Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und gute
Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können,
müssen wir fünf vom Deutschen Bundestag in den Stiftungsrat der neu errichteten Bundesstiftung Baukultur
zu entsendende Mitglieder wählen. Von den Fraktionen
sind dafür vorgeschlagen: die Kollegin Renate Blank für
die Fraktion der CDU/CSU, die Kollegin Petra Weis für
die Fraktion der SPD, der Kollege Joachim Günther für
die Fraktion der FDP, die Kollegin Heidrun Bluhm für
die Fraktion Die Linke und die Kollegin Undine Kurth
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Ich
höre jedenfalls keinen Widerspruch dazu. Dann sind die
genannten Damen und der Kollege Joachim Günther in
den Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gewählt.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen teilt mit,
dass für den kürzlich aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Kollegen Matthias Berninger die Kollegin
Kerstin Andreae ordentliches Mitglied im Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Sind Sie
auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das scheint
der Fall zu sein. Dann ist die Kollegin Kerstin Andreae
in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zur Raketenstationierung
in den Ländern Osteuropas ({0})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Fahrpersonalgesetzes
- Drucksache 16/4691 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke,
Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Chancen für Frauen auf dem Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksache 16/4737 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik
Deutschland zur Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen
- Drucksache 16/4735 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
- Drucksache 16/4736 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 8, 12 a und 15 werden abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 19 b zusammen mit
dem Tagesordnungspunkt 4 beraten. Außerdem ist zum
Tagesordnungspunkt 12 b eine Aussprache nicht mehr
vorgesehen. Er soll bei den Beratungen ohne Aussprache
behandelt werden. Durch die Absetzungen und Verschiebungen ergeben sich Auswirkungen auf die Reihenfolge
der Tagesordnungspunkte. Die Tagesordnungspunkte 10,
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
14, 16 und 18 werden jeweils vorgezogen und nach den
Tagesordnungspunkten 7, 9, 11 und 13 aufgerufen.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, möchte
ich darauf hinweisen, dass heute auf den Tag genau vor
175 Jahren Johann Wolfgang von Goethe gestorben ist.
({5})
Da in einem beachtlichen Teil des deutschen Feuilletons
in den vergangenen Tagen die ausdrückliche Besorgnis
geäußert wurde, dass die deutsche Öffentlichkeit davon
nicht einmal Kenntnis nimmt, will ich dem durch ausdrückliche Erwähnung entgegentreten.
({6})
Für ein anderes ähnlich bedeutendes Ereignis muss
man diese Besorgnis nicht haben, aber es verdient ganz
gewiss auch Erwähnung: Gestern hat Hans-Dietrich
Genscher seinen 80. Geburtstag gefeiert.
({7})
Als ich ihm gestern neben meinen persönlichen
Glückwünschen die Huldigung des Deutschen Bundestages zu Füßen legen wollte, hat er gemeint, das sei doch
vielleicht eher eine Übertreibung. Ich habe in Aussicht
gestellt, dass sich der Deutsche Bundestag meiner Einschätzung ganz sicher mit breiter Mehrheit anschließen
werde.
({8})
- Ich bedanke mich für die prompte Bestätigung und
bringe meine Bewunderung vor allen Dingen für die
Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck, die es von der
gestrigen Veranstaltung rechtzeitig zur heutigen Sitzung
geschafft haben.
({9})
Damit rufe ich jetzt endlich den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
50. Jahrestag der Römischen Verträge
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese
Aussprache zwei Stunden dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die
SPD-Fraktion.
({10})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lassen Sie mich meine Rede mit einem Traum beginnen.
Es ist Jeremy Rifkins Traum von Europa, der Traum
eines Amerikaners. Ich darf zitieren:
Der europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, kulturelle
Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die
Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum,
spielerische Entfaltung über ständige Plackerei,
universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.
Wenn Rifkin von diesem europäischen Traum spricht,
dann meint er nicht, dass es sich um eine irreale Vorstellung handelt, sondern dass dieses Europa, diese EU
wirklich traumhaft ist. Mancher von uns mag von ungläubigem Staunen erfasst sein. Mancher mag mitleidig
lächeln. Das soll die EU sein? Unser bürokratisches,
schwerfälliges Monster, das so weit von den Bürgern
entfernt und so wenig durchschaubar ist? Diese EU, die
ein großer, aber kalter gemeinsamer Markt ist? Ja, die
EU ist mehr als Kohle und Stahl, Agrarsubventionen und
Chemikalienrichtlinie.
Der 50. Geburtstag der Römischen Verträge ist Anlass, innezuhalten, um sich der Anfänge zu erinnern, Bilanz zu ziehen und nach vorne zu schauen. Schon im
19. Jahrhundert sahen vereinzelte Visionäre die Zukunft
unserer europäischen Nationalstaaten in einem geeinten
Europa. Die SPD sprach in ihrem Heidelberger Programm bereits 1925 von der zwingend gewordenen
Schaffung einer europäischen Wirtschaftseinheit und der
Bildung der Vereinigten Staaten von Europa.
({0})
Doch die Schrecken des Ersten Weltkrieges hatten
noch nicht ausgereicht, um die Menschen zusammenzuführen. Erst die Barbarei des Nationalsozialismus mit ihren schrecklichen Folgen - Tod und Leid von Millionen
Menschen, die Zerstörung altehrwürdiger Städte und
hochleistungsfähiger Industrien - schuf die Bereitschaft,
aufeinander zuzugehen. Die Gründungsväter der europäischen Vereinigung haben teilweise schon während des
Zweiten Weltkrieges Ideen entwickelt, wie Europa nach
den nationalistischen Verirrungen zu einem neuen
Selbstverständnis, zu Sicherheit, Frieden, Freiheit, Mobilität und wirtschaftlichem Wohlstand finden könnte.
Robert Schuman, de Gaulle und Konrad Adenauer haben dann der Versöhnung und der Zusammenarbeit im
gemeinsamen Interesse den Vorrang gegeben. Die Anfänge waren schwierig und setzten das politisch Notwendige und Mögliche um. Nach Bildung der Montanunion
scheiterte die europäische Verteidigungsgemeinschaft,
die in eine politische Gemeinschaft eingebettet sein
sollte, am Veto der französischen Nationalversammlung.
Dennoch machten die Pragmatiker weiter. Inspiriert von
den Europavisionen wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom unterzeichnet.
War die europäische Integration nur vom wirtschaftlichen Interesse der großen Realisten geprägt? Im Gegenteil: Sehr mutige, weitreichende politische Visionen haben dazu geführt, dass sechs Länder bereit waren, die
nationale Souveränität in einigen Bereichen auf die europäische Ebene zu übertragen. Dabei erklärt Jean Monnet
die sogenannte Gemeinschaftsmethode folgendermaßen:
„Wir vereinigen keine Staaten, sondern Menschen.“
Manchmal frage ich mich, ob diese Regel Jean Monnets
heute vergessen ist.
Da der Fortschritt bekanntlich eine Schnecke ist, lösten sich integrationspolitische Erfolge mit Krisen und
Reformversuchen ab. Aber mit der Einheitlichen Europäischen Akte sowie den Verträgen von Maastricht,
Amsterdam und Nizza haben sich die Mitgliedstaaten
immer stärker integriert und parallel dazu die Gemeinschaft in mehreren Beitrittswellen vergrößert, bis mit
den letzten Erweiterungsrunden die Teilung Europas
aufgehoben wurde.
({1})
Mit dem Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger
der Staaten in Mittel- und Osteuropa und dem Zusammenbruch der UdSSR wurde der Eiserne Vorhang niedergerissen. Das mutige Engagement unserer Nachbarn
in Mittel- und Osteuropa hat einen außerordentlich großen Beitrag geleistet, die jahrzehntelange Spaltung Europas zu überwinden.
({2})
Am 1. Mai 2004 und zuletzt am 1. Januar 2007 haben
sich abermals ehemals verfeindete Nationen die Hand
gereicht. Ich will diese Gelegenheit nutzen, HansDietrich Genscher zu danken, der in der Tat große Verdienste um die Vereinigung Europas erworben hat,
ebenso wie Egon Bahr, der vor wenigen Tagen seinen
85. Geburtstag gefeiert hat und dem ich von dieser Stelle
aus alles Gute wünschen möchte.
({3})
Ist mit diesen europäischen Fortschritten der europäische Traum Rifkins tatsächlich Wirklichkeit geworden?
Der Vereinigung der europäischen Staaten liegt der Paradigmenwechsel zugrunde, dass die Gemeinschaftsbeziehungen im Vordergrund der europäischen Politik stehen,
ja dass die Zusammenarbeit mehr Erfolg bringt als die
Verfolgung von Einzelinteressen. Dieses Denken ist
nicht nur ein Grundelement der bewährten europäischen
Sozialsysteme, sondern es prägt das Solidarprinzip in
der EU. Es lohnt sich für alle, wenn mithilfe der Kohäsionsfonds den schwächeren Mitgliedstaaten Unterstützung beim Aufholprozess gegeben wird.
Wie steht es mit der Lebensqualität? Ist sie mehr als
die von Rifkin genannte Anhäufung von Reichtum?
Nun, der Wohlstand gehört zur Lebensqualität dazu. Er
ist in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Aber Rifkin hat
recht: Lebensqualität ist mehr. Sie bedeutet gerechte
Verteilung des Reichtums. Sie heißt gleiche Chancen für
alle, Zugang zu Dienstleistungen der Daseinsvorsorge
sowie zu Bildung und beruflichem Erfolg. Sie beinhaltet
wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teilhabe. Kurz: Es handelt sich um das europäische Gesellschaftsmodell, das gleichzeitig Voraussetzung und Ergebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in der EU
ist. Wenn Rifkin von der Nachhaltigkeit anstelle von unbegrenztem materiellem Wachstum in Europa spricht,
dann macht er darauf aufmerksam, dass es darum geht,
weder auf Kosten bestimmter Gruppen in der Gesellschaft noch auf Kosten der nachwachsenden Generationen noch auf Kosten der natürlichen Ressourcen das
Wachstum voranzutreiben. Genau dafür sorgt die EU,
wenn sie ihren Mitgliedern vorschreibt, niemanden zu
diskriminieren, den Aufbau von Schulden zu begrenzen
sowie weder Luft, Wasser und Boden zu belasten noch
die Ressourcen zu erschöpfen.
Ich bin froh, dass wir trotz der Vereinheitlichung von
Regeln und Industrienormen unsere reiche kulturelle
Vielfalt bewahren konnten. Ich gebe Rifkin recht: Nicht
Assimilation darf das Ziel der Zusammenarbeit sein. Das
Wichtigste ist vielmehr, dass sich eine gemeinsame europäische Identität und nationale, regionale, lokale Identitäten nicht ausschließen.
({4})
Zum Reichtum Europas gehören die Werke Goethes,
aber auch zum Beispiel die „Unfrisierten Gedanken“ von
Stanislaw Lec oder die Skulpturen von Niki de Saint
Phalle.
Die EU ist der Raum, der in besonderer Weise die
Einhaltung der universellen Menschenrechte einfordert. Schon in den Römischen Verträgen 1957 wurde die
Gleichstellung von Männer und Frauen - gleicher Lohn
für gleiche Arbeit - zum gewichtigen Programmpunkt
der EU. Die jüngst auch bei uns in nationales Recht umgesetzte Antidiskriminierungsrichtlinie ist Ausfluss dieser Zielstellung.
({5})
Menschenrechtliches Engagement genauso wie die
Menschenrechtspolitik wurde zum Bezugspunkt für das
auswärtige Engagement der EU, die in besonderer Weise
Vorbild für viele Regionen in der Welt ist, auch weil sie
mithilft, in Konfliktregionen durch multilaterales Engagement demokratische, soziale und wirtschaftliche
Strukturen aufzubauen. Ich bin überzeugt, dass der Außenminister und auch mein Kollege Michael Roth auf
die Aspekte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingehen werden.
Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass die EU
vor neuen Herausforderungen steht. So erfolgreich die
Globalisierung bei der weltweiten Wohlstandssteigerung
in der Summe ist, so ungleich ist der Reichtum verteilt.
Der Klimawandel ist eine nicht mehr zu übersehende
Gefahr, und die Weltgemeinschaft muss sich rasch auf
Gegenstrategien verständigen. Es hat sich gezeigt, dass
auch Europa durch den Terrorismus verwundbar ist. Regionale Konflikte wie zum Beispiel im Nahen Osten
oder in Afrika verlangen nach einer Lösung. Die EU hat
die Verantwortung, sich all diesen Herausforderungen zu
stellen. Hohe Erwartungen werden an uns gerichtet, übrigens nicht nur von außen, sondern auch von unserer eigenen Bevölkerung. Circa 80 Prozent unserer Bevölkerung erwarten, dass die EU mittels der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik Lösungen für die existierenden Probleme findet.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber auch, dass
dann, wenn die Nationalstaaten die Probleme nicht mehr
lösen können, zum Beispiel wenn es um die Unterschreitung menschenwürdiger sozialer Standards oder Fragen
der Nachhaltigkeit geht, die EU den Herausforderungen
gerecht wird. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sich
die Bürger fragen, ob die EU derzeit in der Lage ist, die
ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Damit verweisen sie
auf eine tatsächlich existierende Reformnotwendigkeit.
Mit dem Verfassungsvertrag, der nach dem Vertrag von
Nizza entwickelt wurde, sollte der Versuch unternommen werden, genau diese Defizite aufzuarbeiten. Er ist
der zurzeit bestmögliche Kompromiss zur zukünftigen
Gestaltung der Union aber wie wir alle wissen, ist die
Ratifizierung derzeit blockiert. Der Vertrag würde die
Entscheidungsfähigkeit verbessern, die Transparenz erhöhen, die rechtlichen Grundlagen vereinfachen, mehr
Demokratie und den Schutz der Grundrechte und der sozialen Rechte ermöglichen. Das ist eine gute Grundlage
für die Zukunft der EU. Ich bin überzeugt, dass Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier alles
tun werden, damit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
ihrem Auftrag gerecht wird, einen Fahrplan für eine erfolgreiche Verabschiedung eines Verfassungsvertrages
vorzulegen.
({6})
Die Berliner Erklärung, die an diesem Wochenende
unterzeichnet werden soll, wird deshalb nicht nur die Erfolge der EU feiern, sondern sie wird uns auch Mut machen, uns auf der Grundlage der uns verbindenden Werte
den Herausforderungen zu stellen und die Union so fortzuentwickeln, dass sie im Einvernehmen mit ihren Bürgerinnen und Bürgern diesen Herausforderungen gerecht
wird. Für Jean Monnet bestand die neue Devise 1950 darin - ich zitiere -: „ein gemeinsames Werk zu vollbringen, nicht um Vorteile auszuhandeln, sondern um unseren eigenen Vorteil im gemeinsamen Vorteil zu suchen.“
Als mutige und verantwortungsvolle Politiker müssen
wir uns öfter an diese alte „neue Devise“ erinnern.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion
Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Wir feiern am Wochenende einen
50. Geburtstag, nämlich den 50. Geburtstag Europas. Ich
meine, das darf der Deutsche Bundestag durchaus mit
Freude zum Ausdruck bringen.
({0})
Das ist eine wunderbare Angelegenheit. Man darf sagen
- das finde ich jedenfalls -: Wenn es Europa nicht gäbe,
dann müssten wir es dringend erfinden. Auch dann,
wenn Europa nicht mehr als 50 Jahre Frieden bei uns gebracht hätte, hätte es sich schon gelohnt.
({1})
Frau Kollegin, ich möchte an das anknüpfen, was Sie
zu Recht gesagt haben. Sie haben Egon Bahr erwähnt.
Ich denke an Egon Bahr und an viele andere, zum Beispiel an Hans-Dietrich Genscher. Außerdem denke ich
an die Generation, die noch erlebt hat, warum Europa
einmal aufgebaut und gebaut worden ist. Es ist nämlich
keine Selbstverständlichkeit, dass wir auf unserem Kontinent eine so lange Friedensepoche haben. Manche reden über Europa, als wäre es lediglich eine Angelegenheit von Bürokraten. Es ist zunächst einmal eine
Angelegenheit der Menschen.
({2})
Dass die Menschen sich hier, auf unserem Kontinent,
nicht mehr umbringen, das ist auch ein Ergebnis europäischer Friedenspolitik.
Es ist übrigens nicht nur eine Angelegenheit derer, die
Europa einmal gegründet haben, also der Generation, die
den Krieg noch erlebt hat, sondern auch derjenigen, die
der Generation danach angehören, oder auch derjenigen,
die heute jung sind. Sie erleben Europa, und sie erleben
auch die Freude, die Europa bereitet. Manchen ist gar
nicht mehr bewusst, dass es zum Beispiel etwas Besonderes ist, dass man von einem Land in ein anderes reisen
kann und nicht stundenlang mit Grenzkontrollen aufgehalten wird, dass man ohne Vorurteile durch Europa reisen kann und dass man in anderen europäischen Ländern
auch von Gleichaltrigen - das sage ich den jüngeren
Menschen - mit Freude empfangen wird. Das ist alles
keine Selbstverständlichkeit.
Diejenigen, die in meinem Alter sind, die also in den
60er-Jahren Kind waren und die in den 70er-Jahren zur
Schule gegangen sind, haben zum Beispiel noch erlebt,
wie man von der älteren Generation in Frankreich behandelt worden ist, und zwar verständlicherweise. Als
ich als Schüler mit dem Zelt in der Bretagne unterwegs
gewesen bin, habe ich erlebt, wie eine ältere Dame, deren Mann durch den Krieg und auch uns Deutsche umgebracht worden ist, sich geweigert hat, einen jungen Deutschen zu bedienen; sie brach in Tränen aus. Ich kann nur
sagen: Europa ist erfunden worden, damit so etwas nie
wieder passiert. Dass die Menschen friedlich zusammenleben, ist in Wahrheit die riesige Errungenschaft unserer
Zeit.
({3})
Das sind keine Selbstverständlichkeiten. Meiner Meinung nach muss man sich vielmehr vor Augen führen,
dass man gegenüber denen, die Europa einmal aufgebaut
haben, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Ich
wiederhole: Das ist alles keine Selbstverständlichkeit.
Dass es Schwierigkeiten gibt, das ist doch gar keine
Frage. Die Frage ist nur: Ist Europa dafür verantwortlich,
dass es mehr Schwierigkeiten gibt, oder ist Europa eher
ein Beitrag, auch diese Schwierigkeiten in den Griff zu
bekommen? Wir neigen definitiv zur zweiten Ansicht.
Nehmen wir doch einmal das, was Sie, Frau Kollegin,
zu Recht erwähnt haben, nämlich die weltweiten Veränderungen durch die Globalisierung. Wenn es etwas gibt,
was eine Antwort auf die mit der Globalisierung verbundenen Fragen ist, dann ist es doch gerade die Europäische Union. Wir haben jetzt einen europäischen Binnenmarkt mit fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger
geschaffen. Das ist die Reaktion auf die verstärkte Konkurrenz durch die Globalisierung. Das ist eine ökonomische und soziale Chance. Die Wohlstandsfrage, auch für
uns Deutsche, ist in Wahrheit: Sind wir bereit, uns mit
anderen Ländern zusammenzufinden und einen großen
Binnenmarkt zu schaffen?
({4})
Das wird keiner allein können.
Mancher hat den Eindruck, die große Konkurrenz sei
jetzt der polnische Fliesenleger oder der tschechische
Handwerker. Das, was damit verbunden ist, sind in
Wahrheit vielmehr Chancen. Ich sage ausdrücklich:
Auch die Osterweiterung Europas ist in Wahrheit eine
viel größere Chance. Wer meint, dass Deutschland schon
durch die Konkurrenz durch osteuropäische Handwerker
Schwierigkeiten bekomme, dem ist möglicherweise
nicht klar, was durch die Globalisierung etwa aus China
oder aus anderen asiatischen Ländern noch auf uns zukommt. Das sind unsere Bewährungsproben; das sind
unsere Chancen. Es ist in Wahrheit unsere ökonomische
Lebensversicherung, auf die wir als Reaktion auf die
Veränderungen in der Welt angewiesen sind.
Es ist eben nicht so, dass Deutschland zuerst Zahlmeister ist - das ist ein gern gepflegtes Vorurteil -;
Deutschland ist - bei allem, was auch auszusetzen ist zuallererst der größte Gewinner der europäischen Einigung einschließlich der Erweiterung der Europäischen
Union.
({5})
Schließlich müssen wir uns natürlich auch darüber
unterhalten - das kann man an einem solchen Tag nur
kursorisch tun -, was verändert werden muss, was auch
bewegt werden kann, beispielsweise durch die Berliner
Erklärung. Ich fände es sehr gut, Herr Bundesaußenminister - ich spreche Sie an, weil Sie heute Vormittag
noch das Wort ergreifen werden -, wenn Sie den Deutschen Bundestag an den Überlegungen zur Berliner Erklärung teilhaben ließen. Wenige Stunden vor Verabschiedung der Berliner Erklärung wäre es angemessen,
dass Sie uns als Parlament über den Stand der Überlegungen informieren. Es ist eben nicht ein Europa der Regierungschefs, was wir wollen; es ist ein Europa der
Völker, und die Volksvertreter sitzen hier.
({6})
Ich halte es gleichzeitig für notwendig, dass wir von
Ihnen etwas über den europäischen Verfassungsprozess
erfahren. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Sie
den wollen, das Beste hier tun und sich entschieden dafür einsetzen. Auch dazu wollen wir mehr wissen, als
dass Sie beabsichtigen, einen Fahrplan festzulegen.
Wir müssen doch hier darüber reden: Wollen wir
diese Verfassung? Ich vermute, eine riesige Mehrheit im
Deutschen Bundestag will eine gemeinsame europäische Verfassung. Wenn wir eine gemeinsame europäische Verfassung wollen, müssen wir uns vor dem Hintergrund der bislang gescheiterten Referenden allmählich
auch in diesem Hause darüber unterhalten: Wie soll denn
die zu verabschiedende Verfassung aussehen? Soll der
alte Vertrag Gegenstand sein? Soll ein neuer Vertrag
kommen? Wird der Vertrag abgespeckt? Wird er erweitert? Auch über den Stand dieser Überlegungen sollten
Sie mit dem Deutschen Bundestag ins Gespräch kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren der Bundesregierung.
({7})
Ich möchte die europäische Verfassung natürlich auch
deswegen erwähnen, weil wir damit eine hervorragende
Chance haben, Defizite, die es gibt, die doch auch jeder
sieht, anzugehen. Es hat eine Debatte dazu gegeben, angestoßen nicht nur von dem von mir hochgeschätzten
früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Ich teile
nicht alles, was er gesagt hat, aber er hat doch ein, wie
ich finde, ganz wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. Die
Frage ist doch: Was ist in einem erweiterten, größeren
Europa die demokratische Legitimation der europäischen Entscheidungen? Dafür brauchen wir einen Verfassungsprozess. Das ist notwendig.
Zur Demokratie gehört auch demokratische Kontrolle durch das Volk und durch die Volksvertreter. Wenn
wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Bei mancher europäischen Entscheidung ist diese demokratische Kontrolle so weit verflüchtigt, dass durchaus von einer gewissen Abgehobenheit die Rede sein darf.
({8})
Die demokratischen Institutionen in Europa gemeinsam
zu verbessern, muss meiner Meinung nach auch im Interesse der Funktionsfähigkeit Europas ein Schwerpunkt
unserer Verhandlungen und unserer Überlegungen zum
Verfassungsvertrag sein.
({9})
Schließlich möchte ich auf eine Sache eingehen, die
aus meiner Sicht von großer Bedeutung ist, gewissermaßen zurück zu den Anfängen, zurück zu dem, warum wir
alle ja vermutlich begeisterte Europäer sind. Bei allem,
was man auch kritisch sehen muss: Es ist letzten Endes
ein riesiger Gewinn für uns. Schon dann, wenn man sich
wenige Stunden von Europa wegbewegt, weiß man, dass
Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wir leben in einem friedlichen, in einem freien Europa. Wir leben alles
in allem in einem Europa, das für Rechtsstaatlichkeit
vorbildlich in der Welt ist. Wir leben in einem Europa, in
dem wir uns wirklich darüber freuen dürfen, dass die
Mütter und Väter vor uns dies geschaffen haben.
Aber, meine Damen und Herren, wir stehen natürlich
auch vor neuen Herausforderungen. Eine Herausforderung, gerade im Zeichen weltweit neuer Unsicherheiten,
ist zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Ich will hier als Vertreter der liberalen Oppositionsfraktion Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, ausdrücklich sagen: Zu den Worten, die Sie zur Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik bei Ihrer wirklich höchst
schwierigen Reise in Polen gefunden haben, gratulieren
wir. Sie finden dafür ausdrücklich auch unsere Unterstützung. Wir wollen eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Wir wollen keine Renationalisierung, von wem auch immer. Wir müssen eine
Spaltung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik
verhindern. Deswegen ist die Raketenstationierung, die
dort geplant wird, außerordentlich kritisch zu betrachten.
({10})
Spätestens nach dem, was Präsident Putin in München vorgetragen hat - der Kollege Schockenhoff und
andere waren dabei und haben das gehört -, weiß man,
dass die Gefahr, dass eine neue Rüstungsspirale entsteht,
groß ist. Wenn wir eine neue Rüstungsspirale verhindern
wollen, muss man die Ausführungen von Präsident Putin
ernst nehmen, aber nicht alles annehmen und auch nicht
alles übernehmen. Aber ernst nehmen muss man die
Dinge, die passieren, weil die meisten Rüstungsspiralen
zunächst aus großem Misstrauen entstanden sind. Man
denke daran, was in den 80er-Jahren die Rüstungsspirale
ausgelöst hat. Die Irrtümer, die damals bei den - mit
Verlaub gesagt - Reaganomics eine Rolle gespielt haben, muss man ja in unserer Zeit nicht wiederholen. Das
sollten wir an dieser Stelle auch einmal festhalten. Niemals ist etwas eins zu eins vergleichbar, aber gewisse Erinnerungen ruft das schon wach.
Wenn es so ist, dass wir im Rahmen der deutschen
EU-Präsidentschaft für ein gemeinsames starkes Auftreten Europas in der Welt sorgen wollen, dann ist es schon
notwendig - das sage ich mit allem Respekt -, dass die
Regierung und die Regierungskoalition selbst bei so einer fundamentalen Friedensfrage einig sind. Es ist
schwierig für eine Regierung, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu verlangen, wenn
die Einigkeit schon in der eigenen Regierungskoalition
gewisse Grenzen findet. Das habe ich in Anbetracht des
schönen Tages diplomatisch formuliert, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir haben uns aus unserer Sicht über Europa nicht zu
beklagen, ganz im Gegenteil. Dieses Geburtstagsfest
sollten wir mit den Bürgerinnen und Bürgern feiern. Für
die Bürger in Deutschland war Europa nämlich mit Sicherheit eines der besten Dinge, die passieren konnten.
Herzlichen Dank.
({11})
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der
nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der Rückblick auf 50 Jahre Römische Verträge macht Mut für den Blick nach vorn. 50 Jahre Europäische Union stellen eine Erfolgsgeschichte dar. Die
Motive der Gründungsväter waren die Sicherung von
Frieden und Sicherheit, von wirtschaftlichem Wohlstand, das Wahrnehmen globaler Verantwortung und
nicht zuletzt die Schaffung einer gemeinsamen Identität.
Es war die Bedrohung durch die Sowjetunion mit ihrer expansionistischen Ideologie, gegen die jeder einzelne Staat in Europa zu schwach und zu klein erschien.
Daher war die Bildung einer Gemeinschaft in Westeuropa in Verbindung mit der Garantie durch die USA
im Rahmen der NATO die existenzielle Grundlage für
unsere Sicherheit.
Eng verbunden mit dem Sicherheitsinteresse war von
Anfang an die Friedens- und Freiheitsvision. Heute,
50 Jahre später, ist mit der Aufnahme von zwölf mittel-,
ost- und südosteuropäischen Staaten die widernatürliche
Teilung Europas endgültig überwunden. Das ist der
größte Erfolg der Europäischen Union.
In wenigen Wochen des Herbstes 1989 führten die
Demonstranten in Budapest, Ostberlin, Leipzig und Prag
der EG vor Augen, dass sie für Millionen von Menschen
ein Ideal darstellt. Sie war nicht nur ein Raum des wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern ein politisches Gebilde, dessen Werte sie teilen wollten und zu dessen Kultur sie sich zugehörig fühlten. Das haben hier bei uns
seinerzeit nicht alle erkannt. Dass es der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl erkannt hat, ist seine
historische Leistung und war ein Glücksfall für Europa.
({0})
Europa erlangte seine Einheit deshalb wieder, weil es
von Anfang an auf Freiheit und Demokratie setzte. Aus
der Wirtschaftsgemeinschaft wurde eine Sicherheitsunion mit dem Schengensystem, einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik und einer gemeinsamen
Verteidigung, deren sichtbarster Ausdruck die BattleGroups als Vorläufer einer europäischen Armee sind.
Natürlich brauchen wir - da teile ich Ihre Auffassung
völlig, Herr Westerwelle - in der europäischen Außenund Sicherheitspolitik mehr gemeinsamen Willen für
entschiedenes gemeinsames Handeln. Natürlich muss
Europa seine militärischen Fähigkeiten weiter verbesDr. Andreas Schockenhoff
sern. Aber schon heute nimmt die Europäische Union
nicht nur als eine globale Wirtschaftsmacht, sondern
auch als ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur ihre
Interessen international erfolgreich wahr. Auch das ist
Teil der europäischen Erfolgsgeschichte.
Dazu gehört auch der Euro. Bis zu seiner Einführung
wurden durch Spekulationen und Währungsschwankungen Finanz- und Wirtschaftskrisen ausgelöst, gingen Arbeitsplätze verloren, musste die Bundesbank nicht selten
massiv intervenieren, entstanden erhebliche volkswirtschaftliche Verluste. Das alles ist heute nicht mehr der
Fall. Deswegen war es richtig, die Stabilitätskriterien
einzuführen, und deswegen ist es richtig und notwendig,
dass wir alles tun, sie wieder dauerhaft einzuhalten.
({1})
Meine Damen und Herren, Europa voranbringen zu
wollen, bedeutet besondere Verpflichtungen für Deutschland; denn wir sind der größte Staat in der Europäischen
Union. Deutsche Europapolitik war immer dann erfolgreich, wenn sie auf einer engen und partnerschaftlichen
Zusammenarbeit mit den EU-Staaten und auf einer vertrauensvollen Partnerschaft zwischen Europäern und
Amerikanern aufbauen konnte. Beides war immer die
Maxime deutscher Außenpolitik.
Deutschland und Frankreich waren der Motor des
Einigungsprozesses, und sie müssen und werden es auch
weiterhin sein. Wann immer Deutschland und Frankreich sich nicht einig waren, lief nichts in der EU; wenn
sie sich einig waren, kam Europa voran.
({2})
Das jüngste Beispiel, Frau Bundeskanzlerin, war der
letzte EU-Gipfel. Er wurde in dem Moment zum Erfolg
für den globalen Umweltschutz, als es Ihnen gelungen
ist, Frankreich für die Klimaschutzziele zu gewinnen.
Dann lenkten auch andere EU-Partner ein. Das war gut
für Europa und gut für den Klimaschutz.
Außerdem ist es für eine erfolgreiche Europapolitik
wichtig, die mittleren und kleinen Staaten rechtzeitig zu
konsultieren und einzubinden. Das ist bei 26 Partnerstaaten mühsam und schwierig. Aber es ist, wie es diese
Bundesregierung beweist, möglich. Nichts ist kontraproduktiver für die EU - auch diese Erfahrung haben wir
leider schon gemacht -, als wenn die Großen eine Politik
über die Köpfe der mittleren und kleinen Staaten hinweg
betreiben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Weg zum
Zusammenwachsen unseres Kontinents zu ebnen, muss
Europa vor allem eine Antwort auf die Frage nach seiner
eigenen Identität geben. Je größer und unüberschaubarer die EU wird, desto mehr fragen die Menschen: Was
macht die Europäische Union aus? Wozu brauchen wir
sie? Worin bleibt die Europäische Union im permanenten Wandel sich selbst gleich und von anderen unterscheidbar? Es ist die Frage von uns Europäern nach uns
selbst. Die europäische Identität ist das Ergebnis eines
Jahrhunderte währenden Kulturprozesses der Differenzierung wie der Vereinheitlichung, bestimmt von der
ausgeprägten Vielfalt der Nationen auf engem Raum, der
Kreativität ihrer Kulturen und dem Zusammentreffen einer Vielzahl historischer, geografischer und kultureller
Besonderheiten: jüdisch-christliche Prägung, Pluralität
und Koexistenz der Konfessionen, griechische Philosophie, römisches Recht, Humanismus, Reformation und
Aufklärung, Wissenschaft und Technik, Gemeinsamkeiten in Architektur, Musik, Literatur, gemeinsame Geschichte einschließlich der vielen Kriege, die neuzeitlichen Freiheitsbewegungen und die Grundüberzeugung
einer sozialen Verantwortung mit dem Aufbau des Sozialstaates in einer sozialen Marktwirtschaft.
Aus dieser Vielfalt ergeben sich Spannungen. Dennoch wollen wir den mit der Globalisierung einhergehenden politischen und kulturellen Wandel erfolgreich
gestalten. Dafür sehe ich sechs Aufgaben.
Erstens. Wir müssen wieder deutlicher ins Bewusstsein der Bürger bringen, dass das Handeln der EU nicht
nur im Innern, sondern gerade nach außen auf unseren
Werten beruht. Unser Eintreten für Frieden, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ist für die Ärmsten der Armen, für die bedrohten Völker und Menschen entscheidend. Es ist aber auch für die Wahrung unserer
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen
in der künftigen weltpolitischen Ordnung von zentraler
Bedeutung. Deshalb müssen wir unseren Bürgern deutlich machen, dass unsere EU-Entwicklungshilfe, unsere
finanzielle Hilfe für die Palästinenser, unser Einsatz in
Afrika oder unser Einsatz in Afghanistan werteorientiertes Handeln ist.
Zweitens. Die EU muss erfolgreich sein. Die Bürger
müssen noch mehr als bisher die Erfahrung machen,
dass die EU als Ganzes besser als ihre einzelnen Mitgliedstaaten in der Lage ist, länderübergreifende und
globale Herausforderungen zu bewältigen. Der Erfolg
für den Klimaschutz auf dem letzten EU-Gipfel - ich
habe es bereits erwähnt - ist eine solche Erfahrung. Es
geht darum, auch im Zeitalter der Globalisierung das
Ordnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft zu wahren. Es geht darum, Terrorismus und internationale Kriminalität erfolgreich zu bekämpfen oder mit einer europäischen Energiepolitik, die jetzt beschlossen wurde, im
weltweiten Wettbewerb eine bezahlbare Energieversorgung zu sichern.
Drittens. Je größer die Europäische Union wird, desto
mehr muss sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.
Sie ist nicht zuständig für Fragen, die auf der nationalen
oder regionalen Ebene bürgernäher geregelt werden können. Wenn sich dies für den Bürger in der täglichen Praxis widerspiegelt, führt dies auch zur Stärkung der europäischen Identität.
Viertens. Die Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit und eine stärkere Differenzierung der EU werden,
so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag,
identitätsstiftend wirken. Nur wenn die EU zügig entscheiden und handeln kann, wird sie im globalen Wettbewerb Erfolg haben. Was bewirkt mehr Identität als der
gemeinsame Erfolg?
Fünftens. Zur Identität gehört auch eine Klärung der
Frage, wo die Grenzen der Europäischen Union liegen.
Die im Verfassungsvertrag formulierte Perspektive „Die
Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre
Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu
fördern“ ist eine Antwort. Sie gilt grundsätzlich für alle
europäischen Staaten. Es wird aber in jedem Einzelfall
im Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung der
Beitrittskriterien zu bewerten sein, ob und wieweit die
EU aufgrund ihrer inneren Entwicklung die Aufnahme
weiterer europäischer Staaten verkraften kann. Nur so
werden wir auf die Sorge der Bürger vor Unüberschaubarkeit und Grenzenlosigkeit der Europäischen Union
eine überzeugende Antwort geben.
({4})
Sechstens. Zur Identität der Europäischen Union gehört nicht zuletzt auch eine emotionale Bindewirkung.
Die Öffnung der Grenzen hatte das bewirkt. Die Europaflagge und der Euro leisten einen Beitrag dazu. Ich
will dies ausdrücklich erwähnen: Auch Hochtechnologieprojekte bewirken eine emotionale Bindewirkung,
wie dies etwa bei der Ariane und trotz aller Diskussionen, die wir zurzeit führen, auch beim Airbus der Fall
war. Umso mehr muss es uns darum gehen, dass dies
auch bei anderen Projekten gelingt. Ich nenne beispielsweise das Galileo-Projekt, ein Projekt, das uns nicht nur
aus technologischen, sondern auch aus politischen Gründen wichtig sein muss und das im Sinne der Selbstbehauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten
von Amerika durchaus identitätsstiftend sein kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zeitalter der
Globalisierung ist Europa die Bedingung für unseren Erfolg. Ich habe es eingangs gesagt - die Frau Kollegin
Schwall-Düren und der Herr Kollege Westerwelle haben
es ebenfalls gesagt -: 50 Jahre Europäische Union sind
Grund genug, stolz zu sein, sind Grund genug, nach
vorne zu schauen und sich anzustrengen, aber auch Mut
zu haben, die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsam
anzugehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nun erhält das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die
Linke, Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträge
geschlossen und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gebildet. Sie hatte ursprünglich drei Ziele: Erstens
wollte man eine gemeinsame ökonomische Stärke
- auch gegenüber dem sowjetischen Bereich - herausarbeiten. Man muss sagen: Das ist wohl ganz gut gelungen. Zweitens wollte man nach Faschismus und Zweitem Weltkrieg Deutschland einbinden und in gewisser
Hinsicht auch unter Kontrolle nehmen. Auch das - so
kann man sagen - ist ganz gut gelungen und heute so
vielleicht nicht mehr nötig. Drittens wollte man keine
Kriege mehr in Europa, und zwar nicht nur zwischen den
Mitgliedsländern, sondern in ganz Europa nicht. Da gibt
es eine unangenehme Ausnahme - das muss ich sagen -:
Das ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien, der nie hätte stattfinden dürfen.
({0})
Unklar ist bis heute, ob die EWG, die inzwischen
nicht mehr EWG, sondern EU, Europäische Union,
heißt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat werden soll.
Das wurde nie wirklich ausdiskutiert. Das verunsichert
die Leute, weil das Ziel nicht völlig klar ist.
Zum Ende des Kalten Krieges passierte etwas, was
hier schon beschrieben worden ist: Osteuropa kam
hinzu. Die EU hat jetzt 27 Mitgliedsländer; das ist natürlich eine völlig andere Größe mit anderen Herausforderungen, als wir sie früher hatten. Es gibt seit 1945 positive Veränderungen in Europa - das kann man so sagen -,
auf die Guido Westerwelle hingewiesen hat.
Aber wir sind nicht nur eine Wirtschaftsunion.
13 Mitgliedsländer waren damals auch an der Einführung einer Währungsunion beteiligt. Ich möchte daran
erinnern, dass wir damals sagten: Euro, so nicht! Dies
hieß ja nicht: Euro, nein!
({1})
Wir sagten vielmehr: Die Voraussetzungen fehlen,
({2})
nämlich eine politische Union, eine Steuerharmonisierung, Mindestlöhne sowie soziale und juristische Mindeststandards für die Bürgerinnen und Bürger. All das
war und ist im Kern bis heute nicht vereinbart. Das ist
das Problem der Währungsunion.
({3})
Ich sage Ihnen auch, warum: Weil dadurch Ängste
entstehen. Dadurch lebte der Nationalismus in den Ländern wieder auf, und Parteien, zum Beispiel die NPD,
hatten Erfolge, die wir alle hier in Deutschland nicht
wollen. Deshalb müssen wir die Europäische Union in
unserem gemeinsamen Interesse in Zukunft anders gestalten.
({4})
Durch den Maastrichtvertrag und die Lissabonstrategie übernahm man dann die neoliberale Ausrichtung der
EU. Ich erinnere daran: Seitdem wird in ganz Europa
über Privatisierung diskutiert. Ob es Stromkonzerne
oder Verkehrsnetze sind - all das, was mit öffentlicher
Daseinsvorsorge zu tun hat, soll Schritt für Schritt privatisiert werden. Das entmündigt die Politik. Im Bewusstsein der Menschen reduziert sich dadurch die Bedeutung
der Demokratie. Denn wenn ich oder Sie Bürgermeister
sein können, wir beide aber nichts mehr zu entscheiden
haben, weil sowieso alles privatisiert ist, dann wird die
Wahl für die Leute unwichtiger. Es geht hier also auch
um Kernfragen der Demokratie.
({5})
Dann zur Deregulierung. Wir führen in Deutschland
und auch in Europa seit langer Zeit die Debatte um den
Kündigungsschutz. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge hat in Deutschland enorm zugenommen. Über
50-Jährige können immer wieder befristet eingestellt
werden. Es ist die Frage: Bringt das den über 50-Jährigen etwas? Es ist dadurch kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz entstanden. Wissen Sie, was der einzige Unterschied zwischen einem Arbeitnehmer mit einem
unbefristeten und einem mit einem befristeten Arbeitsverhältnis ist? Entlassen werden können zwar beide;
aber der eine hat Anspruch auf Abfindung und der andere nicht. Es geht nur ums Geld, und zwar zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({6})
Derzeit gibt es eine Dominanz der Marktkontrolle
und immer weniger gesellschaftliche Gestaltung. Dazu
passt die Dienstleistungsrichtlinie, die Sie, Herr
Westerwelle, wenn ich es richtig verstanden habe, ein
bisschen gewürdigt haben. Sie ist ja zum Glück nicht so
in Kraft getreten, wie sie ursprünglich geplant war; das
muss ich hinzufügen. Sie können doch nicht im Ernst
eine Richtlinie anstreben, in der gesagt wird: Rumänische Unternehmen können in Deutschland vollständig zu
rumänischen Bedingungen und auch zu rumänischen
Löhnen arbeiten. - Damit zerstören Sie den europäischen Integrationsgedanken.
({7})
Ich habe davon gesprochen: Es gibt keine Steuerharmonisierung. Nun ist die Frage: Wer setzt hier eigentlich
wen unter Druck? Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen.
Nehmen wir doch einmal die jetzt vom Bundesfinanzminister Steinbrück von der SPD vorgeschlagene Senkung
der Körperschaftsteuer. Ich bitte Sie: Der Steuersatz
lag mal bei 45 Prozent, dann bei 40 Prozent und jetzt bei
25 Prozent. Nun sagt er: Die Deutsche Bank und andere
Kapitalgesellschaften sollen nur noch einen Steuersatz
von 15 Prozent zahlen. Im Vergleich dazu haben die drei
Länder Frankreich, Großbritannien und USA - ich weiß,
die USA sind nicht in der EU; Sie brauchen mich nicht
zu korrigieren; ich sage es trotzdem - jeweils Körperschaftsteuersätze von 30 bis 35 Prozent. Wir setzen diese
Länder doch unter Druck.
({8})
Dort werden Debatten beginnen, und man wird sagen:
Die Steuersätze müssen herunter, weil Deutschland seine
so senkt.
Nehmen wir die Löhne. Wenn wir etwas machen,
dann machen wir es komplett, also immer zu
100 Prozent. In allen europäischen Ländern sind die
Löhne in den letzten Jahren gestiegen. Nur in Deutschland sind sie in den letzten acht Jahren um 1 Prozent gesunken, was natürlich auch die Kaufkraft reduziert und
damit die mittleren und kleinen Unternehmen schwächt,
die auf den Binnenmarkt angewiesen sind.
({9})
Wir haben jetzt zwei Krisen: Das eine ist eine Verfassungskrise, und das andere ist eine Krise hinsichtlich der
gemeinsamen Außenpolitik.
Die Verfassungskrise ist ganz klar. Es ist ein Entwurf
vorgelegt worden, der Aufrüstung und auch ein weltweites militärisches Agieren der EU vorsieht. Das war ursprünglich gar nicht der Gedanke, als die Verträge vor
50 Jahren geschlossen worden sind. Es ist eine neoliberale Ausrichtung enthalten. Es gibt keine sozialen
Grundrechte. Es gibt wohl politische Grundrechte, aber
keine sozialen Grundrechte. Entsprechende Standards
gibt es auch nicht.
Das alles hat dazu geführt, dass die Mehrheit der
Französinnen und Franzosen und auch der Niederländerinnen und Niederländer Nein gesagt hat. Was nun? Jetzt
wird ständig über Tricks nachgedacht, wie man das ohne
Volksentscheid hinkriegt. Das ist doch nicht die Lösung!
Wir müssen eine viel kürzere, eine klare, eine die Rechte
stärkende Verfassung erarbeiten, alle Mitgliedsländer
müssen Volksentscheide durchführen, und überall muss
eine Mehrheit Ja sagen.
({10})
Dann ist es akzeptiert. Das wäre auch ein demokratischer Fortschritt in Europa.
Wo ist die Krise in der Außenpolitik entstanden? Sie
ist ganz klar bei der Frage „Irak“ entstanden. Großbritannien hat ganz klar Ja gesagt. Deutschland hat Nein
gesagt. Später haben wir festgestellt, nur zu 80 Prozent;
aber immerhin.
({11})
Es ist ein Verdienst. Das hat auch eine eigenständige Außenpolitik im Verhältnis zu den USA begründet. Dann
ging die Spaltung durch die gesamte EU. Was soll man
denn nun sagen, was die gemeinsame Außenpolitik der
Europäischen Union in Bezug auf den Irak ist? Es gibt
darauf keine Antwort. Das hat uns diesbezüglich weit
zurückgeworfen.
Jetzt kriegen wir - das ist nicht vergleichbar - wieder
eine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstellung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denkt
und handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ich
denke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Dafür muss
man eine Menge tun.
Die europäische Integration - das ist ja eine Ausnahme - ist das Einzige, was alle Fraktionen in diesem
Haus wollen.
({12})
Das ist übrigens etwas, worüber man ernsthaft nachdenken muss. Aber die Frage ist, wie wir sie viel besser hinkriegen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir das alle
wollen, sondern ob auch eine Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger das will. Um das zu erreichen, brauchen wir
andere, positive Erfahrungen für die Bürgerinnen und
Bürger. Das heißt, wir brauchen in der EU mehr Demokratie und weniger Bürokratie. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit, kein Lohn- und Sozialdumping, sondern
mehr soziale Standards und deutlich weniger Arbeitslosigkeit. Wir brauchen mehr ökologische Nachhaltigkeit.
Wir brauchen mehr Bildung und Kultur und weltweite
Friedenseinsätze, nicht weltweite Kriegseinsätze.
({13})
Das muss die EU ausstrahlen.
Wenn wir das hinkriegen, dann hätten auch demokratische Parteien deutlich höhere Chancen und die NPD
spielte - wie sie es verdient - eine völlig marginale
Rolle. Lassen wir uns die EU nicht kaputtmachen! Aber
dazu müssen wir sie ändern, auch von ihren Grundlagen
her.
Danke.
({14})
Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre
Römische Verträge - das ist eigentlich schon einen Festakt wert. Ich freue mich, dass wir heute hier die Diskussion über ein einzigartiges Projekt von Frieden und
Wohlstand und einer fast vollständigen Wiedervereinigung des europäischen Kontinents führen können. Denn
noch ist ja nicht ganz Europa auf dieser Ebene zusammen. Wir haben uns befreit von der Bedrohung durch
Krieg und Diktaturen. Man kann wirklich sagen: Ein
einzigartiger Raum.
Denken wir einmal zurück! Wenn man sich die 70,
80 Jahre vor Unterzeichnung der Römischen Verträge
ansieht, dann stellt man fest: 180 000 Tote im DeutschFranzösischen Krieg; 8 Millionen Tote im Ersten Weltkrieg; über 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, von
den Vertriebenen ganz zu schweigen. Deshalb war das
vor 50 Jahren wirklich ein sehr mutiger Schritt, das einzig Richtige, um die europäischen Staaten miteinander
zu versöhnen. Damals war es ein beinahe unfassbarer
Schritt, bei dem man sich dachte, das könne eigentlich
gar nicht funktionieren: die große Idee von Freiheit und
Frieden.
Noch heute wirkt die Europäische Union in den Mitgliedstaaten; das Besondere ist, dass sie heute auch weit
darüber hinaus wirkt. Man kann, wenn man es auf Neudeutsch sagen will, formulieren: Die Soft Skills der
Europäischen Union verändern nicht nur die nationale
Politik, die Wirtschaft und das Rechtssystem, sondern
strahlen so weit aus, dass sich Nachbarländer in Europa
und über Europa hinaus an uns orientieren. Sie sagen:
Diese Art der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Menschenrechte ist Vorbild für uns; dem wollen wir nacheifern.
({0})
Da kann man geradezu nur gerührt sein, wenn man
sich überlegt, wie zickig wir selber manchmal intern reagieren, wie wir immer wieder - ({1})
- Herr Ramsauer, gut, dass gerade Sie sich beim Stichwort „zickig“ melden.
({2})
Es ist schon beachtlich, wie wir manchmal mit der Europäischen Union umgehen. Wenn wir auf nationaler
Ebene einmal nicht weiterwissen, sagen einige - auch
Sie, Herr Ramsauer, und Ihr Verein -: Daran ist Europa
schuld. Wir haben kaum angenommen, dass wir Europa,
die Europäische Union, mit Verve vertreten sollten.
Meine Hoffnung ist, dass der heutige Tag vielleicht ein
Ausgangspunkt ist, wenn in Zukunft etwas schiefgeht,
nicht mehr zu sagen: Das war Europa. Wir sollten vielmehr sagen: Wir in Europa packen es gemeinsam an.
({3})
Wir dürfen aber heute nicht nur auf die vielen Regimewechsel, auf das Erfolgsprojekt Europäische Union
blicken, sondern müssen an diesem 50. Geburtstag die
Europäische Union neu und weiter definieren. Das Ziel
der Feierlichkeiten kann und soll nicht nur sein, im
Rückblick zu sagen, wie stolz wir doch sein können;
vielmehr müssen wir jetzt auch sagen, wie es eigentlich
weitergehen soll. Die Berlin-Erklärung muss eines leisten: Sie muss Europa, wie wir es aufbauen wollen, neu
definieren. Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen.
Warum müssen wir ein neues Kapitel aufschlagen? Weil
das große Projekt der Vergangenheit war, Frieden in
Europa und darüber hinaus zu schaffen; dieser Teil ist
nun getan. Jetzt muss doch die Frage sein: Welche neuen
Räume beschreiten wir?
Ich möchte zwei Aspekte nennen.
Erstens: die Entwicklung nach innen. Wir alle wissen,
wie viele Zweifel mittlerweile bei einigen vorhanden
sind. Die Art und Weise, wie mit den Verfassungsreferenden umgegangen wurde, dass mit Nein abgestimmt
wurde, offenbart diese Zweifel noch stärker. Nach innen
müssen wir jetzt eines machen: Wir müssen die Europäische Union sozial und ökologisch neu definieren und
weiterentwickeln. In der Europäischen Union darf es
nicht mehr um kurzfristige Profitinteressen der Wirtschaft gehen; es muss heißen: In den nächsten 50 Jahren
bauen wir das soziale und ökologische Europa. Da wollen wir genauso strahlen, wie wir es beim Friedensprojekt Europa tun.
({4})
Wir wissen - ich sage das gerade angesichts mancher
wirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen -, dass
Ökologie und Ökonomie nicht zwei getrennte Projekte
sind, sondern dass sie zwingend zusammengehören. Die
beiden Begriffe haben den Wortstamm „oikos“ gemeinsam, der die Bedeutungen „Haus“ und „Haushaltung“
hat. Europa hat als Global Player die Aufgabe, anderen
Staaten zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie zusammengehören, weil es gar nicht anders geht, weil es bei
der Ökologie um unsere Existenzfrage und um die Existenzfrage vieler Menschen in anderen Ländern dieser
Welt geht.
({5})
Zweitens: die Außenpolitik. Wir müssen nach dem
Nachkriegsprojekt der europäischen Integration die Herausforderung im Zusammenhang mit dem Thema
Klima annehmen, global Frieden stiften, die Globalisierung sozial gestalten und den Hunger in der Welt bekämpfen. Diese Projekte müssen wir angehen. Die Europäische Union muss das Bewusstsein weiterentwickeln,
dass sie ein Global Player ist. Wir haben etwas zu exportieren, und zwar nicht nur unsere Industriegüter, sondern
die Herrschaft des Rechts, was die Europäische Union
wie kein anderer vorgemacht hat. Es geht nicht um die
Herrschaft der Stärke, sondern um die Herrschaft des
Rechts, niedergeschrieben im Kopenhagener Acquis,
über den sich einer nach dem anderen weiterentwickelt.
Diese Herrschaft des Rechts müssen wir als Europäische
Union zum weltweiten Exportschlager machen. Auch
damit schaffen wir mehr soziale Gerechtigkeit.
({6})
Ich will an dieser Stelle zwei Punkte ansprechen. Sehen wir uns einmal die jetzigen Mitglieder Europas an.
Denken wir an Portugal, das noch bis in die Mitte der
70er-Jahre eine Diktatur war, und an die Mitgliedstaaten,
die in den letzten Jahren hinzugekommen sind und in der
Vergangenheit unter Diktaturen lebten. Das ist aber nicht
alles. Wir werden beim Beitritt in die Europäische Union
weitere Schritte gehen. Ich möchte im Hinblick auf unsere Strahlkraft an dieser Stelle die Türkei nennen; denn
ich bin mir in einem sicher: Der Europäischen Union
wird es gelingen, mit seinem Exportschlager „Herrschaft
des Rechts“ auch hinsichtlich des Beitritts der Türkei zur
Europäischen Union einen Erfolg zu erzielen.
({7})
Darauf freue ich mich, weil das ein neuer Schritt ist, um
zu zeigen, dass wir diesen Exportschlager trotz unserer
Traditionen auch in ein Land exportieren können, in dem
die meisten Menschen dem islamischen Glauben anhängen. Ich glaube, dass es Ziel der EU-Außenpolitik sein
muss, diesen Brückenschlag zu wagen. Das muss man
auch in einer solch feierlichen Debatte hier sagen. Die
Gründe, die für den Beitritt der Türkei in die NATO
sprachen, sprechen auch dafür, dass die Türkei, wenn sie
die Herrschaft des Rechts umsetzt, Mitglied der Europäischen Union wird. Das ist unser Ziel.
({8})
Für die Außenpolitik gilt an dieser Stelle, Frau
Merkel und Herr Steinmeier, dass wir gerade beim
Thema Raketenabwehr eines zeigen: Wir in Europa
lassen uns nicht spalten. Wir haben unsere Vorstellungen
über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik,
die wir weiterentwickeln wollen. Wir haben unsere Vorstellungen darüber, dass der Frieden in der Welt immer
nur in einem gemeinsamen Projekt zivil und militärisch
fortgesetzt werden kann. Wir werden nicht akzeptieren,
dass ein Dritter mitten in Europa, in der Europäischen
Union, ein Raketenabwehrsystem baut, ohne in der
NATO und ohne mit der Europäischen Union darüber zu
diskutieren. Ich fordere Sie auf und bitte Sie, an der
Stelle das Selbstbewusstsein zu haben, dieses Thema
nicht nur auf die Tagesordnung der NATO, sondern auch
auf die europäische Tagesordnung zu setzen.
({9})
Wir wollen, dass sich die Europäische Union hinsichtlich der Solidarität intern neu definiert, dass sie
zeigt, was Solidarität in Zeiten der Globalisierung sein
kann und was der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts sein
kann.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der in den letzten Tagen in unser aller Munde war. Ich glaube, dass wir
eines ganz stark herausarbeiten müssen, nämlich wie die
Europäische Union zu einer Art Leuchtturm, Pionier und
Vorreiter im Bereich Klimaschutz und Energieversorgung werden kann. Ich sage Ihnen: Gut, wenn Sie in die
Berliner Erklärung den Satz schreiben, dass unsere Aufgabe auch der Klimaschutz ist. Wir wollen aber, dass
sich die Europäische Union nicht nur den Klimaschutz
und die Energieversorgung auf ihre Fahnen schreibt,
sondern dass von diesen Feierlichkeiten das Signal ausgeht: Wir definieren die Europäische Union nach
50 Jahren neu. Jetzt geht es darum, einen neuen Raum zu
beschreiten, zu sagen, dass jetzt, nach dem großen Friedensprojekt Europäische Union, nach der europäischen
Integration ein Projekt gestartet wird, mit dem wir auf
sozialer und ökologischer Ebene die Existenzgrundlagen
der Bevölkerung sichern. Dies muss wie ein Leuchtfeuer
nach außen strahlen.
Für mich gibt es heute eigentlich nur einen Wermutstropfen: Ich hätte mir gewünscht - Herr Steinmeier wird
ja gleich reden -, dass wir hier über die Berliner Erklärung diskutiert hätten. Das wäre das Leuchtfeuer der
Transparenz gewesen, das die Europäische Union
braucht.
({10})
Ich will jetzt nicht zu viel Wasser in den Wein gießen.
Das geht jetzt auch schwer.
Das ist mein letzter Satz. - Herr Steinmeier, Frau
Bundeskanzlerin, ich möchte, dass von diesen Feierlichkeiten zwei Dinge ausgehen: In Zukunft wird transparent
diskutiert, und die Europäische Union hat ein neues Ziel:
das ökologische und soziale Europa. Wir wollen dabei
andere mitnehmen und auch das zum Exportschlager
machen. Dann hat die 50-Jahr-Feier einen Sinn.
({0})
Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist in der Tat nicht zu überhören - wenn ich
es richtig sehe, hat das kein einziger Redner heute Morgen bestritten -: Europa wird 50.
({0})
Wir haben in den letzten Wochen hier im Parlament häufiger darüber gesprochen. Jetzt ist es so weit: In wenigen
Tagen begehen wir den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Ganz zu Recht haben Sie
dieses Jubiläum in den Mittelpunkt der heutigen Debatte
gestellt.
Was ist das Besondere an diesem Tag? Ein Blick zurück sei erlaubt. Europa 1957: Der Kontinent hatte zwei
verheerende Kriege hinter sich; die Menschen waren
noch damit beschäftigt, die Trümmer des letzten Krieges
abzutragen. Das war die Situation, in der in Rom die
Verträge über die Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet wurden. Das war im Übrigen der Beginn einer
Entwicklung, in der ohne Infragestellung der transatlantischen Partnerschaft die europäische Integration als
zweite Säule unserer Identität gewachsen ist. Die Visionen, die den Römischen Verträgen zugrunde lagen, waren erstens Aussöhnung durch Zusammenschluss, zweitens Frieden durch Zusammenarbeit und drittens
Wohlstand durch wirtschaftliche Integration.
Die Weitsicht der Gründungsväter - daran haben viele
hier und heute erinnert - wird wohl erst aus heutiger
Sicht richtig erfasst und ermessen. Vieles, was 1957 wie
eine Utopie klang, ist heute in weiten Teilen politische
Realität. Europa ist heute ein Kontinent des Friedens,
des Wohlstands und der Stabilität. Europäischer Einigungsprozess, das hieß und heißt aus meiner Sicht noch
immer vor allem friedliches Miteinander. Vor 50 Jahren
gab es wohl kaum etwas, das sich die Menschen sehnlicher gewünscht haben. Heute - Herr Westerwelle hat
eben darauf hingewiesen - ist das so selbstverständlich
geworden, dass sich junge Menschen etwas anderes gar
nicht mehr vorstellen können, und manch Ältere schütteln genau darüber den Kopf.
Europa 1957, das war ein geteilter Kontinent. Heute,
50 Jahre später, ist diese Teilung überwunden. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa sind fester Teil unserer
Gemeinschaft geworden. Vor allen Dingen war es natürlich ihr Freiheitswille, der das alles möglich gemacht
hat.
({1})
Ich bin mir sicher, aus dem Blickwinkel vieler Regionen dieser Welt würde das ausreichen, um auf die Frage:
„Ist Europa eine Erfolgsgeschichte?“, die viele Journalisten Ihnen wie mir vor dem Plenarsaal gestellt haben,
zu antworten: Ja, schon deshalb ist Europa eine Erfolgsgeschichte. Genau das muss eine der Botschaften sein,
die von diesem Jubiläum ausgehen.
({2})
Wir sollten uns am 25. März selbstbewusst die Zeit
nehmen, uns die Elemente dieses Erfolges noch einmal
bewusst zu machen. „Europäische Union“ bedeutet mehr
als nur Frieden und Einheit in Europa; das, was ich eben
dargestellt habe. Das heißt auch: ein Binnenmarkt für
fast 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher.
Das heißt: einheitliche Währung in der Eurozone. Das
heißt: Reisefreiheit von Lissabon bis nach Helsinki. Das
heißt: gemeinsame Handelspolitik für 27 Mitgliedstaaten. Darin drückt sich doch aus: Nur dann, wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir auf Augenhöhe mit den
USA, mit China oder Indien verhandeln.
({3})
Das ist aber nicht alles. Europäische Union, das heißt
- auch wenn es in diesen Tagen schwerfällt -: eine gemeinsame europäische Außenpolitik, ein gemeinsames
Wirken für Frieden und Entwicklung in der ganzen Welt.
Nur als Europäische Union sind wir ein Akteur, der auf
der internationalen Bühne ernst genommen wird.
({4})
Wir sind weltweit der größte internationale Geber von
Entwicklungshilfe. Beim Nahostquartett sitzen wir nicht
als Deutsche, sondern als Europäische Union am Tisch.
Ich glaube, unser internationaler Gestaltungsspielraum
ist größer, wenn wir ihn europäisch nutzen. Deshalb
müssen wir ihn ausbauen, deshalb brauchen wir eine
handlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa.
({5})
Damit bin ich noch nicht am Ende. Die Europäische
Union ist weit mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Zu den Erfolgen der Einigung gehören auch die
Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns immer wieder
neu verständigen: Die Europäische Union gründet sich
auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf Freiheit und
Verantwortung, auf Respekt vor der Vielfalt in Europa,
auf Toleranz und natürlich auch auf Solidarität im Umgang miteinander. Die Europäische Union steht heute für
ein Gesellschaftsmodell, das - bei aller Verschiedenheit,
die es nach wie vor gibt - erst recht von außen immer
mehr als europäisches Gesellschaftsmodell begriffen
und - das darf ich nach den internationalen Konferenzen, die ich gerade jetzt, während unserer Präsidentschaft, hinter mir habe, sagen - nicht selten bewundert
wird. Sie steht für ein Modell der Zusammenarbeit, das
inzwischen auch in anderen Regionen der Welt als Vorbild für regionale Kooperation gilt.
Für eines steht Europa, glaube ich, in ganz besonderem
Maße: für das Streben nach einer Gesellschaft mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit - sicherlich -, aber
eben auch mit sozialer und ökologischer Verantwortung;
beides ist miteinander verbunden und muss miteinander
verbunden bleiben.
({6})
Dieses europäische Sozialmodell ist das Bild einer Gesellschaft, in der unternehmerische Freiheit genauso ihren Platz hat wie der Schutz und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
einer Gesellschaft, in der sich wirtschaftliche Leistung
lohnen muss, zugleich aber auch gesellschaftliche Solidarität eingefordert wird. Das ist die soziale Dimension;
das ist eines der Markenzeichen Europas. Diese soziale
Dimension weiterzuentwickeln, und zwar unter den Bedingungen der Globalisierung, ist deshalb eine der ganz
wichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in den Mitgliedstaaten, aber erst recht auf der europäischen Ebene zu
bewältigen haben.
({7})
Europa ist zusammengewachsen, doch gleichzeitig
- Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen - hat sich
die Welt in atemberaubendem Tempo verändert. Wir stehen heute natürlich vor ganz anderen Aufgaben, als sie
die Gründungsväter der EWG vor einem halben Jahrhundert bewältigen mussten: Die Globalisierung, der
Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte, das sind sicherlich
Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit - davon habe ich gesprochen -, vor allem aber Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Hinzu kommt: Die Folgen des Klimawandels
sind unübersehbar geworden. Gleichzeitig müssen wir
uns bei all dem auch noch darauf einstellen, dass die natürlichen Energieressourcen knapper und teurer werden;
schließlich sind sie endlich. Wachsende Migrationsströme, die Gefahr des Terrorismus, Krisensituationen in
viel zu vielen Weltregionen - wie oft müssen wir hier im
Hohen Hause darüber sprechen. Das sind die Fragen, auf
die wir heute Antworten finden müssen. Ich sage ganz
klar: Wir müssen darauf europäische Antworten finden.
({8})
Mit anderen Worten: Im lauten Vielklang der globalisierten Welt finden wir Europäer nur Gehör, wenn wir
mit einer Stimme sprechen. Wir können unsere Interessen nur dann wirksam vertreten, wenn wir gemeinsam
handeln. Ich glaube, genau das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger von einer verantwortlichen Politik in
Europa. Mir scheint, ein Teil der europäischen Vertrauenskrise liegt darin begründet, dass die Menschen in den
zurückliegenden zwei, drei Jahren das Gefühl hatten,
Europa sei eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
Hier müssen wir gegensteuern.
({9})
Wir wollen die Menschen für Europa gewinnen. Wir
wollen sie gewinnen, indem wir ihnen zeigen, dass die
europäische Integration und die europäische Einigung
ihnen auch weiterhin ganz konkrete Vorteile bringen.
Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, dass gerade der
letzte Gipfel der Regierungschefs gezeigt und bewiesen
hat, dass Europa handeln kann, und zwar auch in den Bereichen, in denen die Menschen mit Recht entschlossenes europäisches Handeln erwarten. Obwohl es keinem
Mitgliedstaat leichtgefallen ist - das kann ich Ihnen aus
dem Vorbereitungsprozess versichern -, haben sich die
Regierungschefs letztlich auf eine sehr ehrgeizige
Klima- und Energiepolitik geeinigt. Das macht Mut.
({10})
- Ja, Herr Kuhn, ehrgeizige Ziele. - Wir haben nicht nur
Anreize für die Innovationsfähigkeit der europäischen
Industrie gesetzt. Der Gipfel war aus meiner Sicht auch
ein Test für die Zukunftsfähigkeit unserer Zusammenarbeit. Vom Gelingen dieses Gipfels geht ein Signal aus,
das über die konkreten Beschlüsse hinausreicht. Es ist
ein Signal der Zuversicht: Ja, Europa stellt sich den Aufgaben der Zukunft. Gemeinsam können wir sie meistern.
({11})
Das Gemeinsame sollte die weitere Botschaft des
kommenden Jubiläums sein. „Europa gelingt gemeinsam“, das ist das Leitmotiv, wenn sich übermorgen die
Staats- und Regierungschefs hier in Berlin treffen werden. Das wird auch der Grundtenor der Berliner Erklärung sein, die aus diesem Anlass verabschiedet werden
soll. Denn eines - das muss ich sagen - ist ganz klar: Wir
brauchen diese Zuversicht, wir brauchen Mut, wir brauchen Entschlossenheit, und wir brauchen etwas von der
visionären Weitsicht der Unterzeichner der Römischen
Verträge, wenn wir den Erneuerungsprozess der Europäischen Union in der zweiten Hälfte unserer Präsidentschaft wieder in Gang setzen wollen. Meine feste Überzeugung und die Überzeugung der Bundesregierung ist:
Die Union der 27 braucht neue Arbeitsgrundlagen, und
zwar in Gestalt der Verfassung. Den Schwung dieses
Jahrestages möchten wir dafür nutzen, die Voraussetzungen für den Erneuerungsprozess der Europäischen Union
zu schaffen.
Meine Damen und Herren, 50 Jahre EG und EU zeigen: Unsere Vergangenheit liegt in Europa, und - hier
stimme ich all meinen Vorrednern zu, die sich so oder
sinngemäß ausgedrückt haben - unsere Zukunft erst
recht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Markus Löning ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, dass die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Europäischen Union hier in Berlin stattfinden und dass Sie,
Herr Steinmeier und Frau Bundeskanzlerin, die Staatsund Regierungschefs nach Berlin eingeladen haben. Es
gibt wohl keine Stadt in Europa, die aufgrund der Mauer
so für die Teilung Europas steht und mit dem Fall der
Mauer auch ein Signal für die Überwindung der Teilung
gesetzt hat, wie Berlin. Ich glaube, es gibt auch keine
Stadt in Europa, die so deutlich macht, wie das neue,
moderne Europa aussehen kann, wie Berlin.
Europa lebt in Berlin. Hier treffen sich die jungen
Leute, die Künstler, die Studenten, Leute, die hier arbeiten wollen, die an neuen, modernen Entwicklungen und
an völkerverbindenden und völkerübergreifenden Beziehungen ohne Vorurteile interessiert sind. Sie arbeiten zusammen, und sie studieren und feiern miteinander. Ich
finde, das ist richtig. Das brauchen wir nach 50 Jahren
EU hier in Berlin.
({0})
Herr Steinmeier, Sie haben gerade zum Thema Berliner Erklärung das eine oder andere gesagt und von einem Grundtenor gesprochen. Diese Berliner Erklärung
muss ja ein schreckliches Geheimdokument sein.
({1})
Noch nicht einmal zwei Tage bevor sie verabschiedet
wird, bekommen wir hier etwas davon zu hören.
({2})
Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass das ein Erfolg
wird und dass Sie einen Impuls für die Renovierung der
europäischen Spielregeln setzen können; das ist doch
selbstverständlich. Eines sage ich hier aber ganz klar und
deutlich: Dieses Verfahren der Geheimdiplomatie hinter
verschlossenen Türen und unter Ausschluss nicht nur der
Öffentlichkeit, sondern auch der Parlamente ist für den
Fortgang der Verfassungsdiskussion absolut inakzeptabel.
({3})
Es kann nicht sein, dass Regierungen versuchen, hier etwas auszumauscheln, während der Bundestag, der diese
Verträge ratifizieren soll, an den Debatten nicht im Geringsten beteiligt wird. Das ist inakzeptabel. Wir werden
mit aller Vehemenz einfordern, dass hier über den Verfassungsvertrag berichtet und diskutiert wird.
({4})
Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie einen
enorm ambitionierten Zeitplan vorlegen; denn eines ist
klar: Unsere Partner und die Bürger erwarten von uns
Handlungsfähigkeit; das ist oft angesprochen worden.
Handlungsfähigkeit heißt, dass wir den Verfassungsprozess endlich zum Abschluss bringen müssen. Wenn wir
mit Partnern in Übersee bzw. außerhalb Europas reden,
dann kommt doch immer dieselbe Antwort auf die
Frage, wie es mit Europa weitergeht: Meine Güte, macht
endlich einmal eure Hausaufgaben! Verabschiedet zu
Hause endlich eure Spielregeln, damit wir wieder über
substanzielle Politik reden können! - Herr Steinmeier,
Sie haben unsere volle Unterstützung dafür, dass das
schnell über die Bühne geht. Nur so können wir als Europäer letztendlich Handlungsfähigkeit zeigen.
({5})
Wir als Liberale erwarten von Ihrer Ratspräsidentschaft, dass Sie Ihre Ziele höher stecken und im Juni
nicht nur sagen, dass Sie einen Zeitplan vorlegen. Es
muss mehr vorgelegt werden, zum Beispiel ein Mandat
für eine Regierungskonferenz. Es muss klargemacht
werden, dass dieser Text bis Ende des Jahres unter Dach
und Fach sein muss und dass es das Ziel ist, dass die
Kommission 2009 nach den neuen Spielregeln ins Amt
kommt und das Parlament nach den neuen Spielregeln
gewählt werden kann. Das müssen wir doch von uns verlangen; ich verlange diesen Ehrgeiz an dieser Stelle auch
von der Bundesregierung.
({6})
Ich komme jetzt zu dem, was die Bürger von uns zu
Recht erwarten. Sie erwarten von uns, dass wir im Bereich des Binnenmarktes etwas tun. Sie erwarten von
uns, dass die Europäische Union etwas tut, was ihnen
persönlich in ihrem Leben sichtbare und greifbare Vorteile bringt. Sie erwarten von uns, dass die Europäische
Union etwas tut - ich nenne als Beispiel die RoamingGebühren -, wodurch ihr tägliches Leben besser und angenehmer gestaltet wird, und nicht, dass wir uns hier
über Spielregeln auseinandersetzen.
Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg am Wochenende. Ich wünsche mir, dass ein Impuls für Europa
und für den Verfassungsvertrag gegeben wird und dass
wir uns anschließend wieder auf die Substanz europäischer Politik, auf eine EU, die Erfolge für unsere Bürger
produziert, konzentrieren können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über die Römischen Verträge ist in den vergangenen Tagen und Wochen viel geschrieben und - auch
hier im Parlament - noch viel mehr geredet worden, sicherlich mehr als in den vergangenen 50 Jahren. Ich
denke, das ist auch richtig so; denn die Unterzeichnung
der Römischen Verträge vor 50 Jahren war ein gewaltiges historisches Ereignis, von dem wir bis heute profitieren. Es ist gut, dass wir dieses historische Datum am
kommenden Wochenende feiern und angemessen würdigen. Aber - darin teile ich zu 100 Prozent die Auffassung der Bundesregierung - uns geht es vor dem Hintergrund der deutschen Ratspräsidentschaft an diesem
Wochenende um mehr als das würdige Andenken an die
Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass durch zufälliges Zusammentreffen von Sachverhalten und Ereignissen - wenn sie nur mutig und tatkräftig genutzt wurden bedeutsame Veränderungen begonnen haben, die häufig
eine historische Dimension entfaltet haben.
Es ist zunächst ein Zufall, dass das 50-jährige Jubiläum der Römischen Verträge mit der deutschen Ratspräsidentschaft zusammenfällt und deshalb die Feierlichkeiten in Berlin stattfinden, der Stadt, die über
Jahrzehnte das Symbol für die Teilung unseres Vaterlandes und ganz Europas war. Wir haben hier vor 17 Jahren
die Mauer niedergerissen und damit auf unserem Kontinent und weltweit eine beispiellose Entwicklung ausgelöst. Ich glaube, Berlin ist der richtige Ort, um den festgefahrenen Verfassungsprozess der Europäischen Union
wieder in Gang zu bringen.
({0})
Von den Römischen Verträgen bis heute hat die Europäische Union immer wieder Höhen und Tiefen erlebt.
Wir können uns ebenso an Bilder fröhlicher und jubelnder Menschen erinnern wie an festgefahrene, fast ausweglos erscheinende Situationen. Dennoch - das zeichnet die europäische Politik besonders aus - hat die
Europäische Union es immer wieder geschafft, voranzukommen. Sie hat es immer wieder geschafft, die neuen
Herausforderungen zu meistern.
Wo stehen wir heute? Sinnbildlich passt vielleicht der
Vergleich mit einem etwas stotternden Motor am besten.
Wir kommen zwar voran, aber mühselig. Manchmal
scheint es, als ob wir stehen bleiben könnten.
Die Berliner Erklärung kann die Initialzündung dafür
sein, dass der europäische Motor wieder rundläuft. Allen
Widrigkeiten zum Trotz möchte ich eines deutlich herausstellen - ich glaube nicht, dass es in diesem Haus dagegen Widerspruch gibt -: Die Europäische Union ist alles in allem eine Erfolgsgeschichte. Die Europäische
Union hat Europa zu einem Kontinent gemacht, auf dem
die Menschen in Frieden, Freiheit, Demokratie und
Wohlstand leben können. Die Europäische Union ist das
erfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte.
({1})
Wir in Deutschland sind heute von Freunden und
Partnern umgeben. Wir profitieren vom freien Handel in
Europa und sichern so bei uns Wohlstand und Arbeitsplätze. Dabei war es gerade in den letzten Jahren eine
gewaltige Leistung, die Länder aus Mittel-, Ost- und
Südosteuropa voll in die Europäische Union zu integrieren. Wir sind jetzt eine Gemeinschaft, die 480 Millionen
Menschen miteinander verbindet. Dabei ist die von allen
Mitgliedstaaten gezeigte Solidarität bei diesem Erweiterungsprozess für mich besonders bemerkenswert. Es
liegt klar auf der Hand, dass für uns Deutsche die Integration unserer östlichen Nachbarn im genuinen nationalen Interesse gestanden hat und steht. Aber diesen Erweiterungsprozess haben auch Länder wie Spanien,
Portugal und Italien mitgestaltet, die an ihren Außengrenzen weiß Gott andere Probleme haben. Trotzdem
haben sie die Osterweiterung mitgestaltet. Das ist ein
Beispiel für gelebte Solidarität.
({2})
Ich will aktuell erwähnen, dass die Europäische
Union mit den Beschlüssen zum Klimaschutz auf dem
letzten Europäischen Rat weltweit eine Vorbild- und
Führungsfunktion in dieser so wichtigen Menschheitsfrage eingenommen hat. Es liegt jetzt an uns, sie umzusetzen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder
dadurch ausgezeichnet, dass sie in schier ausweglosen
Situationen und festgefahrenen Verhandlungen neue
Wege beschritten hat, um wieder voranzukommen. So
war zum Beispiel das Modell der Regierungskonferenzen für den Maastrichter Vertrag ausgesprochen erfolgreich. Die darauf folgenden Regierungskonferenzen zur
Vertragsänderung - Amsterdam und Nizza - gestalteten
sich allerdings immer schwieriger. Die entscheidenden
Fragen, nämlich die institutionellen Reformen, konnten
nicht gelöst werden und wurden jeweils verschoben.
Spätestens mit dem Vertrag von Nizza wurde klar, dass
diese Methode allein nicht mehr ausreichend praktikabel
ist.
Wir haben dann in Europa zur Erarbeitung des Grundrechtekatalogs die sogenannte Konventsmethode entwickelt. Diese Methode zeichnet sich durch die Beteiligung aller nationalen Parlamente, des Europäischen
Parlaments und aller europäischen Regierungen aus. Sie
war bei der Erarbeitung des Grundrechtekatalogs sehr
erfolgreich. Für die Erarbeitung des Verfassungsvertrages wurde die Konventsmethode ebenfalls gewählt.
Nach langem, zähem Ringen ist durch diesen Verfassungskonvent - wir haben in diesem Haus mehrfach darüber diskutiert und mehrere große Anhörungen dazu
durchgeführt - der europäische Verfassungsvertrag als
ein gutes, wegweisendes, zukunftsweisendes Dokument
erarbeitet worden. Der Verfassungskonvent hat es geschafft, die meisten offenen Fragen, zum Beispiel der
notwendigen institutionellen Reformen, zu lösen. Daran
sind vorher viele Regierungskonferenzen gescheitert.
Die Tatsache, dass bereits 18 Länder den Vertrag ratifiziert haben, ist ein Beleg für die Qualität dieses Entwurfes. Allerdings ist der Prozess durch die gescheiterten
Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken geraten.
Nun, nach mehr als zwei Jahren Denkpause, wird es
allerhöchste Zeit, dass wir wieder handeln. Die Methode
der Bundesregierung ist, auf Grundlage der Berliner
Erklärung einen Ansatz zur Lösung der Verfassungsfrage für den Europäischen Rat im Juni dieses Jahres zu
erarbeiten. So werden die Verhandlungsführer der Regierungschefs unmittelbar nach der feierlichen Unterzeichnung der Berliner Erklärung die notwendigen Beschlüsse für den Rat im Juni vorbereiten. Welcher Name
dann über dem Projekt steht, halte ich für zweitrangig.
Wenn damit Widerstände überwunden werden können,
kann eine neue Begriffsbestimmung sogar hilfreich sein.
Wichtig und entscheidend ist, dass die Substanz des vorliegenden Verfassungsvertrages erhalten bleibt. So müssen die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen verbessert, die Grundrechte eingebunden und die
Kompetenzen zwischen Europäischer Union und den
Mitgliedstaaten klar aufgeteilt sein. Wenn wir dann
schlussendlich dazu kämen, dass der Text des Verfassungsvertrages vor allen Dingen im dritten Teil kürzer
und übersichtlicher gestaltet wird, beseitigten wir damit
sogar ein Defizit, wozu der Verfassungskonvent nicht in
der Lage war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, allerdings
wird die Lösung der Verfassungsfrage durch die Regierungschefs und möglicherweise alle nationalen Parlamente in Europa eines unserer großen Probleme in der
gegenwärtigen Europapolitik nicht automatisch beseitigen. Weite Teile der Bevölkerung in Europa stehen der
europäischen Integrationspolitik misstrauisch bis ablehnend gegenüber. So haben zum Beispiel in Deutschland laut einer Umfrage des Eurobarometers nur
42 Prozent der Deutschen ein positives Bild von Europa.
Woran liegt das? Das liegt sicherlich an der Unübersichtlichkeit der jetzigen europäischen Strukturen und mangelnder Kompetenzabgrenzung zwischen Europa und
den Nationalstaaten. Viele Bürger fühlen sich der europäischen Politik ausgeliefert. Sie können nicht die Zusammenhänge europäischer Entscheidungen verstehen,
und sie haben erst recht nicht das Gefühl, irgendeinen
Einfluss darauf nehmen zu können. Das zeigen uns auch
die europaweit beängstigend niedrigen Beteiligungen an
Europawahlen.
Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass bei der
Frage, ob wir genügend Überzeugungsarbeit für dieses
Europa geleistet haben, die Bilanz für uns Politiker mangelhaft ist. Wir müssen mehr dafür tun, dass in der Bevölkerung ausreichendes Verständnis dafür geweckt
wird, dass der Verfassungsvertrag nicht das Problem,
sondern die Lösung vieler Probleme ist.
Es gibt aber auch das objektive Problem der mangelnden Zustimmung der Bevölkerung zu Europa, das wir
mit Beschlüssen und Verträgen alleine nicht lösen können. Dafür brauchen wir Zeit. Wir sind jetzt nach einem
gigantischen Erweiterungsprozess 27 Mitgliedsländer
und 480 Millionen Menschen in dieser neuen Europäischen Union. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger an diese neue Situation gewöhnen müssen. Hier muss Vertrauen wachsen, dass
diese Europäische Union auch weiterhin zukunftsorientiert arbeiten kann. Dazu reichen zwei oder drei Jahre
nicht aus.
({4})
Es darf deshalb angesichts der schnellen Erweiterungspolitik der vergangenen Jahre, zu der es in der Tat keine
Alternative gab, kein einfaches „Weiter so!“ geben. Unsere Hauptaufgabe liegt jetzt darin, die europäische Einigung zu vertiefen und die Arbeitsfähigkeit der europäischen Institutionen zu verbessern. Genau aus diesem
Grund ist der vorliegende Verfassungsvertrag das beste
und fortschrittlichste Dokument, das wir gegenwärtig
haben.
