollegen vor Ort das, was wir nun begrüßen, eigenverantwortlich auf den Weg gebracht hätten. Es war immer notwendig, von außen Druck auszuüben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur daran, wie die Verantwortlichen der Republik Srpska quasi gezwungen werden mussten, der Polizeireform als notwendiger Voraussetzung für den Stabilisierungs- und Anpassungsprozess der EU zuzustimmen. Ich glaube, dass man die Bonn Powers differenzierter betrachten muss. Wir alle sind damit nicht glücklich. Paddy Ashdown ist sicherlich manchmal ein kleiner Vizekönig gewesen; das ist nicht wegzudiskutieren. Die Bonn Powers, die so stark sind, bieten den Verantwortlichen vor Ort auch die Möglichkeit - das räumen zum Teil die Kollegen in Bosnien-Herzegowina selber ein; viele von außen bestätigen das -, sich zu verstecken, die unliebsamen, möglicherweise mit Kritik behafteten Entscheidungen vom Hohen Repräsentanten treffen zu lassen und sich so der eigenen Verantwortung zu entziehen. Deswegen, Kollege Stinner, haben Sie völlig Recht. Wir haben mit dem Kollegen Schwarz-Schilling jemanden, der es - ich sage das als Sozialpädagoge - wirklich in den Fingerspitzen hat, diesen Prozess so zu gestalten, dass er sich selbst überflüssig macht. Ich wünsche ihm Erfolg und viel Glück. ({7}) Es muss aber auch erkennbar werden, dass die Akteure in Bosnien-Herzegowina das Wohlergehen des Gesamtstaates und aller Bürgerinnen und Bürger wollen. Das muss in den Prozess einer neuen Verfassung einfließen. Es gibt heute schon Möglichkeiten, ohne dass diese Verfassung schon vollendet ist, identitätsstiftende gesamtstaatliche Projekte durchzuführen. Wir haben von der Verteidigungsreform gehört. Aber solange die Republik Srpska ihre Soldaten noch in Serbien ausbildet und die anderen ihre Soldaten in Kroatien ausbilden und sie nicht zu einer gemeinsamen Philosophie kommen, wird da nichts Gesamtstaatsbildendes sein. Man muss also schauen, dass etwas mehr geschieht, als auf dem Papier Freundlichkeiten zu bereiten. Ich glaube, dass wir da auf einem ganz guten Weg sind. ({8}) Ich will abschließend sagen: Wir dürfen nie den Eindruck entstehen lassen, dass die gute Entwicklung, die wir in den zurückliegenden Jahren in Bosnien-Herzegowina erlebt haben, selbstverständlich war. Der Kollege Erler hat das angesprochen. Wer weiß, was die Menschen dort einander angetan haben, und wer weiß, wie dicht das Erlebte noch ist, der wird seinen Respekt und seine Anerkennung dafür aussprechen, dass diese Menschen aufeinander zugegangen sind und der Hass doch überwunden worden ist. Die gute Weihnachtsbotschaft ist doch, dass Frieden in dieser Welt möglich ist und dass Hass überwunden werden kann. Wenn wir als Deutscher Bundestag dabei ein bisschen helfen konnten, dann haben wir gemeinsam fröhliche Weihnachten verdient. Alles Gute. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der so oft erwähnte und mit allen guten Wünschen begleitete Kollege Schwarz-Schilling sitzt dort oben auf der Tribüne. Ich begrüße Sie herzlich. ({0}) Sie haben es gehört, aber ich will es noch einmal sagen: Alle unsere guten Wünsche für Ihre so wichtige Friedensaufgabe, die Sie in Bosnien-Herzegowina übernommen haben! Gott befohlen auf Ihrem Weg! ({1}) Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur europäischen Chemikalienpolitik ({2}) Die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN hat diese Aktuelle Stunde verlangt. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, eine Ihrer ersten Aussagen im Umweltausschuss war: Wir brauchen eine innovative Umweltpolitik. Niemand stimmt Ihnen, lieber Herr Minister, da mehr zu als die Grünen. Solange das Umweltministerium in grüner Hand war, ist dieser Anspruch auch ein gutes Stück eingelöst worden. Ich hoffe sehr, dass Sie in der Umweltpolitik da weitermachen, wo die rot-grüne Koalition aufgehört hat. Zumindest die Lyrik Ihres neuen Koalitionsvertrages klingt durchaus so. Allerdings, sehr geehrter Herr Minister Gabriel, zeugt Ihr erstes Handeln in Ihrem neuen Feld eher vom Gegenteil. Sie haben sich im Vorfeld der Verhandlungen zum REACH-Entwurf für Abschwächungen desselben stark gemacht. Die Verordnung zur Chemikalienzulassung zielte auf mehr Umwelt- und Gesundheitsschutz und hätte damit einen ungeheuren Innovationsdruck in die Chemieindustrie getragen. Diesen Innovationsdruck haben Sie mit abgebogen und Sie sprechen jetzt von einem guten Kompromiss zwischen Umwelt- und Verbraucherschutz und den Interessen der deutschen Chemieindustrie. Damit machen Sie, Herr Umweltminister, jetzt genau den gleichen Fehler, mit dem Ihre neue Koalitionspartnerin schon in den Wahlkampf gezogen ist: zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen einen Widerspruch aufzubauen, der dann zulasten der Umwelt gelöst werden muss. Das ist eine Sichtweise, die völlig ignoriert, worum es in Zukunft gehen wird und womit neue Wirtschafts- und Exportchancen generiert werden können. Wenn Ihr Kollege Wirtschaftsminister Glos REACH als eine wirtschaftsfreundliche Lösung bezeichnet, dann hat er Recht - solange er im Hier und Jetzt bleibt und den Blick nicht in die Zukunft richtet. Auch die Chemieindustrie, die mit der hierzulande üblichen Drohung des Arbeitsplatzabbaus auf Erleichterungen bei REACH gedrungen hat, gründet ihr Erpressungspotenzial auf der falschen Annahme, dass die Zukunft mit dem Festhalten an den heutigen Bedingungen und an den heutigen Instrumenten zu gewinnen wäre. Das ist gerade beim Verhältnis von Umwelt und Wirtschaft ein nachhaltiger Irrtum. Es liegt doch auf der Hand, welche Märkte sich ungefährliche Substitute gefährlicher Chemikalien erobern könnten. Angesichts dessen begeistern Sie sich öffentlich dafür, dass die Vorlage des EU-Parlaments nicht übernommen wurde, in die Verordnung einen Zwang zur Entwicklung von Alternativen zu besonders gefährlichen Stoffen aufzunehmen. Sie loben, dass die Befristung der Zulassung dieser besonders gefährlichen Stoffe auf fünf Jahre gestrichen wurde. Alles, was an innovationsfördernden Ideen zu dieser Verordnung da war, ist damit gestrichen. So viel zum Stichwort „innovative Umweltpolitik“. ({0}) Lassen Sie uns auch über das originäre Ziel von REACH reden, das jetzt, nachdem der Ministerrat seine Spuren hinterlassen hat, völlig verfehlt wird. Dieses Ziel ist der bessere Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichen Chemikalien. Die Bundesregierung hat dazu beigetragen, die Datenanforderungen für den Produktionsbereich von eine bis zehn Tonnen pro Jahr gegenüber dem Kommissionsentwurf gravierend abzuschwächen. ({1}) Von den bislang 100 000 Altstoffen bleiben so weiterhin mindestens 90 000 ungeprüft. Es stellt sich die Frage - zumindest für uns Grüne -, ob der Preis für die Datenanforderung bei Altstoffen, nämlich die weit gehende Deregulierung bei Neustoffen, vor diesem Hintergrund nicht zu hoch ist. Herr Minister Gabriel, Sie verteidigen den Einsatz der Bundesregierung gegen die befristete Zulassung gefährlicher Stoffe damit, dass Sie „nicht viele Unternehmen kennen, die sich mit einer fünfjährigen Befristung in Forschungsvorhaben stürzen“. Dazu sage ich Ihnen: Von einem Umweltminister erwarte ich die Unterstützung anderer Forschungsvorhaben. In diesem Fall erwarte ich die Unterstützung von Forschung und Entwicklung in Bezug auf für Mensch und Umwelt ungefährliche Stoffe. Die befristete Zulassung gefährlicher Stoffe wäre ein Schritt in genau diese Richtung gewesen. ({2}) Wir alle kennen das beliebte Bild von etwas, was als Tiger losspringt und als Bettvorleger landet. REACH hätte ein Tiger sein können. Der Ministerrat hat daraus einen Bettvorleger gemacht. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was REACH bedeutet - Registrierung, Evaluierung, Autorisierung von Chemikalien -, dann stellen wir fest, dass außer Autorisierung nicht viel übrig geblieben ist und damit von einem ambitionierten REACH nicht mehr als ein leises Ach. Als ein Erzengel Gabriel der Umweltpolitik haben Sie sich, Herr Minister, in diesem ersten Akt noch nicht erwiesen und das ist mehr als schade. ({3}) Im Sinne des Gesundheitsschutzes von Bürgerinnen und Bürgern, im Sinne einer innovativen Umweltpolitik ist die Erlegung des Tigers REACH, zu der Sie beigetragen haben, fatal. Wir schließen daraus, dass innovative Umweltpolitik wohl weiterhin zuallererst eine Aufgabe der Grünen bleiben wird. Wir widmen uns dieser Aufgabe mit Freuden und geben die Hoffnung noch nicht auf, dass diese Freude auch auf Sie ansteckend wirken wird. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede im Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit bei uns! ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Kotting-Uhl, einer Ihrer Hauptvorwürfe mir gegenüber war, dass ich mich gegen die Forderung des Europäischen Parlaments ausgesprochen habe, die Zulassungen nach REACH generell auf fünf Jahre zu befristen. Vielleicht darf ich hierzu die von meinem Vorgänger ausgehandelte Position zu exakt dieser Frage einmal darstellen. Es gibt ein gemeinsames Papier der Bundesregierung - der, wenn ich mich richtig erinnere, mein Vorgänger natürlich angehört hat -, des VCI und der IG BCE. Dort wird die Verhandlungslinie zu der Frage der Befristung bei gefährlichen Substanzen im Rahmen von REACH beschrieben. Ich zitiere: Die Autorisierung für die Stoffe wird grundsätzlich unbefristet erteilt. ({0}) Sie steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die materiellen Voraussetzungen für die Autorisierung fortbestehen. Im Rahmen einer regelmäßigen Überprüfung … haben die Unternehmen dies in geeigneter Form darzulegen. Geschieht dies nicht innerhalb einer bestimmten Frist, erlischt die Autorisierung. ({1}) Nun müssen Sie klären und entscheiden, ob schon Jürgen Trittin ein Bettvorleger gewesen ist. ({2}) Das ist eine Debatte, an der ich viel Freude habe. Ich finde übrigens, dass er ein engagierter Umweltminister war. ({3}) - Sie müssen nicht gleich von Ihrer früheren Meinung abrücken. - In dieser Frage hat er die richtige Linie vertreten. Diese Linie, Frau Kollegin, haben wir exakt eingehalten. Wir haben uns an das gehalten, gerade in der Frage der Substituierung, was vorher besprochen worden ist, und zwar einvernehmlich zwischen Bundesregierung, VCI und IG BCE. Es ist auch vernünftig, dass man den Versuch unternimmt, mit den betroffenen Unternehmen sowie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über die Frage zu reden, wie man Verbraucher- und Gesundheitsschutz und das Interesse an der Erhaltung von Arbeitsplätzen in Übereinstimmung bekommt. Das haben wir getan. ({4}) Bei REACH steht für die Verbraucher das Verbraucher- und Gesundheitsschutzinteresse im Mittelpunkt. Dabei geht es um die rund 30 000 Altstoffe, die bislang, anders als Neustoffe, in der EU großenteils keinerlei Registrierungs-, Evaluierungs- oder Zulassungsverfahren unterworfen sind. Ihre Gefährlichkeit ist bislang in völlig unzureichendem Maß untersucht worden. Gelegentlich wird dabei eingewandt - das hat meine Vorrednerin auch getan -, dass es rund 100 000 Altstoffe gibt. Das ist richtig, allerdings sind rund 70 000 dieser Altstoffe entweder überhaupt nicht oder in einem so geringen Maß im Markt vertreten, dass ein Verzicht auf die Überprüfung dieser Stoffe mehr als sinnvoll erscheint. Auch dies war übrigens eine Position, die schon die vorherige Bundesregierung eingenommen hat. In dieser Woche konnte nun ein aus Sicht der Bundesregierung wirklich guter Kompromiss erreicht werden, der einerseits den Gesundheits- und Verbraucherschutz deutlich stärkt, ihn in den Mittelpunkt stellt, andererseits die technische Umsetzung der Verordnung so gestaltet, dass die dadurch entstehenden Kosten für die Industrie nicht wettbewerbsgefährdend sind. Dies gilt insbesondere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Alle 25 Mitgliedstaaten und auch die Kommission haben diesem Kompromissvorschlag der britischen Ratspräsidentschaft zugestimmt. Was sind die zentralen Bestandteile der Verordnung? Die Altstoffe werden endlich einem Registrierungsverfahren unterworfen. Die dafür erforderlichen Daten und Unterlagen müssen die Hersteller der Chemikalien liefern. Es trifft also nicht zu, was öffentlich manchmal behauptet wird, auch in Pressemitteilungen Ihrer Fraktion, besser gesagt: der grünen Fraktion im EP, dass diese Verantwortung auf die Chemikalienagentur verlagert worden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verantwortung bleibt bei den Herstellern. Der Vorschlag einiger Teile der Industrie, diese Verantwortung auf die europäische Chemikalienagentur abzuwälzen, hat sich nicht durchsetzen können. Die Agentur hätte diese Arbeit überhaupt nicht bewältigen können, sondern wäre vermutlich an Herzinfarkt gestorben. Deutschland hat bei den Stoffen mit einem Produktionsvolumen zwischen einer Tonne und zehn Tonnen pro Jahr in diesem Registrierungsverfahren übrigens zwei weitere Tests durchsetzen können, die insbesondere für einen besseren Arbeitsschutz von Bedeutung sind. ({5}) Bei höheren Tonnagen sind Langzeittests vorgeschrieben, von denen nur dann abgewichen werden kann, wenn die betroffenen Chemikalien weder die Arbeitnehmer noch die Verbraucher, noch die Umwelt erreichen. Dieses so genannte Waving-Verfahren in der Registrierung führt zu erheblichen Kostenentlastungen und ist aus meiner Sicht mehr als sinnvoll; denn es geht um die Stoffe, die die Biosphäre, den Menschen oder speziell den Arbeitnehmer erreichen, nicht um diejenigen, die in Stoffkreisläufen oder in der Matrix von Produkten gebunden bleiben. Sollten sich in der Datenerhebung Gefahren bei einer betroffenen Chemikalie abzeichnen, wird diese einem Evaluierungsprozess unterworfen. Ergibt sich bei diesem Evaluierungsprozess der Hinweis auf eine besondere Gefährlichkeit, so wird diese Chemikalie einem besonderen Zulassungsverfahren unterworfen. Das Verfahren für die besonders gefährlichen Stoffe sieht zwei Wege vor. Die Stoffe, die einer adäquaten Kontrolle unterzogen werden können, zum Beispiel nur in geschlossenen Stoffkreisläufen gebunden sind, sodass sie die Umwelt nicht erreichen können, können zugelassen werden. Allerdings - das ist wichtig - muss der Hersteller einer solchen Chemikalie bei seinem Zulassungsantrag trotzdem eine Substitutionsprüfung vornehmen, aus der hervorgeht, ob eine Substitution durch weniger gefährliche Stoffe möglich ist oder nicht. Eine vorhandene Substitutionsmöglichkeit ist allerdings dann kein Grund für die Versagung der Zulassung, wenn der Stoff unter dieser adäquaten Kontrolle steht. Bei besonders gefährlichen Stoffen - das ist der zweite Weg -, die aber aus wirtschaftlicher Sicht unverzichtbar erscheinen und bei denen bislang keine Wirkungsschwelle einen Gradmesser für die Zulassung ermöglicht, ist die Substitutionsprüfung Zulassungsvoraussetzung, Frau Kollegin. Die Kommission will aber mit Zustimmung der Mitgliedstaaten in den kommenden zwölf Monaten im Komitologieverfahren klären, ob wissenschaftliche Methoden entwickelt werden können, eine Wirkungsschwelle auch bei diesen besonders gefährlichen Chemikalien zu finden, oberhalb deren dann eine Zulassung nicht erfolgt bzw. eine Substitution vorgeschrieben ist. Der ursprüngliche Vorschlag des EP für eine lediglich auf fünf Jahre begrenzte Zulassung der besonders gefährlichen Chemikalien fand keine Mehrheit. Eine auf fünf Jahre begrenzte Zulassung ist wirtschaftspolitisch außerordentlich unrealistisch ({6}) und übrigens auch ökologisch fragwürdig, weil das Zulassungsverfahren selbst schon sehr lange dauert. Wir haben jetzt ein Verfahren gefunden, bei dem dann, wenn Informationen darauf hindeuten, dass eine Gefährlichkeit für die Umwelt besteht, die Genehmigung jederzeit widerrufen werden kann, und zwar unabhängig von der Frage, für welchen Zeitraum eine Genehmigung vorliegt. Permanente Kontrolle, Frau Kollegin, ist besser als eine unrealistische Annahme von Zeitspannen. ({7}) - Vielleicht kann Jürgen Trittin herkommen; dann müssen Sie nicht mit ihm telefonieren. Ich kann Ihnen versichern, dass das Zitat, das ich vorgelesen habe, echt war. Der aus umweltpolitischer Sicht - das will ich offen sagen - viel schwierigere Kompromiss musste nicht bei der Zulassungsfrist oder der Substitution geschlossen werden, sondern - da haben Sie Recht - bei der Registrierung. Das räume ich ausdrücklich ein. Wir mussten zustimmen, dass bei der Registrierung der Stoffe zwischen einer und zehn Tonnen pro Jahr nur die bereits verfügbaren Daten abgegeben werden müssen. Ich konnte diesem Kompromiss aber auch aus umweltpolitischer Sicht zustimmen, weil diese Daten in der deutschen chemischen Industrie bereits in einem großen Umfang vorBundesminister Sigmar Gabriel handen sind. Das sollten Sie wissen. Denn nach den Hoechst-Unfällen in den 90er-Jahren hat es dazu eine sehr umfangreiche Selbstverpflichtung der chemischen Industrie gegeben, die auch eingehalten wird. Sie ist übrigens von der damaligen Umweltministerin Angela Merkel durchgesetzt und später von Umweltminister Jürgen Trittin stichprobenartig überprüft worden. Das heißt, wir haben diese Daten. Deswegen ist dieser Kompromiss aus deutscher Sicht verantwortbar gewesen. ({8}) Noch nie war ein