({5})
Ich möchte noch einige Sätze zur Berliner Erklärung
sagen. Sie entfaltet - das war durchaus geplant -, schon
bevor es sie überhaupt gibt, eine erstaunliche Wirkung.
Die Zeitungen sind voll von Veröffentlichungen zu Europa und drucken Sonderbeilagen. Die Menschen beschäftigen sich intensiver mit der Europäischen Union.
Es wäre wünschenswert, dass das so bleibt. Die Befassung mit der Berliner Erklärung geht sogar so weit - das
konnte ich gestern im Ausschuss hören -, dass die Fraktion Die Linke jetzt schon an einer Berliner Gegenerklärung schreibt.
({6})
Ich frage mich allerdings, wogegen, da es die Berliner
Erklärung noch gar nicht gibt.
({7})
Selbst Ihre Fraktion scheint der Berliner Erklärung eine
besondere Bedeutung zuzumessen.
Bei den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag
funktioniert die Arbeitsteilung nach bekanntem Muster.
Die Opposition beklagt eine mangelnde parlamentarische Beteiligung, und es wird von Geheimniskrämerei
und Geheimdiplomatie gesprochen. Das ist nachvollziehbar. Aber eines ist doch sicher, und das weiß hier jeder von uns: Wenn die Berliner Erklärung von allen nationalen Parlamenten der Europäischen Union diskutiert
und beschlossen worden wäre, hätten wir sie wenigstens
zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es geht hier auch um
Vertrauen. Ich vertraue darauf, dass unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Verhandlungsführer einen
guten und zukunftsweisenden Text aushandeln. Dass die
Opposition dieses Vertrauen nicht hat wie die Regierungsfraktionen, ist auch verständlich. Aber vielleicht
sind auch Sie von dem Text der Berliner Erklärung überrascht, und zwar positiv überrascht.
({8})
Sicherlich werden wir in den kommenden Wochen noch
viel Gelegenheit haben, uns auch kritisch mit der Auswertung dieses Textes zu beschäftigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden uns ungefähr in der Mitte der deutschen Ratspräsidentschaft. Schon Monate vor Beginn der deutschen
Ratspräsidentschaft war die Erwartungshaltung gegenüber Deutschland enorm groß, eine Erwartungshaltung,
die mich anfangs beunruhigt hat. Von uns wurde - so
kam es mir manchmal vor - schlichtweg erwartet, dass
wir in einem halben Jahr alle offenstehenden Probleme
der europäischen Politik lösen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Einen Satz noch. - Ich glaube aber, wir sollten weniger besorgt, sondern eher stolz sein; denn die große Erwartungshaltung gegenüber der deutschen Ratspräsidentschaft gründet sich darauf, dass man uns etwas
zutraut und dass man uns vertraut. Dieses Vertrauen
nicht zu enttäuschen, ist eine Herausforderung für uns
alle. Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag Bundeskanzlerin
Angela Merkel und die Bundesregierung nach allen
Kräften unterstützen, zu einem erfolgreichen Abschluss
der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni dieses Jahres
zu kommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Stübgen, Sie brauchen nicht eifersüchtig zu
sein: Wir sind von der Bundesregierung nicht bevorzugt
worden; wir haben die Informationen über die Berliner
Erklärung aus anderen Quellen in Europa bekommen.
Aber sie liegen uns vor; allzu große Überraschungen
sind es nicht.
({0})
- Ich bitte dann herzlich, diesen Zwischenruf in das Protokoll aufzunehmen. Wir haben diese Informationen im
Wege demokratischer Prozesse erhalten. Ich kann nur
noch einmal sagen, wenn Sie da ein bisschen eifersüchtig sind: Wir kennen die Berliner Erklärung, überraschend sind die Informationen nicht.
({1})
Vorgestern fand in Berlin der Rohstoffkongress des
BDI unter Anwesenheit des halben Bundeskabinetts
statt. Der Spitzenfunktionär des BDI Herr Grillo appellierte, was die Rohstoffsicherung in Deutschland anbetrifft, an die Wirtschafts-, Sicherheits-, Außen-, Europaund Entwicklungspolitik. Ich zitiere Herrn Grillo wörtlich:
Der größte Teil der weltweiten Rohstoffförderung
findet in ... instabilen Ländern statt. Dies ist an sich
schon Grund genug zur Befassung der Außenpolitik
mit den Problemen der Rohstoffversorgung.
Und weiter:
China hat inzwischen mit einer Reihe von durch die
internationale Gemeinschaft geächteten Staaten in
Afrika, Asien und Lateinamerika Allianzen geschlossen und in diesen zum Teil erhebliche Investitionen getätigt - unter anderem im Sudan und in
Angola.
Herrn Grillos Interesse an militärischen Aktivitäten der
EU im Sudan hat mit Menschenrechten also wenig zu
tun.
Die Bundesregierung kommt, so schrieb die „FAZ“ in
ihrer gestrigen Ausgabe, „dem Wunsch des BDI nach
und gründet einen interministeriellen Ausschuss zur
Rohstoffpolitik“.
Die Bundeskanzlerin sagte vorgestern beim BDI zum
Thema Rohstoffsicherung:
Bei aller Unabhängigkeit zwischen Wirtschaft und
Politik müssen wir ... die strategische Herangehensweise
- das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen angesichts des Herangehens anderer Akteure in der
Welt neu erlernen.
Nein, Frau Ratspräsidentin, lernen Sie lieber nicht vom
BDI und der Bertelsmann-Stiftung: Militäreinsätze für
Rohstoffsicherung und Sozialkahlschlag für Konzernchefs.
({2})
Ich weiß nicht, wann Sie zuletzt mit Kulturschaffenden gesprochen haben, die für Europa, seine Friedensund Sozialstaatsidee stehen und damit ein Millionenpublikum begeistern. Wir von der Linken haben es in den
letzten Tagen auch wieder getan. Herausgekommen ist
die Berliner Gegenerklärung. Ich zitiere daraus:
Die „Berliner Erklärung“ ... dürfte wohl eher ein
„Berliner Verschweigen“ werden. ... Die französische Ratspräsidentschaft [soll] auf die Verabschiedung des gescheiterten Verfassungsvertrages, diesmal zerlegt in mehrere unübersichtliche Teile und
Verträge, drängen. Erhalten wird ... die aufrüstungs8852
fixierte und neoliberale Substanz. Sie soll dann
ohne Volksabstimmungen durchgedrückt werden.
Selbst in jenen Ländern, die zunächst ... zugestimmt
hatten, weiß die Bundesregierung: die Mehrheit ist
dahin. Ausgerechnet die Regierung eines Landes, in
dem keine Volksabstimmung über den europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen ist, versucht,
demokratische Referenden anderer Länder auszuhebeln.
Die Kulturschaffenden nennen dies einen kalten
Putsch der neoliberalen Eliten
({3})
und fordern:
ein Ende der Geheimdiplomatie, europaweite
Volksabstimmungen über eine europäische Verfassung, statt Aufrüstungsgebot das Angriffskriegsverbot des Grundgesetzes und der UN-Charta, statt
Neoliberalismus im Verfassungsrang die Sozialstaatsregelung unseres Grundgesetzes und die sozialen Menschenrechte der UN-Charta!
({4})
Nur so bekommt die EU die verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen, um aus der Sackgasse der G-8Globalisierer herauszukommen.
Diese Erklärung haben unter anderem unterschrieben:
Daniela Dahn, Schriftstellerin, Katja Ebstein, Sängerin,
Professor Dr. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler,
Dr. Manfred Maurenbrecher, Liedermacher, Diether
Dehm,
(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Gert
Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wer ist
Diether Dehm?
Alexander Ulrich, Gregor Gysi, Oskar Lafontaine,
Reinhard Mey, Peter Sodann, Henning Venske,
Konstantin Wecker.
({5})
Frau Merkel, verhelfen Sie Europa wieder zu seiner
Ursprungsidee! Die ist gebaut auf Frieden in der Welt
- nicht nur bei uns - und soziale Gerechtigkeit.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man vom heutigen Tage und von den nächsten Tagen mit den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Römischen Verträge absieht: Unser eigenes Urteil über Europa sollte uns mitunter die Schamesröte ins Gesicht
treiben; denn wir haben uns an den vielen Erfolgen offensichtlich sattgesehen. Wir mäkeln herum. Wir sind
übellaunig.
({0})
Ich sage das vor allem deshalb, weil der Blick von außen
auf die Europäische Union oftmals den Traum erkennt,
den meine Kollegin Angelica Schwall-Düren beschrieben hat. Überall dort, wo die Menschenrechte mit Füßen
getreten werden, wo Hunger herrscht, wo Unfrieden
herrscht, dort glaubt man an dieses Europa; dort ist Europa Hoffnung. Man will dazugehören. Man will teilhaben an dieser großen Idee, die uns seit vielen Jahrzehnten begleitet. Das sollten wir uns im politischen Alltag
immer wieder vergegenwärtigen, wenn wir anfangen,
über das Wider, über die Schwierigkeiten, über die Probleme zu reden.
Selbstverständlich ist die Berliner Erklärung wichtig.
Wir sollten denjenigen, die diese Berliner Erklärung
zimmern - das ist nicht nur die Bundesregierung -, alles
Gute wünschen.
({1})
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt eine
ganze Menge über die Berliner Erklärung hinaus zu tun.
Wie könnte Europa auch in den kommenden fünf Jahrzehnten gelingen?
Eine Erkenntnis ist: Mut statt Verzagtheit. Die Erklärung von Messina ist heute Morgen schon angesprochen worden. Erinnern wir uns an den 30. August 1954!
Damals hat die Assemblée nationale die Europäische
Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt - ein dramatischer
Rückschritt. Es hat damals aber keine Reflexionsphase
gegeben. Man hat sich nicht zurückgelehnt und gar
nichts mehr gesagt; nein, man hat ganz beherzt die Initiative ergriffen. Mit der Erklärung von Messina ist die
Grundlage für das heutige Europa, ist die Grundlage für
die Römischen Verträge geschaffen worden. Wir können
von unseren Urgroßeltern und Großeltern also zumindest
dieses lernen: In der Krise bewähren sich Mut, Ausdauer, Kraft und Überzeugungsfähigkeit.
({2})
Ich komme zu einer zweiten Erkenntnis - sie mag
sich für den einen oder anderen etwas trivial anhören,
aber sie ist nicht selbstverständlich -: Wir alle sind
Brüssel. Ich weiß, dass es gerade in bayerischen Bierzelten dazugehört, mal richtig auf Europa draufzuhauen. Da
bekommt man ordentlich Applaus. Erst sind die Berliner
dran, und dann sind die Europäer in Brüssel dran. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, in Europa entscheiden nicht
Marsmenschen, sondern wir entscheiden.
({3})
Die nationalen Regierungen tragen Verantwortung. Der
Deutsche Bundestag trägt Verantwortung.
({4})
Michael Roth ({5})
Spätestens seit der zwischen Bundestag und Bundesregierung getroffenen Vereinbarung in Sachen Europa
kann niemand von uns mehr herummäkeln, er habe von
nichts gewusst, er sei überrannt worden, oder fragen,
was denn da schon wieder Blödes entschieden worden
sei. Nein, wir sitzen im Boot Europa. Wir gehören dazu.
Auch wir sind für die guten, aber auch für manche der
schlechten Entscheidungen verantwortlich, die in der
Europäischen Union getroffen wurden und getroffen
werden.
({6})
Ich will eine dritte Erkenntnis hinzufügen: Recht vor
Macht. Es hat der Europäischen Union immer gutgetan,
dass gerade die großen Mitgliedstaaten respektvoll mit
den kleineren Mitgliedstaaten umgehen, dass wir auf
Augenhöhe miteinander kommunizieren. Manche der luxemburgischen, belgischen oder niederländischen Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten haben Europa
mehr vorangebracht, als das durch die großen Mitgliedstaaten, die das stets für sich in Anspruch nehmen, geschehen ist. Diesen Respekt haben die Kleineren verdient. Deutschland ist stets gut damit gefahren, Anwalt
der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten zu sein.
({7})
- Der Gerhard Schröder hat eine ganze Menge gelernt.
({8})
Ich finde, er hat das im Großen und Ganzen gut gemacht.
({9})
- Frau Künast, auch Sie haben ihn gewählt, nicht nur
ich.
({10})
Kommen wir zu einer vierten Erkenntnis: Europa
bräuchte eigentlich Zeit für Konsolidierung. Das hat
der Kollege Stübgen eben schon beschrieben. Ich
stimme dem Kollegen im Prinzip zu. Ich frage Sie alle
aber: Hat die Welt Zeit? Kann jemand auf Europa Rücksicht nehmen? Können wir einfach sagen: „Probleme,
hört jetzt mal auf, Probleme zu sein; lasst uns mal richtig
durchatmen und Kraft tanken; wir brauchen noch ein
bisschen Zeit und Muße für uns, und dann können wir
die Probleme der Welt lösen“?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt wartet
nicht auf Europa. Wir müssen das Tempo vielleicht nicht
erhöhen, wir müssen aber weiterhin mit großem Tempo
dafür sorgen, dass die Probleme der Welt gelöst werden,
dass wir Globalisierung menschlich, sozial und demokratisch gestalten. Deswegen können wir den Bürgerinnen und Bürgern auch nicht einreden, dass die Entwicklung in irgendeiner Weise langsamer vonstatten gehen
wird. Ich halte das für zwingend, auch wenn das für uns
als politisch Verantwortliche mitunter beschwerlich sein
mag.
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Wer, zu
Recht, die europäische Zivilgesellschaft einfordert, der
muss auch dafür sorgen, dass sich endlich Parteien, Gewerkschaften und Verbände europäisieren. Das ist für
uns alle, die wir in europäischen Parteifamilien zusammenarbeiten, schwierig, weil wir wissen, dass es nicht
immer nur nach unserer Nase geht, sondern da unterschiedliche Erwartungshaltungen, Traditionen und auch
kulturelle Verbindlichkeiten aufeinanderstoßen. Aber
ohne europäische Parteien mit europäischen Spitzenkandidaten, mit europäischem Bewusstsein und demokratischen Verhältnissen innerhalb dieser Parteien kann der
Aufbau dieser europäischen Zivilgesellschaft nicht gelingen. Das ist eine Aufgabe, für deren Umsetzung wir
alle in unseren eigenen Parteifamilien arbeiten müssen.
({11})
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Europa lebt
von Zuwanderung und Einwanderung. Das wurde in Europa immer als eine ungeheure kulturelle und zivilgesellschaftliche Erfolgsgeschichte wahrgenommen, auch
wenn wir das oft hätten besser machen können. Wenn es
uns mitunter schon nicht gelingt, Migrantinnen und Migranten verantwortungsvoll zu integrieren, wäre vielleicht
eine europäische Identität neben den anderen Identitäten, die wir alle in uns tragen, ein konkretes, möglicherweise auch Erfolg versprechendes Angebot, um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zivil und
respektvoll zu gestalten. Auch das wird nicht in der Berliner Erklärung stehen, aber es ist dennoch notwendig.
Es gilt bei uns in Deutschland die Devise: Weniger ist
oftmals mehr. Gilt das aber auch für die Europäische
Union? Ich befürchte: nein. Die Europäische Union
muss in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eher mehr
denn weniger Verantwortung übernehmen. Da sollte es
uns allen eher um das große Design gehen - klare Ziele,
verbindliche Standards - und weniger um die Detailwut,
die manchmal auch in Brüssel fröhliche Urständ feiert.
Unser Botschafter in London, Wolfgang Ischinger, sagte
kürzlich, Legitimität und Glaubwürdigkeit seien die
Pfunde der Europäischen Union. Ich stimme ihm zu: Wir
haben eine große Verantwortung im Bereich des Klimaschutzes, im Bereich der atomaren Nichtverbreitung und
haben die Aufgabe, dass unsere Sicherheitsstrategie, die
von ziviler Konfliktprävention ausgeht, zu einem maßgeblichen Exportschlager im globalen Maßstab wird.
({12})
Nur, dann müssen wir auch der Europäischen Union die
Instrumente in die Hand geben. Wir brauchen mehr gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen
nicht eine europäische Entwicklungspolitik und 27 weitere. Wir brauchen gemeinsame entwicklungspolitische
Anstrengungen. Wir brauchen ein Europa, das mit einer
Stimme spricht. Wir brauchen perspektivisch sicherlich
auch europäische Streitkräfte. Nicht in erster Linie deswegen, weil das Synergieeffekte hervorbringt. Nachdem
wir mit den Währungen einen Kernbereich nationaler
Souveränität abgegeben haben, verabschieden wir uns
perspektivisch auch aus einem weiteren Kernbereich nationaler Souveränität, der maßgeblich für Frieden und
Michael Roth ({13})
Kooperation steht. Wir könnten deutlich machen: Wir
wollen die Probleme dieser Welt gemeinsam lösen und
gemeinsam zum Frieden in der Welt beitragen.
({14})
- Da stimme ich Ihnen zu, Herr van Essen. Die Parlamentsbeteiligung und die parlamentarische Kontrolle
des Bundestages sind etwas, worauf wir in der Europäischen Union stolz hinweisen sollten.
Den Schutz von Umwelt, Natur und Klima habe ich
schon angesprochen. Auch der Technologietransfer im
Bereich der erneuerbaren Energien ist etwas, was für uns
in Deutschland von ganz herausragender Bedeutung ist.
Bei den Umwelttechnologien sind wir Exportweltmeister. Wenn es der Europäischen Union hier gelingt, anderen Regionen der Welt konkrete Angebote zu unterbreiten, wie man ohne Kernenergie und ohne fossile
Energieträger in eine gute, erfolgreiche, prosperierende
Zukunft gehen kann, wäre das etwas, worauf wir zu
Recht stolz sein können.
({15})
Last, but not least will ich das unterstreichen, was
auch unser Arbeits- und Sozialminister immer wieder in
den Mittelpunkt seiner Bemühungen gerückt hat: gute
Arbeit! Faire Arbeitsbedingungen, kein Lohndumping,
sondern Löhne, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Familien ernähren, kein Dumping um die
niedrigsten Unternehmensteuern, gelebte Solidarität das ist eine zentrale Herausforderung der Europäischen
Union.
({16})
Der Wert der gelebten Solidarität ist das, was die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union maßgeblich
ausmacht. Auch andere predigen Freiheit; Freiheit ist ein
zentraler Begriff unserer Werte. Aber mit Solidarität haben wir einen weiteren Exportschlager gestiftet, der
nicht nur in die Europäische Union gehört, sondern auch
global gesehen eine Rolle spielen muss.
Es gibt zweifellos Alternativen zu dem, was ich gesagt habe und was der Außenminister und viele Kolleginnen und Kollegen heute hier erklärt haben. Politik ist
nie alternativlos. Aber es ist zu hinterfragen, ob es wirklich eine akzeptable Alternative ist, dass wir uns weiter
durchwurschteln und meinen, wir könnten mit den Regeln von Nizza die Europäische Union und die Zukunft
unserer Mitgliedstaaten gestalten. Ich halte das für eine
fahrlässige Strategie. Wer Differenzierung innerhalb der
Europäischen Union das Wort redet, muss akzeptieren,
dass das ein Auseinanderdriften der Europäischen Union
in mehrere Klubs und Gruppen mit sich bringt und damit
auch Entsolidarisierung bedeutet.
Möglicherweise steht am Ende einer solchen Diskussion auch die Frage, ob bestimmte Länder noch bereit
und in der Lage sein können, Mitglied der Europäischen
Union zu sein. Ich wünsche mir nicht, dass sich diese
Frage stellt; auch die SPD-Fraktion wünscht sich das
nicht. Wir wünschen uns weiterhin eine Europäische
Union der Solidarität. Wenn man auf das zurückblickt,
was meine und unsere Urgroßeltern und Großeltern geschafft haben, kann man nur sagen: Chapeau! Das ist
eine großartige Leistung. Unsere Elterngeneration muss
jetzt zeigen, ob sie sich in diese erfolgreiche Tradition zu
stellen vermag. Das gilt im Übrigen aber auch für meine
Generation.
Vor uns liegt viel Arbeit. Ich wünsche allen, die sich
am gemeinsamen, solidarischen Europa mit Engagement
beteiligen wollen, alles Gute. Feiern wir am Sonntag ordentlich! Europa hat es verdient.
({17})
Rainder Steenblock ist der nächste Redner für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich sind 50 Jahre europäische Integration gerade für
uns Grüne, aber auch für uns alle ein gewichtiger Grund
zum Feiern. Heute sind sehr viele Verdienste aufgezählt
worden, die dieser europäische Integrationsprozess mit
sich gebracht hat. Ich würde gerne zu drei Herausforderungen, vor denen wir stehen, etwas sagen. Denn es
reicht nicht aus, an diesem Tage nur die Verdienste der
Vergangenheit aufzuzählen.
Wenn wir uns als Politikerinnen und Politiker ernst
nehmen, dann müssen wir in dieser Situation Antworten auf die Zukunftsfragen finden, vor denen viele Bürgerinnen und Bürger in Europa zurzeit kritisch bis
ängstlich stehen. Wenn 44 Prozent der Menschen in
Europa sagen, dass sie durch die Europäische Union
keine Vorteile sehen, haben sie damit nicht recht. Aber
diese Einstellung der Menschen weist auch auf unsere
Fehler hin. Es gibt Vermittlungsprobleme, die wir
selbst zu verantworten haben. Das hat auch damit etwas
zu tun, dass wir an Tagen wie heute - einige Kollegen
haben es bereits gesagt - in Festlaune über Europa reden, aber in den Wahlkreisen es viele Kolleginnen und
Kollegen nicht schaffen, den Herausforderungen des
Populismus zu widerstehen. Anstatt bei bestimmten
Themen die Schuld auf Europa zu schieben und in
wirklich übler Polemik die Brüsseler Bürokratie anzugreifen, müssen wir es schaffen, kohärent europafreundlich zu argumentieren. Wenn wir es darüber hinaus schaffen, billigem Populismus zu widerstehen,
dann kommen wir, was die Vermittlung der Überzeugung angeht, dass Europa ein Erfolg für die Menschen
ist, vielleicht ein Stück weiter voran.
({0})
Es wird viel über das Thema Schule diskutiert. Die
Jugend in Europa ist viel europafreundlicher und offener, als es den Anschein hat. Wenn wir uns aber einmal
anschauen, welche Rolle Europa in den deutschen Lehrplänen spielt - das liegt mehr in der Zuständigkeit der
Länder denn des Bundes -, dann muss man sagen: Es ist
beschämend, dass in vielen Bundesländern das Thema
Europa in den Lehrbüchern der Sekundarstufe I und der
Sekundarstufe II überhaupt nicht behandelt wird.
({1})
Das können wir uns nicht leisten, wenn wir in Europa
zusammenleben wollen.
({2})
Zu Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger von
Europa weniger Bürokratie, mehr Transparenz und
mehr Demokratie. Die Verfassung ist ein Ansatz, diese
Erwartungen zu erfüllen.
({3})
Die Berliner Erklärung, die das krönende Element
dieses 50-jährigen Geburtstages sein soll, entstand durch
einen Prozess, der leider nicht transparent war und der
kontraproduktiv zu dem ist, was wir den Menschen im
Rahmen der Verfassungsdebatte eigentlich versprochen
haben.
({4})
Wenn wir Europa demokratischer und vor allen Dingen
transparenter machen wollen, dann brauchen wir öffentliche Debatten. Die Bundesregierung hat leider die
Chance versäumt, eine öffentliche Debatte in Europa
über den zukünftigen Weg zu ermöglichen.
({5})
Das ist bitter; denn diese Chance hätte es gegeben.
Es geht nicht darum, alle europäischen Parlamente zu
einer Redaktionskonferenz einzuladen; das ist nicht das
Thema. Aber es geht um die Eckpunkte, über die politisch diskutiert werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa haben ein Recht auf Mitgestaltung. Wenn
wir ihnen dieses Recht nicht einräumen, dann laufen wir
in die Falle von Nizza und damit in die Falle eines handlungsunfähigen Europas hinein. Dann wären wir nicht in
der Lage, diese Zukunftsfragen positiv zu beantworten.
Deshalb bedauere ich diese Entwicklung.
Wenn wir die Auffassung vertreten, dass Europa nur
gemeinsam gelingt - Frau Merkel, das ist ein hervorragendes Motto -, dann müssen sich die Regierungen und
die Parlamente anders verhalten. Wie ich heute Morgen
gehört habe, soll die Berliner Erklärung mit den Worten
„Wir, die Völker Europas“ beginnen. Dazu sage ich, dass
das zynisch ist. Denn es waren die Regierungen Europas
und nicht die Völker Europas, die diese Erklärung verfasst haben.
Wir müssen einen Prozess starten, an dessen Endpunkt die Menschen in Europa mehr mitwirken können.
Unsere Kritik ist, dass die Bundesregierung diese
Chance - leider - verpasst hat. Wenn wir Europa attraktiver machen wollen, dann sollten wir Demokratie und
Transparenz ernst nehmen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! 50 Jahre Römische Verträge sind heute Anlass,
auf die Geschichte der europäischen Integration zurückzuschauen. Ich möchte dem noch einen Aspekt hinzufügen, nämlich einen Verweis auf die Staatsmänner
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die den Mut
hatten, aus der Idee der europäischen Einigung ein konkretes Projekt zu machen.
Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl, die aus der Überzeugung entstanden
ist, dass man die Produktion von kriegswichtigen Gütern
gemeinschaftlich gestalten müsse, wurde der europäische Gedanke mit den Römischen Verträgen um die Idee
des Gemeinsamen Marktes erweitert, die uns bis heute
beschäftigt. Wir haben 1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte das Ziel der Vollendung des Binnenmarktes verkündet. Wir sind noch heute mit der Vollendung
des Binnenmarktes befasst.
Die europäische Integration ist aber von Beginn an
nicht nur eine Integration in Wirtschaftsfragen gewesen,
sondern hat sich von Anfang an als Wertegemeinschaft
verstanden und dies auch gelebt. Die Europäische Union
steht für die Beachtung der Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das hat sich beispielsweise darin ausgedrückt, dass die DDR de facto in diesen Gemeinsamen Markt einbezogen worden ist. Ziel
dieser Integration ist es nicht gewesen, die Blockbildung
zu vertiefen, sondern - im Gegenteil - selbst so stark
und attraktiv zu werden, dass die Idee der europäischen
Integration auch Anreize für unsere Nachbarn setzt.
Dies ist nach 50 Jahren gelungen.
({0})
Die europäische Integration ist die Grundlage für die
deutsche Einheit gewesen, die wir 1990 durch den Fall
des Eisernen Vorhanges vollenden konnten, und damit
für die Überwindung der Teilung unseres Kontinents.
Damit hat sich die magnetische Anziehungskraft tatsächlich realisiert, auf die Konrad Adenauer seinerzeit gesetzt hatte.
Meine Damen und Herren, diese Anziehungskraft
der Europäischen Union wirkt bis heute ungebrochen
auf unsere Nachbarstaaten. Wir stehen durchaus vor
vergleichbaren Herausforderungen wie zu Gründungszeiten der Europäischen Gemeinschaften, allerdings
nicht in einem europäischen, sondern in einem globalen Maßstab. Es geht darum, dass die Europäische
Union in der Sicherheitspolitik als globaler Akteur auf8856
tritt. Es geht darum, dass wir eine Weltwirtschaftsordnung unter den Bedingungen des Klimawandels und
des Bevölkerungswachstums gestalten. Es geht weiterhin darum, dass wir uns weltweit für die Beachtung der
Menschenrechte und die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit einsetzen.
Obwohl diese europäische Integration nach außen so
attraktiv wirkt, ist sie nach innen einer Akzeptanzkrise
ausgesetzt. Es zeigen sich in unseren Bevölkerungen Ermüdungserscheinungen, die nach meiner Einschätzung
durchaus etwas mit der geschichtlichen Entwicklung und
den unterschiedlichen Erfahrungswelten unserer Generationen zu tun haben.
Für die Nachkriegsgeneration war die europäische Integration vielfach ein Herzensanliegen. Meine Eltern haben Bekannte, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste
deutsch-französische Ehe geschlossen haben. Das war
damals der „Bild“-Zeitung eine Schlagzeile auf Seite 1
wert. Heute ist das alles natürlich bare Selbstverständlichkeit. Vieles von dem, was für die ältere Generation
prägend war, ist der jungen Generation keiner Erwähnung mehr wert.
Lassen Sie mich dazu ein weiteres Beispiel nennen.
Denken Sie an Schülerinnen und Schüler, die in diesem
Jahr in fünfte Klassen bzw. auf weiterführende Schulen
kommen. Sie haben ihr Taschengeld immer in Euro bekommen. Das heißt, sie selbst kennen die D-Mark nicht
mehr. Das zeigt, wie sich die Wahrnehmung der europäischen Integration in der Generationenfolge verändert.
Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Europäische Integration ist nichts, was sich vererbt. Die europäische Integration muss vielmehr immer wieder von neuem begründet
und mit jeder Generation neu erarbeitet werden.
({1})
Heute ist es unsere Aufgabe, Antworten auf Fragen zu
finden, die wir in Europa nur gemeinsam lösen können.
Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns auf diese Fragen beschränken und darauf achten, dass sich die europäischen Institutionen nicht verselbstständigen. Diese
Balance zwischen Vielfalt und Einheit zu finden, ist unsere dauerhafte Aufgabe.
Es ist heute schon viel von den gemeinsamen Interessen gesprochen worden, die wir in der Europäischen
Union voranbringen müssen. Ich möchte noch den Klimaschutz erwähnen. Der europäische Gipfel am 8. und
9. März dieses Jahres hat für uns in Europa tatsächlich
zu einer weltweiten Vorreiterrolle auf diesem Gebiet geführt. Auch beim Thema Energiesicherheit haben wir
mit dem Aktionsplan „Energiepolitik für Europa“ eine
Vorreiterrolle eingenommen. Ich möchte mich für das
umsichtige und beachtliche Engagement sowohl der
Bundeskanzlerin als auch der gesamten Bundesregierung - auch für das des Bundesministers Glos, der hier
fachlich zuständig ist und noch anwesend ist - ganz
herzlich bedanken.
({2})
Wir haben genauso Aufgaben bei der Bekämpfung
des internationalen Terrorismus und der Ausgestaltung
der Außen- und Sicherheitspolitik wahrzunehmen. Es
geht auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union im internationalen Maßstab zu steigern. Ich
möchte hervorheben, dass in der deutschen Ratspräsidentschaft die Idee eines transatlantischen Marktplatzes
neue Dynamik entfalten kann. Der Gipfel zwischen der
EU und Amerika im April steht unmittelbar bevor. Das
alles sind Initiativen, die die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass wir auch in Europa mehr Beschäftigung
realisieren können.
Europa muss allerdings auch seine Grenzen finden,
sowohl in geografischer Hinsicht wie auch in institutioneller Hinsicht. Was die Erweiterungspolitik angeht,
müssen wir uns zunächst im Inneren konsolidieren, bevor wir zu weiteren Erweiterungsschritten in der Lage
sind. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir diese
Erweiterungspolitik nicht nach einem Alles-oder-nichtsPrinzip gestalten, sondern dass wir den Staaten, die enger mit uns kooperieren wollen, realistische und erreichbare Ziele anbieten - das können auch Zwischenschritte
sein - auf dem Weg zu einer vollständigen Integration in
die Europäische Union.
Es gehört ferner dazu, dass wir die europäische Erweiterungspolitik mit der Nachbarschaftspolitik enger
vernetzen. Egal wie weit wir die Europäische Union
noch erweitern, es wird - so banal es auch klingen mag immer noch einen Nachbarn geben. Wir werden also die
Aufgabe haben, die europäische Peripherie eng zu vernetzen mit den jeweils benachbarten Staaten. Dabei werden wir darauf achten müssen, dass wir differenzierter
vorgehen als bisher. Denn natürlich ist es verständlich,
dass wir bei der Ukraine andere Ansätze brauchen als
etwa bei den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainerstaaten.
Wir brauchen neben geografischen Grenzen auch eine
Begrenzung der Europäischen Union in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen. Der Europäische Verfassungsvertrag bringt dazu einige Neuerungen, die für uns
besonders wichtig sind. Die doppelte Mehrheit beispielsweise würde in der Tat besser als bisher zum Ausdruck
bringen, welche Stärke die Mitgliedstaaten in den europäischen Prozess der Meinungsbildung einbringen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass sich im Zuge der Erweiterungen in 50 Jahren die Verhältnisse grundlegend geändert haben. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften waren die großen Mitgliedstaaten in der
Überzahl. Deswegen gab es ein besonderes Interesse,
dass die kleineren Staaten nicht majorisiert werden. Deswegen hat man ihnen ein besonders starkes Gewicht eingeräumt.
Das hat sich heute völlig umgekehrt. Wir haben jetzt
eine Union von 27 Mitgliedstaaten mit vielen kleinen
Ländern, sodass wir jetzt mehr darauf achten müssen,
dass in der Meinungsbildung auch die Repräsentativität
stärker zum Zuge kommt, als das bisher der Fall war.
Deswegen ist es richtig, bei Mehrheitsentscheidungen
auf die Mehrheit der Staaten und der Bevölkerungen zu
achten.
Wir brauchen daneben aber auch eine klare Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union. Denn
wenn die Ausübung politischer Macht durch solche VerThomas Silberhorn
träge an das Recht gebunden wird, dann muss dieses
Recht natürlich klar bestimmt sein und darf nicht der beliebigen Auslegung anheimgegeben werden. Deswegen
brauchen wir eine klare Abgrenzung der Kompetenzen
und eine Beschränkung der Europäischen Union auf ihre
Kernkompetenzen.
Wir haben dabei als Bundestag eine wichtige Aufgabe
im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle, die wir zunehmend bewusster wahrnehmen.
Wenn wir darauf zurückblicken, dass wir als Deutscher Bundestag 50 Jahre gebraucht haben, bis wir eine
förmliche Vereinbarung mit der Bundesregierung über
die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union geschlossen und bis wir uns auf den Weg
gemacht haben, in Brüssel ein eigenes Büro einzurichten, dann sehen wir, dass manche Dinge eben eine gewaltige Dauer brauchen und Beharrlichkeit in der Verfolgung unserer Ziele notwendig ist.
Ich möchte anfügen, dass auch die Rückverlagerung
von Kompetenzen wieder auf die Agenda der Europäischen Union gesetzt werden sollte. Wir haben dabei mit
der Föderalismusreform in Deutschland bereits einen Ansatz gemacht. Wenn ich beispielsweise an die Kompetenz
der Europäischen Union zur Harmonisierung des Binnenmarkts denke, könnte ich mir gut vorstellen, dass man das
ein bisschen beschränkt und auf unmittelbare Wettbewerbsbeeinträchtigungen konzentriert. Dann wäre viel gewonnen.
Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, die Verwaltungsaktivitäten der Kommission
stärker an politische Vorgaben zu binden, indem wir das
Prinzip der Diskontinuität einführen. Ich ergänze das,
was ich hier schon vorgetragen habe: Wir müssen auch
darüber reden, das Initiativmonopol der Europäischen
Kommission aufzubrechen. Dort, wo Initiativen für politisches Handeln unternommen werden können, muss es
eine Rückbindung an demokratisch legitimierte Vertreter
geben.
Unser Ziel muss sein, dass wir das Vertrauen der
Bevölkerung - gerade das Vertrauen der jungen Generation - in die europäische Integration neu gewinnen.
Dazu müssen wir auf die Herausforderungen der Globalisierung Antwort geben. Wir müssen die Grenzen der
Europäischen Union bestimmen, in geografischer und
institutioneller Hinsicht. Wir müssen uns auch zu unseren gemeinsamen Werten bekennen. Wenn wir den Blick
nicht nur nach innen richten -
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zu meinem letzten Absatz.
Nein, keinen Absatz mehr. Einen Satz noch!
Wenn wir den Blick nicht nur nach innen richten, sondern auch von außen auf die Europäische Union
schauen, dann stellen wir fest: Während sich im Blick
von innen die Vielfalt der Europäischen Union eröffnet,
zeigt sich von außen die Einheit. Beides müssen wir bewahren. Die ewige Herausforderung der Europäischen
Union wird es sein, eine Balance zwischen Vielfalt und
Einheit zu finden.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c und 19 b
auf:
4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Resultate und gesellschaftliche Auswirkungen
der Gesetze für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt - Hartz-Gesetze -, insbesondere
von Hartz IV
- Drucksachen 16/2211, 16/4210 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue effiziente Strukturen in der Arbeitsverwaltung - Auflösung der Bundesagentur für
Arbeit
- Drucksache 16/2684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern
- Drucksache 16/3538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
19 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Roland Claus, Katja Kipping, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Freigabe der im Bundeshaushalt einbehaltenen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für das
Jahr 2007
- Drucksache 16/4749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Zur Großen Anfrage der Fraktion Die Linke liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat umfangreich Antwort auf
eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke zur Lage
derjenigen in Deutschland, die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger sind, gegeben. Die Aussprache lässt
nur in geringem Umfang Raum, auf diese Antworten
einzugehen.
Ich beginne mit zwei Zeitungsmeldungen. Heute meldet die „Berliner Zeitung“:
Preise steigen schneller als die Löhne
Bruttoverdienste nahmen 2006 nur um 0,7 Prozent
zu
Die „Süddeutsche Zeitung“ eröffnet mit der Überschrift:
Mehr Arbeitsplätze in DAX-Konzernen
Unternehmen verdienen so gut wie nie zuvor/Konjunktur treibt besonders die Gewinne der Banken
Wahrscheinlich ist die große Mehrheit der Auffassung, dass diese Meldungen wenig miteinander zu tun
haben, oder man vertritt die Auffassung, dass das Kürzen von Arbeitslosengeld und der Druck auf die Arbeitslosen dazu geführt haben, dass die Konjunktur in
Deutschland angezogen hat. Diesbezüglich möchte ich
eine Antwort der Bundesregierung zitieren. Frage 13 der
Großen Anfrage lautete:
Welche Auswirkungen haben die Gesetze für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nach
Auffassung der Bundesregierung auf die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen sowie auf das System der betrieblichen Mitbestimmung unter besonderer
Berücksichtigung von angedrohtem Arbeitsplatzabbau und angekündigten Produktionsverlagerungen
ins Ausland sowie im Zusammenhang mit Arbeitgeberforderungen nach unbezahlter Erhöhung der
Arbeitszeit, unbezahlten Überstunden und Lohnverzicht?
Die Antwort der Bundesregierung ist ganz schlicht.
Sie lautet:
Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse
darüber vor, ob die Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die Verhandlungspositionen der Gewerkschaften und Betriebsräte beeinflusst haben.
Da bleibt einem wirklich die Spucke weg.
({0})
Man stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung in den
letzten Monaten jemals Gespräche mit Betriebsräten
oder Gewerkschaften geführt hat. Bei jedem Gespräch
hört man, dass Hartz IV die Verhandlungsposition der
Betriebsräte und der Gewerkschaften massiv untergraben und unterminiert hat. Die Bundesregierung sagt
aber, dass ihr „keine Erkenntnisse“ vorliegen. So kann
man nicht über die Köpfe der Menschen in Deutschland
hinweg regieren; so kann man nicht antworten.
({1})
Die Wahrheit ist, dass das ständige Herabsinken der
Löhne in Deutschland ein Ergebnis der verfehlten Politik
der Regierungen der letzten Jahre ist.
({2})
Die Rutschbahn, die eröffnet worden ist, hat Namen. Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren, sind dafür verantwortlich.
Auf der einen Seite ist Hartz IV zu nennen: der
Zwang, Beschäftigung, die deutlich unter dem Durchschnittsniveau bezahlt ist, anzunehmen. Es ist doch klar,
dass dies ein Anreiz für Unternehmerinnen und Unternehmer ist, Arbeitsplätze anzubieten, die deutlich unter
dem Durchschnittsniveau entlohnt werden. Sie müssen
die Folgen Ihrer Handlungen bedenken, wenn Sie hier
Gesetze beschließen!
({3})
Auf der anderen Seite ist die Leiharbeit zu nennen.
Wenn Sie zulassen, dass immer mehr Betriebe in immer
größerem Umfang Leiharbeiter einstellen, die deutlich
geringer als die Beschäftigten der Stammbelegschaft bezahlt werden, schaffen Sie einen zweiten Mechanismus,
um die Löhne in Deutschland immer weiter nach unten
zu bringen. Hartz IV und Leiharbeit sind zusammen Ursachen dafür, dass die Reallöhne in Deutschland immer
weiter absinken.
({4})
- Das hängt zusammen, verehrte Frau Kollegin Nahles:
Wenn man die Arbeitnehmerposition systematisch, Zug
um Zug, schwächt, dann rutschen die Löhne. Nehmen
Sie das doch bitte zur Kenntnis! Ich erzähle doch keine
Fabel.
({5})
Die nächste Maßnahme, die die Löhne ins Rutschen
bringt, ist die Scheinselbstständigkeit. Auch hier gibt es
ausreichend Anhaltspunkte. Kollege Gysi hat bereits die
europäische Dimension dieses Problems im Hinblick auf
die Bolkestein-Richtlinie angesprochen.
Die letzte Station ist die permanente Verweigerung
der Mehrheit dieses Hauses, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten eine untere Grenze zu ziehen,
also einen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen.
({6})
Diese vier gravierenden Fehlentscheidungen in der
Arbeitsmarktpolitik führen dazu, dass die Löhne immer
weiter nach unten rutschen.
Es ist gut, dass eine Diskussion darüber eingesetzt
hat, ob dieser Prozess so weitergehen kann. Es ist nicht
gut, dass Sie bei solchen Debatten immer die Wahrheit,
die Fakten ignorieren und von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken. Es ist wirklich der Gipfel - das möchte
ich einmal sagen; vielleicht dämmert Ihnen etwas, wenn
ich Ihnen dies mitteile -, dass heute der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter eines großen Betriebes
an der Saar das Parteibuch zurückgegeben haben. Die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können solcherlei
Politik nicht mehr verstehen.
({7})
Sie ziehen ihre Konsequenzen. Das ist die unausweichliche Folge solcher Fehlentscheidungen.
Nun komme ich zur zweiten Frage - Frage 15 der
Großen Anfrage -, die ich ansprechen wollte:
In welchem Zusammenhang steht nach Ansicht der
Bundesregierung die Zunahme von prekärer oder
atypischer Beschäftigung - bei gleichzeitigem
Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse …?
Auch dazu sagt die Bundesregierung:
Eine belastbare Aussage über mögliche Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der beiden Beschäftigungstypen ist nicht möglich.
Da fragt man sich, wo diejenigen, die diese Antwort
geschrieben haben, eigentlich leben. Es wird ernsthaft
behauptet, dass es nichts miteinander zu tun habe, wenn
man das Tor zu ungesicherten, prekären Arbeitsverhältnissen aufstößt und gleichzeitig die Zahl der sozialversicherungspflichtigen, regulären Arbeitsplätze zurückgeht.
Die Wahrheit ist das Gegenteil. Je mehr man die Möglichkeit geschaffen hat, ungesicherte, prekäre Arbeitsverhältnisse einzurichten, umso mehr geht die Zahl der
normalen Arbeitsplätze in Deutschland zurück. Das ist
eine völlige Fehlentwicklung und eine Konsequenz Ihrer
Arbeitsmarktpolitik.
({8})
Dies ist für uns auch ein Abbau der Demokratie; ich
möchte das aufgrund der Knappheit meiner Redezeit nur
kurz ansprechen. Niemand hat dies deutlicher gemacht
als der große französische Soziologe Pierre Bourdieu.
Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die
Menschen hat, wenn sie am Monatsende nicht wissen,
ob sie noch genug Geld haben, um zu Aldi zu gehen und
Lebensmittel zu kaufen. Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat, wenn sie am Monatsende die Miete nicht zahlen können. Er wies darauf
hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat,
wenn sie nur damit beschäftigt sind, sich zu fragen, ob
sie die Strom- und Gasrechnung bezahlen können. Seine
Schlussfolgerung war, dass diese Menschen die Zukunft
nicht mehr planen können und ihnen damit die Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist.
({9})
Deshalb müssten Zahlen wie die, die heute vom DIW
veröffentlicht worden sind, dass die Einkommensarmut
in Deutschland in den letzten Jahren von 12 auf
17 Prozent angestiegen ist und dass sich die Einkommensarmut bei 10 Prozent der Bevölkerung verfestigt
hat, Sie erschüttern und dazu bringen, Ihre Handlungen
zu überdenken und Ihre Politik zu revidieren.
({10})
Es ist gut, dass eine Fraktion - ich spreche jetzt die
Grünen an - zu der Einsicht gelangt ist, dass Hartz IV
vielleicht doch eine gravierende Fehlentscheidung war
und dass man Hartz IV reformieren sollte. Ich begrüße
diese Diskussion ausdrücklich. Ich begrüße auch die
Diskussionen in der CDU/CSU, die darauf hinauslaufen,
dass man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht systematisch enteignen kann. Ich sage noch
einmal: Es ist ein Skandal, wenn ein älterer Arbeitnehmer 60 000 Euro in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat
und im Fall der Arbeitslosigkeit nur 10 000 Euro zurückbekommt. Korrigieren Sie endlich diese Enteignung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!
({11})
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen,
Hartz IV ist eine gravierende Fehlentscheidung, die zur
Rückentwicklung der Reallöhne führt. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele Menschen in
Deutschland ist eine Konsequenz Ihrer verfehlten Politik.
({12})
- Zum Zuruf von Ihnen in der ersten Reihe: Wenn immer
mehr Betriebsräte das SPD-Parteibuch zurückgeben,
dann geschieht es Ihnen recht. Sie ziehen damit die Konsequenzen aus Ihrer verfehlten Politik.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Kollege
Gerald Weiß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich gehe jetzt nicht auf den gesamten linkspopulistischen Exkurs ein, den Herr Lafontaine hier veranstaltet hat.
({0})
Er sprach vom Faktenignorieren; da hat ein Fachmann
gesprochen.
({1})
Gerald Weiß ({2})
Ich will mich auf den Antrag der Linken, der hier vorliegt, konzentrieren: „Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern“. Diesen hat Herr Lafontaine in einem Teilaspekt angesprochen. Das ist ein klassisches
Beispiel dafür, wie man grundlegende Wirkungen,
Wechselwirkungen und Fakten in einer Volkswirtschaft
ignorieren kann und eine Volkswirtschaft, eine Gesellschaft kaputtmachen kann, was zu beweisen ist. Dieser
Antrag ist im doppelten Sinne verantwortungslose Politik,
({3})
frei nach Shakespeares „Wie es euch gefällt“: ein Sammelsurium populistischer Ohrwürmer, die Sie durch die
Halle treiben, ein Fesselballon, losgelöst von allen Fakten, Wirkungen und Wechselwirkungen.
({4})
Ich nehme als Erstes Ihre Kernforderung. Wenn der
Anspruch auf Arbeitslosengeld I mit jedem Beitragsjahr um einen Monat wachsen soll, dann ist das, Herr
Lafontaine, im Ergebnis ein Programm zur Zerstörung
der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Wer länger einzahlt, der soll auch
länger ALG I erhalten - das hört sich gut an, das ist ein
Gedanke, der der Union sehr vertraut und nahe ist.
({5})
Man kann dieses Prinzip aber ins Groteske verkehren:
30 Jahre Beitrag - 30 Monate ALG I, 35 Jahre Beitrag 35 Monate ALG I, 40 Beitragsjahre - 40 Monate ALG I.
({6})
Das wäre doch ein verlockendes Angebot für die großen
Konzerne in unserem Land, um ihre Leute wieder mithilfe der Mittel aus den öffentlichen Kassen in den Vorruhestand zu schicken.
({7})
Herr Lafontaine, können Sie denn nicht aus den Fehlern lernen? Das, was Sie veranstalten wollen, wäre ein
neues, gigantisches Vorruhestandsprogramm, von den
Beitragszahlern bezahlt.
({8})
Vor diesem Unfug wird die Mehrheit des Hauses Sie bewahren. Das, was Sie hier vorschlagen, wird nicht Wirklichkeit werden. Die Große Koalition will exakt das Gegenteil:
({9})
Wir wollen mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und nicht weniger Chancen für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({10})
Wir wissen, dass wir bei der Gestaltung der Bezugsdauer - innerhalb der Union haben wir uns über diesen
Aspekt ganz schön gestritten - auf einem schmalen Grat
zwischen Frühverrentungsanreizen, die wir nicht wollen,
und Leistungsgerechtigkeit gehen. Mit Ihrem Antrag
verfallen Sie in den alten Fehler der Betonung der Frühverrentungsanreize. Diesen Fehler dürfen wir aber nicht
noch einmal machen. Davor müssen wir diese Gesellschaft bewahren.
({11})
Der zweite Baustein, der bei einem linkspopulistischen Potpourri nicht fehlen darf: das Zumutbarkeitsprinzip. Sie wollen Dämme gegen Bildungsbereitschaft
und Mobilität. Das sind Dämme für starres Besitzstandsdenken in dieser Volkswirtschaft und in dieser Gesellschaft.
({12})
Ich glaube, dass die Zumutbarkeitskriterien, die jetzt im
Gesetz stehen, angemessen sind. Ich glaube, Sie sind
nicht in der Lage, sich sachlich damit auseinanderzusetzen. Sie wollen bei den betroffenen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern sowie bei den Arbeitslosen auf die
ganz billige Tour punkten.
({13})
Für deren Befindlichkeiten und Situation haben wir
Verständnis. Wir haben auch Verständnis für die Beitragszahler. Wenn jemand zumutbare Arbeit ablehnt,
müssen andere dafür bezahlen, nämlich die Beitragszahler. Wir haben ein solidarisches System. Wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird, müssen die Beitragszahler
solidarisch dafür einstehen. Daher brauchen wir eine
vernünftige Balance zwischen den Interessen und Belangen der betroffenen Arbeitslosen und Arbeitnehmer, die
wir ernst nehmen, und den Interessen der Beitragszahler.
Das muss in einem Gleichgewicht sein. Wir sehen dieses
Gleichgewicht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Möller von der Fraktion Die Linke?
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass
Widersprüche keine aufschiebende Wirkung mehr haben? Ist Ihnen ferner bekannt, dass arbeitslose Menschen
in Arbeit gebracht werden, die sie aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit nicht ausüben können, wenn sie nicht
Gesundheitsschäden davontragen wollen, diese Menschen diese Arbeit aber so lange ausüben müssen, bis
über den Widerspruch entschieden ist?
Sie sagen dann: „Jeder muss zumutbare Arbeit annehmen.“ Doch das trifft nicht. Denn die Menschen müssen
an dem Punkt auch nicht zumutbare Arbeit annehmen,
wenn sie ihren Anspruch nicht verlieren wollen. Das
heißt, in der Realität - Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Praxis aussieht - werden sie gezwungen, Arbeiten auszuführen, die sie aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit nicht machen können.
({0})
Darauf hätte ich gern eine Antwort.
Die können Sie haben. Im Gesetz steht: Von niemandem kann die Aufnahme einer Arbeit verlangt werden,
durch die er in irgendeiner Hinsicht überfordert ist, besonders natürlich in gesundheitlich-körperlicher Hinsicht. Ein Blick ins Gesetz hätte Sie belehrt; Sie hätten
sich die Antwort ganz einfach erschließen können. Vielen Dank, Sie dürfen sich setzen.
({0})
Noch einmal: Wir meinen die Zumutbarkeitskriterien
wie heute gefasst - sie sind bei der Hartz-Reform nur geringfügig, im Sinne von Klarstellungen, verändert worden - sind in einer vertretbaren Balance zwischen den
Interessen der Arbeitslosen und den Interessen der beitragszahlenden Arbeitnehmer.
Ich will noch etwas zum Baustein Übergangsregelung,
dem befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I, sagen. Wir wissen, dass denjenigen, deren
Bezug von Arbeitslosengeld I ausläuft, befristet ein Zuschlag gezahlt wird, der dann abgestuft wird. Sie wollen
hier höhere Leistungen, Sie wollen längere Bezugsdauern usw.
({1})
Ich glaube, dass die Regelung, wie sie heute ist, dem
Prinzip der Leistungsgerechtigkeit entspricht. Es ist ja
diskutiert worden, diesen Zuschlag abzuschaffen. Ich
glaube, das wäre nicht gerecht: Wir dürfen denjenigen,
der oft sehr lange gearbeitet hat und dann den bitteren
Weg der Arbeitslosigkeit und des Bezugs von
Arbeitslosengeld I geht, beim Übergang zum
Arbeitslosengeld II nicht so stellen wie den Kiosksteher,
der sich sein Leben lang nicht für Arbeit interessiert hat.
Wir müssen deshalb an diesem Übergangsgeld als Ausdruck der Leistungsgerechtigkeit festhalten.
Das, was Sie zur Mindestabsicherung sagen, bewegt
sich, das wissen Sie selbst, zwischen Rosstäuscherei und
Hochstapelei und illusorischen Vorstellungen. Sie verkaufen diesen Aspekt als etwas revolutionär Neues; doch
im Wesentlichen - das wissen Sie - wollen Sie ein paar
Bezugszeiten verändern. Sie gaukeln den Leuten etwas
vor. Die Mindestabsicherung, glaubt der Normalsterbliche, ist wertdefiniert, das ist eine gewisse Mindestleistung, unabhängig von dem Arbeitseinkommen, das man
vorher hatte, und von der Versicherungsleistung, die man
vorher hatte. Im Grunde wollen Sie hier graduelle Veränderungen. Über die kann man möglicherweise reden sofern wir dem Beitragszahler weitere Lasten zumuten
können und wollen. Aber da sehen wir eine deutliche
Grenze. Wir wollen den Beitragszahler nach Möglichkeit entlasten. Deshalb treten wir auch dafür ein, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag noch einmal, so weit wie
irgend machbar, abzusenken.
({2})
Das beste Konjunkturprogramm, das man sich vorstellen
kann, Herr Lafontaine, sind nicht irgendwelche staatlichen, großen Veranstaltungen, sondern das sind die Stärkung der Kaufkraft der Arbeitnehmer
({3})
und die Begrenzung der Lohnnebenkosten der Unternehmer durch das Absenken von Sozialversicherungsbeiträgen, wo immer das möglich ist.
({4})
Diesen Weg müssen wir gehen und nicht den Weg, den
Sie uns hier aufzeigen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe ist - das muss man nach wie vor feststellen - der richtige Schritt gewesen. Es war völlig unverständlich, dass wir als wohl einziger Staat der Welt
für den gleichen Lebenssachverhalt - dass man sich von
der eigenen Tätigkeit nicht ernähren kann - zwei unterschiedliche steuerfinanzierte Transferleistungen vorgehalten haben. Das war nicht nur unsinnig. Das war auch
teuer - zum Thema „teuer“ komme ich noch - und für
die betroffenen Menschen entwürdigend. Denn sehr
viele Arbeitslosenhilfeempfänger haben gleichzeitig
auch Sozialhilfe als ergänzende Leistung zum Lebensunterhalt bekommen. Diese Personen mussten sich im Hinblick auf ihre intimsten wirtschaftlichen Daten vor zwei
wildfremden Behörden praktisch entkleiden. Das war
unwürdig. Deswegen war die Zusammenlegung vom
Grundsatz her völlig richtig.
({0})
Nichtsdestotrotz bin ich immer noch der Ansicht, man
hätte es anders machen können. Es gibt die unterschiedlichsten Stilblüten, die man sich wirklich kaum vorstellen kann.
({1})
So hat zum Beispiel ein kommunaler Träger der Hilfe
die Wohnung einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, die zu groß war, dadurch „passend“ gemacht,
dass ein Zimmer in der Wohnung abgeschlossen wurde.
So einen Schwachsinn muss man sich erst einmal einfallen lassen.
({2})
Ein zweites Beispiel: Der Partner in einer Bedarfsgemeinschaft, der sich in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis befand, wurde aufgefordert, dieses zu
beenden, um in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis eine Tätigkeit mit einem höheren Stundenlohn
aufzunehmen, um dadurch kurzzeitig den Bedarf der Gemeinschaft zu decken. Auch das ist dämlich hoch zehn.
({3})
Dennoch bleibt die Zusammenführung grundsätzlich
richtig.
Wer allerdings glaubt, er könne, indem er aus zwei
Behörden drei Behörden macht, Geld einsparen und damit die Schaffung zusätzlicher Krippenplätze finanzieren, der ist schlichtweg nicht in der Lebenswirklichkeit
angekommen.
({4})
Wer aus zwei Behörden drei Behörden macht, kann mit
Sicherheit nicht Geld einsparen, sondern wird stets mehr
Kosten haben. Deswegen haben wir von vornherein die
einheitliche Trägerschaft auf kommunaler Ebene gefordert. Das ist, wie die Fakten belegen, nach wie vor richtig.
({5})
Dieser Schritt ist nicht nur effizienter, sondern dadurch
wird auch verhindert, dass es zu Stilblüten der eben genannten Art kommt.
Wenn der Main-Kinzig-Kreis als Optionskommune
({6})
- ja, der dortige Landrat ist von der SPD - vor den hessischen Sozialgerichten das Recht einklagen muss, auf die
Stellendaten der Bundesagentur zugreifen zu dürfen,
und dies sogar mit der Androhung von Beugehaft für den
Anstaltsleiter in Nürnberg, Herrn Weise, verbunden
wird, dann frage ich mich wirklich, in welcher Republik
wir eigentlich leben.
({7})
Jeder, der vermitteln kann, sollte dies tun dürfen und
demzufolge auch Zugriff auf die Stellendaten haben. Das
zeigt wieder einmal, wie richtig es wäre, die Betreuung
der Arbeitslosen in einer Hand zu bündeln.
({8})
Diese Bündelung in einer Hand macht nach unserem
Dafürhalten nur dort Sinn, wo die Menschen und die Arbeitsplätze sind: vor Ort auf kommunaler Ebene.
({9})
Aus diesem Grund, Herr Kollege Brandner, sind wir
nach wie vor der festen Überzeugung: Weil die Bundesagentur als Mammutbehörde in ihrer jetzigen Struktur
nicht reformierbar ist, ist der beste Weg, um zu einer
besseren Betreuung von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern zu kommen, der Akt der Auflösung der Bundesagentur für Arbeit.
({10})
Herr Brandner - das sage ich Ihnen, damit auch Sie
das irgendwann einmal verstehen -, die Auflösung der
Bundesagentur bedeutet, dass es diese Behörde eine juristische Sekunde lang nicht gibt. Das hat unheimlich
viele Vorteile. Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine
internen Verwaltungsvorschriften, deren Anwendung die
Arbeitszeit mehr als in Anspruch nehmen würde, sondern sie ist an das Gesetz gebunden. Man kann zwar die
eine oder andere neue Vorschrift erlassen, aber man
braucht bei Weitem nicht mehr den Umfang von Vorschriften, den es gegenwärtig gibt.
Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine drittelparitätische Selbstverwaltung, in deren Rahmen Arbeitgeberfunktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre und diejenigen,
die ihre öffentlichen Hände meistens in den Taschen der
Bürger haben, die Arbeitsmarktpolitik undemokratisch
auskungeln.
({11})
- Lieber Herr Brandner, Ihr sozialdemokratischer Kollege, der ehemalige Arbeitsminister Ehrenberg, hat damals gesagt: Wer immer in den Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit gewählt wird, nimmt nach kurzer Zeit
den gleichen drittelparitätischen schafsähnlichen Gesichtsausdruck an.
({12})
Dort wird das Geld anderer Leute auf eine Art und Weise
verwaltet, die zur Folge hat, dass die Arbeitsuchenden
keine Integrationschancen haben und die Arbeitgeber
nicht die passenden Arbeitskräfte bekommen.
Herr Brandner, da schon der Kollege Lafontaine die
Betriebsräte im Zusammenhang mit den Hartz-Reformen erwähnt hat - das war ein ganz besonderes
Bonmot -,
({13})
möchte ich auf einen weiteren entscheidenden Vorteil
der Auflösung einer Behörde hinweisen. Eine solche
Auflösung bedeutet, dass die Personalräte nicht mehr
jede vernünftige Veränderung blockieren und sich nicht
mehr jede Mitwirkungsmöglichkeit wie auf einem arabischen Basar teuer erkaufen können. Nach der Auflösung
der Behörde kann man für eine vernünftige Personalstruktur sorgen, indem man das Personal der Aufgabe
folgen lässt: mit Änderungskündigungen, Versetzungen
und gesetzlichen Betriebsübergängen. Den richtigen
Weg, wie man eine vernünftige Struktur schaffen kann,
haben wir in unserem Antrag auf Schaffung effizienter
Strukturen in der Arbeitsverwaltung sehr dezidiert beschrieben.
({14})
Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich richtig,
dass die Arbeitslosenversicherung eine Ausfallbürgschaft für einen klar begrenzten Suchzeitraum ist, in
dem der Lebensstandard abgesichert werden soll. Man
kann trefflich darüber streiten, wann dieser Suchzeitraum beendet sein muss und wann nicht.
Der Kollege Weiß hat sehr genau beschrieben, wie
eine lange Arbeitslosengeldbezugsdauer auf Frühverrentungen und auf die Initiative wirkt, wieder eine Tätigkeit
aufzunehmen, wo sich doch die Leistung, die man bezieht, an dem letzten Nettogehalt orientiert, das mit der
Dauer der Arbeitslosigkeit in der Regel nur geringer erzielt werden kann. Deswegen geht es bei der Frage der
Gerechtigkeit nicht darum, ob man einen Monat länger
oder kürzer Arbeitslosengeld I bezieht.
Die Frage, die sich den Menschen unter dem Stichwort Gerechtigkeit unmittelbar stellt, lautet, was passiert, wenn der Bezug des Arbeitslosengeldes wann auch
immer zu Ende ist. Wird dann die gesamte Lebensleistung eines Menschen zur Disposition gestellt? Wird derjenige, der gearbeitet und vorgesorgt, also das getan hat,
was Politiker zu Recht von ihm fordern, schlechter gestellt als derjenige, der vielleicht niemals Eigenvorsorge
betrieben hat - ob er es nicht konnte oder nicht wollte,
sei völlig dahingestellt -, sondern der das Geld, das er
zur Verfügung hatte, auch ausgegeben hat? Hier stellt
sich die Gerechtigkeitsfrage.
Deswegen glaube ich ernsthaft, dass wir zwar vielleicht darüber reden müssen, was nach Auslaufen des
Bezuges von Arbeitslosengeld mit der erarbeiteten Lebensleistung geschieht, aber wir sollten mit Sicherheit
nicht den Fehler begehen, bei der Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld I als Regelsatz eine Rolle rückwärts zu
machen. Nach unserem Konzept - wir fordern die Auflösung der Bundesagentur - ist das auch gar nicht nötig,
weil wir die Arbeitslosenversicherung über den Regeltarif hinaus nach dem Äquivalenzprinzip gestalten. Da
kann jeder seinen eigenen Anspruch auf Absicherung
über Wahltarife gewährleisten und gestalten.
({15})
Das ist eine freiheitliche Lösung, mit der den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, bei
voller sozialer Absicherung in einem solidarischen System dafür zu sorgen, dass ihre individuellen Sicherheitsbedürfnisse ebenso Berücksichtigung finden.
({16})
Deswegen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass
Sie unserem Antrag nicht zustimmen, und ich freue mich
auf Ihre Zustimmung.
Vielen herzlichen Dank.
({17})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd
Andres das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was ich hier in der Hand halte, sind die Drucksachen, die wir heute beraten.
({0})
Darunter befindet sich eine Große Anfrage der Linken
mit 125 Fragen. Die Drucksache umfasst 73 Seiten.
({1})
Allen, die sich für die Probleme der Arbeitsmarktreform
und der Arbeitsmarktentwicklung interessieren, empfehle ich diese Drucksache sehr.
({2})
Sie gewinnt ihren Gehalt durch die Antworten der Bundesregierung und nicht durch die Fragen der Linken.
({3})
Dass Oskar Lafontaine eine Frage daraus zitiert hat, ändert auch nichts daran. Mit ihm beschäftige ich mich
gleich noch.
Ich will erst einmal etwas zu Herrn Niebel sagen: Ich
kenne überhaupt niemand anderen, der mit einer solchen
Häme und Gehässigkeit seinen eigenen Arbeitgeber in
den Debatten hier immer niedermacht. Man muss nämlich wissen, dass für Herrn Niebel bei der Bundesagentur
für Arbeit noch ein Arbeitsplatz freigehalten wird. Man
kann sich natürlich die Frage stellen, ob das Zitat von
Herbert Ehrenberg auch auf ihn zutrifft und er hier längst
einen schafsgesichtigen Eindruck macht.
({4})
Ich empfehle Herrn Niebel wirklich, dass er sich einmal vorstellt - er hat hier rhetorisch gefordert, man solle
sich einmal eine Behörde vorstellen, die es nicht gibt -,
dass es für seine Vorstellungen keine politische Mehrheit
gibt. Das ist genug Antwort. Deshalb brauchen wir uns
mit Ihnen nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir werden
die BA nicht auflösen, und es wird die logische Sekunde
nicht geben.
({5})
Deswegen ist Ihre Drucksache damit ganz schlicht und
ergreifend erledigt.
({6})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
Nein, er kann hinterher eine Kurzintervention machen. Er hat ja gerade geredet. Jetzt rede ich meinen Teil.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch mehr
als die Antworten auf die Große Anfrage und noch deutlichere Antworten liefert ein Blick auf die Fakten. Da
halte ich es in der Tat mit Oskar Lafontaine. Wer sich
nämlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt anschaut
und den Februar 2007 mit dem Februar des Vorjahres
vergleicht, der kann Folgendes feststellen: 826 000 Arbeitslose weniger, 535 000 Erwerbstätige und davon
452 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr,
Rückgang der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen,
die sich im Rechtskreis des SGB II befinden, Rückgang
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften.
Das ist eine rundherum ziemlich positive Entwicklung. Ich sage und füge hinzu: Dies hat auch mit den Arbeitsmarktreformen zu tun, die wir in den letzten Jahren
hier mühsam durchgesetzt haben. Jetzt entfalten sie ihre
Wirkungen.
({1})
Ich finde, die Bilanz kann sich sehen lassen.
Die Wende auf dem Arbeitsmarkt hat längst stattgefunden, auch wenn Sie sie in Ihrem Entschließungsantrag - diesem Papier in grün - noch fordern. Ich finde,
Sie haben den Startschuss nicht gehört, sondern längst
verpennt.
Wir haben die Arbeitsmarktpolitik mithilfe der Grünen kräftig umgekrempelt. Mein Blick fällt gerade auf
die Kollegin Thea Dückert, die bei den ganzen Arbeitsmarktreformen hervorragend mitgearbeitet hat.
({2})
Ich finde, dass sich das, was wir in der Arbeitsmarktpolitik erreicht haben, durchaus sehen lassen kann.
({3})
Ich komme zum nächsten Punkt. Herr Lafontaine, Sie
sind für mich in sozialpolitischen Debatten - und nicht
nur darin - nicht besonders glaubwürdig. Ich kann mich
nämlich an alte Diskussionen mit Ihnen erinnern. Bei der
Regelung der geringfügigen Beschäftigung habe ich
mich seinerzeit häufiger mit den Beispielen der Firma
Wagner-Pizza und anderer aus dem Saarland beschäftigen müssen.
({4})
Ich will Ihre Frage mit einer rhetorischen Frage erwidern. Sie haben gefragt, wie jemand behandelt wird, der
40 Jahre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt
hat. Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung. Was machen wir mit dem, der sein Leben
lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat,
ohne arbeitslos zu werden? Sollen ihm am Ende seines
Erwerbsleben seine Beiträge zurückgezahlt werden, oder
wie hätten sie es gerne?
({5})
Ihr Beispiel aus der Praxis macht deutlich, dass Sie keine
Ahnung von den Tatbeständen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lafontaine?
Nein. Er hatte schon Redezeit. Er kann sich zu einer
Kurzintervention melden.
({0})
Die gute Entwicklung erfasst nicht nur die Arbeitslosen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, sondern auch die Langzeitarbeitslosen profitieren. Es gibt kräftig Bewegung im System. Ich sage
ausdrücklich: Fördern und fordern zahlt sich richtig aus.
Wir stempeln die Menschen nicht mehr als arbeitslos
ab, sondern helfen ihnen zurück in Arbeit. Wir bieten ihnen eine Perspektive und organisieren Teilhabe.
({1})
Das gilt ganz besonders für die Gruppen, die es am Arbeitsmarkt schwerer haben. Das bedeutet für jeden Einzelfall mehr Chancen, Perspektiven und Teilhabe. Darum geht es uns in der Arbeitsmarktpolitik.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Möller?
Die Dame kann sich ebenfalls zu einer Kurzintervention melden. Das können nach meiner Rede alle machen.
({0})
Wir haben mit den Reformen am Arbeitsmarkt systematisch eine Grundkonzeption durchgesetzt, die nichts
mit dem Fürsorgestaat zu tun hat, der im Sozialhilfesystem über viele Jahre hinweg nach dem Motto „Wir zahlen den Leuten den Unterhalt; ansonsten sollen sie uns
möglichst in Ruhe lassen“ gehandelt hat, sondern bei der
es um den aktivierenden Sozialstaat geht.
({1})
Ich füge hinzu: Wir arbeiten Stück für Stück den
Koalitionsvertrag ab. Wir fördern mit insgesamt
25 Milliarden Euro Investitionen und steigern somit die
inländische Nachfrage. Wir senken die Lohnnebenkosten und stärken mit der Steuerreform die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Das sind konkrete Ergebnisse
und Maßnahmen, die sich auch mit Großen Anfragen
nicht wegdiskutieren lassen.
In Ihren Fragen kommt ein völlig falsches Grundverständnis von Sozialpolitik und aktivierender Arbeitsmarktpolitik zum Ausdruck. Ich empfehle Ihnen dringend, den Aufschwung zu nutzen, um in der
Arbeitsmarktpolitik weiter voranzukommen, und eine
andere Grundeinstellung einzunehmen, um für mehr Beschäftigung zu sorgen.
Über die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld ist
bereits gesprochen worden. Ich will aber eines ausdrücklich in Erinnerung rufen: Bis zum Jahre 1984 gab es in
der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich ein Jahr
Arbeitslosengeld. Herr Blüm und die christlich-liberale
Koalition haben unter bestimmten Zwängen die Bezugsdauer systematisch verlängert.
Arbeitslosengeld kann jetzt ein Jahr bzw. von über
55-Jährigen 18 Monate bezogen werden. Das halten wir
für richtig. Wir denken nicht daran, zu der alten Regelung zurückzukehren. Denken Sie daran, wie beispielsweise große Unternehmen mit dieser Regelung umgegangen sind: Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wurde
dazu genutzt, um wunderbare Übergänge zur Frühverrentung oder Ähnlichem zu schaffen.
({2})
Wir halten die bestehende Regelung für richtig und
vernünftig in dem Sinne, Menschen eher in Arbeit zu
bringen, als sie länger in Arbeitslosigkeit zu halten.
({3})
Ich will einige Punkte aus dem Entschließungsantrag,
diesem grünen Papier, ansprechen. Ich kann genauso
wenig wie meine Vorredner auf die gesamte Große Anfrage eingehen, aber ich will ein schönes Argument aufgreifen. Sie kommen immer wieder - gestern hat es im
Ausschuss und in der Fragestunde eine Rolle gespielt
und auch jetzt ist es wieder Thema - auf die Widerspruchsverfahren zu sprechen. Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Sie müssen die Widerspruchsverfahren zur Zahl der Leistungsbezieher bzw.
der Personen, die das System umfasst, in Beziehung setzen.
({4})
- Sie werden es nicht glauben, aber selbst ich habe gemerkt, dass es zugenommen hat. Herzlichen Dank!
({5})
Aber wir haben die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ganz bewusst auch deswegen
gemacht, weil wir die verdeckte Armut in diesem
Lande aufdecken wollten. Das haben wir mit dem neuen
System geschafft.
({6})
Es stimmt, dass wir nun ungefähr 500 000 Personen
mehr - es ist noch strittig, ob es vielleicht nur
400 000 sind - im neuen System haben als vorher bei
Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe zusammen.
({7})
Das System hat bewirkt, dass verdeckte Armut aufgedeckt wurde. Nun arbeiten wir die Zahlen Stück für
Stück ab. Wir haben deutliche Erfolge und das ist auch
gut so. Vergleichen Sie beispielsweise die Quote der Widerspruchsverfahren betreffend das Arbeitslosengeld II
mit der betreffend die Arbeitslosenhilfe. Das waren im
Jahre 2006 hochgerecht 9,8 Prozent im Vergleich zu
9,6 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004; das
ist keine wirkliche Steigerung. Mit Ihrer Großen Anfrage haben Sie Alarm geschlagen. Dazu sage ich Ihnen
Folgendes: Sie machen Politik und fordern alle Menschen auf, Widerspruch einzulegen, wenn es irgendwie
möglich ist. Anschließend legen Sie Anträge vor, in denen Sie auf die hohe Zahl der Widerspruchsverfahren
verweisen, und behaupten, da müsse etwas faul sein. Sie
müssen sich schon für die richtige Melodie entscheiden.
({8})
Ich könnte jetzt Ihren wunderbaren Entschließungsantrag Punkt für Punkt auseinandernehmen, aber nur so
viel: Gemessen an der Zahl der Leistungsbezieher befinden wir uns voll im Rahmen. Angesichts dessen, dass
wir ein völlig neues Rechtssystem aufgebaut haben,
nämlich das Arbeitslosengeld II, ist es nicht erstaunlich,
dass es in der Anfangs- und Aufbauphase eine größere
Zahl von Widersprüchen gab. Es gab sicherlich Unsicherheiten. Die Zahlen sind aber in Ordnung. Ich bitte
Sie daher zur Kenntnis zu nehmen, dass das System nun
läuft, dass es sich langsam settelt und dass wir alles daran setzen, Stück für Stück die Effizienz in diesem System zu verbessern. Sie können sich Ihre Melodie von
den Widersprüchen und den Klageverfahren sonst wohin
stecken. Mich beeindruckt das nicht besonders, genauso
wenig wie die Fachleute, die sich damit auseinandersetzen.
({9})
Damit komme ich zum letzten Punkt. Wir haben in
unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage die Auswirkungen aller Arbeitsmarktreformen aufgezeigt, die wir
durchgeführt haben. Wir haben es geschafft, die Bundesagentur für Arbeit deutlich umzubauen. Wir haben
für sehr viel mehr Effizienz gesorgt. Das hat sich kostengünstig ausgewirkt und hat uns die Möglichkeit gegeben, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag abzusenken.
({10})
Wir haben immer dafür gekämpft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber bei den
Lohnnebenkosten zu entlasten.
({11})
Das haben wir geschafft, weil das System effizienter geworden ist, weil wir besser geworden sind, weil die Vermittlungsgeschwindigkeit höher geworden ist und weil
mehr Menschen in Arbeit gekommen sind. Wir werden
genau an diesem Weg unerschütterlich festhalten und es
vorantreiben. Ob das den Linken gefällt oder nicht, ist
dabei völlig egal.
Ich empfehle Ihnen, darüber nachzudenken, wie man
das System verbessern kann, anstatt eine Linie zu verfolgen, die von vornherein nur auf eine Ablehnung des Systems hinausläuft. Ich sage Ihnen: Sie haben den Schuss
nicht gehört. Der Zug ist abgefahren. Es bleibt bei der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
Das ist gut für dieses Land. Vielleicht gewöhnen Sie sich
daran.
Herzlichen Dank.
({12})
Nachdem Kollege Andres so freimütig zu Kurzinterventionen eingeladen hat, gibt es nun drei davon hintereinander. Zuerst kommt der Kollege Niebel, dann Kollege Lafontaine und Kollegin Möller.
({0})
- Mein Vorschlag ist, dass alle drei Kurzinterventionen
nacheinander gestellt werden und dass Sie dann etwas
länger Zeit zur Erwiderung haben.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr
Niebel.
Der Genosse Staatssekretär hat im Parlament die
Menschen beschimpft und keine Zwischenfragen zugelassen. Das sagt einiges über seinen Mannesmut aus.
({0})
Aber die arrogante, oberlehrerhafte Art dieses Staatssekretärs zeigt natürlich, dass es politisch völlig richtig
war, dass wir bei den Haushaltsberatungen die Streichung exakt dieser Stelle gefordert haben.
({1})
Nichtsdestotrotz wollen wir zur Sachlichkeit zurückkehren, Herr Kollege Staatssekretär.
({2})
Die Bundesagentur für Arbeit hatte im letzten Jahr
einen eigenen Haushalt von ungefähr 53 Milliarden
Euro. Das ist fast zwei Mal so viel wie der StaatshausDirk Niebel
halt der Schweiz. Sie war mit diesen Mitteln, die von
den Beitragszahlern aufgebracht wurden - die Steuermittel kommen noch hinzu -, bei ungefähr einem Drittel
aller Beschäftigungsaufnahmen beteiligt.
({3})
Ohne jedwede Art von Schaum vor dem Mund muss
man ganz klar feststellen: Mitteleinsatz und Ergebnis
stehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander.
({4})
Die FDP ist der festen Überzeugung, dass wir mit
möglichst vielen privatwirtschaftlichen Elementen eine
staatliche Arbeitsvermittlung organisieren müssen, auch
im Wettbewerb mit Privaten, aber eine staatliche Arbeitsvermittlung, weil es immer Regionen, Menschen
und Branchen geben wird, die nicht in der Lage sind, attraktiv für einen privaten Vermittler zu sein. Es ist eine
Aufgabe der Daseinsvorsorge des Staates, auch diesen
Menschen ein Angebot zu machen.
({5})
Weil vor dem Hintergrund dessen, was die Bundesagentur in der Vergangenheit nicht konnte und heute immer noch nicht kann, früher oder später ein öffentlichrechtliches Arbeitsvermittlungssystem zu Recht infrage
gestellt werden würde, muss man die Bundesagentur zukunftsfähig aufstellen. Das kann man nur, indem man
tatsächlich radikale Veränderungen durchführt. Diese
kriegen Sie angesichts der internen Strukturen nur dann
hin, wenn Sie mit dem Mittel der Auflösung der Behörde
diese juristische Sekunde nutzen, um die Aufgaben neu
zu ordnen, das Personal den Aufgaben folgen zu lassen
und dadurch die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass
staatliche Arbeitsvermittler überhaupt erst einmal in die
Lage versetzt werden, erfolgreich arbeiten zu können.
Das können sie nämlich, weil Sie so herumgemurkst haben, heute nicht.
({6})
Wir fordern völlig zu Recht die Einführung von
marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutscheinen.
Bei dem, was Sie gemacht haben, geht es nur um die
Frage, ob jemand kürzer oder länger arbeitslos ist. Für
die Vermittlung bedarf es etwas mehr, als nur die Dauer
der Arbeitslosigkeit festzustellen. Es bedarf eines umfassenden Bildes des Menschen, den man integrieren will,
und eines umfassenden Bildes der Stelle, die man
besetzen will. Wenn ich dem Arbeitssuchenden mit einem marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutschein
Nachfragemacht gebe, und zwar vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an, dann geht er mit seinem Gutschein zu
dem Vermittler seines Vertrauens. Das kann der private
sein, das kann aber auch der staatliche sein. Der muss
sich zumindest in den erfolgsabhängigen Lohnkomponenten refinanzieren. Was meinen Sie, welche Veränderungsbereitschaft das intern mit sich bringt, zu Strukturen zu kommen, die es den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Agentur ermöglichen, überhaupt erst
einmal erfolgreich sein zu dürfen. Das sollten Sie bedenken. Wenn Sie weniger arrogant und weniger bräsig wären, sondern die Anträge der Opposition lesen würden,
dann wüssten Sie auch, was wir beantragen, und könnten
sachgerecht mit uns diskutieren.
({7})
Ich erteile Kollegen Oskar Lafontaine das Wort zu
seiner Kurzintervention.
Zwei Redner haben sich gegen die Verlängerung der
Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewandt. Dazu
möchte ich mich zunächst äußern. Es war der Kollege
Weiß, wenn ich es recht in Erinnerung habe, der gesagt
hat: Wir möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dieser Fehlentwicklung bewahren. - Was
bringt Sie, Herr Kollege Weiß, eigentlich dazu, zu sagen,
Sie möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer Fehlentwicklung bewahren, die die
große Mehrheit der Bevölkerung wünscht? Glauben Sie
tatsächlich, Sie hätten so viel mehr Einblick in die Lebenszusammenhänge der Menschen und so viel mehr
Kenntnisse der Lebensbedingungen älterer Arbeitsloser?
({0})
- Ja, so arrogant und dumm sind Sie. Das muss man
wirklich sagen.
({1})
Glauben Sie wirklich, Sie als Nichtarbeitsloser und
nicht von diesem Schicksal Betroffener hätten mehr Einsicht in diese Lebensbedingungen?
({2})
Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Der Vorwurf des Populismus, der bei solchen Forderungen immer wieder erhoben wird - Populismus kommt auch aus Ihren Reihen;
ich erinnere nur an die Forderung, das Arbeitslosengeld I
länger zu zahlen -, ist letztendlich anmaßende Dummheit, weil man immer wieder glaubt, man wisse besser
als die Mehrheit der Menschen, was ihnen nutzt und
frommt. Schminken Sie sich eine solche Selbstgerechtigkeit ab, Herr Kollege Weiß! Das wollte ich Ihnen hier
in aller Klarheit einmal sagen.
({3})
Nun hat der Kollege Andres gesagt, beim Arbeitslosengeld I könne man die Bezugsdauer nicht verlängern,
weil sich dann die Frage stelle, wie derjenige behandelt
werden solle, der nie arbeitslos werde. Dann müsse die8868
ser, so haben Sie insinuiert, nach unserer Auffassung
sein gesamtes Geld zurückbekommen. Das sind logische
Fehlschlüsse, die hier gezogen werden. Wenn wir verlangen, für ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld zu
zahlen, dann heißt es, die Arbeitslosenversicherung sei
keine Sparkasse. Wer behauptet denn, dass diese eine
Sparkasse sei? Wer sagt denn, dass jeder das aus einer
Versicherung zurückerhält, was er eingezahlt hat? Eine
solche Forderung ist niemals erhoben worden.
Das zweite Argument ist, das sei nun einmal eine Versicherung, und damit sei es logischerweise so. Dazu
möchte ich Ihnen sagen: Nennen Sie mir doch eine Autoversicherung, in die jemand 60 000 Euro einbezahlt
hat und von der er im Schadensfall nur 10 000 Euro zurückbekommt? Oder nennen Sie mir eine Feuerversicherung, in die jemand 600 000 Euro einbezahlt hat und von
der er im Schadensfall nur 100 000 Euro zurückbekommt? Ist Ihnen nicht klar, dass im Schadensfall eine
Leistung erbracht werden muss, die mit der Summe, die
der Betreffende eingezahlt hat, um sich gegen die Risiken des Lebens zu versichern, nicht das Geringste zu tun
haben muss?