umweltpolitisches Vorhaben so umstritten. Wo die einen den Ausverkauf des Gesundheitsund Umweltschutzes an die Industrie sehen, beschwören die anderen den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten. Mit REACH verbindet sich aber tatsächlich eine Pionierleistung bei der Folgenabschätzung bezüglich europäischer Vorhaben. Der heftige Streit um die Verordnung führte zum Beispiel dazu, dass unter Einbeziehung der Industrie und übrigens auch der Umweltverbände erstmals eine breit angelegte systematische Folgenabschätzung vorgenommen wurde. In Deutschland wurde die Diskussion um REACH streckenweise ideologisch geführt. Wenn man die Lobbyisten hörte, gab es nur die Wahl zwischen dem Verrat an der Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik und der Verlagerung der chemischen Industrie ins Ausland. Ich glaube, dass eine derart verengte Sichtweise den Blick auf die wirkliche Kernfrage verstellt. Sie lautet: Wie kann ein hohes Niveau für den Schutz von Mensch und Umwelt, auf den es keinen Rabatt geben kann, mit möglichst kostengünstigen und unbürokratischen Regelungen erreicht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und der europäischen Industrie zu erhalten? ({9}) Darauf, meine Damen und Herren, hat REACH die angemessene Antwort gegeben. Das private Chemikalienlager, das uns alle zu Hause umgibt, wird keine Blackbox mehr sein. Bei Farben, Lacken, Klebstoffen, Imprägniersprays, Putzmitteln und Bastelprodukten - Dingen, die man auch unter dem Weihnachtsbaum finden kann werden wir jetzt endlich das Vertrauen gewinnen können, dass deren Inhaltstoffe auf die grundlegenden Sicherheitseigenschaften überprüft worden sind und dass ihr Einsatz zu dem gewünschten Zweck vertretbar ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Kauch, FDPFraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Frau Kotting-Uhl, egal was der Rat beschlossen hätte, Sie hätten es kritisiert, weil Sie ein parteipolitisches Interesse daran haben, darzustellen, dass nur grüne Umweltminister gute Umweltpolitik machen können. Der Kompromiss im Rat zeigt, dass das offensichtlich nicht so ist. ({0}) Für Deutschland ist die Chemikalienpolitik wirtschaftlich von entscheidender Bedeutung, weil wir mit Abstand der wichtigste Chemiestandort in Europa sind. Ich möchte aber betonen, es geht nicht nur um die Chemieindustrie, es geht eben auch um die nachgelagerten Industrien, die in der politischen Debatte oft genug aus dem Blick zu geraten drohen. Nur wenn man auch diese Industriezweige mit einbezieht, dann wird die gesamte wirtschaftliche Bedeutung dieses Reformprojektes wirklich klar. Für die FDP war es deshalb von Anfang an ein großes Anliegen, einen hohen Gesundheitsschutz zu erreichen, aber ohne Arbeitsplätze zu gefährden. ({1}) REACH muss im Interesse des Umwelt- und Gesundheitsschutzes wirkungsvoll und im Interesse der betroffenen Unternehmen praktikabel sein, sonst droht die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft geschwächt zu werden. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher im Wesentlichen die politische Einigung des EU-Ministerrates, die nun auf Initiative der britischen Präsidentschaft als Kompromiss zustande gekommen ist. ({2}) Die Einigung enthält wesentliche Verbesserungen und verwirklicht langjährige Forderungen der FDP, die die rot-grüne Bundesregierung immer abgelehnt hat. Ich betone das hier, weil es auch die SPD im Deutschen Bundestag und vor allen Dingen die SPD im Europäischen Parlament war, die hier den Zug jahrelang in die falsche Richtung hat fahren lassen. ({3}) Positiv an der jetzigen Einigung ist vor allem die unbefristete Zulassung von Stoffen. Eine Befristung hätte aus unserer Sicht vor allem für die weiterverarbeitende Industrie Planungsunsicherheit bedeutet. Nehmen wir einmal das Beispiel Automobilproduktion: Wenn es für eine Chemikalie, die in der Produktion eines PKWs verwendet wird, mitten in der Modellreihe nach fünf Jahren plötzlich keine Zulassung mehr gibt, dann müsste es ein Re-Engineering geben. Jeder Hersteller müsste sich dann fragen, ob das gute Voraussetzungen für die Industrieproduktion am Standort Deutschland und am Standort Europa sind. Deshalb ist es ein kluger Weg, den der Ministerrat hier geht. ({4}) Die jetzt gefundene Risikobewertung des Einzelfalls ist eine gute Lösung. Noch besser wäre es gewesen, explizit auf Produktionszyklen in der weiterverarbeitenden Industrie abzustellen. Neben den Zulassungsverbesserungen begrüßen wir vor allem die Verbesserungen im Registrierungsverfahren, die mit breiter schwarz-rot-gelber Mehrheit im Europaparlament durchgesetzt worden sind. Es ist absolut richtig, dass in den unteren Tonnagenbereichen stärker auf die Risiken und weniger auf die Mengen abgestellt wird. Auch das wurde im Deutschen Bundestag von RotGrün bisher immer abgelehnt. Die SPD scheint hier zumindest lernfähig zu sein. ({5}) Beim Registrierungsverfahren muss man jedoch einige Punkte kritisch anmerken, beispielsweise was die Testverfahren im Tonnagebereich zwischen zehn und 100 Tonnen angeht. Das sind Mengen, die auch kleine und mittlere Unternehmen betreffen können. Das Verfahren wird nun für diese Unternehmen teuer und bürokratisch. Die Folge wird sein, dass man eher auf einen Stoff verzichtet, als ein aufwendiges Testverfahren durchzuführen. Das geht letztendlich zulasten der Innovationsfähigkeit in der Chemiewirtschaft. Alles in allem sind wir aber der Meinung, dass der Kompromiss, der im EU-Ministerrat gefunden worden ist, ein guter Schritt ist, der zu einer ausgewogenen Lösung zwischen Arbeitsplatzsicherheit auf der einen Seite und Gesundheitsschutz für die Bürger auf der anderen Seite führt. Nun sind Rat und Europaparlament gefordert, entlang dieser Linie voranzugehen und zum Abschluss zu kommen, damit am Ende im Jahr 2007, möglicherweise nach einem Vermittlungsverfahren, die neue Verordnung für die Bürgerinnen und Bürger und für die Arbeitnehmer in der Chemieindustrie tatsächlich eine sinnvolle Lösung ist. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Marie-Luise Dött, CDU/CSUFraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat am 13. Dezember in Brüssel ein Ausrufezeichen gesetzt, ein Ausrufezeichen für die Umweltpolitik der neuen Bundesregierung. Dem Bundesumweltminister ist gelungen, was vorher viele für nur schwer möglich gehalten haben: Er hat den Verhandlungen zu REACH im Wettbewerbsfähigkeitsrat eine entscheidende Wendung gegeben. ({0}) Die neue deutsche Handschrift wird damit im Europäischen Rat zum ersten Mal deutlich sichtbar. Schon im Vorfeld waren erste Erfolge zu verzeichnen. Die britische Ratspräsidentschaft konnte von der Bundesregierung überzeugt werden, die politische Einigung zu REACH um einige Wochen nach hinten zu verschieben. Damit hatten wir in Deutschland ausreichend Zeit, die neue Position zu REACH und unsere Änderungsvorschläge zu dem von Großbritannien vorgelegten Kompromiss schlüssig zu formulieren. In der Ratssitzung Ende November hat der Umweltminister die neuen, wichtigen Aspekte in die Beratungen auf europäischer Ebene eingebracht. Wie wichtig dieser Schritt war, zeigt die Abstimmung vom Dienstag. Die Vorschläge der Bundesregierung sind in weiten Teilen auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten gestoßen. Daran, wie positiv die Vorschläge angenommen wurden, kann man deutlich ablesen, wie sehr manche Mitgliedstaaten darauf gewartet haben, dass diese Aspekte einmal zur Sprache gebracht werden. Nach der Abstimmung im Europäischen Parlament war es vor allem wichtig, im Bereich der Zulassung Stellung zu beziehen. Die Befristung der Zulassung, die das Europäische Parlament ohne Vorgabe im EU-Kommissionsentwurf beschlossen hatte, wäre unpraktikabel und in meinen Augen ein unnötiges Stück Bürokratie. Jeder zuzulassende Stoff würde einer periodisch wiederkehrenden Prüfung unterzogen, selbst dann, wenn die Unbedenklichkeit der Verwendung bereits in einem oder mehreren Verfahren bestätigt wurde. Ich bin daher sehr froh, dass sich Minister Gabriel für die Streichung der Zulassungsbefristung eingesetzt und damit ein Kernanliegen der Union im Rat durchgesetzt hat. Vielen Dank! ({1}) Auch in anderen Punkten hatte der Minister den Rückhalt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, so im Falle der in Forschung und Entwicklung eingesetzten Stoffe. Die CDU/CSU hat bereits in der letzten Legislaturperiode die Förderung eines innovationsfreundlichen Klimas in den Mittelpunkt der REACH-Diskussion gerückt. Denn Innovation schafft Wirtschaftskraft und sichert die Arbeitsplätze, die wir in Deutschland