({4})
Ihre permanente Weigerung, das einzusehen, ist
schlicht und einfach nicht akzeptabel. Sie enteignen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in doppelter
Form: Im Schadensfall bekommen sie noch nicht einmal
einen Bruchteil dessen zurück, was sie eingezahlt haben,
und sie werden noch gezwungen, ihre Ersparnisse zu opfern. Das ist einfach ein gesellschaftlicher Skandal.
({5})
Kollege Lafontaine, ich bitte Sie sehr herzlich, Vorwürfe in der Weise zu vermeiden, dass Sie jemand anderen hier im Hause schlicht „dumm“ nennen. In der Kombination mit dem Vorwurf der Arroganz schlägt das dann
auf Sie selbst zurück.
({0})
Ich bitte sehr darum, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung in der Sache persönliche Angriffe zu vermeiden.
Sie helfen niemandem.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt
Kollegin Kornelia Möller.
Herr Präsident! Erstens. Herr Andres, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Reformen am Arbeitsmarkt
greifen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass die
Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht gesunken ist. In
Frage 80 unserer Großen Anfrage haben wir Sie gefragt,
welche Schlussfolgerungen die Bundesregierung aus der
Tatsache zieht, dass die Hartz-Reform an der großen
Differenz in der Arbeitslosenquote zwischen alten und
neuen Bundesländern - rund 8 Prozent Arbeitslosigkeit
im Westen und 18 bis 20 Prozent im Osten - nichts geändert hat. Sie haben uns darauf geantwortet, dass nicht
zu erwarten war, dass diese Reformen im Osten genauso
greifen wie im Westen. Gilt also das, was Sie hier gesagt
haben, nur für den Westen?
Zweitens. Wir haben uns gestern im Ausschuss darüber unterhalten, dass die Fehlerhaftigkeit der Bescheide auch daran liegt, dass die Zahl der Sachbearbeiter immer noch zu niedrig ist, dass die Anzahl der
Betreuer von Erwachsenen nicht groß genug ist und dass
es Probleme hinsichtlich der Schulungen gibt. Ich finde
es sehr interessant, dass Sie das zwar gestern im Ausschuss zugegeben haben, dass Sie sich heute hier im Parlament aber etwas populistischer äußern.
Drittens. Herr Weiß, ich finde es stigmatisierend und
unerträglich, arbeitslose Menschen als „Kiosksteher“ zu
diffamieren.
({0})
Ich muss vor dem, wie mir scheint, sehr großen Zynismus gegenüber arbeitslosen Menschen warnen, der sich
hier nicht nur in Ihrer Fraktion, sondern auch in einigen
anderen breitmacht.
({1})
Ich kann Ihnen sagen: Das wird diesen Menschen nicht
gerecht; Sie diffamieren Menschen. Das macht sehr
deutlich, wes Geistes Kind Sie sind.
({2})
Das Wort zur Entgegnung erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Andres.
({0})
Zu Herrn Niebel möchte ich sagen: So wie er für seinen Antrag keine Mehrheit bekommen hat, so bekommt
er auch keine Mehrheit für die Abschaffung der Parlamentarischen Staatssekretäre. Um meinen Mannesmut
mache ich mir keine Sorgen; auch Sie müssen sich darum keine Sorgen machen.
Ich will auf das, was Sie zur Bundesagentur für Arbeit gesagt haben, eingehen. Die Bundesagentur hat seit
2001 einen ganz schwierigen Reformprozess durchgemacht. Ich glaube, dass die Bundesagentur mittlerweile
außerordentlich gut aufgestellt ist und dass dort viele
Menschen einen guten Job machen.
({0})
Das muss ausdrücklich einmal erwähnt werden.
({1})
Meine Reaktion bezog sich nur auf Ihr Zitat. Ich will
hier feststellen: In vielen Ihrer Reden sind Sie mit Häme
und Abstand über die Bundesagentur hergezogen.
({2})
Ich finde, das ist für jemanden, der aus genau dieser Organisation kommt - Sie haben dort als Arbeitsvermittler
gearbeitet -, nicht angemessen. Das will ich Ihnen noch
einmal sagen.
({3})
Zum Kollegen Lafontaine will ich einfach nur sagen:
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung und keine Ansparversicherung. Selbstverständlich
gilt das Prinzip der Beitragsäquivalenz. Als Beispiel
- lesen Sie es noch einmal nach! - haben Sie die
Autoversicherung herangezogen und gesagt: Er hat
60 000 Euro eingezahlt, ihm wird aber nur ein Schaden
von 10 000 Euro bezahlt.
Wissen Sie, was das Problem ist? Das Problem ist,
dass die Arbeitslosigkeit abgesichert wird, und zwar für
Ältere in einer anderen Art und Weise als für Jüngere.
Unter 55-Jährige erhalten ein Jahr lang Leistungen, über
55-Jährige 18 Monate.
Dass man über Jahre hinweg darauf gesetzt hat, die
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes immer weiter zu
verlängern und damit die Probleme entsprechend zu verschieben, halten wir nicht für richtig.
({4})
Wir haben die Zahldauer verkürzt. Wir halten diese Verkürzung für richtig. Wir sind der Auffassung, dass wir
alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um Ältere wieder schneller in den Erwerbsprozess zu bekommen.
({5})
Damit möchte ich eine Antwort auf die Kollegin
Möller geben, die in Ihre Kurzintervention natürlich
wieder alles hineingepackt hat.
({6})
Frau Möller, ich bin ziemlich stolz auf die Entwicklung.
Sie brauchen sich nur die Zahlen anzuschauen. Wir haben allein im Monat Februar über 10 000 über 55-Jährige in Arbeit vermittelt. Ich finde, dass das Sinn macht.
Das ist richtig toll. Das widerlegt auch die Position, Ältere bekämen bei uns überhaupt nichts mehr. Ich weiß
natürlich, dass das ein Prozess ist. Ich könnte Ihnen jetzt
ganz viele Zahlen dazu vortragen, wie das bei Älteren
und bei Jüngeren ist.
Ich komme jedenfalls zu dem Ergebnis - ich sage Ihnen das ganz ernsthaft -: Die Arbeitsmarktreformen waren notwendig, und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war überfällig. Es war richtig,
dass wir das gemacht haben. Es macht Sinn, unsere Sozialsysteme so umzubauen, dass der Versuch unternommen wird, die Menschen zu aktivieren, anstatt sie passiv
im Leistungsbezug zu halten. Die frühere Systematik
war weitgehend darauf ausgelegt, Menschen lange passiv im Leistungsbezug zu halten. Das wollen wir nicht
mehr. Deswegen organisieren wir das um.
Ich sage Ihnen: Die Reformen auf dem Arbeitsmarkt
waren erfolgreich. Sie wirken, und sie werden Gott sei
Dank auch weiter wirken, weil wir mit entsprechender
Mehrheit daran arbeiten, sie noch mehr zu verbessern.
Schönen Dank.
({7})
Zu einer Antwort auf die Kurzintervention von Oskar
Lafontaine erteile ich Kollegen Gerald Weiß das Wort.
Herr Kollege Lafontaine, Sie sind gescheit. Das waren Sie in allen Phasen Ihres Lebens, auch den liberaleren Phasen Ihres Lebens. Deshalb haben Sie mich richtig
verstanden. Sie haben mich aber falsch zitiert, und zwar
wider besseres Wissen falsch zitiert. Das ist sehr unredlich. Deshalb will ich Ihnen noch einmal sagen, was ich
dargelegt habe.
Man kann natürlich über die Gestaltung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I diskutieren.
({0})
Man kann der Auffassung sein, das ist jetzt gut und gerecht geregelt. Man kann auch der Auffassung sein, wir
sollten dem Element der Beitragsjahre ein stärkeres Gewicht geben, insbesondere für diejenigen, die länger versichert sind. Darüber kann man diskutieren. Ich habe gesagt: Man darf das Prinzip aber nicht ins Groteske
überdehnen.
Sie schlagen vor, demjenigen mit 30 Beitragsjahren
30 Monate ALG I zu geben, demjenigen mit 40 Beitragsjahren 40 Monate. Dem 60-Jährigen wollen Sie
ohne entsprechende Beitragsjahre 30 Monate ALG I gewähren. In der Wirkung - Sie sind gescheit genug, das
zu erkennen - wäre das ein gigantisches Vorruhestandsprogramm. Das würde für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Druck bedeuten. Sie würden in ihren Betrieben von Tag zu Tag höheren
Pressionen ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu räumen. Mit
Beitragsgeldern Arbeitsplätze freimachen, das darf es
nicht geben.
({1})
Deshalb ist das, was Sie vorschlagen, falsch. Sie haben
das, was ich gesagt habe, falsch zitiert.
Sie, Frau Möller, haben es nicht verstanden. Ich habe
die Arbeitslosen selbstverständlich nicht diffamiert.
({2})
Ich habe von dem bitteren Weg derer geredet, die aus
dem ALG-I-Bezug in den ALG-II-Bezug kommen. Ich
Gerald Weiß ({3})
habe gesagt: Da müssen wir aus dem Gesichtspunkt der
Leistungsgerechtigkeit heraus für die Lebensleistung
- zum Teil setzen sie ihre gesamten Vermögensreserven
ein - wenigstens übergangsweise einen Zuschlag gewähren - ich verteidige einen solchen Zuschlag, was nicht
alle tun -; wir dürfen sie nicht so stellen wie die
Kiosksteher, die von Arbeit nichts wissen wollen. Ich
mache schon einen Unterschied, auch in der notwendigen Solidarität, je nachdem, ob es um Leute geht, die ein
Leben lang Beiträge geleistet haben, oder um Leute, die
nie etwas schaffen wollten. Die Differenzierung mache
ich allerdings.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach
dem, was ich gerade erlebt habe, habe ich das Gefühl,
hier geht es weniger um die Beantwortung der Großen
Anfrage als um Hahnenkämpfe.
({0})
Es geht auch weniger um Mannesmut als um männliche
Rechthaberei.
({1})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es wäre, wie ich
finde, zu viel Aufwand für die Erstellung von 73 Seiten
Text betrieben worden, wenn diese nur dazu dienten, Ihnen eine Plattform für das Austragen Ihrer Kämpfe zu
geben.
({2})
Ich würde jetzt gerne zur Sache zurückkehren.
({3})
Herr Lafontaine, wir haben nie bestritten - um das einmal deutlich zu sagen -, dass die Hartz-Gesetze, und
zwar von Beginn an, mit Fehlern behaftet waren. Diese
hat uns nämlich die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat eingebrockt.
({4})
Nichtsdestotrotz enthalten die Hartz-Gesetze aber richtige Gedanken. Es war richtig, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen,
({5})
weil das die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger
deutlich besser stellt und sie nicht länger auf dem arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis belässt.
({6})
Es war richtig, den Zugang zum Arbeitslosengeld II diskriminierungsfrei zu gestalten und damit verdeckte Armut abzubauen. Es war auch richtig, den Sozialstaat in
eine aktivierende Richtung umzugestalten.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Noch nie in der Geschichte gab es eine so große Vielfalt und Flexibilität bei
der Förderung von Beschäftigung, wie jetzt im SGB II
vorgesehen. Das Problem ist, dass diese Möglichkeiten
in der Praxis leider zu wenig genutzt werden.
({7})
Ein noch größeres Problem, lieber Herr Weiß, besteht
in dem, was die Koalition aus diesen Ansätzen gemacht
hat. Das stellt tatsächlich ein großes Problem dar. Sie haben die Reform, die sehr fein ausbalanciert war, zerrupft
und verbogen.
({8})
Die Maßnahmen, die als Hilfe für die Menschen gedacht
waren, empfinden die Betroffenen inzwischen als Bedrohung. Die Harmonie zwischen Fördern und Fordern haben Sie leider zerstört. Sie haben den Missklang von
Diskriminierung und Drangsalierung angestimmt.
({9})
Damit haben Sie die Akzeptanz der gesamten Reform
gefährdet, Herr Weiß. Dass da eine ganze Menge falsch
läuft, können Sie, wenn Sie sich mit der Wirklichkeit
auseinandersetzen, doch auch nicht leugnen.
Wir sind von einem individuellen Fallmanagement
- das haben wir damals versprochen - weit entfernt. Eingliederungsvereinbarungen bestehen da, wo es sie überhaupt gibt, aus standardisierten Formularen. Statt einer
gezielten Integrationsarbeit gibt es immer noch - da hat
Herr Niebel doch nicht ganz unrecht - bürokratisches
Verwaltungshandeln. Mangelhafte Software, vorgegebene Standardinstrumente, Statistiknachweise und Controllingverfahren bestimmen den Alltag in den Agenturen. Davor können auch Sie die Augen nicht
verschließen.
({10})
Deswegen müssen Sie sich für eine positive Weiterentwicklung in einigen ganz grundsätzlichen Punkten von
Hartz IV einsetzen.
({11})
Wir müssen über eine Anpassung der Leistungshöhe
insoweit reden, als die eingetretenen Kostensteigerungen eingerechnet werden müssen.
({12})
Natürlich müssen die gestiegenen Gesundheitskosten
und Energiepreise berücksichtigt werden. Sie können die
Mehrwertsteuer nicht einfach erhöhen und dann den
Hartz-IV-Empfängern sagen: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. Der Satz ist dafür einfach zu eng berechnet.
Wir wissen inzwischen auch, dass Kinder und Jugendliche über den für sie vorgesehenen Regelsatz hinaus noch Sachleistungen benötigen. Es kann nicht
hingenommen werden, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern massenhaft von Schulmahlzeiten abgemeldet
werden, nicht mehr an Sportveranstaltungen teilnehmen,
nicht zur Musikschule gehen und Bibliotheken nicht benutzen können. Wenn wir das hinnehmen und nicht ändern, wird uns das teuer zu stehen kommen.
({13})
Die derzeitige Prüfung der Arbeitsbereitschaft läuft in
eine falsche Richtung. Sie haben inzwischen eine Misstrauenskultur geschaffen, die zur Schikanierung von Arbeitslosen und nicht selten zu sinnloser Beschäftigung
führt. Das können Sie nicht wollen, weil Sie damit die
Würde von Arbeitslosen verletzen und Ihr eigenes Projekt diskreditieren. Auch das muss geändert werden.
Wenn wir eine Förderung erreichen wollen, die dem
Einzelnen tatsächlich gerecht wird, dann brauchen wir
eine konsequente Dezentralisierung des SGB II. Dann
müssen wir den Argen, zu denen wir stehen, mehr Freiheiten geben. Sie müssen die vollständige Hoheit über
ihr Personal und ihr Budget haben.
({14})
Sie müssen endlich eine eigene „Firma“ werden, wenn
sie den Aufgaben gerecht werden wollen.
Außerdem müssen wir das Fördern in den Mittelpunkt stellen. In der Antwort auf die Große Anfrage
wird mehrfach darauf hingewiesen, dass die Hartz-Gesetze keine Arbeit schaffen. Abgesehen davon, Herr
Andres, dass das bei Herrn Clement in der letzten Legislaturperiode immer etwas anders geklungen hat, haben
Sie damit recht. Aber diese Arbeitsmarktreform soll die
Menschen fit machen für die vorhandenen Arbeitsplätze.
Das geschieht jedoch gänzlich ungenügend. Allein aufgrund des Konjunkturaufschwungs wird die Langzeitarbeitslosigkeit nicht abgebaut. Es ist eine schlichte Propaganda, wenn Sie sagen, die Langzeitarbeitslosigkeit gehe
zurück. In den letzten drei Monaten ist die Zahl der
Langzeitarbeitslosen sogar noch einmal um 50 000 angestiegen. Das sind die wahren Zahlen.
Wenn die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut werden
soll, dann ist es natürlich gänzlich falsch, dass Sie jetzt
bei den Integrationsmitteln 1 Milliarde Euro gestrichen
haben, statt sie der Förderung zur Verfügung zu stellen.
Es ist auch gänzlich falsch, dass Sie sich in einem so
großen Umfang auf die 1-Euro-Jobs konzentrieren. Es
muss sehr viel mehr in Bildung und Ausbildung investiert werden; denn zwei Drittel der Arbeitslosen sind Geringqualifizierte. Die Politik, die Sie betreiben, ist gerade in Bezug auf die Jugendlichen eine richtige
Katastrophe. Wenn nur 85 000 Jugendliche unter 25 Jahren tatsächlich ihre Arbeitslosigkeit beenden, indem sie
eine schulische oder betriebliche Ausbildung beginnen,
und fast 250 000 unter 25-Jährige in 1-Euro-Jobs verharren, dann läuft hier doch etwas falsch.
({15})
Wenn wir das nicht ändern, dann werden wir diese Menschen ein Leben lang alimentieren müssen - Menschen,
die wir aber brauchen und die auch in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen sollen.
Nein, der Aufschwung wird das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nicht lösen. Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie am Ende dieses Aufschwungs
eine höhere Sockelarbeitslosigkeit haben als zu Beginn.
({16})
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es Ihnen in einem Kommentar ziemlich gut, wie ich finde, ins Stammbuch geschrieben: Wenn es ins Haus hineinregnet, löst schönes
Wetter das Problem nur vorübergehend; wenn Sie dauerhaft im Trockenen sitzen wollen, müssen Sie das Dach
schon reparieren, solange die Sonne scheint. Aber das
scheint Ihnen etwas zu anstrengend zu sein. Sie legen die
Hände in den Schoß, beklatschen den Aufschwung und
verwalten ihn lediglich. Das ist zu wenig. Damit lösen
Sie die Probleme nicht.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Schiewerling,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Pothmer, es ist schön, dass Sie anwesend sind. Die
letzte Aktuelle Stunde haben Sie leider verpasst. Ich
glaube, dadurch ist dem Parlament einiges entgangen.
({0})
Ich halte es für problematisch, wie Sie das, was wir
im Rahmen des Systems SGB II weiterentwickelt haben,
herunterputzen. Was Sie sagen, stimmt nicht; denn wir
haben die nötigen Konsequenzen aus dem, was noch
nicht funktionierte, gezogen und mithilfe des SGB-IIFortentwicklungsgesetzes das lernende System SGB II
verbessert, womit wir den betroffenen Menschen helfen.
Auch Sie wissen das ganz genau.
({1})
Das SGB II ist seit etwas mehr als zwei Jahren in
Kraft. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe
und der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende haben wir einen richtigen Weg eingeschlagen.
Ich bin froh, dass dies von den meisten Mitgliedern des
Hohen Hauses - nicht nur von Mitgliedern der beiden
Regierungsfraktionen, sondern auch von Mitgliedern der
Grünen und der FDP - auch nach zwei Jahren noch genauso gesehen wird.
Ich finde es gut, dass wir diesen Weg eingeschlagen
haben. Dieser neue Weg hat alle Beteiligten viel Kraft
gekostet; das ist keine Frage. Er hat zwangsläufig zu
neuen Erfahrungen geführt und wird immer noch mehr
neue Erfahrungen bringen. Das SGB II ist und bleibt ein
lernendes System, das sich der jeweils neuen Situation
anpassen muss. Es erfordert wie kaum ein anderes soziales System individuelle Lösungen.
Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind
wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des
Zweiten Sozialgesetzbuches besagt, dass Menschen
ohne Arbeit ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft bestreiten sollen. Schließlich wollen wir Menschen in Arbeit bringen und sie damit aus
dem Leistungsbezug und der staatlichen Förderung herausnehmen. Ziel der Grundsicherung ist es unter anderem auch, den Menschen eine materielle Sicherung zu
geben. Es ist eben ein System der Grundsicherung und
kein System, in dem die Menschen auf Dauer verbleiben
sollen.
Das SGB II macht entgegen allen Äußerungen, die
wir gerade von der Fraktion Die Linke immer wieder hören, nicht arm. Es fängt Menschen auf, fördert und fordert. Das geht allerdings nur, wenn sich alle Beteiligten
in diesem System engagieren.
({2})
Das Ziel der Grundsicherung ist die schnelle und
passgenaue Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt vom Arbeitsmarkt ab, aber auch
von den Betroffenen selbst und dem engagierten Zusammenwirken aller Beteiligten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll von der Linksfraktion?
Ich gestatte keine Zwischenfrage. Die Kollegin kann
im Anschluss eine Kurzintervention machen.
Wir wollen jetzt nicht den Brauch einführen, dass
Redner zu einer Kurzintervention einladen.
Gut. Dann gestatte ich diese eine Zwischenfrage.
({0})
Herr Kollege, Sie haben eben das Prinzip des Forderns und Förderns erwähnt. Ich möchte Sie daher fragen, wie Sie sich denjenigen Menschen gegenüber verhalten, die arbeitslos sind, deren Partnerinnen bzw.
Partner aber, mit denen sie in der von Ihnen konstruierten Bedarfsgemeinschaft leben, Ihrer Meinung nach
ausreichend verdienen und die somit keine Leistungen
beziehen. Zum großen Teil fallen diese Menschen aus
jeglicher Förderung heraus. Ihnen werden Angebote zur
Weiterbildung verweigert. Ihnen werden auch keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten. Davon sind
90 Prozent dieser Menschen betroffen; die meisten unter
ihnen sind Frauen. Wie passt das zu Ihrem Prinzip des
Förderns?
({0})
Sie haben zwei Punkte angesprochen. Der erste Punkt
umfasst den Leistungsbezug im Rahmen des SGB II. In
der Tat ist die Situation der Bedarfsgemeinschaft die
Grundlage für den Leistungsbezug. Wenn die Bedarfsgemeinschaft finanziell in der Lage ist, den Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu finanzieren, dann braucht und
darf der Staat keine Unterstützung zu geben. Das ist
richtig. Genau das ist das Prinzip des SGB II.
({0})
Der zweite Punkt. Frauen, die sich arbeitslos melden,
aber keine SGB-II-Mittel bekommen - nach Ihrer Aussage handelt es sich ja meistens um Frauen -, stehen
dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ich kann
diesen Menschen nur raten, die Vermittlungsmöglichkeiten des Arbeitsamtes zu nutzen. Die örtlichen Agenturen
sind beweglicher, als Sie denken.
({1})
Wie gesagt, das Ziel der Grundsicherung ist die
schnelle und passgenaue Integration der Betroffenen in
den Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt natürlich von der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Da sind wir auf
einem guten Weg. Ich halte es auch heute Morgen für
notwendig, klarzumachen: Der Aufschwung, den wir
zurzeit haben, hat auch zum Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen.
({2})
Wir haben - das dürfen wir nicht übersehen - 520 000 Arbeitslose weniger, die vorher Arbeitslosengeld I bekommen haben. Wir haben 306 000 Arbeitslose weniger, die
vorher Arbeitslosengeld II bezogen haben. Ich halte das
für eine bedeutende, gute, wegweisende und sinnvolle
Entwicklung.
({3})
Bei all dem, über was wir im Zusammenhang mit dem
SGB-II-Bereich diskutieren, ist es zwingend notwendig,
nicht so zu tun, als hätten wir es mit einem statischen
System zu tun. Das oberste Ziel muss sein, Leute zu vermitteln. Das geht nur, wenn die Konjunktur entsprechend anspringt. Dann werden auch Arbeitsplätze geschaffen. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Ich will nicht verheimlichen, dass mir die jetzige
Entwicklung nicht ausreicht. Aber es gibt eine andere
Zahl, die Mut macht. Bei der Bundesagentur sind
800 000 offene Stellen gemeldet. Wenn wir den WirtKarl Schiewerling
schaftsforschungsinstituten und den Einrichtungen der
Wirtschaft glauben, dann kommen noch einmal so viele
nicht gemeldete Stellen hinzu, sodass wir in Deutschland zurzeit etwa 1,6 Millionen offene, nicht besetzte
Stellen haben. Ich möchte, dass ein Großteil dieser
Stellen von Arbeitslosen, auch von Langzeitarbeitslosen, besetzt wird.
({4})
Das verlangt Qualifizierung und Fördern; das ist wichtig. Ich glaube, dass wir im Sinne aller Beteiligten kein
Interesse daran haben können, dass Erwerbslose in unserem Land diese Stellen nicht erhalten und wir zuvörderst
auf Zuwanderung schielen.
Wir müssen nach vorne schauen. Natürlich können
und müssen wir die Arbeitsabläufe vor Ort verbessern.
Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich es für
wichtig halte, dass das SGB II vor Ort kundennah und
dezentral umgesetzt wird. Es bleibt abzuwarten, wie das
Bundesverfassungsgericht die Organisationsform der
Arbeitsgemeinschaften bewerten wird. Aber wir müssen
den regionalen Trägern auch den Freiraum zugestehen,
neue Wege auszuprobieren, nach neuen Wegen und
Möglichkeiten zu suchen. Das müssen engagierte Mitarbeiter vor Ort auch tun. Dazu brauchen wir Flexibilität
und Entscheidungsfreiheit.
Schon heute lässt das SGB II solche Möglichkeiten
zu. Mit unkonventionellen Mitteln kann man Menschen
helfen, aus der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit herauszukommen. Das beweisen innovative Projekte, wie
wir das in Sachsen-Anhalt erleben - Stichwort: Bürgerarbeit in Bad Schmiedeberg. Das erleben wir zurzeit
in Essen, wo es ein Bürgerjahr und Bürgerarbeit gibt mit, wie ich meine, wegweisenden, neuen Impulsen.
Diese Projekte zeigen, dass man mit Mut und Kreativität
Menschen in Arbeit bringen kann.
({5})
Deshalb fordere ich, den Verantwortlichen vor Ort
mehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen. Es ist ausreichend, mit den regionalen Trägern eine Zielvereinbarung
festzulegen, innerhalb der sie frei entscheiden können,
wie und mit welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeit
bringen, wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreicht
werden. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionale
Struktur abgestimmt werden.
Die Arbeitsvermittlung muss mit anderen Bereichen
verknüpft werden. Wir haben bei den Langzeitarbeitslosen eine in der Tat verfestigte Struktur. Deren Zahl wird
auf 2,6 Millionen geschätzt. Davon sind 600 000 alleinerziehende Frauen, die eine besondere Förderung benötigen; auch davor verschließen wir die Augen nicht. Es
gibt auch diejenigen, die in der dritten Generation von
Sozialhilfe leben. Hier helfen keine üblichen Arbeitsmarktinstrumente, sondern nur individuelle Ansätze.
Wir haben diejenigen mit Migrationshintergrund, die
ebenfalls einer besonderen Förderung und Forderung bedürfen. Rund 2 Millionen Arbeitslose - auch das ist die
Wahrheit - haben keinen Schul- oder Berufsabschluss.
Auch dem wollen und müssen wir entgegenwirken.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Haben Sie die Zeit für die Zwischenfrage, die gestellt
worden ist, abgerechnet?
({0})
Ich glaube, dies wurde nicht berücksichtigt, Herr Präsident.
Die Zeit wurde berücksichtigt.
Ich komme jetzt zum Ende.
Wir brauchen den Kombilohn. Wir brauchen einen
dritten Arbeitsmarkt für diejenigen Menschen, die ohne
Unterstützung nicht zurechtkommen, weil sie behindert
sind.
Das Ziel des SGB II ist, dass möglichst viele Menschen das SGB II nicht in Anspruch nehmen müssen.
Das Ziel des SGB II ist, dass Menschen in Arbeit kommen. Dafür wollen wir uns weiter einsetzen. Im Übrigen
gibt es zum System des SGB II keine ernst zu nehmende
Alternative.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts hören, nichts sehen, nichts wissen wollen. So verhält sich
die Bundesregierung, wenn es um die soziale Bilanz von
Hartz IV geht. Sie wissen eben nicht, wie viele behinderte Menschen zu einem Umzug gezwungen wurden.
Sie wissen nicht, wie viele Menschen aus Angst vor
Hartz IV in die Frühverrentung geflüchtet sind. Sie haben noch nicht einmal eine Zusammenstellung aller verfassungsrechtlichen Bedenken.
Besonders schockierend finde ich aber, Herr Andres,
dass Sie noch nicht einmal in Erfahrung bringen wollen,
wie sich Hartz IV auf die Gesundheit und die Bildungsmöglichkeiten der betroffenen Kinder auswirkt. Das
nenne ich wirklich skandalös!
({0})
Dabei gibt es bereits erste Untersuchungen, die deutlich machen, wie verheerend die soziale Bilanz von
Hartz IV ist. 1-Euro-Jobs verdrängen reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die gesamtgesellschaftliche Armutsquote ist um 1 Prozent gestiegen. Bei den Sozialgerich8874
ten wächst der Klageberg. Der Stapel an Klagen, der
täglich beim Landessozialgericht eingeht, ist bis zu vier
Meter hoch. Ein Viertel der Arbeitslosenhilfebezieher
von früher hat den Leistungsanspruch komplett verloren.
Doch mehr als alle Zahlen und Untersuchungen belegen Schicksale, wie verheerend die Bilanz ist. Sie erinnern sich noch an den Dresdner, der als 1-Euro-Jobber
im Winter Unkraut jäten musste. Sie, Herr Andres, versprachen zu helfen. Mit einem haben Sie offensichtlich
nicht gerechnet:
({1})
Der Mann hat Sie gehört, wollte Sie beim Wort nehmen
und hat versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Irgendwann sagte er zu mir in der Bürgersprechstunde: Ich
kann es mir gar nicht leisten, so oft in Berlin anzurufen,
wie sich der Staatssekretär verleugnen lässt.
({2})
Seitdem hat der Mann alles Mögliche unternommen, um
einen Job zu finden.
({3})
Er hat sogar fünf Tage auf dem Bau kostenlos zur Probe
gearbeitet, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekommen. Das Ende vom Lied war, dass man ihn wieder zurück in Hartz IV geschickt hat. Und um noch einen
draufzusetzen: Als der Mann dann wenigstens die Fahrtkosten abrechnen wollte, sagte man ihm, dass er laut Gesetz nur drei Tage kostenlos zur Probe arbeiten dürfe und
man ihm die Fahrtkosten nur für drei Tage ersetzen
könne.
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Andres?
({0})
Herr Präsident, ich lasse eigentlich immer Zwischenfragen zu. Aber ich finde, Herr Andres muss auch einmal
erleben, wie es ist, wenn eine Zwischenfrage abgewiesen
wird.
({0})
Das Beispiel des Dresdners ist nur eines von vielen
Beispielen, die zeigen: Hartz IV erleichtert die Ausgrenzung und Ausbeutung. Hartz IV führt in eine Sackgasse.
Hartz IV gehört endlich abgeschafft!
({1})
Deswegen fordern wir als Linke Sie auf: Ersetzen Sie
endlich die 1-Euro-Jobs durch öffentliche Jobs, die länger als sechs Monate gehen und die besser bezahlt sind!
({2})
Ersetzen Sie endlich das Arbeitslosengeld II durch eine
repressionsfreie Grundsicherung! Denn jeder Mensch
hat das Recht auf ein Leben in Würde.
({3})
Und den Menschen, die die Hartz-IV-Suppe auslöffeln müssen, kann ich nur empfehlen: Gehen Sie in die
Bürgersprechstunden der Abgeordneten! Konfrontieren
Sie diese mit den Problemen, die in der Praxis aus
Hartz IV entstehen! Lassen Sie sich nicht alles gefallen!
Nehmen Sie zu den Beratungsgesprächen am besten immer eine zweite Person als Zeugen mit!
({4})
Bisher wurde jedem dritten Widerspruch in Gänze
stattgegeben. Das zeigt, dass es sich bei Zweifeln an der
Richtigkeit des Bescheides lohnt, Widerspruch einzulegen.
({5})
Deswegen können wir den Betroffenen nur empfehlen: Vernetzen Sie sich in Ihrer Region mit anderen Betroffenen und kämpfen Sie um Ihre Rechte! Es lohnt
sich. Danke.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Gerd Andres.
({0})
Tun Sie das bitte von Ihrem Platz aus.
({1})
Ich habe eigentlich nur eine Bitte und möchte eine
Behauptung nicht im Raum stehen lassen. Nachdem
Frau Kipping diesen Fall in einer früheren Parlamentsdebatte hier schon geschildert hat, habe ich erstens mit dem
Mann persönlich Kontakt aufgenommen. Ich habe auch
länger mit ihm telefoniert. Er hat mir erklärt, dass er von
der Situation Fotos hat. Die zuständige Abgeordnete aus
dem Wahlkreis hat diese Fotos mit nach Berlin gebracht
und ich habe mir den Vorgang angesehen. Der dritte
Punkt ist, dass ich die Arge dazu habe berichten lassen.
Deswegen würde ich die Kollegin Kipping ganz schlicht
nur bitten, dass sie zur Kenntnis nimmt, dass sich um
den Fall gekümmert wurde. Und ich habe eine andere
Beurteilung von dem Fall, als sie sie hat.
Das Schöne ist, dass man in der Debatte immer irgendeinen kleinen Einzelfall bringt und dann sagt: Arbeitslose müssen im Winter bei Schnee Unkraut jäten.
Das treibt natürlich die Bevölkerung in die Irre; denn sie
fragt sich: Wer kommt auf die Idee, so etwas zu machen?
Ich wollte sagen: Wir haben uns darum gekümmert;
ich bin dem nachgegangen. Ich möchte nur, dass Sie das
zur Kenntnis nehmen, mehr nicht.
({0})
Kollegin Kipping, Sie haben die Möglichkeit zur Reaktion.
Herr Andres, auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen,
dass dieser Mann, bevor es zu einer Abhilfe gekommen
ist, mehrmals, immer wieder versucht hat, Sie anzurufen.
Dieser Mann hat mir auch den Briefwechsel mit Ihnen
gezeigt; es ist sehr deutlich geworden, dass der Mann ansonsten keine Abhilfe bekommen hat. Er hatte nach Ihren Äußerungen deutlich den Eindruck gewonnen, dass
Sie in der Lage sind, zu helfen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Es handelt sich hierbei nicht um einen Einzelfall; die Menschen, die zu uns
in die Bürgersprechstunde kommen, zeigen, dass das immer nur ein Beispiel von vielen ist.
({0})
Darüber hinaus gibt es jede Menge Untersuchungen
- zum Beispiel von Richard Hauser und Irene Becker -,
die sehr wohl belegen, dass das ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.
({1})
Leider haben Sie jede Menge an vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen in Ihrer Antwort verschwiegen.
({2})
Nun hat das Wort Kollegin Andrea Nahles, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich erlaube mir eine kleine Warnung an meine
Kollegen von der Linksfraktion, die bald an einem Parteitag teilnehmen werden. Vielleicht erleben Sie dann
auch eine Überraschung mit Oskar Lafontaine, wie es
mir 1998 ergangen ist.
({0})
Staunend, geradezu baff, hörte ich, wie der damalige
Parteivorsitzende der SPD in seiner Rede auf dem Parteitag am 25. Oktober 1998 Folgendes zum Besten gab:
Ich lade die Partei und die Gewerkschaften ein, darüber nachzudenken, ob wir nicht auch bei der Arbeitslosenversicherung Korrekturbedarf haben, ob
nicht auch hier eher der Fall gegeben ist, nach dem
Sozialstaatsprinzip vorzugehen statt nach dem Prinzip der Versicherungsleistung …
({1})
Wenn man heute hört, was Sie, lieber Oskar
Lafontaine, hier vortragen, muss man sich wundern: Wir
hören massiv, dass das Prinzip der Versicherungsleistung das einzige ist, das gilt. Ich warne also vor Überraschungen auf Ihrem Parteitag. Man kann sich nämlich
bei bestimmten Leuten nicht sicher sein.
({2})
Gerechtigkeit, Oskar Lafontaine, wird dann ganz schnell
zu Selbstgerechtigkeit. Das haben wir hier heute wieder
erlebt.
({3})
Ich habe mich heute, als ich der Opposition zugehört
habe, die ganze Zeit gefragt, ob es hier vielleicht eine
starke Beeinflussung durch den indischen Kulturkreis
geben könnte. Das Rezitieren von immergleichen Wortfolgen hat nämlich einen Namen: Mantra. Man kennt es
aus dem Indischen. Was sagen die Inder darüber, was
dieses Mantra - Hartz IV gehört abgeschafft, die BA gehört abgeschafft! ({4})
bewirken soll? Die immergleiche Rezitation von bestimmten Wortfolgen hat den Sinn - ich habe mir das extra einmal angeschaut -, den Geist vor Störungen zu
schützen, also vor Einflüssen von außen, die das Eigenbild, die Vertiefung in das Eigene irritieren könnten. Das
deckt sich ein bisschen mit dem Eindruck, den ich heute
gewonnen habe.
({5})
Das Mantra soll im Übrigen auch als Beschwörungsformel gegen Schlangen und Dämonen dienen. Wenn
man sich die Anträge durchliest, merkt man: Diese Dämonen sind Ihnen abhanden gekommen. Dummerweise
ist es tatsächlich so - man möchte es fast nicht mehr erwähnen -, dass wir 452 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen
haben.
({6})
Mit Ihrem ständigen Wiederholen wollen Sie die Dämonen austreiben.
Man muss vermuten, dass Dirk Niebel der neue Vorstandsvorsitzende der Private BA AG ist. Man muss sich
fragen, ob Sie, Herr Niebel, der Sie Verwaltungsinspektor bei der BA geworden sind, die Abschaffung, Teilprivatisierung und Wiedererschaffung einer neuen Behörde
vorangetrieben haben, um sich um diesen Job zu bewerben. Das wäre auch eine Möglichkeit; den Verdacht
muss man haben.
({7})
Ich komme noch zu den Grünen; danach komme ich
zur Sache. Die Grünen sind klasse.
({8})
- Ja, das kann man so stehen lassen. Ich bin ja gar nicht
so unfreundlich.
({9})
Die Sorge der Grünen, dass die Sockelarbeitslosigkeit in dieser Legislaturperiode noch steigen könnte, teilen wir alle. So etwas könnte passieren. Aber wenn wir
uns einmal ansehen, was im letzten Jahr passiert ist, dann
stellen wir hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit - das
ist der Kern der Sockelarbeitslosigkeit ({10})
fest, dass es 200 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt.
Das ist ein großer Erfolg. Obwohl wir damit noch nicht
zufrieden sind, möchte ich das hier erwähnen, damit
nicht der Eindruck entsteht, das sei nicht genauso unsere
Sorge wie die der anderen Parteien.
({11})
Worum geht es hier eigentlich?
({12})
- Jetzt lassen Sie mich doch bitte auch einmal etwas
deutlich machen.
({13})
Sie unterstellen uns offensichtlich immer wieder, wir in
Berlin seien in einem Ufo unterwegs und Sie arbeiteten
hart an der Basis; nur unsereins, die Abgeordneten der
SPD und der CDU/CSU, hätten Scheuklappen an.
({14})
Ich habe mit Rolf Stern gesprochen. Er ist ein Arbeitsvermittler vor Ort, der mir in den letzten Jahren
durchaus auch Beschwerden vorgetragen hat, zum Beispiel über Probleme beim Computerprogramm, über
Probleme vor Ort hinsichtlich der Selbstständigkeit der
Argen und über Probleme, wie die BA teilweise reinfummelt.
({15})
Es gibt Probleme. Es gibt auch Mentalitätsschwierigkeiten zwischen den früheren Kommunalbeamten und denjenigen, die von der Bundesagentur kommen. Wir alle
wissen darum. Ich habe ihn gefragt: Was ist, wenn du es
dir überlegst, der größte Erfolg von Hartz IV für dich,
Rolf Stern? Er hat auf die Sozialhilfeempfänger hingewiesen; er war früher bei der Stadt für Sozialhilfe zuständig. Die eine Million Sozialhilfeempfänger, die jetzt
vollen Zugang zu allen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben,
({16})
erwähnen Sie nicht. Sie kommen nur mit - möglicherweise berechtigten; das will ich gar nicht abstreiten Einzelfällen. Aber über diese eine Million redet keiner
und schon gar nicht die Linkspartei.
({17})
Was sagte mir Rolf Stern? Die haben jetzt ein ganz
anderes Selbstvertrauen, weil sie wieder gefordert sind
und weil sie einen geregelten Tagesablauf haben. Sie
wollen arbeiten. Ich sage das einmal klipp und klar:
85 Prozent bis 90 Prozent dieser Menschen wollen Arbeit; sie sind arbeitswillig. Alles andere ist eine Diffamierung.
({18})
Diese Leute bekommen eine Arbeitsgelegenheit. Das
kann man schmähen, aber sie sind froh. Sie fragen: Gibt
es noch eine Verlängerung? Sie wollen im Prinzip das,
was wir ihnen anbieten können.
({19})
Ich sage Ihnen: Das führt dazu, dass sie mit mehr Zuversicht ihre Bewerbungen schreiben und ihre weitere Einbindung in den ersten Arbeitsmarkt betreiben können.
Das ist ein Erfolg.
Genauso ist es ein Erfolg, dass bei den jungen Menschen ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 erreicht werden konnte. Wir haben ihn teilweise sogar unterschritten.
Das kann man an den Erfolgen bei der Vermittlung von
jungen Menschen sehen. Auch hier verzeichnen wir
klare Erfolge.
({20})
Das hängt nicht nur mit dem Aufschwung, sondern auch
mit der intensiven Betreuung in den Argen zusammen.
({21})
Damit auch das einmal ausgesprochen wird: Wir sind
nicht an einem Punkt, an dem wir sagen: Das war es jetzt,
wir entwickeln uns nicht weiter. Vielmehr nimmt sich
diese Bundesregierung vor, zu schauen, wo wir ergänzen
und wo wir evaluieren müssen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Ergänzen müssen wir da, wo es Menschen
mit schweren Vermittlungshemmnissen gibt, die nicht
ohne Weiteres in kurzer Zeit in den ersten Arbeitsmarkt
vermittelt werden können. Deswegen werden wir Ihnen
hier in Kürze einen Vorschlag unterbreiten, der lautet:
Wir wollen einen geförderten Arbeitsmarkt für Menschen mit schweren Vermittlungshemmnissen, und den
wollen wir bundesweit organisieren.
({22})
Das heißt, dass wir sehr wohl erkennen, wo es etwas zu
ergänzen gibt.
Wir wollen verbessern. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt
beim Lohngefüge einiges ins Rutschen gekommen ist.
Wir haben tatsächlich das Problem der Leiharbeit. In einigen Betrieben werden mittlerweile mehr als 30 Prozent des Personalbedarfs mit Leiharbeitern abgedeckt.
Das ist eine Form von Lohndumping, die wir nicht goutieren. Das halten wir für ein großes Problem und für
eine große Herausforderung für den deutschen Arbeitsmarkt.
({23})
Das hat mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun. Gleichwohl ist das ein Problem, um das wir uns kümmern werden.
Wir Sozialdemokraten wollen einen Mindestlohn
- das ist ganz klar; wir stehen in Verhandlungen -, und
zwar in allen Branchen, wo er nötig ist. Damit fangen
wir an.
({24})
Wir haben erst in der vorhergehenden Sitzungswoche
- das ist ein bisschen untergegangen - für 850 000 Menschen im Gebäudereinigerhandwerk einen Mindestlohn
verabschiedet.
({25})
Dafür danke ich ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen auf der Unionsseite, die dagegen vielleicht einige
Einwände hatten. Diese 850 000 Gebäudereiniger werden es uns danken.
({26})
Andere Bereiche müssen folgen. Das wird mit dieser
Koalition möglich sein.
Zum Schluss: Wir wollen, dass Hartz IV in sich besser wird. Dazu wird es Vorschläge geben. Wenn Ihnen
von der Linkspartei das Thema Hartz IV demnächst ausgehen wird, dann muss ich um Ihre Debattenbeiträge
fürchten. In Ihrer Partei ist die Fixierung auf das Negative, auf das Scheitern offensichtlich so groß, dass dagegen nur eines hilft: Wir führen unseren erfolgreichen
Kurs in der Arbeitsmarktpolitik in den nächsten Jahren
fort, weil das der Mehrzahl der Arbeitslosen in diesem
Lande hilft und nicht schadet.
In diesem Sinne vielen Dank.
({27})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Oskar Lafontaine.
Ich mache es auch ganz kurz, Herr Präsident. - Frau
Kollegin Nahles, Sie haben korrekt zitiert. Das ist immerhin schon ein Vorteil. Ich bedanke mich dafür. Sie
haben festgestellt, dass ich schon damals eine Reform
der Arbeitslosenversicherung angemahnt habe. Das ist
auch heute noch mein Monitum. Insofern hat sich an
meiner Meinung nichts geändert.
Sie haben zum Zweiten darauf hingewiesen, dass ich
aufgefordert habe, darüber nachzudenken, ob man die
Prinzipien des Sozialstaates - Stichwort „Steuerfinanzierung“ - nicht stärker betonen sollte. Das ist auch heute
noch meine Meinung. Das ändert aber nichts an dem
Sachverhalt, dass man Arbeitnehmer nicht auf die Art
und Weise enteignen kann, wie Sie es getan haben.
({0})
Kollegin Nahles, bitte.
({0})
Frau Pothmer, wenn ich auf Herrn Lafontaine antworte, ist es unfreundlich, dass Sie das jetzt sagen. Sagen Sie es später.
Ich freue mich, dass die Bedürftigkeitsorientierung
jetzt auch von Oskar Lafontaine anerkannt wird, weil die
Linkspartei ansonsten ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert.
({0})
Ich persönlich freue mich darüber, dass die Bindung an
die Bedürftigkeitsprinzipien hier noch einmal bestätigt
worden ist. Das teilen wir nämlich im Kern. Viel Vergnügen, wenn Sie das in Ihrer eigenen Partei klären.
Der zweite Punkt. Es geht hier schon um Redlichkeit.
Von einer Autoversicherung war eben die Rede. Was
heißt denn das anderes, als dass man vom Versicherungsprinzip wegkommen will?
({1})
In einem Interview im „Spiegel“, 2. November 1998,
({2})
kritisiert er, dass es Fälle gibt, in denen jemand hohes
Arbeitslosengeld bezieht, obwohl Familieneinkommen
und Vermögen vorhanden sind. Das Hohe Haus möge
sich bitte daran erinnern, welche Skandalisierungen die
Linkspartei im Zusammenhang mit dem Thema „Vermögensanrechnung“ vorgenommen hat.
An dieser Stelle ist zu vermerken: Das, was von Ihnen
gestern gesagt wurde, gilt heute nicht mehr. Darauf
wollte ich angesichts des Parteitags, den die Linkspartei
am Wochenende durchführt, nur vorsichtig warnend
hinweisen. Vor Überraschungen ist man bei Oskar
Lafontaine nicht gefeit.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz-Peter Haustein,
FDP-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Wir reden heute zum x-ten Mal hier im
Deutschen Bundestag über die Arbeitslosigkeit und über
ihre Bekämpfung. Wir geben Dutzende Milliarden aus
für ALG I und ALG II. Wir begnügen uns damit, die
Wirkung zu verdrängen, wir bekämpfen nicht die Ursachen; das ist unser Problem. Statt dafür zu sorgen, dass
mehr Arbeitsplätze entstehen, streiten wir uns, wie dieses und jenes zu verbessern sei.
Kommen wir einmal zum ALG II. Die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe war
richtig; dazu steht auch die FDP.
({0})
Aber eben nur das.
({1})
Die handwerkliche Umsetzung in Form dieses Gesetzes ist so schlecht, dass man es eigentlich auflösen
müsste. Wir brauchen etwas anderes, etwas Effektiveres
und Besseres. Nur zwei Beispiele: In den Argen und in
den optierenden Kommunen gibt es so viele Änderungen
- über 100 sind es schon -, dass keiner mehr richtig
durchblickt, wie denn was zu machen ist;
({2})
ständig neue Software, ständig „Ergänzungen“.
({3})
Die KdU werden verhandelt wie auf einem Basar:
2 Milliarden im Haushalt, 5 Milliarden wollen die Kommunen, auf 4,1 Milliarden wird sich geeinigt, nach dem
Motto: Pi mal Daumen mal Fensterkreuz. Das ist doch
keine Grundlage für ein Gesetz!
Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit halte ich es
auch nicht für günstig, wie Frau Nahles gesagt hat, das
indische Mantra hinzuzuziehen. Da gehe ich als evangelischer Christ lieber am Sonntag in die Kirche; davon
habe ich mehr.
({4})
Es fehlt den Reformen die Richtung: Wer als unter
25-Jähriger bei seinen Eltern wohnte, wurde plötzlich
vom Staat ermuntert, auszuziehen und eine Bedarfsgemeinschaft zu gründen - jetzt müssen sie bei den Eltern
wieder einziehen; also „Rein in die Kartoffeln, raus aus
den Kartoffeln“. Die Vorschriften ändern sich ständig,
sodass die Kollegen in den Argen manchmal nicht weiterwissen. Nun kommt noch das Problem hinzu, dass
nächstes Jahr durch eine Kreisreform im schönsten Freistaat der Welt, also in Sachsen,
({5})
Kreise, in denen es optierende Kommunen gibt, sich mit
Kreisen, in denen es Argen gibt, zusammenschließen
müssen. Wir werden sehen, wie wir dieses Problem lösen. Das sind nur wenige Beispiele. Das Dilemma, dass
es schwierig ist, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen,
bekommen wir damit nicht weg. Wir haben unheimlich
viel Bürokratie; das hilft uns nicht.
({6})
Die Flut der Widersprüche und Klagen nimmt zu.
Das schafft Arbeit - für Anwälte und Behörden. Dieses
Chaos bei der Arbeitsmarktpolitik setzt sich fort. Herr
Staatssekretär, ich kann Sie beruhigen: Ich war nicht bei
der BA, ich bin nicht bei der BA und ich werde nicht bei
der BA sein.
({7})
Ich kann also frei fordern: Unterstützen Sie den Antrag
der Liberalen, lösen Sie die BA im jetzigen Zustand auf!
({8})
Es geht nicht um Abschaffung - wir brauchen ein anderes System.
({9})
Ein dezentrales System wäre viel besser als das zentrale
System, das wir jetzt haben. Lasst das die Kommunen
und Landkreise machen; die wissen vor Ort viel besser,
was los ist. Wir brauchen die Mammutbehörde in Nürnberg nicht. Damit stelle ich nicht in Abrede, dass diese
Leute gute Arbeit leisten. Doch der Ansatz ist falsch,
und das müssen wir ändern. Wenn ich Sie so höre, Herr
Staatssekretär, wie Sie im Grunde behaupten: „Weil wir
die Macht haben, haben wir recht“, dann erinnert mich
das an DDR-Zeiten. Das ist nicht gut.
({10})
Zum Antrag der Linken, das Arbeitslosengeld I zu
verlängern, kann ich nur sagen: Wir sollten das Äquivalenzprinzip beibehalten. Man kann doch auch nicht in
eine Feuerversicherung einzahlen und, nachdem es
20 Jahre nicht gebrannt hat, sagen: Ich will mein Geld
zurück. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Entscheidend - bei aller Kritik - ist, dass der Ansatz, den wir haben, falsch ist: Ursache und Wirkung werden vertauscht.
Man sehe einmal, wie viel Geld für die Verwaltung von
ALG I und ALG II verpulvert wird! Wir sollten die Vollbeschäftigung - dass jeder eine Arbeit hat - wieder als
Staatsziel aufnehmen. Daran sollten wir arbeiten, dafür
sollten wir kämpfen! Das geht aber nur, wenn man die
Rahmenbedingungen für die Unternehmen verbessert,
({11})
damit sie mehr Leute einstellen. Verwalten, verwalten
und nochmals verwalten, das bringt den Leuten nichts.
Wenn wir das schaffen, dann haben wir eine Chance auf
eine gute Zukunft für unser schönes deutsches Vaterland.
Ich freue mich über jeden Arbeitsplatz, der geschaffen
wurde und wird. Ich habe selber im letzten Jahr in meiner Firma 43 Arbeitsplätze geschaffen; darüber freue ich
mich.
({12})
Ob der Aufschwung, der anhält, etwas mit dem milden Winter zu tun hat oder mit der Fußballweltmeisterschaft oder mit dem charmanten Lächeln unserer Frau
Kanzlerin - Hauptsache, es kommt ein Aufschwung.
Aber wir dürfen die Nachhaltigkeit nicht vergessen. Die
aber vergessen wir, wenn wir jetzt nichts ändern und
nicht die Reformen durchführen, die wir brauchen.
({13})
Nur so kann es vorwärtsgehen.
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen
und Herren! Ich kann ja verstehen, dass das Thema
Hartz IV für die beiden sozialdemokratischen Fraktionen in diesem Hause geradezu zur Vergangenheitsbewältigung einlädt.
({0})
Dabei geht es einerseits um den Gründungsmythos der
Linken und andererseits um das Trauma, das die SPD
noch zu verarbeiten hat: die Abspaltung einer zweiten
sozialdemokratischen Strömung. Aber ich finde, man
sollte sich im Rahmen dieser Debatte eher dem zuwenden, was in den Jobcentern tatsächlich passiert und was
den Leuten im Angesicht der Fallmanagerinnen und
Fallmanager widerfährt. Darum geht es!
({1})
Es geht um die Frage, ob die Potenziale, die das
Sozialgesetzbuch II durchaus bietet, genutzt werden, ob
Fallmanagerinnen und Fallmanager also zum Beispiel an
die Motivation der Leute anknüpfen. Sie, Frau Nahles,
haben zu Recht gesagt, dass 90, 95 Prozent der Menschen motiviert sind. Aber diese Motivation wird nur unzureichend genutzt. Den Fähigkeiten und Möglichkeiten
der Menschen muss Raum gegeben werden. Die vorhandenen Instrumente müssen nach der Betrachtung der
Persönlichkeit passend eingesetzt werden. Dabei muss
man sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren,
wenn man ein bestimmtes Entwicklungsziel erreichen
möchte.
({2})
Was erleben wir stattdessen? Dass man beim Einsatz
der Instrumente vorwiegend fiskalischen Überlegungen
folgt. Da werden etwa die sogenannten 1-Euro-Jobs
nicht nur übermäßig eingesetzt - Frau Pothmer hat das
am Beispiel der Jugendlichen verdeutlicht -, sondern
auch ihre Dauer wird strikt nach formalen Kriterien auf
sechs Monate begrenzt. Wenn danach noch Bedarfe vorhanden sind, die Betroffenen vielleicht eine Anschlussqualifizierung machen wollen, dann kommt einfach
nichts.
Lassen Sie sich einmal von den Beschäftigungsträgern in den Bereichen der Jugendberufshilfe vor Ort
schildern, was zum Beispiel mit jungen Erwachsenen
passiert, die langzeitarbeitslos sind und sechs Monate
lang einen 1-Euro-Job gemacht haben. Ihnen wird nach
sechs Monaten gesagt: Jetzt ist erst einmal Schluss. Vielleicht kannst du in einem halben Jahr erneut einen Antrag stellen und dann wiederkommen. - Die Motivation,
die sie sich mühselig erarbeitet haben, wird sozusagen
sofort wieder mit dem Hintern umgestoßen.
({3})
Wenn Sie auf diese Weise in einem Unternehmen in
der freien Wirtschaft Personalentwicklung betreiben
würden, dann wäre Ihre Firma schnell am Ende. Ich
frage mich, warum wir die Potenziale und Möglichkeiten der Menschen nicht nutzen und warum wir mit den
Instrumenten, die zur Verfügung stehen, nicht ernsthaft
eine persönliche und berufliche Entwicklungsplanung betreiben, sondern das Geld stattdessen nach formalen Nürnberger Kriterien, nach denen das Ganze als
ein Systemgeschäft betrachtet wird, verteilen.
({4})
Die Leistung muss den Menschen folgen, nicht der
Mensch der Leistung. Das gilt umso mehr dort, wo Jobcenter mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten,
etwa in der Jugendhilfe, in der Behindertenhilfe und in
anderen Bereichen. Dort finden wir tatsächlich die Situation vor, dass sich die Kommunen mit Verweis auf die
Jobcenter als vorrangige Leistungsträger einfach zurückziehen, indem sie sagen: Das ist eine vorrangige Leistung. Wir kommen dafür nicht mehr infrage. - Dass das
falsch ist, legt die Bundesregierung in ihrer Antwort dar.
({5})
Die sogenannten nachrangigen bzw. ergänzenden Leistungen müssen von den Kommunen erbracht werden.
Fakt ist aber, dass sie in vielen Fällen - nicht in allen nicht von ihnen erbracht werden, wenn die Hilfebedürftigen sie nicht einklagen.
({6})
Herrn Haustein und Herrn Niebel von der FDP muss
ich an dieser Stelle sagen: Die miserable Zusammenarbeit zwischen Jobcentern und Kommunen und dieLeistungsverweigerung, die nicht wenige Kommunen
betreiben, werfen ein bezeichnendes Licht auf die vermeintliche Kompetenz der Kommunen im Hinblick auf
die Leistungserbringung. Das muss an dieser Stelle ganz
klar zum Ausdruck gebracht werden.
({7})
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Aspekte in der
heutigen Debatte viel umfassender analysiert und stärker
auf den Punkt gebracht worden wären, sodass dann entsprechend hätte gehandelt werden können. Aber hier
wurde viel zu oft vor allem Vergangenheitsbewältigung
betrieben. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls
werden die Realität genau beobachten und auch weiterhin realitätsgenaue Vorschläge machen.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die wichtigste Aufgabe des Staates, der Politik, ist nicht,
selbst die fehlenden Arbeitsplätze zu schaffen, sondern
die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung auf
dem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Auf dieses Ziel
konzentrieren sich unsere gesamten politischen Anstrengungen.
Deshalb ist es auch aus ostdeutscher Sicht richtig und
wichtig, dass die Anstrengungen für mehr Arbeitsplätze
eben nicht nur in industriellen Ballungsgebieten verstetigt werden, sondern auch in der Fläche, in strukturell
benachteiligten Regionen. Durch diesen hinter uns liegenden erfolgreichen Arbeitsprozess in den letzten eineinhalb
Jahren und durch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
der Bundesregierung und auch der jeweiligen Bundesländer ist es zum Beispiel im Freistaat Sachsen zum ersten
Mal nach 1997 - also nach zehn Jahren - wieder gelungen, die Zahl der Arbeitslosen im Monat Februar auf weniger als 400 000 zu senken, nämlich auf genau 362 800.
({0})
Wer diesen Trend nicht wahrnimmt und würdigt, ist ein
Miesmacher. Wir brauchen aber Optimisten.
({1})
Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, Inflation - das sind die wichtigsten Themen der Wirtschaftspolitik in nahezu allen Ländern dieser Welt. Deshalb ist
die Behauptung in der Vorbemerkung zur Großen Anfrage der Linken, dass die ostdeutsche Bevölkerung besonders - ich zitiere - „unter den Folgen eines ökonomisch fehlgeschlagenen Einigungsprozesses leidet“,
ausgesprochen falsch. Über diese Realitätsferne kann
man sich nur wundern.
({2})
18 Jahre nach der Wahl der frei gewählten Volkskammer - diesen Tag haben wir übrigens am letzten Sonntag
gefeiert; ich möchte unbedingt daran erinnern - wollen
Sie immer noch nicht die richtigen Beschlüsse der frei
gewählten Volkskammer für Einheit, für Freiheit und für
Wettbewerb akzeptieren. Wir wissen, dass die materiellen Grundlagen unseres menschlichen Daseins Einkommen und Beschäftigung sind, durch die sehr beeinflusst
wird, ob sich der Einzelne gut oder krank fühlt.
Beim Bautzener Arbeitsamt ist zum Beispiel gut die
Hälfte der 12 000 gemeldeten Arbeitslosen älter als
50 Jahre. In anderen Ländern ist das nicht anders. Diese
Zahl spricht ihre eigene Sprache, die wir nicht gering
schätzen dürfen. Eigentlich muss man sich doch fragen,
was in der Diskussion falsch läuft. Ist es die Verwendung
der Mittel, sind es zu wenige Eingliederungstitel, geht es
um nicht eingesetzte Eingliederungstitel oder ist es die
öffentliche Wahrnehmung? Was ist hier falsch?
Hartz IV kostete im ersten Jahr jedenfalls viel mehr
Geld, als wir geplant hatten. Es gilt aber trotzdem als Instrument für gnadenlosen Sozialabbau. Diese Sicht auf
staatliche Sozialleistungen ist falsch, allerdings räume
ich ein, dass sich diese Sicht auch in den neuen Bundesländern hier und da einschleicht. Durch die sozialen
Leistungen - auch Hartz IV als Paket - soll die existenzielle Not verhindert werden, was wirklich geschieht.
Heute wird aber der Bezug der staatlichen Leistung an
sich bereits als Notlage bezeichnet: Arm ist, wer Leistung bezieht. Das ist die öffentliche Meinung. Dagegen
müssen wir uns wenden.
({3})
In Wirklichkeit ist es für viele, die auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Arbeit finden, wesentlich komplizierter,
ihren Lebensalltag zu gestalten. Ich habe jedenfalls immer noch Schwierigkeiten, einem Familienvater mit
zwei Kindern, dessen Frau die Kinder zu Hause betreut
und der einen Bruttoverdienst von 2 000 Euro hat - das
ist ein Spitzenverdienst in den neuen Bundesländern -,
zu erklären, warum er am Monatsende zum Teil nur geringfügig mehr in der Tasche hat - manchmal sogar weniger; je nach der Konstellation - als ein Leistungsempfänger. Wir müssen diese Tatsache verändern.
({4})
Nein, die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung war
kein Fehler. Hier stimme ich meinen Vorrednern zu. Die
Doppelstruktur von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
war intransparent und unsozial, weil Personen in gleichen Lebenslagen unterschiedliche aktive und passive
Leistungen erhielten.
Bei der Übersicht der Eingliederungsmaßnahmen fällt
allerdings sofort auf, dass sich über 50 Prozent der Maßnahmen in den neuen Bundesländern auf ein Instrument
- die Vermittlung in ein Beschäftigungsverhältnis konzentrieren, und zwar deshalb, weil keine Integration
in den ersten Arbeitsmarkt möglich ist; denn an diesem
fehlt es.
Dass diese einseitige Ausrichtung von den Wirtschafts- und Unternehmensverbänden immer wieder kritisch hinterfragt wird, ist ein gutes Zeichen; denn die
Wirtschaft kann sich nur im Wettbewerb entwickeln. Das
gilt auch für uns in den neuen Bundesländern. Solange der
erste Arbeitsmarkt keine durchgehende Alternative bietet,
kann - das sehe ich auch so - auf dieses Instrument nicht
verzichtet werden. Die Beschäftigungsgelegenheiten sind
notwendig, um zum Beispiel der sozialen Isolation bestimmter Bevölkerungsschichten, die nach vielen erfolglosen Bewerbungen die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz
aufgegeben haben, vorzubeugen.
Die Menschen in den neuen Bundesländern haben übrigens sehr genau verstanden, dass sie gegen ihre scheinbar oder manchmal auch tatsächlich unrechtmäßige Behandlung vorgehen und ihre Rechte vor Gericht
einklagen können. Deshalb ist zwar die Zahl der Klagen
gestiegen, aber dies ist auch ein Zeichen dafür, dass der
demokratische Rechtsstaat funktioniert und jedem zu
seinem Recht verhilft.
({5})
Im Übrigen ist in Ihrem Entschließungsantrag eine
Fülle von Forderungen enthalten, die allesamt auf mehr
Staat und Ausgaben ausgerichtet sind. Dass aber das
Verhältnis von Eigenverantwortung auf der einen Seite
und Ausgewogenheit von Einnahmen und Ausgaben auf
der anderen Seite in unserem Dasein von entscheidender
Bedeutung ist, ist nichts Neues. Ich will das mit einem
Gleichnis von Johann Wolfgang von Goethe belegen.
Ich habe dieses Gleichnis ausgesucht, weil mich vor kurzem eine Besuchergruppe gefragt hat, was das für eine
kulturlose Debatte sei. Deshalb habe ich mich entschieden, ein Gleichnis dieses ehrwürdigen Dichters vorzutragen, der schon zu seiner Zeit darauf hingewiesen hat,
dass wir nur das ausgeben können, was wir haben, wobei
wir aber auf Ausgewogenheit achten sollten. Ich zitiere,
mit Verlaub, das Gleichnis:
Ein Kaiser hatte zwei Kassiere,
Einen zum Nehmen, einen zum Spenden;
Diesem fiel’s nur so aus den Händen,
Jener wußte nicht, woher zu nehmen.
Der Spendende starb; der Herrscher wußte nicht
gleich,
Wem das Geberamt sei anzuvertrauen.
Und wie man kaum tät um sich schauen.
So war der Nehmer unendlich reich:
Man wußte kaum vor Gold zu leben.
Weil man einen Tag nichts ausgegeben.
Da ward nun erst dem Kaiser klar,
Was schuld an allem Unheil war.
Den Zufall wußt er wohl zu schätzen.
Nie wieder die Stelle zu besetzen.
Deshalb werden wir Ihrem Entschließungsantrag
nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Gregor Amann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich nicht mit dem Entschließungsantrag der
Linken auseinandersetzen, der auf einer Großen Anfrage
basiert - das haben Herr Staatssekretär Andres und andere Vorredner schon ausführlich getan -, aber eine
Frage stellt sich mir: Warum stellen Sie eine Große Anfrage, wenn Sie die Antwort der Bundesregierung gar
nicht zur Kenntnis nehmen?
({0})
Ich will mich in erster Linie mit der Verlängerung der
Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I beschäftigen.
Wenn es auch auf den ersten Blick nach mehr sozialer
Gerechtigkeit aussieht, so ist es dennoch eine Mogelpackung. Dabei ist es völlig egal, ob diese Forderung von
Ihnen oder von Herrn Rüttgers kommt; denn es ist und
bleibt wahr - das konnte auch Herr Lafontaine nicht widerlegen -, dass die Arbeitslosenversicherung keine Anwartschaftsversicherung, sondern eine Risikoversicherung ist.
({1})
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind keine
Kapitalanlage, sondern eine Risikoabsicherung, die dann
zum Tragen kommt, wenn Arbeitslosigkeit zu Verdienst8882
ausfall führt. Das ist ähnlich wie bei der Brandschutzversicherung, bei der Sie nur dann Geld bekommen, wenn
Ihr Haus abbrennt.
({2})
Vorhin wurde das Äquivalenzprinzip angesprochen.
Dieses Prinzip gilt nur für die Höhe der Leistung, aber
nicht für die Länge der Bezugsdauer.
({3})
Mit Ihrem Antrag stellen Sie dieses bewährte System infrage und wer sagt denn, dass ein 42-jähriger Familienvater, dessen heranwachsende Kinder gerade eine Ausbildung oder ein Studium beginnen, oder die 28-jährige
Alleinerziehende einen geringeren Finanzbedarf haben,
wenn sie arbeitslos werden, als ein 55- oder 60-Jähriger?
Soziale Gerechtigkeit ist manchmal komplexer, als es
auf den ersten Blick scheint.
Sie wollen das alles über eine Kürzung des Aussteuerungsbetrags bezahlen. Worum geht es dabei? Den sogenannten Aussteuerungsbetrag muss die Bundesagentur
für Arbeit für jeden Arbeitslosen an den Bund zahlen,
der länger als zwölf Monate ohne Job bleibt und damit in
das Arbeitslosengeld II wechselt. Rund 10 000 Euro sind
pro Arbeitslosen fällig. Da das Arbeitslosengeld I aus
Beitragsmitteln der Arbeitslosenversicherung und das
Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln gezahlt wird, findet durch den Aussteuerungsbetrag eine Beteiligung der
Arbeitslosenversicherung an den Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit statt. Über den Aussteuerungsbetrag soll
die Bundesagentur für Arbeit, die heute keine Behörde
mehr ist, sondern nach Zielvereinbarungen arbeitet, dazu
motiviert werden, die Vermittlung in Arbeit innerhalb
der ersten zwölf Monate besonders intensiv zu betreiben,
um so die Betroffenen erst gar nicht in Langzeitarbeitslosigkeit fallen zu lassen. Denn es ist bekannt: Je länger
jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Rückkehr in das Arbeitsleben.
Man kann das Instrument des Aussteuerungsbetrags
bestimmt kritisieren und wahrscheinlich noch besser justieren. Es ist kein Allheilmittel oder Wundermittel. Aber
wer eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
für Ältere aus diesem Topf finanzieren möchte, nimmt
dafür mutwillig einen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in Kauf, und nicht nur aus diesem Grund erinnern
wir uns - darauf wurde vorhin hingewiesen -: Bis in die
70er-Jahre hatten wir in Deutschland eine einheitliche
Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von zwölf Monaten.
Mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit hat die damalige
Regierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds angehoben, zumindest für manche. Die Folge war ein deutlicher Anstieg der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
auf 6,5 Prozent und ein erheblicher Anstieg der Bundeszuschüsse. Wir haben die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von maximal 32 Monaten auf maximal 18 Monate zurückgeführt, um der Frühverrentungspraxis in
einer Vielzahl von Betrieben wirksam entgegenzuwirken. Die Praxis gerade in vielen Großunternehmen hatte
in der Vergangenheit dazu geführt, ältere Menschen auf
Kosten der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung
früher aus den Betrieben zu schicken. Wir wollen keinen
Rückfall in die Zeiten der Frühverrentung.
({4})
Wenn wir etwas für Arbeitslose, jüngere oder ältere,
tun wollen, dann geht das nur auf einem Weg: Arbeit
schaffen. Ältere Arbeitslose wollen nicht länger Arbeitslosengeld beziehen, sondern wieder in Arbeit kommen
und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Im Februar 2007 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich
zum Vorjahresmonat um 826 000 verringert; das wurde
bereits gesagt. Auch die Beschäftigungsquote der Älteren steigt wieder an. Erst vor wenigen Tagen war dies in
der „Frankfurter Rundschau“ zu lesen. Mit der Initiative
„50 plus“, die wir in der letzten Sitzungswoche verabschiedet haben, haben wir weitere wirksame Schritte zur
Beschäftigung Älterer unternommen: Eingliederungszuschüsse, Kombilöhne, Weiterbildungshilfen. Meine Damen und Herren von der Linken, Sie beschränken sich
mit einer Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für
Ältere darauf, die Symptome zu lindern.
({5})
Wir hingegen wollen die Ursachen bekämpfen. Wir wollen wieder Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
In der kurzen Redezeit, die mir noch verbleibt,
möchte ich noch auf Ihren Antrag auf Auflösung der
Bundesagentur für Arbeit eingehen, meine Damen und
Herren von der FDP.
({6})
Ihr Antrag von September 2006 ist heute schon veraltet.
Der Eingangssatz lautet:
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich trotz der sog.
Hartz-Reformen nicht grundlegend verbessert.
({7})
Er ist bereits heute überholt. Die aktuellen Zahlen wurden bereits genannt.
({8})
Aber auch der Rest Ihres Antrages ist nicht viel besser
als der Anfang. Sie wollen die Bundesagentur für Arbeit
zu einer Art Privatversicherung umgestalten. Wenn es in
Ihrem Antrag heißt, die Gesamtäquivalenz zwischen
Leistungen und Beiträgen müsse wiederhergestellt
werden - hier treffen sich erschreckenderweise die Anträge der Linken und der FDP -,
({9})
dann bedeutet das nichts anderes, als dass derjenige, der
öfter arbeitslos wird, mehr Beiträge zahlt.
({10})
Das kann nicht sein. Das Prinzip mag für eine Kfz-Versicherung in Ordnung sein, aber es taugt nicht zur Absicherung des Lebensunterhalts im Falle der Arbeitslosigkeit.
({11})
Auch Ihr Modell eines Niedrigtarifs mit Karenzzeit
geht in die gleiche Richtung. Sie tun so, als könnten die
Menschen frei entscheiden, ob sie arbeitslos werden
oder nicht.
({12})
Wir Sozialdemokraten wollen Lebensrisiken nicht privatisieren, sondern wir sind für eine solidarische Risikoabsicherung mit einer paritätischen Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
({0})
Aber gerne.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir einen solidarisch finanzierten Regeltarif in
der Arbeitslosenversicherung vorsehen und darüber hinaus, da der Arbeitgeberbeitrag steuerfrei an den Arbeitnehmer auszuzahlen ist, Anreize für zusätzliche Wahltarife schaffen wollen, die jeder individuell gestalten kann,
somit also die solidarische Grundabsicherung des Lebensrisikos Arbeitslosigkeit entsprechend des Äquivalenzprinzips erfolgt, darüber hinaus aber Wahlmöglichkeiten geschaffen werden
({0})
und durch die Einführung möglichst vieler privatwirtschaftlicher Elemente in die Arbeitslosenversicherung
und in die Arbeitsvermittlung eine generelle Privatisierung dieses Sicherungssystems ausgeschlossen wird?
Herr Niebel, ich danke Ihnen für die Frage. Dadurch
kann ich etwas länger reden. Sie haben vollkommen
recht.
({0})
- Nein, Sie haben nicht recht. Ich fange anders an.
Ich konnte das in Ihrem Antrag so nicht sehen. Mit
der Einführung von Wahltarifen tun Sie wiederum so,
als ob der Mensch die Wahl hätte, arbeitslos zu werden
oder nicht.
({1})
Das ist nicht richtig. Wenn Sie die Zuschüsse des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer auszahlen lassen, dann gehen Sie weg von der paritätischen Finanzierung. Dann
wird der Arbeitgeberbeitrag ein Teil des Arbeitslohns,
der in Tarifverhandlungen verhandelt wird. Das bedeutet
einen Schritt weg von der paritätischen Finanzierung.
Das ist nicht unser Weg.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
({0})
Aber gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Würden Sie mir zustimmen, dass ein beitragssenkender Wahltarif, bei dem die
Hälfte der Beitragseinsparungen beim Arbeitgeber
bleibt, für den Arbeitnehmer unattraktiver ist als ein Tarif, bei dem der Arbeitgeberanteil vorher zu 100 Prozent
ausgezahlt wird und der Arbeitnehmer, der über den Regeltarif hinaus einen Wahltarif in Anspruch nimmt, der
zu Beitragssenkungen führt, dann 100 Prozent der Beitragsersparnis für sich hat?
Ich kann keinerlei Notwendigkeit sehen, in die Arbeitslosenversicherung Wahltarife einzuführen.
Ich komme zum Ende: In der Tat, die Reform der Arbeitsverwaltung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber sie ist
auf einem guten Weg. Ihr Weg, Herr Niebel, führt in die
Irre.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Am Schluss dieser Debatte ist festzustellen, dass die Opposition keine Antwort auf die Frage hat, wie wir Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit bringen.
({0})
Man kann sich trefflich über die Höhe von Leistungen
der sozialen Sicherung streiten. Diese Frage wird sich
immer im politischen Spannungsfeld befinden. Ich bin
überzeugt, dass das nicht nur heute, sondern auch in Zukunft Gegenstand der politischen Auseinandersetzung
sein wird.
Die Politik ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass den
bedürftigen Menschen die entsprechende soziale Unterstützung gewährt wird. Ich glaube, dass die Große Koalition das gewährleistet. Es ist wichtig, darzustellen, dass
gewährleistet ist, dass diese Menschen in Würde leben
können.
({1})
Die Höhe der Leistungen ist heute schon vielfach erwähnt worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese
nach der Einkommens- und Verbrauchsstatistik ermittelt
wird. Darin wird alles berücksichtigt, was zu einem
menschenwürdigen Leben notwendig ist.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin aus der Fraktion Die Linke?
Ja.
Vielen Dank. - Herr Straubinger, aus Ihrem Einstieg
schließe ich, dass Sie zum Beispiel unsere Anträge zum
Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung und
zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer
nicht kennen, obgleich wir beide Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales sind. Wenn es so ist, dass Sie
diese beiden Anträge nicht kennen, dann lasse ich sie Ihnen sehr gerne zukommen. Sie müssten mir nur bestätigen, dass Sie sie noch nicht kennen.
Verehrte Kollegin Möller, ich habe Ihre Anträge gelesen. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Es
geht doch nicht um die Beschäftigung im öffentlichen
Bereich. Wir wollen, dass mehr Menschen in den ersten
Arbeitsmarkt kommen.
({0})
Ihre Vorstellungen drehen sich immer nur um den
Staat. Unsere Vorstellungen zielen letztendlich auf mehr
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im ersten
Arbeitsmarkt. Dazu soll es durch die von uns gesetzten
wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen kommen.
Diesbezüglich kann diese Bundesregierung auf großartige Erfolge verweisen.
({1})
Die beste Sozialpolitik ist eine Politik, die dafür sorgt,
dass es mehr Beitrags- bzw. Steuerzahler gibt. Das erfordert letztendlich, dass die Eigenverantwortlichkeit der
Menschen gestärkt wird. Dazu stehen wir. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass es effektive Strukturen gibt,
zum Beispiel, um die sozialpolitischen Aufgaben zu bewältigen. Sämtliche Anträge, die wir heute beraten, stehen damit im Zusammenhang.
Heute wurde bereits in vielfältiger Weise dargelegt:
Die Bundesregierung und diese Koalition können auf
große Erfolge im Jahr 2006 zurückblicken. Das ist ein
Ansporn, den Bürgerinnen und Bürgern auch in Zukunft
die Möglichkeit zu geben, am ersten Arbeitsmarkt teilzuhaben. Von den wirtschaftsrelevanten Daten gehen positive Signale aus, dass sich der Trend einer sinkenden
Arbeitslosigkeit im Jahr 2007 fortsetzt - im abgelaufenen Jahr ist die Arbeitslosigkeit um über 600 000 gesunken -, sodass am Ende dieses Jahres wiederum vermeldet werden kann: 300 000 oder 400 000 Menschen
haben zusätzlich Arbeit gefunden und gehen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.
({2})
Bei 1,6 Millionen offenen Arbeitsstellen muss das erreicht werden.
Es gibt verschiedene Elemente. Die Hartz-Gesetze
haben sich bisher - trotz manchem, was nachjustiert
werden musste - sehr positiv entwickelt. Der Ansatz
„Fördern und Fordern“ muss und wird gleichermaßen
weiterverfolgt werden.
Die Anträge der Linken sind meines Erachtens kontraproduktiv. Die Linken fordern in ihrem Entschließungsantrag zum Beispiel einen Mindestlohn von
8 Euro. Das übertrifft sogar noch die Forderungen der
Gewerkschaften. Was würde es bedeuten, wenn man dieser Forderung nachkäme? Es würde zuerst einmal die
Aushöhlung der Tarifautonomie - Gewerkschaften und
Arbeitgeber verhandeln frei über die Höhe der Löhne bedeuten; man würde also den Pfad der Tarifautonomie
verlassen. Ich glaube, dass die Tarifautonomie in der
Vergangenheit für eine gute Entwicklung stand. Die beiden Tarifpartner sind meines Erachtens auch in sozialpolitischer Hinsicht verlässliche Partner, wenn es nämlich
darum geht, gute Löhne auszuhandeln, die für die Menschen in Deutschland die Sicherung ihrer Existenzgrundlage gewährleistet.
Würde man der Forderung der Linken nachkommen,
hätte dies natürlich auch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zur Konsequenz. Die Einführung eines Mindestlohns hätte zur Folge, dass die Schwarzarbeit zunimmt.
({3})
Es wird gefordert - für mich ist das zum Teil unverständlich, auch wenn es von der arbeitsmarktpolitischen
Seite her nachvollziehbar zu sein scheint -, unseren Arbeitsmarkt im Bereich der Saisonarbeit in der Landwirtschaft abzuschotten. Die Begründung dafür lautet: Diese
Tätigkeiten müssen von inländischen Arbeitsuchenden
ausgeübt werden. Das ist an sich richtig. Der Tariflohn
liegt bei 5,20 Euro. Bei einem Mindestlohn von 8 Euro
und vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit
in Europa ab 2009 oder ab 2011 werden nach meiner
Überzeugung vor allen Dingen diejenigen Menschen aus
dem Arbeitsprozess gedrängt werden,
({4})
die am Arbeitsleben aufgrund persönlicher Einschränkungen nicht teilhaben können. Das wird die große Gefahr bei einem hohen Mindestlohn sein, werte Kollegin
Möller. Das sollten Sie hierbei auch bedenken.
({5})
In ihrem Antrag fordern die Linken auch, dass die
Zumutbarkeitsregelungen zur Arbeitsaufnahme in
mehreren Bereichen verändert werden. Vor allen Dingen
soll in dem Zusammenhang zukünftig die politische und
religiöse Gewissensfreiheit geschützt werden. Ich frage
mich natürlich, was darunter alles zu verstehen ist. Das
bedeutet natürlich eine tolle Wandlung. Früher, als Sie
noch „SED“ hießen und die SED die Verantwortung
hatte, haben Sie mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund die Leute genötigt, Arbeit aufzunehmen,
ohne Bezahlung, und dafür den Sozialismus zu verbreiten. Heute bereiten Sie ein anderes Einstiegsprogramm
vor. Da gibt es eine Partei, die zum Spruch des Tages erhoben hat - ich zitiere -: „Lieber einen Bauch vom Saufen als einen Buckel vom Arbeiten“
({6})
und als Lebensweisheit verkündet: Solange der Bauch
noch in die Weste passt, wird keine Arbeit angefasst.
({7})
Das ist letztlich das Einstiegsprogramm für Faulenzer
in unserem Land. Das kann meines Erachtens nicht Ziel
einer Politik in diesem Land sein.
({8})
Ich darf mich ganz kurz auch noch mit dem Antrag
der FDP befassen. Mir ist eines aufgefallen: Sie wollen
die Bundesagentur für Arbeit auflösen bzw. zerschlagen.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Möller, auch wenn Ihre Redezeit dem Ende
zugeht?
Ich möchte das zu Ende führen.
Die FDP sagt also: Die Bundesagentur muss aufgelöst bzw. zerschlagen werden. Es soll eine Agentur geben, die nur noch das Arbeitslosengeld auszahlt. Es soll
daneben Jobcenter geben. Ich lese hier - ich zitiere aus
dem Antrag -:
Die Job-Center sind Anlaufstellen für alle arbeitsuchenden Personen. Sie gewährleisten eine umfassende Betreuung und treffen alle im Einzelfall notwendigen Entscheidungen. Sie koordinieren alle
Kompetenzen, die zur Eingliederung in Erwerbsarbeit und zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit
notwendig sind.
({0})
Ich glaube, dass diese Aufgaben derzeit die BA schon
sehr gebündelt erledigt.
({1})
Deshalb wäre es Unsinn, jetzt ein neues Schild zu kreieren. Sie, Herr Kollege Niebel - das gilt auch für uns -,
haben sich seinerzeit über die Umfirmierung von „Bundesanstalt für Arbeit“ in „Bundesagentur für Arbeit“ aufgeregt sowie darüber, was die neuen Schilder gekostet
haben. Letztlich würde auch Ihr Vorschlag wieder nur
bedeuten, dass neue Schilder angeschafft werden müssen ({2})
von den Wahltarifen abgesehen, die meines Erachtens
nicht sehr zielführend sein können.
({3})
Werte Frau Präsidentin, ich bedanke mich, auch dafür,
dass ich drei Sekunden überziehen durfte.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2684, 16/3538 und 16/4749 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/4774 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2684 und
zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe: Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 j
und 12 b sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
27 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/4198 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa-
kultativprotokoll vom 8. Dezember 2005 zum
Übereinkommen über die Sicherheit von Per-
sonal der Vereinten Nationen und beigeordne-
tem Personal
- Drucksache 16/4381 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 16/4692 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung
des Bundesgrenzschutzgesetzes
- Drucksache 16/4665 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick
Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Schutz und Nutzung der Meere - Für eine integrierte maritime Politik
- Drucksache 16/4418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtssicherheit schaffen - Musterwiderrufsbelehrung für Verbraucherverträge überarbeiten
- Drucksache 16/4452 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationales Klimaschutzprogramm
Sechster Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion“
- Drucksache 15/5931 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({5}), Kai Gehring, Brigitte Pothmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Lebenslanges Lernen fördern
- Drucksache 16/4748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft durch EU-weite Angleichung der
Besteuerung von Agrardiesel abbauen
- Drucksache 16/4186 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fischartenschutz fördern - vordringliche Maßnahmen für ein Kormoranmanagement
- Drucksache 16/3098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
12 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2007 ({9})
- Drucksache 16/4376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Fahrpersonalgesetzes
- Drucksache 16/4691 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Chancen für Frauen auf dem Ausbildungsund Arbeitsmarkt verbessern
- Drucksache 16/4737 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4186 zu
Tagesordnungspunkt 27 i soll zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz überwiesen werden. Die Vorlage auf
Drucksache 16/3098 zu Tagesordnungspunkt 27 j soll
federführend im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 f
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 28 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Siebenundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertvierundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/4106, 16/4248 Nr. 2.1, 16/4107,
16/4248 Nr. 2.2, 16/4598 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4598, die Aufhebung der Verordnungen auf den Drucksachen 16/4106 und 16/4107
nicht zu verlangen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 16/4565 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 190 ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 16/4566 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 191 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
- Drucksache 16/4567 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 192 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 16/4568 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 193 ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
- Drucksache 16/4569 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 194 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem
Börsengang
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner dem Kollegen Winfried Hermann aus der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat gestern gemeinsam, und zwar einstimmig,
einen wichtigen Beschluss gefasst: Wir richten einen
Unterausschuss zum Zustand des Netzes der Deutschen
Bahn ein. Das ist wirklich wichtig und gut.
({0})
Dass wir uns kritisch mit diesem Netz befassen müssen,
ist inzwischen Konsens aller Expertinnen und Experten.
Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir drei Jahre nach
einem Beschluss des Deutschen Bundestages immer
noch keinen aussagekräftigen Infrastruktur- bzw. Netzzustandsbericht von der Deutschen Bahn vorgelegt bekommen haben. Dieser ist höchst überfällig.
({1})
Es ist nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Ärgernis,
dass es das Verkehrsministerium in all diesen Jahren
nicht geschafft hat, so etwas gegenüber seinem großen
eigenen Betrieb durchzusetzen. Jetzt soll ein Text vorliegen, mit dem selbst das Ministerium nicht zufrieden ist.
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist
viel über den Zustand des Netzes geschrieben worden.
Selbst wenn da die eine oder andere Übertreibung dabei
gewesen ist, kommt man, wie ich glaube, nicht umhin,
festzustellen, dass der Zustand des Netzes beklagenswert
ist. Es gibt viele, zu viele Baustellen. Es ist offenkundig
zu lange zu wenig in die Pflege gesteckt, zu lange zu wenig in den Erhalt investiert worden. Das muss dringend
geändert werden.
({2})
Man hat auch den Eindruck, dass sich die DB AG, um
eine gute Bilanz für den Börsengang hinzubekommen,
die Mittel für die Pflege spart und so lange die Strecken
befährt, bis der Schienenkörper ersetzt werden muss.
Das heißt, es muss dann vom Bund bezahlt werden und
nicht mehr von der Bahn. Auch das ist ein Fehlanreiz,
den wir festgestellt haben, der dringend beseitigt werden
muss.
({3})
Meine Damen und Herren, all dies zeigt, dass es
höchste Zeit wird, dass wir als Eigentümer genauer auf
unser Eigentum achten und es ein Stück weit der DB AG
entziehen. Ich zitiere einmal:
Die Infrastrukturgesellschaften werden vor der Kapitalprivatisierung ins Eigentum des Bundes überführt. Juristische Risiken für die eigentümerrechtliche Position des Bundes müssen ausgeschlossen
werden.
Das ist der Beschluss der Großen Koalition vom November 2006.
({4})
- Der Bundestag hat mehrheitlich zugestimmt. - Ich
kann nur sagen: Lassen Sie uns das umsetzen!
({5})
Was geschieht aber? Inzwischen liegt ein Entwurf zur
Privatisierung der DB AG aus dem Hause Tiefensee vor.
Er beinhaltet das glatte Gegenteil von dem, was im Prinzip damals verabschiedet wurde, das glatte Gegenteil
von allen Bedenken, die von allen Experten gegenüber
den ersten Entwürfen vorgebracht worden sind. Eigentlich wird versucht, das alte Tiefensee-Modell, das sogenannte Eigentumssicherungsmodell - wer immer das
versteht -, wieder in Form eines neuen Gesetzentwurfes
vorzulegen.
Ärgerlich an der ganzen Geschichte ist, dass der Chef
des Bahnkonzerns den Entwurf kritisiert und dem Herrn
Minister einen Brief geschrieben hat, den sogenannten
Bömbchenbrief. Der heißt so, weil Bömbchen am Rand
waren, mit denen auf das hingewiesen wurde, was aus
DB-Sicht problematisch ist und geändert werden muss,
weil es so nicht privatisierungsfähig ist. Und was geschieht? Wenige Wochen später liefert der Minister einen entsprechenden Entwurf - alle Kritikpunkte beseitigt. Man fragt sich allen Ernstes: Ist das Ministerium
eigentlich eher der DB verantwortlich oder dem Deutschen Bundestag bzw. dem Grundgesetz?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich
nicht wundern, dass inzwischen in manchen Medien als
Nachfolger von Mehdorn Herr Tiefensee ausgerufen
wird, nach dem Motto: Er bereitet sich seinen späteren
Platz schon vor. Jedenfalls kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren, wenn man sieht, wie willfährig
das Ministerium alles tut, was die Bahn sagt, und wie es
die Eigenverantwortung der Politik nicht wahrnimmt.
Wir haben gegenüber diesem Gesetzentwurf erhebliche Bedenken. Diese sind, dass der Bund sein Eigentum
nur formal kurze Zeit hält, um es dann der DB zu übereignen, dass sie dieses Eigentum 15 Jahre, vielleicht sogar 25 Jahre haben soll, dass der Bund die Stimmrechte
gleich an die DB abgibt und zudem noch zusagt,
37 Milliarden Euro über 15 Jahre regelmäßig zu zahlen.
Da kann ich nur sagen, Genossinnen und Genossen:
Über diese Zusage freuen sich die Heuschrecken.
({7})
In allen Fraktionen gibt es Abgeordnete, die darüber
nachdenken, wie wir mit dem Volksvermögen im Bereich der Bahn, das in vielen Jahren angespart worden
ist, verantwortungsbewusst umgehen können. Dieses
Gesetz ist jedenfalls in keinem Punkt eine Antwort auf
diese Frage. Im Gegenteil, es ist ein billiger Ausverkauf,
eine Schenkung. Das ganze Gesetz ist extrem verquast
und kompliziert. Die Politik ist weitgehend außen vor.
Wir werden zukünftig vor allen Dingen einen Streit zwischen den Rechtsabteilungen des Ministeriums und der
DB haben. Ich kann Ihnen sagen, wie das ausgeht: Mit
Sicherheit geht es nicht gut für das Ministerium aus.
Denn das Ministerium ist schon heute nicht in der Lage,
einem solchen Konzern Paroli zu bieten.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. - Der Gesetzentwurf ist
grundlegend falsch. Schmeißen Sie ihn in den Papierkorb! Er kann auch nicht mehr verschlimmbessert werden. Wir sollten uns im Unterausschuss erst einmal kritisch mit dem Netzzustand befassen, dann überlegen,
wie es weitergeht, in jedem Fall sicherstellen, dass die
Infrastruktur in öffentlicher Hand bleibt, und schließlich
in einer nächsten Periode den Börsengang mit klarem
Kopf neu angehen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jawohl, es ist richtig, dass der Verkehrsausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen diesen Unterausschuss eingesetzt hat, um eine stärkere Kontrolle bei
der Bahn bezüglich des Netzes ausüben zu können.
Lieber Kollege Hermann, man muss aber schon fair
bleiben: Die Deutsche Bahn AG ist 13 Jahre nach der
Privatisierung ein vorzeigbares und leistungsfähiges Unternehmen, das international anerkannt ist. Das verdanken wir den Mitarbeitern der Bahn und auch dem Steuerzahler, der viele Milliarden Euro in die Bahn gesteckt
hat.
({0})
Es ist keine Frage, dass es Anlass zur Kritik am Zustand des Netzes gibt. Diese Kritik gab es schon seit längerem, inzwischen auch dokumentiert vom Bundesrechnungshof. Nun beginnt die Ursachenforschung; auch Sie
beteiligen sich daran. Die einen sagen, die DB schöne
die Bilanz dadurch, dass sie Investitionen vernachlässige. Die anderen sagen, die Politik habe der Bahn solche ausufernden Aufgaben gestellt, dass sie keine finanziellen Spielräume mehr hatte, um ausreichend Mittel in
das Netz zu stecken.
Das ist ein müßiger Streit. Fest steht, dass der Bund,
der Staat, einen Infrastrukturauftrag hat
({1})
und dass er mithilfe der Deutschen Bahn AG diesen
Auftrag wahrnehmen will. Das ist ein Faktum. Dazu gehört natürlich, dass man denjenigen, den man mit der
Wahrnehmung seiner Aufgaben beauftragt, kontrolliert.
Der Bundesrechnungshof stellt in seinen Prüfberichten zwischen 2001 und 2005 fest, dass die Aufwendungen für die Netzinstandhaltungen deutlich unter dem Bedarf lagen. Ich frage nun Sie, lieber Kollege Hermann
von den Grünen: Wer hat denn 2001 bis 2005 regiert?
Wenn ich mich richtig erinnere, waren zu dieser Zeit die
Grünen in der Regierung. Das aber haben Sie wie auch
wir inzwischen verdrängt.
({2})
Die Grünen stellten sogar - vielen Dank, Norbert
Königshofen - einen Aufsichtsrat. Warum hat er nicht all
die Kontrollen, die Sie jetzt fordern, vorgenommen?
({3})
Ich stelle fest, dass wir aufgrund der Mängel, die festgestellt worden sind, die Kontrollen verstärken werden.
Wir werden das nachholen, was Sie, meine Damen und
Herren von den Grünen, in Ihrer Regierungszeit versäumt haben.
Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein in diesem Zusammenhang. Denn in ihm wird festgelegt, wie
diese Kontrolle vor sich gehen soll: Erstens. Wir werden
vor einem Börsengang dafür sorgen, dass der Bund
Eigentümer des Netzes bleibt. Das ist der wichtigste
Punkt in diesem Gesetzentwurf. Zweitens. Wir werden
der Deutschen Bahn AG das Recht einräumen, dieses
Netz zu nutzen. Sie wird 2,5 Milliarden Euro erhalten,
um das Netz instand zu setzen. Die Bahn bekommt das
Geld aber nicht unkonditioniert. Wir werden ihr nämlich
genau vorschreiben - das können Sie im Gesetzentwurf
nachlesen -, wie viel sie aus eigenen Mitteln investieren
muss.
Wir werden ihr auch genau vorschreiben, wo sie welche Investitionen tätigen muss, indem wir Qualitätsmerkmale mit technischen Parametern festlegen. Wir
werden genau regeln, wie der Zustand von Brücken,
Stützmauern, Entwässerungssystemen, Stromleitungen
und Signalanlagen sein muss. Wenn Sie den Gesetzentwurf lesen, dann können Sie erkennen, dass all diese
Punkte aufgenommen worden sind. Deswegen kann man
sagen, dass es ein sehr guter Entwurf ist. Sie können
sicher sein, dass wir peinlich darauf achten werden
- auch das steht in dem Gesetzentwurf -, dass uns von
der Deutschen Bahn AG, auch nach einem nächsten Privatisierungsschritt, ein jährlicher Netzzustands- und Entwicklungsbericht vorgelegt wird.
({4})
- Entschuldigung, das wird geltendes Recht sein.
({5})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({6})
Ich denke, dass wir mit dem von dem Minister vorgelegten Gesetzentwurf auf einem guten Weg sind. Der im
Dezember im Deutschen Bundestag gefasste Beschluss
hat leider nicht Ihre Unterstützung bekommen. Ich kann
nicht verstehen, warum Sie diesem Beschluss nicht zugestimmt haben. Denn in ihm steht, dass der Bund Eigentümer der Infrastruktur der Bahn bleibt.
In diesem Gesetzentwurf wird der eine oder andere
Punkt noch nachgearbeitet werden; das ist überhaupt
keine Frage. Entschuldigung: Dafür sind wir als Parlament da. Denn es ist nicht unsere Aufgabe, einen Regierungsentwurf eins zu eins abzunicken. Vielmehr werden
wir in den Ausschüssen mithilfe von Sachverständigen
und auch mit der fachkundigen Hilfe der Opposition das
eine oder andere noch korrigieren. Ich denke, dass der
Entwurf eine sehr gute Grundlage ist, mit der wir gut vorankommen werden.
Wir haben genügend Zeit. Der Bundeswirtschaftsminister hat beantragt, seine Beratungszeit für die Ressortabstimmung bis Ende April auszudehnen. Ich begrüße
das ausdrücklich, weil wir dann auch in unserer Fraktion
Zeit haben, darüber zu diskutieren. Der Entwurf muss
auch mit den Ländern diskutiert werden. Ich denke, wir
können froh sein, dass wir beim Thema Bahn insgesamt
auf einem guten Wege sind.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Namenskollege, das ist genau das Problem der
Union: Sie glauben zu viel von dem, was Ihnen die Bahn
vermeintlich zusagt,
({0})
und prüfen nicht nach, ob sie das, was sie nach den bestehenden Gesetzen eigentlich schon jetzt machen
müsste, auch macht.
({1})
Wie soll das dann besser werden?
Indem Sie jetzt einen Kunstgriff vornehmen - dies ergibt sich aus dem Gesetzentwurf, der formal gar nicht
vorliegt, weil er noch nicht in der Ministeriumsabstimmung war -, treten Sie noch mehr Rechte an die Bahn
ab. Sie treten ja sogar Ihre Zustimmungsrechte, über die
Sie im Aufsichtsrat verfügen, schon vorher an die Bahn
ab. Wie soll dann bitte schön die Kontrolle dessen, was
die Bahn insbesondere im Infrastrukturbereich macht,
besser werden? Das Parlament hat dann gar nichts mehr
zu sagen. Es darf allerdings das Geld durchreichen, und
zwar am besten fest verpflichtet auf zehn Jahre und ohne
jede Änderung.
({2})
Sie sagen, Sie wollen Qualitätsmerkmale einführen. Wer
soll denn die dann prüfen?
Die Bundesregierung erklärt uns in ihrer Antwort auf
eine Kleine Anfrage, sie sei nicht in der Lage, detaillierte
Auskünfte über den Zustand des Netzes zu geben. Vor
diesem Hintergrund wollen Sie Qualitätskriterien einführen, die uns weiterhelfen? Zu was das führen soll,
sollten Sie mir einmal deutlich erklären. Vielleicht können Sie mich bezüglich dieses Themas dann doch noch
gläubig machen.
Aber nach dem, was ich bisher sehe, muss ich sagen:
Sie geben noch mehr Rechte an die Bahn ab. Genau das
war die Intention des Briefes von Herrn Mehdorn. Ich
bin einmal gespannt, ob ich Sie, Herr Dr. Friedrich, an
Ihren Aussagen, die Sie im Oktober letzten Jahres der
„Welt“ gegenüber gemacht haben, messen kann oder
nicht. Für den Fall, dass Sie nicht mehr wissen, was Sie
damals gesagt haben, lese ich Ihnen eine Ihrer Aussagen
noch einmal vor:
Wir wollen, dass der Bund auch künftig aus der Position des Eigentümers mit der Bahn verhandeln
kann.
Wenn Sie das ernst meinen, können Sie dem, was dazu
vorliegt, eigentlich nicht zustimmen. So können Sie
dann nämlich nicht mehr verhandeln. Das ist das eigentlich Entscheidende.
({3})
Nun aber noch zu einigen anderen Punkten. Die Aktuelle Stunde hat ja den Titel „Zustand der Deutschen
Bahn AG vor dem Börsengang“. Herr Kollege, es besteht ja noch außerhalb von Aktuellen Stunden ausreichend Zeit, über den entsprechenden Gesetzentwurf zu
reden. Die Frage ist: Ist das, was uns als sogenannte Erfolgsstory vorgestellt wird, tatsächlich eine Erfolgsstory? Sind die Wirtschaftsdaten, die Wirtschaftszahlen
bzw. die Kennzahlen tatsächlich so, wie sie dargestellt
werden, oder haben wir vielleicht Grund zur Annahme,
dass dies nicht ganz so ist?
Ich will Sie auf eines hinweisen: Die Bahn spricht seit
2005 im Hinblick auf ihre Bilanzkennzahlen nur noch
vom EBIT, also von den „earnings before interest and taxes“. Das ist also der Ertrag vor Abzug von Steuern. Sie
vergleicht das mit dem Betriebsergebnis II. Das Betriebsergebnis ist aber das Ergebnis nach Steuern. Das ist
für mich ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Ich habe
nichts dagegen, dass man das EBIT als Kennzahl heranzieht. Aber dann bitte kontinuierlich, also auch in der
Vergangenheit!
({4})
- Das ist nicht kleines Karo, Herr Kollege Hübner. Es ist
schlimm, dass ein Haushälter so einen Zuruf macht. Den
Unterschied sollten Sie kennen. Es ist nämlich ein UnHorst Friedrich ({5})
terschied, ob ich als Kennzahl das EBIT mit einer
Summe von 1,35 Milliarden Euro heranziehe oder ob ich
davon noch die zu zahlenden Steuern von 1,264 Milliarden Euro abziehen muss. Dann bleiben nämlich nur rund
100 Millionen Euro übrig. Und das ist schon ein Unterschied. Wenn Sie das nicht mehr unterscheiden können okay. Aber für mich ist es schon entscheidend, ob das so
oder anders gemacht wird.
({6})
Ein anderes Thema ist natürlich: Was macht die Bahn
tatsächlich mit den Geldern? Wo sind sie angekommen?
Ich will darstellen, was die gesetzliche Grundlage für die
Finanzierung von Schieneninvestitionen normalerweise
ist. In den diesbezüglichen Regelungen steht sinngemäß:
Der Bund finanziert die Fernverkehrswege der Bahn in
aller Regel mit zinslosen Darlehen, in Ausnahmefällen
mit verlorenen Zuschüssen.
Rot-Grün hat das 1999 umgestellt. Es wird fast ausschließlich nur noch mit verlorenen Zuschüssen finanziert. Ein Vorteil dieser Finanzierung ist: Die Bahn ist
nicht verpflichtet, diese Strecken in der Bilanz zu aktivieren. Für Investitionen, die ich in meiner Bilanz nicht
aktiviere, muss ich auch keine Abschreibungen vorsehen. Nicht umsonst hat der Bundesrechnungshof in einem anderen Bericht nachgewiesen, dass der anrechenbare Vorteil für die Bahn allein aufgrund dieser Situation
bei ungefähr 750 Millionen Euro im Jahr liegt. Bisher
habe ich noch niemanden gehört, der diese Zahl in Zweifel gezogen hat. Das ist nur eine Alternative, an die man
denken sollte.
Am schönsten ist jetzt, dass man sagt, man müsse das
Ganze machen, um der Bahn den Weg als international
tätiger Logistikdienstleister nicht zu verbauen. Da kann
ich nur sagen: Wir haben schon einen international tätigen Logistikdienstleister; er bietet weltweit Logistik an.
Der finanziert das aus der kärglichen Monopolrendite
beim Briefporto.
({7})
Ich möchte nicht, dass mit dem Rückgriff auf den
Staat - nämlich mit mindestens 51 Prozent Eigentümerschaft des Bundes - ein zweiter weltweit agierender
Dienstleister entsteht, der Privatfirmen Konkurrenz
macht, die in dieser Situation nicht auf den Staat zurückgreifen können.
Das ist nicht nötig. Der deutsche Steuerzahler muss
nicht das Risiko für Investitionsentscheidungen eingehen, die die Deutsche Bahn in Asien, in Amerika oder
sonst wo in der Welt vorhat. Das ist das eigentliche Problem, und das müssen wir lösen.
({8})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ein starker Verkehrsträger „Schiene“ mit wettbewerbsfähigen Eisenbahnunternehmen ist ein wesentlicher Eckpfeiler der von der Bundesregierung verfolgten
integrierten Verkehrspolitik. Durch eine effiziente Vernetzung der Verkehrsträger, durch die Sicherung der Angebotsvielfalt und durch die Nutzung der neuen Logistikkonzepte soll ein Gesamtsystem geschaffen und
optimiert werden.
Der Schiene kommt hierbei - nicht zuletzt aus umweltpolitischen Gründen - eine besondere Bedeutung
zu. Nach wie vor gilt das Ziel der Bahnreform 1994,
mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.
({0})
Bei der Fortführung der Bahnreform stehen wir jetzt
vor einem entscheidenden Schritt. Nach sorgfältiger
Analyse verschiedener Varianten und intensiver Prüfung
der damit verbundenen Auswirkungen hat der Deutsche
Bundestag Eckpunkte zu einer Teilprivatisierung noch in
dieser Legislaturperiode beschlossen.
Danach kommen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen in das Eigentum des Bundes. Noch einmal: Sie
kommen in das Eigentum des Bundes. Hier ist ja mehrfach gesagt worden, wir hätten sie jetzt im Eigentum. Sie
sind jetzt im Eigentum einer Aktiengesellschaft und wir
sind 100-prozentiger Eigentümer dieser Aktien.
({1})
Aber wir nehmen sie jetzt in das Eigentum des Bundes.
({2})
Damit ist klar, dass Investoren an Netz und Bahnhöfen
nicht beteiligt werden. Investoren werden an Netz und
Bahnhöfen nicht beteiligt.
Ich habe diese beiden Sätze jetzt doppelt gesprochen,
damit es einen Lerneffekt gibt, weil draußen - auch in
vielen Medien - immer wieder das Gegenteil behauptet
wird. Wir müssen einmal anfangen - wir können uns
auch über Argumente streiten -, uns über Wahrheiten
auseinanderzusetzen, und nicht über Unterstellungen.
({3})
Die DB AG soll aber die Bewirtschaftung und Betriebsführung des Netzes wahrnehmen und dieses auch
bilanzieren. Das bedeutet, dass sie auch Verantwortung
für das Netz hat. Aber wir stellen im Gesetzentwurf
- das, Herr Hermann, haben Sie alles nicht zitiert - sicher, dass das Eigentum an der Infrastruktur vom Bund
in ganz wesentlichen Positionen nicht gefährdet werden
kann.
Der vorzulegende Gesetzentwurf - es ist schon gesagt
worden: Er ist in der Ressortstimmung - muss zum einen sichern, dass der Bund seiner verfassungsrechtlichen
Gemeinwohlverpflichtung nachkommen kann. Zum anderen hat er aber das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des
Unternehmens DB AG zu stärken, ihm die Bilanzierungsfähigkeit der Eisenbahninfrastrukturunternehmen
zu erhalten und damit zusätzliche Schulden und Risiken
für den Bundeshaushalt auszuschließen, im Gegenteil:
Die Bahn geht mehr Risiko ein. Wir begrenzen die finanziellen Mittel, die der Bund bei mehr Qualität, bei mehr
Transparenz und bei mehr Wettbewerb geben muss.
Gemeinwohl auf der einen Seite, ein starker Partner
auf der anderen Seite: Nur durch ein solches Konzept
können wir eine effiziente, bezahlbare und kundennahe
Schieneninfrastruktur auf Dauer schaffen und erhalten.
Eine bereits im Gesetz strukturierte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung gewährleistet die Definition,
die Umsetzung und die Kontrolle des grundgesetzlichen
Infrastrukturauftrages des Bundes. Das ist eine deutliche
Verbesserung gegenüber dem, was wir zurzeit machen
können.
Voraussetzung für die Teilprivatisierung ist, dass die
DB AG durch die notwendigen Fortschritte bei der Unternehmenssanierung die Kapitalmarktfähigkeit des Unternehmens nachweist. Die aktuellen Ergebnisse zeigen,
dass die DB AG dabei auf einem guten Weg ist. Im vergangenen Jahr entwickelte die DB AG sich außerordentlich positiv. Sie hat den Wachstumstrend der letzten
Jahre eindrucksvoll bestätigt. Die DB AG hat die Erwartungen hinsichtlich Umsatz und Ergebnis übertroffen.
Der Umsatz stieg im Jahre 2006 auf rund 30 Milliarden
Euro. Dabei erwirtschaftete die DB AG einen Gewinn
vor Steuern und Zinsen von mehr als 2 Milliarden Euro.
Wichtige Finanzkennzahlen konnten deutlich verbessert
werden. Damit hat die DB AG einen sehr großen Schritt
in Richtung Kapitalmarktfähigkeit getan. So haben sich
Umsatz und Verkehrsleistung gut entwickelt. Andererseits gibt es Erfolge beim Kostenmanagement. Die positive wirtschaftliche Entwicklung im vergangenen Geschäftsjahr vollzog sich in fast allen Geschäftsfeldern.
Hierbei sind die Geschäftsfelder Railion und Fernverkehr hervorzuheben, die im letzten Jahr die Kehrtwende,
den sogenannten Turnaround, geschafft haben.
Eine für die Bundesregierung wichtige Größe ist dabei natürlich die Entwicklung der Schienenverkehrsleistungen. Diese konnten gegenüber dem Vorjahr sowohl
im Personen- als auch im Güterverkehr deutlich gesteigert werden. Rund 1,85 Milliarden Menschen waren in
Zügen der DB AG unterwegs; das sind knapp 4 Prozent
oder fast 70 Millionen mehr Fahrgäste als im Jahr 2005.
Im Schienenpersonenverkehr wuchs die Verkehrsleistung der DB AG um gut 3 Prozent auf rund 75 Milliarden Personenkilometer. Ein wichtiger Erfolgsfaktor war
dabei die Eröffnung neuer Strecken. Zudem konnte die
DB AG - das wissen wir alle - ihre gesteigerte Leistungsfähigkeit auch bei der Fußballweltmeisterschaft beweisen. Die Wettbewerbsfähigkeit konnte somit gestärkt
werden.
Bahnfahren wird attraktiver. Beispielsweise rückt
Leipzig bis auf eine Stunde an die Hauptstadt Berlin heran. Dank der Neubau- und Ausbaustrecke Nürnberg-München sind diese beiden bayerischen Großstädte nur noch rund 60 Minuten voneinander entfernt.
Die Attraktivität des Bahnfahrens ist eine Voraussetzung
für die Fortsetzung des Trends.
Ein außerordentliches Wachstum gibt es auch bei der
Verkehrsleistung im Schienengüterverkehr. Die RailionGruppe konnte im Jahr 2006 um etwa 10,5 Prozent wachsen. Nimmt man die Zahlen des gesamten Schienengüterverkehrs, also von Railion und den Wettbewerbern - sie
befördern inzwischen, wenn man den Einzelwagengüterverkehr ausnimmt, 25 Prozent der Menge -, erkennt man
einen Zuwachs von 8 Prozent. Das ist der höchste Zuwachs seit der deutschen Einheit. Bei der Verkehrsleistung wurde ein Zuwachs von 10,8 Prozent erreicht; mit
105,8 Milliarden Tonnenkilometern überschritt man erstmals die Marke von 100 Milliarden Tonnenkilometern.
Ich darf Sie, Horst Friedrich, darauf hinweisen, was
Sie immer wieder zum Bundesverkehrswegeplan gesagt
haben. Wir haben gesagt, dass wir mit 73 Milliarden
Tonnenkilometern starten; für das Jahr 2015 haben wir
148 Milliarden Tonnenkilometer prognostiziert. Sie haben gesagt, das sei alles Schall und Rauch, wir würden
das nie erreichen. Ich nenne die Zahl noch einmal:
105,8 Milliarden Tonnenkilometer im Jahre 2006.
({4})
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die DB AG
befindet sich aus wirtschaftlicher Sicht auf gutem Wege;
das wird durch die gute Entwicklung zum Jahresbeginn
bestätigt. Wie weit die Bahn auf dem Weg zur Kapitalmarktfähigkeit ist, werden die exakten Zahlen und die Informationen zum wirtschaftlichen Ergebnis zeigen, die
die DB AG auf ihrer Bilanzpressekonferenz am 29. März
veröffentlicht.
Ich will Positives wie auch weniger Positives darstellen. Deshalb sage ich: Wir haben noch wichtige Schritte
zu tun; wir sind aber mitten bei der Umsetzung. Bei der
Frage der Immobilienzuordnung haben wir die Bahn kritisiert. Wir befinden uns jetzt in einem Verfahren, bei
dem in einem ersten Schritt alle Grundstücke, die derzeit
noch bei der DB Holding angesiedelt sind, auf die DB
Netz AG übertragen werden und erst in einem zweiten
Schritt überlegt wird, welche von diesen Grundstücken
wirklich den EVUs, also den Eisenbahn-Verkehrsunternehmen, zuzuordnen sind. Es geht hier um 2 bis 3 Prozent der Grundstücke, die wir dann bis zum 31. Dezember zurückübertragen wollen. Dabei ist die Schrittfolge
wichtig: Zuerst alle Grundstücke zur DB Netz AG.
({5})
Hinsichtlich des Netzzustands und der Netzentwicklung werden wir Ihnen gegen Ende März einen Bericht
der DB AG vorlegen können, der qualitativ wesentlich
besser als der aus dem letzten Jahr sein wird,
({6})
mit dem wir aber letztlich immer noch nicht zufrieden
sein können, weil er bestimmte Voraussetzungen, die wir
an den Netzzustands- und -entwicklungsbericht knüpfen
wollen, noch nicht erfüllt. Es handelt sich hierbei um ein
Verfahren, bei dem enorm viele Zahlen erhoben und umgesetzt werden müssen, bei dem Transparenz geschaffen
werden muss, bei dem Erläuterungen gegeben werden
müssen. Ich glaube, dass wir hier eine sehr gute Darstellung bekommen.
Ich darf daran erinnern, dass gestern bei der Anhörung im Verkehrsausschuss vieles aus dem Bericht des
Bundesrechnungshofes erläutert und richtiggestellt werden konnte. Ich glaube, dass wir dabei sind, die Debatte
zu versachlichen.
Schließlich werden wir bald die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorlegen können.
Ich bin sicher: Wir sichern auf Dauer das Gemeinwohl auf höherem Qualitätsniveau, in einer für den Bund
und damit für den Steuerzahler günstigeren Weise. Wir
holen die Schieneninfrastruktur, also Netz und Bahnhöfe, zum Bund. Wir schaffen einen starken Konzern,
der uns beim Erhalt und Ausbau des Netzes finanziell
unterstützen wird. Wir erhalten den konzerninternen Arbeitsmarkt und sichern Ausbildungs- und Arbeitsplätze.
Wir schaffen eine umweltfreundliche und serviceorientierte Bahn, die den Anforderungen der internationalen
Logistik gerecht wird. Nur so bekommen wir mehr Güter auf die Schiene.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Dorothée
Menzner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden über den sehr kritischen Zustand unserer
Bahn. Es ist ein Skandal, wie die Deutsche Bahn AG unser Schienennetz regelrecht hat verkommen lassen. Es
ist eben schon von Staatssekretär Großmann angesprochen worden: Genau das war nicht das Ziel der Bahnreform von 1994. Ziel war, mehr Verkehr auf die Schiene
zu bringen. Das ist in Teilen gelungen. Aber wie soll
noch mehr Verkehr auf die Schiene, wenn die Gleise marode sind, wenn Weichen ausgebaut und Strecken abgebaut werden?
Konnte sich die Bundesbahn einst rühmen, das bestunterhaltene Gleisnetz der Welt zu besitzen, so präsentiert sich das Netz der Deutschen Bahn heute vielerorts
auf einem sehr fraglichen Niveau. Ich sage: Das hat Methode. Die Koalition strebt an, Teile unserer Bahn an
Großinvestoren zu verhökern. Das Gleisnetz wird vernachlässigt und Personal wird abgebaut oder outgesourct, um die Bahnbilanz zu schönen und das Unternehmen kapitalmarktfähiger zu machen.
Wir kennen die Liste der Kritiker; sie ist lang. Verbände, Professoren und Bahnunternehmen warnen schon
seit geraumer Zeit. Erst jetzt gibt es eine Reaktion, und
zwar durch den Bericht des Bundesrechnungshofs. Er
scheint endlich einige wachgerüttelt zu haben. Dabei
kann jeder, der mit der Bahn reist, tagtäglich erleben,
wie der Zustand ist: Gleise gleichen vielerorts eher
Kräutergärten, und es gibt Verspätungen, die Nerven
rauben. Eine ganze Menge liegt im Argen. - Ich kann Ihnen nicht ersparen, an dieser Stelle eine ganz kurze Passage aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes zu zitieren. Als Hauptthema der Mängelschwerpunkte führen
die EBA-Stellen für das Jahr 2005 an - ich zitiere wörtlich -:
Eine unzureichende Qualifikation des eingesetzten
Personals, ein zu geringer Personalbestand sowie
zu geringe Instandhaltungsbudgets ...
Deutlicher kann man meiner Ansicht nach nicht sagen,
dass hier zugunsten kurzfristiger Bilanzpolitik ein Unternehmen kaputtgespart wird.
({0})
Das ist ungefähr so, als wenn wir unser Häuschen verlottern ließen, die Renovierungskosten sparten und sagten: Wenn das Ding ganz marode ist und komplett saniert werden muss, zahlt das ja der Steuerzahler. - Ich
sage: Das ist ein Irrwitz.
({1})
Wenn die Bahn offensichtlich schon jetzt nicht in der
Lage ist, das Gleisnetz in einem gebotenen Zustand zu
halten, dann sollten wir alle uns gemeinsam fragen, ob
die Rechtsform der Aktiengesellschaft die geeignete ist
und ob das wirklich unser zukünftiger Partner für diese
Aufgabe sein soll.
Kolleginnen und Kollegen, ein direkter steuernder
Einfluss des Bundes auf Schienen, Energieanlagen,
Bahnhöfe und die Immobilien muss dringend wiederhergestellt werden. Ich glaube, wir müssen nicht erst die Erfahrungen machen, die England gemacht hat. Das waren
schlimme Erfahrungen, aus denen sie dann gelernt haben. Vielleicht werden wir ja vorher klug.
Trotz allem legt uns das Verkehrsministerium jetzt einen Gesetzentwurf in der denkbar aggressivsten Variante
vor. Herr Staatssekretär, mit dem Gesetz wird das Wirtschaftsrecht auf den Kopf gestellt. Ihr Modell der Eigentumssicherung begründet, wenn man den Entwurf genau
liest, ein Scheineigentum des Bundes. Mit diesem Gesetz geben Sie jeglichen Einfluss auf die Infrastruktur
ab, und zwar an eine Aktiengesellschaft, die lieber globaler Logistiker spielt, weltweit Logistikfirmen zusammenkauft, Containerterminals in China baut und neuerdings mit Germanwings im Flugverkehr kungelt, statt
sich um das hiesige Schienennetz und den Nah- und
Fernverkehr zu kümmern.
({2})
Ich kann das Ministerium nur auffordern: Halten Sie
inne! Mit dem Gesetz servieren Sie der DB AG die
Schieneninfrastruktur auf dem Silbertablett. Darüber packen sie 37,5 Milliarden Euro in 15 Jahren als süße
Soße. Zusätzlich geben Sie noch das Stimmrecht des
Bundes ab. Damit es dann richtig mundet, wird auch
noch festgeschrieben, dass Sie im Zweifelsfall das
Schienennetz für weitere Milliarden als Leergut zurücknehmen.
Wir haben ein Schienennetz mit einer Gesamtlänge
von 34 000 Kilometern. Wenn man genau rechnet, stellt
man fest, dass der Bahn für den Unterhalt der Strecke, je
nachdem, ob man die Neubau-, Ausbau- und Trassengelder mitrechnet oder nicht, ungefähr 309 000 Euro je Kilometer im Jahr zur Verfügung stehen. Ich finde, das ist
sehr viel Geld. Damit müssten die Aufgaben zu erfüllen
sein. In der Vergangenheit ist das nicht geschehen. Ich
möchte wissen, wo Sie den Optimismus hernehmen,
dass der Konzern seine Hausaufgaben zukünftig trotz
weniger Aufsicht erledigt. Das müssen Sie mir einmal
erklären. Ich rate dringend zu einer Denkpause und zu
einem Neuanfang.
Danke.
({3})
Nächster Redner ist nun der Kollege Enak Ferlemann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich erfreulich, wenn man in diesem
Hause über Bahnpolitik reden kann, insbesondere wenn
der Anlass dafür von denjenigen ausgeht, die sich der
Bahnpolitik einmal sehr verschrieben haben; das hatten
Sie sich vom Bündnis 90/Die Grünen ja einmal.
Wenn man aber den Titel der heutigen Aktuellen
Stunde liest, fällt einem wieder auf, was in Deutschland
in der Politik falsch läuft. Wenn man die deutsche Verkehrspolitik beobachtet und sie mit der Verkehrspolitik
in anderen europäischen Ländern vergleicht, dann stellt
man fest, dass in allen anderen europäischen Ländern
Verkehrspolitiker Lobbyisten für das System Schiene
sind. Bei uns in Deutschland ist das anders: Pausenlos
wird auf dem Unternehmen herumgehackt, alles wird
besser gewusst, alles wird schlechtgemacht.
({0})
Aus verkehrspolitischer Sicht ist das das Falsche; denn
ein Hauptanliegen der Verkehrspolitik ist es doch - dafür
waren auch die Grünen immer -, mehr Verkehr von der
Straße auf die Schiene zu bringen.
({1})
Das erreichen Sie natürlich nicht, wenn Sie das System
pausenlos schlechtreden. Sicherlich gibt es Probleme;
das ist überhaupt keine Frage. Darauf musste das Parlament reagieren. Das haben wir getan. Es wird ein neuer
Unterausschuss gebildet, der sich speziell mit der Schieneninfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen wird.
Warum ist die Privatisierung eine so dringliche Sache? Man könnte ja fragen: Warum macht die Politik
das? Wollen die Politiker die Menschen ärgern bzw. verärgern? Machen sie eine Spaßveranstaltung daraus? Nein, das ist nicht der Fall. Bahnpolitik ist heute Europapolitik. Ich denke, das muss man im Zeitalter des zusammenwachsenden Europas, der Globalisierung einmal
feststellen. Auch im Bereich der Bahnpolitik wächst Europa zusammen: Seit dem 1. Januar dieses Jahres haben
wir einen gemeinsamen europäischen Schienengütermarkt. Ab dem 1. Januar 2010 werden wir auch im Personenfernverkehr einen komplett freien europäischen
Markt haben.
({2})
Darauf muss sich dieses Unternehmen einstellen können. Dafür müssen Investitionen getätigt werden. Diese
Investitionen können wir aber nicht aus dem Staatshaushalt finanzieren, weil es nicht unsere staatliche Aufgabe
ist, diesen Betrieb zu finanzieren. Wenn man Investitionen tätigen will, muss man das Geld vom Kapitalmarkt
holen, und wenn man das will, muss man Kapital privatisieren. So einfach ist das. Deswegen unternehmen wir
alle Anstrengungen, das Unternehmen darauf vorzubereiten.
Es ist unsere Aufgabe, darauf aufzupassen, dass die
Infrastruktur nicht rein betriebswirtschaftlichen Interessen unterworfen wird, sondern für die Allgemeinheit,
vor allem für den Wettbewerb zur Verfügung steht. Deswegen ist es Aufgabe der Politik, darauf zu achten, dass
das Netz in öffentlicher Hand bleibt.
({3})
Das werden wir auch leisten. Wir diskutieren darüber,
wie wir die Kapitalprivatisierung organisieren. Es wird
Aufgabe der CDU/CSU-Fraktion sein, darauf zu achten,
dass das Netz öffentlich bleibt, weil nur ein öffentliches,
für alle zugängliches Netz Wettbewerb garantiert. Nur
wo Wettbewerb herrscht, gibt es bessere Leistungen. Nur
wo bessere Leistungen vorhanden sind, wird das Ziel der
Bahnreform erreicht, mehr Verkehr von der Straße auf
die Schiene umzulenken. Deshalb ist es wichtig, dass wir
uns um die Schieneninfrastruktur kümmern, dass wir uns
darum kümmern, dass nicht im ländlichen Raum Schienen abgebaut werden, dass man sich nicht nur auf den
Schienenverkehr zwischen den Metropolen konzentriert,
sondern Schienenverkehr in der ganzen Bundesrepublik
Deutschland möglich ist. Dafür werden wir sorgen; das
werden wir organisieren.
({4})
Die heutige Aktuelle Stunde hat sicherlich den Sinn,
dass wir uns dessen noch einmal vergewissern. Wir sollten aber aufhören, die Deutsche Bahn AG kaputtzureden. Eine Braut, die man zur Hochzeit führen will, muss
man schmücken. Das ist doch unsere allgemeine Lebenserfahrung.
({5})
Es macht keinen Sinn, die Braut, die wir da auf den
Markt führen, so schlecht darzustellen, dass wir keinen
finden, der sie nehmen will.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bild, das mein Vorredner gebraucht hat, ist interessant. Ich habe in meinem Leben allerdings gute Erfahrungen damit gemacht, mir die Braut, bevor sie geschmückt wird, genau anzuschauen.
({0})
Genau darum geht es auch in dieser Debatte, Herr Kollege.
({1})
Ich will vorneweg sagen: Bei Ihrer Formulierung, wir
sollten Lobbyisten für das System Schiene sein, haben
Sie uns sicher auf Ihrer Seite. Aber bei der Frage, ob das
heißt, Lobbyist für die Deutsche Bahn AG zu sein, nicht.
({2})
Denn die Politik muss schauen, dass sie allen Marktteilnehmern den Zugang zur Schiene ermöglicht.
Schauen wir uns die Braut einmal genau an: Wir haben festgestellt - die Zahlen liegen vor; der Investitionsbedarf kann auch von der Bahn nicht mehr verleugnet
werden -, dass die Schieneninfrastruktur in Deutschland
systematisch vernachlässigt worden ist, von 2001 bis
2005 um 1,5 Milliarden Euro. Übrigens kam dies im
Bundestag - im Jahr 2004 - und auch im Aufsichtsrat
der Bahn immer wieder zur Sprache. Das Interessante
war, dass das Verkehrsministerium nicht in der Lage
war, präzise Auskunft zu geben, ob dieser Vorwurf
stimmt oder nicht. Aber das Parlament hat an dieser
Stelle nicht versagt, wie Sie hier behauptet haben.
Worum geht es eigentlich? Wenn es nach Herrn
Mehdorn gegangen wäre, wäre die Bahn längst an der
Börse. Er hätte, so der Vorwurf, damit die Braut besser
aussieht, den großen europäischen Wettbewerber Deutsche Bahn gespielt und dafür das Netz verkommen lassen. Das ist schon fast Betrug an künftigen Investoren,
wenn ich das einmal wirtschaftspolitisch hart sagen darf
und nicht in dieser Blümlessprache mit der Braut. Also
außen hui: der europäische Player, innen: das Netz vernachlässigt. Jeder, der Bahn fährt, sieht, wie viele Langsamfahrstrecken es gibt. So hat die Politik nicht gewettet. Deswegen sage ich Ihnen: Das bisherige Modell
- dass die Bahn die Investitionsentscheidungen trifft hat versagt. Das Wichtigste, damit mehr Verkehr auf die
Schiene kommt, nämlich die Schiene, wurde vernachlässigt; das halten wir hier einmal fest.
({3})
Genau deswegen wird - auch mit Ihrer Zustimmung ein Unterausschuss des Verkehrsausschusses eingerichtet. Das ist der erste Punkt.
({4})
Der zweite Punkt. Ich will die Debatte einmal in einen
anderen Zusammenhang einordnen; denn eines erstaunt
mich ziemlich: Wir diskutieren in Deutschland seit Monaten zu Recht über Klimaschutzpolitik, wir reden über
das Auto und über Details von der Steckdose bis zum
Stand-by. Doch darüber, was die Deutsche Bahn und die
deutsche Schienenpolitik zur Verbesserung des Klimaschutzes in Deutschland beitragen können, reden wir
viel zu wenig. Da sage ich Ihnen klipp und klar: Wenn
das Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, dann müssen die Schienen in Deutschland in Ordnung sein.
({5})
Dann braucht man Modelle, damit dies systematisch geschieht. Das geht aber nicht - ich sage das an die
Adresse des Verkehrsministeriums gerichtet - mit einem
Modell, nach dem der Bund zwar de jure der Eigentümer
des Netzes wird,
({6})
aber de facto die Bahn ziemlich uneingeschränkt die
Kontrolle über das Netz inklusive der Trassenvergabe
haben wird. Das ist doch der springende Punkt.
({7})
Nach dem neuen Modell kommt das Netz nicht mehr
an die Börse. Aber jeder, der bei der Bahn einsteigt,
weiß, dass es gut ausgefütterte Investitionsgarantien
gibt: 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damit
ist die Braut an der Stelle mehr wert, ohne dass gesichert ist, dass auf der deutschen Schiene mehr passiert
und mehr Wettbewerb möglich ist.
Jetzt frage ich die Ordnungspolitiker, die hier im Saal
sind, und auch die Kollegin vom Wirtschaftsministerium:
Müssen wir eigentlich jeden Fehler, den wir bei Privatisie8896
rungen gemacht haben, zum Beispiel bei den Stromnetzen, bei der Schiene wiederholen? Muss nicht langsam
klar sein, dass es bei einem natürlichen Monopol nicht so
sein darf, dass ein Wettbewerber es besitzt oder wesentlich über es verfügt? Muss mit so etwas nicht aufgehört
werden, wenn man die Auffassung teilt, dass nur effektiver Wettbewerb das Angebot verbessern kann und damit
mehr Verkehr auf die Schiene kommt? Ich frage alle in
diesem Haus: Warum sollten wir den Blödsinn, den wir in
der Energiepolitik gemacht haben, die strukturellen ordnungspolitischen Fehlentscheidungen, im Falle des hochkomplizierten Eigentumssicherungsmodells der Bahn
wiederholen? Ich sage klipp und klar: Wir halten das für
grottenfalsch. Deswegen appellieren wir an alle Beteiligten, auch an die Wirtschaftspolitiker, über die Konsequenzen genau nachzudenken. Sie wollen in diesem Jahr eine
Entscheidung treffen, mit der wir viele Jahre lang unter
ordnungspolitischen Gesichtspunkten wenig Freude haben werden. Das, was Sie vorhaben, kann nach unserer
Überzeugung nicht funktionieren.
({8})
Wenn das Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schiene
zu bringen, dann brauchen wir in Deutschland einen besseren Zustand der Schiene, mehr Wettbewerb und einen
diskriminierungsfreien Zugang zur Schiene für alle
potenziellen Wettbewerber. Das bedeutet für mich ein
europäisches Bahnsystem; es geht nicht um die Dominanz eines Wettbewerbers. Andernfalls schaffen wir es
nicht, genügend Verkehr auf die Schiene zu bringen. Das
ist aus klimaschutzpolitischen Gründen aber unbedingt
notwendig.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nun hat das Wort der Kollege Uwe Beckmeyer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Herr Kuhn, die
Diskussion, die wir führen, ist etwas exotisch. Diese Bemerkung ist nicht nur an Sie, sondern auch an die Kollegin Menzner gerichtet.
Worum geht es eigentlich? Es geht um den nachhaltigen Versuch, im Rahmen eines Auftrags und unter Berücksichtigung klarer Vorgaben des Deutschen Bundestages eine Teilkapitalprivatisierung der Deutschen Bahn
AG zu exekutieren. Dass ein Parlament der Regierung
15 Eckpunkte für die Erarbeitung eines Gesetzentwurfs
mit auf den Weg gegeben hat, das hat es lange nicht
mehr gegeben. All das, was Sie gerade angesprochen haben - ich nenne die Stichworte Wettbewerb, klare Kapitalaussagen und Eigentumsfragen -, ist zu regeln, und
zwar dergestalt, dass das deutsche Volk, der Steuerzahler, die Bundesrepublik Deutschland im Besitz des Netzes bleibt.
({0})
- Kollege Hofreiter, machen Sie Ihren Zuruf doch in unserem Ausschuss. - Es geht darum, dass das Netz im Eigentum des deutschen Volkes bleibt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass wir keine Kapitalbeteiligungen
Dritter an diesem Netz wollen. Diese klare Aussage ist
Inhalt des Auftrags des Deutschen Bundestages. Vor diesem Hintergrund ist all das, was hier geschieht, etwas
exotisch.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, was wir momentan bei Telekom und Post erleben. Die Arbeitsplätze,
die bei diesen beiden Unternehmen noch vorhanden
sind, sind durch den Wettbewerb bzw. aufgrund von
Lohndrückerei gefährdet. Wir sollten aufpassen, dass
uns das nicht auch bei der Bahn passiert. Unser Kollege
Martin Burkert wird gleich sicherlich noch etwas zu diesem Thema sagen, und zwar speziell aus der Sicht der
Arbeitnehmer.
({1})
Nun noch eine Bemerkung zum Thema „Verkehr auf
die Schiene“. Im Rahmen der Bahnreform hatten wir die
Vorgabe zu erfüllen, mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen. Ein weiteres Ziel der Bahnreform im Jahre
1994 war die nachhaltige Entlastung des Bundeshaushalts.
({2})
Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht in gefährliches Fahrwasser geraten. Da wir sehr viel Geld in dieses
Unternehmen investieren, müssen wir dafür sorgen, dass
das Bestmögliche dabei herauskommt.
Seit 1994, als die Bahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde und der Deutsche Bundestag sie formal
privatisiert hat, sind die Möglichkeiten des Prinzipals,
Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen, zugegebenermaßen relativ gering. Die drei „schwachen“ Staatssekretäre, die im Aufsichtsrat saßen, haben nur bedingt gehandelt. Das ist, wie ich glaube, meine und auch Ihre
Erkenntnis.
({3})
Wir müssen diese Struktur etwas anders organisieren
und zum ersten Mal Leistung und Finanzierung miteinander verknüpfen.
({4})
- Sie haben schon Ihre Gelegenheit gehabt. - Die Geldleistungen des Bundes - 2,5 Milliarden Euro pro Jahr müssen durch einen entsprechenden Vertrag mit der
DB AG mit entsprechenden technischen und investiven
Leistungen verbunden werden. Diese Leistungen müsUwe Beckmeyer
sen nachweisbar sein. Das gehört endlich auf den Tisch
dieses Hauses, damit wir wissen, was mit dem Geld des
deutschen Steuerzahlers passiert.
({5})
Das werden wir in einem solchen Teilprivatisierungsgesetz unterbringen müssen. Einen solchen Fortschritt haben wir in der Vergangenheit - in den letzten 15,
16 Jahren - nie erreicht, aber er wird kommen.
Ich höre immer, dass Vorurteile bedient werden.
Liebe Frau Menzner, Sie waren im Ausschuss. Ich habe
den Präsidenten des Eisenbahn-Bundesamtes gefragt:
Herr Präsident, sind die Schienen in Deutschland sicher? Er hat geantwortet: Jawohl, Herr Abgeordneter, die
Schienen in Deutschland sind sicher. - Um das einmal
deutlich zu sagen: Wenn Sie hier behaupten, dass die
Schienen marode sind und vernachlässigt werden, dann
ist das gelogen.
({6})
Ich darf an dieser Stelle einmal festhalten: Wir müssen
schon bei der Wahrheit bleiben.
Dass, wie in jedem Jahr, ein Unterhaltungsaufwand
notwendig ist, ist richtig. Dass das Schienennetz älter
wird, ist auch richtig. Es gibt aber eine plausible Begründung dafür: In den 70er- und 80er-Jahren und vor allen
Dingen in den neuen Ländern nach 1990/91 gab es einen
Investitionspeak. Er wandert momentan durch die Jahre
und wird nicht in jedem Jahr in gleicher Höhe erneuert.
Dadurch wird das Schienennetz im Gesamten betrachtet
momentan älter.
Wir müssen aktuell in ganz bestimmten Bereichen zusätzliche Investitionen tätigen. Nach 25 Jahren sind die
Hauptmagistralen zu ersetzen; das ist einfach und klar.
Das ist das Problem, vor dem die Bahn momentan steht.
Dafür wurde das Programm „Pro Netz“ von der DB AG
als Investitionsrahmen aufgelegt. Wir sind auch bereit,
Geld dafür zu geben. Das ist doch logisch und plausibel.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wenn wir
der Bahn zusätzliche wirtschaftliche Mittel zubilligen
wollen, selbst aber nicht noch mehr öffentliche Gelder
dafür ausgeben können und wollen, dann muss sich
diese Aktiengesellschaft am Kapitalmarkt finanzieren
können - ich glaube, das ist logisch -, aber bitte so, dass
wir den Zugriff auf das Netz behalten und damit Herr im
Hause bleiben.
Schönen Dank.
({7})
Nun hat der Kollege Norbert Königshofen für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich mich bei den Grünen dafür bedanken,
dass sie den Antrag gestellt haben, gibt er uns doch Gelegenheit, Herr Hermann, zu beiden Punkten, die Sie angesprochen haben, etwas zu sagen, nämlich zum Ersten
zum Zustand des Schienennetzes und zum Zweiten zum
Börsengang der DB AG.
Der Zustand des Schienennetzes war gestern im Verkehrsausschuss Gegenstand einer sehr intensiven Debatte. Wir haben einen Untersuchungsausschuss, Entschuldigung, einen Unterausschuss
({0})
eingerichtet, der aber auch ein Untersuchungsausschuss
sein kann - man muss immer bedenken, dass die Vorwürfe des Bundesrechnungshofs erheblich sind -, und
werden den Dingen nachgehen. Ich darf Ihnen sagen,
dass ich die Fragen, die ich gestern gestellt habe - Was
ist abgerufen worden? Was ist bereitgestellt worden? Wo
sind die Eigenmittel geblieben? Wie kommt es zu einer
so hohen Verschuldung? -, auch noch einmal schriftlich
gestellt habe. Ich hoffe, dass sie beantwortet werden.
Darauf kommen wir noch zurück.
Herr Kuhn, es ist richtig: Man muss schauen, wie die
Braut aussieht, bevor man sie zum Altare führt.
({1})
Dennoch - das will ich deutlich sagen -: Wir wollen die
Braut zum Altare führen. Wir wollen die Teilkapitalprivatisierung des Betriebs der Deutschen Bahn AG.
({2})
Wir wollen aber auch, dass der Bund alleiniger Eigentümer des Netzes bleibt; das ist gesagt worden. Wir sind
einverstanden, dass die DB AG die Infrastruktur für eine
begrenzte Zeit bewirtschaftet. Das ist der Preis der Koalition. Eine große Mehrheit von uns ist für die sofortige
Trennung von Netz und Betrieb.
({3})
Aber - das sage ich in aller Offenheit - wir müssen das
gemeinsam stemmen.
({4})
Ich bin froh, dass Herr Staatssekretär Großmann, der im
Ministerium für diese Fragen zuständig ist, persönlich
anwesend ist.
Die Eigentumsfrage ist entscheidend. Das haben wir
immer wieder gesagt. Ich darf auf den bereits erwähnten
Entschließungsantrag verweisen. Wir werden den gesamten Gesetzentwurf darauf abklopfen, ob sich das,
was wir gemeinsam beschlossen haben, darin wiederfindet.
({5})
- Was sich nicht wiederfindet, Herr Kollege Friedrich,
wird nachträglich mit aufgenommen. Sonst wird die
Union dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Auch darauf können Sie sich verlassen.
({6})
Warum sind wir dafür, dass die Eisenbahninfrastruktur im Eigentum des Bundes verbleibt? Nach Art. 87 e
des Grundgesetzes hat der Bund die Infrastrukturverantwortung. Das entspricht auch unserer Erfahrung: Wenn
etwas mit der Bahn ist, dann gehen die Leute nicht zum
Bahn-Tower, sondern sie kommen zu uns. Wir geben
auch das Geld dafür. Wie bereits erwähnt wurde, zahlt
der Bund 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Das sind insgesamt 37,5 Milliarden Euro. Wie bereits
angekündigt wurde, ist damit noch nicht das Ende der
Fahnenstange erreicht. Sie können davon ausgehen, dass
wir angesichts dieser gigantischen Summe darauf achten, dass das Geld nicht sachfremd ausgegeben wird,
sondern der Infrastruktur zugutekommt. Das wird unser
oberstes Bestreben bleiben.
({7})
Wir sind für eine kurze Bewirtschaftungszeit durch
die Bahn mit der Möglichkeit des Rückfalls an den
Bund, weil wir den Wettbewerb im Blick haben. Es ist
nämlich ein Problem, dass derjenige, dem das Netz gehört und der es selbst befährt, kein großes Interesse daran hat, dass es von anderen genutzt wird. Es wird immer wieder darüber geklagt, dass auf Strecken, die von
anderen befahren werden, plötzlich Instandhaltungsarbeiten notwendig sind. Ich will das jetzt nicht vertiefen.
Aber wir werden darauf achten müssen, dass wirklich
Wettbewerb stattfindet; denn nur durch Wettbewerb erzielen wir die notwendigen Effizienzgewinne, um mehr
Verkehr auf die Schiene zu verlagern.
Wichtig wird auch sein, dass nach Ablauf der zehn
Jahre - wir verhandeln noch über die Frist -, sofern der
Bundestag keine Verlängerung beschließt, das Eigentum
ohne Wenn und Aber an uns zurückfällt, und zwar nicht
zu gigantischen Preisen, sondern mit einer angemessenen Entschädigung der Aufwendungen der DB AG aus
eigenen Mitteln und keinen Cent mehr. Wir wollen nämlich das Netz nicht zweimal bezahlen: zunächst über die
Jahrzehnte durch den Steuerzahler und dann später noch
einmal.
({8})
Auch für die Arbeitnehmer ist das ein wichtiges
Thema. Das Eigentum des Bundes am Netz bedeutet zumindest für die Kollegen, die in diesem Bereich arbeiten,
sehr komfortable Bedingungen im Vergleich zu denen,
die sich nach der Privatisierung im freien Wettbewerb
bewegen.
({9})
Das zeigt schon ein Blick in die jüngere Wirtschaftsgeschichte. Insofern liegt es im Interesse der Arbeitnehmer, dass unsere Vorhaben umgesetzt werden.
Die Präsidentin mahnt mich zu Recht. Es soll schließlich keiner länger reden als der andere.
Wir sind zuversichtlich. Ich hoffe, dass wir gemeinsam einen vernünftigen Weg finden, das Ganze auf die
Schiene zu bringen. Ich hoffe, dass wir am Ende feststellen können, dass wir etwas geleistet haben, was der
Wirtschaft und den Menschen in Deutschland dient.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Worum geht es eigentlich heute in dieser Aktuellen
Stunde? Beim Lesen Ihrer Presseerklärung habe ich
mich gefragt: Was wollen Sie von den Grünen erreichen,
und passt das eigentlich zum Titel dieser Aktuellen
Stunde?
Wir wollen, dass die Bundesregierung endlich vor
dem Plenum des Deutschen Bundestags Auskunft
über die Pläne zum Börsengang der DB AG gibt.
Wozu eigentlich? Sie wissen doch schon alles. Sie sind
auch mit Ihrer Bewertung schon fertig. Herr Kuhn hat
geschrieben: „ein Skandal“! In der Presseerklärung heißt
es:
Mit dem bekannt gewordenen Gesetzentwurf der
Bundesregierung droht der Staat seinen Einfluss auf
das Schienennetz als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge vollständig preiszugeben. Es geht um die
Kernfrage, ob die umwelt- und klimafreundliche
Bahn gestärkt wird oder ob das Schienennetz zum
Renditeobjekt wird
({0})
und daher Bahnstrecken im ländlichen Raum aus
Kostengründen stillgelegt werden.
Direkt danach ist aber von Wettbewerb und privater
Konkurrenz die Rede, man beklagt den Netzzustand und
die unterlassene Instandhaltung. Damit sind alle Ihre Widersprüche und die Ihrer Freunde, die Sie argumentativ
unterstützen, benannt: Warum ist der Netzzustand so
schlecht? Sie sagen: Das Netz muss in staatlicher Hand
bleiben. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Nur, war das
Netz bislang nicht staatlich? Wir tragen dafür gemeinsam Verantwortung. Die entscheidende Frage ist also
nicht, ob das Netz staatlich ist oder nicht. Vielmehr geht
es um die Steuerungsfunktion. Hierfür muss eine Lösung
gefunden werden.
({1})
Aber es genügt nicht, das Netz in öffentlichem Eigentum
zu belassen. Vielmehr geht es um die Kriterien, nach denen dieses öffentliche Eigentum bewirtschaftet wird. Genau dieses Problem lösen Sie mit Ihrem Ansatz, dem
Trennungsmodell, nicht.
({2})
- Hören Sie doch einmal zu!
Was nutzt Ihnen eine noch so gute staatliche Infrastruktur mit einem klimafreundlichen Verkehrssystem in
öffentlichem Eigentum, wenn nach Wettbewerbsgesichtspunkten, nach privaten Gewinninteressen kein Unternehmen Strecken im ländlichen Raum befahren will?
({3})
Wie wollen Sie denn das Problem lösen? Wenn das
Bahnnetz die Börsenreife verhindert, weil der Netzzustand so schlecht ist, wollen Sie dann noch mehr Staatsknete in das Netz stecken, damit die Wettbewerber der
Privatwirtschaft umso gewinnbringender auf dem Netz
fahren können?
({4})
- Ich kann verstehen, dass Sie unruhig sind.
({5})
Nach welchen Kriterien soll denn ein staatliches Netz
bewirtschaftet werden, das isoliert einer Vielzahl von
privaten Wettbewerbern gegenübersteht? Was hilft Ihnen
denn ein staatliches Netz, auf dem alle Kosten und Lasten liegen und auf dem der Kampf der privaten Wettbewerber um dieselben umsatzstarken Strecken stattfindet,
während die Nebenstrecken nur betrieben werden können, wenn Sie zu den Trassenentgelten noch etwas
drauflegen?
({6})
Ihre Kritik am Gesetzentwurf, eine rechtlich starke
Position des Bundes als Eigentümer der Infrastruktur sei
nicht gewollt, ist also unredlich. Wo ist denn die Stärke
dieses staatlichen Netzes, wenn Sie es vom Betrieb abtrennen und den Betrieb allein dem privaten Wettbewerb
ausliefern? Alle Welt spricht davon, dass die Verkehrsträger von Luft, Straße, Wasser und Schiene verzahnt
werden müssen, und zwar gerade im Interesse der
Schiene. Alle Welt spricht von der Globalisierung der
Verkehrssysteme. Was ist denn falsch daran - genau das
beklagen Sie -, wenn sich die Bahn auch auf der Straße,
in der Luft und bei den Schnittstellen zwischen den Verkehrssystemen engagiert? Was ist denn falsch daran,
wenn sich die Bahn international aufstellt? Das kann
man doch nicht allen Ernstes beklagen, wenn man etwas
von Verkehrspolitik im wirtschaftlichen Sinn versteht.
Man kann sicherlich viele Zweifel daran haben, ob
sich die Widersprüche zwischen privaten Gewinninteressen und öffentlichen Interessen im Sinne des Grundgesetzes mit einer Teilprivatisierung ausbalancieren lassen.
Die Erfahrungen, die wir in anderen Bereichen gemacht
haben, sind durchaus ambivalent. Aber eines muss allen
Trennungsfans, ob sie bei der FDP, der Straßenverkehrslobby oder den Grünen sind, klar sein: Diese Divergenz von Interessen und Mechanismen kann man
nicht auflösen, indem man den Staat das Netz im Sinne
des Gemeinwohls betreiben lässt, während man den
Fahrbetrieb nach privaten Gewinninteressen organisiert.
Wir werden sicherlich noch über vieles diskutieren
müssen. Aber eine Zerschlagung der Bahn als Ganzes,
als gemeinsames Verkehrssystem, bei dem Bestandteile
der Infrastruktur und der Fahrbetrieb miteinander abgestimmt und verzahnt werden, ist mit uns nicht zu machen, genauso wenig wie die Zerschlagung des internen
Arbeitsmarktes. Wir werden die Bahn nicht auf den Pfad
des Niedriglohnsektors schicken. Deswegen sind wir
sehr gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen und von der FDP, wie Sie diesen Widerspruch
auflösen wollen, der in Ihrem Denkansatz steckt.
({7})
Nun hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute - so ist das Thema angemeldet worden - über den Zustand der DB AG vor dem Börsengang. Wir diskutieren nicht über einen endgültigen,
ressortabgestimmten Gesetzentwurf; denn den gibt es
noch gar nicht. Bekanntlich hängt aber alles mit allem
zusammen. Deswegen will ich mich dem Kernthema,
das angemeldet wurde, zuwenden.
13 Jahre Bahnreform haben durchaus positive Ergebnisse gebracht. Insbesondere ist durch erhebliche Anstrengungen die Produktivität des Unternehmens ständig
gesteigert worden. Die interne Strukturreform hat die
Kundenorientierung deutlich verbessert. Insgesamt ist
der Schienenverkehr in Deutschland viel moderner,
schneller und attraktiver geworden. Dies ist das Verdienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der jeweiligen Unternehmensleitung der DB AG, wofür wir
als Gesetzgeber insgesamt sehr dankbar sein dürften.
({0})
Dirk Fischer ({1})
Ich will aber darauf hinweisen, dass sich der Bund an
dieser Entwicklung erheblich beteiligt hat. Das belegen
die enormen finanziellen Mittel, die bereitgestellt worden sind. Allein für den Schienenpersonennahverkehr
werden Regionalisierungsmittel in Höhe von rund 7 Milliarden Euro jährlich an die Länder überwiesen. Im
Zeitraum 1994 bis 2006 wurden den Ländern rund
71 Milliarden Euro zur Bestellung von Zugleistungen
zur Verfügung gestellt.
({2})
Insgesamt hat der Bund seit 1994 rund 232 Milliarden
Euro zur Optimierung des Systems Schiene in unserem
Lande eingesetzt, eine gewaltige Summe, die ihren Niederschlag in der Verbesserung der Lage gefunden hat.
Wenn wir heute diesen Zustand kritisch debattieren
- wir müssen uns als Gesetzgeber bewusst sein, auf welchem Weg wir uns befinden -, müssen wir feststellen,
dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Was am meisten
glänzt, ist oftmals die Eigenpropaganda der DB AG, die
mit den Tatsachen nicht im Einklang steht.
({3})
Die zwei entscheidenden Ziele der Bahnreform sind
längst noch nicht verwirklicht. Wir hatten uns eine stärkere Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf
die Schiene vorgenommen. Das Verkehrsaufkommen in
Tonnenkilometern - nur dieser Leistungsbegriff ist wirklich relevant - im Schienengüterverkehr konnte nicht gesteigert werden, und er liegt heute immer noch unter
dem Wert von 1994. In der gleichen Zeit hat der Lkw im
Modal Split 1994 64,6 Prozent gehabt und im Jahr 2005
- die letzte offizielle Zahl in den Unterlagen des Ministeriums - 69,7 Prozent. Absolut war das eine Steigerung
von 272 Milliarden Tonnenkilometern auf 404 Milliarden Tonnenkilometer. Hier müssen noch gewaltige Anstrengungen im System unternommen werden, um den
Trend, dass der Verkehr ungehemmt auf die Straße geht,
abzubremsen und eine Umkehr in die andere Richtung
zu erreichen.
({4})
Allerdings muss man darauf hinweisen, dass die Entwicklung bei der DB AG in den letzten zwei bis drei
Jahren, auch gemessen in Tonnenkilometern, die Hoffnung genährt hat, dass wir dies in der Zukunft schaffen
können.
Eine nachhaltige Entlastung des Steuerzahlers - das
haben meine Zahlen dokumentiert - wurde ebenfalls
nicht erreicht.
({5})
Wenn wir uns fragen, wo die Deutsche Bahn tatsächlich
eigenständig Geld verdient, dann muss man sagen, dass
dies beim Schienenverkehr im Personenverkehr der Fall
ist, wo der Bund den Regionalverkehr subventioniert.
({6})
Sie verdient im Bereich Transport und Logistik ihr Geld
nicht mit dem Verkehr auf der Schiene, sondern - via
Schenker, dem größten europäischen Lkw-Carrier - mit
dem Verkehr auf der Straße, und das deutlich. Auch das
muss man wissen.
({7})
Bezogen auf die Schiene werden rund 60 Prozent der
Umsätze der DB AG nicht vom Markt, sondern vom
Bundeshaushalt generiert.
({8})
Damit besitzt die Deutsche Bahn im Bereich Schienenverkehr in Wahrheit keine unternehmerische Eigenwirtschaftlichkeit,
({9})
da sie nicht in der Lage ist, mit Fahrkartenumsätzen, den
Umsätzen im Schienengüterverkehr und den Nutzerentgelten aus dem Netz die Kosten für Netz und Betrieb zu
erwirtschaften.
Die Neuverschuldung des Unternehmens ist nach wie
vor beträchtlich: 1993/94 hat der Bund die Bahn vollständig entschuldet; damals ging es um 34,3 Milliarden
Euro. Der Konzern hat bis Ende 2006 einen neuen
Schuldenberg von über 20 Milliarden Euro aufgetürmt.
Diese Dinge darf man nicht ausblenden, wenn man den
Zustand des Unternehmens objektiv bewerten möchte.
({10})
Ich will nur summarisch sagen: Letztlich müssen erhebliche weitere Anstrengungen vorgenommen werden,
um die Kennzahlen, die der Kapitalmarkt für einen erfolgreichen Börsengang verlangt, zu erreichen. Hierzu
gehören - Kollege Friedrich hat das angesprochen -: das
EBIT, Betriebsergebnis vor Zinsen, das BE II, das Betriebsergebnis nach Zinsen, der ROCE, die Kapitalrendite, das Gearing, das Verhältnis der Nettofinanzschulden zum Eigenkapital.
Wie vom Gesetzgeber beschlossen, ist die Kapitalmarktreife dem Deutschen Bundestag vor einer Teilprivatisierung der DB AG durch die Bundesregierung darzulegen. Wir werden auch an dieser Stelle unserer
Verantwortung nachkommen müssen.
({11})
Dirk Fischer ({12})
Meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, bekennt sich
zu einer Teilprivatisierung der DB AG und wird diesen
Übergang auch weiterhin positiv begleiten. Voraussetzung ist allerdings, dass dauerhaft gesichert ist, dass der
Bund Eigentümer der Infrastruktur bleibt, und dass sich
die weiteren Reformschritte am Ende vorteilhaft auf den
Bundeshaushalt auswirken.
Herr Kollege, ich erinnere Sie an Ihre Redezeit.
Es ist nicht sinnvoll, Ergebnisse zu erzielen, die
schlechter sind als der Status quo. Wir sollten uns gemeinsam anstrengen, an dieser Reform weiterzuarbeiten;
denn wir alle haben hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
({0})
Nächster Redner ist nun der Kollege Martin Burkert
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte darüber reden, wie die Deutsche Bahn AG
aus Sicht der Beschäftigten vor der notwendigen Teilprivatisierung dasteht. Die 230 000 Beschäftigten dieses
Unternehmens waren in den letzten Jahrzehnten der Garant des Erfolgs.
({0})
Der Produktivitätszuwachs der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter lag allein in den letzten zehn Jahren bei
180 Prozent. Das heißt, heute arbeitet jeder nahezu doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. In diesem Unternehmen ist viel passiert.
Die Kunden sind laut Kundenbarometer - das zeigen
in dieser Woche veröffentlichte Umfragen - hochzufrieden und voll des Lobes für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind motiviert und gut ausgebildet. Grund dafür ist auch, dass wir,
der Bundestag, folgenden Beschluss gefasst haben - ich
darf zitieren -:
Es wird sichergestellt, dass der konzerninterne Arbeitsmarkt der DB und das Beschäftigungsbündnis
fortgeführt werden können.
Was ist dann passiert? Die Gewerkschaft Transnet
und die Bahn haben für diese 230 000 Beschäftigten ein
Beschäftigungsbündnis bis 2010 geschlossen. Andere
Unternehmen in diesem Land verkünden Rekordgewinne - auch bei der Bahn haben wir etwas von 2 Milliarden Euro gehört - und im gleichen Atemzug den Abbau von Arbeitsplätzen. Das ist der Unterschied zu dem
Unternehmen Deutsche Bahn AG, das mehrheitlich dem
Staat gehört.
Was heißt denn jetzt Beschäftigungsbündnis? DB
Job-Service, ein bahninternes Arbeitsamt, ist ein Erfolgsmodell in Deutschland. Wenn heutzutage neue
Stellwerkstechnik angewandt wird, wenn dadurch die
Arbeitsplätze von Schrankenwärtern wegfallen, wenn es
zu Arbeitsplatzverlusten durch Modernisierung kommt,
dann bildet die Bahn aus. Jeder Mitarbeiter wird flexibel
eingesetzt. Versetzungen bis 200 Kilometer und eine maximale Heruntergruppierung um zwei Lohnstufen sind
möglich. Entscheidend ist dabei, dass keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen werden und dass
der Steuerzahler kein Arbeitslosengeld zahlen muss. Das
muss man einmal so deutlich sagen.
Ich komme auf das Schlagwort „Trennung von Fahrweg und Betrieb“ zu sprechen. Herr Königshofen, ich
bin fast entsetzt, heute hören zu müssen, dass Teile der
CDU dafür sind. Was wollen denn die Liberalen:
Catch-as-catch-can - der Markt regelt alles? Sie setzen
- ich sage das hier einmal so deutlich - 50 000 Arbeitsplätze aufs Spiel.
({1})
Ich sage Ihnen nur ein Beispiel - man kann das aber
anhand eines jeden Unternehmens in diesem Konzern
zeigen -: Es gibt 11 000 Wagenreiniger bei der Deutschen Bahn, bei DB Services. In Karlsruhe verdient ein
Wagenreiniger 7,84 Euro, in Regensburg bei gleicher
Tätigkeit 8,23 Euro. Auch das ist moderne Tarifpolitik:
sich den Lebensverhältnissen in diesem Land anpassen.
Wenn es keinen Kontrahierungszwang gäbe - „Kontrahierungszwang“ heißt hier, dass die Auftragsvergabe innerhalb des Unternehmens erfolgen muss -, dann könnte
die Bahn diese Leistung draußen am freien Markt wirtschaftlich einkaufen, für 4,03 Euro zum Beispiel in Bayern, und viel Geld sparen. Aber zu welchen Qualitätsstandards, zu welchen Sozialstandards und zu welchen
Lohnbedingungen? Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten wollen solche Verhältnisse nicht.
({2})
Dieser integrierte Konzern muss bleiben. Dafür gibt
es eine Reihe von Gründen:
Die Sicherheit bei der Beförderung von Personen und
Gütern muss gewährleistet bleiben. - Erster Punkt.
Zweiter Punkt. Die Daseinsvorsorge für die Bürger in
unserem Land muss erhalten bleiben.
({3})
Drittens. Die Bahnindustrie braucht einen verlässlichen Auftraggeber. Im Übrigen habe ich am Wochenende gelesen: Die größten Gewinne in dieser Branche
gab es 2006. Ich frage mich, woher dann ständig Kritik
kommt.
Zum vierten Punkt, dem Güterverkehr. Ich sage Ihnen: Es wird in Deutschland keinen gewinnbringenden
Einzelwagengüterverkehr geben. Wenn der Einzelwagengüterverkehr aber wegfällt, weil dieses Unternehmen
allein dasteht und in die Insolvenz geht, haben wir über
Nacht 40 000 Lkws mehr in diesem Land. Das ist verkehrspolitischer Unsinn. Hier sind im Übrigen 9 000 Arbeitsplätze gefährdet.
Der Konzern muss sich auch im europäischen Wettbewerb behaupten können. Schauen Sie sich in Europa um!
Geschätzter Kollege Königshofen - ich darf noch einmal
auf Sie zurückkommen -, nennen Sie mir ein Land, wo
mehr Eisenbahnverkehrsunternehmen zugelassen sind
als in Deutschland! In Deutschland sind es gegenwärtig
360. - Nur so viel zur Kritik an der Wirksamkeit der Regulierung. Versuchen Sie einmal, in Frankreich ein Eisenbahnverkehrsunternehmen zu eröffnen!
Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig.
Zur Frage der Ausbildungsplätze will ich deutlich sagen: Die Bahn ist der vielleicht größte Ausbildungsplatzanbieter in diesem Land. Es gibt über 7 000 Ausbildungsplätze. Hier sind wir gemeinsam mit der Bahn in
der Verantwortung. Dagegen bilden die Privatbahnen,
die hier gefordert sind, nicht mal zwei Hände voll aus.
Ich sage jetzt nichts mehr zu den wichtigen Beamten
bei der Bahn,
({4})
zur Pünktlichkeit und zum Netz. Aber ich sage noch einmal deutlich, in der Eisenbahnersprache: Das Abfahrtsignal bei der Bahn lautet: Zp 9. Grüne Kelle, grünes
Licht.
({5})
HP 1 - Eisenbahnersprache -, zwei grüne Lichter - Sie
kennen das, Herr Hermann -, an der nächsten Weiche
links. Und dann immer geradeaus in eine zuverlässige,
sichere und kundenfreundliche Bahnzukunft.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Klaas Hübner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ist: Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang. Darum müssen wir jetzt einmal zurückschauen. Was war
1993 der Anlass für die Organisationsprivatisierung der
Bahn? Man hat damals erstens prognostiziert, dass im
Jahre 2003 ohne Bahnreform die Schulden der Deutschen Bahn auf 195 Milliarden Euro anwachsen würden.
Wir haben heute ein Zehntel dieser Schulden bei der
Deutschen Bahn AG. Insofern ist das ein Erfolg dessen,
was wir bisher hinter uns gebracht haben.
({0})
Zweitens ist seinerzeit prognostiziert worden, dass
ohne Bahnreform der jährliche Finanzbedarf der Deutschen Bahn bei 32,5 Milliarden Euro liegen würde. De
facto geben wir heute 19,4 Milliarden Euro pro Jahr aus.
Das sind 13 Milliarden Euro weniger, als wir ohne
Bahnreform hätten ausgeben müssen. Auch das ist ein
deutlicher Vorteil, ein deutlicher Erfolg der bisherigen
Politik.
({1})
Einer der Hauptpunkte bei den Zuschüssen sind natürlich die Regionalisierungsmittel. An der Stelle gestatten
Sie mir als Haushälter ein kritisches Wort an die Länder.
Die Transparenz der Verwendung der Regionalisierungsmittel ist in unseren Augen deutlich verbesserungswürdig.
Der Bundesrechnungshof hat das mehrmals zu Recht angemahnt. Es hat ein Schreiben gegeben, auch an die Landesregierungen. Einige von denen haben gar nicht geantwortet. Ich glaube, wir werden uns im Haushaltsausschuss
und im Parlament damit auseinandersetzen müssen, wie
wir mehr Transparenz in die Verwendung der Regionalisierungsmittel bringen.
({2})
Insgesamt gesehen ist bisher der Werdegang der
Deutschen Bahn nach der Privatisierung ein positiver.
Die Züge sind schneller, moderner und pünktlicher geworden. Die Deutsche Bahn schreibt heute schwarze
Zahlen und hat sich zu einem international tätigen Logistikkonzern entwickelt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind extrem engagiert - mein Vorredner hat darauf
hingewiesen -; sie tragen einen deutlichen Anteil an der
guten Performance der Deutschen Bahn AG. Vor diesem
Hintergrund ein Wort an die Linke, die die Deutsche
Bahn immer wieder als Versager darstellt: Sie werden
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der Deutschen Bahn eine exzellente Arbeit leisten, überhaupt
nicht gerecht mit Ihrer Kritik. Sie sollten sich genau
überlegen, ob Sie zum Bahnfeind werden wollen oder
Bahnfreund bleiben wollen.
({3})
Vor uns liegt nun die Aufgabe, die Parameter für eine
Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG festzulegen.
Wir haben ja einige aufgestellt. Genau an diesen Punkten
wird sich der Gesetzentwurf messen lassen müssen. Wir
wollen das auch tun; denn der Deutsche Bundestag
selbst hat ja beschlossen, unter welchen Kriterien die
Teilprivatisierung vorangebracht werden soll. Ich will
die in meinen Augen wesentlichen Punkte noch einmal
hervorheben:
Wir wollen keine zusätzlichen Risiken für den Bundeshaushalt haben; als Haushälter sei mir gestattet, darauf hinzuweisen. Das wird ein wesentliches Kriterium
sein.
({4})
Das Schienennetz wird nicht an private Investoren gegeben, sondern soll im Eigentum des Bundes bleiben.
Auch an diesem Punkt werden wir den Gesetzentwurf
messen.
({5})
Das Beschäftigungsbündnis - der Kollege Burkert hat
darauf hingewiesen - und der konzerninterne Arbeitsmarkt müssen fortgeführt werden.
({6})
Die Regulierungsinstrumente der Bundesnetzagentur
sollen fortentwickelt werden. Der entscheidende Punkt
wird aber sein, wie die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und Bahn ausgestaltet wird.
Zunächst einmal soll die Substanz des Netzes erhalten bleiben. Ebenso wichtig wie der langfristige Substanzerhalt ist die kontinuierliche Instandhaltung des
Netzes. Hier hat es in der Vergangenheit ganz offensichtlich - ich stimme hier der Opposition zu - Mängel
gegeben. Ich gebe auch zu, dass es im Moment einige
Fehlanreize gibt: Während die Instandhaltung von der
Bahn zu bezahlen ist, sind nämlich Ersatzinvestitionen,
selbst solche, die dadurch entstehen, dass nicht laufend
instandgehalten wurde, vom Bund zu bezahlen. Das
müssen wir korrigieren. Auch ich bin dafür - das
wurde ja auch im Primon-Gutachten festgestellt -, einen Betrag festzuschreiben, den die Deutsche Bahn selber für Investitionen in die Infrastruktur aufzubringen
hat.