brauchen. Innovation lebt von Flexibilität und einer Vielfalt an Möglichkeiten. Deswegen wollen wir, dass Stoffe, die in der produktbezogenen Forschung und Entwicklung eingesetzt werden, von der Registrierung ausgenommen werden, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass diese Stoffe nicht an Verbraucher abgegeben werden. Am Dienstag wurde nun dementsprechend von den Mitgliedstaaten beschlossen, dass die Notifizierungspflichten für in der Forschung und Entwicklung eingesetzte Stoffe erheblich vereinfacht werden. Im Bereich der Registrierung wurde erreicht, dass der Umwelt- und Gesundheitsschutz im Vordergrund steht. Das System knüpft nicht mehr ausschließlich an die Menge eines Stoffes an, sondern berücksichtigt auch die Gefährlichkeit. So sollen sich die Informationspflichten in der Lieferkette an der Verwendung des Stoffes und an seiner Exposition orientieren. Es werden verschiedene Kategorien eingeführt, um diese Pflichten einfacher handhabbar zu machen. Für die Registrierung von Stoffen in Produktionsmengen von jährlich zehn bis 100 Tonnen konnten keine wesentlichen Erleichterungen der Testanforderungen erreicht werden; auch Herr Kauch hat das angesprochen. Das ist ein Punkt, der vor allem die mittelständische Wirtschaft betrifft. Hier werden Zeit- und Finanzbudgets unnötig gebunden. Oft verfügen die kleinen und mittleren Unternehmen nicht über die notwendige Zeit und die Personalkompetenz, um umfangreiche bürokratische Anforderungen zu erfüllen. Es gilt also nach wie vor: Die Registrierungskosten für kleinvolumige Stoffe müssen eingedämmt werden, damit sie in einem angemessenen Verhältnis zum Umsatz eines mittelständischen Unternehmens stehen. ({2}) Hierin sehe ich die Hauptaufgabe für die zweite Lesung im Europäischen Parlament. Unter dem Strich ziehen wir eine positive Bilanz der Abstimmung im Wettbewerbsfähigkeitsrat. Bei 25 widerstrebenden Interessen in Europa erfordert es schon einiges Verhandlungsgeschick, die eigenen Wünsche durchzubringen. Die Bundesregierung hat es geschafft, ({3}) in den Beratungen viele wichtige Kernanliegen der Union durchzusetzen, was ein großer Erfolg ist. Nochmals vielen Dank, Herr Gabriel, dass Sie sich da so eingesetzt haben! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter von der Fraktion der Linken. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von rund 30 000 relevanten chemischen Stoffen wurden bislang nur etwa 4 000 darauf geprüft, ob sie Gesundheit oder Ökosysteme schädigen. Mit dem Rest, den so genannten Altstoffen, die vor 1981 auf den Markt kamen, läuft faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt. Allergien sowie Brustkrebs- und Atemwegserkrankungen haben drastisch zugenommen. Giftcocktails lassen sich sogar noch in der Muttermilch nachweisen, ebenso weitab der Chemiefabriken im Fettgewebe von Eisbären und Walen. Die EU-Kommission wollte diesen unhaltbaren Zustand mit ihrem Entwurf einer REACH-Verordnung beenden. Für Alt- und Neustoffe ab einer Tonne Jahresproduktion sollte nun gleichermaßen gelten: keine Daten kein Markt. Mengenabhängig hätten die Chemikalien getestet und registriert werden müssen. Vor allem aber sollten besonders gefährliche Stoffe identifiziert und schrittweise ersetzt werden; denn genau das muss der Kern einer verantwortlichen Chemikalienpolitik sein. Ein solches REACH wäre mit 0,1 Prozent des Branchenumsatzes - 0,1 Prozent, Frau Dött und Herr Kauch! - locker zu bezahlen gewesen. Allein die Ausgaben der Kranken- und Rentenkassen für chemikalienbedingte Erkrankungen und Todesfälle betragen ein Mehrfaches davon. Dazu habe ich von Ihnen heute noch gar nichts gehört. Mit gutem Willen hätte man dabei auch - ich denke, das ist uns allen ein Anliegen - die Anzahl der Tierversuche auf das unvermeidbare Minimum beschränken können. Auch das ist nicht passiert. ({0}) Doch dieser Kommissionsentwurf wurde vor vier Wochen vom EU-Parlament gnadenlos verwässert; das wurde hier schon gelobt. In dieser Form hat ihn der Ministerrat am Dienstag leider auch weitgehend bestätigt. Die Chemiekonzerne, die eine gewaltige Desinformationskampagne losgetreten haben, können einen Etappensieg verbuchen: Nunmehr sind die Daten- und Testanforderungen drastisch gesunken. Von den 30 000 relevanten Chemikalien bleiben nur noch 12 000 übrig, die halbwegs vernünftig überprüft werden sollen. Es besteht zwar die Möglichkeit, von den Firmen Daten nachzufordern. Das wird jedoch enorm bürokratisch. So viel zum Thema Bürokratie. Zudem wandert die Beweislast wieder von den Herstellern zu den Behörden; genau das sollte durch REACH umgekehrt werden. Die gescheiterte Altstoffverordnung, unter der in 24 Jahren gerade einmal 65 Stoffe bewertet wurden, lässt schon jetzt grüßen. Insgesamt ist das Rollback in der europäischen Chemikalienpolitik nicht nur ein dreister Frontalangriff auf die Gesundheit der Menschen. Das Ganze ist außerdem ökonomischer Unsinn. Schließlich verleiht eine saubere Registrierung und Bewertung den Firmen Rechtssicherheit in Haftungsfragen, was sehr wichtig ist. ({1}) Alt- und Neuchemikalien könnten zudem in einen gerechten Wettbewerb miteinander treten - und die Schaffung von Wettbewerb ist doch immer Ihr Anliegen. Nun aber werden Intransparenz und Ungleichbehandlung fortgeführt. Innovationsfeindlicher geht es kaum. ({2}) In seiner ersten Lesung vor vier Wochen hat sich das EU-Parlament wenigstens dafür ausgesprochen, gefährliche Chemikalien nur für fünf Jahre befristet zuzulassen. Danach hätten sie von den Unternehmen ersetzt werden müssen, sofern dann unbedenkliche Alternativen existieren. Genau darum geht es doch; wir wollen doch Stoffe, die unbedenklich sind. ({3}) Aber selbst diese einzige positive Veränderung am Kommissionsentwurf wurde vom Rat kassiert. Insgesamt stellt sich damit die Frage, ob ein solches Chemikalienrecht nicht hinter das bisherige zurückfällt. Schließlich gelten die weich gespülten Registrierungsund Zulassungskriterien nun ebenfalls für die Neustoffe und diese unterliegen gegenwärtig noch einem vorbildlichen Registrierungsverfahren. Der BUND hat in dieser Woche analysiert, wer in Europa die Interessen der Chemiekonzerne gegen den Verbraucherschutz besonders eifrig vertreten hat. Das Papier ist wirklich lesenswert: Die deutschen Abgeordneten im Europaparlament haben - mit Ausnahme der Linken und der Grünen - bei allen Änderungsanträgen mehrheitlich für einen Abbau des Gesundheitsschutzes gestimmt. ({4}) Im Falle von SPD und FDP geschah das sogar gegen die jeweilige eigene Fraktion im Europaparlament. Aufgrund der Abgeordnetenanzahl haben deutsche EU-Parlamentarier somit ein fortschrittliches europäisches Chemikalienrecht verhindert. Dass die Bundesregierung im Rat und in der EUKommission als Repräsentantin des VCI auftrat, weiß inzwischen ganz Brüssel. Kommissionsvizepräsidentin Margot Wallström hat öffentlich gegen einen besonders dreisten Vorstoß Günter Verheugens protestiert. Auch das ist bekannt. REACH ist aus unserer Sicht ein trauriges Beispiel dafür, wie Konzerne die Gesetzgebung nach ihren Profitinteressen zurechtbiegen können, wenn sie dafür nur mächtig und frech genug sind. ({5}) Dies geschieht leider mithilfe von Politikern aus der Bundesrepublik Deutschland, einem Land, welches sich so gern als Weltmeister im Umweltschutz ausgibt. Noch ein Wort zu den Grünen:

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen, Sie sind weit über Ihre Redezeit hinaus.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, mein letzter Satz: Ein grüner Baum wächst nur auf rotem Grund. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Rat für Wettbewerbsfähigkeit hat in dieser Woche eine Einigung über die künftige europäische Chemieverordnung REACH erzielt. Das wichtigste Ergebnis dieser Einigung: REACH kommt! Damit kommt eine neue, eine fortschrittliche Chemiepolitik. Wir reden heute natürlich über einen Kompromiss. Frau Bulling-Schröter, ein Kompromiss ist vom Geben und Nehmen gekennzeichnet, vielleicht passt dazu der berühmte Vergleich vom halb vollen und halb leeren Glas. Ich sage: Das Glas ist halb voll. Bei all den unterschiedlichen Interessen, die bei dieser Verordnung zu berücksichtigen waren, ist REACH nämlich ein bedeutender Schritt hin zu einem besseren Umgang mit Chemikalien in Europa. Was wurde erreicht? Wir überwinden mit REACH einen Zustand, der heute alles andere als zufriedenstellend ist. Die Chemikalien, die jetzt in Gebrauch sind, werden systematisch erfasst. Mit REACH entsteht ein zentraler Datenpool für chemische Stoffe und damit eine Entscheidungsgrundlage für andere Bereiche, den Verbraucherschutz und den Arbeitsschutz, die diese dringend benötigen. REACH ist damit die Grundlage für ein wirksames Risikomanagement. Eine sehr wichtige Neuerung ist, dass die Industrie die Verantwortung für ihre Stoffe selbst übernehmen muss. ({0}) Die Beweislast für einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen liegt bei der Industrie. Dabei bleibt es! Gefährliche Stoffe, die sich im Körper ansammeln oder Krebs und Mutationen auslösen können, dürfen in Zukunft nur dann weiterverwendet werden, wenn ein gesicherter Umgang mit diesen Stoffen auch garantiert ist. ({1}) Ein besonderer Vorteil für kleine und mittlere Unternehmen: Es wird einen Mechanismus geben, dass ein Stoff nur einmal registriert werden muss. Das Prinzip „ein Stoff, eine Registrierung“ - für die Spezialisten: OSOR, das ist die Abkürzung für „one substance, one registration“ - soll so ausgestaltet sein, dass zum Beispiel notwendige Tierversuche an Wirbeltieren auch tatsächlich nur einmal durchgeführt werden müssen und dürfen. ({2}) Damit wird - Frau Flachsbarth, Sie als Tierärztin werden zustimmen - auch dem Tierschutz weitgehend Rechnung getragen. Meiner Meinung nach sind das alles bedeutende Fortschritte. Aber natürlich gibt es auch Bereiche, in denen man sich als Umweltpolitiker mehr gewünscht hätte. Ich hätte mir für Chemikalien mit einer Produktionsmenge von einer Tonne bis zehn Tonnen pro Jahr strengere Anforderungen für die Registrierung vorstellen können. Hier hat man den Anforderungen der Industrie ein Stück weit Rechnung getragen. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum gerade von der deutschen Chemieindustrie bis zuletzt gegen eine umfangreichere Lieferung von DaHeinz Schmitt ({3}) ten gekämpft wurde. Es geht dabei doch um Daten, die ohnehin fast vollständig vorliegen. ({4}) Es gibt in Deutschland schon seit Jahren die so genannte Selbstverpflichtung der Unternehmen im Verband der Chemischen Industrie, die das Ziel verfolgt, einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen zu gewährleisten. Danach werden genau die Daten für Stoffe mit niedrigen Produktionsmengen pro Jahr erzeugt, deren Lieferung jetzt auf EU-Ebene quasi freiwillig sein wird. REACH wäre von Anfang an noch ein Stück solider und effektiver ausgefallen, hätte man hier ein bisschen mehr guten Willen gezeigt. Auch wenn es also Konzessionen gab, so erwarten wir von den deutschen Chemieunternehmen, dass sie auch in Zukunft ihre heutigen hohen Standards beibehalten. Wir erwarten ferner, dass die großen Unternehmen ihre Zusage einhalten, gerade kleinen und mittleren Unternehmen die notwendigen Daten zur Verfügung zu stellen; ({5}) denn gerade für ein mittelständisches Unternehmen ist es natürlich aufwendiger, bestimmte Tests durchzuführen und bestimmte Daten bereitzustellen. Hier gibt es die Zusage, dass die Großen den Kleinen unter die Arme greifen werden. Mit REACH wird also ein System eingeführt, das Europa weltweit zum Vorbild für einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen und Produkten machen wird. Weil wir Wettbewerbsnachteile für unsere Industrie vermeiden wollen, muss dieses System - das ist eine weitere Aufgabe, die vor uns liegt - auch für importierte Stoffe gelten. Dies ist wichtig, damit kein Ungleichgewicht entsteht zwischen Stoffen, die hier produziert werden, und Stoffen, die aus Nicht-EU-Staaten kommen. Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt muss die europäische Chemieindustrie und jetzt müssen nicht zuletzt die deutschen Unternehmen ihren Beitrag leisten. Die deutsche Chemieindustrie hat sich grundsätzlich zu einem sicheren Umgang mit chemischen Stoffen und zur Notwendigkeit von REACH bekannt für einen besseren Gesundheitsschutz, für einen besseren Umweltschutz und für einen besseren Verbraucherschutz. Wir legen großen Wert darauf, dass unsere Unternehmen REACH in diesem Sinne nutzen und damit ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Wir sind hier eben Zeugen eines bemerkenswerten Widerspruches geworden, den man - wenn ich das so sagen darf - wohl nur unter einem großkoalitionären Klima als stimmig bezeichnen kann. Auf der einen Seite hat der Herr Minister es in seinem Vortrag so dargestellt, als hätten wir es bei REACH mit einer Kontinuitätslinie rot-grüner Politik zu tun. Auf der anderen Seite hat Frau Dött dem Herrn Minister dafür gedankt, dass er in Brüssel im Wettbewerbsrat die entscheidende Wende im Sinne der CDU/CSU herbeigeführt habe. Ich muss leider sagen: Frau Dött hat Recht; der Entwurf ist zum Schlechteren hin verändert worden, ganz eindeutig. ({0}) Der Herr Minister ist heute ja schon als alles Mögliche tituliert worden: als Erzengel, als Tiger, als Bettvorleger. Das würde ich nie sagen, ({1}) aber eines kann man ihm heute definitiv zuschreiben, nämlich die Rolle des Rosinenpickers - das ist er eindeutig. Es ist in der Tat gut, dass wir hier ein Telefon haben; ich habe mir nämlich noch einmal von meinem Mitarbeiter die gemeinsame Stellungnahme von VCI, IG BCE und Bundesregierung vom März 2002 heraussuchen lassen. Da werden verschiedene Positionen ausgeführt und eine hat sich der Minister herausgesucht - das stimmt; das war damals von Hubertus Schmoldt und von Hambrecht mit Nachdruck vorgetragen worden -: Auf gar keinen Fall zeitliche Befristungen. Es ist natürlich eine ganze Reihe anderer Forderungen enthalten, für die Sie sich dann leider nicht eingesetzt haben und die Sie in Brüssel nicht durchgesetzt haben, zum Beispiel die Forderung, dass wir für Stoffe mit Produktionsmengen zwischen eine und zehn Jahrestonnen wesentlich weiter gehende Datensätze brauchen. Das geht wesentlich über das hinaus, was die Kommission vorgeschlagen hat. Dass für Zwischenprodukte aussagekräftigere Mindestdatensätze verpflichtend gemacht werden sollen, haben Sie ebenfalls nicht durchgesetzt. So gesehen ist das in der Tat ein deutliches Abweichen von dem, was die alte Regierung gemacht hat; da beißt die Maus keinen Faden ab. So leicht es mir gefallen ist, Herr Minister, Sie vor wenigen Tagen öffentlich für Ihren guten Auftritt auf der Klimaschutzkonferenz in Montreal zu loben, so muss ich doch in dieser Sache eindeutig sagen: Das, was Sie da in Brüssel abgeliefert haben, ist absolut schlecht und inakzeptabel. ({2}) Sie haben dort nicht, wie das für einen Umweltminister angemessen wäre, vorrangig Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsinteressen vertreten, sondern vor allen Dingen eben die vermeintlichen - ich komme gleich dazu Interessen der Chemieindustrie. Die Verbraucherverbände und die Umweltverbände haben dazu das Notwendige gesagt. Wir halten es auch innovationspolitisch für falsch, wenn es schwieriger ist, neue Chemikalien in den Markt zu bringen, die aufwendige Test-, Genehmigungsund Registrierungsverfahren durchlaufen müssen, als alte Chemikalien, die möglicherweise unbekannte Nebenwirkungen haben, im Markt zu lassen. Das ist keine Innovationsförderung, sondern es ist Innovationsbehinderung, ganz eindeutig. ({3}) Der entscheidende Punkt, den ich ansprechen möchte, ist - es ist ja schon viel anderes gesagt worden -: REACH reiht sich ein in eine Liste von verbraucherpolitisch äußerst fragwürdigen Entscheidungen, die in den letzten Tagen getroffen wurden. Schauen wir doch einmal zurück: Gestern hat Minister Seehofer drei Bt-Maissorten, also gentechnisch veränderte Maissorten, genehmigt, die wir nicht brauchen und die äußerst fragwürdig sind. Heute kündigt er an, dass er das Gentechnikgesetz ändern will. Durch die geplanten Änderungen würden das Verursacherprinzip faktisch ausgehebelt und die Haftungsregelungen des jetzigen Gentechnikgesetzes so geändert werden, dass jemand, der kontaminiert ist, nicht mehr geschützt ist, sondern vielmehr nachweisen muss, wer ihn kontaminiert hat. Darüber hinaus will Herr Seehofer die im Verbraucherinformationsgesetz enthaltene Informationspflicht der Unternehmen komplett streichen. In diese Liste reiht sich REACH ein. An den Konturen Ihrer Politik, die hier erkennbar werden, sieht man, dass Sie einen Kniefall vor der Chemieindustrie machen, aber die Verbraucherinteressen ignorieren. Das halten wir für völlig falsch. ({4}) - Das ist kein dummes Zeug, sondern leider die Wahrheit. ({5}) Eines will ich Ihnen noch sagen: Bevor ich gerade hierher kam, habe ich einen Brief an die Bayer AG geschrieben, der in Montreal ein Preis - der „Low Carbon Leaders Award“ - verliehen wurde. Bayer wurde damit als eines der Unternehmen ausgezeichnet, die sich weltweit am meisten für den Klimaschutz einsetzen. Dazu sage ich nur: Chapeau! Weil mein Wahlkreis in Leverkusen ist, habe ich dem Unternehmen geschrieben; denn ich finde das, was Bayer in diesem Bereich tut, prima. Aber für viele andere Bereiche gilt ganz eindeutig: Es ist gefährlich, wenn sich die Politik bzw. eine Bundesregierung die Positionen der Chemieindustrie, die wettbewerbspolitisch natürlich legitim sind, zu einseitig zu Eigen macht. ({6}) Wenn man sich REACH anschaut, stellt man fest: Sie haben sich die Forderungen der chemischen Industrie sehr einseitig zu Eigen gemacht und sind über die vernünftigen Vorschläge derjenigen hinweggegangen, denen der Umwelt-, der Verbraucher- und der Gesundheitsschutz besondere Anliegen sind. Insofern sage ich: Hier haben Sie einen Kniefall vor der Chemieindustrie gemacht, ({7}) der in dieser Form ganz eindeutig nicht nötig gewesen wäre. Danke schön und frohe Weihnachten. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Franz Obermeier, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Loske, Ihre Rede war wieder einmal ein Beweis dafür, dass Ihre Grünen-Fraktion absolut unfähig ist, Innovationen und moderne Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland ausgewogen zu bewerten. ({0}) Durch die Politik, die Sie in den vergangenen Jahren gemacht haben, hat sich die deutsche Wirtschaft immer stranguliert gefühlt. Ob es nun so war oder nicht, lasse ich einmal dahingestellt. Aber man hatte nicht das Gefühl, dass die Wirtschaft die Unterstützung der Politik hatte, wenn es um die Weiterentwicklung von Unternehmen, die Sicherung bestehender Arbeitsplätze oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze ging. Sie haben immer den Eindruck vermittelt, als seien die Unternehmen und die Vorhaben, die sie in Deutschland umsetzen wollen, eigentlich gar nicht erwünscht. ({1}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Ihren Einlassungen über die kleinen Unternehmen machen. Gerade die kleinen Unternehmen wären vom ursprünglichen REACH-Entwurf massiv betroffen gewesen. ({2}) Herr Minister, weil wir wissen, dass neue Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich in den kleinen und mittelständischen und nicht in den großen Unternehmen geschaffen werden, sind wir über die Entscheidung, die im Europäischen Rat in Brüssel gelungen ist, froh. Ich jedenfalls freue mich darüber. Denn durch diese Entscheidung wird die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen chemischen Wirtschaft weit weniger beeinträchtigt, als es ursprünglich der Fall gewesen wäre. Diese Entscheidung als Kniefall zu bezeichnen ist schon ziemlich weit hergeholt, meine Damen und Herren von den Grünen. Vielmehr bedeutet die jetzt getroffene Entscheidung tatsächlich ein Mehr an Verbraucherschutz, da nun der Großteil der hunderttausend am Markt befindlichen Chemikalien auf ihre Risiken getestet wird. Gleichwohl möchte ich nicht verschweigen, dass ich den Eindruck habe, als müsste noch an einigen Stellen nachgearbeitet werden: Erstens. An den Kosten für die nötigen Testreihen sollten alle Hersteller und Verarbeiter beteiligt werden auch jene aus Nicht-EU-Staaten. Zweitens. Bei der Registrierung von Stoffen - dem für die Wirtschaft bedeutsamsten Bereich - hat der Rat die Testanforderungen im Gegensatz zum Parlamentskompromiss spürbar erhöht, ohne damit irgendeinen zusätzlichen Gewinn für Umwelt oder Gesundheit zu erzielen. Das gilt besonders für den Bereich der Jahresproduktion von zehn bis 100 Tonnen und damit für die kleinen und mittleren Unternehmen. Somit besteht die große Gefahr, dass Stoffe lediglich aus Kostengründen vom Markt verschwinden werden, nicht aber weil sie besonders gefährlich wären. Dieser vom Rat zu verantwortende Effekt gefährdet Arbeitsplätze in Deutschland und läuft der erklärten Zielsetzung der neuen Stoffpolitik eklatant zuwider. Drittens. Herr Minister, ich sehe Bedarf für einen umfassenden Datenschutz. Es ist ein berechtigtes Anliegen der Hersteller, dass Zusammensetzung, Herstellung und Verarbeitung ihrer Produkte Geschäftsgeheimnisse bleiben. Es muss gewährleistet sein, dass nicht mehr Daten als unbedingt notwenig nach außen bekannt werden. Sonst könnte weltweit jeder Konkurrent von den REACH-Erhebungen profitieren und die chemischen Rezepte einfach „nachkochen“. Lassen Sie mich zum Abschluss ein Fazit ziehen: Es ist anzuerkennen, dass der Rat den ursprünglichen Entwurf der Kommission - nicht zuletzt auf Betreiben unserer neuen Bundesregierung - für die Wirtschaft deutlich praktikabler gestaltet hat - und das bei Aufrechterhaltung der gesundheits- und umweltpolitischen Ziele. Insgesamt liegt nun ein akzeptables Paket für das REACHSystem vor. Allerdings ist der Ratskompromiss zu REACH in einigen Punkten noch verbesserungsbedürftig. Im weiteren Verfahren müssen wir getreu unserer Koalitionsvereinbarung zu REACH vorgehen: Ziel von CDU/CSU und SPD ist es, dass die Herstellung von Chemikalien durch REACH im Ergebnis nicht verteuert werden darf. Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie Wettbewerbsfähigkeit müssen in diesem Rahmen sorgfältig ausbalanciert werden. Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! REACH hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende, aber wir haben eine wichtige Etappe erreicht. Es hat jahrelange Verhandlungen gegeben, es hat Proteste der Industrie gegeben, der Umweltverbände, der Tierschützer. Viele Studien wurden angefertigt, unter anderem von Nordrhein-Westfalen. Jetzt haben wir einen Mehrheitsbeschluss des Rates und nun ist die zweite Lesung im Europäischen Parlament abzuwarten. In diesem ganzen Verfahren wurde der ursprüngliche Entwurf der Kommission mehrfach verändert: durch das Europäische Parlament und auch durch den Rat. Das Ziel - den Umgang mit 30 000 Altstoffen sicherer zu machen - teilen wir alle. Umwelt-, Verbraucher-, Gesundheits- und Arbeitsschutz stehen dabei im Mittelpunkt. Es ist schon gesagt worden: Besonders wichtig ist der Ausschluss von kanzerogenen und erbgutverändernden Stoffen in verbrauchernahen Produkten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viele Lobbyisten wie im Zusammenhang mit dieser gesetzlichen Regelung - auf allen politischen Ebenen - sind noch nie tätig geworden. Aber - Frau Kotting-Uhl ist nicht mehr da ich finde, man kann an dieser Stelle nun wirklich nicht von Erpressung reden. Ich glaube, sowohl Umweltverbände als auch die Industrielobby und die Gewerkschaften haben legitime Interessen vertreten ({0}) und es gehört zu einem demokratischen Prozess, dass diese Interessen in einer ernsthaften Auseinandersetzung vorgetragen und Konflikte ausgetragen werden. ({1}) Mit dem Ergebnis, das auf dieser Etappe erreicht worden ist, sind noch immer nicht alle zufrieden: Die Umweltschutz- und Verbraucherverbände hätten sich anderes und mehr gewünscht; die Wirtschaft und die Industrielobby sind auch nicht zufrieden. Das haben wir gerade aus dem Mund der Kollegen gehört. Es wird gesagt, die Kosten seien noch immer nicht tragbar. Es wird vorgetragen, dass kleine und mittlere Unternehmen, die oft nur geringe Mengen herstellen, über Gebühr belastet würden. Auch wurde die Frage der internationalen Wettbewerbssituation aufgeworfen, wobei ich glaube, dass das dadurch geregelt ist, dass auch die Importeure in das Verfahren mit einbezogen werden. Ja, es ist richtig, dass der Verordnungsentwurf ursprünglich rigoroser war. In ihm waren mehr Tests und eine größere Testtiefe vorgesehen, es wurden mehr Daten auch bei kleineren Produktionsmengen verlangt. Aber, Frau Bulling-Schröter, der jetzige Entwurf führt nicht dazu, dass die Umwelt- und Verbraucherschutzinteressen vernachlässigt werden und ein fortschrittliches EU-Chemikalienrecht verhindert wird. Selbstverständlich ging das Bestreben der Kommissarin, die den ursprünglichen Entwurf eingebracht hat - sie kommt aus einem Land, das keine bedeutende chemische Industrie hat -, dahin, dass möglichst wenig Veränderungen an ihrem Entwurf vorgenommen werden. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das Ergebnis, das nun erreicht worden ist, sowohl die Wünsche aus den Chemiestandorten als auch die Forderung nach mehr Umweltschutz erfüllt. In der Chemiepolitik gibt es gegenüber der bisherigen Situation kein Rollback. Es wird verhindert, dass nicht registrierte Altstoffe unkontrolliert weiter verwendet werden. Das ist ein riesengroßer Fortschritt, vor allem in den Bereichen der Massenprodukte und der verbrauchernahen Produkte. Dennoch ist die Belastung für die Wirtschaft in Grenzen geblieben. Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Punkte ansprechen: Erstens. Herr Loske hat im Zusammenhang mit der Frage der Innovationen Schwarz-Weiß-Malerei betrieben. Ich bin davon überzeugt, dass diese Verordnung einen Innovationsschub bringen wird, weil gefährliche und schädliche Stoffe ersetzt werden. Aber allein die bessere Kenntnis von Stoffen kann dazu beitragen, dass eine Produktoptimierung durchgeführt wird. Das alte Stoffrecht dagegen hat genau diese Innovationen behindert. Dass die Opposition Schwarz-Weiß-Malerei betreibt, kann ich nachvollziehen. Die Koalitionsfraktionen dagegen müssen eine Balance finden und das Machbare durchsetzen. Zweitens - das ist mir als Europapolitikerin wichtig -: Solche Regelungen hätten national keinerlei Sinn gemacht. In diesem Fall bringt die EU konkrete Fortschritte für die Menschen. Sie können in Zukunft mehr darauf vertrauen, dass sich die Stoffe, die sich in Kosmetika befinden, nicht in ihren Körpern anreichern, dass in Spielzeugen keine giftigen Substanzen sind, die herausgelöst werden können, oder dass Lacke keine giftigen Dämpfe absondern. Die Menschen können die EU in diesem konkreten Fall positiv erfahren. Die Mitgliedstaaten haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich zu einigen. Das ist wichtig, gerade vor dem Hintergrund des heute stattfindenden schwierigen Gipfels. Ich freue mich, dass unser Umweltminister dazu beigetragen hat, dass die britische Ratspräsidentschaft wenigstens diesen Erfolg in der Tasche hat. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest. Passen Sie auf, dass Sie sich nicht an den Wunderkerzen verbrennen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ingbert Liebing, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich hätte ich mich gerne mit den Argumenten meiner Vorredner von den Grünen auseinander gesetzt. Beide haben das Plenum aber schon verlassen. Ich finde es beschämend, dass Sie von den Grünen am Freitagnachmittag eine solche Debatte beantragen, dann aber gerade einmal mit drei Abgeordneten aus Ihren Reihen hier im Plenum vertreten sind. ({0}) Offensichtlich liegt Ihnen an pressewirksamen Showeffekten doch mehr als an der Sachdiskussion hier im Plenum. ({1}) Dabei bin ich den Grünen eigentlich ausgesprochen dankbar für diese Aktuelle Stunde zum Thema REACH, gibt mir die Debatte doch Gelegenheit, der deutschen Öffentlichkeit den Unterschied zwischen einer pragmatischen, lösungsorientierten und ausgewogenen Politik, die sich jetzt im EU-Rat durchgesetzt hat, und Ihrer überzogenen Regulierungswut deutlich vor Augen zu führen; denn darum geht es im Ergebnis ja. ({2}) Es geht darum, dass nach einem mehrjährigen Streit in Europa eine Verständigung über die künftige Chemikalienpolitik endlich nahezu erreicht ist. Dies war vor allem auch deshalb möglich, weil Deutschland mit unserer neuen Kanzlerin an der Spitze endlich wieder mit einer klaren Stimme und mit einem klaren Kurs in der EU aufgetreten ist. Mit diesem Kurs werden beide Interessen berücksichtigt, nämlich die Interessen des Verbraucherund Umweltschutzes genauso wie das legitime Interesse - dieses sollten wir alle achten - an einer funktionsfähigen Wirtschaft, an einer funktionsfähigen Chemieindustrie und an der Lebensfähigkeit der vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die mit chemischen Stoffen umgehen. ({3}) Beides ist wichtig. Dies findet jetzt in der Entscheidung des EU-Wettbewerbsrates seinen Niederschlag. Wir haben erlebt, wie die Grünen heute Sturm dagegen gelaufen sind. ({4}) - Genau, es war ein laues Lüftchen. - Das verwundert ja auch nicht; denn letztlich ist genau das Ihr Problem: Sie bekommen diesen Interessenausgleich eben nicht hin. ({5}) Sie wollen - das hat die Debatte wieder gezeigt - alles bis ins Letzte reglementieren, koste es, was es wolle, und koste es auch viele Betriebe die Existenz und viele Arbeitsplätze. Damit ist jetzt endlich Schluss. ({6}) Als Sie noch mit Ihrem Minister die Verantwortung hatten, wollten Sie wieder nach Ihrem alten bekannten Strickmuster verfahren: Was Sie in Deutschland national nicht erreichen können, versuchen Sie uns über Bande - über Europa - aufzudrücken. Auch damit ist jetzt Schluss. ({7}) Deutschland hat nämlich wieder eine handlungsfähige Regierung, eine Regierung, die ihre Gesamtverantwortung ernst nimmt und unterschiedliche Interessen ausgleicht. Damit ist Deutschlands Position in Europa deutlich gestärkt worden. Nur so ist es unserer neuen Regierung möglich geworden, den Kompromiss im EURat deutlich zu befördern. Mit Jürgen Trittin am Kabinettstisch und im Rat wäre dies sicherlich nicht möglich gewesen. Denn was hätten Sie mit Ihrer Position erreicht? Sie haben doch nur erreicht, dass es eben keine Verständigung gegeben hat. Diente das denn den Interessen der Verbraucher mehr? Haben Sie durchgesetzt, dass das Thema Altstoffe - es geht um die Stoffe von vor 1981 - jetzt wirklich angepackt wird? ({8}) Nein, Ihre Position hätte eine Verständigung in weite Ferne gerückt und es wäre alles beim Alten geblieben. Deshalb ist es gerade das Verdienst der neuen Bundesregierung, dass jetzt der Durchbruch erreicht wurde und dass 30 000 Altstoffe in angemessener Form aufgearbeitet werden. ({9}) Schon jetzt ist davon auszugehen, dass diese Aufarbeitung elf Jahre dauern wird. Mit Ihrer Regulierungswut würde es wohl noch länger dauern. Wenn alle Stoffe nahezu gleich behandelt werden, können Schwerpunkte nicht gesetzt werden. Da ist es doch wohl allemal sinnvoller, dort zu beginnen, wo besondere Risiken bestehen. Dort, wo das eben nicht der Fall ist, kann mit viel weniger Aufwand viel schneller ein vernünftiges Ergebnis erzielt werden. Ich denke, das dient doch allemal mehr den Interessen des Umwelt- und Verbraucherschutzes als Ihre Position. ({10}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen: Noch ist REACH nicht am Ende. Wir wissen auch, dass es noch immer unterschiedliche Auffassungen zwischen dem EU-Parlament und dem Rat gibt. Meine Fraktion unterstützt die Regierung und Umweltminister Gabriel ausdrücklich darin, den jetzt eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Wir ermuntern Sie, konsequent zu bleiben und keine weiteren Verschärfungen zuzulassen, durch die das jetzt gefundene austarierte Gleichgewicht der Interessen wieder ins Rutschen geriete. Herr Minister Gabriel, wir werden Sie gegen jede Anfeindung vonseiten der Grünen in Schutz nehmen, damit unser Land nicht wieder in die unsäglichen Zeiten rotgrüner Verhinderungspolitik zurückfällt, ({11}) unter der Deutschland so lange zu leiden hatte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Liebing, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für Sie. ({0}) Nun hat Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion, das Wort. ({1})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! REACH ist mittlerweile ein „reach out“, ein Griff nach den Sternen am europäischen Richtlinienhimmel. Der Weg dahin ist mehr als beschwerlich gewesen. Lassen Sie mich rekapitulieren: REACH ist ein sehr ehrgeiziges Programm, das in einer Richtlinie über 40 verschiedene bestehende Vorschriften ersetzt und gleichzeitig wichtige Ziele für eine europäische Chemikalienpolitik verfolgt. Es geht um den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, den Erhalt bzw. die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Chemieunternehmen, die Verhinderung der Aufsplitterung des gemeinsamen Binnenmarktes, die verbesserte Information über Chemikalien, die Integration der EU-Politik in internationale Programme, die Einhaltung bzw. Übereinstimmung mit WTO-Regelungen, die Förderung von Prüfmethoden ohne Tierversuche und nicht zuletzt um die Substitution gefährlicher Stoffe durch ungefährlichere. Es geht also praktisch um die Quadratur des Kreises. Seit 1999 arbeiten wir alle an dieser Richtlinie: unsere Kollegen vom Europäischen Parlament, die Kommission, der Ministerrat und auch wir. Selbst die Landesparlamente haben sich damit intensiv befasst und sogar im Rahmen eines Planspieles die Auswirkungen der seinerzeitigen Regelungen auf Mensch und Wirtschaft durchgerechnet, also eine Gesetzesfolgenabschätzung gemacht und damit auch Veränderungen auf den Weg gebracht. Schließlich kommt der chemischen Industrie in Europa und natürlich auch in Deutschland große ökonomische Bedeutung zu. Über 34 000 Unternehmen mit über 1,7 Millionen direkt Beschäftigten gehören zur Chemieindustrie. Wie wir aus Veröffentlichungen wissen, ist dieser Wirtschaftszweig nach wie vor bestens aufgestellt, hochinnovativ und produktiv. Diese Branche gibt auch etwas zurück: Entgegen dem Trend hat sie ihr Ausbildungsplatzangebot um über 2,5 Prozent gesteigert. ({0}) 15 Prozent der