Der entscheidende Punkt bei der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung wird aber sein - ich glaube,
das ist ein echter Quantensprung -, dass wir versuchen,
von einer inputorientierten Analyse, wie welches Geld
wofür ausgegeben wird, hin zu einer outputorientierten
Analyse, also inwieweit das Netz wirklich in einem Zustand ist, dass Pünktlichkeit und Schnelligkeit gewährleistet sind, zu kommen. Wir haben schon im Bundeshaushalt Vorsorge dafür getroffen, dass der Bund, dass
der Bundestag unabhängig von der Deutschen Bahn dieses Jahr eine Eigenbewertung des Schienennetzes vornehmen kann. Anhand der Ergebnisse kann dann festgestellt werden, ob die Deutsche Bahn mit den Mitteln, die
wir ihr zur Verfügung stellen, ordentlich umgeht. Wir
werden in dieser Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch festhalten müssen, dass die Deutsche Bahn,
wenn sie unseren Anforderungen nicht gerecht wird, entsprechende Pönalen zu zahlen hat. Ich glaube, dieser
Systemwechsel, den wir vorhaben, ist auch ein entscheidender Schritt zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Bund und Deutscher Bahn AG.
({7})
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung
zum Schluss: Ich habe aus allen Fraktionen Gratulationen für die Wahl in mein neues Amt entgegennehmen
dürfen. Ich freue mich darauf, mit allen Fraktionen in der
neuen Funktion vertrauensvoll zusammenarbeiten zu
können.
Herzlichen Dank.
({8})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der Führungsaufsicht
- Drucksache 16/1993 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/4740 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({1})
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche draußen fortsetzen würden,
könnten wir uns auf die Debatte konzentrieren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Zahl der Schwerverbrechen in Deutschland
sinkt, und zwar seit Jahren. Der Bundesinnenminister
und ich haben vor kurzem unseren Sicherheitsbericht
vorgestellt. Daraus ergibt sich: In den vergangenen
zwölf Jahren ist die Zahl der Tötungsdelikte um fast
30 Prozent zurückgegangen. Auch die Zahl der schweren Sexualstraftaten wird geringer.
({0})
Beim sexuellen Missbrauch von Kindern betrug der
Rückgang gut 10 Prozent.
Umfragen zeigen jedoch, dass, quasi umgekehrt proportional dazu, bei einem Großteil der Bevölkerung das
Bedrohungsgefühl zunimmt. Viele Menschen haben den
Eindruck, die Kriminalität werde immer schlimmer.
Nach der Ansicht von Fachleuten hat dies vor allen Dingen etwas mit den Medien zu tun. Die Zahl der Verbrechen sinkt zwar; die Berichterstattung wird aber intensiver und stärker aufgemotzt. Das führt, wie wir wissen,
dazu, dass ältere Frauen besonders große Angst vor
Überfällen haben, obgleich sie zu der mit Abstand
kleinsten Gruppe gehören, während die jungen Männer,
die sich für stark halten und keine Ängste haben, am
häufigsten Opfer von Raubüberfällen werden.
Die gefühlte Unsicherheit hat aber gewiss auch
Gründe jenseits der Kriminalität. Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg oder bestimmte Aspekte der Globalisierung,
auch das empfinden viele Menschen als Existenzbedrohungen, denen sie hilflos gegenüberstehen. Wenn wir
also wollen, dass die Menschen in Deutschland nicht nur
sicher sind, sondern sich auch sicher fühlen, dann dürfen
wir diese Tatsachen nicht ausblenden.
({1})
Tatsache ist aber auch: Jede Straftat ist eine Straftat zu
viel. Unsere Aufgabe ist es, den besten Schutz vor Kriminalität zu schaffen, der im freiheitlichen Rechtsstaat
möglich ist. Gerade in Bezug auf den Schutz vor Sexualstraftätern und Wiederholungstätern haben wir in der
Vergangenheit eine Menge getan. Ende der 90er-Jahre
wurden die Vorschriften bezüglich der Sicherungsverwahrung in verschiedenen Schritten verschärft. 2004
wurde die Strafandrohung für den sexuellen Missbrauch
bei Kindern erhöht. Vor zwei Jahren haben wir den
DNA-Test als Ermittlungsinstrument ausgeweitet, insbesondere um Sexualstraftätern schneller habhaft zu werden.
Die Reform der Führungsaufsicht, die heute beschlossen werden wird, ist eine weitere Maßnahme, um
Rückfällen besser vorzubeugen. Führungsaufsicht dient
vor allem der Betreuung und Überwachung von Verurteilten, die eine längere Freiheitsstrafe verbüßt haben oder aus einer Klinik entlassen werden. In Zukunft
können ihnen mehr und differenziertere Weisungen erteilt werden. Wir verschärfen den Strafrahmen bei Verstößen gegen diese Weisungen, und wir verbessern die
Befugnisse, um die Einhaltung dieser Weisungen auch
wirksam kontrollieren zu können.
Vorgesehen ist unter anderem ein Kontaktverbot. Verurteilten kann künftig untersagt werden, sich nach der
Entlassung dem einstigen Opfer zu nähern. Demjenigen,
der sich schon einmal an einem Kind vergangen hat,
kann verboten werden, Kontakt mit fremden Kindern
aufzunehmen, beispielsweise Spielplätze oder Freibäder
zu besuchen. Wird gegen diese Auflagen verstoßen, ist
das ein eigenständiger Straftatbestand, was hoffentlich
als hinreichend abschreckendes Signal wirkt. Der einzelne Betroffene merkt deutlich: Der Staat hat mich weiter im Visier; ich muss darauf achten, dass ich mich
wohlverhalte.
Darüber hinaus ist es möglich, Entlassenen die Auflage zu erteilen, sich regelmäßig bei einem Therapeuten
oder einer forensischen Ambulanz zu melden. Die Einnahme von Medikamenten kann auf diese Weise kontrolliert werden; es ist auch im Interesse des Betroffenen,
sich einmal in der Woche zu einer kontrollierten Medikamenteneinnahme einzufinden, statt in einer Haftanstalt zu verbleiben.
Außerdem sorgen wir für eine rasche stationäre Krisenintervention. Täter, deren Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt
ist, können in Zukunft bei akuten Krisen schneller stationär untergebracht und behandelt werden.
Mit diesem Gesetz haben wir nach meiner Meinung
eine gute Chance, die Zahl der Rückfalltäter weiter zu
verringern. Ob es tatsächlich in der Praxis wirksam ist,
hängt ganz entscheidend davon ab, wie die Länder es
ausfüllen.
({2})
Sie sind nämlich dafür zuständig, die Infrastruktur zu
schaffen, die für eine straffe Handhabung der Führungsaufsicht, die wir uns in vielen Fällen wünschen,
notwendig ist. Sie müssen Ambulanzen fördern und die
Einrichtung von Krisenbetten in der Psychiatrie sicherstellen. All das kostet eine Menge Geld. Wenn es um
den Ruf nach härteren Gesetzen geht, dann gehen einige Landespolitiker gerne vorneweg. Aber durch verbale Kraftmeierei wird Deutschland nicht sicherer.
({3})
Mein Appell an die Länderminister lautet deshalb:
Zeigen Sie bitte auch dann Härte, wenn es um die Finanzierung geht! Dann wird die Reform der Führungsaufsicht ganz gewiss ein Erfolg.
({4})
Lassen Sie mich noch kurz auf den zweiten Komplex
dieses Gesetzesvorhabens eingehen. Wir erleichtern mit
diesem Gesetz die nachträgliche Verhängung der
Sicherungsverwahrung in sogenannten Altfällen. Bei
den Verhandlungen zur Wiedervereinigung hatte sich die
DDR gegen die Einführung einer Sicherungsverwahrung
in Ostdeutschland entschieden. Das ist zwar inzwischen
geändert worden. Aber für die Taten, die vor 1995 begangen wurden, gibt es noch immer Klarstellungsbedarf.
Das hängt auch mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zusammen.
Diesen unbefriedigenden Zustand werden wir mit
dem jetzt zu verabschiedenden Gesetz ändern. Wir ermöglichen künftig auch für diese sogenannten Altfälle
die nachträgliche Sicherungsverwahrung, wenn sich die
Gefährlichkeit des Täters schon bei dessen Verurteilung
gezeigt hat, aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Sicherungsverwahrung möglich war. Natürlich bleibt es dabei,
dass eine Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters erfolgen muss und dass bewertet werden muss, welche
Fortschritte er bei der Resozialisierung gemacht hat. Es
bleibt auch dabei, dass unabhängige Gutachter ein psychologisches Gutachten hinsichtlich der Frage erstellen
müssen, ob eine Sicherungsverwahrung angemessen ist.
Es bleibt ebenfalls dabei, dass alle zwei Jahre diese
Gutachten überprüft werden. Für die Täter besteht also
nach wie vor eine echte Chance der Resozialisierung.
Die Sicherungsverwahrung muss nämlich das bleiben,
was sie nach Ansicht dieses Hauses sein soll: eine AusBundesministerin Brigitte Zypries
nahme für extreme Einzelfälle, eine Ausnahme für außergewöhnlich gefährliche Täter.
Beide Instrumente dienen dem Ziel, in unserer Gesellschaft einen besseren Schutz vor Rückfalltätern zu garantieren, auch wenn es eine totale Sicherheit in einem
freien Land natürlich niemals geben kann. Wir sind
schon heute eines der sichersten Länder der Welt; wir
wollen es auch gerne bleiben.
({5})
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch bemerken, dass wir nicht nur ein Land sein wollen, das sicher
ist, sondern dass wir auch ein Land sein wollen, in dem
geschiedenen Ehefrauen und nicht verheirateten Müttern
der Unterhalt ermöglicht wird. Deswegen möchte ich um
Nachsicht bitten, dass ich jetzt zu einem Gespräch über
die Unterhaltsrechtsreform gehen muss.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, ich habe hier schon mehrfach betont,
dass es Aufgabe der Opposition ist, dann zu kritisieren,
wenn etwas zu kritisieren ist. Aber die Opposition muss
sich auch dann zu Wort melden, wenn etwas gut ist. Ich
glaube, dass das, was wir heute beraten, grundsätzlich
gut ist.
({0})
Daher findet die Reform der Führungsaufsicht ausdrücklich unsere Zustimmung.
Frau Ministerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es immer wieder Diskussionen gibt, wie man
mit denen umgeht, die schwerste Verbrechen insbesondere an Kindern begangen haben. Die Vorgänge, die wir
in den letzten Wochen erlebt haben, haben wieder einmal
zu einer solchen Diskussion geführt. Der Eindruck in der
Öffentlichkeit, dass die Zahl der Kindestötungen gestiegen ist, ist falsch. Wir hatten einen Höhepunkt in den
60er-Jahren. Danach ist diese Zahl erfreulicherweise zurückgegangen.
Sie haben in diesem Zusammenhang zu Recht gesagt:
Jedes getötete Kind ist ein Kind zu viel. Trotzdem gehört
es zur Wirklichkeit, zu sagen, dass wir derzeit Gott sei
Dank die niedrigsten Zahlen haben, die wir je in unserem Lande hatten. Das ist auch gut so.
({1})
Aber ich bin der Auffassung, dass wir die Verantwortung für das Gefühl der Menschen nicht allein bei den
Medien abladen dürfen. Auch wir als Politiker sind in
der Verantwortung; denn jedes Mal, wenn etwas passiert,
findet in der Politik ein Überbietungswettbewerb dahin
gehend statt, was alles geändert werden soll. Ich finde,
gerade als Rechtspolitiker sind wir aufgerufen, Vorschläge zu machen, wie sich etwas wirklich vernünftig
ändert, damit sowohl die Rechte der Betroffenen als
auch die der Opfer in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gebracht werden.
Ich denke, dass deshalb die Führungsaufsicht eine
ganz wichtige Funktion hat. Es muss einen nachdenklich
machen, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten, also
derjenigen, die praktisch in Haft bleiben, in den letzten
zehn Jahren um 120 Prozent gestiegen ist. Diese Zahl hat
sich enorm erhöht. Gleichzeitig ist die Führungsaufsicht
ein Mittel, das eigentlich sehr ideal ist. Auf der einen
Seite kann man Weisungen erteilen, die verhindern, dass
es zu Rückfalltaten kommt. Auf der anderen Seite wird
demjenigen, der schwere Straftaten begangen hat, die
Chance der Resozialisierung gegeben. Ich glaube, dass
deshalb die Führungsaufsicht ein ganz wichtiges Instrument ist und es ein richtiger Ansatz ist, deren Möglichkeiten zu verbessern.
Als jemand, der sich immer wieder sehr viele Gedanken um den Opferschutz macht, gefällt es mir ganz besonders, dass es jetzt ein Kontaktverbot gibt. Das war
der Vorschlag, den wir bei der rechtlichen Ausgestaltung
des Stalkings gemacht hatten, dass es nämlich klare Weisungen an den Betroffenen gibt, was er nicht tun darf,
und es dann, wenn er dagegen verstößt, entsprechende
strafrechtliche Konsequenzen gibt.
({2})
Ich will damit gleich zu einem aus unserer Sicht bestehenden Kritikpunkt kommen. Wir halten nichts davon, dass der Strafrahmen bei solchen Verstößen auf
drei Jahre angehoben wird; denn die Anhörung hat gezeigt, dass von der schon bestehenden Möglichkeit bisher kaum Gebrauch gemacht wird. Das ist zwar allein
für sich kein Argument. Aber mich hat sehr überzeugt,
dass in dem Land, in dem diese Strafvorschrift beispielsweise dadurch zur Anwendung kommt, dass man das
Ganze zentral organisiert, bisher ausschließlich Geldstrafen verhängt worden sind, die in diesem Zusammenhang aus Sicht der Richter ganz offensichtlich ausreichen. Bisher sieht das Gesetz auch eine Freiheitsstrafe
von bis zu einem Jahr vor. Das scheint uns ausreichend
zu sein.
Ein weiterer Aspekt - auch dies möchte ich kritisch
anmerken - ist die Frage, welche Auflagen, welche Anforderungen wir an die Therapeuten stellen. Auf der einen Seite kann eine Therapie nur dann erfolgreich sein,
wenn es ein Vertrauensverhältnis gibt; das ist ganz wichtig. Es kann sich nur etwas bessern, wenn der Therapeut
auf denjenigen, den er behandeln muss, auch einwirken
kann. Auf der anderen Seite kann es nicht sein, dass der
Therapeut, wenn er mitbekommt, dass eine Person, die
unter Führungsaufsicht steht, wieder schwerste Straftaten plant und diese unmittelbar bevorstehen, davon keine
Nachricht gibt, sodass das unterbunden werden könnte.
Von daher muss das miteinander abgewogen werden.
Wir machen Ihnen einen Vorschlag, wie das aus unserer Sicht besser geschehen kann. Die Anhörung hat gezeigt, dass uns insbesondere die Praktiker aus dem Bereich der Therapie darum bitten, zu einer engeren
Fassung zu kommen. Deshalb ist das unser Vorschlag.
Die Ministerin hat einen weiteren Punkt angesprochen, der heute ebenfalls Gegenstand der Debatte ist: die
nachträgliche Sicherungsverwahrung für in der früheren DDR Verurteilte und für Taten bis 1995. Dass dort
eine praktische Notwendigkeit besteht, sehen wir gerade
in Sachsen-Anhalt, wo die Polizei rund um die Uhr eine
Person, die weiter als gefährlich eingeschätzt wird, bewacht. Von daher gibt es also diese Notwendigkeit. Das
hat sich im Übrigen auch bei der Anhörung gezeigt; das
belegt, dass Anhörungen durchaus vernünftig sind. Denn
sowohl der Generalstaatsanwalt aus Thüringen als auch
der Generalstaatsanwalt aus Sachsen-Anhalt haben berichtet, dass voraussichtlich für jeweils fünf Personen in
ihren Ländern nachträgliche Sicherungsverwahrung in
Betracht kommt. Das sind Zahlen, die man nicht unterschätzen darf. Allein zehn Personen in diesen beiden
Ländern sind offensichtlich so gefährlich, dass sie nicht
wieder auf die Menschheit losgelassen werden können.
Deshalb haben wir die Verpflichtung, hier eine Regelung
zu treffen.
Aber wir haben auch die Verpflichtung, unsere Verfassung zu beachten.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,
dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur unter
ganz engen Voraussetzungen verhängt werden darf.
Auch da hat die Anhörung ergeben, dass der Gesetzestext, so wie er von der Koalition und ursprünglich von
der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist, zu weit
gefasst ist.
Wir teilen diese Kritik. Wir schlagen Ihnen deshalb
vor, eine Regelung, eine Formulierung zu finden - wir
haben sie gefunden -, die ganz speziell auf die Fälle in
der früheren DDR zugeschnitten ist. Wir bitten ausdrücklich um Ihre Zustimmung.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, bei dem wir ebenfalls anderer Auffassung sind als Sie. Es soll eine Erweiterung im Bereich des Jugendstrafrechts geben. Alle
Sachverständigen - einschließlich des angehörten Bundesanwalts, einschließlich der angehörten Generalstaatsanwälte - haben kein Bedürfnis für diese Regelung gesehen. Wenn meine staatsanwaltschaftlichen Kollegen das
erklären, dann sollten wir das auch ernst nehmen. Deshalb sind wir der Auffassung, das sollte nicht so geregelt
werden, wie es der Gesetzentwurf vorsieht.
Insgesamt aber ist das - das möchte ich zum Schluss
noch sagen - ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Die Länder sind - die Ministerin hat das ausdrücklich gesagt, und ich unterstreiche das - in der Verantwortung, anstelle von Überbietungswettbewerben der Innenminister
die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das heißt,
mehr Bewährungshelfer, aber auch die entsprechenden
Ambulanzen -
Herr Kollege!
Frau Präsidentin, Sie weisen mich zu Recht auf die
Zeit hin.
Deshalb will ich damit schließen: Wir sollten darauf
achten, dass die Länder ihrer Verantwortung auch gerecht werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Immer wieder reagiert die Bevölkerung fassungs- und
verständnislos darauf, dass Straftäter, gerade aus der
Haft entlassen, schon wieder ein kleines Kind schnappen, es sexuell missbrauchen und töten.
Wegsperren! Und zwar für immer! - Das ist die Forderung, die man da in der Bevölkerung hört. Aber so
einfach ist das nicht. Ein Wegsperren - und insbesondere
für immer - ist menschenverachtend, und deswegen lässt
das unsere Verfassung zu Recht nicht zu. Aber dennoch
- daran ändert auch eine Statistik nichts - hat die Bevölkerung einen Anspruch darauf, sicher vor Straftätern leben zu können.
Vor besonders gefährlichen Straftätern schützt die
Allgemeinheit die Sicherungsverwahrung, die sich an
die Haft anschließt. Aber die juristische Hürde für die
Verhängung einer Sicherungsverwahrung ist außerordentlich hoch. So gibt es immer wieder die Fälle, dass
ein Strafhäftling nach Verbüßung der Endstrafe - Vollverbüßer genannt - aus der Haft entlassen werden muss,
ohne dass sich in seinem Kopf in der Haft auch nur die
geringste Kleinigkeit geändert hat. Die kriminelle Energie ist noch so groß wie am Anfang.
Einen solchen dürfen wir nicht einfach unkontrolliert
in die Freiheit entlassen.
({0})
Wir dürfen auch nicht jeden, der aus dem Maßregelvollzug kommt - sprich: aus der Psychiatrie oder aus einer
Entziehungsanstalt -, ohne Begleitung frei in die Gesellschaft entlassen. Dafür gibt es seit 1975 das Rechtsinstitut der Führungsaufsicht. Führungsaufsicht heißt, dass
dem entlassenen Strafhäftling oder dem aus dem Maßregelvollzug in die Freiheit Gelangten zum einen ein Bewährungshelfer beigeordnet wird, der ihm in der Lebensführung hilft. Zum anderen untersteht er der Aufsicht
einer Führungsaufsichtsstelle.
Dieses Institut heißt Führungsaufsichtsstelle. Es ist
also nicht damit getan, zu sagen: Ein Therapeut braucht
Siegfried Kauder ({1})
ein Vertrauensverhältnis zu einem psychisch Kranken,
und deswegen muss er nicht berichten. Wir haben in unserem neuen Gesetz eine sogenannte Nachsorgeweisung
eingebaut. Das ist sicherlich etwas, das von allen als
sinnvoll erachtet wird. Der psychisch kranke Straftäter
hat sich regelmäßig in einer forensischen Ambulanz vorzustellen. Aber was ist, wenn er nicht kommt? Muss der
Therapeut die Verpflichtung haben, die Führungsaufsichtsstelle und den Richter zu informieren, dass der
Straftäter die Therapie nicht begleitet?
Was ist, wenn dieser zu Therapierende seinem Therapeuten eröffnet: „Ich habe schon wieder Lust auf kleine
Kinder“?
({2})
Auch das dürfen wir nicht zulassen. Da geht - das hat
Kollege van Essen zu Recht gesagt - der Opferschutz
eindeutig vor. Die Führungsaufsicht ist ein hervorragendes Instrumentarium für aktiven Opferschutz. Deswegen
standen wir vor der Frage, in welchem Umfang wir die
Schweigepflicht eines Therapeuten lockern. Der Erstentwurf war zugegebenermaßen etwas weit gefasst. In
der rechtspolitischen Debatte haben wir eine sehr differenzierte Lösung gefunden, die in erster Linie dazu
dient, den in psychiatrischer Behandlung Befindlichen
anzuhalten, sich der Therapie zu unterziehen.
Wenn das aber nicht geht, muss der Richter die Möglichkeit haben, entsprechende Weisungen zu treffen. Es
gab dazu eine Sachverständigenanhörung. Ich habe sehr
wohl noch die Ausführungen des Herrn Dr. Wolf, Vorsitzender Richter am Landgericht Marburg, in Erinnerung,
der sagte:
Ich muss als Richter jemanden entlassen und ich
trage die Verantwortung und nicht irgendein Therapeut … Ich muss den Leuten … hinter die Stirn gucken …
Er müsse wissen, was im Kopf des Täters vorgehe. - Wir
haben deswegen die Schweigepflicht des Psychotherapeuten, die sich aus § 203 des Strafgesetzbuches ergibt,
moderat gelockert.
Was machen wir mit einem Vollverbüßer - also mit
jemandem, der seine Endstrafe verbüßt hat -, der, weil er
eine Sexualstraftat begangen hat, eine Weisung bekommt, sich von Kinderspielplätzen fernzuhalten, wenn
er sich nicht daran hält? Ich spreche ganz bewusst vom
Vollverbüßer, der die Endstrafe verbüßt hat; da gibt es
kein anderes Zwangsmittel mehr, als zu sagen: Dann bestrafen wir dich, weil du diese Weisung nicht einhältst,
erneut. Wenn man sich dieses Beispiel vor Augen führt,
dann weiß man auch, wovon wir reden. Für einen Sexualstraftäter, der wieder an Kindergärten und Spielplätzen
herumschleicht, genügt die einjährige Höchststrafe nach
§ 145 a StGB möglicherweise nicht. Aus genau diesem
Grund haben wir gesagt: Wir müssen die Höchststrafe
von einem Jahr auf drei Jahre erhöhen. Es gilt aber das,
was Frau Justizministerin Zypries gesagt hat: Da gibt es
in den Ländern Vollzugsdefizite. Vielleicht müssen wir
doch einmal ein offenes Wort mit den Landesjustizministern und den Staatsanwälten reden.
Wir haben auch festgestellt, dass die Höchstdauer
der Führungsaufsicht von fünf Jahren vielleicht doch
etwas knapp bemessen ist. Es ist doch besser, jemanden,
von dem eine latente Gefährdung ausgeht, länger als
fünf Jahre - wenn es sein muss, auch ein Leben lang - zu
kontrollieren, als andere Maßnahmen zu treffen. Deswegen haben wir mit diesem Gesetz die Möglichkeit geschaffen, in bestimmten Fällen die Dauer der Führungsaufsicht über fünf Jahre hinaus zu verlängern.
Sie sehen also: Bei diesem Gesetz ist alles sehr wohl
bedacht und abgewogen. Wir haben auch Änderungswünsche der Sachverständigen in diesen Gesetzentwurf
eingebaut. Wer für Opferschutz ist, kann diesem Gesetz
nur zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kauder, ich möchte nicht versäumen, vorwegzustellen,
dass dieser Gesetzentwurf heute hier im wahrsten Sinne
des Wortes durchgepeitscht wird.
({0})
Erst am Montag fand eine Sachverständigenanhörung
statt; wegen der Einspruchsfrist mussten am Dienstag
vorgezogene Sitzungen des Innen- und des Rechtsausschusses stattfinden.
({1})
Wir haben bis heute nicht einmal ein Protokoll der Sachverständigenanhörung vorliegen.
({2})
Die Mehrheit von Ihnen hat es offenbar trotzdem schon
ausgewertet. Ich möchte Ihnen jedenfalls deutlich sagen,
dass das uns, der Opposition, nicht möglich gewesen ist.
({3})
Ich halte es vor dem Hintergrund, dass die potenziellen Opfer von sexualisierter Gewalt wirklichen Schutzes
bedürfen - das ist überhaupt keine Frage -, für einen
Skandal, wenn man nur einzelne Punkte herausgreift und
vor allen Dingen darauf setzt, wegzuschließen. Sie, Herr
Kauder, haben das zwar eben hier dementiert; ich bin
aber der Meinung, dass genau das jetzt passiert: Vor allen Dingen will man die Leute wegschließen, sie zu immer längeren Haftstrafen verurteilen. Über wirkliche
Abhilfe wird aber nicht ernsthaft diskutiert und schon
gar nicht beraten, auch aufgrund der Fragestellung bei
der Anhörung am Montag, die leider sehr eingeengt war.
({4})
- Sie wissen selber, dass es nur einzelne Punkte gab, die
angesprochen werden konnten.
Wir reden hier über 40 bis 50 Personen, bei denen
durch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung die
Zeit des Freiheitsentzugs verlängert werden könnte. Ob
damit erreicht wird, dass es auch nur ein Opfer sexualisierter Gewalt weniger gibt, ist pure Spekulation. Denn
im Gegensatz zu Deutschland gibt es in anderen Staaten,
wie zum Beispiel den USA, Forschung und qualifizierte
Studien darüber - davon kann man bei uns kaum sprechen -, wie mit Sexualstraftätern im Vollzug umgegangen wird. Es gibt bei uns auch nur wenige Studien über
Therapien.
Das sage ich Ihnen übrigens als Strafvollzugshelferin,
die 22 Jahre für Gefangene und mit Gefangenen gearbeitet hat. Fragt man die Anstaltsleiter, wer denn vom Richter im Urteil eine Therapie verschrieben bekommen hat,
erfährt man, dass es fast alle sind. Aber nur ein Bruchteil
davon bekommt wirklich eine Therapie. Ich meine, es
gehört dazu, dass ein Resozialisierungsprogramm diese
Dinge bewertet, von der Forschung ausgewertet wird
und Veränderungen aufzeigt.
Eine Auswertung der Rückfallquote therapierter
Straftäter zeigt ganz deutlich, dass sie signifikant sinkt.
({5})
Sie könnte weiter sinken, wenn der Strafvollzug bei seinen Aufgaben andere Schwerpunkte setzen würde. Dass
er das nicht kann - Sie wissen, dass der Strafvollzug im
Moment auf der Länderebene verantwortet wird -, wissen Sie. Hier muss man ganz deutlich sagen: Psychotherapie und ähnliche Dinge fallen dem Rotstift zum Opfer.
Das kann nicht im Sinne der Sache sein.
({6})
Statt hier gegenzusteuern, betont der Gesetzentwurf
einseitig die Kontrollfunktion der an die Haft anschließenden Führungsaufsicht. Dadurch werden andere, sinnvolle Neuerungen konterkariert. Sie heben die Schweigepflicht der Therapeuten zum Teil auf. Sie schaffen
ohne sachlichen Grund die Möglichkeit lebenslanger
Führungsaufsicht. Sie verschärfen auf absurde Weise das
Sonderstrafrecht des § 145 a Strafgesetzbuch.
Die Koalition will nachträgliche Sicherungsverwahrung auch dann ermöglichen, wenn sie zum Zeitpunkt
der erstmaligen Verurteilung eines Straftäters noch nicht
möglich war. Damit hebeln Sie den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz auf und verstoßen gegen elementare Rechtsgrundsätze.
({7})
Ich fasse zusammen: Während sich der Strafvollzug
weiter verschlechtert, werden Sicherungsverwahrung
und eine rein kontrollierende Führungsaufsicht ausgeweitet. Mit anderen Worten: Es geht im Strafvollzug
schon längst nicht mehr um Resozialisierung, sondern
um Wegsperren und Kontrolle. Es geht nicht um psychosoziale Betreuung und therapeutische Angebote, sondern
um noch mehr und immer längeren Freiheitsentzug. Damit nimmt man den Betroffenen noch die letzte Perspektive, die sie haben: eines Tages wieder in Freiheit und
selbstbestimmt leben zu können.
({8})
Diesem wichtigen Resozialisierungsauftrag haben Sie
hier zugestimmt; diesen muss man einklagen.
Das Prinzip „wegsperren statt resozialisieren“ entspringt im Übrigen der Ideologie einer konflikt- und kriminalitätsfreien Volksgemeinschaft. Die geistigen Urheber der Sicherungsverwahrung - das wissen Sie; das hat
auch ein Sachverständiger gesagt - waren die Nazis. Aus
gutem Grund hat die DDR diese Sonderregelung damals
abgeschafft.
({9})
- Ja, so ist es.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Ich komme gleich zum Schluss. ({0})
Im Einigungsvertrag wurde geschrieben, dass es andere
Wege geben muss, als einen Menschen lebenslang hinter
Gitter zu sperren.
Ich sage noch einmal: Wegsperren bringt nichts, sondern resozialisieren.
Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluss kommen.
Ja, das ist mein letzter Satz. - Schaffen Sie Therapieplätze. Dann wird sich einiges ändern.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Jelpke, meine Redezeit ist zu kurz, als dass ich
darauf eingehen könnte, wie Sie die Zustände in der
DDR geschildert haben.
({0})
Das überlasse ich den nachfolgenden Rednern; sie haben
dafür mehr Zeit.
Führungsaufsicht ist ein Instrument des Staates, mit
dem Straftätern, die zur Bewährung oder nach Vollverbüßung in die Freiheit entlassen werden, zuallererst geholfen werden soll. Es ist eine Hilfe für sie, in Zukunft
straffrei zu sein. Es ist aber auch ein Instrument des Staates, mit dem er dafür sorgen kann, dass, wenn es notwendig ist, potenzielle Opfer in einer Übergangszeit vor diesen Menschen, die sich wieder in Freiheit befinden,
geschützt werden. Das Instrument der Führungsaufsicht
ist notwendig und hat sich bewährt.
Seit langem ist eine Reform in der Diskussion. Wir,
die Grünen, begrüßen die Änderungen, die jetzt im Gesetz vorgesehen sind und über die wir schon lange diskutiert haben. Wir sind froh darüber und unterstützen diese
Änderungen.
Bei dem Gesetzentwurf gibt es positive Aspekte:
({1})
Der Ausbau und die Stärkung der Führungsaufsichtsstellen sind richtig. Die Einrichtung von psychiatrischen
Ambulanzen und die Möglichkeit einer Krisenintervention - statt sofort wieder ins Gefängnis oder in den Maßregelvollzug - sind richtig. Auch die Ausweitung des
Weisungskatalogs ist richtig; denn er hat sich in der Praxis als lückenhaft erwiesen. Wenn gesagt wird, dass die
neue Weisung, die ganz explizit auf den Opferschutz
ausgerichtet ist, völlig richtig ist, kann ich dem nur zustimmen.
({2})
Die Große Koalition wäre aber nicht die Große Koalition, wenn in der Rechtspolitik die rechte Hand nicht immer wieder das, was die linke Hand mühsam aufgebaut
hat, wieder einreißen würde. So hat dieser Gesetzentwurf neben den positiven Aspekten natürlich etliche negative, die wir benennen müssen:
Über den § 145 a StGB und die Ausdehnung der
Höchststrafe für Weisungsverstöße auf drei Jahre ist
schon gesprochen worden. Herr Kollege Kauder, wenn
Sie uns nur einen einzigen Fall nennen könnten, bei dem
ein Gericht die Höchststrafe von einem Jahr verhängt
und sich dies als zu kurz erwiesen hat, würde ich sofort
mit Ihnen in eine Diskussion darüber einsteigen, ob wir
eventuell eine Erweiterung brauchen. Die Fakten belegen das genaue Gegenteil. Die Gerichte machen von dieser Vorschrift überhaupt keinen Gebrauch. Es gibt ganz
wenige Verurteilungen. Diese Vorschrift hat sich als
Schutzvorschrift und Ultima Ratio als nicht effektiv erwiesen. Es gibt gewichtige Stimmen, die sagen, man
sollte sowieso damit aufhören und auf ein anderes System umsteigen. Diese Stimmen überhören Sie. Stattdessen erweitern Sie lediglich den Strafrahmen auf drei
Jahre. Das lehnen wir ab.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Montag, ich würde Ihnen Ihre Frage, ob
ein Jahr zu kurz ist, sehr gerne beantworten. Können wir
uns aber darauf einigen, dass eine Antwort nicht möglich
ist, weil es bisher rechtstechnisch gar nicht umsetzbar
war? Da die Höchststrafe ein Jahr betrug, konnte ein
Richter nicht mehr verhängen und prüfen, ob mehr besser ist.
({0})
Sie sollten in der Situation, in der Sie jetzt sind, eigentlich Fragen stellen und nicht meine Frage beantworten.
({0})
Das können wir später tun.
Auf Ihre Frage, wenn es denn eine war, will ich Ihnen
sagen: Sie haben es nicht verstanden. Wenn wir in unserem Land tatsächlich Menschen unter Führungsaufsicht
hätten, die Weisungsverstöße begingen, die deswegen
als Vollverbüßer vor dem Strafrichter landeten, die Strafrichter mehrmonatige, achtmonatige, zehnmonatige oder
Freiheitsstrafen von einem Jahr verhängen würden und
diese Täter nach einem Jahr lachend aus dem Gefängnis
herauskämen, um dann Straftaten zu begehen, wenn wir
also eine Situation hätten, in der wir evident darüber diskutieren müssten, ob nicht eine längere Strafe erforderlich ist, dann würde ich mich auf die Diskussion einlassen. Solche Fälle gibt es aber überhaupt nicht.
({1})
Wir haben ganz wenige Verurteilungen, alles Geldstrafen. Es gibt also kein Bedürfnis nach einer Änderung.
Das, was Sie machen, Herr Kollege Kauder, ist
Schaufensterpolitik. Das, wozu Sie die Ministerin
Zypries in der Großen Koalition zwingen, hat sie als unter ihrer Würde bezeichnet. Das ist das, was ich mit „Die
eine Seite baut auf, und die andere Seite reißt ein“ bezeichnet habe.
({2})
Zu den Offenbarungspflichten, die Sie einführen.
Herr Kollege Kauder, es geht nicht an, dass Sie hier im
Bundestag das Problem beschönigen, indem Sie sagen,
Sie würden in Ihrem Gesetzentwurf lediglich die Verschwiegenheitspflichten des § 203 StGB öffnen. Das ist
nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass Sie darüber hinaus
eine Offenbarungspflicht für Ärzte, für Psychiater, für
Psychologen - auch für frei arbeitende Psychiater und
Psychologen - schaffen,
({3})
nicht nur das Recht, nicht schweigen zu müssen, sondern
auch die Pflicht, etwas zu sagen. Das ist viel mehr. Davon haben Sie nicht gesprochen. Deswegen sage ich Ihnen: Sie dürfen auch nicht verschweigen, was Sie in Ihren Gesetzentwurf geschrieben haben.
Sie haben in ihren Gesetzentwurf geschrieben, dass es
eine Benachrichtigungspflicht geben soll, wenn der Weisung, sich bei einem Psychiater vorzustellen oder an einer
Behandlung teilzunehmen, nicht nachgekommen wird.
Das unterschreiben wir; wir haben auch gesagt, dass wir
das mittragen.
Sie haben geschrieben, dass es eine Pflicht zur Offenbarung geben wird, wenn unmittelbare schwere Gefahren für Dritte drohen. Auch das unterschreiben wir, auch
das haben wir gesagt.
Aber über den streitigen dritten Punkt, von dem wir
dringend abgeraten haben, haben Sie hier im Plenum geschwiegen: Sie wollen die Therapeuten - die Psychologen, die Psychiater, die Ärzte - verpflichten, in ungenannten Fallgestaltungen mit hochkomplexen Folgen
wie der Rücknahme einer Aussetzung oder einer unbefristeten Führungsaufsicht, wo im Einzelnen überhaupt
nicht klar ist, welche Elemente zu dieser gerichtlichen
Handlung führen werden, Angaben über ihre Patienten
zu machen. Dazu haben alle Sachverständigen in der
Anhörung gesagt: Das geht zu weit, das wollen wir
nicht.
Zur Sicherungsverwahrung ist hier schon etwas gesagt worden. Meine Zeit erlaubt mir nicht, dazu Stellung
zu nehmen. Ich verweise auf das, was ich im Rechtsausschuss ausführlich gesagt habe. Ich sage Ihnen nur Folgendes: Wir haben uns an dieser Debatte konstruktiv beteiligt. Heute liegen Ihnen zwei Änderungsanträge vor;
diese Änderungsanträge betreffen die wirklich streitigen
Dinge.
Herr Kollege Montag!
Wenn Sie uns in diesen Änderungsanträgen folgen,
dann werden wir Ihrem Gesetz zustimmen. Da Sie es
aber nicht tun wollen, werden wir das Gesetz ablehnen
müssen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Themenbereich der Führungsaufsicht ist eigentlich
alles gesagt, was zu sagen war. Aber lassen Sie mich
noch einmal darauf hinweisen, dass es letzten Endes um
Menschen geht, um Täterinnen und Täter geht, deren
Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach Verbüßung ihrer Haft uns gefährdet erscheint. Es geht um einen Personenkreis, der gefährdet ist, erneut Straftaten zu
begehen. Da müssen wir das Sicherheitsinteresse der
Allgemeinheit und die Freiheitsrechte des Einzelnen immer sehr sorgfältig gegeneinander abwägen.
Ich denke, wir haben dafür mit dem Gesetz zur Novellierung der Sicherungsverwahrung eine gute Regelung geschaffen. Bei der Anhörung haben uns die Sachverständigen ja durch die Bank gesagt: Jawohl, das ist
eine gute Regelung. Man kann an dem einen oder anderen Punkt möglicherweise noch etwas verbessern; aber
insgesamt ist die Regelung gut. Wenn ich die Reden hier
höre, habe ich allerdings gelegentlich den Eindruck, ich
war auf einer anderen Veranstaltung.
({0})
Ich denke, die gefundene Regelung wird sich jetzt in
der Praxis bewähren müssen. Jetzt müssen die Länder
das Personal zur Verfügung stellen, das notwendig sein
wird, damit die Führungsaufsicht, deren Parameter wir
teilweise neu geregelt haben, in der Praxis genau so umgesetzt werden kann; Frau Ministerin Zypries hat zu
Recht darauf hingewiesen. Das bedarf schon der einen
oder anderen Aufwendung. Wir werden sehr genau beobachten, ob die Länder den Weg, den wir mit diesem
Gesetz vorgezeichnet haben, denn auch wirklich mitgehen. Ich denke schon, wir werden da aufpassen müssen.
Wir wissen ganz genau, dass wir als Gesetzgeber
auch durch diese Regelungen keine absolute Sicherheit
gewährleisten können. Wir können nicht ausschließen,
dass es trotzdem zu schlimmen Straftaten kommt und
dass Strafentlassene erneut schlimme Straftaten begehen. Auch in einer solchen Debatte muss man bekennen:
Der demokratische Rechtsstaat wird in einer pluralistischen Gesellschaft niemals absolute Sicherheit gewährleisten können. Wir können nur das tun, was vor dem
Hintergrund unserer Verfassung und unter Beachtung
der Freiheitsrechte sowie der Sicherheitsinteressen des
Einzelnen möglich ist. Aber man muss immer deutlich
machen - das sei manchen Medien, aber auch manchen
Sonntagsrednern gesagt -: Wir werden nie ganz ausschließen können, dass es hier Rückfalltäter gibt.
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Regelung im
Hinblick auf die Sicherungsverwahrung sagen, die schon
angesprochen worden ist. Frau Kollegin Jelpke, Sie haben sich damit gerühmt, dass die DDR die Sicherungsverwahrung abgeschafft hat.
({1})
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Wenn man ein
Volk von 16 Millionen Menschen bereits sicherungsverwahrt hat,
({2})
dann braucht man keine individuelle Sicherungsverwahrung mehr, Frau Kollegin Jelpke.
({3})
Dem Kollegen Montag möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen: Bei dieser Regelung geht es darum, die
vorhandenen Lücken zu schließen, um die sogenannten
Altfälle erreichen zu können. Es geht nicht darum, die
Freiheits- und Bürgerrechte dem Sicherheitsstaat unterzuordnen, wie Sie in einer Pressemitteilung vom
20. März dieses Jahres geschrieben haben. Ich fordere
Sie freundschaftlich, aber bestimmt auf: Unterlassen Sie
bitte solch diffamierende Unterstellungen gegenüber der
Koalition.
({4})
Bei jeder Gelegenheit, auch in der Rede, die Sie gerade
gehalten haben, unterstellen Sie uns, wir würden die
Freiheitsrechte des Einzelnen nicht respektieren.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Ja, von Herrn Montag immer. - Bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich danke auch Ihnen,
Herr Kollege Stünker, dass Sie mir gestatten, eine Frage
zu stellen, nachdem Sie mich persönlich angesprochen
haben. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich meine Kritik, die ich öffentlich geäußert habe, nicht gegen das Ansinnen richtete, die im Recht der Sicherungsverwahrung aufgetretenen Sicherheitslücken zu schließen, die es in den
Zeiträumen von 1990 bis 1995, von 1995 bis 1998 und
von 1998 bis 2004 gab.
Wir selbst haben einen Vorschlag gemacht, um diese
Lücken zu schließen. Sie allerdings wollen mit Ihrem
Gesetzentwurf eine Regelung einführen, die nicht nur
die Lücken aus der Vergangenheit schließt - Lücken, die
seit 2004 geschlossen sind -, sondern der auch unser gemeinsames rot-grünes Gesetz aus dem Jahre 2004 aufbohrt. Sie bohren das strikte Novenrecht der nachträglichen Sicherungsverwahrung, nach dem neue Tatsachen
notwendig sind, um nachträglich eine Sicherungsverwahrung anzuordnen, auf. Dies habe ich als einen Verstoß gegen die Grundregeln unseres Rechtsstaates kritisiert.
({0})
Natürlich nehme ich das zur Kenntnis, Herr Kollege
Montag. Warum sollte ich das nicht zur Kenntnis nehmen? Aber Sie haben Ihre Frage wieder verwandt, um
Ihre Meinung deutlich zu machen,
({0})
die Sie vorhin in Ihrer Rede nicht mehr bringen wollten.
({1})
- Herr Beck, Sie werden ertragen müssen, dass ich zu
Ende rede. Sie mit Ihrem Handy hören ja sowieso nicht
zu.
({2})
Herr Kollege Montag, ich will dazu nur eines sagen:
Über dieses Thema können wir uns akademisch lange
streiten. Für mich gilt nach wie vor: Durch die Regelung,
die wir getroffen haben - diese Einschätzung ist von den
Sachverständigen in der Anhörung geteilt worden -,
wird das gesamte Instrumentarium der Sicherungsverwahrung nicht so stark aufgebohrt, wie Sie es befürchten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn es wirklich so
kommen sollte, dass die Rechtsprechung Ihre Schlussfolgerungen zieht, dann müssten wir in der Tat etwas ändern. Aber ich bin ganz sicher: Mit der Regelung, die
wie im Gesetzentwurf getroffen und in der Begründung
dargelegt haben, regeln wir nur die Altfälle, die wir damit auch regeln wollten.
({3})
Wir müssen uns bei der Diskussion auch immer wieder klarmachen, worüber wir eigentlich reden. Wir reden
hier über gefährlichste Straftäter, die wegen grauenvoller
und grauenvollster Straftaten, wegen Verbrechen, langfristige Freiheitsstrafen verbüßt haben und über die uns
die Sachverständigen prognostisch sagen, dass die Gefahr besteht, dass sie nach der Haftentlassung erneut in
gleicher Weise straffällig werden. Der Rechtstaat muss
dort handeln und ein Instrumentarium schaffen, um dem
Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu genügen.
Ich weise immer wieder darauf hin, dass wir dieses
Instrumentarium bereits in der letzten Legislaturperiode
dadurch geschaffen haben, dass wir den nötigen Grundrechtsschutz, den Freiheitsschutz, über das Verfahren
gewährleisten. Das heißt, es muss eine neue Hauptverhandlung mit allen rechtsstaatlichen Sicherungen und
Möglichkeiten für denjenigen stattfinden, der weiterhin
in Sicherheitsverwahrung belassen werden soll. Es muss
eine öffentliche Beteiligung und Möglichkeiten der Revision sowie alles, was dazugehört, geben. In diesem
völlig rechtsstaatlichen Verfahren müssen uns zwei
Sachverständige sagen: Jawohl, hier ist eine entsprechende Gefährlichkeit gegeben.
Ich kann nur sagen: Dann kann man es verantworten,
auch solche Regelungen zu treffen; denn bei jedem Fall,
wie dem von Mitja in Leipzig oder anderen, stehen wir
auch immer vor der Öffentlichkeit und müssen sozusagen bekennen, was wir getan haben, um die notwendige
Vorsorge zu treffen. Ich meine, wir haben das hier getan.
Das heißt, das, was rechtsstaatlich möglich und vertretbar ist, ist immer die Grenze. Über diese Grenze sind wir
auch in diesem Fall nicht hinausgegangen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich muss
allerdings auch bekennen, dass die Regelungen zur Sicherungsverwahrung, die seit Ende der 90er-Jahre Stück
für Stück verändert worden sind, mittlerweile in der Tat
ein Paragrafenwerk darstellen, das nur noch schwer
durchschaubar ist. Auch für den Fachmann, den Strafrechtler, der jeden Tag damit zu tun hat, ist das nur noch
schwer überschaubar. Von daher sind wir in der Koalition übereingekommen, das Gesamtpaket neu zu überarbeiten. Dieser Aufgabe stellen wir uns.
Herr Kollege Montag, nehmen Sie uns doch beim
Wort, dass wir in dieser Legislaturperiode noch etwas
Neues dazu vorlegen.
Schönen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Jürgen Gehb.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat moderat angefangen, aber die letzten Beiträge,
Herr Montag, verleiten mich doch zu einer Bemerkung.
Sie alle wissen, was man sich unter einem Montagsauto vorzustellen hat. Das sind reparaturanfällige Autos,
mit denen man unzufrieden ist. Es sind also quasi Murksautos. Herr Montag, diese Metapher haben Sie nun durch
eine weitere Variante bereichert:
({0})
Auf Ihrer Homepage wird nämlich von „Montags Gespräch“ berichtet, welches Sie zwei Tage vor Nikolaus,
am 4. Dezember letzten Jahres, mit der bayerischen Justizministerin Beate Merk geführt haben. Eine Zwischenüberschrift lautet: „Sicherungsverwahrung ist keine Lösung“.
Sie haben das in der Debatte am 14. November 2002
gegeißelt wie kein Zweiter. Noch vorgestern haben Sie
in Ihrer Presseerklärung geschrieben, wir würden dort
galoppartig durchgehen und Sie bräuchten alle Zeit und
allen Raum, um das zu diskutieren. Kurz vor Toresschluss haben Sie dann allerdings noch die Kurve gekriegt und selbst zwei Anträge vorgelegt. Na, besser spät
als nie. Wir brauchen Ihre Belehrungen aber nicht, wir
bringen unsere eigenen Anträge durch, Herr Montag.
({1})
Alle Debatten über die Sicherungsverwahrung - ob es
die originäre, die vorbehaltene oder die nachträgliche
ist - haben gezeigt, dass das ein von vielen ungeliebtes
Kind ist. Auch mein Kollege Stünker hat nie einen Hehl
daraus gemacht, dass er nicht ein glühender Verfechter
der Sicherungsverwahrung ist. Das ist übrigens niemand.
Wenn ich daran denke, was Frau Laurischk am
14. November 2002 in diesem Haus gesagt hat - übrigens in ihrer Jungfernrede -, dass nämlich diese Sicherungsverwahrung gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstößt, muss ich sagen: Inzwischen dürfte doch
wirklich klar sein, dass das nicht so ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat sowohl am
5. Februar 2004 als auch am 10. Februar 2004 Entscheidungen dazu getroffen. Beide Entscheidungen sind abgedruckt und nachzulesen im 109. Band, und zwar nicht
auf Seite 109, sondern auf Seite 190 - das ist also ein
kleiner Dreher in der Begründung, Alfred - und auf
Seite 133. Es hat festgestellt, dass sie weder gegen den
Grundsatz „ne bis in idem“ noch gegen den Grundsatz
„nulla poena sine lege“ oder irgendeinen anderen Verfassungsgrundsatz verstößt. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens in seiner Entscheidung vom
8. Dezember 2005 noch einmal zusammengefasst. Das
heißt, die Schlachten von gestern über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit brauchen wir in
der jetzigen Situation nicht mehr zu schlagen.
({2})
Nachdem das feststeht und die Landesunterbringungsgesetze durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgehoben wurden, war die damalige
Bundesregierung geläutert und hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung ins Gesetzblatt gebracht. Dabei ist
sie davon ausgegangen, dass nunmehr nahezu alle Lücken geschlossen sind und dass solche Straftäter, bei denen sich im Verlaufe des Vollzuges ergibt, dass sie gefährlich sind, nicht mehr aus dem Vollzug entlassen
werden dürfen und die alle zwei Jahre vorzunehmende
Überprüfung nach wie vor aufrechterhalten wird.
Allerdings ist diese Intention des Gesetzgebers durch
eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs sozusagen
konterkariert worden. Ich will keine Gerichtsschelte betreiben. Wenn man den Wortlaut betrachtet, kann man
dies sogar verstehen. Denn der Bundesgerichtshof hat
festgestellt, dass die Fälle, um die es geht - die sogenannten Altfälle -, nicht unter die Vorschrift des § 66 b
Strafgesetzbuch fallen, in der es um die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Vorliegen neuer Tatsachen
geht.
Wegen des medialen Echos und des Hilferufs der
Landesjustizministerinnen Frau Kolb und Frau Blechinger
und des Generalstaatsanwalts Rautenberg mussten wir in
der Tat schneller, als es vielleicht sonst notwendig geworden wäre, dafür Sorge tragen, dass ein entsprechender Gesetzentwurf bis zum 30. März im Bundesrat vorliegt. Unser Gesetzentwurf unterscheidet sich nicht
wesentlich von Ihrem Änderungsantrag.
Was Ihre Äußerung angeht, der Gesetzentwurf bohre
viel auf, will ich auf den Wortlaut verweisen. Es geht nur
darum, dass neue Tatsachen im Sinne dieses Gesetzes
auch solche sind, die bei der Erstverurteilung erkennbar
waren, zum Teil sogar zur Sicherungsverwahrung geführt haben, aber aus den schon mehrmals genannten
Gründen - Einigungsvertrag - nicht haben verhängt werden dürfen. Nur das wird jetzt geregelt. Das wollen wir
mit unserem Gesetzentwurf, das wollen Sie mit Ihrem
Antrag, und das will die FDP.
Wir haben - was nicht weiter verwunderlich ist - unserem eigenen Vorschlag zum Erfolg verholfen, nämlich
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Vielleicht stellt er wirklich einmal eine Frage.
Danke, Frau Präsidentin. Ich danke auch Ihnen, Herr
Kollege Gehb, dass Sie diese Frage gestatten. Natürlich
wird in diese Frage meine Position einfließen.
Wie könnte es anders sein?
Natürlich, sonst würden Sie die Frage gar nicht verstehen.
({0})
Meine Frage lautet: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass der Änderungsantrag zu dem Gesetzentwurf, den die Grünen im Rechtsausschuss und auch
heute im Plenum vorgelegt haben, nach seinem Wortlaut, der Begründung und seinem Sinngehalt die Lücken,
die sich bis zum Jahr 2004, als der Art. 1 a des EGStGB
aufgehoben worden ist, auftaten, schließt, und zwar explizit bezogen auf Zeiträume in der Vergangenheit, während Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, den Sie inhaltlich
richtig wiedergegeben haben, ein Gesetz formulieren,
das nicht nur für die vergangenen Fälle gilt, sondern
auch für alle zukünftigen Fälle gelten wird, in denen
keine neuen Tatsachen gelten, sondern alte Tatsachen zu
einer neuen Entscheidung nachträglicher Sicherungsverwahrung verwendet werden können?
Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihr Änderungsantrag
zwar dem Petitum, diese Lücke schließen zu wollen,
Rechnung trägt - das habe ich eben bereits konzediert;
man könnte noch die eine oder andere Formulierung finden; es gibt auch einen Formulierungsvorschlag des
Bundesrates -, aber in einem Punkt teile ich Ihre Auffassung, die Sie schon im Rechtsausschuss vertreten haben,
nicht, Herr Montag, nämlich dass mit unserer Formulierung nicht nur die Altfälle gelöst werden, sondern dass
wir zu einer solchen Auffächerung kommen, dass sozusagen jede rechtliche Unmöglichkeit die Anwendung erlauben würde. Das hieße - überspitzt gesagt -, da es
unmöglich ist, wegen Ladendiebstahls in Sicherungsverwahrung zu kommen, könnte jemand bei sophistischer
Betrachtung sagen: Da das unmöglich ist, verhängen wir
nachträglich Sicherungsverwahrung. Glauben Sie eigentlich, dass die Richter oder wir verrückt geworden
sind? Das ist doch überhaupt nicht gemeint. Nur bei böswilliger, sophistischer Auslegung unseres Gesetzentwurfs kann man uns unterstellen, dass wir sozusagen
mehr Fälle regeln wollen als diejenigen, die aus der Begründung deutlich erkennbar werden.
({0})
Herr Montag, es nutzt Ihnen gar nichts, mich in die
Bredouille zu bringen. Ich hätte Ihre Frage verstanden,
auch wenn Sie nicht ein eigenes Statement abgegeben
hätten, anders als viele andere, die es zunächst akustisch
hören müssen. Wenn sie diese Hürde überwunden haben,
haben sie als Nächstes Schwierigkeiten, es intellektuell
zu verstehen.
({1})
Selbst wenn sie das geschafft haben, haben sie noch
lange kein Verständnis. - So, nun können Sie sich setzen.
({2})
Ich will zur nächsten Frage kommen. Was in diesem
Zusammenhang geradezu schofel ist, ist das, was heute
bei Ihnen, Frau Jelpke, angeklungen ist, genauso wie in
der Sachverständigenanhörung. Sie tun so, als wäre die
DDR ein größerer Rechtsstaat gewesen, als es die Bundesrepublik Deutschland ist.
({3})
Dazu kann ich nur eines sagen: Bei so schillernden Gestalten wie der früheren Justizministerin Hilde Benjamin,
auch „Bluthilde“ genannt, uns zu unterstellen, dass wir
sozusagen nationalsozialistisches Gedankengut oder
Rechtsgut in unserem Strafgesetzbuch haben - Sie sollten die Geschichte einmal genau nachlesen; diese Dinge
kamen vom Kaiserreich über die Weimarer Republik
und fanden 1933 in einem Gesetz gegen Gewohnheitsverbrecher ihren Niederschlag -, und so zu tun, als hätte
die DDR aus dem Grund, nicht nationalsozialistisch sein
zu wollen, das verhindert, während die Bundesrepublik
das völlig unreflektiert übernommen hätte, ist ein dicker
Hund. Das kann das ganze Haus nicht auf sich sitzen lassen. Das sage ich, glaube ich, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich hoffe, dass wir uns nicht noch 15-mal zur Nachbesserung von Regelungslücken betreffend die Problematik der Sicherungsverwahrung treffen werden. Wir
werden uns sicherlich noch einmal treffen, wenn es um
die nachträgliche Sicherungsverwahrung von nach Jugendstrafrecht Verurteilten geht, allerdings zu einem
Zeitpunkt, wenn die Betreffenden schon längst erwachsen sind, zum Beispiel den Fall, in dem ein 17-Jähriger
wegen Mordes verurteilt wird und dann, wenn er 27 ist,
die Prognose gestellt wird, ob man ihn herauslassen
kann oder nicht; das will ich nur ankündigen. Ansonsten
hoffe ich, dass wir unseren Gesetzentwurf auch ohne
Ihre Zustimmung mit der notwendigen Mehrheit ins Gesetzblatt bringen, damit am 27. April nicht der hochgradig gefährliche Sexualstraftäter in Brandenburg wieder
herauskommt. Ich bitte diejenigen, die mehr Zeit und
Raum verwenden wollen, zu den Eltern der Opfer zu gehen und diesen zu erklären, warum wir mehr Zeit und
Raum brauchen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Reform - Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion Die
Linke bezweifelt die Beschlussfähigkeit des Hauses.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns im
Sitzungsvorstand beraten. Der Sitzungsvorstand bejaht
die Beschlussfähigkeit.
({1})
Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4740, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/1993 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor,
über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/4775? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und
der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/4776? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen
der Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 16/4373, 16/4419 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
- Drucksache 16/4648 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte es ganz deutlich am Anfang meiner Rede sagen: Die dritte Novelle der Künstlersozialversicherung ist ein großer Wurf. Damit stellen wir die
soziale Absicherung für freiberufliche Künstler und Publizisten auf eine solide Grundlage. Lassen Sie mich das
an fünf Punkten belegen:
Erstens lösen wir das Finanzierungsproblem, das
die KSV hat, aus dem System heraus. Das heißt, weder
die Versicherten noch die abgabepflichtigen Unternehmen noch die Steuerzahler werden zusätzlich belastet.
Zweitens schaffen wir Abgabe- und Beitragsgerechtigkeit auf beiden Seiten, bei den beitragszahlenden Künstlern und Publizisten und auch bei den abgabepflichtigen
Verwertern. Drittens sind eine stabile Finanzierung und
eine breite Akzeptanz die Garantie für eine gesicherte
Zukunft der Künstlersozialversicherung, und das wollen
wir alle.
({0})
Viertens. Wir geben damit auch eine schlüssige Antwort auf die wachsende Bedeutung einer Branche, und
zwar der Kulturwirtschaft.
Fünftens. Wir stärken die Basis für die kulturelle
Vielfalt in Deutschland.
Ich finde, diese fünf Punkte sprechen für sich und für
diese Novelle.
({1})
Die Kritik an der Novelle, die in den letzten Wochen
laut geworden ist, konnten wir nachhaltig entkräften.
Das betrifft zum Beispiel die Forderung nach einer gesetzlichen Definition des Künstlerbegriffs, um mehr
Rechtssicherheit erreichen zu wollen. Dieses Ansinnen
halte ich schlicht für eine Illusion. In § 2 des Künstlersozialversicherungsgesetzes sind die Definitionen von
„Künstler“ und „Publizisten“ ganz bewusst sehr allgemein gehalten. Auf dieser Grundlage ist ein Katalog erstellt worden, der die von der Künstlersozialkasse anerkannten künstlerischen und publizistischen Berufe
benennt. Das ist ein Katalog, der vom Beirat der KSK
immer wieder überarbeitet und ergänzt wird. In diesem
Beirat sitzen Vertreter aller beteiligten Verbände. Deshalb halte ich gerade dieses Gremium für am besten geeignet, um hier immer wieder einen breiten Konsens zu
finden.
({2})
- Besser. Denn Arbeitswelt und Berufsbilder, insbesondere der Kulturschaffenden, unterliegen einem ständigen
Wandel. Darauf jedes Mal gesetzgeberisch reagieren zu
wollen, wäre ein viel zu schwerfälliges Verfahren.
Sicherlich wird es immer wieder Fälle geben, die
nicht eindeutig zuzuordnen sind. Im Zweifelsfall müssen
die Sozialgerichte entscheiden und den Künstlerbegriff
eingrenzen.
({3})
Ich kann darin - im Gegensatz zu dem einen oder anderen Kollegen hier - keinen Mangel erkennen.
({4})
Im Gegenteil: Über die Jahre hat sich in der Praxis das
Zusammenwirken von Künstlersozialkasse, ihrem Beirat
und den Sozialgerichten bewährt und eingespielt. Warum sollten wir das, was gut ist, infrage stellen?
({5})
Lassen Sie mich dazu noch einen Hinweis geben.
Schauen Sie einfach einmal über die Grenzen unseres
Landes hinweg! In Österreich gibt es ein ganz ähnliches
Versicherungssystem für Künstler. Auch in der Alpenrepublik bemüht man sich derzeit um eine Novellierung.
In einem zentralen Punkt - man höre und staune - will
man sich am deutschen System orientieren. Die bisherige Orientierung an Kriterien der künstlerischen Qualität soll wieder abgeschafft werden und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die bewährte Praxis in
Deutschland ausgestaltet werden. Ich glaube, dazu brauche ich jetzt nichts weiter zu sagen.
({6})
Zurückweisen möchte ich auch die Auffassung einiger Kollegen, dass die Versicherten mit der verstärkten
Überprüfung unter den Generalverdacht des Missbrauchs gestellt werden. Schauen Sie einmal genau hin:
Überprüft werden soll eine Stichprobe von 5 Prozent.
Bisher sind es jährlich 2,5 Prozent der Versicherten, die
Nachweise vorlegen müssen. Auf der Verwerterseite
sind es demnächst aber annähernd 100 Prozent, die wir
mithilfe der Deutschen Rentenversicherung auf ihre
Melde- und Abgabepflicht überprüfen werden.
Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, dass
es sich bei der Künstlersozialversicherung um eine besondere Begünstigung freiberuflicher Künstler und Publizisten gegenüber sonstigen Selbstständigen handelt.
({7})
Neben Versichertenbeiträgen und der Künstlersozialabgabe werden 20 Prozent der Einnahmen durch Steuergelder finanziert. Gegenüber dem Steuerzahler halte ich
Kontrollen schlicht für ein Gebot der Transparenz.
({8})
Gegenüber den Versicherten ist es ein Gebot der Fairness, dass wir dafür sorgen, dass der Ehrliche den Unehrlichen nicht mitfinanziert.
({9})
Im Hinblick auf die Zugangsberechtigung von freiberuflichen Künstlern und Publizisten zur KSV gilt eine
Einkommensgrenze von jährlich 3 900 Euro. Umgerechnet auf den Monat muss ein Selbstständiger also
über ein Einkommen aus künstlerischer und publizistischer Tätigkeit von mindestens - man höre und staune 325 Euro verfügen. Das halte ich für vertretbar. Wer
noch geringere Einkünfte hat, kann nur schwerlich als
hauptberuflich tätiger Künstler und Publizist bezeichnet
werden. Da handelt es sich eher um einen Nebenerwerb.
Hierfür haben wir die KSV nicht ins Leben gerufen. Dafür ist sie nicht zuständig. Im Falle von Bedürftigkeit
greifen in solchen Fällen nachgeordnete Sicherungssysteme unseres Sozialstaates.
({10})
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber sagen,
dass die genannte Einkommensgrenze nicht starr gehandhabt wird. Das ist auch in der Praxis heute nicht der
Fall. Gerade bei jüngeren Nachwuchskünstlern wird darauf Rücksicht genommen, dass sie eine gewisse Anlaufzeit brauchen, um sich als Selbstständige in ihrem Beruf
zu etablieren. Deshalb haben wir geregelt, dass sie in den
ersten drei Jahren dieses Mindesteinkommen nicht erreichen müssen. Zudem kann die Berufsanfängerzeit ohne
Nachteile unterbrochen werden: durch Erziehungszeiten,
Wehr- und Zivildienst oder auch vorübergehend abhängige Beschäftigung.
Wir wissen, dass das Einkommen freiberuflich tätiger
Künstler großen Schwankungen unterliegt. Das hat die
KSK bisher auch immer berücksichtigt. Innerhalb von
sechs Jahren darf die Einkommensgrenze zweimal unterschritten werden, ohne dass jemand aus dieser Versicherung ausgeschlossen wird. Das ist meines Erachtens sehr
ausgewogen und auch sehr solidarisch. Dabei bleiben
wir.
({11})
Ich möchte noch auf zwei Dinge hinweisen. Ungeachtet der großen Freude über das in dieser Novelle Erreichte bleiben uns einige Aufgabenfelder, die sich allein
aus der Veränderung der Arbeitswelt, der Produktionsbedingungen sowie der Erwerbs- und Beschäftigungsformen gerade in der Kulturwirtschaft ergeben. Wir sehen
mit eigenen Augen, dass es immer schwieriger wird, den
sozialversicherungsrechtlichen Status von Kulturschaffenden eindeutig zu bestimmen. Das führt in der
Praxis oftmals dazu, dass ein und dieselbe Person im
Laufe ihrer Erwerbsbiografie zwischen den Sicherungssystemen hin- und herspringen muss. Dass es dabei zu
teilweise massiven Nachteilen gegenüber eindeutig als
abhängig Beschäftigte oder als Selbstständige definierten Gruppen kommt, möchte ich an dieser Stelle nur andeuten. Von diesem Problem ist natürlich auch die KSV
betroffen. Dem müssen wir uns zuwenden.
Es gibt ein weiteres Problem, das wir genau beobachten müssen; da müssen wir in den nächsten Jahren gegebenenfalls auch Veränderungen in Angriff nehmen. Das
sind die sogenannten Ein-Personen-GmbHs. Statt ihre
Aufträge wie bisher an Freiberufler zu vergeben und dafür die anfallende Abgabe zu entrichten, drängen zum
Beispiel Verlage ihre Auftragnehmer dazu, eine GmbH
zu gründen. Hintergrund ist, dass Zahlungen an eine
GmbH nicht der Künstlersozialabgabe unterliegen. Solche Umgehungsversuche entsprechen natürlich nicht den
Intentionen der Künstlersozialversicherung und müssen
künftig ausgeschlossen werden.
({12})
Das heißt, wir werden mit dem heutigen Beschluss
über die dritte Novellierung die Hände nicht in den
Schoß legen; denn die Künstlersozialversicherung
braucht für die freiberuflich tätigen Künstler und Publizisten eine stabile und finanzierbare Grundlage; nur so
kann sie nämlich wirksam werden.
({13})
Diese Novelle ist für mich ein klarer kultur- und sozialpolitischer Fortschritt.
({14})
Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern. Das wäre ein gutes Schlusswort gewesen.
({0})
Oh ja, ich sehe ein Minus. Ich wollte eigentlich noch
einen Dank aussprechen. Darf ich das?
({0})
- Nein, das tue ich nicht. Haben Sie den nicht mitbekommen?
Lassen Sie mich zum Schluss einen Dank aussprechen.
({1})
Ich glaube, dass es in allen Fraktionen überwiegend Zustimmung zu dieser Novelle gibt. Sie ist auch gut vorbereitet worden, und zwar durch den runden Tisch. Da
möchte ich auch einen Dank an das Ministerium richten
({2})
sowie an die Enquete-Kommission. Die Enquete-Kommission hat vor zwei Jahren die Anhörung durchgeführt.
Frau Kollegin, das ist ein langer Dank. Es ist auch
schön, dass Sie danken, aber Ihre Zeit ist deutlich überschritten. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Okay. - Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich greife natürlich gern die Worte meiner Vorrednerin
auf,
({0})
dass die Künstlersozialversicherung eine Daueraufgabe
dieses Hauses ist. Ich will die Gelegenheit nutzen, daran
zu erinnern, dass es die FDP gewesen ist,
({1})
die in den 80er-Jahren diese soziale Sicherung von
selbstständigen Künstlern und Künstlerinnen mit begründet hat. Man kann gar nicht oft genug sagen: Diese
Künstlersozialversicherung hat kulturpolitische wie auch
sozialpolitische Bedeutung.
({2})
Es war einfach so, dass vor der Einführung der Künstlersozialversicherung viele Künstlerinnen und Künstler
keinerlei soziale Absicherung hatten. Das war nicht akzeptabel. Deswegen bekennen wir uns dazu, dass dieses
Instrument so wie in der Vergangenheit auch heute und
in Zukunft leistungsfähig erhalten bleibt.
({3})
Im Übrigen, Herr Kollege Tauss, darf ich sagen, dass
der Gesetzgeber manchen, wenn auch nicht allen Forderungen entspricht, die die FDP-Bundestagsfraktion vorausschauend bereits Anfang 2005 in ihrem Antrag „Finanzierung der Künstlersozialversicherung sichern“
erhoben hat.
({4})
Deswegen fällt es uns heute auch leicht, Herr Tauss, dem
vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich sage es
noch einmal: Wir sehen in der Künstlersozialversicherung ein passendes Instrument, das für die Zukunft erhalten und weiterentwickelt werden soll.
({5})
Mit dem Gesetzentwurf wird auch die Finanzierungsgrundlage gesichert und Beitragsgerechtigkeit hergestellt. Trotz der in der jüngeren Vergangenheit zugegebenermaßen positiven Entwicklung müssen weitere
Anstrengungen zur Stabilisierung der Finanzen der
Künstlersozialversicherung unternommen werden, um
den Kostendruck auf Künstler und Verwerter im Rahmen
zu halten. Das geschieht durch eine verstärkte Kontrolle
der Verwerter von künstlerischen und publizistischen
Leistungen. Diese wird den Prüfdiensten der Deutschen
Rentenversicherung übertragen, eine - das habe ich auch
schon im Ausschuss gesagt - Lösung mit Augenmaß.
Dass die Prüfung der Versicherten künftig durch eine
dauerhafte, jährliche Befragung in einer wechselnden
Stichprobe erfolgen soll, ist auch ein Punkt, der hilft, die
Beitragsgerechtigkeit zu stärken.
Auch wenn wir zustimmen, will ich hier trotzdem sagen, dass es aus unserer Sicht einige Aspekte gibt, die
besser und klarer hätten gefasst werden können. Diese
bleiben deshalb für uns auch weiter auf der Agenda. So
muss neben der Stärkung der Einnahmeseite auch die
Ausgabenseite stärker kontrolliert werden, besonders
deshalb, weil die Zahl der Versicherten in der Künstlersozialversicherung in den letzten Jahren stetig zugenommen hat, um circa 5 Prozent pro Jahr.
({6})
Das ist eine, wie ich finde, enorme Ausweitung des Versichertenkreises. Es geht nun darum, dieses besondere
Instrument denen zu erhalten, die tatsächlich der solidarischen Sozialkasse bedürfen,
({7})
also den Fördergedanken, der ja in dieser Konstruktion
liegt und der FDP auch immer am Herzen lag, zu betonen.
Nun muss ich doch meiner Vorrednerin Frau KrügerLeißner widersprechen:
({8})
Wir sind schon der Meinung, es muss bei der Fassung
des Versichertenbegriffs noch ein Zwischending geben.
Der Verweis auf den Katalog, der regelmäßig dadurch
erweitert wird, dass sich Versicherte sozusagen in diese
Liste einklagen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Hier muss der Gesetzgeber schon seine Verantwortung
wahrnehmen.
({9})
Wenn das nicht durch eine Rahmenformulierung für den
Begriff des Versicherten möglich ist, dann muss eben
von Zeit zu Zeit eine Aktualisierung bzw. Fortschreibung vorgenommen werden. In einem Rechtsstaat kann
es nicht sein, dass sich die Betroffenen selber darum
kümmern müssen. Hier ist also der Deutsche Bundestag
gefordert.
({10})
Natürlich müssen wir dabei offen für neu entstehende,
künstlerisch geprägte Berufsformen sein. Das habe ich
auch bereits in der ersten Lesung gesagt.
Zum Schluss noch zum Entschließungsantrag der
Grünen. Herr Kurth, Sie verfahren da wieder so ein bisschen nach dem Motto: Alles muss geregelt sein, mindestens aber vieles.
({11})
- Ja, aber dabei handelt es sich um eine Rahmenregelung, Herr Kollege Tauss. Im Antrag der Grünen dagegen geht man vom Hölzchen zum Stöckchen und fordert,
dass für sehr detailliert beschriebene Fälle geprüft werden soll, ob es Doppelzahlungen gibt, also ob Verleger
und künstlerische Funktion in einer Hand sind.
Diese Abgrenzungsprobleme, Herr Kurth, mögen in
der Praxis in dem einen oder anderen Fall vorkommen.
({12})
Ob die Größenordnung dieser Fälle aber tatsächlich den
Aufwand rechtfertigt, den eine Annahme Ihres Entschließungsantrages zur Folge hätte, bezweifle ich.
({13})
Das kann es eigentlich nicht sein. Das Anliegen, das Sie
in Ihrem Antrag formuliert haben, ist nicht ganz verkehrt. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung
enthalten.
Insgesamt tragen wir aber das Anliegen Fortentwicklung der Künstlersozialversicherung im Herzen und werden auch in der Zukunft gerne bereit sein, an dieser
wichtigen Aufgabe mitzuarbeiten.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
Ende der Dreigroschenoper heißt es: „Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?“
({0})
Wie die Zeiten sich ändern: Heute ist eine Festanstellung
Wunsch und nicht mehr Schreckgespenst und im Kulturbereich manchmal eher die Ausnahme.
Mit diesen Worten von Brecht beginnt übrigens auch
das Buch „Wir nennen es Arbeit“. In diesem Buch wird
die digitale Boheme ausgerufen und werden die Freiheit
und Zukunftsaussichten selbstständiger Kulturschaffender gefeiert.
({1})
Kritiker dagegen sehen darin Opfer von prekären Arbeitsverhältnissen und eine Arbeitsplatzmisere. Die
„FAZ“ hat es so zusammengefasst: Früher gab es die
analoge Boheme,
({2})
das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung und
ohne Internetzugang; heute gibt es die digitale Boheme,
({3})
das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung, aber
mit Internetzugang.
Alles vielleicht nur ein launiges, neues Etikett; aber
die Beobachtungen zum Wandel in der Kulturszene
stimmen in jedem Fall. Denn Tatsache ist: Der Wandel
im Kultur- und Kunstbereich ist greifbar. Er ist in rasanter Bewegung. Es gibt immer mehr Selbstständige in
dieser Kreativbranche, aus welchem Grund auch immer.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Künstlersozialversicherung wider durch eine steigende Zahl von
Versicherten auf der einen Seite und den Streit um die
Anerkennung neuer Berufsgruppen auf der anderen
Seite. Während früher in manchen Bereichen der Kunst
die Frage nach Geld verpönt war und die Frage nach der
Rente häufig gar nicht gestellt wurde, lesen wir bei der
digitalen Boheme - ich zitiere -:
… die Frage nach der eigenen Altersvorsorge, nach
etwaiger Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit wird ohne staatlich-strukturelle Hilfe und Institutionen nicht zu lösen sein. Mit 35 lässt sich sehr
gut von der Hand in den Mund leben, mit 75 wird
das zum Problem …
({4})
Die Autoren, beide selbst Kreative und Anfang 30,
würdigen den Wert der sozialen Sicherung von Kulturund Medienschaffenden durch die Künstlersozialversicherung. Auch aus diesem Vertrauen junger Kreativer
begründet sich aus meiner Sicht unser politischer Auftrag, nämlich Bestand und Funktionsfähigkeit der Künstlersozialversicherung zu stärken.
Die erste Lesung hat gezeigt, dass sich die Fraktionen
im Grundsatz einig sind: Die Künstlersozialversicherung
ist unverzichtbar.
({5})
Sie ist auch Baustein dafür, dass sich künstlerische Freiheiten entfalten können. Denn vor ihrer Einführung hatten selbstständige Künstler und Publizisten häufig keine
soziale Absicherung; heute sind sie gegen die Risiken
von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter geschützt.
Das Instrument hat sich bewährt. Aber auch eine erfolgreiche Sicherung braucht eine rechtzeitige Erneuerung,
um leistungsfähig zu bleiben. Wir sehen es bei der alljährlichen Haushaltsdebatte um den Bundeszuschuss;
denn die Versichertenzahlen steigen und damit der Finanzbedarf.
Die von der Künstlersozialkasse erfassten Honorare
können diesen Bedarf bislang kaum ausgleichen. So ist
der Abgabesatz für die Verwerter gestiegen. Leider erfüllt nicht jeder Unternehmer diese Abgabepflicht, mancher aus Unkenntnis nicht. Wir brauchen deshalb eine
bessere Überprüfung der Abgabepflicht. Die Künstlersozialkasse kann dies nur eingeschränkt leisten. Deshalb wird die Aufgabe zukünftig von der Deutschen
Rentenversicherung wahrgenommen werden.
Dabei ist unstrittig auch die Aufklärung über die Abgabepflicht wichtig. Diese Information, Herr Kollege
Kurth, wird von der KSK heute schon gegeben. Ich empfehle Ihnen insoweit den geneigten Blick auf die Internetseite der Künstlersozialkasse.
({6})
Dort finden Sie auf sehr viele Fragen eine Antwort und
Hinweise auf eine mögliche Abgabepflicht.
Die KSK will dieses Angebot übrigens noch ausbauen und befindet sich insoweit bereits im Gespräch
mit der Rentenversicherung. Ihr Entschließungsantrag
ist also bereits heute überholt.
Auch die Angaben der Versicherten zum Arbeitseinkommen müssen systematisch überprüft werden. Das ist
Aufgabe der KSK, ebenso die Abklärung von Abgrenzungsfragen bei den Begrifflichkeiten des Künstlers und
des Publizisten.
Stichprobenartig werden zukünftig Versicherte ausgewählt, die ihre tatsächlichen Arbeitseinkommen der
letzten vier Jahre offenlegen müssen. Das ist richtig so.
Denn anders, als es der Antrag der Linken vermuten
lässt, ist nicht Ziel dieser Prüfung, die Berechtigten auszuschließen. Es geht vielmehr darum, nur den wirklich
Berechtigten den Zugang zu diesem Sondersystem zu ermöglichen. Darum handelt es sich. Denn selbstständige
Künstler und Publizisten sind privilegiert.
({7})
Für eine dauerhafte Akzeptanz eines solchen Sondersystems ist es deshalb zwingend erforderlich, dass nicht
der Hauch des Eindrucks entsteht, Künstler und Publizisten würden sich nicht derselben Überprüfung stellen
müssen wie alle anderen Versicherten in allen anderen
Sozialversicherungssystemen. Deshalb ist Ihr Antrag,
meine Damen und Herren von der Linken, vollkommen
absurd.
Es war auch ein Wunsch der Künstler und Publizisten. Sie waren wie die Verwerter Partner des bereits erwähnten runden Tisches. Sie haben diesen Gesetzentwurf beraten und befürwortet. Das Ziel muss sein, dass
die Künstlersozialversicherung weiter handlungsfähig ist
und günstige Versicherungsbeiträge bieten kann.
Das heißt nicht, dass mittelfristig nicht weiterer Diskussionsbedarf gegeben wäre. Damit meine ich - wie
auch der Kollege Kolb - übrigens auch nicht die vom
Bündnis 90/Die Grünen angesprochenen Doppelzahlungen. Es gibt im Kultur- und Medienbereich - sicherlich
unstrittig - hybride Strukturen. Aber dem von Ihnen genannte Fall lässt sich heute bereits mit einem klugen Vertragsmanagement begegnen, bei dem übrigens auch die
KSK beratend zur Seite steht.
({8})
Handlungsbedarf gibt es auch nicht in dem von den
Linken aufgeworfenen Sinne. Die Forderung, dass zukünftig vermutet werden soll, Künstler und Publizisten
seien selbstständig, ist, wie ich finde, hanebüchen. Dies
verstößt nicht nur gegen alle Regelungen des geltenden
Sozialversicherungsrechts, sondern auch gegen das
Schutzbedürfnis der Künstler und Publizisten.
({9})
Deshalb hat sich die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ bereits in der letzten Legislaturperiode
einstimmig dagegen ausgesprochen, ein solches Wahlrecht einzuführen. Diese Empfehlung, verehrte Kollegen
der Linken, ist mit den Stimmen Ihrer Fraktion in dieser
Legislaturperiode bestätigt worden.
({10})
Das haben Sie bei der Formulierung Ihres Antrages vielleicht übersehen.
Die Enquete-Kommission prüft aber zurzeit weiteren
Handlungsbedarf. Denn dazu ist sie mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses eingesetzt worden. Der Bericht wird im Herbst dieses Jahres vorliegen und Handlungsempfehlungen an den Gesetzgeber enthalten. Da
sind wir uns sicherlich einig, Herr Kollege Otto. Diese
Empfehlungen können dann Grundlage einer Nachjustierung sein.
Es gibt offene Fragen, so im Zusammenhang mit der
Beendigung von Versicherungsverhältnissen oder mit
der Höhe der Mindesteinkommensgrenze. Der Kreis der
Versicherten wirft immer neue Probleme auf, da der Gesetzgeber bewusst eine offene Definition von Künstlern
und Publizisten gewählt und keine abschließende Liste
an Berufen erstellt hat. Damit ist weiter Raum für die
Sozialgerichte geschaffen worden. Die Kollegen Kurth
und Kolb haben in der letzten Debatte vollkommen zutreffend auf das Trauerrednerurteil hingewiesen.
Am Anfang dieser Rede stand die Boheme. Balzac
hat einmal über sie gesagt:
({11})
Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Unglück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums,
aber stehen immer über ihrem Geschick.
({12})
Für den Reichtum bleiben auch heute die Künstler
selbst verantwortlich. In einer Welt aber, in der die Kreativität die Zukunftsreserve dieses Landes darstellt, ist es
mehr als eine gesellschaftliche Frage, ja es ist unser politischer Auftrag, die Entfaltung künstlerischer Kreativität
mit geeigneten sozialen Rahmenbedingungen abzusichern. Fangen wir heute damit an!
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
sehr erfreulich, dass wir alle fraktionsübergreifend die
Bedeutung der Künstlersozialkasse anerkennen und würdigen.
({0})
Ich denke, wir sind uns auch darin einig, dass die
Künstlersozialkasse vor enormen Herausforderungen
steht. Neue Technologien führen zu neuen Berufsbildern. Die von Ihnen angesprochene digitale Boheme ist
dafür nur ein Beispiel und Ausdruck dafür, dass es neue
Berufsbilder im Bereich der Kreativbranche gibt.
Der Kunstbegriff verändert sich und obliegt einer
ständigen Debatte. Die Zahl der über die Künstlersozialkasse Versicherten hat sich in den Jahren seit ihrer Gründung deutlich erhöht. Das führt natürlich zu einem finanziellen Mehrbedarf. Insoweit sind wir uns einig.
Wenn es jedoch um die Frage geht, wie man die
Künstlersozialkasse weiterentwickeln soll, dann gehen
unsere Vorstellungen offensichtlich auseinander. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun die Überprüfung der verwertenden Unternehmen sowie die
Überprüfung der versicherten Künstler und Publizisten
ausgeweitet werden. Bei der ersten Lesung habe ich die
Sorge geäußert, dass diese verschärfte Überprüfung
womöglich zu einer Bestandsreinigung führen soll, die
weniger den reichen und prominenten Künstlern und
Publizisten schaden kann. Sie trifft vor allen Dingen
diejenigen Künstler und Publizisten, deren Einkommen
aus selbstständig ausgeübter künstlerischer Tätigkeit
unter der Mindesteinkommensgrenze von 3 900 Euro
pro Jahr liegt.
({1})
Es hat mich stutzig gemacht, dass Sie in den bisherigen
Debatten immer im Zusammenhang mit finanziellen
Engpässen über eine Überprüfung diskutiert haben. Insofern fühle ich mich in meinen Befürchtungen, die auch
Verdi geäußert hat, eher bestärkt. Deswegen können wir
dem jetzigen Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({2})
Wir von den Linken meinen, die Verschärfung der
Überprüfung ist nicht notwendig, und das aus folgenden
Gründen: Zum Ersten gab es, historisch gesehen, ein
Zweischrittverfahren zur Ermittlung der Beiträge. Das
wurde dann komplett in ein Schätzverfahren umgewandelt. Diese Umwandlung erfolgte aber nicht auf Wunsch
der Künstler und Publizisten, sondern deswegen, weil
die Verwaltung der KSK es so gefordert hat. Ihr war der
Aufwand zu groß.
Zum Zweiten gibt es bereits heute Überprüfungen.
Die zeigen sehr eindeutig, dass die Fehlerquoten sehr gering sind.
({3})
Zum Dritten gibt es für diese geringen Fehlerquoten
einen Grund. Vom geschätzten Einkommen ist natürlich
die Höhe der Beiträge zur Krankenkasse und zur Rentenversicherung abhängig. Wer nun zu hohe Einkommen
angibt, muss zu hohe Beiträge zur Krankenkasse zahlen.
Wer aber wiederum zu niedrige Einkommen angibt, bekommt geringere Zuschüsse zur Rentenversicherung und
erwirbt damit auch niedrigere Ansprüche im Hinblick
auf die Rentenversicherung. Insofern gibt es strukturell
gar keinen Anreiz für die Versicherten, ihr Einkommen
niedriger oder höher anzugeben.
Zum Vierten bedeutet eine Überprüfung immer einen
enormen Mehraufwand für die Künstler und Publizisten,
den wir für unverhältnismäßig halten.
({4})
Anstatt die Überprüfung auszuweiten, sollte die
Künstlersozialkasse, die KSK, weiterentwickelt werden.
Dazu haben wir im Ausschuss verschiedene Änderungsvorschläge unterbreitet; ich möchte hier nur auf einen
verweisen. Gegenwärtig führt die Aufnahme eines geringfügigen und befristeten Beschäftigungsverhältnisses
zum Ausschluss aus der Künstlersozialkasse. Das
muss man sich einmal vorstellen: Ein Künstler findet gerade partout keinen Auftraggeber für seine Kunst, hätte
aber zum Beispiel im Rahmen eines Filmprojektes die
Möglichkeit, für - sagen wir einmal - zwei Monate eine
geringfügige Beschäftigung von weniger als 15 Stunden
pro Woche aufzunehmen. Das kann er nach jetziger Gesetzeslage nicht. Er muss sich also entscheiden, weiter
ohne Geld dazusitzen oder kurzfristige Mehreinnahmen
zu haben und dafür aus der Künstlersozialkasse hinauszufliegen. Ich finde, wenn eine geringfügige Beschäftigung nicht mehr als 15 Stunden pro Woche umfasst und
sich nicht über mehr als zwei Monate erstreckt, dann
darf das nicht zu einem Ausschluss aus der Künstlersozialkasse führen. Alles andere entspricht einfach nicht
der Realität in der heutigen Kreativbranche.
({5})
Es ist ein Armutszeugnis für eine Kulturnation, wenn
ihre Künstlerinnen und Künstler in Unsicherheit und Armut leben müssen. Die Statistiken zeigen, dass mit zunehmendem Alter auch die materielle Not zunimmt. Die
Lösung dieses Problems wird mit dem hier vorliegenden
Gesetzentwurf nicht in Angriff genommen. Aber genau
der Lösung dieses Problems werden wir uns zukünftig
intensiv widmen müssen.
Besten Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Die Rednerin der SPD
hat im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf von einem
großen Wurf gesprochen.
({0})
Ich muss Ihnen sagen: Ein großer Wurf sähe anders aus.
({1})
Natürlich ist es - deswegen stimmen wir auch zu ({2})
ganz sinnvoll und vernünftig, Abgabenpflichten und Verwerterpflichten stärker zu überprüfen. Aber ein großer
Wurf - der in der Tat auch notwendig wäre - würde sich
dem von Frau Connemann angesprochenen Wandel viel
intensiver zuwenden. Er würde einmal analysieren, wie
sich die Produktionsstrukturen und -bedingungen eigentlich verändert haben. Wenn ich Ihnen das jetzt darlege, Herr Kolb, dann werden Sie auch sehen, warum unser Entschließungsantrag nicht obsolet ist.
({3})
Ich habe mir einen Satz aus Ihrer Rede, Frau
Connemann, direkt aufgeschrieben. Sie sagen, die Zahl
der selbstständigen Künstler steigt, warum auch immer. Ich sage Ihnen einmal warum: Hauptursache sind
Outsourcing-Strategien der verschiedenen Unternehmen
in der Kulturwirtschaft, um Personalkosten zu senken.
({4})
Wir haben weiterhin einen Kostensenkungsdruck
durch sinkende öffentliche Kulturausgaben; von 2001
auf 2004 sind das minus 6,2 Prozent. Auch da wird verstärkt auf Auslagerungen zurückgegriffen. Zum Beispiel
die festen Ensembles in den Theatern schrumpfen auf
ein Minimum, da diese verstärkt auf Gastspiele zurückgreifen, die dann wiederum mit freien Schauspielern arbeiten.
Im Entschließungsantrag ist auch noch einmal die besondere Entwicklung im Verlagswesen erwähnt, wo
Leute ausgegliedert werden, die als unabhängige Produktions- und Produzentenleiter weitere Produzenten beschäftigen, sich also in dieser Doppelrolle als Subunternehmer und Auftraggeber und Auftragnehmer befinden.
({5})
Das ist auf jeden Fall - Sie streiten das nicht ab, Herr
Tauss - die Ursache dafür, warum sich die Versichertenzahlen in den letzten Jahren verdreifacht haben und warum die Verwerterzahlen sich nur in etwa verdoppelt haben.
({6})
An dieser Stelle geht die Schere auseinander. Auf diese
Entwicklung geben Sie absehbar keine Antwort.
({7})
Wir versuchen mit unserem Entschließungsantrag,
wenigstens eine dieser Fehlentwicklungen anzusprechen.
({8})
Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dass
diese Regierung ihre Kapazitäten und Möglichkeiten
nutzt,
({9})
um das Problem einmal zu erheben und für diese Entwicklung eine Lösung vorzuschlagen.
({10})
Wir sind schon sehr bescheiden. Da hat nun die Regierung bei diesem Gesetzesvorhaben - es ist ja ein relativ
kleines Gesetz - schon allein zu dem Entwurf ein Büchlein - recht stabil, Hardcover - mit 250 Seiten herausgebracht.
({11})
Wenn man dann nach Daten sucht in diesem Buch, die
die von mir beschriebenen Veränderungen in den Produktionsstrukturen beschreiben könnten, findet man
nichts. Der Teil zum Arbeitsmarkt umfasst circa sechs
Seiten, ist sehr allgemein, und es fehlt jegliche Datenbasis. Das trifft auch genau das, was das WZB in der
Anhörung im Jahr 2004 vor der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ gesagt hat. Frau Connemann,
Sie sind da ja die Vorsitzende. Da hat das WZB schon
beklagt, dass es eine mangelhafte Datenlage gibt und
dass man die Funktionsweisen und Mechanismen auf
den Arbeitsmärkten nicht so analysieren kann, wie es für
die selbstständigen Künstlerinnen und Künstler erforderlich wäre.
({12})
Unser Entschließungsantrag ist mithin überhaupt
nicht überholt, sondern deutet an dieser Stelle auf eine
Lücke im Regierungshandeln hin, die in der letzten Legislaturperiode, aber auch jetzt mit der breiten Mehrheit
der Großen Koalition bei weitem nicht geschlossen wird.
Deswegen kann man von einem großen Wurf wahrlich
nicht sprechen, wohl aber von einem vernünftigen Gesetz.
({13})
- Und jetzt, Frau Connemann, rufen Sie mir hier zu, ich
solle auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission warten.
({14})
Ja, die Veränderungen im Künstlergewerbe vollziehen
sich schneller, als die Enquete-Kommission mit ihren
Beratungen nachkommen kann. Darauf kann man nicht
warten. Handeln sollte, Herr Thönnes, die Regierung.
Sie sollte relativ schnell auf diese drängenden Probleme
eine Antwort geben.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4648,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/4373 und 16/4419 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter
Lesung angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4778. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD
und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke und der FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kerstin Müller ({0}), Volker Beck ({1}),
Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Humanitäre Katastrophe in Darfur
- Drucksachen 16/3526, 16/4616 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht zum ersten Mal reden wir heute über den schleichenden Völkermord in Darfur. Die Fakten sind bekannt: Der blutige Bürgerkrieg der sudanesischen Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung in Darfur hat bereits
über 300 000 Menschen das Leben gekostet. Über zwei
Millionen Menschen sind vertrieben. Hunderttausende
- so die Antwort der Bundesregierung - sind von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Vor allen Dingen sind die
Massaker an der Zivilbevölkerung dramatisch. Zudem
dauern die Luftangriffe an.
Die UNO hat mit der Resolution 1706 bereits eine robuste Friedensmission zum Schutz der Menschen in
Darfur beschlossen. Dass sich aber die sudanesische Regierung immer noch weigert, diese UN-Mission ins
Land zu lassen, und jetzt auch eine gemeinsame Mission
von UNO und Afrikanischer Union sabotiert, dient in
Europa leider oft dazu, wortreich die eigene Ohnmacht
zu beklagen. Tatsächlich hat der Sudan mit seinen
Schutzmächten China und Russland wichtige Trümpfe
in der Hand. Diese Trümpfe kann der Sudan aber nur
deshalb ausspielen, weil der Rest der Welt keine entschlossene Initiative ergreift. Das muss sich ändern.
({0})
Ich möchte hier auf die Antwort auf unsere Große
Anfrage eingehen. Ausführlich zählen Sie die geleistete
humanitäre Hilfe auf, die zweifelsfrei von großer Bedeutung ist. Ich möchte an dieser Stelle - ich denke,
auch in Ihrem Namen - ausdrücklich allen immer noch
vor Ort tätigen humanitären Organisationen für ihren
mutigen Einsatz danken. Die Situation wird immer
schwieriger; umso beachtlicher ist es, dass die Organisationen dort weiterhin den Menschen helfen.
({1})
Allerdings - da komme ich zu einem entscheidenden
Punkt - verstecken Sie sich bei der Frage von Sanktionen der Europäischen Union hinter der Feststellung,
UN-Sanktionen seien effektiver. Das ist zwar theoretisch
richtig, praktisch bedeutet das aber leider Untätigkeit;
denn wie wir alle wissen, blockieren China und Russland zurzeit im UN-Sicherheitsrat.
Daher ist es an der Zeit, dass die Europäische Union
endlich vorangeht. Sie muss gezielte, personenbezogene
Sanktionen verhängen.
Kerstin Müller ({2})
({3})
Wir machen das ja schon im Fall Belarus, im Fall Simbabwe. Ich hoffe, dass es uns ähnlich wie dem Menschenrechtsausschuss - seine interfraktionell vereinbarte
Entschließung enthält das nämlich auch - gelingt, diese
Forderung mit einer gemeinsamen Entschließung des
Bundestages zum Ausdruck zu bringen.
Wichtig wäre auch, den Vereinten Nationen und der
Afrikanischen Union demonstrativ eine Unterstützung
der gemeinsamen Mission - wie auch immer sie aussehen mag - anzukündigen. Es muss bei dieser Unterstützung gar nicht um größere Truppenkontingente gehen.
An dieser Stelle wird gern die Debatte geführt - so
auch in der Diskussion um Afrika -, ob eine Militärintervention gegen den Willen der sudanesischen Regierung
zu befürworten ist oder nicht. Das ist - ich will es hier
sehr deutlich sagen - gegenwärtig eine Scheindebatte.
Es kommt jetzt darauf an, effektiven Druck auf die Regierung in Khartoum auszuüben, damit sie die Umsetzung der bereits beschlossenen Mission nicht weiter sabotiert.
({4})
Das ist das Gebot der Stunde. Darum muss es uns erst
einmal gehen.
Wir müssen für die sudanesische Regierung den Preis
ihrer Katz-und-Maus-Politik endlich gemeinsam in die
Höhe treiben. Wir brauchen sofortige gezielte Sanktionen der EU. Dafür sollte sich die Bundesregierung einsetzen. Sie sollte den Sicherheitsrat dazu drängen - auch
das ist bereits beschlossen -, ein Verbot militärischer
Flüge über Darfur durchzusetzen, damit das sudanesische Militär nicht mehr ungehindert eine Offensive gegen die Bevölkerung in Darfur fliegen kann, also keine
Bomben mehr mit den Antonows auf die Dörfer abwerfen kann. Das darf nicht mehr passieren.
Ich fände es sehr wichtig - auch das steht übrigens in
der interfraktionellen Entschließung des Menschenrechtsausschusses -, dass die EU-Ratspräsidentschaft
und der G-8-Vorsitz genutzt werden, Russland, China
und den Staaten der Arabischen Liga klarzumachen,
dass es auch in ihrem Interesse ist, dass die sudanesische
Regierung dieser Friedensmission endlich zustimmt.
Das Jüdische Museum in Berlin - das ist ja nicht irgendeine Adresse - beendet heute seine Darfuraktionswoche, die hochrangig besetzt war. Dort hat der sudanesische Parlamentarierkollege Salih Mahmoud Osman
aus Darfur noch einmal an uns, also an alle Bundestagsabgeordneten, appelliert: Nehmen Sie Ihre Verantwortung im Rahmen der EU-Präsidentschaft wahr, sorgen
Sie für den Schutz der Menschen in Darfur!
Der Menschenrechtsausschuss hat bereits im November die interfraktionelle Erklärung beschlossen. Es gibt
eine Erklärung des Europäischen Parlaments. Es ist Zeit,
dass auch wir, dass der Deutsche Bundestag ein entschlossenes Handeln zum Schutz der Menschen in Darfur einfordert. Die politischen Mittel sind noch nicht
ausgeschöpft. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt,
hier eine gemeinsame klare Erklärung zustande zu bringen. Das wäre ein starkes Signal an die Menschen in
Darfur.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten zehn Jahren konnte man feststellen, dass
Afrika positive Schlagzeilen macht. Aber es gibt Ausreißer. Denken wir an Somalia, an Simbabwe und vor allen Dingen an Darfur. Herrscher wie Mugabe oder Herr
Baschir helfen dem afrikanischen Kontinent nicht. Wir
haben im Menschenrechtsrat im letzten Jahr erlebt, dass
ein Teil der afrikanischen Staaten die Ereignisse in Darfur immer noch nicht verurteilen. Das ist falsch verstandene Solidarität.
({0})
Die Antwort auf die Große Anfrage der Grünen beurteile ich außerordentlich positiv, weil sie in sich geschlossen die Leistungen und die Bemühungen der Bundesregierung in diplomatischer und materieller Hinsicht
darstellt. Dies kann für die Präsidentschaft weitergenutzt
werden.
Wenn wir eine Kanzlerin haben, die in Russland, in
China und den USA Menschenrechtsverletzungen anspricht, dann wird damit die Bedeutung untermauert, die
Menschenrechte für uns haben und die wir auch in diesem Fall gemeinsam einfordern. Ich danke auch dem
Außenminister und Frau Wieczorek-Zeul, dass sie diese
Themen im Rahmen der G-8-Präsidentschaft und der
EU-Ratspräsidentschaft auf verschiedenen Ebenen deutlich ansprechen.
({1})
Ich habe die letzten 15 UN-Resolutionen bei mir, die
in dieser Sache verabschiedet worden sind. Da sieht
man, dass es diplomatische Bemühungen gegeben hat.
Aber wir sind mit den diplomatischen Bemühungen fast
am Ende. Wenn China, Russland und die arabischen
Länder nicht erkennen, was in Darfur passiert, ist die UN
am Ende.
Ein komplettes Flugverbot muss eingefordert werden. Sanktionen von Im- und Exporten müssen durchgesetzt werden. Das Waffenembargo darf nicht mehr
unterlaufen werden.
Hartwig Fischer ({2})
({3})
China hat dies getan und in den vergangenen drei Jahren
für 65 Millionen Dollar Waffen geliefert.
Darfur sollte - das ist eine Bitte von mir ans Auswärtige Amt - eine Sonderseite im Internet bekommen, wo
die Entwicklungen der Flüchtlingslager und der Dörfer
ständig aktualisiert gezeigt werden, damit die Bevölkerung in Deutschland aktuell über das informiert werden
kann, was sich in diesem Land abspielt. Denn wir müssen die Menschen darauf vorbereiten, dass dort unter
Umständen ein Blauhelmeinsatz stattfinden wird.
Mehrere von uns sind in Darfur gewesen. Wir haben
das menschliche Leid erleben können. Wir sind das Risiko eingegangen, auch in Krisenregionen zu gehen. Wir
haben die menschliche Situation von Kindern erlebt. Wir
wissen, dass Kindersoldaten jetzt wieder verstärkt eingezogen werden. Ich zitiere aus der Resolution 1714 der
UN:
... mit dem Ausdruck seiner ernsten Besorgnis über
die Einziehung und den Einsatz von Kindern im
Konflikt in Sudan, insbesondere durch andere bewaffnete Gruppen in Südsudan ...
Ich zitiere noch einen Satz, der sich in einer ganzen
Reihe von Resolutionen aus den letzten zwei Jahren wiederfindet:
... feststellend, dass die Situation in Sudan nach wie
vor eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt ...
Das ist die Situation.
Über 2 Millionen Vertriebene, Einbeziehung des
Tschad und der Zentralafrikanischen Republik in diesen
Bürgerkrieg, über 200 000 Tote, Massenvergewaltigungen, von denen Zehntausende von Frauen und Mädchen
betroffen sind, all dies bedeutet die Destabilisierung einer gesamten Region. Wir wissen aus der letzten Debatte, dass allein in der Region Kutum 400 000 bis
500 000 Menschen seit Juni vergangenen Jahres für
keine Organisation mehr zugänglich sind.
Ich weiß nicht, ob das nach der Geschäftsordnung erlaubt oder nicht erlaubt ist.
({4})
Herr Kollege, Sie müssten eigentlich die amtierende
Präsidentin fragen.
Frau Präsidentin, ich frage Sie.
Da das keinen Demonstrationszweck hat, erlaube ich
es.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen
sind noch nicht in Darfur gewesen. Manche sagen, es ist
der Vorhof zur Hölle. Dies ist das Foto einer Mutter, die
in einem Dorf gelebt hat, das überfallen wurde. Dieses
Foto habe ich in Kalma bei Nyala im Juni 2004 gemacht.
Dieses Kind hat die Strapazen von 14 Tagen Flucht überlebt, ist aber am Abend nach der Entstehung dieses Fotos
gestorben, weil ihm mehr nicht geholfen werden konnte.
So sehen die Kinder aus, die im Flüchtlingslager unter
Hunger leiden.
Wenn es uns nicht endlich auf diplomatischem Wege
gelingt, dass diesem Morden Einhalt geboten wird, dann
bin ich persönlich der festen Überzeugung: Da drei Jahre
Diplomatie die Regierung Baschir nicht zum Einlenken
bewogen haben, brauchen wir einen Blauhelmeinsatz,
wenn die Bemühungen in den nächsten Wochen und
Monaten nicht zum Erfolg führen. Das Sterben dort
muss ein Ende haben.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zunächst dem Kollegen Hartwig
Fischer dafür danken, dass er das Plakat gezeigt hat;
denn die Situation ist furchtbar. Den Mitgliedern dieses
Hohen Hauses ist sie seit Jahren bekannt, aber es ist gut,
dass er damit auch die Öffentlichkeit angesprochen hat.
Ich möchte noch einmal ganz klar den Adressaten der
heutigen Debatte nennen: die sudanesische Zentralregierung in Khartoum, die die Übergriffe der Dschandschawid gegen die Rebellengruppen und gegen die Zivilisten in Darfur veranlasst oder zumindest duldet.
In der „SZ“ von heute ist ein Artikel von Chris Patten
zu lesen, in dem steht, dass auch einzelne Mitglieder der
Regierung in Khartoum eine persönliche Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen in Darfur
tragen. Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd und
wirklich unglaublich, was Baschir Anfang dieser Woche
in Richtung USA geäußert hat - ich zitiere -:
Ja, dort wurden Dörfer abgebrannt, aber nicht in
dem Ausmaß, wie Sie behaupten. Die Menschen
dort sind im Krieg getötet worden. Vergewaltigungen gehören nicht zur sudanesischen Kultur oder
der Kultur der Menschen in Darfur. Sie existieren
nicht. Bei uns gibt es das nicht.
Genau diese Existenz von Vergewaltigungen wird uns
aber in einem Kommuniqué der sudanesischen Botschaft
bestätigt. Das zeigt die zynischen Verharmlosungen und
die Widersprüchlichkeit. Sie sind unerträglich und zeigen, welch Geistes Kind das Regime ist.
Verschärft wird die Lage dadurch - meine Vorredner
haben das angesprochen -, dass der Konflikt auf die Region, auf den Tschad übergreift. Über die Verschleppung der Hybridmission von AU und UN und des
Dreiphasenplans hinaus weigert sich das Regime in
Khartoum, mit dem Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag zusammenzuarbeiten. Das alles ist nur möglich, weil die internationale Staatengemeinschaft nicht
mit einer Stimme spricht. Da liegt die Krux.
So üben China und Russland zurzeit Druck auf den
UN-Menschenrechtsrat aus, um zu verhindern, dass die
Menschenrechtsverletzungen in Darfur verurteilt werden
und dass Konsequenzen folgen. Dabei wissen wir alle:
China kann und muss mit seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht im Sudan wesentlich mehr zu einer
Lösung beitragen. Die Bundeskanzlerin hat Meldungen
zufolge am Montagabend mit Wen Jiabao telefoniert und
dabei auch über Darfur gesprochen. Das begrüßen wir
sehr. Nur, wir müssen fragen: Welche konkreten Schritte
sind vereinbart worden? Welche Initiativen will die
Bundesregierung im Rahmen der doppelten Präsidentschaft auf den Weg bringen? Ich habe an dieser
Stelle mehrmals erwähnt, dass wir es begrüßen, dass im
Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft Afrika auf die
Agenda gesetzt wurde. Aber wir müssen dann auch ein
verstärktes Engagement in Richtung Darfur erkennen
können, und das sehen wir noch nicht.
In der Beantwortung der Großen Anfrage der Grünen
verweist die Bundesregierung sowohl in der Frage nach
Sanktionen als auch in der Frage eines Flugverbots über
Darfur auf die Zuständigkeit der Vereinten Nationen
und darauf, dass eine entsprechende Rechtsgrundlage
noch zu schaffen sei. Das ist ja per se richtig. Nur, wie
ist die Bundesregierung denn inhaltlich zu diesen Forderungen positioniert? Ich freue mich, dass der Kollege
Hartwig Fischer schon etwas dazu gesagt hat; aber ich
sehe noch keine einheitliche Position der Bundesregierung.
Die Bundesregierung propagiert bei vielen Gelegenheiten als Allheilmittel das Konzept der „vernetzten
Sicherheit“, auch im Hinblick auf Afghanistan. In der
Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage meiner
Fraktion heißt es - ich zitiere -: Im Sinne einer Verbindung ziviler und militärischer Instrumente sowie des Zusammenspiels verschiedener Akteure entspricht das Vorgehen der AU in Darfur durchaus dem Konzept der
vernetzten Sicherheit. - Das ist entweder zynisch, oder
es ist mit diesem Konzept doch nicht so weit her.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem
Haus das gemeinsame Ziel, die Katastrophe in Darfur zu
beenden. Wir alle kennen den Sachstand, wir alle kennen
die Analysen. Wir müssen uns dabei noch einmal vor
Augen führen, wie der Friedensprozess in Darfur innenpolitisch tragfähig begleitet werden kann. Wir wissen,
wie es um das Darfur Peace Agreement steht. Ohne einen politischen Prozess werden wir keinen dauerhaften
Frieden bekommen. Unsere Debatten hier im Hohen
Haus sind zwar wichtig; aber wir wissen doch genau,
dass sie auf Baschir wahrscheinlich keinen Eindruck machen. Baschir muss endlich spüren, dass er die internationale Gemeinschaft nicht länger entzweien und gegeneinander ausspielen kann. Weitere Erklärungen der
Besorgnis der Außenminister der EU-Länder werden daran nichts ändern. Deshalb appelliere ich an Frau
Merkel. Sie hat das Heft in der Hand, gerade während
unserer doppelten Präsidentschaft. Sie muss sich an die
Spitze stellen und seitens der EU und der Vereinten Nationen die Initiative ergreifen.
({0})
Das ist umso dringender, als wir in Simbabwe und am
Horn von Afrika die nächsten Konfliktherde haben. Es
gilt unbedingt zu verhindern, dass die hochgelobte „Responsibility to protect“ zu einer Phrase verkommt, dass
die AU nachhaltig an Glaubwürdigkeit verliert und dass
das Prinzip Baschir Schule macht. Dazu bietet die EURatspräsidentschaft eine einmalige Chance, und sie hat
die Verpflichtung dazu.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Regierungschefs aus aller Welt haben sich
im Jahre 2005 auf das Prinzip der „Responsibility to protect“ - Kollegin Schuster hat es gerade erwähnt -, der
Verantwortung zum Schutz, verständigt. Worum es bei
dieser Verantwortung genau geht, hat Kofi Annan in seinem Grußwort zur Aktionswoche Darfur im Jüdischen
Museum so formuliert:
Sie bedeutet im Kern, dass der Respekt vor der nationalen Souveränität keine Entschuldigung mehr
sein kann für Tatenlosigkeit im Angesicht von Völkermord und Kriegsverbrechen, von „ethnischen
Säuberungen“ und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Tatsache ist jedoch, dass die seit drei Jahren stattfindende Katastrophe derzeit einen grausamen Höhepunkt
erreicht hat. John Prendergast von der International
Crisis Group hat einmal gesagt: „Sudan ist Ruanda in
slow motion.“ Jeder weitere tote Darfuri, jeder weitere
Flüchtling im Westsudan ist eine Anklage an die internationale Staatengemeinschaft, die sich eigentlich geschworen hatte, es niemals mehr so weit kommen zu lassen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung unterstützt die bestehenden VN-Sanktionen in Bezug auf Reisebeschränkungen, das Einfrieren von Guthaben und das Waffenembargo für Darfur. Deutschland
hat sich im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft
bereits erfolgreich für die Fortsetzung der finanziellen
Unterstützung der Afrikanischen Friedensfazilität durch
die EU eingesetzt und angekündigt, bilaterale Mittel von
bis zu 25 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus hat die Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung Mittel für die weitere
Unterstützung eines Projektes des Roten Kreuzes in
Mukjar in Darfur freigegeben. Danke, Frau Ministerin,
und danke, Bärbel Kofler, die sich dafür eingesetzt hat.
({1})
Aber das genügt nicht. Wir erleben derzeit eine völlig
hilflose und weitestgehend wirkungslose Friedensmission der Afrikanischen Union. Die chronische Unterfinanzierung einerseits und die Blockadehaltung des sudanesischen Präsidenten Baschir andererseits sind die
Gründe dafür. Hier kann und muss sich die Europäische
Union stärker engagieren. Derzeit gibt es zu wenige konkrete Signale unserer europäischen Nachbarn, sich auf
freiwilliger Basis finanziell zu beteiligen.
({2})
Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung die verbleibenden Monate der deutschen Ratspräsidentschaft in
diesem Sinne effektiv zu nutzen weiß.
Der VN-Sicherheitsrat diskutiert derzeit die Ausweitung von Sanktionen. Auch wenn Deutschland nicht im
Sicherheitsrat vertreten ist, so sollte es doch alle diplomatischen Hebel in Bewegung setzen, damit umgehend
ein wirksamerer Sanktionsmechanismus eingeleitet
wird. Dabei müssen alle Optionen berücksichtigt werden, ob es sich nun um die Einhaltung eines Flugverbotes über Darfur, Reisebeschränkungen oder das Einfrieren der Konten der maßgeblichen Akteure handelt.
Im Übrigen halte ich die Verfahren des Chefermittlers
des Internationalen Gerichtshofs im Zusammenhang mit
dem sudanesischen Staatsminister für humanitäre Angelegenheiten Harun und dem Dschandschawid-Führer
Kushayb für einen wichtigen Hoffnungsschimmer.
({3})
Das ist auch ein Signal an Herrn Baschir, der begreifen
muss, dass er sich ein Hin und Her wie im Falle der hybriden AU-VN-Mission nicht mehr lange leisten kann.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, derzeit verhandelt der VN-Sondergesandte für Darfur, Jan
Eliasson, mit der sudanesischen Regierung. Nach dieser
Verhandlungsrunde kann die internationale Gemeinschaft keine weiteren Verzögerungen und Ausreden
mehr hinnehmen, sollte Baschir keine wirklichen Zugeständnisse machen. Jan Eliasson wird am 11. April dieses Jahres im EU-Außenministerrat zur aktuellen Lage
berichten. Ich habe dieser Tage vorgeschlagen, dass er
auch uns im Auswärtigen Ausschuss berichten soll. Wir
werden ihn dazu einladen.
({4})
Alles, was dazu führt, das politische Bewusstsein in Europa für die menschenunwürdigen Vorgänge im Sudan
zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass daraus politischer Wille entsteht, sollte jetzt getan werden.
Noch ein Wort zu China und Russland. Ohne Enthaltung dieser Länder im UN-Sicherheitsrat hätte es die
Resolution 1706 nicht gegeben. Mit ihrer Zustimmung
wäre der Druck auf Baschir allerdings erheblich größer.
({5})
Der Dialog mit China und Russland muss deshalb intensiviert werden. Solange trotz der Krise die Energiegeschäfte uneingeschränkt gut abgewickelt werden können, werden viele diplomatische Gespräche wirkungslos
enden.
({6})
Aber auch die afrikanischen Staaten und die Arabische
Liga stehen in der Pflicht, hier ihrer Verantwortung
nachzukommen.
({7})
Ich setze meine Hoffnungen auf VN-Generalsekretär
Ban Ki Moon, der sich der Darfurkrise, die im Grunde
bereits eine Menschheitskrise ist, intensiv widmen will.
Ich setze meine Hoffnungen aber auch auf die Bundesregierung; denn sie hat durch die EU-Ratspräsidentschaft
und den G-8-Vorsitz die Möglichkeit, ein deutliches Zeichen zu setzen.
Der Herr Präsident klingelt schon. Darum komme ich
zum Schluss. - Ich bin dankbar dafür, dass wir hier heute
aufgrund der Großen Anfrage der Grünen über die Situation in Darfur diskutieren können. Ich freue mich darauf,
dass wir einen gemeinsamen Antrag zustande bringen.
Ich glaube, das können alle Fraktionen dieses Hauses
mittragen, damit wir gemeinsam ein Zeichen für die Beendigung dieses Dramas in Darfur setzen. Die Welt darf
nicht mehr länger tatenlos zusehen.
Danke sehr.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Norman Paech von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
zwei Dingen sind wir uns offensichtlich einig:
({0})
Erstens. In Darfur wird ein Krieg geführt, in dem
nach dem jüngsten Report des UN-Menschenrechtsrats
schwere systematische Verbrechen gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht - sprich: Kriegsverbrechen - begangen werden. Wie in dem Bericht hervorgehoben wird, geschieht dies auf allen Seiten:
aufseiten der Regierung und aufseiten der zahlreichen
Rebellengruppen.
Zweitens. Die bisherigen Versuche, die Tragödie zu
stoppen, sind gescheitert. Die Fronten der kämpfenden
Parteien sind so unübersichtlich wie nie zuvor, und die
AU ist mit der von ihr geführten AMIS-Mission bisher
auch gescheitert.
Die Grünen bezeichnen diesen Konflikt in ihrem Entschließungsantrag als die zurzeit „weltweit größte humanitäre Katastrophe“. Das mögen Sie so sehen.
({1})
- Sie tun das. Ich zitiere Sie. - Seien Sie aber vorsichtig
mit solchen Superlativen. Schauen Sie auf den Irak, um
eine humanitäre Katastrophe zu finden, deren Ausmaß
mindestens ebenso katastrophal ist wie in Darfur.
({2})
Der Krieg im Irak hat bisher weit über 600 000 Tote
und mehrere Millionen Flüchtlinge gekostet.
({3})
Schlimmer noch: Das alles wurde durch einen völkerrechtswidrigen Krieg und eine anschließende Besatzung
ausgelöst, an der noch heute gerade die Staaten beteiligt
sind, die jetzt am stärksten für eine weitere Intervention
im Sudan plädieren. Die Katastrophe im Irak wäre aufzuhalten, wenn man die Truppen zurückziehen würde.
Selbst die Demokraten im Kongress fordern das jetzt.
({4})
Wir müssen uns aber wohl auch eingestehen, dass es
Katastrophen gibt, denen wir trotz unserer historischen
kolonialen Verantwortung weitgehend machtlos gegenüberstehen. Denken Sie daran, was die Staaten unternommen haben, um 4 Millionen Tote Ende der 90erJahre im Kongo zu verhindern.
({5})
Hätten Sie das Massenmorden wirklich verhindern können? Wir müssen uns eingestehen, dass es Katastrophen
gibt, für die wir nicht immer eine Lösung haben.
({6})
Wir unterhalten uns jetzt über einen Weg, um aus dieser verzweifelten Situation herauszukommen. Es besteht
kaum Dissens über die verschiedensten Vorschläge, die
auch Sie gemacht haben, um die sudanesische Regierung
zur Einstellung ihrer militärischen Angriffe zu zwingen,
die Dschandschawid zu stoppen, den Waffenhandel zu
stoppen und vor allen Dingen die Regierung wieder an
den Verhandlungstisch zu bringen, der viel zu früh verlassen worden ist. An diesen Tisch gehören auch China
und Russland. Aber derzeit ist aufseiten der Regierungen
keinerlei Initiative erkennbar. In der Antwort auf die
Große Anfrage der Grünen sehen wir auch keine konkreten Ansätze seitens der Bundesregierung.
Wir unterstützen die Forderung nach stärkerem Druck
auf die sudanesische Regierung, aber wir warnen davor,
zur Lösung aller dieser Schwierigkeiten immer mehr Militär zu fordern und sich an die Hoffnung auf eine neue
UN-Mission zu klammern, um dort zu intervenieren. Sie
würde in jedem Fall - ob es eine Schutztruppe oder eine
Kampftruppe ist - als Militärintervention verstanden und
den Konflikt immer weiter verschärfen.
({7})
Dafür gibt es auch in Afrika Beispiele.
Wir halten diese Forderung geradezu für kontraproduktiv, weil sie nur mit Gewalt droht, keine Perspektive
anbietet und die Fantasie für politische Alternativen geradezu lähmt. Wir müssen gerade diejenigen stärken, die
bereit sind, eine politische Lösung auf beiden Seiten herbeizuführen. Das ist unserer Ansicht nach der einzige realistische Ansatz.
({8})
Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass Darfur
eine seit Jahrzehnten völlig vernachlässigte Region mit
extremen sozialen, ökonomischen und ökologischen Defiziten ist. Darauf sollten wir unsere ganze Aufmerksamkeit richten. Darin liegen die Stärken unserer Solidarität
für dieses Land.
Danke sehr.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte kurz auf den Beitrag des Kollegen
Norman Paech eingehen. Wenn wir heute über Darfur reden - und zwar bisher sehr sachlich und konstruktiv -,
dann bleibe ich bei der Position, dass dies die größte humanitäre Katastrophe ist, die sich derzeit weltweit abspielt. Ich finde es geradezu zynisch, das damit aufzurechnen, dass es in einem anderen Land viel mehr Tote
gibt. So kann man, denke ich, nicht glaubwürdig Politik
betreiben.
({0})
Ich möchte kurz auf die Expertenkommission des
UNO-Menschenrechtsrates eingehen, die, wie wir alle
wissen, trotz vorheriger Zusage der sudanesischen Regierung nicht direkt in den Sudan einreisen durfte und
ihre Ermittlungen in den Grenzregionen durchführen
musste. Ich zitiere aus dem vorliegenden Bericht:
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit dauern in Darfur an. Wir kommen
zu dem Schluss, dass die Regierung des Sudan offensichtlich darin versagt hat, die Bevölkerung Darfurs zu schützen, und dass sie diese Verbrechen
selbst orchestriert und daran teilgenommen hat.
Ich glaube, dem ist zunächst einmal nichts hinzuzufügen.
Für gut und wichtig halte ich - es gibt mir aber auch
zu denken -, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
für die westliche Staatengruppe im Menschenrechtsrat
durchgesetzt hat, dass der Bericht dort debattiert wird.
Es ist aber ein Skandal, dass man dafür kämpfen muss,
dass solche Berichte in diesem Gremium zur Kenntnis
genommen werden.
({1})
Ich meine, dass diese Debatte nicht folgenlos bleiben darf. Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregierung - ich weiß, dass sie bereits aktiv ist -, dass auf der
Grundlage dieses Expertenberichts für die Sitzung des
Menschenrechtsrates bis zum 30. März zumindest ein
Resolutionsantrag der sogenannten westlichen Gruppe
vorgelegt wird, der eine klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen und der dafür Verantwortlichen beinhaltet.
({2})
Ich weiß um die Schwierigkeiten, auch was die Zusammensetzung dieses Rates angeht. Aber wenn man
hört - diese Informationen kommen bei uns an -, dass
selbst innerhalb der Regierungen der 27 EU-Staaten
nicht klar ist, dass es zu einem solchen Entwurf kommen
wird, dann wäre das angesichts der Werte, für die diese
Staaten stehen und die sie repräsentieren wollen, meiner
Meinung nach eine menschenrechtliche und humanitäre
Bankrotterklärung.
({3})
Das Europäische Parlament hat in einer Entschließung vom 15. Februar in, wie ich finde, wünschenswerter Deutlichkeit Position bezogen und insbesondere
auch die EU-Organe aufgefordert, Sanktionen anzuwenden, die sich gegen alle Parteien - einschließlich
der sudanesischen Regierung - richten, die den Waffenstillstand verletzen oder Zivilpersonen, Angehörige
von Friedensmissionen oder Mitarbeiter humanitärer
Organisationen angreifen, sowie alle nötigen Maßnahmen zur Beendigung des Zustandes der Straffreiheit zu
ergreifen, indem sie durch - ich zitiere - „gezielte wirtschaftliche Sanktionen“ unter Einschluss von Reiseverboten und des Einfrierens von Vermögen die Verhängung von Sanktionen durch den VN-Sicherheitsrat
stärken und zu ihrer Umsetzung beitragen. Ich glaube,
diese Position ist klar und deutlich. Ich halte sie für
richtig.
Es wurde schon angesprochen, dass es
19 Erklärungen im EU-Rat der Außenminister gegeben
hat. In dem heute erschienenen Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ wird darauf hingewiesen, dass dabei
53-mal in verschiedener Intensität die Besorgnis zum
Ausdruck gebracht wurde. Wir wissen, dass die sudanesische Regierung einem konsequenten Druck nicht ausweichen kann. Das zeigen die Schritte hin zum Comprehensive Peace Agreement, zum Friedensschluss
zwischen dem Norden und dem Süden. Deshalb finde
ich es richtig, dass Lord Patten, der amtierende Vorsitzende der International Crisis Group, die Außenminister
auffordert - ich denke, unser Außenminister unterstützt
das -, statt einer 54. Betroffenheitserklärung nunmehr
dem Ruf des Europäischen Parlamentes nach Sanktionen
zu folgen. Dem sollten wir uns hier anschließen.
({4})
Ich hoffe auf einen interfraktionellen Antrag dazu.
Ich schließe mit einem Zitat aus Goethes „Faust“, das
man in einer solchen Debatte vielleicht nicht vermutet,
das aber passt: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst
mich auch endlich Taten sehn!“
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/4777 zur federführenden Beratung an den
Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Vertei-
digungsausschuss, den Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den Aus-
schuss für Angelegenheiten der Europäischen Union zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Thomas Bareiß, Thomas Dörflinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({0}), Ingrid Arndt-Brauer,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen ermöglichen - Kinder
besser schützen - Risikofamilien helfen
- Drucksache 16/4604 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Ina Lenke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz und Chancen für die Kinder in
Deutschland
- Drucksache 16/4415 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Katharina Landgraf von der
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Es
ist vollbracht.“ Diese berühmten Worte sind im Blick auf
den vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag vielleicht etwas zu hochgestochen. Ich sage lieber: Es ist geschafft. Nach einem langen Denk- und Meinungsbildungsprozess haben wir endlich eine gute Vorlage. Ziel
war und ist, mehr für das Wohl der Kinder zu tun, sie
vor allem vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen.
Ich wiederhole mich gern, wenn ich - wie bei meiner
letzten Rede zu diesem Thema am 26. Oktober 2006 heute sage: Der beste Schutz sind mündige, bewusste
und starke Eltern. Dieser Antrag gibt der Bundesregierung den erforderlichen Handlungsrahmen und Handlungsspielraum im Interesse der Kinder und deren Familien. Er ist eine Anleitung für die Zusammenarbeit mit
den Bundesländern, mehr für das gesunde Aufwachsen
der Kinder und bei der Unterstützung von Risikofamilien zu tun.
Familie kann sowohl größte Nähe und Geborgenheit
bedeuten, aber leider auch größte Not. Familie kann im
schlimmsten Fall auch Gewalt oder Vernachlässigung
bedeuten, in bildungsfernen Schichten beispielsweise,
wo die Zeit nicht mit Reden und Spielen, sondern mit
Fernsehen verbracht wird, wo keine Mutter als Hilfslehrerin und kein Nachhilfelehrer zur Verfügung stehen, wo
kein Buch und kein Musikinstrument dem Kind in die
Hand gegeben werden, wo eine Kindheit verschwendet
wird, wenn niemand hilft. Wenn also die Eltern ihren
Aufgaben nicht gewachsen sind, brauchen sie Zielvorgaben und Hilfe vom Staat.
Das besagt im Übrigen auch Art. 6 unserer Verfassung, der vom staatlichen Wächteramt handelt. Ich
selbst bin recht zufrieden mit dem zwischen den Koalitionsfraktionen erreichten Kompromiss. Der Antrag ist
insgesamt ein guter Wurf.
({0})
Mir persönlich fehlen aber einfache und sehr direkt formulierte Regelungen, die säumige Eltern auf den richtigen Kurs bringen sollen.
({1})
Mögliche Lösungen werden durch unseren Antrag allerdings nicht verhindert. In der künftigen Praxis wird sich
zeigen, ob nicht doch auch Sanktionen helfen. Das wird
von vielen Fachleuten erwartet, so zum Beispiel die
Koppelung von Vorsorgeuntersuchungen an die vollständige Kindergeldzahlung. Das wäre auch künftig noch regelbar. Da müssen nur die entsprechenden Verordnungen
modifiziert werden. Der Gesetzgeber - wir - ist derzeit
dazu noch nicht bereit. Aber das ist heute nicht das
Thema. Vieles von dem, was ich damals gefordert habe,
findet sich in unserem Antrag heute wieder. Ich nenne
nur einige Punkte:
Erstens wird zur Steigerung der Teilnahmerate an
Früherkennungsuntersuchungen ein Bonussystem ins
Auge gefasst.
({2})
Zweitens soll geprüft werden, wie die Teilnahme an
Kinderuntersuchungen durchgesetzt werden kann, zum
Beispiel bei Nichtteilnahme durch Einschaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes.
Drittens verweise ich auf eine bessere Förderung von
Hilfsangeboten von Familienhebammen. Es muss in
Deutschland zur Normalität werden, dass in allen Elternhäusern Familienhebammen akzeptiert und anerkannt
sind, auch als Vertrauenspersonen, die in guten wie in
schlechten Tagen Eltern wie Kindern zur Verfügung stehen. Das begrüßt im Übrigen auch unsere Ministerin.
Viertens soll im Rahmen des Aktionsprogramms
„Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ eine systematische Vernetzung von Gesundheits- und Kinder- und Jugendhilfe erfolgen.
({3})
Der Antrag folgt sehr genau der aktuellen Entwicklung in der Lebenswirklichkeit. Immerhin ist es Ziel der
Koalition, die Bedeutung der Kinderrechte stärker in die
Öffentlichkeit zu transportieren.
Der Antrag der FDP enthält auch sehr viel Richtiges
und Gutes. Er umfasst unter anderem viele Forderungen,
die nahezu deckungsgleich mit denen aus unserem Antrag sind. Zum Beispiel ist Punkt 2 d zum Berufsbild der
Familienhebamme wichtig. Besonders hervorzuheben ist
die Förderung der Einhaltung von Vorsorgeuntersuchungen und die Vernetzung von Ärzten, Jugendamt usw. Au8930
ßerdem begrüße ich, dass auch Sie sich mit der Stärkung
der Elternkompetenz befassen, so in Punkt 2 b und 2 c.
Das alles zeigt letztendlich, dass Sie von der FDP auch
hier Ihr neues soziales Gesicht präsentieren wollen. Bemerkenswert.
({4})
Der Antrag ist allerdings weniger ausführlich und enthält
zum Beispiel keine praktikablen Vorschläge zur Durchsetzung von Vorsorgeuntersuchungen. Das ist uns zu wenig. Es muss schon über die Konsequenzen der Nichtteilnahme an den Untersuchungen nachgedacht werden.
Noch einmal an Ihre Adresse, verehrte Kolleginnen und
verehrter Kollege von der FDP: Die frühe Förderung von
Kindern, also die frühkindliche Bildung, und der Ausbau
der Tagesbetreuung von unter Dreijährigen werden in
unserem Antrag aus guten Gründen nicht behandelt.
Diese Themen müssen extra und umfassend ausgearbeitet und dürfen nicht nur so nebenbei diskutiert werden.
Dazu sind sie zu wichtig, und sie enthalten im Übrigen
genug Stoff für einen eigenen Antrag.
({5})
Wir werden unser Ziel, mehr für das Wohl unserer
Kinder zu tun, nur erreichen, wenn Bund, Länder und
Kommunen kooperativ handeln. Ich bin sicher: Zustimmung und Umsetzung aus Ländersicht fielen leichter,
wenn alle Forderungen, die die Kompetenzen der Länder
tangieren, jeweils mit dem Zusatz „gemeinsam mit den
Ländern“ verknüpft wären. Eine Verzahnung von Jugend- und Gesundheitshilfe gelingt ohnehin nur zusammen mit den Ländern. Abgesehen von der Kompetenzverteilung im Grundgesetz ist für mich entscheidend,
dass sich viele Probleme aufgrund ihrer in Deutschland
regional sehr unterschiedlichen Ausprägung nur sehr
schwer zentral steuern lassen. Wir brauchen einfache
Lösungen, die sich in unserem Antrag auch bereits andeuten. Wir brauchen Partner der Eltern, die mit hoher
Fach- und Sachkenntnis sowie mit der erforderlichen
Güte die Familien und Kinder durch den Alltag begleiten.
Ich sage es noch einmal: Das Beste für das gesunde
seelische und körperliche Aufwachsen der Kinder sind
kompetente und bewusste Eltern.
({6})
Wir, die Union, stehen mit unserem Koalitionspartner
nach wie vor für die Wahrung der Elternrechte und Elternfreiheiten sowie für die umfassende Erfüllung der
Elternpflichten.
({7})
Das heißt ganz konkret, dass wir in Deutschland zukünftig mehr für Eltern- und Familienbildung tun müssen.
Wir brauchen eine neue Generation von spezialisierten
Pädagogen, die diesem Anspruch gerecht werden können.
Müssen wir da nicht auch die berufliche und universitäre Bildung auf den Prüfstand stellen? Es ist durchaus
Sache der Bundesebene, hier die entsprechenden Richtlinien und Vorgaben zu entwickeln. Außerdem ist es eine
Frage der sozialen Nachhaltigkeit, die wir für den Fortbestand unserer Gesellschaft schnellstens beantworten
müssen. Der vorliegende Antrag muss eine Fortsetzung
in diesem Sinne finden.
Es gibt also weiterhin viel zu tun. Ich danke den Kolleginnen der SPD für die Zusammenarbeit. Der FDP
gebe ich mit auf den Weg: Weiter so! Dann nähern Sie
sich unserem gemeinsamen Standpunkt an.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident des Deutschen Familienverbandes hat gestern davor gewarnt,
die Familienpolitik allein auf das Problem der Kinderbetreuung zu reduzieren. Damit hat er natürlich recht.
Deshalb freue ich mich, dass wir uns heute im Plenum
mit einer ganzen Reihe von Themen beschäftigen, die
im weiteren Sinne Teil der Familienpolitik sind: der
Schutz von Kindern in Deutschland - darüber sprechen
wir jetzt -, Sprache als Schlüssel zur Integration von
Kindern und Jugendlichen und die UN-Kinderrechtskonvention, worüber wir später hoffentlich noch sprechen werden.
Zunächst zum Schutz von Kindern in Deutschland.
Diese Woche erschüttert uns wieder der Fall eines neugeborenen Mädchens, das in Hamburg aus dem
10. Stock eines Hochhauses geworfen wurde und nur
noch tot aufgefunden werden konnte. Wieder musste ein
Baby in Deutschland qualvoll sterben, weil seine Eltern
mit der Situation anscheinend überfordert waren.
Die Statistiken hierzu sind tatsächlich unzureichend.
Ich freue mich über die Passage in Ihrem entsprechenden
Antrag, in der gefordert wird, diese Statistiken auszubauen. Ob die Anzahl der misshandelten oder vernachlässigten Kinder zugenommen hat, lässt sich kaum belegen. Aber die Aufmerksamkeit für solche Fälle hat - das
wissen wir alle - deutlich zugenommen. Ich hoffe, dass
wir dadurch alle sensibler für Familien werden, dass wir
alle genauer hinschauen, ob es einem Kind wirklich gut
geht, und dass wir das Signalisieren von Hilfsbedürftigkeit auch in Zukunft richtig zu deuten wissen.
({0})
Je direkter wir an den Kindern dran sind, desto besser.
Deshalb sind hier vor allen Dingen die Kommunen gefragt. Natürlich geht das nicht alles ohne ein entsprechendes Konzept zur Finanzierung. Ich persönlich bin
gespannt, wie Sie, verehrte Damen und Herren der Großen Koalition, diese Problematik lösen wollen, die Sie
sich durch die Föderalismusreform in Teilen selbst einMiriam Gruß
gebrockt haben. Ich meine, mittelfristig müssen wir neue
Akzente in der Gesellschaftspolitik setzen und neue
Wege der Finanzierung finden. Das Wohlergehen unserer Kinder sollte uns jede Kraftanstrengung wert sein.
({1})
Wir können nicht immer erst dann eingreifen, wenn
es zu spät ist. Deshalb sind in dem Antrag der FDP-Fraktion zwei Forderungen enthalten: zum einen die nach
dem vorsorgenden Schutz - Prävention geht nämlich
vor Reha -, zum anderen die nach der - ich halte das für
sehr wichtig - frühen Förderung von Kindern. Ich darf
Sie aber beruhigen: Ein entsprechender eigener Antrag
zu dem Thema, das Sie vorhin angesprochen haben, wird
noch vorgelegt werden.
Zum ersten Punkt. Wenn wir Kinder besser schützen
wollen, müssen wir dorthin schauen, wo die Ursachen
für die verschiedenen Formen von Kindesvernachlässigung liegen. Insbesondere wenn das individuelle Versagen innerhalb einer Familie auf soziale oder ökonomische Schwächen trifft, ist Schlimmes zu befürchten. Die
betroffenen Menschen dürfen wir nicht vergessen und
auch nicht alleinlassen. Das Wohl des Kindes ist nämlich
direkt mit der Situation der Eltern verbunden. Wenn
diese überfordert sind, leiden die Kinder. Deshalb müssen wir auch die Eltern stärken.
Angebote für Schwangere und junge Eltern sind elementar wichtig. Das kann ganz banale Dinge wie das
Führen eines Haushalts oder den Umgang mit Geld umfassen. Elternbildung und mehr Elternkompetenz bedeuten auch, die Kinder zu stärken.
({2})
Zu späte Intervention, mangelnde Vernetzung der verantwortlichen Stellen oder auch Überforderung der
Fachkräfte sind die häufigsten Ursachen, wenn Fälle von
Kindesvernachlässigung nicht rechtzeitig bekannt werden.
Deshalb ist die Aus-, Fort- und Weiterbildung der
Fachkräfte ein weiterer wichtiger Baustein. Die Fachkräfte sind es, die den Familien stützend zur Seite stehen. Hier können wir auch neue Potenziale erschließen,
zum Beispiel die Hebammen, die helfen können und
wollen, für ihre Arbeit dann aber auch eine sichere gesetzliche Grundlage brauchen.
Gefordert ist auch das Umfeld: Familienmitglieder,
der Freundeskreis, die Nachbarschaft, Ärzte, Mitarbeiter
der Jugendhilfe, aber auch Familiengerichte. Sie alle haben durch ihren Blickwinkel eine individuelle Sicht auf
das einzelne Kind und können Veränderungen schneller
bemerken.
„Hinsehen und handeln“ - das muss das Motto sein.
({3})
Der Pfad zwischen Unterstützung der Eltern und Kontrolle im Sinne des Kindeswohls ist eng, aber lebenswichtig.
Neben dem Schutz ist die Unterstützung von Kindern
wichtig, um sie für die Welt stark zu machen. Zur frühen Förderung gehört zum Beispiel, Kindern aus sogenannten anregungsarmen Elternhäusern durch Bildung
und Erziehung Perspektiven zu eröffnen. Herr Munñoz
hat uns gestern wieder einmal unmissverständlich vor
Augen geführt, was Chancengleichheit in Deutschland
bedeutet.
Dazu gehört auch - der Familienverband möge es mir
verzeihen - die Betreuung von Kindern. In Zeiten, in denen sich die Ansprüche an das Modell Familie verändern, wächst die Bedeutung der frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Auf ihre Qualität ist deshalb
besonderes Augenmerk zu legen. Bindung und Bildung
sind ausschlaggebend für jedes Kind.
Ich komme zum Schluss. - Kinder heute zu schützen,
ist unsere ureigene Pflicht. Kinder heute zu fördern, ist
unser oberstes Gebot. Kinder zu achten und für ihre Zukunft zu denken, muss gesamtgesellschaftliche Prämisse
sein, und zwar nicht nur für uns Familienpolitikerinnen
und Familienpolitiker.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht
von der SPD-Fraktion.
({0})
Da weiß man, wie sich ein Kind fühlt, wenn es an einen Tisch tritt. Bei meiner Größe geht mir das hier am
Pult immer so. Das ist immer etwas zu hoch. Vielleicht
habe ich deshalb viel Verständnis für Kinder. Vielleicht
ist in mir wegen meiner Größe auch noch viel Kind vorhanden.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben heute ein Thema auf der Tagesordnung, das
meist nicht sehr positiv besetzt ist. Es wird uns immer in
Erinnerung gerufen, wenn irgendwelche tragischen
Dinge passieren. Aber dann, wenn es funktioniert, wenn
alles klappt, redet man nicht darüber. Das ist wie in der
Verkehrspolitik. Da redet man nicht über die Straßen,
wenn man gut durchfahren kann, aber man redet darüber, wenn es einen Stau gibt, wenn ein Unfall passiert
ist oder wenn genau dort, wo man eine Straße braucht,
keine ist.
In der Kinder- und Jugendpolitik benötigen wir eine
solche Struktur wie in der Verkehrspolitik. Wir brauchen
Rahmen, in denen Kinder aufwachsen können, und zwar
schon sehr früh. „Sehr früh“ heißt: Eigentlich schon für
die Zeit im Mutterleib brauchen wir Rahmenbedingungen, damit Schädigungen, die möglicherweise ein Leben
lang anhalten, nicht passieren. Wir müssen Eltern möglichst frühzeitig einen solchen Rahmen geben, dass sie
ihre Kinder gesund aufwachsen lassen können.
Goethe hat einmal gesagt: Eltern haben ihren Kindern
zwei Dinge mitzugeben: Wurzeln und Flügel. - Ich
finde, das ist ein wunderschöner Spruch. Er hat übrigens
Marlene Rupprecht ({0})
noch nichts von Bindungsforschung gewusst, aber trotzdem gewusst, wie wichtig es ist, verwurzelt zu sein und
gleichzeitig die Fähigkeit zu haben, die Welt zu entdecken, abzuheben, den Größenwahn zu besitzen, alles,
was um einen herum ist, für sich in Anspruch zu nehmen. Dazu brauchen wir Rahmenbedingungen.
Wir haben versucht, das abzuprüfen, und gefragt: Was
gibt es denn schon an Rahmenbedingungen? Mich erstaunt immer, dass das, was vorhanden ist, kaum beachtet wird. Wie unter rot-grüner Regierung ist es jetzt auch
unter schwarz-roter Regierung: Wir machen Aktionspläne. Wir fordern zu bestimmten Dingen auf. Wir haben
bei den Vereinten Nationen einen wunderbaren Vertrag
für ein kindgerechtes Deutschland unterschrieben. Da
gibt es sechs Themenfelder, darunter Gesundheit, Schutz
vor Gewalt, Bildung und Beteiligung. Wenn ich vor Ort
bin und Kommunalpolitiker frage: „Wie sieht es denn
mit dem kindgerechten Landkreis aus?“, dann sagen sie:
„Womit?“; daraufhin erläutere ich: Zu einem kindgerechten Landkreis gehört es, dass Rahmenbedingungen
geschaffen werden, dass Kinder nicht von Gewalt bedroht werden.
Wenn tragische Fälle passieren, wachen wir zwar auf,
aber deren Zahl ist in den letzten Jahren nicht gestiegen.
({1})
- Nein, nach der Statistik, die ich extra noch einmal herausgesucht habe, nicht. - Angestiegen ist aber die Zahl
der Kinder, die keine Wurzeln schlagen konnten, denen
also Bindung fehlt, die vernachlässigt werden oder die
keine Bildung im weitesten Sinne bekommen, das heißt
lebenstüchtig gemacht werden, damit sie ihren Willen
äußern, ihn gegen andere durchsetzen und sich auch unter Kindern behaupten können. Uns um all das zu kümmern, haben wir, wie ich glaube, in den letzten Jahren in
der Politik vergessen. Wir haben immer nur gespart.
Bei den meisten im Parlament eingebrachten Anträgen ging es nur darum, wie die Ausgaben noch weiter reduziert werden können, nicht darum, wie die zur Verfügung stehenden Gelder - es geht mir gar nicht um mehr
Geld - gezielt eingesetzt werden können. Das geht zum
Beispiel - die Frau Kollegin Landgraf hat es gesagt über frühe Hilfen für Eltern und Kinder, über Familienhebammen und über verstärkte Zusammenarbeit. Seit
1991 gilt das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin
wird Zusammenarbeit verordnet. Ich frage mich, ob da
draußen nur Analphabeten sitzen. Die müssten doch gelesen haben, dass es eine Pflicht für Ärzte zur Zusammenarbeit mit Jugendhilfe, Polizei, Gerichten und anderen Institutionen gibt. Alle müssen endlich das magische
Dreieck, das Kinder brauchen, um gut aufwachsen zu
können, nämlich Schutz bzw. Fürsorge, Förderung und
Beteiligung, ernst nehmen. Dies ist der Rahmen, in dem
Kinder stabil aufwachsen.
Vor diesem Hintergrund hat die Kinderkommission
einstimmig beschlossen - Beschlüsse können da ja nur
einstimmig gefasst werden -, die Kinderrechte in der
Verfassung zu verankern und das dort ganz eindeutig
festzulegen.
({2})
- Herr Singhammer, auch Sie ziehen wir noch auf unsere
Seite. - Durch die Niederlegung dieser Rechte im
Grundgesetz würde klargemacht: Dieser Gesellschaft
sind Kinder ganz, ganz wichtig. Erst 1967 hat ja das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass auch Kinder
Menschen und damit Grundrechtsträger sind. Dass das
so lange gedauert hat, zeigt, dass schon damals irgendetwas im Argen lag. Bis dahin hat man Kinder nämlich
immer noch als Defizitwesen angesehen.
Ich hoffe nun, dass Sie alle mitziehen, wenn wir in
Anträgen den gesellschaftlichen Willen zum Ausdruck
bringen, Kinder so gut zu schützen, dass sie wirklich
Wurzeln und Flügel haben, sie diese Welt erobern können und aus ihnen vernünftige, verlässliche und verantwortliche Erwachsene werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag aus den Reihen der Koalition, dessen Stoßrichtung
wir - auch das kommt vor - grundsätzlich teilen.
({0})
Nichts wäre schlimmer, als ausgerechnet den Schutz von
Kindern vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung
zum Gegenstand eines langwierigen parteipolitischen
Hickhacks zu machen. Gerade deshalb freue ich mich
über den relativ sachlichen und differenzierten Ton des
Koalitionsantrags,
({1})
der sich von der überhitzten Debatte der letzten Monate
abhebt. Wer das von uns allen geteilte Anliegen, den
Kinderschutz zu verbessern, auf die populistische Debatte um verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen für
Kinder und die Sanktionierung bei Nichtteilnahme reduziert, der findet vielleicht seinen eigenen Namen in den
Schlagzeilen, verfehlt aber den Kern des Problems.
({2})
Deshalb freut mich ebenfalls, dass nunmehr die Weiterentwicklung von Inhalt und Wirksamkeit der Vorsorgeuntersuchungen angeregt wird. Dieser neue, integrierende Ansatz, in dem mehr Verbindlichkeit bei den
Vorsorgeuntersuchungen mit präventiven und helfenden
Angeboten gekoppelt wird, findet unsere vollste Zustimmung.
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass keine
Kindheit im luftleeren Raum stattfindet. Jedes Elternhaus, jede Kinderkrippe, jeder Kindergarten und jede
Schule ist Teil dieser Gesellschaft. Deshalb ist es auch
richtig, nach der gesellschaftlichen Verantwortung für
das gesunde Aufwachsen von Kindern zu fragen. Nur
nach der Verantwortung der Eltern zu fragen, ist zu wenig.
({3})
Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehört aber
auch der Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dazu findet sich leider im Antrag der Koalition
kein Wort. Das wundert mich auch nicht; waren Sie es
doch, die in den letzten Jahren zum Beispiel mit Ihrer
Hartz-IV-Politik die Lebensbedingungen von vielen
Kindern und Familien verschlechtert haben.
({4})
Es ist daher im Grundsatz zynisch, wenn Sie das Problem auf „Risikofamilien“ fokussieren, was auch immer
diese Definition beinhalten mag. Damit leisten Sie der
Stigmatisierung von Familien Vorschub, deren Lebenssituation durch, wie Sie es bezeichnen, „vielfältige bzw.
schwerwiegende Risiken“ gekennzeichnet ist. Wenn ein
umfassender Begriff der Kindesvernachlässigung zugrunde gelegt wird, dann wird schnell deutlich, dass wir
es mit einem schichtenübergreifenden Problem zu tun
haben. Für Vernachlässigung ist eine Vielzahl von Risikofaktoren verantwortlich. Die Ursachen liegen nur zum
Teil in den Elternhäusern; viel öfter liegen sie in gesellschaftlich zu verantwortenden Defiziten.
Die Gefahr der Stigmatisierung besteht gerade dann,
wenn der Umgang mit Sozialdaten nicht auf die fachlich
befassten Krankenkassen und Jugendämter beschränkt
bleiben soll, wie Sie vorschlagen. Das ist nicht nur datenschutzrechtlich sehr problematisch. Neben dem Gesundheitsdienst hätten dann praktisch alle Ämter Zugriff
auf die kindesschutzbezogenen Daten.
({5})
Ich glaube nicht, dass es die Kooperationsbereitschaft
von Familien erhöht, wenn wir die sozialstaatlich ausgerichtete Jugendhilfe durch ein kontrollierendes Fürsorgesystem ersetzen.
({6})
Ich befürchte vielmehr, dass Sie so einen Prozess auslösen, bei dem Einzelne sich noch mehr als jetzt dem Blick
der Öffentlichkeit entziehen.
Wer den Kinderschutz stärken will, sollte nicht die
Aufgaben der Jugendämter beschneiden und diese an
Polizei und Gesundheitsdienst delegieren. Das geht an
der Realität vorbei.
({7})
Seit Jahren ist die Kinder- und Jugendhilfe massiven
Kürzungen ausgesetzt. Das verheerende Ergebnis sehen
wir heute: Den Anlaufstellen fehlen die Mittel, um qualifizierte Angebote machen zu können und schnell und gezielt einzugreifen. Wenn Sie ein System aufbauen wollen, das einen effektiven Schutz von Kindern
gewährleistet, dann müssen Sie da anfangen, wo Sie in
den vergangenen Jahren Rotstiftpolitik betrieben haben.
({8})
Länder und Kommunen müssen finanziell in die Lage
versetzt werden, eine handlungsfähige Kinder- und Jugendhilfe vorzuhalten. Die Jugendämter müssen so ausgestattet sein, dass sie die treibende Kraft für eine Vernetzung der verschiedenen Akteure sein können. Wir
brauchen eine starke Jugendhilfelandschaft, ein Netzwerk aus Vereinen, Verbänden, Kinderärzten, Betreuungseinrichtungen, Polizei und Gesundheitsamt.
Ein besserer Kinderschutz muss her, und das schnell.
Wir dürfen es nicht bei einer Schaufensterpolitik belassen, aber auch nicht in blinden Aktionismus verfallen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den letzten Jahren und Monaten haben uns viele schreckliche Fälle, in denen Eltern ihre Kinder vernachlässigt
haben, verfolgt. Sie haben zu hitzigen Diskussionen in
der Öffentlichkeit, aber auch hier im Parlament geführt.
Immer wieder schwang dabei die Frage mit, inwieweit
das staatliche Wächteramt in die Familien eingreifen
darf oder gar muss. In diesen Debatten war immer von
verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen die Rede.
Manche sprachen von Kindergeldkürzung; manche gingen sogar noch weiter und sprachen von einer frühen
Herausnahme der Kinder.
Seit wir uns näher mit diesem Thema beschäftigen,
wissen wir - auch wenn wir kaum auf statistisch belastbare Zahlen zurückgreifen können, sondern eine Vielzahl von dramatischen, schrecklichen Einzelfällen vor
Augen haben -, dass es an der Zeit ist, zu handeln. Deshalb haben die Grünen bereits im Oktober letzten Jahres
hier einen Antrag eingebracht. Ich freue mich, dass die
Koalitionsfraktionen viele Punkte aus diesem Antrag für
gut befunden und in ihren heute vorliegenden Antrag
übernommen haben.
({0})
Vor allem aber freue ich mich, dass eine gewisse Seriosität in das Thema eingekehrt ist und dass Sie sich inzwischen von all den Vorschlägen distanzieren, die ich vorhin erwähnt habe und die uns nicht weitergebracht haben.
An diesem Punkt möchte ich noch etwas zur aktuellen
Debatte sagen. Sie suchen zurzeit nach Gründen für den
Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Man sieht
doch: Die beste Form der Prävention ist immer noch hin8934
sehen und den Kindern Gelegenheiten bieten. Genau das
können wir am besten in Kindergärten, Kinderkrippen
und Ganztagsschulen. Gerade deshalb brauchen wir für
unsere Kinder diese Einrichtungen.
({1})
Wir müssen an dieser Stelle eines festhalten: Wir
müssen Kinderrechte stärken und die Kinder in den Mittelpunkt stellen. Ich bedauere sehr, dass Sie die Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung nicht in Ihren
Antrag aufgenommen haben. Es wäre für die Koalition
eine gute Gelegenheit gewesen, sich eindeutig dazu zu
bekennen und es nicht bei Sonntagsreden zu belassen.
Das fehlt mir in diesem Antrag. Sie sollten nicht nur
über diese Punkte reden, sondern sie auch in Ihren Antrag aufnehmen.
({2})
Kommen wir zu dem Verhältnis zwischen Kindern,
Eltern und Staat. Wir müssen Vernachlässigung früher
und lückenloser aufdecken. Wir brauchen eine Vernetzung. Frau Golze, es geht nicht darum, dass wir die einzelnen Elemente gegeneinander ausspielen; vielmehr
brauchen wir sie alle, und zwar vernetzt. Wir brauchen
die Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem
dürfen wir nicht erlauben, dass die freiwilligen Leistungen, die aufsuchenden Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe dem Sparen zum Opfer fallen und dass sie sozusagen zur Sparbüchse der Nation werden.
Wir müssen die Häufigkeit der Kontakte zu den Familien erhöhen. Wir brauchen mehr verbindliche Angebote. Es ist ganz wichtig, im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen nachzuschauen. Es wird über den
zeitlichen Abstand dieser Untersuchungen debattiert.
Außerdem stellt sich die Frage, ob die Vorsorgeuntersuchungen geeignet sind, Vernachlässigungen aufzudecken. Daran haben Kinderärzte ganz große Zweifel.
Diese Zweifel müssen wir ernst nehmen. Sie geben in
Ihrem Antrag vor allem keine Antwort auf die zentrale
Frage, wie der Datenabgleich vonstatten gehen soll. Wir
müssen diesbezüglich auch die Probleme des Datenschutzes lösen. An diesem Punkt gibt es also noch Defizite.
Wir müssen die bestehenden Regelungen evaluieren
und besser bekannt machen. Rot-Grün hat zuletzt die
Kinder- und Jugendhilfe dahin gehend reformiert, dass
die Schutzmöglichkeiten weiter ausgebaut werden.
Der letzte Punkt. Wir brauchen Familienhebammen.
Für die eine Familie sind acht Wochen mehr als genug,
und für die andere Familie fangen nach acht Wochen die
Probleme erst an. Wir müssen mutig sagen, dass wir zu
unseren Hebammen stehen, und wir müssen Arbeitsmöglichkeiten für sie schaffen. Das festzuschreiben, ist
eine Aufgabe der Politik auf Bundesebene. Es ist aber
auch eine Aufgabe der Kinder- und Frauenärzte, für eine
Vernetzung zu sorgen.
Sie sehen: Es gibt noch viel zu tun. Wir stehen erst am
Anfang. Seien Sie mutig in der Koalition! Wir sind es
auf jeden Fall. Ich kann Ihnen aus Schleswig-Holstein
berichten, dass die Große Koalition dort einen Antrag
der Grünen zu diesem Thema einstimmig angenommen
hat und jetzt in Gesetzesform gießt.
Danke.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erhält jetzt die Kollegin Kerstin Griese von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder gesund aufwachsen. Wir wollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder besonders aus Risikofamilien besser
geschützt werden. Deshalb müssen wir schnell handeln,
was auch durch die aktuellen Fälle unterstrichen wird.
Wir müssen mehr tun, um deutlich zu machen, dass
der Staat eine Verantwortung hat. Art. 6 des Grundgesetzes besagt:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Aber es sagt auch deutlich:
Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Dieses Wächteramt müssen wir mehr und besser ausfüllen, damit alle Kinder die Chance haben, gesund aufzuwachsen.
({0})
Dazu gehört, die Erziehungskompetenz der Eltern zu
stärken. Dazu gehört aber auch, mehr zu tun, um die medizinische Versorgung zu verbessern. Es muss überprüft
werden, ob die Intervalle der Vorsorgeuntersuchungen
richtig gewählt sind, ob die Qualität stimmt und ob nicht
noch anderes untersucht werden muss, um Misshandlungen und Vernachlässigungen früher zu erkennen.
Ich bin überzeugt, dass Sanktionen nicht helfen werden. Ich glaube aber sehr wohl, dass Bonusmodelle helfen werden. Wir sehen das am Beispiel von Finnland, wo
es das Neuvola-System gibt. Eltern bekommen einen
Bonus dafür, dass sie mit ihren Kindern regelmäßig an
Untersuchungen teilnehmen.
({1})
Was wir erreichen wollen und ganz dringend erreichen müssen, ist ein verbindliches Einladewesen zur
Vorsorgeuntersuchung und die Teilnahme aller Kinder
daran. Es sollen nicht irgendwelche Statistiken erhöht
werden. Vielmehr soll die Teilnahme tatsächlich aller
Kinder erreicht werden. Denn die 5, in manchen Stadtteilen auch 25 und in manchen Stadtteilen sogar
50 Prozent der Kinder, die nicht mehr zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, sind die Problemfälle. Hier muss das
staatliche Wächteramt ausgefüllt werden. Wir müssen
uns darum kümmern, warum diese Kinder nicht zur Vorsorgeuntersuchung kommen. Für sie müssen wir etwas
tun.
({2})
Ich will ausdrücklich sagen: Es gibt sehr viele sehr
gute Ansätze. Die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung macht ganz tolle Arbeit. Die Aktion „Ich
geh’ zur U! Und Du?“, die in vielen Kindergärten durchgeführt wird, ist wirklich klasse.
Ich sage aber auch ganz deutlich, Frau Golze: Der
Datenschutz kann und darf kein Argument sein, um den
Schutz von Kindern zu verhindern.
({3})
Der Datenschutz darf nicht dafür herhalten, dass Daten
nicht weitergegeben werden. Jugendämter, Gesundheitsämter, Sozialämter, Krankenhäuser und der Kinderschutzbund - sie alle müssen zusammenarbeiten können,
damit solche schlimmen Fälle wie in der Vergangenheit
nicht wieder passieren. Wir müssen uns dort kümmern,
wo sich nicht genügend um Kinder gekümmert wird.
Das hat auch etwas mit sozialer Integration, mit Bildungschancen und Gesundheitschancen für alle Kinder
zu tun. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt auf Bundesebene
mit dem Programm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder
und soziale Frühwarnsysteme“ damit beginnen, zu
schauen, was in den Ländern und Kommunen eigentlich
passiert. Es werden Modellprojekte gestartet, um die
Versorgung von Kindern zu verbessern und zu fördern.
Ich will deutlich sagen: Es gibt ein paar sehr gute Ansätze. Ich komme aus dem Landkreis Mettman, wo für
die U 8, die etwa im Alter von dreieinhalb Jahren stattfindet, ein solches Einladewesen praktiziert wird. Das
Gesundheitsamt schreibt alle Eltern an. Dort, wo keine
Rückmeldung erfolgt, wird nachgehakt. Wir haben dort
eine tatsächlich höhere Beteiligung an diesen Vorsorgeuntersuchungen als woanders.
In Düsseldorf wird mit dem Düsseldorfer Modell direkt nach der Geburt in den Geburtskliniken begonnen,
um die Eltern abzuholen und denjenigen, die Hilfe brauchen, zu helfen. In Dormagen - ich will dies ausdrücklich erwähnen, weil es ein ganz toller Ansatz ist - begrüßen der Bürgermeister sowie seine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aus den Sozialämtern jedes Kind. Das ist
keine Stigmatisierung. Jede Familie wird im Rahmen
des Programms „Willkommen im Leben, willkommen
als Familie in Dormagen“ aufgesucht und erhält Hilfsmaßnahmen. Das brauchen wir; so füllen wir das staatliche Wächteramt aus.
({4})
Mein Fazit ist:
Erstens. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Wir müssen uns um jedes Kind kümmern.
Zweitens. Es ist unsere staatliche Verantwortung, uns
um alle Kinder zu kümmern, auch um diejenigen, deren
Eltern ihnen nicht helfen.
Drittens. Wir brauchen Chancen auf Bildung und gesundes Aufwachsen für alle Kinder.
Ich ende mit einem schönen Zitat von Rudolf
Virchow. Er hat gesagt: Die Freiheit hat zwei Töchter:
die Bildung und die Gesundheit. - Damit unsere Kinder
all das, nämlich Bildung und Gesundheit, bekommen,
müssen wir uns einsetzen und mehr als bisher tun. Das
wollen wir auch. Die Koalition hat dazu Vorschläge vorgelegt. Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam unterstützen
und durchsetzen können.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4604 und 16/4415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Hartfrid Wolff ({0}), Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Sprache schafft Identität und ist Schlüssel zur
Integration
- Drucksache 16/2092 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große
Koalition ringt um das Bleiberecht. Trotz der absehbaren
demografischen Entwicklung besteht in der Union die
Auffassung, dass wir keine Zuwanderung mehr bräuchten.
({0})
Der Entwurf zum Zuwanderungsrecht sieht Verschärfungen vor. Da ist es an der Opposition in diesem Hause,
endlich wieder über Integration zu reden und den Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu sagen, dass
sie bei uns willkommen sind.
({1})
Dazu müssen wir einander verstehen. Deshalb beschreibt der Titel unseres Antrags „Sprache schafft Identität und ist Schlüssel zur Integration“ haargenau die notwendige Schwerpunktsetzung in der Integrationspolitik.
Sprache ist das zentrale Kommunikationsmittel in einer
Gesellschaft.
Ohne eine gemeinsame Sprachbasis ist ein Kennenlernen nicht möglich. Es gibt keinen Austausch untereinander und damit auch keine Integration in das Gemeinwesen, in unsere Gesellschaft. Es gibt dann auch keine
Integration in der Arbeitswelt, wo die Nachfrage nach
einfachen Tätigkeiten immer mehr zurückgeht und in der
der Weg ohne entsprechende Sprachkenntnisse schnurstracks in die Sozialhilfe führt.
({2})
Die oft deutlich schlechteren Schulabschlüsse von
jungen Migrantinnen und Migranten sind eben auch auf
unzureichende Deutschkenntnisse zurückzuführen. Der
soziale Sprengstoff, der aus solcher Perspektivlosigkeit
entstehen kann, wird uns an der Situation in Frankreich
deutlich. Wir wollen die Integration von Migrantinnen
und Migranten. Deshalb müssen wir die auch in
Deutschland absehbare Entwicklung von sozialem
Sprengstoff mit aller Kraft verhindern.
({3})
Frühe Sprachstandstests mit anschließender individueller Förderung schon ab dem dritten Lebensjahr, kostenfreies letztes Kindergartenjahr, Ganztagsschulen vor allem in Brennpunktgebieten und ein viel stärkeres
Zugehen auf die Eltern sind nötig.
Ohne die Einbeziehung der Eltern ist ein Integrationserfolg nur schwer möglich; und diese profitieren ja selbst
von Sprachkursen. Das Angebot ist vielfältig. MutterKind-Kurse, Rucksackprojekte und spezielle Elternbildungsprogramme sind Projekte, die den Erwerb der
deutschen Sprache fördern. Ich rufe die Länder und
Kommunen auf, verstärkt solche Maßnahmen anzubieten, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: frühestmögliche Integrationsanstrengungen bei den Kindern und der Beginn einer nachholenden Integration für
die Eltern.
Daher ist es besonders zu begrüßen, wenn Zuwanderinnen und Zuwanderer bereits bei der Einwanderung
Deutschkenntnisse besitzen. Kann man sie aber zur
Pflicht machen? Der Ehegattennachzug ist neben der
fast bedeutungslosen Zuzugsberechtigung von Hochqualifizierten und den Spätaussiedlern die einzige legale Zuwanderungsmöglichkeit nach Deutschland. Wenn die zuziehenden Ehepartner bereits Deutschkenntnisse haben,
erleichtert das nicht nur den Spracherwerb bei den Kindern, sondern natürlich auch die Integration des Zuziehenden in Deutschland.
({4})
Daher sind Sprachkurse im Herkunftsland als erweitertes Angebot immer zu begrüßen.
({5})
Doch ob nun das Nachzugsrecht eines türkischen, chinesischen oder amerikanischen Ehepartners zu einem deutschen Partner oder zu einer deutschen Partnerin unter
Hinweis auf fehlende Sprachkenntnisse verweigert werden kann, erscheint mir mit Blick auf Art. 6 des Grundgesetzes doch sehr fraglich.
({6})
Und was soll denn passieren, wenn das Testniveau
nicht erreicht wird? Gibt es dann keinen Nachzug? Oder
reicht ein minimaler Wortschatz aus, etwa für einen Supermarkteinkauf, also Wörter, die man im türkischen Laden sowieso nicht braucht und mit denen man keine
Emanzipation aus den sogenannten Parallelgesellschaften erreicht?
Mit diesen Beispielen wird klar, dass Sie das Druckmittel, das Sie hier aufbauen wollen, doch gar nicht
durchhalten können.
({7})
Es geht hier nicht um Integration; es geht möglicherweise sogar um Abschreckung. Warum gehen wir nicht
den einfachen Weg und sorgen für einen massiven Ausbau von verpflichtenden Sprachkursen für die Zuwanderer hier bei uns in Deutschland?
({8})
Zusätzlich benötigen wir größere Anstrengungen zur Bekämpfung beispielsweise von Zwangsverheiratungen.
({9})
Dies bringt mich zu dem Instrument, das durch das
Zuwanderungsgesetz eingeführt wurde und dessen Fortentwicklung nun dringend erfolgen muss: den Integrationskursen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass
man bei der Einführung der Integrationskurse nicht so
recht wusste, welche Ziele man eigentlich verfolgen will
und welche Anstrengungen dafür nötig sind.
({10})
Nur so kann ich mir erklären, dass die Defizite der
Kurse, die doch klar auf der Hand liegen, überhaupt entstanden sind.
Die Evaluierung hat einige Zeit gekostet und die erwarteten Ergebnisse gebracht. Mir fehlt aber eine klare
Aussage zur Ausweitung der Stundenzahl. Da muss eine
deutliche Flexibilisierung erfolgen, sodass schwierige
Fälle auch mehr Stunden in Anspruch nehmen können.
Allerdings halte ich weitere Verbesserungen gerade bei
den Rahmenbedingungen der Teilnahme für erforderlich: bessere Kinderbetreuung, möglichst zügige Teilnahme an den Kursen nach der Einreise, Abschaffung
der verwaltungsintensiven Teilnehmerbeiträge, vorgeschaltete Angebote der Alphabetisierung und vor allem
eine größere Orientierung auf Jugendintegrationskurse.
Bis September 2006 begannen über 5 000 allgemeine
Integrationskurse, aber nur 51 Jugendintegrationskurse.
Wenn ich Ankündigungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über neue Konzepte für bessere Jugendintegrationskurse lese, dann kann ich nur sagen:
Bitte schnell umsetzen!