Wertschöpfung in unserem Land kommen aus der Chemieindustrie. ({1}) Aus diesem Grund liegt uns allen die europäische Chemiepolitik am Herzen. Ich gebe zu: mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Nach all den vielen Konsultationen, Verhandlungen und Abstimmungen konnte vor drei Tagen im Ministerrat eine Einigung über die Chemikalienverordnung REACH erzielt werden, auch wenn keine Seite ihre gewünschten Lösungen im Detail erreicht hat. Deshalb kann von einem Kniefall kaum die Rede sein. Mit der jetzt vorliegenden Entscheidung ist es weitestgehend gelungen, ökonomische, ökologische und soziale Belange ausgewogen zusammenzubringen, und zwar - das stelle man sich vor - unter 25 Mitgliedstaaten. Der Ministerrat - damit auch unser Minister - konnte sich dabei auf einen Verordnungsvorschlag des Parlaments stützen und übernahm zum großen Teil die Vorlage, zum Beispiel beim Registrierungsverfahren. Hier wird bei Altstoffen, also denen, die vor 1981 in Verkehr gebracht wurden, in Mengen von ein bis zehn Jahrestonnen regelmäßig nur ein Grunddatensatz gefordert, der aber je nach Gefährdungspotenzial durch zusätzliche Tests ausgeweitet werden kann. Für Neustoffe erfolgt die Registrierung aber strikt nach dem Mengenansatz. Beim Zulassungsverfahren hat sich der Rat darauf geeinigt, bürokratische Hürden zu verringern. Deshalb soll jetzt die Zulassung grundsätzlich unbefristet erfolgen, statt, wie vom Europäischen Parlament vorgesehen, nach fünf Jahren auszulaufen. Eine derartige Einschränkung hätte den Unternehmen wenig Rechtssicherheit gebracht und Innovationen nicht unbedingt befördert, weshalb auch unsere SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament über diese Fristenlösung nicht besonders glücklich waren. Auch wenn die Frist jetzt wohl vom Tisch ist, kann die Agentur von Fall zu Fall periodische Überprüfungen vornehmen. Man wird sehen, ob die Aufgabe des Zwangs zur Substitution - ob sie nun wirklich eine Verbesserung gebracht hätte, steht dahin - tatsächlich zu der befürchteten Konsequenz führt, dass damit der Anreiz für Alternativprodukte entfällt. Ich bin überzeugt, dass ein eingespielter Markt zu ständigen Verbesserungen bzw. Alternativen drängen wird. Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen konnte im Sinne der Industrie erheblich verbessert werden. Das ist von großer Bedeutung, weil unsere Industrie kein Interesse daran haben kann, aufgrund der weitreichenden Offenlegungspflichten außereuropäische Wettbewerber zu begünstigen, was uns als Verbraucher aber auch keinen Vorteil gebracht hätte. Für die Stoffe, die in der Forschung und Entwicklung, aber noch nicht auf dem Markt sind, wird die Meldepflicht erheblich vereinfacht, damit Forschungsprogramme nicht gefährdet werden. Im Zusammenhang mit der Datenerstellung soll das Prinzip „one substance, one registration“ verpflichtend bestehen bleiben, aber ein „opt out“ möglich sein, wenn zum Beispiel Informationen vertraulich sind oder ein Mitbewerber früher als der andere registrieren will. Zusammenfassend kann ich feststellen, dass sich der lange Diskussionsprozess um diese Chemikalienrichtlinie gelohnt hat. Ganz abgeschlossen ist er allerdings noch nicht; denn es stehen noch die weiteren Beratungen im Plenum und im Ministerrat aus. Allerdings wird es wohl keine großen Änderungen mehr geben. Aber eines stellt mich immer noch nicht zufrieden: Während Produkte, die in Europa gefertigt werden und Chemikalien beinhalten - vom Nagellack bis zum Auto, vom Kunststofffenster bis zum Spielzeug -, dieser Richtlinie unterliegen, gibt es keine Regelung für Fertigprodukte aus dem nichteuropäischen Ausland. Eigentlich müsste REACH aber auch bis dorthin reichen. Das kann man sich vielleicht zu Weihnachten und zum Jahreswechsel wünschen. Ich wünsche Ihnen einen guten Jahreswechsel. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun als letztem Redner dem Kollegen Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine kurze Bemerkung voranstellen. Ich finde es wichtig, dass nach jahrelangen Diskussionen REACH jetzt so schnell wie möglich umgesetzt wird. ({0}) Denn ich glaube, dass damit das Wissen über die verwendeten Stoffe erhöht wird; dies bedeutet eine Verbesserung für Umwelt und Gesundheit und damit für die Verbraucher. ({1}) Weil ich mich auch heute wieder darüber geärgert habe, dass vonseiten der Grünen immer wieder so getan wird, als hätten sie den Umweltschutz gepachtet, möchte ich darauf hinweisen, dass das Thema auch für uns wichtig ist. ({2}) Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang von einer Begegnung berichten, die ich vor zwei Wochen hatte. Ein Biobauer vom Bodensee kam zu mir und berichtete, er habe gerade ein längeres Gespräch mit einem AuszuAndreas Jung ({3}) bildenden geführt, der ihm gesagt habe, er wolle zu den Grünen gehen. Darauf hat der Biobauer erwidert: Du darfst zwar ein grünes Herz haben und etwas für Umwelt- und Naturschutz übrig haben, aber du musst in einer gescheiten Partei sein. - Es wird Sie nicht überraschen, dass er damit unsere Partei gemeint hat. ({4}) Für uns ist Umweltschutz genauso wichtig wie für andere. Die große Koalition will, kann und wird eine gute Umweltpolitik gestalten. Ich begrüße REACH auch aus einem weiteren Grund. Derzeit gibt es 40 Richtlinien, die den Bereich der Chemikalienpolitik regeln. Wenn man es richtig macht, dann bietet REACH die Möglichkeit, das zu erreichen, was die Union immer wieder gefordert hat, nämlich die Vereinfachung von Gesetzen und den Abbau von Bürokratie. ({5}) Wenn es darum geht, den gefundenen Kompromiss zu bewerten, dann meine ich, dass er uns voranbringen wird. Er bringt uns voran, weil auf der einen Seite die Ziele - die Verbesserung des Umweltschutzes, des Verbraucherschutzes und der Gesundheit - erreicht werden und auf der anderen Seite die Rahmenbedingungen für diejenigen, die mit diesen Regelungen arbeiten müssen - ich meine die Unternehmen -, verbessert werden. Ich möchte einen Punkt aufgreifen, der schon mehrfach genannt wurde, nämlich den Wegfall der Befristung für Zulassungen. Ich glaube, dass dies ein wichtiger Schritt ist. ({6}) Ich meine zwar, dass uns der Kompromiss voranbringt, aber ich möchte in diesem Zusammenhang einen Punkt ansprechen, in dem meines Erachtens noch weiter verhandelt werden muss: die Zulassung von Stoffen für Testverfahren im Bereich einer Jahresproduktion zwischen 10 und 100 Tonnen. In diesem Punkt sind noch Änderungen notwendig, weil die vorgesehenen Regelungen die kleinen und mittelständischen Unternehmen besonders treffen, da deren Umsetzung mit erheblichen Kosten verbunden ist. Ich meine, wir sollten etwas lassen, das in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen ist. Durch gesetzliche Regelungen wurden Normen geschaffen, die große Unternehmen - wenn auch nicht gerne - erfüllen und verkraften konnten, mit denen sich aber kleine und mittlere Unternehmen sehr viel schwerer taten, weil sie durch diese sehr schwer belastet wurden und manchmal sogar überfordert waren. Hier muss es Änderungen geben, die gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen zielführend sind. ({7}) Wir sind auf einem guten Weg. Es muss allerdings noch verhandelt werden, um weitere Fortschritte zu erreichen. Verschwinden sollen mit REACH die Stoffe, die gesundheitsgefährdend sind, nicht aber Unternehmen, insbesondere nicht die kleinen und mittleren. Denn diese brauchen wir für all das, was wir uns in diesem Land vorgenommen haben: mehr Innovationen, Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze. ({8}) Gestatten Sie mir am Schluss eine persönliche Bemerkung. Die Letzte wird die Erste sein. So ähnlich steht es in der Bibel. Ich komme aus dem Wahlkreis Konstanz. Zu Beginn dieses Jahres glaubte ich wie jeder andere, dass unser Bundestagsabgeordneter Hans-Peter Repnik noch über ein Jahr sein Mandat ausüben würde. Ich hätte nicht gedacht, dass die letzte Rede, die in diesem Jahr im Deutschen Bundestag gehalten wird, meine erste sein würde. Ich habe mich gefreut, dass ich heute hier sprechen konnte. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit und wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Jung, meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Bundestagsrede. Alles Gute für Ihre Arbeit! ({0}) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Januar 2006, 13 Uhr, ein. Ich schließe mich meinerseits den guten Wünschen für eine frohe Weihnachtszeit und einen heiteren Jahreswechsel an. Alles Gute! Wir sehen uns hoffentlich wohlbehalten und bester Laune im neuen Jahr wieder. Die Sitzung ist geschlossen.