({11})
Die Beherrschung der deutschen Sprache bietet Chancen, was Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zunehmend verstehen. Als Beispiel nenne ich
die Hoover-Schule mit dem Stichwort „Deutsch auf dem
Schulhof“. Die Kenntnis weiterer Sprachen, gerade auch
der Muttersprache, ist dann ein Wettbewerbsvorteil,
weshalb der sogenannte muttersprachliche Unterricht
verstärkt in die Integrationsanstrengungen eingebunden
werden sollte.
Ich halte aber nichts von Eingriffen in die Religionsfreiheit und von der Forderung nach Deutsch in der Moschee. Die katholische Kirche denkt über einen stärkeren
Einsatz der lateinischen Sprache im Gottesdienst nach.
Haben Sie hier etwa auch Bedenken?
Heute vor 175 Jahren starb Johann Wolfgang von
Goethe. Gegen Ende seines Lebens beschäftigte er sich
mit dem Islam und mit östlichen Kulturen. Er verstand
die Notwendigkeit des Ost-West-Dialogs, wozu es eben
auch der Sprachkompetenz bedarf.
Migration bringt Vielfalt. Vielfalt braucht eine Basis
zur Verständigung, die durch den Erwerb der deutschen
Sprache geschaffen werden kann. Das Gegenteil von
Vielfalt ist Einfalt; dies sollten wir bedenken.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Laurischk, wenn Sie nicht eine solche Rede gehalten hätten, wie Sie sie gehalten haben, würde ich Ihnen
Folgendes nicht entgegenhalten: Wir haben uns im Innenausschuss anhand des Rambøll-Gutachtens zweieinhalb Stunden lang intensiv mit den Integrationskursen
beschäftigt; Sie waren bei dieser Sitzung nicht einmal
da. Sie sollten dann auch nicht so viel Unsinn zu diesen
Integrationskursen sagen, wie Sie es getan haben, zum
Teil ohne jegliche Kenntnis der Gesetzeslage.
({0})
Es wäre schön, wenn Sie zumindest bei den Sitzungen,
in denen wir über diese Fragen intensiv reden, dabei wären; das muss ich Ihnen deutlich sagen.
({1})
Das Rambøll-Gutachten geht in seinen Erkenntnissen
fachlich weit über das hinaus, was Sie in Ihrem Antrag
niedergeschrieben haben. Wir werden schnell die notwendigen politischen Konsequenzen daraus ziehen, und
zwar mit der Novelle des Aufenthaltsgesetzes, das am
kommenden Mittwoch im Kabinett verabschiedet wird.
Darin haben wir bereits eine Reihe von wesentlichen
Änderungen mit dem Ziel der qualitativen Verbesserung
der Integration, vor allen Dingen auch der Integrationskurse vorgesehen.
({2})
Die Arbeitsgruppe eins des nationalen Integrationsgipfels hat inzwischen umfangreiche Empfehlungen zur
Weiterentwicklung der Integrationskurse erarbeitet.
Deshalb stellt sich schon die Frage, warum Sie überhaupt den Antrag stellen. Man kommt der Wahrheit etwas näher, wenn man die Stellen betrachtet, wo Sie konkret werden. Ich muss deutlich sagen: Es ist schon
bemerkenswert, was Sie da verlangen. Sie verlangen
eine Verdoppelung der Kursstunden von jetzt 600 auf
1 200 Stunden. Sie wollen eine Erhöhung des Stundensatzes pro Tag und Teilnehmer von 2,05 Euro auf mindestens 3 Euro. Sie verlangen eine Abschaffung der Eigenbeiträge bei Geringverdienern - was immer man in
der FDP unter Geringverdienern verstehen mag.
({3})
Sie wollen umfangreiche Fahrtkostenzuschüsse sowie
eine umfangreiche qualifizierte Kinderbetreuung. Wenn
ich das zusammenzähle, dann komme ich bei konservativer Berechnung auf einen dafür erforderlichen
Finanzaufwand von 450 Millionen Euro anstelle der
140 Millionen Euro, die derzeit dafür im Haushalt zur
Verfügung stehen und die im Jahre 2006 nicht einmal
abgerufen wurden.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: So geht das nicht. Es
geht nicht an, dass die FDP bei Haushaltsberatungen mit
dicken Sparbüchern herkommt und uns vorwirft, wir
würden nicht ausreichend sparen, wir würden uns zu
sehr verschulden, und hier bei einem Einzelthema völlig
unbegründet eine Verdreifachung des Etatpostens beantragt. Das ist unseriös, das ist Populismus. Schon aus
diesem Grund disqualifiziert sich Ihr Antrag von selbst.
({4})
Sie wollen sich bei Kursträgern, bei Sprachschulen,
bei freien Wohlfahrtsverbänden lieb Kind machen; das
steckt dahinter. Ich kann Ihnen aber in aller Deutlichkeit
sagen: So kann man an der fachlichen Debatte nicht teilnehmen.
Sie reden hier über die identitätsstiftende Wirkung der
Sprache, über die Bedeutung von Sprache. Dann sollten
Sie auch konsequent sein. Natürlich ist es richtig, dass
wir vor dem Familiennachzug von Ehegatten einfache
Deutschkenntnisse verlangen, Deutschkenntnisse, die
ausreichen, um jedes FDP-Plakat zu verstehen.
({5})
Dies setzt nämlich gerade in Migrantenfamilien, die bisher nicht besonders integrationsbereit sind, ein richtiges
Signal: Man hat in dieser Gesellschaft als Ausländer
oder als Aussiedler keine gute Zukunft, insbesondere im
Hinblick auf die Kinder, wenn man nicht der deutschen
Sprache mächtig ist. Es geht um dieses Signal; Sie wollen uns dabei nicht unterstützen. Deswegen ist Ihre Haltung hier inkonsequent, wenn Sie nicht zumindest einfache Deutschkenntnisse als Voraussetzung für den
Familiennachzug akzeptieren.
({6})
Es ist auch nicht so - das haben Sie in Ihrem Antrag
behauptet und hier wiederholt -, dass wir nachholende
Integration vernachlässigt haben. Kein Altzuwanderer
ist aus Geldmangel bei Integrationskursen abgelehnt
worden. Das zentrale Problem der nachholenden Integration ist ein ganz anderes. Es ist die Frage: Wie erreichen wir noch besser als bisher Ausländer, die schon seit
vielen Jahren bei uns leben und gleichwohl dringenden
Integrationsbedarf haben, der sich zum Beispiel nachteilig auf hier aufwachsende Kinder auswirkt, weil im
Haushalt dieser Ausländer Deutsch praktisch keine Rolle
spielt? Die Frage ist also: Wie bringen wir Integrationsangebote in die Parallelwelt?
Hier haben wir uns in der Koalition darauf verständigt, dass die Behörden der Grundsicherung, also die
Optionskommunen und Argen, durch ihre Vermittler und
Fallmanager ausländische Langzeitarbeitslose künftig
direkt und ohne Umweg über die Ausländerbehörde zum
Besuch eines Integrationskurses verpflichten können,
wenn der Ausländer oder Aussiedler schon deshalb
keine Arbeit findet, weil er nicht ausreichend Deutsch
spricht.
({7})
Das ist ein praktischer Beitrag zur Verbesserung der
nachholenden Integration. Davon ist in Ihrem Antrag
nichts zu finden. Im Gegenteil: Sie fordern in Ihrem Antrag die konsequente Anwendung der bestehenden sozialrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Sie übersehen
aber, dass diese ins Leere laufen, wenn Zuwanderer
nicht zum Besuch von Integrationskursen verpflichtet
werden. Durch unsere Gesetzesänderung wird die Zahl
der Verpflichtungen zunehmen, und damit werden die
von Ihnen angesprochenen Sanktionen eine größere Bedeutung bekommen.
Da ich bei einigen der Grünen schon ein Zucken der
Augen sehe: Es geht uns im Kern nicht um die Sanktionen, sondern darum, dass bisher nichtintegrationsbereite
Ausländer diese Integrationskurse besuchen, und zwar
von der ersten bis zur letzten Stunde. Darum geht es uns
in erster Linie, nicht um Sanktionen, um das noch einmal klar zu sagen.
Ihre Forderung, hinsichtlich des Leistungsvermögens
der Teilnehmer möglichst homogen besetzte Kurse zu
schaffen, geht an der Realität vorbei.
({8})
Das würde im ländlichen Raum oder in Gegenden mit
niedrigem Migrantenanteil nur dazu führen, dass die
Kurse nie oder zu spät beginnen.
({9})
Prüfstein aller Verbesserungen müssen das Aufrechterhalten und der Ausbau eines zeitnahen und flächendeckenden Angebots an Integrationskursen sein. Dazu gehören enge Netzwerke in den Kommunen und die
Verpflichtung der Kursträger, Teilnehmer an einen anderen Kursanbieter abzugeben, wenn Kurse so schneller
beginnen können.
Nicht homogene Kurse sind das Gebot der Stunde,
sondern flexible Kursangebote. Generell 1 200 Stunden
anzubieten, ist abwegig; denn immerhin erreichen
40 Prozent der Teilnehmer das Sprachniveau B1 schon
nach 600 Stunden. Teilnehmern, die nach 600 Stunden
nur das Niveau A2 erreichen, muss man in der Tat, aber
flexibel auf den Einzelnen zugeschnitten, die Möglichkeit eröffnen, weitere 300 Stunden Unterricht zu erhalten.
({10})
Eines ist ganz klar - darüber sind wir uns mit den Sozialdemokraten einig -: An der Zielstellung „Sprachniveau B1“ wollen wir auf keinen Fall rütteln.
({11})
Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir noch mehr
qualifizierte Lehrkräfte und einen Qualitätswettbewerb
zwischen den einzelnen Kursträgern brauchen. Wir brauchen mehr zielgruppenorientierte Angebote, das heißt,
spezielle Jugend- und Frauenkurse mit einer qualifizierten Kinderbetreuung und der Möglichkeit, Betriebspraktika oder eine Ausbildung am Ende des Kurses zu machen.
({12})
Richtig ist - es wäre ganz schön, wenn Sie einmal zuhören würden - die Forderung nach einer Aufwertung
der Orientierungskurse, die Grundkenntnisse zur
Rechtsordnung, Geschichte und Kultur Deutschlands
vermitteln. Ich stimme zu, dass wir hier das Stundenkontingent erhöhen sollten.
Lassen Sie mich aus Aktualitätsgründen eine persönliche Anmerkung machen: Mein Eindruck ist, dass es
auch mancher Familienrichterin nicht schaden würde,
einen solchen Orientierungskurs zu besuchen,
({13})
in dem man lernt, dass in Deutschland das Grundgesetz
und nicht der Koran gilt. Das musste ich dazu einmal sagen.
({14})
Die Koalition nimmt die Empfehlungen der vielen
Experten der entsprechenden Arbeitsgruppe des Integrationsgipfels sehr ernst. Wir werden sie im Rahmen
der Möglichkeiten des Haushalts umsetzen. Wenn wir
eine qualitative Verbesserung der Integrationskurse erreichen wollen, dann wird das haushaltswirksame Konsequenzen haben. Das müssen wir bei der Aufstellung
des Haushalts 2008 thematisieren.
({15})
Ich sage an dieser Stelle aber auch: Integration ist eine
Querschnittsaufgabe. Angesichts dessen wäre es unfair,
allein den Haushalt des Bundesinnenministers damit zu
belasten. Für Integrationskurse muss insgesamt mehr
ausgegeben werden.
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gruß von der FDP?
Ja.
Frau Gruß, bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie uns zustimmen, dass
wir immerhin Einsparvorschläge gemacht haben, mit denen man solche sinnvollen Konzepte finanzieren könnte,
während Sie keine Einsparvorschläge gemacht haben.
({0})
Ich weiß jetzt nicht, in welchem Bereich Sie von Einsparvorschlägen sprechen: im Bereich der Integrationskurse? Ich bin da etwas ratlos.
({0})
Sie wollen den Haushaltsansatz für den Bereich, über
den wir hier reden, verdreifachen. Das ist nicht nötig. Ich
habe das bereits an einem Beispiel dargelegt und gesagt,
dass etwa 40 Prozent der Teilnehmer an diesen Integrationskursen das Sprachniveau B1 nach 600 Stunden erreichen. Insofern ist eine Ausweitung auf 1 200 Stunden,
wie Sie es fordern, nicht nötig.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir müssen uns
sehr genau anschauen, wie sich die Zahl der Zuwanderer, die momentan sinkt - Frau Laurischk hat das angesprochen -, entwickelt. Wir müssen auch abwarten, ob
wir nicht durch die Verpflichtung für Altzuwanderer
mehr Kursteilnehmer haben werden. Ich kann für mich
persönlich und, wie ich denke, im Namen aller Innenpolitiker sagen: Wir wollen an dieser Stelle eine qualitative
Verbesserung, und zwar so, wie wir es mit den Experten
auf dem Integrationsgipfel besprochen haben. Für mich
heißt das auch, dass etwas mehr Mittel erforderlich sind,
insbesondere um die Jugend- und Frauenkurse zu verbessern und die Stundenanzahl hierfür zu erhöhen.
Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier mehr Mittel
zur Verfügung gestellt werden.
Ich habe aber auch gesagt, dass man nicht allein den
Haushalt des Bundesinnenministers damit belasten darf.
Wenn man Integration als Querschnittsaufgabe versteht,
müssen Mittel „on top“ kommen. Ich hoffe in diesem
Sinne, dass uns der Bundesfinanzminister bei den Integrationsbemühungen helfen wird.
Herr Präsident, ich komme zur Schlussbemerkung.
Wir wollen viel fördern. Es geht aber nicht allein um das
Fördern, sondern auch um das Fordern. Integration ist
nicht nur eine Bringschuld des Staates; sie ist auch eine
Holschuld des Zuwanderers. Wer auf Dauer in der Aufnahmegesellschaft leben will, der muss auch einen aktiven Beitrag leisten, damit aus dem Nebeneinander, das
noch viel zu häufig besteht, ein Miteinander wird.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sprache
schafft Identität und ist Schlüssel zur Integration“ würde
in diesem Fall heißen: Deutsche Sprache schafft deutsche Identität. Ich möchte gerne wissen, auf welche Bestandteile der deutschen Identität hier so großer Wert gelegt wird.
Zu Ihrem Antrag, liebe Frau Laurischk. Dieser Antrag
enthält zwar sehr viele Vorschläge, denen wir uns durchaus anschließen könnten, doch in seiner Grundintention
können wir ihm nicht zustimmen. Sie reduzieren Integration auf den Spracherwerb. Was Sie allerdings von
den Regierungsfraktionen unterscheidet, ist, dass Sie
wenigstens die Rahmenbedingungen für den Sprach8940
erwerb im Rahmen der Integrationskurse verbessern
wollen.
Einig sind Sie sich aber mit den Regierungsfraktionen
wieder, wenn es um sozialrechtliche Sanktionen geht.
Ich frage mich: Warum eigentlich? Erstens sind sozialrechtliche Sanktionen bereits vorgesehen, und zweitens
wollen die meisten Migrantinnen und Migranten an den
Kursen teilnehmen. Der Präsident des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge, Herr Schmid, hat im Innenausschuss festgestellt, dass bei den alteingesessenen Migrantinnen und Migranten eine große Integrationsbereitschaft vorliegt. Ihr Anteil liegt bei 60 Prozent, ohne dass
Werbung gemacht wird, ohne dass sie einen Rechtsanspruch auf diese Kurse haben. Angesichts dessen frage
ich mich, was die Propaganda unter dem Stichwort „notwendige sozialrechtliche Sanktionsmöglichkeiten“ eigentlich soll.
Irritiert war ich auch, als ich las, dass die identitätsstiftende Integrationswirkung der deutschen Sprache bisher unterschätzt worden sei. Genau das Gegenteil war
und ist der Fall. Sehr verkürzt und einseitig gilt die Monolingualität eben noch als wichtigste Voraussetzung für
die Integration. Nicht ohne Grund steht der Sprachkurs
auch im Mittelpunkt des aktuellen Integrationsprogramms und der aktuellen Integrationsdebatte. Die Integrationskursverordnung lässt sich eindeutig als ein nationalpädagogisches Mittel beschreiben, das Migrantinnen
und Migranten die deutsche Kultur- und Werteordnung
beibringen soll.
Das Erlernen der deutschen Sprache ist wichtig für
das Berufsleben, für die Teilhabe an Bildung und Kultur
sowie an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen; das bestreitet hier niemand. Aber fehlende oder unzureichende Deutschkenntnisse dürfen
nicht zu Ausgrenzung führen oder zur Ausgrenzung benutzt werden.
({0})
Wer die Bildungs- und Berufschancen der Migrantinnen und Migranten wirklich verbessern will, muss sich
zum Beispiel für einen Rechtsanspruch auf kostenlose
Kita- und Kindergartenplätze einsetzen,
({1})
und zwar nicht nur für das letzte Jahr. Darüber hinaus
bedarf es der Abschaffung des dreigliedrigen, selektiven
Schulsystems und der Einführung von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen.
({2})
Aktuell wird der Bericht des Sonderberichterstatters der
UN für das Recht auf Bildung, Herrn Muñoz, diskutiert,
in dem er die soziale Ungleichheit des deutschen Bildungssystems scharf kritisiert und sagt, da sei Handlungsbedarf angezeigt.
({3})
Ausgrenzung und Diskriminierung beruhen nicht
nur auf sprachlichen Missverständnissen. Wie wollen
Sie sonst erklären, dass Migrantinnen und Migranten bei
gleichem Schulabschluss bei der Ausbildungsplatzvergabe systematisch benachteiligt und diskriminiert werden oder dass Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache
in der Grundschule und bei der Empfehlung für den
Übergang in die Sekundarstufe I grundsätzlich schlechter bewertet werden?
Die Linke vertritt nicht die verkürzte und antirepublikanische Auffassung, dass Sprache Schlüssel zur Integration ist. Für die Linke ist der Schlüssel zur Integration
in diese Gesellschaft die Teilhabe, die Partizipation an
allen gesellschaftlichen Ressourcen.
({4})
Da reicht es eben nicht, das ehrenamtliche Engagement
als Instrument zum Erlernen der deutschen Sprache vorzuschieben, wie es in diesem Antrag gemacht wird. Gerade weil wir der Meinung sind, dass Integration nur
über politische und soziale Rechte erfolgreich sein
kann, ist für uns weder der Integrationskurs im Allgemeinen noch der Orientierungskurs im Konkreten der
erste Schritt zur Eingliederung, wie es in diesem Antrag
heißt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Einbürgerung
trägt durch die Anerkennung der Person und ihrer Ausstattung mit Rechten den entscheidenden Teil zur Integration bei.
({5})
Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich, da
wir uns noch in der Antirassistischen Aktionswoche befinden, abschließend sagen: Es gilt den gesellschaftlichen Realitäten wie dem strukturellen Rassismus, der institutionellen Diskriminierung und den soziokulturellen
Ausgrenzungen zu begegnen. Sie tun in diesem Zusammenhang immer so, als müssten die aufgeklärten und
zivilgesellschaftlich voll entwickelten Deutschen die
Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der
Gleichberechtigung, der Toleranz und der Religionsfreiheit gegen die Migrantinnen und Migranten verteidigen.
Das ist ein Hohn. Sie, insbesondere die Große Koalition,
die CDU/CSU und auch die SPD, sollten selbst erst einmal einen Orientierungskurs zu den Menschenrechten
besuchen.
({6})
Was Sie von den Menschenrechten halten, haben Sie mit
der unsäglichen sogenannten Bleiberechtsregelung, die
Sie getroffen haben, erst kürzlich bewiesen.
Danke sehr.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Bürsch von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere an das Thema, das heute auf der Tagesordnung steht, nämlich Integration. Als Positivdenker sage
ich zur FDP: Willkommen im Klub! Sie haben offenbar
auch entdeckt, dass Integration eine wichtige Aufgabe
ist, und zwar eine Aufgabe, die auch staatliche Unterstützung verlangt. Eine neoliberale Lösung - jeder soll
sich selber helfen - ist hier nicht angesagt. Sie schreiben
selbst in Ihrem Antrag: Wir brauchen einen aktivierenden, unterstützenden Staat. Das ist erstaunlich für die
FDP. Deshalb will ich das positiv festhalten.
Ansonsten erinnert mich Ihr Antrag an Hase und Igel.
Nicht nur weil er schon ein halbes Jahr alt ist, entdeckt
man darin Dinge, die im Grunde überholt sind. Insgesamt haben wir uns mit dem, was der Antrag zum Inhalt
hat, im Innenausschuss und an verschiedenen anderen
Stellen bereits befasst. Aber ich will heute Abend gerne
ein bisschen Volkshochschule spielen und darstellen,
was wir alles schon auf den Weg gebracht haben. Das ist
vielleicht auch für die FDP ein Anlass, zu begrüßen, was
die Regierung macht.
Natürlich, Frau Laurischk, da gibt es keinen Zweifel:
Die Sprache schafft Identität und ist deshalb eine der
wichtigsten Säulen der Integration. Das ist allerdings
nicht neu. Hier kann ich an das erinnern, was die rotgrüne Koalition vor einigen Jahren auf den Weg gebracht hat.
({0})
Im Zuwanderungsgesetz ist Integration zum ersten Mal
ausdrücklich als Aufgabe vorgesehen, und mit diesem
Gesetz wurden Sprachkurse mit staatlicher Finanzierung
eingeführt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat, seit das Zuwanderungsgesetz in Kraft ist, hervorragende Arbeit geleistet. Es gibt jetzt ein flächendeckendes Angebot von zugelassenen Trägern;
({1})
insgesamt handelt es sich um die wirklich vorzeigbare
und nennenswerte Zahl von 1 800. Das allein ist in diesen
zwei Jahren schon ein großer Erfolg. Es gibt gegenwärtig
16 815 Kurse und rund 250 000 Teilnehmer. Von diesen
Teilnehmern - das sage ich, um die Statistik an dieser
Stelle zu ergänzen - sind 60 Prozent Frauen; auch das ist
ein wichtiger Erfolg. Wir sind uns einig: Frauen haben,
was die Sprachentwicklung der Kinder betrifft, eine besondere Verantwortung. Nur mit diesen Sprachkursen
kann Integration auch längerfristig gelingen.
Nach Schätzungen der Träger erreicht allerdings nur
knapp die Hälfte der Teilnehmer das angestrebte Sprachniveau B1. Insofern besteht kein Zweifel, dass es Verbesserungsbedarf gibt. Wir haben allerdings schon im
Innenausschuss deutlich gemacht, dass wir wesentliche
Verbesserungsvorschläge aus dem zitierten RambøllGutachten übernehmen wollen.
Um es deutlich zu sagen, Frau Laurischk: Wir brauchen einen verbindlichen Abschlusstest, mit dem sich
die unterschiedlichen tatsächlich erreichten Sprachniveaus nachvollziehen lassen. Ein solcher Test wird entwickelt. Derzeit kann in der Tat nur festgestellt werden,
wie viele der Teilnehmer, die sich zur Prüfung angemeldet
haben, den Test bestanden haben. Diese Situation befriedigt
auch uns nicht. Es werden längst nicht alle Teilnehmer
an den Sprachkursen zum Test angemeldet, sei es, weil
das Niveau B1 nicht erreichbar scheint, sei es, weil dem
Test von den Kursträgern mitunter sogar zu geringe Bedeutung beigemessen wird. Bislang meldet nur knapp
ein Viertel der Kursträger alle Teilnehmer zum Abschlusstest an. Circa 10 Prozent der Träger melden kaum
oder gar keine Teilnehmer an. Das bedeutet, von einem
großen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wissen
wir nichts über das Sprachniveau, das sie nach immerhin
600 Stunden Sprachunterricht erreicht haben.
Auch im Hinblick auf das erreichte Sprachniveau derjenigen, die am Abschlusstest teilnehmen, ihn aber nicht
bestehen, gibt es bisher keine Aussagen. Das ist in der
Tat unbefriedigend. Daran wollen wir etwas ändern. Die
Verabredungen dazu sind schon getroffen.
({2})
An dieser Stelle kann ich auf das verweisen, was wir im
Innenausschuss hinlänglich besprochen und schon auf
die Schiene gebracht haben.
Die SPD-Fraktion schlägt vor: Jeder Teilnehmer soll
am Ende des Kurses eine Urkunde in der Hand halten,
aus der hervorgeht, was er kann und was er erreicht hat.
Das ist ein wichtiger Anreiz. Es ist außerdem eine
Erfolgskontrolle für die Teilnehmer und die Träger. Die
Teilnehmer sollen und müssen ihren Sprachstand erfahren;
denn ihre Sprachkenntnisse sind nicht nur für das tägliche
Leben wichtig, sie können auch, wie wir wissen, eine
wichtige rechtliche Voraussetzung für die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis oder für eine spätere Einbürgerung
sein. Für die Träger sind die zertifizierten Erfolge bzw.
Teilerfolge ihrer Schüler natürlich auch eine Art Bestätigung und ein Anreiz, den Unterricht an den Stellen, an
denen es nötig ist, zu verbessern.
Die Ergebnisse sind aus meiner Sicht aber noch aus
einem anderen Grund wichtig - das hat der Kollege
Grindel erwähnt -: Sie sind eine Voraussetzung für den
Qualitätswettbewerb unter den Trägern. Auch das gehört
zur Marktwirtschaft; hier soll durchaus Wettbewerb
stattfinden. Konkurrenz belebt auch auf diesem Feld
nicht nur das Geschäft, sondern sie verbessert auch die
Ergebnisse.
({3})
- Damit müsste man bei der FDP eigentlich eine offene
Tür einrennen. Wenn Sie hierbei mitmachen wollen, sind
Sie willkommen.
Schließlich sind die Ergebnisse des Abschlusstests
natürlich ein wichtiges Kontrollelement für den Bund.
Der Bund zahlt hierfür, wie wir alle wissen,
140 Millionen Euro. Daher wollen wir auch erfahren,
was dabei herauskommt.
Ja, Frau Laurischk, wir brauchen - das wurde schon
festgestellt - eine Flexibilisierung der Stundenzahl.
Ein Sprachkurs im Umfang von 600 Stunden reicht nicht
für jeden Teilnehmer aus. Die Gutachter schätzen, dass
etwa 40 Prozent der alphabetisierten Teilnehmer wegen
geringer sprachlicher Vorkenntnisse oder einer einfachen
Vorbildung schlicht keine Chance haben, innerhalb der
vorgesehenen 600 Stunden das Sprachniveau B1 zu erreichen. Das müssen wir unbedingt ändern. Wir müssen
jedem die Chance geben, sich im täglichen Leben in seiner
Umgebung selbstständig sprachlich zurechtzufinden und
seinem Alter und Bildungsstand entsprechend ein Gespräch zu führen und sich schriftlich auszudrücken. Das
ist die Rahmenbedingung, die in der Integrationskursverordnung definiert ist, das heißt die Voraussetzung, die
erfüllt werden muss. Dahinter dürfen wir nicht zurückbleiben. Das ist sicherlich keine einfache Aufgabe.
Im Umgang mit der deutschen Sprache hatten schon
ganz andere, auch hochmögende Menschen ihre Schwierigkeiten. Der österreichische Schriftsteller Alfred
Polgar zum Beispiel hat einmal gesagt:
Ich beherrsche die deutsche Sprache, aber sie gehorcht nicht immer.
Wichtig ist vor allem eines: Wir dürfen nicht das Kursziel den Fähigkeiten der Teilnehmer anpassen, sondern
umgekehrt. Wir müssen die Stundenzahl den Fähigkeiten
dieser Teilnehmerinnen und Teilnehmer anpassen.
Frau Laurischk, auch an einer anderen Stelle haben
Sie unsere Zustimmung: Wir brauchen einen besseren
Orientierungskurs. Wenn wir die Integration als verstärkte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und kulturellen Leben in Deutschland ernst nehmen,
dann müssen wir diesen Orientierungskurs aufwerten.
Durch den Kurs sollen Kenntnisse der Rechtsordnung,
Kultur und Geschichte Deutschlands vermittelt werden.
Das ist aus meiner Sicht eine Grundvoraussetzung, um
sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Diesen
Anforderungen wird der Orientierungskurs bisher unbestritten kaum gerecht. Insofern brauchen wir ein verbindliches und möglichst praxisorientiertes Curriculum
für den Orientierungskurs. Nur so kann der Kurs wirklich eine zusätzliche Hilfe bei der Aufnahme in unsere
Gesellschaft sein.
Fazit: Manches ist richtig. Herr Grindel hat aber
schon sehr viel ausführlicher darauf hingewiesen: Wir
als Regierung, die wir Verantwortung tragen, können es
uns nicht erlauben, im Wolkenkuckucksheim Vorschläge
zu machen. In aller Freundschaft, liebe FDP: Wir müssen
darauf achten, ob das finanzierbar und machbar ist.
Natürlich wären 1 200 Stunden Deutschunterricht für
bestimmte Zielgruppen schön. Aber wie, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen Sie das bitte
schön finanzieren?
({4})
Ich habe einmal einen Ihrer Vorschläge durchgerechnet,
nämlich den Vorschlag, den Stundensatz von derzeit
2,05 Euro auf mindestens 3 Euro anzuheben. Allein das
würde eine Anhebung der Gesamtkosten um
80 Millionen Euro bedeuten.
({5})
Ich frage Sie: Wo ist von Ihrer Seite ein Deckungsvorschlag für diesen Vorschlag?
({6})
Utopien helfen uns nicht weiter. Wir sind gehalten,
hier praxisorientiert vorzugehen.
({7})
Ich appelliere nochmals an Sie: Wir reden hier über
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir werden die
Integration nur dann zu einem Erfolg bringen, wenn wir
das gesamtgesellschaftlich angehen, wenn alle Fraktionen möglichst an einem Strang ziehen und wenn wir die
Vorschläge, die wir machen, am Ende auch darauf abklopfen, ob sie finanzierbar und realitätsbezogen sind. Wenn
Sie das für die künftige Zusammenarbeit in Ihren Vorschlägen beachten, dann können wir daraus vielleicht ein
Gesamtkunstwerk machen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Josef Winkler vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich auf den Antrag der FDP eingehe, will
ich auf die Redner der Regierungskoalition eingehen.
({0})
- Die vier Minuten werde ich ausnutzen.
Herr Kollege Grindel,
({1})
ich halte es erstens für uncharmant und zweitens für der
Sache nicht angemessen, wenn Sie mit dem Holzknüppel
zurückschlagen, während eine Dame, Frau Kollegin
Laurischk, gegen Sie mit dem Florett ficht.
({2})
Herr Dr. Bürsch, wir brauchen keine Volkshochschulkurse, wie Sie eben gesagt haben, sondern endlich eine
Regierungsvorlage, in der steht, was Sie an diesen Kursen
ändern wollen. Die Probleme sind im Prinzip seit eineinJosef Philip Winkler
halb Jahren bekannt. Sie haben aber immer noch nichts
vorgelegt.
({3})
Das, was Sie jetzt eben abgeliefert haben, fasse ich einmal
unter dem Begriff „Arroganz der Macht“ zusammen.
({4})
Die Kollegin Laurischk hat Ihren Antrag vorgestellt.
Ich will mich jetzt gar nicht allzu sehr darüber aufregen,
sondern mich eher darüber freuen, dass die Forderungen
zu einem überwiegenden Teil aus unserem ein Vierteljahr
vorher vorgelegten Antrag „Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005 vorlegen“ übernommen worden sind. Wir freuen uns ja immer, wenn unsere Arbeit
nicht völlig umsonst war.
Wichtige gesellschaftspolitische Weichenstellungen
in der Integrationspolitik - zum Beispiel gleichrangige
berufliche Eingliederungsmaßnahmen, Einbürgerungspolitik oder Ähnliches - finden sich im FDP-Antrag leider
nicht. Dass Deutschlernen wichtig ist, ist sicherlich eine
wichtige Botschaft - das respektieren wir auch -, aber
als alleiniges Heilmittel greift es wohl zu kurz. Ich kann
aber auch Ihre Einschätzung, Frau Kollegin Dağdelen,
dass eine solche Forderung antirepublikanisch sei, nicht
teilen. Das sehen wir als Grüne anders.
Ziel der Integration muss die Chancengleichheit für
Migrantinnen und Migranten bei der Bildung, auf dem
Arbeitsmarkt und in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen sein. Instrumente dafür können zum Beispiel die
Gleichstellung des Islam mit den Kirchen - die dies im
Übrigen auch fordern - und die Vermittlung unserer
Werte in Schulen und in den bereits erwähnten Orientierungs- und Integrationskursen sein.
Zugleich müssen wir aber auch die Stimmung in der
Bevölkerung ernst nehmen - dass wir gerade die Internationale Woche gegen Rassismus begehen, wurde bereits
erwähnt -, die sich in der wachsenden Ablehnung alles
Fremden oder auch auf der konservativen Seite dieses
Hauses durch ein ständiges Wiederauflebenlassen der
Leitkulturdebatte zeigt. Unserer Meinung nach lautet die
richtige Antwort allerdings nicht „Deutsche Leitkultur
qua Gesinnungstest“, sondern „Chancengleichheit durch
Anerkennung“. Deshalb haben wir als grüne Bundestagsfraktion im letzten Jahr ein umfassendes Integrationskonzept vorgelegt, das viele Punkte enthält, die Sie auf der
Regierungsseite meines Erachtens schon längst hätten
umsetzen können.
({5})
Ich will jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen.
Wie gesagt, wir stimmen mit vielen Punkten überein, die
Frau Laurischk vorgetragen hat. Ich habe sie in diesem
Hause schon wiederholt vorgestellt; zum Beispiel ist für
uns klar, dass der Spracherwerb sehr früh einsetzen
muss.
Für uns ist es offensichtlich, dass das Bildungssystem,
das wir in der Föderalismusreform fahrlässigerweise
völlig aus der Hand des Bundes gegeben haben, einen
Schlüssel darstellt. Es ist unserer Auffassung nach nicht
besonders intelligent, vor einer Tür zu stehen und zu beklagen, dass sie verschlossen ist, aber gleichzeitig den
Schlüssel wegzuwerfen bzw. dem Nachbarn zu geben.
Diese Unlogik in Ihrer Politik müssen Sie erst einmal
aufdecken.
Was Sie in dem Riesenpaket zum Ausländerrecht,
das demnächst im Kabinett beschlossen werden soll, zur
Integrationsförderung planen, fördert unserer Meinung
nach Integration nicht, sondern schadet ihr sogar. Das
werden wir in den nächsten Wochen noch lang und breit
zu diskutieren haben.
Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
Vielleicht sehen wir uns tatsächlich dort, Frau Laurischk.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/2092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend im Innenausschuss beraten werden soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 14:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
11. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksache 16/3750 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
die Freude, Ihnen nunmehr schon den 11. Sportbericht
der Bundesregierung vorzulegen. Dieser Bericht ist
naturgemäß ein Rückblick auf die sportpolitischen
Schwerpunkte der vergangenen Wahlperiode. Er ist aber
gleichzeitig als Einladung an die Ausschüsse zur sportpolitischen Diskussion über zukünftige Schwerpunkte
und Akzente zu verstehen.
Dabei ist auf eine Besonderheit aufmerksam zu machen.
Der Sportbericht wird üblicherweise in einem vierjährigen
Turnus vorgelegt. Die vergangene Wahlperiode dauerte
allerdings nur drei Jahre,
({0})
sodass wir es uns erlaubt haben, in diesen Bericht gleichzeitig Ereignisse wie die Olympischen und Paralympischen Winterspiele und die Fußballweltmeisterschaft mit
aufzunehmen und auch schon ansatzweise einige Ausführungen über die sportpolitischen Schwerpunkte dieser
Wahlperiode zu machen. Ich gebe zu: Im Bereich der
Sportpolitik fällt eine solche legislaturperiodenübergreifende Kontinuität - zumindest in vielen sportpolitischen
Förderbereichen - nicht schwer. Es hat sich gezeigt, dass
in diesem Sektor immer wieder eine große, fraktionsübergreifende Kontinuität festzustellen war. Kontinuität
herrscht jedenfalls bei den Bemühungen um die entsprechenden Haushaltsansätze, von denen der Bericht in
besonderer Weise Kenntnis gibt. Die Sportförderung des
Bundes hat in dem Berichtszeitraum insgesamt
920 Millionen Euro betragen, davon allein 700 Millionen Euro im Bereich der Spitzensportförderung des
BMI.
Der Berichtszeitraum stand im Zeichen der Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft und ihrer erfolgreichen Durchführung, wozu eigenständige Berichte gegeben wurden. Aber im Schatten dieses Großereignisses
geschah die Förderung vieler Bereiche des Spitzensports
durch den Bund - davon wird Zeugnis abgelegt - immer
unter dem Gesichtspunkt der internationalen Leistungsfähigkeit. Die Förderhöhe wurde - darauf lohnt es sich
zu verweisen - annähernd konstant gehalten. Die
108 Millionen Euro, die uns in diesem Haushaltsjahr zur
Verfügung stehen, sind zwar nominell 16,6 Millionen
Euro weniger als 2006. Diese Verringerung der Ausgaben ist mit dem Wegfall der durch die Fußballweltmeisterschaft im Vorjahr bedingten Kosten zu erklären. Die
Position „Zentrale Maßnahmen“ mit reichlich 70 Millionen Euro zur Förderung der Sportverbände und der
Olympiastützpunkte stellt nach wie vor einen konstanten
Förderschwerpunkt dar. Dabei ist mit Blick auf das gegenwärtige Haushaltsjahr und die Veränderungen durch
den Wechsel der Legislaturperiode auf die Einführung
von Verpflichtungsermächtigungen hinzuweisen, die
dem Sport erhebliche Planungssicherheit geben. So viel
in groben Zügen zu dem sicherlich wichtigen Berichtsschwerpunkt Haushalt.
Die Spitzensportförderung braucht wissenschaftliche
Begleitung; auch davon weiß der Bericht Kenntnis zu
geben. Die Bundesregierung hat deshalb im Berichtszeitraum die Leistungsfähigkeit der von ihr geförderten
sportwissenschaftlichen Institute durch eine Erhöhung
der Fördermittel gestärkt. Die Optimierung des wissenschaftlichen Verbundsystems und im Zusammenhang
damit die Erhöhung des Praxisbezuges werden - darüber
können wir im Ausschuss noch ausgiebig diskutieren ein wichtiges Aufgabenfeld künftiger Sportpolitik sein.
Dabei werden wir natürlich die Anregungen des Wissenschaftsrates, die in jüngster Zeit eingegangen sind, berücksichtigen, soweit sie nicht bereits umgesetzt wurden.
In den Berichtszeitraum fällt das von den Vereinten
Nationen ausgerufene Jahr des Sports und der Leibeserziehung, das 2005 begangen wurde und im Zeichen von
Völkerverständigung, Frieden und Integrationsförderung
stand. Die Bundesregierung hat - auch mit massiver finanzieller Unterstützung des Parlamentes und des zuständigen Ausschusses - zahlreiche Projekte unterstützt,
die möglichst nachhaltig eine breitgestreute Teilhabe an
den sozialen Chancen, die der Sport bietet, schaffen sollen. Dazu ist im Bericht Näheres zu lesen.
({1})
Das herausragende Ereignis für den Sport selber und
für die Sportpolitik, das in den Berichtszeitraum fällt,
war - dies sollte noch einmal hervorgehoben werden der Fusionsprozess von DSB und NOK, der im Mai
2006 mit dem Zusammenschluss zum Deutschen Olympischen Sportbund endete. Die Bundesregierung hat in
der vorangegangenen wie in dieser Wahlperiode diesen
Prozess begleitet und, wo immer möglich und vom Sport
selbst gewünscht, unterstützt. Gemeinsam mit dem
DOSB als nun größerer und stärkerer Dachorganisation
gilt es für uns als Haushaltsgesetzgeber in der Zukunft,
die Eigenverantwortung des Sports zu stärken und die
Planungssicherheit so weit wie möglich zu erhöhen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts, den ich kurz
- auch aus aktuellem Anlass - ansprechen will, ist die
Dopingbekämpfung. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass der gemeinsame Kampf gegen Doping
durch Sport, Politik und Wirtschaft ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung ist und der Gesundheit der
Sportlerinnen und Sportler, aber auch der Fairness der
Wettkämpfe, die die Substanz des Sportes ausmachen,
dient. An den Anfang des Berichtszeitraums fällt die
Gründung der unabhängigen Nationalen Anti-DopingAgentur, NADA - es war am 15. Juli 2002, wenn Sie
sich daran erinnern -, die insbesondere durch die
Beisteuerung des Stiftungskapitals in Höhe von
5,1 Millionen Euro durch den Bund möglich wurde. Wie
Sie sich vielleicht erinnern können, haben wir im letzten
Jahr die Einlage - auch auf Betreiben des Parlamentes erhöht. Wir appellieren im Zusammenhang mit der Vorstellung des Sportberichts noch einmal an die Wirtschaft,
den Sport und die Länder, ihren Finanzierungsbeitrag zu
leisten, damit die NADA ihre wichtige Aufgabe erfüllen
kann.
({2})
Im Zusammenhang mit der Dopingbekämpfung ist im
Berichtszeitraum das Dopingopfer-Hilfegesetz hervorzuheben. Die Einrichtung eines Hilfsfonds in Höhe von
2 Millionen Euro ermöglicht es, Dopingopfer zu unterstützen und Dopingpräventionsprojekte zu finanzieren.
Ich will nur am Rande darauf eingehen, dass vor zwei
Wochen der Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes im
Kabinett behandelt wurde und dieses in Kürze hier im
Parlament eingebracht werden kann. Es ist ein Gesetz,
das im Wesentlichen die Effektivität der Dopingbekämpfung durch staatliche Maßnahmen erhöhen soll. Wir wissen, dass diesem Gesetz schwierige Gespräche in der
Koalition vorausgingen, die zu einem Konsens geführt
haben, der nunmehr mit Leben gefüllt werden sollte.
Dopingbekämpfung hat - auch da will ich einen aktuellen Bezug herstellen - im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft eine entscheidende Rolle gespielt. In der letzten Woche fand, wie wir feststellen konnten, eine sehr
erfolgreiche EU-Sportministerkonferenz statt. Einer der
wichtigen Tagesordnungspunkte, die in Stuttgart behandelt wurden, betraf die Frage der Vernetzung der nationalen Antidopingagenturen, was die einstimmige Unterstützung der EU-Sportminister gefunden hat. Es lassen
sich überhaupt viele Verbindungslinien von dem Sportbericht zu der europäischen Ebene und zu den auf der
Sportministerkonferenz behandelten Themen ziehen.
Herr Kollege Bergner, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich muss zum Schluss kommen.
Die Handball-WM hat uns gezeigt, dass die erfolgreiche Geschichte der Sportpolitik auch über den Berichtszeitraum hinausgeht. Ich freue mich auf die Diskussion
im Sportausschuss, und ich bin sicher, wir werden, wenn
wir uns gemeinsam als Parlament weiter zu den sportpolitischen Leitlinien bekennen und sie kreativ fortschreiben, auch weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland
auf sportlichem Gebiet Sommer- und Wintermärchen erleben können.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung ist kein Märchen, sondern
eine Bilanz der letzten drei Jahre, die sich in vielen Bereichen sehen lassen kann. Die Krönung waren sicherlich die Fußball-WM, die in allen bundespolitisch relevanten Bereichen den Ansprüchen mehr als genügte,
({0})
und die Olympischen Winterspiele in Turin, die ein eindrucksvoller Beweis für die Leistungsfähigkeit der Wintersportnation Deutschland waren.
({1})
Hier bedankt sich artig die größte Oppositionspartei in
diesem Bundestag bei der Bundesregierung, sowohl bei
Otto Schily als auch bei Wolfgang Schäuble und bei
Herrn Dr. Christoph Bergner. Ich glaube, hier ist gut gearbeitet worden.
({2})
Jetzt ist wieder Alltag angesagt. Als größte Herausforderung steht Peking vor der Tür. Die Rückschläge bei
den letzten Sommerspielen haben zwar ein neues Denken eingeleitet; das Ziel liegt aber doch in erklecklicher
Ferne. Beginnen wir bei dem Dreiklang der Spitzensportförderung: Stützpunktsystem, Sportwissenschaften und Talentsuche/Talentförderung. Ist das Zusammenspiel wirklich harmonisch? Kann es bei 20 Olympiastützpunkten mit 14 Sportfördergruppen der Bundeswehr und 138 Bundesstützpunkten zu einer reibungslosen Vorbereitung unserer Spitzenathletinnen und
Spitzenathleten, zu Trainingsabläufen aus einem Guss
kommen? Ist die Sportwissenschaft in Deutschland so
aufgestellt, dass die Vielzahl der Erkenntnisse der Hochschulinstitute, des Bundesinstituts für Sportwissenschaften, des IAT, des FES und des neugeschaffenen Projekts
„Momentum“ an der Sporthochschule Köln effizient in
die Praxis umgesetzt werden kann?
Die Präsentation des Sportentwicklungsberichtes gestern im Sportausschuss beweist eher das Gegenteil. Mit
Zahlenfriedhöfen ist wenig Staat zu machen. Die Wintersportverbände haben gezeigt, dass durch Konzentration und Bündelung aller Kräfte die Synergieeffekte entstehen, die national und international zum Erfolg führen.
Es ist gut, dass wir uns in Kürze mit dem Verteilerstrom
der Sportfördermittel etwas detaillierter auseinandersetzen werden.
Bei der Talentsuche und Talentförderung gehören die
Eliteschulen des Sports auf den Prüfstand. Sie warten
mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen in den Bundesländern auf. Es ist zum Beispiel nicht zu verstehen,
dass Schülerinnen und Schüler, die den Leistungsansprüchen nicht mehr genügen, in einzelnen Bundesländern
diese Schulen weiter besuchen dürfen. Ein Schulwechsel
muss in solchen Fällen bundeseinheitlich die Regel sein,
um das Profil der Eliteschulen nicht zu verwässern. Das
gilt auch für die Nichtaufnahme von anderen Schülerinnen und Schülern. Eigentlich sollte es selbstverständlich
sein, dass in Eliteschulen des Sports wirklich nur sportliche Leistungsträger aufgenommen werden.
({3})
Kommen wir zum Sportstättenbau. Auch wenn der
Bund, seinen Aufgaben entsprechend, den Bau von
Sportstätten für den Spitzensport zum Schwerpunkt hat,
so ist doch richtig, sich ebenfalls um den Neubau, die
Erweiterung und den Umbau von Sportstätten der
Grundversorgung zu kümmern. Das hat er über das Investitionsprogramm und den Goldenen Plan für den Osten unseres Landes zu Recht getan. Die Sportplätze, die
Sporthallen und Schwimmbäder schaffen bundesweit die
Voraussetzungen nicht nur für den Breiten-, sondern
auch für den Leistungssport. Deswegen freuen wir uns,
dass die FDP-Forderung nach einer Neuauflage des Goldenen Planes für Gesamtdeutschland auf wachsendes Interesse stößt. Wenn wir ein Ganztagsschulprogramm mit
50 Millionen Euro anschieben können, dann müssen wir
auch zu entsprechenden Vereinbarungen mit den Län8946
dern und Kommunen zugunsten des Sports kommen
können.
({4})
Daraus könnten dann auch unsere Hochschulen Nutzen ziehen. Der Sportbericht widmet dem Bereich des
Hochschulsports gerade einmal eine Viertelseite und
dokumentiert damit eine Bedeutung, die dringend größer
werden muss. Wenn wir die Universiaden besuchen,
stellen wir immer wieder fest, dass andere, zum Teil
kleinere Nationen mit größeren Mannschaften vertreten
sind. Sie verstehen die studentischen Weltspiele als Vorbereitung von jüngeren Athletinnen und Athleten auf andere sportliche Großveranstaltungen. Das sollten auch
wir verstärkt tun. Der Allgemeine Deutsche Hochschulsportverband leistet zum Beispiel mit den Partnerhochschulen des Spitzensports eine hervorragende Arbeit, die
mehr Unterstützung verdient. Die FDP hat deshalb eine
Studie beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages
in Auftrag gegeben, die den Stellenwert des Hochschulsports im internationalen Vergleich zum Inhalt hat. Wir
erhoffen uns neue Aufschlüsse und Konsequenzen aus
diesen Ergebnissen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Rede zum
Sportbericht der Bundesregierung kann das Thema
Doping natürlich nicht aussparen. Die FDP-Fraktion hat
noch in dieser Woche einen eigenen Antrag zu diesem
Thema eingebracht. Wir sind in den meisten Bereichen
mit den Vorstellungen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktion einig. Aber müssen wir zum Beispiel die
Möglichkeiten der Telefonüberwachung, die in unserer
Gesellschaft ohnehin schleichend ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat, erweitern, bevor eine generelle Neuregelung vorliegt? Hier sollte der Sport nicht
vorpreschen!
({5})
Zum Thema „Strafverfolgung der einzelnen Sportler“
möchte ich noch einmal auf die Mogelpackung der Besitzstrafbarkeit hinweisen. Sportler im Besitz einer
nicht geringfügigen Menge von Dopingsubstanzen sollen künftig strafrechtlich verfolgt werden. Welch eine
gesetzgeberische Großtat!
({6})
Der Besitz einer großen Menge solcher Substanzen ist
gleichzusetzen mit Handel. Das banden- oder gewerbsmäßige Inverkehrbringen steht bereits unter Strafe. Ein
bisschen Flunkern mag man noch hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen,
aber das ist eine handfeste Verdummbeutelung der Öffentlichkeit.
({7})
Der Sportminister hat zu Recht lange gezögert, eine solche Verfälschung der Tatsachen ins Gesetz zu schreiben.
Auch der Staatssekretär hat den Gesetzentwurf nur sehr
zurückhaltend angekündigt. Herr Dr. Bergner, die Bedenken, die Sie in der Bundesregierung hatten, teilen
wir. Wir werden alles daransetzen, das auch immer wieder öffentlich zu machen und aufzudecken.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung bilanziert
die erfolgreiche Sportpolitik des Bundes vor allem in der
letzten Legislaturperiode. Ich könnte nun über die rotgrüne Regierungszeit schwärmen.
({0})
Aber das hat der Staatssekretär schon ausreichend getan.
Meine Redezeit ist dafür zu knapp.
Im Übrigen habe ich auch nicht genügend Redezeit,
um auf das einzugehen, was der Kollege Parr zuletzt
sagte. Ich denke, mein Kollege Danckert wird zum
Thema Doping noch einiges sagen.
Ich will mich der Zukunft zuwenden und möchte hier
deutlich machen: Sport hat eine herausragende Bedeutung. Sport erhöht die Lebensqualität. Und: Investitionen
in Sport zahlen sich aus. Immense Kosten im Bildungswesen, bei der Jugendhilfe, bei der Kriminalitätsbekämpfung, beim Strafvollzug sind vermeidbar, wenn die
Kinder und Jugendlichen mit der Hilfe des Sports
rechtzeitig auf die richtige Bahn gebracht werden. Sport
ist Vorsorge, und die ist allemal besser als Nachsorge.
({1})
Bewegung und Sport haben auch positive Auswirkungen auf die geistige Entwicklung. Kinder, die nicht rückwärts gehen können, haben Schwierigkeiten in der Mathematik, beim Subtrahieren. Ist es nicht irre, wie das
Gehirn funktioniert? In Schulen, wo mehr Sport getrieben wird, verbessern sich die Leistungen auch in anderen Schulfächern. In Berlin hat die Sportjugend Kindertagesstätten übernommen. Mit großem Erfolg werden
Bewegung und Spracherwerb miteinander verknüpft.
Als Bundestag sind wir nicht für die Lehrpläne zuständig. Wir müssen trotzdem immer wieder sagen:
Lasst den Sport nicht ausfallen! Führt die dritte Sportstunde ein, besser noch die tägliche Sportstunde! Das
wird am Ende auch die Eltern überzeugen.
Swen Schulz ({2})
({3})
Der Sport leistet großartige Beiträge für die Gesellschaft. Das ist in allererster Linie dem großen Engagement von Millionen Ehrenamtlichen geschuldet. Sie haben wirklich Anerkennung und Dank verdient.
({4})
Darum ist auch die Initiative „Hilfen für Helfer“ von
Bundesfinanzminister Steinbrück sehr zu begrüßen, die
eine zusätzliche Unterstützung für das Ehrenamt bringen
wird.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Sport ist die Integration; ich meine das jetzt im allgemeinen, im sozialen
Sinn. Mancherorts sind dem Ehrenamt Grenzen gesetzt.
Bei allem Engagement: Es gibt Probleme, die man nicht
in der Freizeit klären kann. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir Vereinen professionelle Hilfe an die
Hand geben können, Profis, die die Ehrenamtlichen entlasten und sich verstärkt um die Kinder und Jugendlichen kümmern.
Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten, auf die
man so schnell nicht kommt. Ich war neulich in Kreuzberg bei einem Fußballverein. Er hat ein paar Hundert
Kinder und Jugendliche als Mitglieder, auch viele Mädchen; das ist in dem Zusammenhang ganz wichtig. Die
kommen aus 25 oder 30 verschiedenen Nationen. Der
Verein hat mitten in einem Wohnviertel einen großen
Platz und dann noch einen kleinen Trainingsplatz, wo
auch die Kids spielen können.
In der Nachbarschaft sind Mietshäuser entstanden. Es
hat sich dann eine Mietpartei über den Lärm aufgeregt.
Wenn man irgendwo wohnt und dann sozusagen unter
dem Schlafzimmerfenster ein Sportplatz neu gebaut
wird, dann habe ich Verständnis für so etwas. Da kann
man mal nachfragen: Was passiert denn da? Aber wenn
man neu hinzieht, weiß man doch eigentlich, was man
tut. Es kam in dem Fall zur Gerichtsverhandlung. Ergebnis: Die Spiel- und Trainingszeiten auf dem großen Platz
mussten erheblich eingeschränkt werden, und das kleine
Feld darf gar nicht mehr bespielt werden.
Auf der anderen Seite des Geländes sollen jetzt Eigentumswohnungen entstehen. Der Verein erwartet weitere Klagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde,
das kann doch eigentlich nicht wahr sein.
({5})
Zig Kinder und Jugendliche stehen auf der Warteliste
dieses Vereins. Aber sie dürfen keinen Sport machen,
weil nicht genügend Platzzeiten zur Verfügung stehen.
Die Anwohner wollen aber in der Nachbarschaft auch
keine Kriminalität, keine Gewalt und keine Drogen haben. Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinen
soll. In meinem jugendlichen Leichtsinn sage ich: Das
müssen wir ändern. Die Mittagsruhe darf im Zweifelsfall
nicht wichtiger sein als die Zukunft unserer Kinder.
({6})
Herr Kollege, kommen Sie dann auch zum Schluss.
Meine Redezeit ist ausgeschöpft. Ich wollte nur an einigen Stellen deutlich machen, wie wichtig der Sport ist
und was wir besser machen können. Darum will ich zum
Schluss appellieren: Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen
und Kollegen, den Sport ins Grundgesetz aufnehmen. Es
wäre ein gutes Zeichen, eine Unterstützung für eine gesunde und lebendige Gesellschaft.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Als gute Sozialistin lese ich die
Zeitschrift „Capital“. Dort sind die Ergebnisse einer
Umfrage unter Deutschlands Führungsspitzen nachzulesen: 78 Prozent dieses Führungspersonals befürchten,
dass sich zunehmend eine Unterschicht herausbildet, die sich sozial und wirtschaftlich vom Rest der
Gesellschaft abkoppelt.
Mal abgesehen davon, dass sich diese Menschen nicht
selbst abkoppeln, sondern abgekoppelt werden, ist diese
Abkopplung Ergebnis konkreter Politik der Bundesregierung und des befragten Führungspersonals.
({0})
Diese Gesellschaft wird durch die Politik der Bundesregierung auseinandergetrieben, sie wird unsozialer und
unsolidarischer. Der Sport kann Politik nicht ersetzen,
doch Sport hat Potenzial, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Leider hat auch das die Bundesregierung noch
nicht ausreichend verstanden.
Ein Beispiel aus dem Leistungssport: Ein Internatsplatz auf einer Sportschule in Halle kostet im Monat
230 Euro - nicht viel, werden die Menschen hier im Saal
sagen. Meine Kollegin Katrin Kunert, die heute bei der
Europameisterschaft der Leichtathleten der Senioren in
Helsinki um eine Medaille kämpft,
({1})
sponsert einen Internatsplatz für eine Sportlerin, deren
Eltern Arbeitslosengeld II bekommen. Da sind 230 Euro
schon sehr viel Geld. Zur Erinnerung, meine Damen und
Herren, falls Sie vergessen haben, was Sie beschlossen
haben: Arbeitslosengeld II beträgt maximal 345 Euro im
Monat. Davon sind 230 Euro für ein Sportinternat nicht
so einfach aufzubringen.
Schauen wir uns einmal die soziale Herkunft von
Spitzensportlern in Deutschland an: Nur 9,5 Prozent
sind Arbeiterkinder, die große Mehrheit stellen Kinder
von höheren Angestellten. Es werden also nicht nur
Hartz-IV-Empfänger vom Leistungssport abgekoppelt.
({2})
Der Leistungssport in der Bundesrepublik ist eben eine
sehr elitäre Veranstaltung. Die Erfahrung zeigt, dass es
auch anders gehen kann: Diese sozialen Schranken gab
es im DDR-Sport nicht.
({3})
Unser Ex-Kollege Täve Schur hatte vier Geschwister,
sein Vater war Tankwart und seine Mutter Hausfrau. Er
hätte heute wohl kaum eine Chance, Radrennweltmeister
zu werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich will aber nicht nur
über den Leistungssport sprechen. Uns liegt viel an dem
weiteren Ausbau des Breitensports. 70 Prozent der
Sportanlagen im Osten und 40 Prozent der Sportanlagen
in den alten Bundesländern sind sanierungsbedürftig.
({5})
Der Sanierungsaufwand wird auf 40 Milliarden Euro beziffert. Hier muss in den nächsten Jahren mehr investiert
werden. In den ostdeutschen Ländern hat der Bund von
1999 bis 2006 65 Millionen Euro für den Goldenen Plan
Ost ausgegeben. Wir als Linke sind in Anbetracht der
vielbeschworenen sprudelnden Steuereinnahmen unbedingt dafür, den Goldenen Plan Ost als Infrastrukturprogramm auf die alten Bundesländer auszudehnen - der
Kollege von der FDP hat das ja auch schon angesprochen - und die Mittel zusammen mit den Ländern erheblich aufzustocken.
({6})
Hartz IV ist auch in den Sportvereinen angekommen.
Ich habe in der letzten Woche eine Beratung mit Vertretern von Sportvereinen in meinem Wahlkreis durchgeführt. Da wurde mir berichtet, dass immer mehr Menschen aufgrund der miserablen finanziellen Situation nur
noch ermäßigte Vereinsbeiträge bezahlen können. Den
Vereinen brechen dank Hartz IV die Einnahmen weg.
({7})
Sie haben Schwierigkeiten, die Angebote dauerhaft abzusichern. Das große ehrenamtliche Engagement kann
diese finanziellen Schwierigkeiten nicht ausgleichen.
Hier ist eine weitere Folge von Hartz IV zu erkennen,
die unbedingt bekämpft werden muss.
({8})
Abschließend ein Wort zur Förderung des Frauensports. Ich unterstütze eine Fußballmädchenmannschaft
in meinem Wahlkreis, weil es ganz offensichtlich ist,
dass Mädchen und Frauen auch im Breitensport weniger
Chancen haben, wenn es um Hallenzeiten oder die Nutzung von Sportplätzen geht.
({9})
- Das ist richtig. Aber auch diese Frauen haben sehr
kämpfen müssen, um diesen Platz zu erringen. Auch das
ist eine Wahrheit.
({10})
Ich denke, wir sollten alle gemeinsam mehr für den
Frauensport tun; denn im Frauensport - das gilt auch für
die Weltmeisterinnen - sind weniger Sponsoren zu finden als im Männersport. Lassen Sie uns das gemeinsam
ändern!
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin GöringEckardt von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr
Schulz, natürlich würde auch ich jetzt am liebsten von
alten Zeiten schwärmen, aber das erspare ich mir; ich
finde, das ist hier ausreichend geschehen. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu bei dem Thema soziale Komponente des Sports, gerade in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Ich finde, Sie haben hier sehr deutlich
gemacht, wie wichtig das ist.
Liebe Frau Lötzsch, ich finde richtig, dass Sie darauf
aufmerksam gemacht haben, dass die soziale Förderung
des Sports, gerade des Leistungssports, und die Talentesichtung in der DDR nicht ganz dumm gewesen sind.
Aber ich finde, Sie können es sich nicht leisten, hier immer die negative Seite wegzulassen. Das machen Sie
auch, wenn es um das Bildungssystem geht.
({0})
Wenn ich an Freunde von mir denke, die mit Medikamenten vollgepumpt wurden und dann, weil sie nach der
Pubertät nicht die nötige Leistung gebracht haben, irgendwo abseits gelandet sind, dann muss ich einfach sagen, dass diese andere Seite dazugehört.
({1})
In dieser Europawoche ist es aber angesagt, sich noch
einmal der Frage zuzuwenden, wie es eigentlich mit der
EU-Ratspräsidentschaft und dem Sport ist. Ich finde es
schade, dass der Bundesinnenminister in seinem Arbeitsprogramm dazu nichts ausgeführt hat. Besonders
der Sport hätte von den Regelungen in der EU-Verfassung profitiert. Notwendige Initiativen für Zwischenlösungen sind erst gar nicht vorgelegt worden. Auch bei
dem informellen Sportministertreffen in der letzten WoKatrin Göring-Eckardt
che in Stuttgart hat die Bundesregierung dazu keinen
Vorschlag gemacht. So haben wir jetzt die Situation,
dass es bei der EU vor allem um den kommerziellen
Sport und nicht um den Breitensport geht. Das finde ich
sehr schade.
Die EU-Sportminister haben das Thema vor allem unter Sicherheitsaspekten definiert, beispielsweise mit
Blick auf die Krawalle bei den Fußballspielen. Was
fehlt, ist besonders ein Konzept zu der Frage: Wie kann
man Europa durch den Sport zusammenbringen? Dass
das möglich ist, werden die hier Anwesenden wahrscheinlich überhaupt nicht bezweifeln. Aber ich glaube,
dass wir gut daran täten, wenn wir dazu auch Konzepte
auf den Tisch legen würden. Vereinspartnerschaften, gemeinsame europäische Mannschaften und gemeinsames
Training, das sind viele erprobte Maßnahmen, die es bereits gibt, die aber gebündelt und auf eine andere Ebene
gehoben werden müssen.
Es ist richtig, Herr Kollege Parr, dass man eine solche
Debatte nicht vorbeigehen lassen kann, ohne über das
Thema Doping zu reden. Ich glaube, dass wir mit dem
Referentenentwurf, den die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat, weit hinter den Erfordernissen zurückbleiben.
({2})
- Diese Diskussion haben wir hier schon ganz oft geführt, auch mit dem Kollegen Hermann. Da geht es nicht
um „verdrängt und vergessen“; dafür haben wir auch
früher schon gekämpft. Das können Sie an vielen Stellen
nachlesen.
Ich glaube, dass der Ansatz der Bundesregierung
- damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen - in
Richtung Besitzstrafbarkeit bei Dopingmitteln in dieser Form eher eine Mogelpackung ist, weil der vorliegende Gesetzentwurf nicht vorsieht, den Besitz deutlich
unter Strafe zu stellen, sondern beabsichtigt, die Strafbarkeit des Handelns mit Dopingmitteln zu präzisieren.
Das ist nicht der richtige Weg. Gleichzeitig sind die Mittel für die Dopingprävention im Haushalt gekürzt worden. Auch das ist beim Thema Gesundheitsprävention
natürlich nicht das richtige Signal. Wir brauchen konkrete Schritte, um Wirtschaft, Sport und Medien, aber
auch die Bundesländer zu einer Aufstockung des Stiftungskapitals zu bewegen. Dieses Kapital wird heute immer noch fast vollständig vom Steuerzahler aufgebracht.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert?
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich würde gerne eine Frage zur Dopingbekämpfung stellen: Können Sie uns bestätigen,
dass in Ihrem Gesetzentwurf keine Besitzstrafbarkeit
von Dopingmitteln enthalten ist? Ich wundere mich etwas, wie Sie die Präzisierung der nicht geringen Menge
beim Handel gerade kritisieren konnten, wenn der Besitz
nicht strafbar sein soll. Können Sie mir diesen Widerspruch erklären?
Ich kann Ihnen den Widerspruch erklären: An dieser
Stelle bin ich einig mit meinem Kollegen Hermann; wir
gehören zu einer Minderheit in unserer Fraktion, erlauben uns aber trotzdem, hier unsere Meinung zu sagen.
Das habe ich an dieser Stelle getan.
({0})
Herzlichen Dank für die Frage, die es mir erlaubte, das
zu präzisieren.
Ich will gerne noch ganz kurz auf das Thema „Fußball und Gewalt“ eingehen. Ich glaube, auch hier haben
wir eine besondere Verantwortung, weil es um die Frage
geht, wie wir langfristig dafür sorgen, dass Fußball als
Mannschaftsspiel, als Fairnessspiel und auch als Möglichkeit verstanden wird, Fairness und Gemeinschaftsgeist zu verbreiten. Ich glaube, dass das kein Selbstläufer
ist, sondern dass wir pädagogische Konzepte brauchen.
Ich finde die Initiative für Bolzplätze an Schulen absolut
richtig; aber dafür brauchen wir auch Fortbildung von
Übungsleitern, Trainern, Schiedsrichtern etc. Es ist
schlecht, dass die Mittel für Fußballfanprojekte gekürzt
worden sind, und zwar nicht nur im Bund, sondern auch
in einigen Ländern. Das Land Sachsen hat sich seit 1993
nicht zur Drittelfinanzierung bekannt. Das halte ich für
ein ganz dramatisches Signal. Die Ergebnisse sind eben
genau so, wie sie nicht sein dürfen. Auch hier haben wir
eine wichtige Aufgabe.
Meine Damen und Herren, ich grüße Sie an dieser
Stelle noch von meinem Kollegen Winfried Hermann,
der heute leider nicht hier sein darf - nicht hier sein
kann, darf schon.
({1})
- Genau. - Wir haben es jetzt einmal andersherum ausprobiert. Das ist wie dieses Jahr in der Bundesliga: Da
wird auch einmal Schalke Meister.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Dr. Peter Danckert von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier heute zum ersten Mal den 11. Sportbericht,
den die Bundesregierung uns vorgelegt hat. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte grüßen Sie den Sportminister, der offensichtlich heute leider nicht anwesend
sein kann, und richten Sie ihm aus, dass ich es zumindest
bemerkenswert finde, dass in seinem Vorwort auch das
Parlament mit einem Satz erwähnt wird. Dies geschieht
allerdings in einer etwas seltsamen Akzentuierung; denn
dieser Sportbericht betrifft die Jahre 2002 bis 2005 und
somit in erster Linie die Regierungszeit der rot-grünen
Koalition, der Minister bezieht sich aber auf die Große
Koalition. Er ist der Zeit in diesem Punkt sozusagen etwas voraus und hat andere Akzente gesetzt. Aber immerhin wird an dieser Stelle einmal das Parlament erwähnt.
({0})
Ich will ganz deutlich machen, was ich mit diesem
kurzen Hinweis meine: Der Bericht liest sich so, als sei
nur die Bundesregierung für den Sport zuständig.
({1})
An dieser Stelle möchte ich einmal als Parlamentarier
sagen: Wir sind diejenigen, die der Bundesregierung
- welcher Couleur auch immer - die Möglichkeit geben,
im Spitzensport tätig zu werden.
({2})
Mir wäre sehr daran gelegen, wenn im Sportbericht der
Bundesregierung zum Ausdruck kommen würde, dass es
nicht das Bundesinnenministerium, das Außenministerium und das Verteidigungsministerium sind, sondern
dass die Haushälter - unter uns sind ja einige; jedenfalls
waren eben einige da - es sind, die Mittel zur Verfügung
stellen, damit die Bundesregierung erfolgreich agieren
kann.
({3})
Ich habe neulich bei einem persönlichen Besuch in
dem renommierten FES-Institut deutlich gemacht, dass
deren Mittel durch das Parlament bereitgestellt werden.
Das Institut hat dann in einem Entwurf, der Ihrem Hause
zugeleitet worden ist, darauf verwiesen und dem Parlament für diese Bereitstellung der Mittel gedankt. Was ist
dann passiert? Ein Mitarbeiter Ihres Hauses hat diesen
Satz herausstreichen lassen, sodass niemand auf die Idee
kommt, das Parlament wäre daran beteiligt. Ich bitte Sie
- ich glaube, im Namen vieler hier - sehr herzlich, dafür
zu sorgen, dass das Parlament in der nächsten Debatte
über den Sportbericht gewürdigt wird.
({4})
Denn wie hat Herr Kollege Lammert, unser Präsident,
gesagt: Wir sind der Auftraggeber und nicht derjenige,
der alles nur absegnet.
Lassen Sie mich in den letzten Minuten meiner Redezeit noch ein paar Stichworte ansprechen. Wenn wir Mittel bereitstellen, dann müssen wir sehen, wie sie eingesetzt werden. Hier ist darüber debattiert worden - ich
finde, das sollten wir einer gründlichen Debatte unterziehen -, wie wir in Zukunft die Bundesleistungsstützpunkte bzw. die Stützpunkte überhaupt in Deutschland
organisieren sollten. Es ist der Hinweis gegeben worden,
dass die Wintersportler in diesem Zusammenhang sehr
fortschrittlich sind. Wir müssen zu einer Konzentration
kommen, damit die Mittel effektiver eingesetzt werden.
Herr Kollege Danckert, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert zulassen wollen?
Herr Seifert, gerne.
Bitte schön.
Lieber Kollege Danckert, Sie sind jetzt der letzte Redner in dieser Debatte. Deswegen trifft Sie diese Frage;
aber vielleicht sind Sie gar nicht zuständig. Ich möchte
sie trotzdem loswerden.
({0})
Niemand hat bis jetzt ein Wort darüber verloren, dass
es in dem Sportbericht auch einen Abschnitt über den
Behindertensport gibt. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Teil, der das Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderungen betrifft. Es ist sehr erfreulich,
dass die Olympiastützpunkte inzwischen für Menschen
mit Behinderungen zugänglich gemacht worden sein sollen. In dem Bericht steht aber nicht, ob Barrierefreiheit
im umfassenden Sinne, also auch für Blinde usw., vorgesehen ist.
Noch viel schlimmer ist - das ist meine Frage an Sie -:
Warum kommt in diesem Bericht und in Ihrer Politik
nicht vor, dass der Breitensport im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen ganz anders gefördert werden
müsste, nämlich so, dass sowohl auf der Seite der Zuschauerinnen und Zuschauer als auch auf der Seite der
Sportlerinnen und Sportler Sport integrativ betrieben
werden kann? Lieber Kollege, sagen Sie mir doch bitte
einmal, warum dieser Aspekt in so einer Debatte und
auch im richtigen Leben keine große Rolle spielt. Der
Behindertensport spielt im Rahmen der Paralympics, wo
wir viele Medaillen gewinnen, eine Rolle, aber nicht im
Zusammenhang mit dem Breitensport und auch nicht in
diesen Debatten.
Herr Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese
Zwischenfrage; denn sie gibt mir die Gelegenheit, deutlich zu machen, dass die Regierungskoalition großen
Wert darauf legt, dass der Sport für Menschen mit Behinderungen einen hohen Stellenwert hat. Wir sind sehr
darauf bedacht, dass gerade bei Menschen mit Behinderungen der Sport im Mittelpunkt steht.
Sie fragen mich, warum der Behindertensport hier nur
einen geringen Stellenwert einnimmt. Ich muss Sie darauf verweisen, dass das ein Bericht der Bundesregierung
ist und kein Bericht des Parlamentes oder der Regierungskoalition.
Die Wertschätzung des Behindertensports wird zum
Beispiel dadurch deutlich, dass eine immer gleich große
Delegation des Sportausschusses zu den Olympischen
Spielen und den Paralympics fährt; denn wir wollen an
dieser Stelle verdeutlichen, dass wir keine Unterschiede
machen wollen.
Ich bin sehr mit Ihnen einig, wenn Sie fordern, dass
an dieser Stelle mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden; das ist wichtig. Der Breitensport - auch darüber
müssten wir natürlich diskutieren - liegt sozusagen außerhalb der Kompetenz des Bundes. Vielleicht würden
sich die Dinge verändern - da sehen wir durchaus die
Unterstützung Ihrerseits -, wenn wir die Forderung, den
Sport in das Grundgesetz aufzunehmen, umsetzen könnten. Dann würde das Bewusstsein dafür noch effektiver.
Natürlich würden dann die Menschen mit Behinderungen von unseren gesetzlichen und haushaltsmäßigen Aktivitäten profitieren. Also, an dieser Stelle gibt es keinen
Dissens.
({0})
Lassen Sie mich in der mir verbleibenden kurzen Zeit
Folgendes sagen: Das FES habe ich vorhin angesprochen. Wenn wir davon ausgehen - das wird in dem Bericht deutlich -, dass zehn der 29 in Turin gewonnenen
Medaillen unmittelbar mit diesem Institut zusammenhängen, dann müssen wir auch bereit sein, dem FES zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen und nicht immer gerade so viele Mittel, dass die Gehälter ohne eine
Lohnerhöhung gezahlt werden können. Das ist ein ganz
wichtiger Teil. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir
das Institut mit seinen herausragenden wissenschaftlichen Erkenntnissen? Wenn ja, dann müssen wir mehr
Geld zur Verfügung stellen.
Zum Thema Doping und NADA. Bei der NADA ist
es so ähnlich. Wenn wir den Kampf gegen Doping wirklich führen wollen, dann müssen wir bereit sein, als Gesellschaft und nicht nur als Parlament - denn hier tun wir
eine ganze Menge - finanzielle Mittel für die NADA zur
Verfügung zu stellen. Ich erinnere an dieser Stelle noch
einmal an den Vorschlag von mir, eine Dopingabgabe
einzuführen, mit der wir von allen Sponsoringmitteln,
die in den Bereich des Sportes fließen, 1 Prozent für die
NADA bereitstellen, damit der Kampf gegen Doping erfolgreich bestanden wird.
Herr Kollege Parr, weil Sie nun wieder einmal dieses
Thema zur Sprache bringen:
({1})
Wir haben in sorgfältigen Verhandlungen - das ging über
Wochen und Monate - einen sehr vernünftigen Kompromiss zum Thema bessere Bekämpfung von Doping im
Sport erzielt. Dieser Vorschlag - das ist Ihnen vielleicht
entgangen und hat Ihnen vielleicht auch nicht so gepasst ist vom Deutschen Olympischen Sportbund und von der
gesamten Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden.
({2})
Die einzigen, die an dieser Stelle meckern und immer
wieder mit Zwischenrufen auffallen, ohne dass sie selber
etwas Gescheites vorlegen,
({3})
sind leider diejenigen von der FDP. Wenn Sie einen konkreten Vorschlag machen würden, dann könnte man in
Zukunft auch einmal darüber diskutieren.
Unser Vorschlag, der jetzt in die parlamentarische Debatte kommt, ist von allen beteiligten Kräften - bis auf
die FDP - begrüßt wordenund das finden wir gut. Wir
fühlen uns in Übereinstimmung mit dem Deutschen
Olympischen Sportbund, mit seinem Präsidenten Bach
und Herrn Vesper. Wir sind auf dem richtigen Wege.
Deshalb ist das ein richtiger Ansatz, den wir in den
nächsten Wochen hier diskutieren werden. Wir haben
dazu ja noch Gelegenheit.
({4})
Aber Sie, Herr Kollege Parr, sollten sich - weil Sie sich
von uns immer so schlecht behandelt fühlen - doch einmal die Mühe machen, das, was wir hier auf den Tisch
gelegt haben und was von der gesamten Sportöffentlichkeit begrüßt wird, sorgfältig anzusehen, und sollten nicht
immer wieder mit den alten Kamellen kommen.
({5})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Kollege Parr, die Kooperation setzt voraus, dass
Sie sich mit unseren Vorschlägen sachlich auseinandersetzen.
({0})
Wenn Sie dazu bereit sind, können wir mit Ihnen darüber
diskutieren.
Ich sage noch einmal Dank für diesen Sportbericht.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Er ist ein Kaleidoskop von allem, was mit dem deutschen Sport zu tun hat, und ist deshalb ein wertvoller Bericht, wenn ich mir auch in einzelnen Punkten wünschen
würde, 8952
Herr Kollege!
({0})
- dass die Mitarbeit des Parlaments mehr herausgestellt wird, Herr Bergner.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen Abgeordneten Christoph Bergner.
Herr Kollege Danckert, möglicherweise ist es nur ein
Missverständnis. Vielleicht war es aber tatsächlich als
Vorwurf gemeint im Hinblick auf die Frage zur Rolle des
Behindertensports im Bericht der Bundesregierung. Sie
haben darauf hingewiesen - es ist ja ein Bericht der Regierung - und damit ein bisschen unterstellt, dieser Sektor finde in der Politik der Bundesregierung keine angemessene Berücksichtigung.
Ich glaube, es ist außerordentlich wichtig - gerade
wegen der Bedeutung des Sports für Menschen mit Behinderungen -, darauf hinzuweisen, dass er erstens im
Bericht eine angemessene Berücksichtigung findet.
Zweitens gehört es zu den grundsätzlichen Zielen der
Bundesregierung - der Vorgängerregierung wie dieser
Bundesregierung -, im Rahmen der Sportförderung in
der Zuständigkeit des Bundes - was den Breitensport
nicht betrifft - den Sport für Menschen mit Behinderungen bezüglich der Förderung möglichst gleich mit dem
Sport für Menschen ohne Behinderungen zu behandeln.
Dies ist ein allgemeiner Grundsatz. Ich fände es sehr
schade, wenn aus der Debatte der Eindruck entstünde,
als spielte der Sport für Menschen mit Behinderungen in
der Förderung der Bundesregierung nur eine marginale
Rolle. Deshalb habe ich mich noch einmal zur Erwiderung gemeldet. Möglicherweise war es nur ein Missverständnis, Herr Danckert.
({0})
Aber ich wollte es nicht so im Raume stehen lassen.
({1})
Herr Kollege Danckert, wenn Sie jetzt antworten,
dann müssen Sie bitte für die Dauer Ihrer Antwort berücksichtigen, dass Sie eben über eine Minute überzogen
haben und deswegen jetzt höchstens zwei Minuten antworten können.
({0})
Gut. - Ich will noch einmal kurz Folgendes sagen: Ich
weiß, dass die Bundesregierung sich in diesem Bereich
auch Gedanken darüber macht, wie Menschen mit Behinderungen, die im sportlichen Bereich tätig sind, unterstützt werden sollen. Wenn man diesen Bericht sieht
- ich glaube, darauf zielte die Frage des Kollegen ab -,
dann stellt man ein Ungleichgewicht fest: Es gibt zwei
Absätze darüber. Vielleicht ist es einfach eine Anregung,
im nächsten Bericht dem Deutschen Behindertensportverband mit seinem Präsidenten, Herrn Haack, mehr
Raum zu geben. Dann ist, glaube ich, allen gedient.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus erstellen
- Drucksache 16/4201 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
wobei der Fraktion Die Linke fünf Minuten zuerkannt
werden. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Sevim Dağdelen von der Linksfraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wieder ist ein Jahr um. Gestern ist wieder ein
Internationaler Tag gegen Rassismus vorübergegangen.
Wieder ist eine Aktionswoche gegen Rassismus so gut
wie vorüber. Wieder bleibt die Kritik an der Bundesregierung bestehen - leider; ich wünschte es wäre nicht so.
Auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus 2001
in Afrika, in Durban, hatte sich die damalige rot-grüne
Bundesregierung, die ja so antirassistisch war, verpflichtet, bis Ende 2003 unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu
verabschieden. Dies ist bis heute, bis 2007, nicht geschehen. Wie schon im letzten Jahr steht also der Vorwurf,
dass die Koalition nichts Substanzielles im Kampf gegen
Rassismus zu bieten hat.
({0})
Der britische Soziologe und Begründer der Cultural
Studies, Stuart Hall, sagte einmal:
Wenn man in einer Gesellschaft ohne antirassistische Politik lebt, ist man dazu verurteilt, in einer
rassistischen Gesellschaft zu leben …
Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, in was für
einer Gesellschaft wir leben. Täglich werden Menschen
wegen ihrer Herkunft oder ihres Aussehens bedroht, diskriminiert, tätlich angegriffen. Rassistische Übergriffe
und Propaganda gehören zum Alltag dieser Republik.
Doch das ist nicht alles: Unabhängige Stellen gehen von
mehr als 130 Todesopfern rassistischer Gewalt seit 1990
aus.
Laut dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer
und laut einer Studie der Herren Brähler und Decker für
die Friedrich-Ebert-Stiftung ist Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem. Zwischen 30 und 40 Prozent der Gesellschaft stimmen ausländerfeindlichen
Statements zu. 15 Prozent meinen, die Deutschen seien
anderen Völkern von Natur aus überlegen. Noch
10 Prozent sind der Ansicht, dass es „wertes und unwertes Leben“ gibt. Für die Bundesregierung ist dies offensichtlich kein hinreichender Grund, die Bekämpfung des
Rassismus zu einer Priorität ihrer Arbeit zu machen.
Rassismus wird zu einem Randproblem gemacht. Doch,
meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie
müssen endlich wissenschaftliche Analysen zur Kenntnis nehmen.
Brecht hat einmal in „Leben des Galilei“ treffend formuliert:
Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein
Dummkopf. Wer die Wahrheit kennt und sie eine
Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.
({1})
Ich denke, dass in diesem Sinne der Umgang der Bundesregierung mit dem Thema Rassismus schlampig ist.
Die Linke ist der Überzeugung, dass ein großer Teil der
Ursachen des Rassismus in der Politik liegt, nicht, wie in
der gestrigen Presseerklärung der deutschen Ratspräsidentschaft behauptet, in der Globalisierung und Entstehung multiethnischer Gesellschaften
Wir sehen die Ursachen in der gesellschaftlichen
Ungleichverteilung sozialer Ressourcen und politischer Rechte, die gezielt und gewollt Menschen aus der
Gesellschaft ausgrenzt und diskriminiert. Das sind die
Ursachen! Bestes und jüngstes Beispiel dafür - ich erwähne es hier noch einmal - ist die sozialchauvinistisch
geführte Debatte zum Bleiberecht. Ein weiteres Beispiel
ist, wie Sie immer wieder Verschärfungen im Zuwanderungsrecht gegenüber der Öffentlichkeit begründen.
({2})
- Man kann es nicht oft genug sagen, Herr Grindel.
({3})
Der Umgang mit Flüchtlingen in der Bundesrepublik
Deutschland, etwa im Aufnahmeverfahren, bei der sozialen Versorgung und im gesamten System der Abschiebepraxis ist ein Spiegelbild des gesellschaftlich
weitverbreiteten und akzeptierten Rassismus. Sogenannte Ausreisezentren und Abschiebeknäste sind Ausdruck einer rassistischen Asyl- und Immigrationspolitik.
({4})
Eine Sondergesetzgebung für Flüchtlinge, zum Beispiel
das Asylbewerberleistungsgesetz, legitimiert diskriminierende und rassistische Praktiken in diesem Land: Hindernisse und Ausschlussmechanismen, beispielsweise
auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Ausbildungsmarkt
und am Arbeitsmarkt. Es ist zu hoffen, dass der nationale
Aktionsplan gegen Rassismus dank unserer zwei Kleinen Anfragen, die wir im Herbst letzten Jahres gemacht
haben, und dank unseres Antrag endlich umgesetzt wird.
({5})
Doch mehr als Lippenbekenntnisse erwarten wir
nicht. Warum wurde es tunlichst vermieden, Nichtregierungsorganisationen einzubeziehen? Das Scheitern der
Durban-Follow-Up-AG im Forum gegen Rassismus ist
der Bundesregierung zuzuschieben. Für einen transparenten Prozess fehlten verbindliche Absprachen, meinten die Nichtregierungsorganisationen. Die einzelnen
Schritte auf dem Weg zu einem Aktionsplan waren überhaupt nicht definiert. Gerade kleinen Organisationen
fehlte die finanzielle Unterstützung für eine ehrenamtliche Arbeit, die sich über Jahre hinzog. Die Organisationen wurden mit Terminzusagen immer wieder hingehalten, ohne dass ein Entwurf vorgelegt wurde.
Ich muss an dieser Stelle sagen: Es war eine Dreistigkeit, auf die erste Kleine Anfrage zu diesem Thema zu
antworten, dass die Durban-Follow-Up-AG arbeiten
würde. Bei der zweiten Anfrage haben wir ganz nebenbei festgestellt, dass sie seit zwei Jahren überhaupt nicht
existiert.
Hinsichtlich des Aktionsplans gegen Rassismus gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU.
15 Länder haben längst einen Aktionsplan vorgelegt.
Darunter sind sehr viele Länder, die Sie vielleicht gar
nicht einmal so toll finden, zum Beispiel Irland, Tschechien, Belgien und Zypern. Wir hinken hinterher.
Die Linke fordert in ihrem Antrag von der Regierung,
dass sie die Verpflichtung zu einem Aktionsplan nicht
weiter aussitzt. Unter anderem fordern wir auch, dass er
vor der Verabschiedung im Parlament in die Öffentlichkeit getragen wird
({6})
und dass zu diesem Thema eine Expertenanhörung stattfindet.
Vielen Dank.
({7})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Jetzt hat Kristina Köhler das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich
sollte man meinen, dass es nichts Einfacheres gibt, als
einen Antrag gegen rassistische Diskriminierung zu verfassen. Denn welcher vernünftige Mensch zweifelt auch
nur eine einzige Sekunde daran, dass keine ethnische
Gruppe auf dieser Welt einer anderen überlegen ist? Die
Ethnie macht aus uns keinen guten oder bösen Menschen, sie macht uns nicht besonders schlau, besonders
gefährlich oder was auch immer. Dies steht vollkommen
außer Diskussion.
Gerade weil diese Frage so eindeutig ist, sind und
bleiben mir die Anträge der Linksfraktion ein ewiges
Mysterium.
({0})
Wie gelingt es Ihnen immer wieder, selbst solche einfachen Anträge in den Sand zu setzen?
Ich bin Ihnen in einem anderen Sinne wiederum
dankbar. Denn damit geben Sie mir die Möglichkeit, klar
aufzuzeigen, wo die Unterschiede zwischen unseren Parteien in den Konzepten zur Rassismus- und Extremismusbekämpfung liegen.
Ich möchte das an zwei Punkten festmachen:
Erstens. Wir haben offensichtlich unterschiedliche
Vorstellungen darüber, wo der Rechtsextremismus und
wo der Rassismus beginnen.
Zweitens. Wir wollen jeglichen Rassismus bekämpfen, Sie nur den, der Ihnen ins Weltbild passt.
({1})
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben sich eben wieder
auf diese fragwürdigen Studien von Heitmeyer und die
der beiden Leipziger Medizinpsychologen berufen.
Wenn deren Ergebnisse stimmen, dann wären in der Tat
die Hälfte bzw. zwei Drittel der Deutschen ein Volk von
fremdenfeindlichen, antisemitischen und islamophoben
latenten Rechtsextremisten.
Ich rate jedem, der diese Zahlen verwendet, sich diese
Studien und vor allen Dingen die Methodik dieser Studien einmal anzuschauen. Da gibt es etwa die Frage, ob
man folgender Aussage zustimmt:
Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und
energisches Durchsetzten deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.
Wer von Ihnen dem jetzt innerlich zustimmt, hat soeben
nach Ansicht der Verfasser dieser Studie eine rechtsextreme Einstellung gezeigt.
({2})
Jeder, der gegen den Irakkrieg war, hätte hier schon
seine Probleme.
Ein weiteres Beispiel. Dem Rassismus wird ebenfalls
zugerechnet, wer folgender Aussage zustimmt:
Aussiedler sollten bessergestellt werden als Ausländer, da sie deutscher Abstammung sind.
Dieser Aussage zuzustimmen ist kein Rassismus. Das ist
deutsche Gesetzeslage, die aus unserem Grundgesetz abgeleitet ist.
({3})
Wenn Sie der Frage, ob der Islam eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht hat, nicht zustimmen, dann
sind Sie islamfeindlich und damit auch schon ziemlich
rechtsextremistisch.
Mich würde einmal interessieren, wie man in diesem
Hohen Hause reagieren würde, wenn in dem Gesprächsleitfaden für Neubürger die Frage gestanden hätte:
„Stimmen Sie zu, dass die Deutschen eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht haben?“ Daran sehen Sie,
dass Sie mit der Heitmeyer-Studie und der Leipziger
Studie niemanden beeindrucken können, der diese Studien gelesen hat.
Fakt ist: Rechtsextremismus und Rassismus sind
große und ernst zu nehmende Gefahren für die Menschen in unserem Land. Fakt ist aber auch - das wird
von vielen seriösen Studien bestätigt -, dass die Rechtsextremisten eine Minderheit in Deutschland darstellen.
Diese Rassisten vertreten eben nicht den Volkswillen,
was immer das sein soll. Das behaupten die Rechtsextremisten aber gerne und stützen sich dabei auf genau diese
fragwürdigen Studien, auf die auch Sie sich stützen. Genauso gefährlich wie die Verharmlosung der Zahl der
Rechtsextremisten ist deshalb auch ihre künstliche Überhöhung.
({4})
Die Rechtsextremisten sind eine gefährliche Minderheit,
die die Axt an die Wurzeln unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung legt. Sie haben in Deutschland
aber keine Mehrheit, auch keine heimliche. Es ist schäbig und dumm, aus politischen Gründen einen anderen
Eindruck erwecken zu wollen.
({5})
Kommen wir zu einem anderen Unterschied. Wir
wollen jeglichen Rassismus bekämpfen, und zwar unabhängig von der Ethnie des Täters. Das ist bei Ihnen nicht
Kristina Köhler ({6})
der Fall. Wenn man sich Ihren Antrag - vor allem die
Begründung - durchliest, stellt man fest, dass die Frage
des Rassismus in Deutschland hier allein auf die Konstellation „Täter Deutscher, Opfer Migrant“ heruntergebrochen wird.
({7})
Gehen Sie einmal auf die Straße, und machen Sie
beide Augen auf. Sie werden sehen, dass dies nicht die
einzige Konstellation ist, in der rassistische Gewalt verübt wird. Ich weiß, dass dies ein sensibles Thema ist und
dass dieses Thema missbraucht werden kann. Ich weiß,
dass es Gewalttaten von rechtsextremistischen Rassisten
gibt und dass jede eine zu viel ist. Das darf uns aber
nicht davon abhalten, endlich auch den zunehmend gewalttätiger werdenden deutschenfeindlichen Rassismus anzusprechen und auch dagegen vorzugehen; denn
diesen Rassismus weiter zu ignorieren, heißt, Wasser auf
die Mühlen der Rechtsextremisten zu schütten.
({8})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Dağdelen zulassen?
Ja.
Bitte schön.
({0})
Welches? Das von Frau Köhler oder von mir? - Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage, Frau
Köhler.
Die Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit einhergehender Intoleranz hat festgestellt, dass es bei Rassismus
nicht nur um Rechtsextremismus geht. Der Rassismus ist
ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Der Begriff
schließt auch die Ausgrenzung von Menschen ein, die
bestimmten Normen nicht entsprechen, die zum Beispiel
bestimmten Leistungsnormen oder dem Mainstream in
unserer Gesellschaft nicht entsprechen, die zum Beispiel
obdachlos sind. Da Sie über die Begrifflichkeiten „Rassismus“, „Rechtsextremismus“ und „Weltbild“ streiten
möchten, möchte ich Sie als Mitglied der Regierungskoalition fragen: Was tun Sie gegen den Rassismus? 2001
wurde eine Selbstverpflichtung unterzeichnet. Jetzt haben wir 2007. Was tun Sie konkret gegen Rassismus?
Frau Kollegin Dağdelen, ich freue mich zunächst einmal, dass Sie mir darin zustimmen, dass Rassismus von
jeder Ethnie ausgehen kann und in Deutschland von jeder Ethnie verübt wird und jede Gruppe Opfer und Täter
sein kann.
({0})
- Nein. Es wäre ja schön, wenn das so in Ihrem Antrag
stünde. In der Begründung Ihres Antrags werden Migrantinnen und Migranten aber ausschließlich als Opfer
bezeichnet. Sie brechen den Sachverhalt auf diese Konstellation und auf diese Definition von Rassismus herunter. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn ich in Ihrem Antrag ein einziges Mal die Erkenntnis gelesen hätte, dass
es zunehmend auch einen deutschenfeindlichen Rassismus gibt. Ich habe das in der Begründung nicht gefunden. Vielleicht können Sie mir das ja zeigen. Ich glaube
aber nicht, dass Sie mir das zeigen können.
({1})
Vielleicht wollen Sie meinen Ausführungen nicht zuhören, oder Sie halten sie von vornherein für problematisch. Vielleicht hören Sie aber auf die Erfahrungen einer
Schülerpraktikantin der Amadeu-Antonio-Stiftung, die
eine Plattform gegen Rechtsextremismus betreibt. Ein
junges Mädchen, das sich selbst als links bezeichnet,
schreibt dort in ihrem Erfahrungsbericht - er ist im Internet veröffentlicht ist; Sie können ihn nachlesen -:
Leider entwickelt sich bei mir in der Umgebung ({2}) der Trend, dass Rassismus auch und
vor allem von einer Reihe Jugendlicher türkischer
Herkunft ausgeht. So wurde vor kurzem eine sehr
gute Freundin von mir auf Grund ihrer blonden
Haare als „deutsche Kartoffel“ bezeichnet, ihr auf
dem Schulweg aufgelauert und umringt von mehreren Personen wurde ihr ins Gesicht geschlagen.
Mit sich reden ließen diese Jugendlichen nicht. Daran sieht man unter anderem mal wieder, dass Rassisten nicht allzu viel im Kopf haben.
Meine Damen und Herren, ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass linke
Gruppen dieses Mädchen anschließend als Rassistin beschimpft haben. Ich verrate Ihnen aber auch kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass die CDU/CSU und
die Bundesregierung auch gegen diese Form des Rassismus vorgehen werden.
({3})
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass der Entwurf für einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus
im ersten Halbjahr 2007 vorgelegt werden soll. Wir gehen davon aus, dass rassistische Diskriminierung dort
vollumfänglich angesprochen werden wird. Zentrale
Elemente dieses Aktionsplans wurden bereits umgesetzt, etwa das neue Programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Der Innenminister hat zu Recht wiederholt erklärt, dass es der
Kombination verschiedener Maßnahmen bedarf, um den
Extremismus und den Rassismus zu bekämpfen, vor allem aber der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Zi8956
Kristina Köhler ({4})
vilcourage. Die CDU/CSU wird den Innenminister dabei
mit voller Kraft unterstützen.
({5})
Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen, die die Grundlage für den Antrag bilden, über den wir heute reden,
sind erschütternd: Der Verfassungsschutz zählt in seinem jüngsten Bericht für das Jahr 2005 bundesweit
15 361 rechtsextreme Straftaten. Ein Jahr zuvor waren es
„nur“ gut 12 000 Straftaten. Damit nicht genug: Bis zum
Ende des Jahres erwarten Wissenschaftler den stärksten
Anstieg der Zahl rassistischer Straftaten in Deutschland
seit Beginn ihrer Erfassung.
Die Zahlen zeigen: Anders als vielfach behauptet, reichen mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze nicht aus, um einen Rückgang von Rassismus und
Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu erreichen. Umso wichtiger ist es, genau hinzuschauen, wie rassistische und rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft
eigentlich entstehen. Die Motive rassistischer Einstellungen sind vielschichtig. Um gezielt handeln zu können, müssen wir sie sorgfältig entschlüsseln. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
diesem Zweck auf den berühmten und nach wie vor aktuellen Erklärungsansatz der Soziologen Scheuch und
Klingemann hinweisen: Je komplexer das Umfeld eines
Menschen wird, desto eher ist er bereit, sich pauschalen
und oberflächlichen Einstellungen anzuschließen. Extreme Parteien und Bewegungen bieten diesen Menschen einfache Botschaften an, die leichter zu verstehen
sind als komplizierte Zusammenhänge. Die unübersichtliche Alltagswirklichkeit wird auf wenige Parolen reduziert. - So viel zum Grundsätzlichen.
({0})
Neu ist, dass sich diese Unwahrheiten und Vorurteile
in zunehmendem Maße auch in der Mitte unserer Gesellschaft ausbreiten. Die Gründe dafür sind verzweigter, als es dem einen oder anderen lieb sein mag: In
Situationen wie der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, fehlender Lebensperspektiven oder des Gefühls,
in seinem eigenen Alltag machtlos und ausgeliefert zu
sein, suchen Menschen nach Hilfe. An diesen Punkten
setzen die vereinfachenden Botschaften der Rassisten
systematisch an. An dieser Stelle tragen wir Politiker
eine große Verantwortung: Wir müssen den potenziell
gefährdeten oder für solch platte Parolen anfälligen
Menschen Alternativen bieten und um ihre Akzeptanz
für demokratische Politik werben.
({1})
Wie gesagt, es reicht nicht aus, sich allein auf den
wirtschaftlichen Aufschwung zu verlassen. Lösungen
bestehen eben nicht in eindimensionalen Dämonisierungen, sondern in der offensiven Konfrontation. Es ist die
Zivilgesellschaft, die in der Auseinandersetzung mit
Rassismus und Rechtsextremismus zuerst und vor allem
gefragt ist.
Damit diese Begründungen nicht Stückwerk bleiben
und damit diese Bemühungen nicht deshalb ins Leere
laufen, weil sie beziehungslos nebeneinanderstehen,
brauchen wir - das hat auch die Anhörung gezeigt - einen integrativen Ansatz. Eine reine Krisenintervention
reicht nicht aus. Wie ein solch integrativer Ansatz aussehen könnte, hat die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem
Antrag „Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen“ vom
September 2006 aufgezeigt.
({2})
Es ist nun an der Bundesregierung, Wege aufzuzeigen,
wie die Erklärung von Durban umgesetzt und wie ein nationaler Aktionsplan ausgestaltet werden kann. Dafür
wird es allerdings höchste Zeit.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, die
Begründung Ihres Antrags war für Ihren Antrag insgesamt leider nicht sehr hilfreich. Dennoch ist er als Beratungsgrundlage gut geeignet. Die FDP wird sich in jedem Fall konstruktiv und aktiv in diesen Prozess
einbringen.
Wir brauchen Haltung und Erziehung. Wir brauchen
langfristige Programme zur Bekämpfung von Gewaltbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Extremismus. Wir brauchen eine Intensivierung der Programme für gewaltbereite und gefährdete Jugendliche.
Wir brauchen mehr Angebote für Aussteiger aus der
rechten Szene; ihnen müssen wir die Chance geben, zum
Beispiel einen Schulabschluss nachzuholen oder sich
beruflich zu qualifizieren. Wir brauchen Gewaltpräventionsprogramme an den Schulen und in der Jugendarbeit.
Wir brauchen eine Stärkung der ehrenamtlichen Tätigkeit und ein attraktives und modernes Angebot der Vereine in den Bereichen Sport, Kultur und gesellschaftliches Engagement. Und wir müssen die Familien der
Betroffenen stärken, damit sie ihnen Rückhalt bieten
können.
Montesquieu erkannte schon Anfang des
18. Jahrhunderts: Ohne Familie gibt es keine wirksame
Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit und
ohne Persönlichkeit keine Freiheit.
({3})
Springen wir also über unseren parteipolitischen Schatten, und begreifen wir die Bekämpfung des Rassismus
als Herausforderung für unsere Demokratie und für unsere Freiheit.
({4})
Gabriele Fograscher spricht jetzt für die SPD.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Gruß, ich begrüße, was Sie eben gesagt haben:
dass der wirtschaftliche Aufschwung allein das Problem des Extremismus bzw. des Rechtsextremismus
nicht lösen wird. Ich erinnere mich aber sehr gut an die
Aussage Ihres Kollegen Herrn Burgbacher, der in der
letzten Debatte zu diesem Thema genau dies zur Voraussetzung dafür gemacht hat, dass die Probleme gelöst
werden können.
Rassismus ist in unserem Land leider traurige Realität. Ich könnte eine ganze Menge Beispiele für Übergriffe und Gewalttaten mit rassistischem Hintergrund
anführen, auch aus jüngster Zeit. Die letzte Meldung
stammt vom 11. März 2007: Zwei Männer haben in Ludwigsfelde, in Brandenburg, einen Mann aus Sierra Leone
beschimpft, ihn mit Bier überschüttet und auf die Bahngleise gestoßen. Viele dieser Meldungen tauchen in der
breiten Berichterstattung der Medien überhaupt nicht
mehr auf, sondern finden nur noch als Randnotiz Eingang in Lokalzeitungen.
Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz
sind schon genannt worden. Der vorläufige Bericht für
das Jahr 2006 umfasst lediglich die ersten acht Monate
des Jahres. Allein in dieser Zeit waren schon
325 Menschen durch Übergriffe aus rassistischen Motiven verletzt worden. Besorgniserregend ist, dass die
Brutalität in der Szene steigt. Aber man muss davon ausgehen, dass die rassistischen und fremdenfeindlichen
Einstellungen auch in der Bevölkerung zunehmen. Auch
das muss uns große Sorgen machen.
Frau Köhler, die Ergebnisse von Studien kann man
natürlich anzweifeln. Aber die Studie der FriedrichEbert-Stiftung ist repräsentativ. Sie fußt auf empirischen Erkenntnissen. Die Ergebnisse, die sie zeigt, sollten uns dazu motivieren, gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rassismus und Rechtsextremismus vorzugehen und
nicht die Studie anzugreifen.
({0})
Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, diesen Nationalen Aktionsplan zu erstellen. Die Bundesregierung arbeitet daran. Ende dieses
Monats wird sie die Ressortabstimmungen beenden. Die
Diskussion mit den Nichtregierungsorganisationen unter
Einbeziehung des Deutschen Instituts für Menschenrechte findet statt. Nach der Kabinettsbefassung wird
diese Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan noch
weit vor dem von Ihnen genannten Datum vorlegen.
Sie unterstellen in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung - sowohl die aktuelle als auch die ehemalige untätig gewesen ist. Ich weise das zurück. Diese Behauptung ist nicht richtig. Auch ohne den Nationalen
Aktionsplan haben wir bereits zahlreiche Maßnahmen
ergriffen. Dazu gehören repressive Maßnahmen, die wir
in der letzten Legislaturperiode ergriffen haben: Zum
Beispiel haben wir das Versammlungsrecht verschärft,
aufgrund dessen es gelungen ist, Demonstrationen und
Aufmärsche zu verhindern. Daneben wurde die Strafbarkeitsschwelle für den Tatbestand der Volksverhetzung
angehoben. Zahlreiche Innenministerien der Länder und
auch das Innenministerium des Bundes haben Vereine
und Organisationen verboten. Dadurch werden diese
Vereine natürlich erst einmal verdrängt, aber die Menschen und die Einstellungen ändern sich dadurch nicht.
Zumindest für einige Zeit wird dadurch deren Aktionsradius aber eingeschränkt.
Das sind Instrumente, deren sich eine wehrhafte Demokratie bedient. Wir setzen aber natürlich auch und vor
allen Dingen auf präventive Maßnahmen im Kampf
gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Ich möchte jetzt doch einige Beispiele nennen, die
sich quer durch die Ressorts der Bundesregierung und
des Bundes ziehen.
Zunächst nenne ich das 19-Millionen-Euro-Bundesprogramm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie …“, das auf den früheren Programmen Civitas und
Entimon basiert. Uns, der SPD-Bundestagsfraktion, ist
es gelungen, jetzt zusätzlich 5 Millionen Euro für das
Programm „Förderung von Beratungsnetzwerken - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ im Haushalt einzustellen.
({1})
Ich danke unseren Haushältern, Berichterstattern und
auch Kerstin Griese, der Vorsitzenden des Familienausschusses, wo diese Programme angesiedelt sind.
({2})
Sie haben hier wirklich eine gute Arbeit geleistet, sodass
die Konzeption jetzt dem entspricht, was wir erreichen
wollen.
Im Bundesinnenministerium ist das „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ angesiedelt. Es wurde 2000 vom BMI und vom
BMJ ins Leben gerufen. Auch hier gelang es uns, die
Mittel - um 300 000 Euro auf 1 Millionen Euro - aufzustocken.
Genannt werden muss natürlich auch die Arbeit des
Bundesamtes für Verfassungsschutz, die der Öffentlichkeit auch Informationen zur Verfügung stellt und
Aufklärung betreibt. Ausstellungen können dort angefordert werden, und dort wird auch ein Aussteigerprogramm angeboten.
Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung
haben wir uns für eine gleichbleibende Finanzierung und
Ausstattung eingesetzt. Auch ihr kommt eine wichtige
Informations- und Aufklärungsfunktion zu.
Als nationaler runder Tisch im Sinne der Grundsätze der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit fungiert das „Forum
gegen Rassismus“. Es umfasst inzwischen rund
80 Organisationen, darunter 60 bundesweit und überregional tätige Nichtregierungsorganisationen. Auch dort
wird eine wichtige Arbeit gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rassismus und Gewalt geleistet.
Das Bundesarbeitsministerium hat zusammen mit
dem Bundesverkehrsministerium ein Programm aufgelegt. Es hat zum Ziel, Beschäftigung, Bildung und
Teilhabe vor Ort zu sichern. Mit dieser Maßnahme werden das Programm „XENOS - Leben und Arbeiten in
Vielfalt“ und das Programm „Soziale Stadt“ verbunden.
Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung des
Engagements für mehr Toleranz und Integration und der
Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und bürgerschaftlichen Engagements vor Ort in den Kommunen.
Auch dieses Programm wird vielfach angefordert und
gut angenommen.
({3})
Auch in anderen Ressorts gibt es Initiativen gegen
Rassismus. Ich will nur das Auswärtige Amt nennen.
Wir haben heute bereits eine sportpolitische Debatte
geführt. Das Auswärtige Amt hat die FIFA bei der Fußballweltmeisterschaft in der Kampagne gegen Rassismus
unterstützt.
Nicht zu vergessen ist die derzeitige deutsche EURatspräsidentschaft, die den Rahmenbeschluss von
2005 zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erneut auf die politische Agenda gesetzt hat. Er
ist darauf ausgerichtet, eine Mindestharmonisierung der
Vorschriften über die Strafbarkeit des Verbreitens von
rassistischen und fremdenfeindlichen Äußerungen zu erreichen. Dabei geht es zum Beispiel um die öffentliche
Aufstachelung zu Gewalt und Hass und das Leugnen
oder Verharmlosen von Völkermord aus rassistischen
oder fremdenfeindlichen Motiven. Wie Sie sehen, setzt
sich die Bundesregierung auch auf europäischer Ebene
für die Bekämpfung des Rassismus ein.
Wir - die Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen - betrachten das Engagement gegen Rassismus
als wichtige Querschnittsaufgabe und haben, wie ich
eben darzustellen versucht habe, in unterschiedlichen
Ressorts Maßnahmen ergriffen. Allerdings ist das nicht
Aufgabe des Bundes allein; auch die Bundesländer, die
Kommunen und die Zivilgesellschaft sind gefordert.
Als Beispiel aus der Zivilgesellschaft lassen sich auch
an dieser Stelle Initiativen aus dem Bereich des Sports
anführen. Die Deutsche Fußball-Liga und der Deutsche
Fußball-Bund mit seinen Fanprojekten haben konkrete
Signale gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auf dem Fußballplatz gesetzt. Viele andere wie der
Nordostdeutsche Fußballverband haben Aktionswochen
gegen Rassismus gestartet. Der Bayerische FußballVerband und die Bayernligavereine haben eine Arbeitsgruppe „Stadionsicherheit“ gegründet, um gemeinsam
Gewalt und Rassismus im Stadion zu bekämpfen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrücklich die Bundesregierung bei ihrem Engagement gegen
Rassismus und Rechtsextremismus. Wir begrüßen, dass
die erfolgreichen Bundesprogramme fortgeführt werden.
Wir werden die Umsetzung konstruktiv begleiten und
da, wo es notwendig ist, für Verbesserungen kämpfen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Monika Lazar hat jetzt das Wort für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rassismus ist ein wachsendes Problem in unserem Land,
wie die Sozialforschung eindeutig belegt. Insofern verstehe ich nicht, Frau Köhler, wie Sie zu dem Schluss
kommen können, dass die Studien fragwürdig sind, ob
es nun die Studien oder die Wissenschaftler betrifft.
({0})
Gerade diese Studien haben doch einen sehr breiten
Ansatz, der Ihnen theoretisch nahestehen sollte.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köhler
zulassen?
Ja.
Die Antwort heißt Ja. Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben meine Bewertung der Studien
angegriffen. Vermutlich haben Sie auch nicht mitbekommen, dass es in der Wissenschaft eine sehr breite Debatte
gibt und dass sehr viele Wissenschaftler diese Studien
angreifen. Aber lassen wir das jetzt beiseite.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie wirklich der Auffassung sind, dass jeder, der dem Statement „Was unser
Land heute braucht, ist ein hartes und energisches
Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ überwiegend zustimmt, bereits ein potenzieller
Rechtsextremist ist. Ich frage Sie nicht, ob Sie dieser
Aussage zustimmen - das ist nicht der Punkt -, sondern
ich frage Sie, ob Sie es wirklich für richtig halten, dass
jeder, der bei dieser Aussage ankreuzt „Ich stimme überwiegend zu“ schon als möglicher Rechtsextremist klassifiziert wird.
Ist das aus der Heitmeyer-Studie oder von Brähler?
Nein, das ist aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus Leipzig.
Heitmeyer hat einen ähnlich breiten Ansatz. - Nicht
jeder, der diesem Satz und vielleicht noch einigen anderen
Sätzen zustimmt, ist automatisch ein Rechtsextremist.
Vielmehr geht es um eine starke Menschenfeindlichkeit
insgesamt, das heißt um eine Anerkennungskultur oder
eine Abwertungskultur. In diese Richtung gehen die Fragen.
Sie haben sich eine einzige Frage herausgegriffen. Es
gibt aber immer mehrere Fragen zu einem bestimmten
Komplex.
({0})
- Wahrscheinlich.
Es geht darum, dass sich bestimmte Menschen als etwas
Besseres fühlen. Beispielsweise wertet ein Mann, weiß
und heterosexuell, das Gegenteil - weiblich, dunkelhäutig
und homosexuell - ab. Wissenschaftler würden in einem
solchen Fall von Abwertungstendenzen sprechen - der
Betreffende stellt sich über andere -, die in Richtung
Rassismus gehen; denn bei Rassismus handelt es sich
um eine Kultur, in der man sich über andere stellt. Herr
Heitmeyer hat in seiner letzten Studie zur Fußballweltmeisterschaft - dieses Beispiel wird Ihnen wahrscheinlich
nicht so gefallen - Umfragen zum Thema Patriotismus
durchgeführt. Dabei kam genau das Gleiche zum Ausdruck. Natürlich ist es völlig normal, wenn sich jemand
darüber freut, dass die deutsche Mannschaft gewonnen
hat. Bis dahin ist es okay. Es ist aber ein feiner Unterschied, wenn jemand sagt, dass die Polen schlecht spielen
oder gar keine Chance haben, zu gewinnen; darauf
kommt es an. Man darf aber nicht eine bestimmte Frage
herausgreifen und denjenigen, der diese Frage bejaht, als
Rechtsextremisten bezeichnen. Das macht kein Wissenschaftler. Das können Sie aus der Beantwortung der von
Ihnen angeführten Frage nicht herauslesen.
({1})
Wir alle wissen: Es gibt großen Handlungsbedarf,
breit angelegt gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus vorzugehen. Dazu gehört, dass sich
die Politik klar und eindeutig dagegen positioniert. Ein
nationaler Aktionsplan hätte eine solche Signalwirkung.
Doch bevor wir eine neue Baustelle namens nationaler
Aktionsplan eröffnen, möchte ich an die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus erinnern. Bis Ende
letzten Jahres hießen sie Civitas und Entimon. Sie waren
wirklich innovativ. Heute gibt es Fachwissen zivilgesellschaftlicher Initiativen vor Ort. Wir können auf
praxiserprobte Kompetenzen von Opferberatungsstellen,
mobilen Beratungsteams und Aussteigerinitiativen wie
EXIT zurückgreifen. Wir hatten gutfunktionierende Programme, die demokratieförderndes Engagement vor Ort
stärkten. Sie waren auf lokale Projekte zugeschnitten,
wurden individuell vergeben und hatten die Zivilgesellschaft als wichtigsten Akteur im Blick.
Die neuen Bundesprogramme erwecken manchmal den
Eindruck: Hauptsache etwas anderes als die Vorgängerregierung! Denn praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Evaluationen werden nicht immer sehr ernst
genommen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Ausgestaltung des 5-Millionen-Euro-Programms für Beratungsnetzwerke. Zum Glück hat es sich in den letzten Wochen
in eine für uns angenehmere Richtung entwickelt. Aber
einige Sachen haben wir zu kritisieren, zum Beispiel
dass nur noch zeitlich befristete Interventionen gefördert
werden. Dass die Bundesregierung nur Geld bereitstellen
will, wenn eine örtliche Krise bereits im Gang ist, ist
einfach zu kurz gedacht. Ein „Feuerwehreinsatz“ reicht
eben nicht.
({2})
Die Evaluation hat gezeigt, dass es darum gehen muss,
präventiv und kontinuierlich zu beraten.
Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, dann
kommt man zu dem Schluss, dass ein nationaler Aktionsplan sinnvoll sein könnte. Man müsste sich auf einen
gemeinsamen Weg einigen und hätte dann die Chance,
dem Rechtsextremismus mit langfristigen Konzepten
entgegenzutreten. Zu überlegen wäre, ob zur Ausarbeitung
eines solchen Plans ein völlig neues Gremium zu bilden ist
oder ob zum Beispiel das bestehende, beim Bundesinnenministerium angesiedelte Bündnis für Demokratie und
Toleranz befristet mit weiteren NGOs aufgestockt werden
könnte. Aber zusätzlich zu den Diskussionen in unseren
Reihen müssen wir die gesamte Gesellschaft ansprechen.
Alle Ebenen sind dabei gefragt. Wir dürfen nicht in Zuständigkeiten, sondern müssen in Verantwortlichkeiten
denken.
Wir brauchen zum Beispiel auch mehr politische
Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir brauchen Gesetze, die unsere Zivilgesellschaft aktivieren. Rechtsextreme und rassistische
Diskriminierungen finden nach wie vor statt, täglich in
Ost und West. Deshalb setzen wir Grünen in erster Linie
ganz stark auf eine aktive Zivilgesellschaft. Aber wie erreichen wir dieses Ziel? Ein Aspekt ist, dass man erfahrenen
Akteuren vor Ort keine Steine in den Weg legen darf.
({3})
Das Vorbild der Engagierten ist wichtig, damit sich weitere Menschen anschließen. Wenn wir uns alle für eine
tolerante und demokratische Gesellschaft einsetzen und
auch die Politik auf allen Ebenen - Bund, Länder und
Kommunen - moralische und finanzielle Unterstützung
anbietet, kann der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus eine sinnvolle Ergänzung sein.
Schönen Dank.
({4})
Jetzt hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Bereits 2001 verpflichtete sich die Bundesregierung, einen
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu erstellen.
Diese auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus im
südafrikanischen Durban eingegangene Verpflichtung ist
bis heute nicht eingelöst. Das ist ein Skandal.
({0})
Unser Land braucht diesen Aktionsplan dringend. Bis Ende
2007 erwarten Wissenschaftler den stärksten Anstieg
rassistischer Straftaten seit ihrer Erfassung. Heute
wurde der feige Brandanschlag auf das Baugelände einer
Moschee in Berlin-Pankow bekannt. Für das Jahr 2005
verzeichnet der Verfassungsschutz eine Zunahme rechtsextremer Delikte, die immer auch einen rassistischen
und fremdenfeindlichen Hintergrund haben, um fast
30 Prozent gegenüber 2006. Diesen Tendenzen muss
dringend und unverzüglich etwas entgegengesetzt werden.
Die Bundesregierung ist hier in der Pflicht.
Wo liegen die Gründe, dass der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus seit sechs Jahren auf sich warten
lässt? Befürchtet die Bundesregierung, man wolle das
Problem des Rassismus künstlich herbeireden? Es hilft
wenig, ungeliebte Wahrheiten reflexhaft abzuwehren
oder zu bagatellisieren.
({1})
Dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem
Land ausgeprägt sind, hat aktuell die Studie „Vom Rand
zur Mitte“ der Ebert-Stiftung eindringlich belegt. Fast
40 Prozent aller Befragten halten Deutschland für in gefährlichem Maß überfremdet. Das ist keine Tendenz
mehr am rechten Rand, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben sich längst in der Mitte der Gesellschaft
etabliert.
({2})
Gerade deshalb ist es wichtig, sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch Opfer einzubeziehen, wenn ein
Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus erarbeitet
wird.
({3})
Der Sachverstand von außen, die Erfahrungen der Opfer
müssen Grundlage für das sein, was künftig in diesem
Land gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus getan
wird. Die Bundesregierung hat seit Januar ein Programm
„Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie - gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ aufgelegt. Das ist auch gut so. Sie sollte
darüber hinaus sehr schnell ein ähnliches Programm
starten, das die gesamte Bevölkerung unseres Landes anspricht. Es muss ein Programm für Toleranz und
Menschlichkeit her. Von diesem Programm müssen
Kommunen profitieren, damit ihre Aktivitäten zur Integration vor Ort eine neue Qualität bekommen.
Am Samstag fing die Internationale Woche gegen
Rassismus an. Sie erinnert traditionell an das Massaker
von Sharpeville in Südafrika am 21. März 1960. Frau
Köhler, eine Bemerkung zu Ihnen: Wenn Sie sagen, Sie
wollten Rassismus bekämpfen, dann sage ich Ihnen an
dieser Stelle: Eines Ihrer politischen Vorbilder hatte vorzügliche Kontakte zum Apartheidregime in Südafrika.
Ich meine Franz Josef Strauß. Diese Internationale Woche
gegen Rassismus bietet die Gelegenheit, die Debatte in
der Öffentlichkeit zu führen, und dies ist auch notwendig.
Ein Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus könnte zu
einer Bewusstseinsschärfung der Öffentlichkeit beitragen.
Er wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Rassismus ist
die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung
tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers …, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Das ist zitiert nach Albert
Memmi, einem französischen Schriftsteller und Wissenschaftler, der zu Rassismus, Emigration und dem
Lebensgefühl der Entfremdung geschrieben hat. Denken
wir bitte immer an Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
Herr Kollege!
- und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit
- heute würden wir auch sagen: der Schwesterlichkeit begegnen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4201 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Reinhold Hemker, Elvira
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen
im internationalen Ferntourismus
- Drucksache 16/4603 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({2}), Ute Koczy, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Tourismus zur Armutsbekämpfung und zur
sozialen und ökologischen Entwicklung in den
Partnerländern nutzen
- Drucksache 16/4181 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber eine
halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Jürgen Klimke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sylt
statt Seychellen, Borkum statt Bali - das war eine vielzitierte, provokante Forderung der letzten Wochen. Sparen
wir uns das klimaschädliche Herumfliegen! Bleiben wir
zu Hause, und nutzen wir obendrein dem Wirtschaftsstandort Deutschland! Wer so etwas ernsthaft fordert, der
behindert nicht nur den technischen Fortschritt im Luftverkehr, sondern er schadet auch der Bekämpfung der
Armut in der Dritten Welt und reiht sich in die Phalanx
der Globalisierungsgegner ein.
Natürlich wollen wir die Energieeffizienz steigern,
und wir wollen den CO2-Ausstoß vermindern, auch im
Tourismus und ganz besonders im Luftverkehr. Reiseverbote tragen wir jedoch nicht mit. Wir halten sie für
unrealistisch und für kontraproduktiv. Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen: Wenn wir die Fernreisen abschaffen
würden, dann könnten die meisten Nationalparks in den
Entwicklungsländern ihre Pforten schließen. Viele Wälder würden dann abgeholzt werden. Dort würden Felder
entstehen, was erhebliche Folgen hätte, auch für die
CO2-Bilanz.
Sollte unser Ziel nicht sein, den Menschen auch durch
den Tourismus ein Auskommen zu bieten, damit sie ihre
Ressourcen schonen, statt die Tropenwälder für neue
Weideflächen abzuholzen? Das würde auch der CO2Bilanz nutzen; denn derzeit wird durch Brände in den
Tropen und in den Subtropen mehr Energie verschleudert, als wir in Deutschland insgesamt überhaupt umsetzen.
({0})
Energiesparen im Tourismus ist richtig und wichtig.
Das sollte jedoch durch einen permanenten Wettbewerb
um effiziente Technik geschehen und nicht durch ideologische Verbote bestimmter Technologien.
({1})
Wir brauchen mehr Ökowettbewerb in der Flugzeugindustrie, und wir müssen auch den Ökowettbewerb in
der Reiseindustrie fördern. Dies erreichen wir, indem
wir die Touristen für Umweltfragen stärker sensibilisieren, damit sie nicht nur auf den Preis achten, sondern
auch auf das Umweltengagement des Unternehmens, bei
dem sie buchen. Ich plädiere ganz eindeutig dafür, dass
die Selbstregelungsmechanismen innerhalb der Tourismusbranche gestärkt werden, damit der geforderte Beitrag zum Umweltschutz auch nachhaltig umgesetzt werden kann.
Generell begrüßen wir das Wachstum im Tourismus
in den Tourismusländern. In den letzten 15 Jahren ist er
von 28 auf fast 40 Prozent gestiegen. Die UNWTO - das
ist die Welttourismusorganisation - erwartet auch in Zukunft überdurchschnittliche Wachstumsraten. Das bedeutet, dass der Stellenwert des Tourismus für die Entwicklungsländer immer wichtiger wird. Der Tourismus
hat sich in diesen Ländern teilweise als wichtigste Einnahmequelle etabliert. Er leistet einen Beitrag, Armut zu
bekämpfen und - ganz banal - den Hunger zu stillen.
Gleichzeitig führt das Kennenlernen von Touristen
und Einheimischen zu einer stärkeren gegenseitigen
Akzeptanz, zu einem Vertrauen der Kulturen. Es gibt natürlich auch Auswüchse des Tourismus; das ist ganz eindeutig so.
Mit dem Antrag der Regierungskoalition werden wir
einen guten Beitrag leisten, weil er entscheidende Verbesserungen bei der Information deutscher Touristen
vorsieht und den Weg für die Etablierung des Tourismus
als Schwerpunkt im Rahmen der Entwicklungsarbeit mit
den Entwicklungsländern ebnet.
Lassen Sie mich, bevor ich zu einigen Punkten unseres Antrags komme, einige Worte zum Antrag der Grünen sagen. Der Antrag zielt generell in die gleiche Richtung. Deswegen werden die Anträge auch unter einem
Tagesordnungspunkt behandelt. Er greift einige Punkte
unseres Antrags auf. In zwei Punkten muss ich Ihnen
aber eindeutig widersprechen.
Erstens. Die Durchsetzung internationaler Sozialstandards für die Beschäftigten der Tourismusbranche
halte ich für unrealistisch, und sie würde in verschiedenen Bereichen auch kontraproduktiv sein. Wir können
nicht überall Lohnniveaus und Sozialsysteme erreichen,
die mit denen bei uns vergleichbar sind. Das ist völlig
unrealistisch.
Der zweite Punkt ist der Klimawandel, der hier im
Zusammenhang mit der Kerosinsteuer angesprochen
wird. Die von den Grünen als überfällig angemahnte Kerosinsteuer halten wir zumindest auf nationaler und europäischer Ebene für falsch, weil sie zu Wettbewerbsverzerrungen zulasten unserer Anbieter führt. Es kann nicht
sein, dass die Kerosinsteuer dadurch, dass Landungen
dann in Zürich oder in Oslo erfolgen, unsere Luftdrehkreuze, meinetwegen Frankfurt oder Bremen, beschädigt
und diese Marktanteile verlieren.
Lassen Sie mich drei Punkte unseres Antrags ansprechen: den Nutzen der Fernreisen für Deutschland, die
Bekämpfung der negativen Aspekte im Tourismus und
die Partizipation der Einheimischen.
Deutschland profitiert als einer der größten Quellmärkte von der Zunahme der Reisen in die Entwicklungsländer. Reisebüros, Reiseveranstalter spezialisieren sich auf diese Reisen und schaffen dadurch auch
Arbeitsplätze in Deutschland. Deutsche Unternehmen
investieren in die Infrastruktur dieser Staaten. Dadurch
werden nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern
auch bei uns neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist eine
klassische Win-win-Situation. Wir profitieren davon, die
Entwicklungsländer profitieren davon.
({2})
Wir unterstützen diese Entwicklung mit unserem Antrag; denn wir schaffen zukünftig zum Beispiel durch die
Aufnahme von mehr Tourismusinformationen auf den
Länderseiten des Auswärtigen Amtes eine zusätzliche
Marketingplattform auch für diese Länder. Dadurch werden die Reisen in die Entwicklungsländer gefördert.
Zu den negativen Aspekten. Zum einen leiden insbesondere die ökologischen Ressourcen unter dem stetigen
Wachstum - das muss man eindeutig sehen -; zum anderen mangelt es vielen Reisenden einfach an Informationen über kulturelle, soziale und ökologische Gegebenheiten der Regionen, in die sie reisen. Dem möchten wir
abhelfen oder es jedenfalls versuchen.
Gleichzeitig wollen wir die Ausbeutung von Kindern
und Jugendlichen durch Sextourismus durch weitere
Verbindungsbeamte und durch andere Grundsätze strafrechtlicher Verfolgung bekämpfen. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang.
Wir streben eine Verbesserung der Aufklärung der
Reisenden an, auch zum Artenschutz und zur Nachhaltigkeit im Tourismus, und setzen uns für eine stärkere
Berücksichtigung des Tourismus zum Beispiel in den
Lehrplänen unserer Schulen, unserer Universitäten und
vor allen Dingen der Einrichtungen ein, die sich mit
Tourismus beschäftigen, zum Beispiel der Fachhochschulen und der Fortbildungseinrichtungen.
Das dritte Thema liegt mir besonders am Herzen:
Partizipation der Einheimischen. Dem Tourismus
wird immer wieder vorgeworfen, er grenze sich von den
Einheimischen ab, das sei sozusagen eine Closed-ShopSituation, es gebe nur wenig Wertschöpfung vor Ort. Ein
weiterer englischer Begriff macht das deutlich: all inclusive. Alles das, was man in einem Hotel bekommen
kann, ist im Preis inbegriffen. Meist wird es eingeführt
und nicht in dem Entwicklungsland selbst produziert.
Von daher meinen auch wir, dass zu hinterfragen ist, ob
das sinnvoll ist. Eine Studie zu den ökonomischen, soziokulturellen und ökologischen Folgen dieser Reisen
soll vorgelegt werden, damit wir zukünftig auch das auf
einer solideren Basis beurteilen können.
Untersuchungen des Studienkreises für Tourismus
und Entwicklung am Starnberger See haben ergeben,
dass die Reisenden in Entwicklungsländer durchaus bereit sind, die Gegebenheiten vor Ort in Augenschein zu
nehmen, in Gespräche mit der Bevölkerung einzutreten
und stärkeren Kontakt zu ihr aufzunehmen, um so ihre
Destination sozusagen besser kennenzulernen. „Land
und Leute“-Programme gibt es relativ selten. Solche
sollten unserer Meinung nach die Anbieter ins Leben rufen und auch stärker gegenüber ihren Kunden bewerben;
denn damit wird der berühmte Lerneffekt beim Reisen
erzielt und Sensibilität für die sozialen und ökologischen
Realitäten der Reiseländer geweckt sowie ein stärkeres
Miteinander zwischen Touristen und Einheimischen geknüpft.
({3})
Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren: Wir
möchten gerne, dass Tourismus in den Entwicklungsländern zum Bestandteil der Entwicklungspolitik wird.
Das ist, wie ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt. Damit
würden wir zugleich eine Kehrtwendung vollziehen:
Nicht nur Gesundheitsförderung und Armutsbekämpfung, sondern auch Tourismus- und damit Wirtschaftsförderung sollen zu einem wichtigen Bereich werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Mit Tourismus als sektoralem Schwerpunkt für die
Entwicklungszusammenarbeit fördern wir nicht nur die
Wirtschaft im Entwicklungsland, sondern auch unsere
eigene Wirtschaft profitiert davon. Genau das wollen wir
ja mit Entwicklungspolitik erreichen: nicht nur einseitig
Gelder geben, sondern fördern und auch für uns etwas
erreichen.
Herr Kollege!
Herzlichen Dank. - Insofern ist
({0})
Tourismus als Wirtschaftsfaktor auch ein wesentlicher
Bereich für die Entwicklungsländer.
Danke sehr.
({1})
Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Klimke, nach Ihrer Rede lege ich
mein Manuskript zur Seite, weil ich fast alles unterschreiben kann, was Sie gesagt haben.
({0})
Sie haben ja völlig recht: Natürlich bietet die Entwicklung von Tourismus hervorragende Chancen für Entwicklungsländer. Da können wir eine ganze Menge tun.
Viele der Forderungen, die wir diesbezüglich erheben
müssen, sind berechtigt. Das gilt übrigens für die Forderungen in Ihrem Antrag wie für die im Antrag der Grünen. Viele können wir unterschreiben. Die Beratungen
im Ausschuss werden, wie ich denke, zeigen, dass an
vielen Punkten absoluter Konsens besteht.
Ich stehe genauso wie Sie dazu, dass es sinnvoll ist,
den Tourismus in unterentwickelten Ländern weiterzuentwickeln. Das ist für viele dieser Länder heute fast die
einzige Chance. Bei der Frage, wer die Chancen nutzen
soll und wer das Geld ins Land bringen soll, gehen unsere Meinungen allerdings ein wenig auseinander.
Hierzu finde ich in den Anträgen keine Aussage.
Ich möchte einmal einen Passus aus dem Antrag der
Koalitionsfraktionen zitieren. Da heißt es:
Weitere negative ökologische Auswirkungen resultieren aus der auch durch den Anstieg des Ferntourismus erfolgten starken Zunahme des Flugverkehrs. Die Verringerung der Emissionen durch eine
deutlich verbesserte Energieeffizienz der Triebwerke und die erhöhten Transportkapazitäten der
Flugzeuge in den kommenden Jahren wird durch
die weitere Zunahme des Flugverkehrs überkompensiert.
Das war es. So steht es wörtlich in Ihrem Antrag. Aber
mehr steht nicht drin. Was wollen Sie jetzt eigentlich?
({1})
Wollen Sie den Tourismus ausbauen? Man kommt weder
mit dem Fahrrad noch mit dem Paddelboot in diese Länder. Natürlich muss man fliegen. Dann sollte man aber
auch dazu stehen
({2})
und nicht so tun, als könnte man das irgendwie vereinbaren und durch irgendwelche Zaubereien alle Ziele erreichen. Das geht nicht.
({3})
Das sollte man auch sehr deutlich sagen.
Vor diesem Hintergrund haben wir die ganze Diskussion im Umfeld der ITB nicht verstanden: Plötzlich kamen jeden Tag zwei, drei selbst ernannte Spezialisten
- einige übrigens auch von Ihrer Seite - und haben gesagt: Wunderbar, dann sollen eben mehr Leute in
Deutschland bleiben. Wie Sie das mit den Forderungen
Ihres Antrags zusammenbringen wollen, würde mich
schon sehr interessieren. Man sollte also ehrlich die entsprechende Position vertreten: Damit das, was in den
Anträgen steht, umgesetzt werden kann, müssen die
Menschen noch mehr fliegen. Das ist eine Tatsache.
({4})
Das Zweite - auch Sie haben darauf hingewiesen -:
Man sollte nicht so tun, als gebe es eine heile Welt, die
man am besten dadurch schützt, dass man sie unberührt
lässt. Man sollte übrigens auch nicht so tun, als könnten
wir von hier aus sagen, wie es richtig geht. Auch das ist
eine Position, die ich einfach nicht nachvollziehen kann.
Wir verdienen in Deutschland eine ganze Menge Geld
im Tourismus. Gerade wir Mitglieder des Tourismusausschusses betonen immer wieder, dass Tourismus einer
der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren ist. Wir betonen die
Zahlen der Arbeitsplätze und die 8 Prozent Anteil am
Bruttoinlandsprodukt. Das hängt mit vielen Maßnahmen
zusammen. Dann können wir aber doch nicht mit Blick
auf die Entwicklungsländer sagen, sie müssten das anders machen. Das ist unehrlich, und das sollten wir nicht
mitmachen.
({5})
- Entschuldigung, wenn Sie sagen, dass irgendwo etwas
anderes steht, dann zeigen Sie mir das. In den Forderungen, die ohnehin vage genug sind, ist von allen möglichen Auflagen und verschiedenen Dingen, die berücksichtigt werden müssen, auch im Zusammenhang mit
Nachhaltigkeit, die Rede.
({6})
Welche Folgen das hat, auch mit Blick auf die Bürokratie, steht übrigens nirgends. Das gilt für den Antrag der
Grünen noch viel mehr.
Ich bin davon überzeugt, dass viele Projekte in diesen
Ländern, gerade im Naturschutz, überhaupt nur möglich
sind, weil durch den Tourismus Geld in das Land fließt.
Viele Naturschutzprojekte erfordern geradezu die touristische Nutzung. Das gilt in diesen Ländern, aber übrigens auch bei uns sehr häufig.
Ich sage ja gar nicht, dass das in dem Antrag steht. Ich
werfe Ihnen aber Folgendes vor - da hoffe ich, dass wir
in der Beratung ein Stück weiterkommen -: In den An8964
trägen werden hehre Ziele formuliert und wird beschrieben, was alles gemacht werden soll;
({7})
aber wie daraus ein schlüssiges Konzept werden soll und
wie wir erreichen, dass die Entwicklungsländer tatsächlich am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben, steht in
diesen beiden Anträgen nicht.
({8})
Solange das dort nicht steht, haben Sie auch kein Konzept, wie es weitergehen soll.
Wir werden unseren Beitrag leisten.
({9})
Vielleicht kommen wir zu einem gemeinsamen Antrag,
der mehr wert ist. Wenn nur schöne Aussagen aneinandergereiht werden, führt uns das nicht weiter.
Herzlichen Dank.
({10})
Jetzt hat Gabriele Groneberg das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
würde mich natürlich reizen, Herrn Burgbacher direkt zu
antworten; aber ich werde mir jetzt erst einmal ein paar
andere Punkte herausgreifen, von denen ich denke, dass
sie ein bisschen interessanter sind. Dann werden wir uns
später mit Herrn Burgbacher beschäftigen.
Warum machen wir uns eigentlich Sorgen um den
Tourismus? Wir freuen uns doch, wenn wir, auch noch
kostengünstig, Urlaub an schneeweißen Palmenstränden
mit kristallklarem Wasser und unter einem makellos
blauen Himmel machen können. Die Länder, die wir besuchen, freuen sich über Einkommen, Herr Burgbacher,
und Arbeitsplätze; denn in vielen Entwicklungsländern
hat sich der Tourismus zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige entwickelt, wenn nicht sogar zum einzigen.
({0})
Gerade für Länder ohne Rohstoffe und mit schlechten
landwirtschaftlichen Bedingungen bietet der Tourismus
die einzige Möglichkeit zur Devisenbeschaffung; lassen
Sie uns das einmal festhalten.
({1})
Experten schätzen die Nettodeviseneinnahmen der Entwicklungsländer und der am wenigsten entwickelten
Länder auf 60 bis 80 Prozent.
Aber der Tourismus, vor allem in seiner rücksichtslosen Form, schafft auch Probleme.
({2})
Unkontrollierte Infrastrukturentwicklung wie zum Beispiel auf Mallorca - man sieht jetzt an den Protesten,
dass das nicht mehr akzeptiert wird - zerstört nicht nur
Flora und Fauna, sondern auch die Kulturlandschaft, und
vor allen Dingen traditionelle Werte leiden beträchtlich.
All das beeinträchtigt den Lebensraum der Menschen
vor Ort. Die negativen Auswirkungen führen letztendlich dazu, dass das, was den Reiz der Region ausgemacht
hat, verschwindet und die Touristen wegbleiben. Ziel
muss es daher sein, einen nachhaltigen Tourismus zu erreichen. So ist das, Herr Burgbacher.
Ich denke, es ist nur schlüssig und konsequent, wenn
wir uns im Bereich der Entwicklungshilfe nicht nur mit
den Chancen, die durch den Tourismus für Entwicklungsländer bestehen, beschäftigen, sondern auch ganz
konkrete Projekte mitfinanzieren.
({3})
Ich möchte zur Verdeutlichung einige Beispiele nennen.
Ein gelungenes Beispiel ist das Projekt „Akha Experience“ in Laos, das im Rahmen einer Public Private
Partnership - zu Deutsch: in Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft - entwickelt
wurde. Das Bergvolk der Akha hat kaum Zugang zu sozialer Grundversorgung wie Gesundheit und Bildung
und ist weitgehend von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ausgeschlossen. Mit der Unterstützung
durch die GTZ und in Zusammenarbeit mit einem Reiseveranstalter wurden in acht Dörfern lokale Akha-Guides
ausgebildet, die auch Englischunterricht erhielten. Das
Projekt trägt durch die Entwicklung der touristischen Infrastruktur zur Gemeindeentwicklung und Armutsbekämpfung bei - die Menschen profitieren also direkt davon - und hat als erstes PPP-Projekt in Laos
Modellcharakter für weitere Projekte.
In Montenegro zum Beispiel hat die positive Entwicklung in der Tourismusbranche den Bedarf an qualifiziertem Fachpersonal steigen lassen. Allerdings stellt
der nationale Arbeitsmarkt trotz hoher Arbeitslosigkeit
nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung. Die GTZ leistet hier vor allem bei der Reform des Berufsbildungssystems und durch die Ausbildung von Fach- und Führungskräften Unterstützung. Ziel des Vorhabens ist es,
das touristische Angebot in Montenegro langfristig auf
hohem Niveau sicherzustellen.
In Uganda beispielsweise haben wir über die GTZ
und die KfW die nationale Naturschutzbehörde beim
Aufbau des Murchison Falls National Park unterstützt.
Bis zum Bürgerkrieg - das ist das Traurige an der ganzen Geschichte - in den 70er- und 80er-Jahren war dieser Park mit den weltberühmten Wasserfällen eine bedeutende Touristenattraktion. Doch während des
Bürgerkriegs wurde die Infrastruktur fast vollständig
zerstört. Der Wildtierbestand von Elefanten und Nashörnern hat sich erheblich verringert. Ziel war es hier, nach
dem Krieg wieder ein funktionsfähiges Schutzgebiet
aufzubauen und den Tourismus zu fördern. Indem wir
Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Wildhüter durchgeführt haben und die Infrastruktur wieder instand gesetzt haben, konnten wir die wirtschaftliche Grundlage
für den Tourismus wiederherstellen.
Was ist an diesen Maßnahmen bitte schön verkehrt?
Wir helfen doch direkt, explizit den Menschen vor Ort.
Ich sehe aber ein, dass das nicht reicht, auch wenn das
gute Beispiele sind. Wir sehen weiteren Handlungsbedarf und vor allen Dingen weiteren Diskussionsbedarf.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir in unserem Antrag deutlich. Zum Antrag selbst wird der Kollege Hemker nachher noch einiges ausführen.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
({4})
Jetzt hat der Kollege Ilja Seifert das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Mit
Ihrer gütigen Erlaubnis, Frau Präsidentin, darf ich zuerst
Frau Mortler und Herrn Hinsken herzlich dafür danken,
dass sie mir von diesem Pult aus beste Genesungsgrüße
gesendet haben. Ich finde, das war sehr freundlich. Viele
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben das
auf andere Weise auch getan. Vielen Dank. Sie sehen,
ich bin wieder da.
Nun zum Thema. Wir hatten gerade die Gelegenheit,
mit dem Ausschuss eine Fernreise zu unternehmen. Dabei haben wir zum Beispiel erlebt, wie schwer es ist,
wenn man behindert ist. Ich wundere mich sehr, dass in
keinem Ihrer Anträge - weder von den Grünen noch von
der Koalition - der Begriff barrierefreier Tourismus
auch nur auftaucht, geschweige denn, dass Sie vernünftige Forderungen stellen, um ihn zu gewährleisten. Ich
bitte Sie, dass wir das in den Ausschussberatungen noch
aufnehmen, damit etwas Sinnvolles dabei herauskommt.
({0})
- Das ist ein Antrag zu einem anderen Thema. Aber warum fehlt es hier?
Wenn wir über Ferntourismus reden, möchte ich
schon einmal darauf hinweisen, dass es verschiedene
Formen von Tourismus gibt. Es gibt die Urlaubsreisenden, es gibt die Geschäftsreisenden, es gibt die Privatreisenden, die Verwandte besuchen, es gibt Städtepartnerschaften und andere Formen von Kultur-, Sport- und
Jugendaustausch. Es gibt auch die Fernreisen von Soldatinnen und Soldaten, also den Kriegstourismus. Den wir
vollkommen ablehnen, und dabei bleiben wir auch.
Wo sind denn eigentlich die Stellschrauben für die
Politik? Bei den Urlaubsreisen und bei dem Geschäftstourismus sind die Stellschrauben hinsichtlich der Fernreisen gar nicht so groß.
Bei den Städtepartnerschaften und bei den verschiedenen Formen von Kultur-, Sport- und Jugendaustausch
haben wir als Politikerinnen und als Politiker ganz andere Möglichkeiten, einzugreifen. Hier können wir direkt fördern, was von allen Seiten gefordert wird - dass
man Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung aufnimmt, dass man wirklich die Kultur des Landes, das
man besucht, kennenlernt und dass man wirklich erfährt,
wie es dort zugeht. Das ist in diesen Formen des Tourismus am ehesten möglich. Vor allen Dingen haben wir
hier die größten Möglichkeiten, einzugreifen. Also lassen Sie uns nicht so weiche, schwammige Formulierungen wie „Wir wirken darauf hin“ und „Wir versuchen,
darauf Einfluss zu nehmen“ finden. Lasst uns dort fördern, wo wir fördern können. Lasst uns etwas Konkretes
machen.
Ein Reiseziel war zum Beispiel Cancún. Niemand
von uns hat sich in den 50 nebeneinanderstehenden
Fünfsternehotels - mehrere noch mit eigenen Golfplätzen - wirklich wohlgefühlt. Man hat dort von der einheimischen Bevölkerung nichts gesehen, außer dann, wenn
sie als dienstbare Geister die Räume saubergemacht haben. In den oberen Etagen übrigens war die einheimische Bevölkerung, zum Beispiel die Nachfahren der Majas, nicht mehr zu sehen.
Was haben wir erfahren? Jeden Tag produziert Cancún 700 Tonnen Müll. Dieser Müll wird in die Landschaft geschüttet. Die Mangrovenwälder, die durch einen Hurrikan und die Umweltbelastungen zerstört
worden sind, werden nicht aufgeforstet. Dafür ist kein
Geld da.
Wenn wir die dortige Infrastruktur stärken und der
dortigen Bevölkerung wirklich nützlich sein wollen,
dann muss man sagen, wo die Probleme wirklich liegen.
Wir haben durchaus gesehen, wo sie liegen. Dort müssen
sie gelöst und muss die Situation geändert werden.
Deshalb lassen Sie uns die Anträge nicht so halbherzig formulieren. Lassen Sie uns im Ausschuss daran arbeiten, damit herauskommt: An dieser und an jener
Stelle kann die Politik tatsächlich eingreifen. Das muss
dann auch Hand und Fuß haben, und dafür müssen wir
auch ein bisschen Geld in die Hand nehmen. Ich denke,
da sollte man etwas investieren. In diesem Zusammenhang können wir zum Beispiel darüber reden, dass wir
eine Kerosinsteuer brauchen, aus deren Einnahmen wir
das bezahlen.
Wir wollen an Ort und Stelle Menschen zusammenbringen, zum Beispiel Jugendliche, die an einem Jugendaustausch teilnehmen. Nicht nur unsere Jugendlichen
sollen in ferne Länder fahren. Wir sollten auch den Menschen dort die Möglichkeit geben, zu uns zu kommen,
uns kennenzulernen. Wenn diese weniger Geld haben als
wir, dann müssen wir ihnen Geld zur Verfügung stellen.
Das ist die Form von Tourismus, die wir unterstützen.
Lasst uns nicht nur daran denken, dass die Gutbetuchten in die Fünfsternehotels fahren, sondern auch dafür
sorgen, dass sich Menschen kennenlernen und eine
Weltanschauung durch das Anschauen der Welt entwickeln können!
Danke schön.
({1})
Jetzt hat Undine Kurth das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Wir sprechen hier
über Chancen und Risiken des Ferntourismus, darüber,
wie er qualitätsmäßig organisiert sein soll, darüber, welche Chancen zur Armutsbekämpfung er bietet.
Es ist schon ausführlich darüber gesprochen worden:
Wir wissen, wie viele positive Chancen im Tourismus
liegen. Wir wissen, dass weltweit 235 Millionen Arbeitsplätze durch den Tourismus gesichert werden. Das sind
ungefähr 9 Prozent aller Arbeitsplätze, die es weltweit
gibt. Es gibt also vor allem für Entwicklungs- und
Schwellenländer eine Menge Chancen, aus dem Tourismus wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen. Übrigens, auch
in Deutschland zieht man guten Gewinn aus der Tourismuswirtschaft. - Das ist die eine Seite des Unternehmens.
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch - das ist
ebenfalls schon gesagt worden -, dass es eine Menge
Verwerfungen, eine Menge Risiken und eine Menge
Umweltbelastungen geben kann, die besonders durch
eine nicht kluge Tourismusentwicklung produziert werden können. Jetzt kommt es also darauf an, abzuwägen,
den richtigen Mittelweg zu finden, um aus den Vorteilen
auf der einen Seite und den Risiken auf der anderen Seite
einen vernünftigen Schluss zu ziehen und genau das
Richtige zu tun.
Herr Burgbacher, ich verstehe wirklich nicht, dass Sie
sagen, Sie hätten überhaupt nicht begriffen, worüber auf
der ITB geredet worden ist. Natürlich spielen die Tourismuswirtschaft und das Verhalten der Touristen eine
Rolle im Hinblick auf den Klimawandel. Das ist doch
völlig normal; denn wir alle wissen, dass das Fliegen mit
seiner ganz besonders schädlichen Emissionswirkung zu
dem großen Problem des Klimawandels beiträgt. Das
heißt aber nicht, dass nie mehr geflogen werden soll. Das
ist Unsinn. Wer in dieser Debatte behauptet, es gehe darum, Fernreisen zu verbieten, der verkennt wissentlich
die Bedeutung dieser Debatte.
({0})
So schlecht informiert kann niemand sein, um das, was
auf der ITB gesagt wurde, so falsch zu interpretieren.
Wenn der Generalsekretär der Weltorganisation für
Tourismus auf der ITB-Eröffnungsfeier sagt, wir brauchten einen sparsameren Umgang mit Energie, dann hat er
durchaus Recht. Noch in dieser Woche hat er auf der
Madrider Klimakonferenz gesagt, die Maßlosigkeit
des Tourismus sei ein Problem. Wir müssen darauf hinwirken, dass es bei dieser Maßlosigkeit nicht bleibt.
({1})
Seit Marco Polo wissen wir alle: Reisen macht schlau,
Reisen macht Spaß und Reisen ist hilfreich bei der Verständigung der Völker. Aber vor lauter Spaß und Vergnügen dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass wir
uns en passant unsere eigene Erde kaputtmachen. Das
kann nicht Ziel der Entwicklung sein. Es ist also richtig,
zu sagen: Lasst uns überlegen, was man unternehmen
muss, um bessere Wege zu finden. Demzufolge ist es für
mich gar nicht schlimm, wenn zwei Drittel der Deutschen momentan überlegen, ob sie vielleicht einmal öfter im Lande bleiben. Ich verstehe auch nicht, warum wir
Touristiker das nicht gut finden sollten. Denn der
Deutschlandtourismus kann ruhig von dieser neuen
Entwicklung profitieren. Das Schlechteste ist es ja nicht,
im eigenen Land Urlaub zu machen.
({2})
Es ist doch richtig, wenn wir vorschlagen, dass es
eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe zur Erarbeitung und zur Umsetzung von Strategien zur Reduzierung
klimaschädlicher Emissionen geben soll. Es ist doch der
richtige Ansatz, zu schauen, was man auf diesem Gebiet
machen kann. Es geht nicht darum, etwas komplett zu
verbieten.
Es geht aber auch nicht darum, zu sagen: Dumm
gelaufen; das passiert eben dabei. Wir wollen gern das
Geschäft machen.
({3})
Wir wissen, was für ein großes Potenzial in der Tourismusentwicklung steckt. Deshalb glauben wir, dass
man richtigerweise schauen muss, in welche Richtung
wir uns zusammen mit den Zielländern entwickeln wollen. Die Entwicklungszusammenarbeit, die wir in
Deutschland auf den Weg gebracht haben, beschäftigt
sich erfreulicherweise sehr erfolgreich mit touristischen
Projekten.
Zu den Anträgen. Wir wollen jetzt nicht davon reden,
welcher Antrag früher oder später eingebracht wurde
und wer von wem abgeschrieben hat. Wir hatten unseren
Antrag, weil wir diesen Bereich so wichtig finden, Anfang des Jahres eingebracht. Dann haben Sie gesagt:
Lasst uns warten, bis auch der Antrag der Koalition fertig ist, damit wir die Anträge zusammen besprechen
können. Das machen wir herzlich gerne. Wir werden in
den Ausschüssen weiter darüber reden. Denn es ist ja
richtig, dass man versucht, gemeinsam etwas zu machen.
Lassen Sie uns darauf achten, dass der Antrag an die
richtige Adresse gerichtet wird, nämlich an die Bundesregierung, damit wir etwas ausrichten können! Da liegt
unser Arbeitsfeld. Lassen Sie uns nicht immer an andere
appellieren, dass sie etwas tun sollen. Wir selber müssen
etwas tun. Lassen Sie uns deshalb darüber reden und auf
diese Weise weiterkommen.
Danke schön.
({4})
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhold
Hemker für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Ernst Burgbacher, wir sind eigentlich schon mitten in der Ausschussberatung. Aber wenn Sie genau hingeschaut hätten - wahrscheinlich haben Sie das getan;
aber das hätten Sie schon aufgrund Ihrer Funktion zum
Ausdruck bringen müssen -, dann hätten Sie sehen können, dass wir unter den 14 im Antrag aufgeführten Punkten Trends angeben und einige Qualitätsanforderungen
formulieren. Uns ist aber klar, dass die Situation noch
längst nicht so ist, wie sie teilweise auf der ITB von den
Veranstaltern gelobt worden ist. Denn es gibt noch
Schwächen.
Nehmen wir das Beispiel der Verbindung von Nutzung der Naturparks durch Menschen, die in der Nähe
wohnen - nicht nur in Entwicklungsländern -, mit der
Gestaltung solcher Räume. Das führt zu einem qualitativen Naturschutz. Wenn man sich vor Augen führt,
dass das beispielsweise im Zusammenhang steht mit einer nachhaltigen Nutzung von Senken, dann ist natürlich
klar, dass Menschen dorthin fahren, die Naturerlebnisse
im Urlaub erfahren und auch einen Beitrag zur Entwicklung dieser Länder leisten wollen.
Dabei geht es nicht nur um Entwicklungsländer. Es
gibt eine ganze Reihe von Ländern, die mittlerweile die
Schwelle zu Industrieländern erreicht haben. Dazu gehört zum Beispiel Brasilien. Auch Südafrika ist in manchen Bereichen eines der führenden Industrieländer
Afrikas. Es wird klar: Wir brauchen diese Verbindung,
und wir müssen uns - das hat die diesjährige ITB eindeutig gezeigt - den Herausforderungen bei der Weiterentwicklung in bestimmten Bereichen stellen.
({0})
Ich möchte auf ein Heft hinweisen, das mir zum ersten Mal die große Bedeutung dieser Entwicklung aufgezeigt hat. Es hat den Titel „Lo’Nam“. Dieser Name
kommt aus einer Volkssprache Kameruns, Feefee, und
bedeutet „Sonnenaufgang“. Das Heft beschäftigt sich
mit dem Traum, in exotischen Ländern etwas zu erleben.
Gleichzeitig werden die Investitionen von Migranten aus
Afrika, die hier in Europa und in Deutschland leben, aufgezeigt. Diese Migranten helfen mit, dass der Tourismus
naturnäher wird, und unterstützen Infrastrukturmaßnahmen. Zudem organisieren sie - es ist eben schon angesprochen worden - Meet-the-People-Programme, also
Begegnungen von unterschiedlichen Kulturen und von
Menschen mit unterschiedlichen Religionen.
Diese Form des Tourismus birgt die Möglichkeit, zum
Abbau von Vorurteilen beizutragen. Ich habe noch im
Ohr, was eben in der Debatte zum Rassismus gesagt
worden ist. Menschen, die im Urlaub andere Menschen
kennengelernt und als gleichberechtigte Partner wahrgenommen haben, ändern ihre Einstellung und sagen bei
ihrer Rückkehr: Das sind wertvolle Menschen; es ist bewundernswert, was in diesen Ländern geleistet wird.
In dem Heft „Lo’Nam“, das ich eben erwähnt habe
und das von Afrikanern und ihren Freunden gemacht
wird, findet sich ein Zitat eines Reisenden aus früherer
Zeit, nämlich ein Zitat von Goethe, der schon damals
festgestellt hat: „Die beste Bildung findet ein gescheiter
Mensch auf Reisen.“ Das trifft für Reisen zu, die richtig
organisiert sind. Genau das wollen wir mit den Qualitätsanforderungen, über die wir sprechen, erreichen: Wir
möchten, dass die Bundesregierung in Gesprächen mit
den Veranstaltern deutlich macht, dass im Vorfeld genauere Informationen gegeben werden müssen.
({1})
Das bezieht sich zum Beispiel auf die Sympathiemagazine, deren Erstellung immer wieder von der Bundesregierung unterstützt worden ist. Dort kann man den Reisenden entsprechende Informationen anbieten; sie
bekommen ein positives Bild von den Menschen in den
Ländern, in die sie reisen.
Wir können nichts versprechen. Es geht auch nicht
darum, die Bundesregierung in diesem Antrag zu loben.
Wir wollen vielmehr deutlich machen, welche Zukunftstrends es gibt und welche Qualitätsanforderungen gestellt werden sollten. An den Qualitätsanforderungen
wollen wir - zunächst einmal in den Fachberatungen weiterarbeiten.
Ich komme auf die ITB in diesem Jahr zurück. Ich erkenne einen beachtlichen Fortschritt gegenüber dem,
was dort im letzten Jahr gezeigt wurde. Man hat sehr genau geschaut, was die Menschen eigentlich wollen, die
in diese Urlaubsgebiete fahren, wo sie etwas Neues erleben können. Man hat sehr stark darauf geachtet, welche
Zielgruppen es dort gibt. So gibt es eine große Zahl von
Menschen, die bereit ist, für die Erweiterung ihres Horizontes in ökologischer, kultureller und religiöser Hinsicht Geld auszugeben. Darauf sollte man in den Fachberatungen im Ausschuss eingehen. Ich hoffe, dass wir
dann ein gutes, weiterführendes Gespräch mit den beteiligten Ressorts der Bundesregierung führen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlagen auf Drucksachen 16/4603 und 16/4181 an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
13 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Volker Beck ({0}),
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention
- Drucksache 16/4205 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung der
Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/4735 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
Auch hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren, wobei vorgesehen ist, dass die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit erhält. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
es so beschlossen.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 1992 hat die Bundesrepublik Deutschland die
UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Ich denke, wir
alle hier im Hause sind uns einig, dass dies ein sehr großer Erfolg für die Stärkung der Kinderrechte war.
({0})
Die Konvention hat in sehr vielen Bereichen den Handlungsdruck erhöht. Das haben wir an vielen Stellen ernst
genommen. In Art. 2 werden allen Kindern, die sich in
der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates befinden, die
gleichen Rechte zugestanden.
Nun erfolgte die Ratifizierung in Deutschland aber
nicht ohne Vorbehalte. Einige dieser Vorbehalte haben
wir bereits abgearbeitet. Aber noch heute gibt es einen
Punkt, der sehr sensibel ist und bei dem die Vorbehalte
gelten. Es geht um die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingskinder in Deutschland. Das betrifft insbesondere die 16- und 17-jährigen Jugendlichen, die nach
Deutschland flüchten. Dies sind Kinder und Jugendliche,
die oftmals eine Odyssee an dramatischen Erlebnissen
hinter sich haben, die unter Armut gelitten haben, die als
Kindersoldaten eingesetzt wurden, die Kriege erlebt haben, die sexuell ausgebeutet und versklavt wurden, die
traumatisiert sind und unsere Hilfe brauchen. Obwohl
wir uns in Art. 3 der Konvention dazu verpflichtet haben, das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen,
verweigern wir ihnen noch heute die Hilfe, die zur Verarbeitung dieser Erlebnisse notwendig wäre. Wir behandeln 16- und 17-Jährige wie Erwachsene und gestehen
ihnen keinerlei Rechte zu, die wir Kindern und Jugendlichen zubilligen sollten.
({1})
Nun diskutieren wir im Bundestag nicht das erste Mal
über die Rücknahme dieser Vorbehaltserklärung. Denn
der Bundestag hat bereits viermal die Rücknahme der
Vorbehalte beschlossen; viermal haben wir hier unseren
Willen dazu bekundet. Bekanntlich wurde keiner dieser
Beschlüsse umgesetzt.
Natürlich stellt sich die Frage: Woran liegt es? Liegt
es daran, dass die Bundesregierung das nicht will? Oder
liegt es daran, dass die Koalition sich in diesem Punkt
nicht einig wird? Bis jetzt wurde von der Bundesregierung immer das Argument genannt, sie könne die Vorbehalte nicht zurücknehmen, weil die Länder ein Mitspracherecht hätten. Wir haben bereits mehrfach in diesem
Hause deutlich gemacht, dass dies nur eine Rücksichtnahme auf die Länder ist, die in der Form aber nicht notwendig ist. An diesem Punkt muss man festhalten, dass
die Bundesregierung zwar rücksichtsvoll gegenüber den
Bundesländern ist, aber gleichzeitig rücksichtslos gegenüber den Flüchtlingskindern.
({2})
Wir diskutieren aktuell ganz viel über Familienpolitik. Wir diskutieren über die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und über Wahlmöglichkeiten. Wir diskutieren über die Finanzierung von Kinderbetreuung und über
all das, was dazugehört. Gleichzeitig ist mir aber zu Ohren gekommen, dass sich die Große Koalition bereits in
der Debatte über die Stärkung der Kinderrechte in der
Verfassung nicht einig werden konnte.
({3})
- Wir sind uns einig; das ist ganz sicher. - Das heißt,
dass es Ihnen bei all den Debatten überhaupt nicht um
die Kinder geht. Es geht Ihnen nicht um das Kindeswohl.
Es geht Ihnen um ideologische Debatten. Die Kinder
bleiben bei all den Debatten auf der Strecke.
({4})
Wenn Ihnen das Kindeswohl so wichtig wäre, wenn
es für Sie so ein wichtiges Thema wäre, dann müssen Sie
sich fragen lassen: Warum lassen wir noch immer zu,
dass Kinder in Sammelunterkünften wie Asylbewerberheimen untergebracht werden? Warum verweigern
wir ihnen die notwendigen Jugendhilfemaßnahmen?
Warum verweigern wir ihnen die gesundheitliche
Grundversorgung und Präventionsmöglichkeiten? Warum geben wir ihnen nicht einfach die Chance, Fuß zu
fassen, eine Ausbildung zu machen oder die Schule zu
besuchen?
Ein Letztes - das entsetzt mich besonders -: Den Antrag auf Rücknahme der Vorbehalte haben wir in diesem
Haus vor genau einem Jahr eingebracht. Seit einem Jahr
hören wir in jeder Ausschusssitzung, dass die Beratung
darüber um noch eine Woche, um noch einen Monat und
noch weiter verschoben werden soll. Sie drücken sich
vor der Verantwortung, und Sie drücken sich vor der
Entscheidung.
({5})
Stehen Sie zu Ihrer Entscheidung! Entweder Sie wollen
die Rücknahme der Vorbehalte, dann stimmen Sie einfach zu, oder Sie wollen es nicht, dann haben Sie den
Mut, dazu zu stehen. Diesen Mut haben Sie aber nicht.
Auch diese Debatte wird zeigen, dass Sie nicht den Mut
haben, sich zu den Kindern in diesem Land zu bekennen.
({6})
Jetzt möchte ich der Kollegin Ute Granold für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin, ich muss doch einiges von dem, was Sie
gerade gesagt haben, zurechtrücken. Was die von Ihnen
angesprochene unendliche Geschichte in diesem Haus
betrifft, muss ich Ihnen recht geben: Es gibt einen Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen aus dem letzten Jahr. Es
gibt eine Kleine Anfrage der Grünen aus dem Jahr zuvor.
Mittlerweile gibt es einen ganz neuen Antrag der FDP.
Es gibt eine Große Anfrage der Grünen vom Januar dieses
Jahres, die noch nicht beantwortet ist. Heute debattieren
wir wieder über dieses Thema. Ich denke trotzdem, es ist
eine Scheindebatte.
Wenn Sie hier reklamieren, wir würden das Thema
immer wieder behandeln, aber zu keinem Ergebnis kommen, muss ich Ihnen vorhalten, dass auch die rot-grüne
Regierung keine Notwendigkeit gesehen hat, diese
Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, weil das einen
reinen Symbolcharakter hätte.
({0})
Lassen Sie mich zunächst sagen: Die Bundesregierung
und das Parlament - ich denke, darin sind wir uns in diesem
Hause einig - tun alles für das Kindeswohl. Das hat die
jüngste Debatte über die Reform des Unterhaltsrechts
- heute wurde eine Einigung erzielt - gezeigt. Wir haben
sehr viel getan, und wir werden Weiteres tun, wenn
Handlungsbedarf besteht. Ich denke, wir drehen uns hier
im Kreis.
({1})
Wir haben - ich denke, auch das ist unstrittig - die
UN-Kinderrechtskonvention mittlerweile voll und ganz
erfüllt. Ich möchte die Reform des Kindschaftsrechts
in Erinnerung rufen - das gemeinsame Sorgerecht war
das Herzstück dieser Reform -, die wir 1998 auf den
Weg gebracht haben. Jetzt beraten wir koalitionsintern
die FGG-Reform. Im Scheidungsverfahren haben wir
Elemente vorgesehen, die das Kindeswohl wesentlich
stärken. Ich denke, der Staatssekretär kann nachher das
eine oder andere dazu sagen.
Wir haben einen Nationalen Aktionsplan, den wir
bis zum Jahr 2010 - das haben wir bekräftigt - fortführen
wollen. Dazu stehen wir. Dieser Aktionsplan sieht vor - das
ist die Perspektive -, dass wir uns auch um die Rücknahme
dieser Vorbehaltserklärung kümmern werden. Auch das
haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung aufgeführt.
Ich möchte einmal klar und deutlich sagen, worum es
überhaupt geht: Die UN-Kinderrechtskonvention aus
dem Jahr 1989 ist in Deutschland 1992 in Kraft getreten.
Diese Konvention begründet keinerlei materielles Recht,
keinen einklagbaren Anspruch auf ein Aufenthalts- oder
Bleiberecht in Deutschland oder ein Recht auf Einreise
nach Deutschland. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag.
Die Vorbehaltserklärung bedeutet keinen Vorbehalt im
völkerrechtlichen Sinn, dass wir also Vorbehalte gegen
den Inhalt der Konvention hätten, sondern sie stellt nur
eine Interpretationsklausel dar. Frau Kollegin, das war
völlig zu Recht die Argumentation der Grünen, als sie
noch in der Regierungsverantwortung standen.
({2})
Über diese Interpretationsklausel sollte, so meine ich,
noch einmal diskutiert werden, weil Vorbehalte bestehen.
Das ist lediglich eine Klarstellung. Die Frage, ob wir
diese Vorbehaltsklausel zurücknehmen oder nicht, hat
bloß Symbolcharakter. Es besteht grundsätzlich keine
Notwendigkeit dazu.
({3})
Lassen Sie mich bitte etwas Inhaltliches zu den Minderjährigen sagen, die nach Deutschland einreisen. Sie stellen
uns als Barbaren und Unmenschen dar.
({4})
Das ist nicht der Fall. Tatsache ist, dass die deutsche Gesetzgebung mit dem internationalen Recht konform ist.
({5})
Sie wissen sehr wohl, warum eine Rücknahme der Vorbehalte bislang noch nicht möglich war. Sie wissen sehr
wohl, dass wir zwar formal zuständig sind, wenn es darum
geht, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, dass die
Länder aber einzubeziehen sind, falls diese betroffen
sind; ich verweise auf Art. 32 unseres Grundgesetzes.
Sie wissen auch, dass Bund und Länder 1957 das sogenannte Lindauer Abkommen geschlossen haben, in dem
genau vereinbart ist, wie in solchen Fällen verfahren
wird.
Solange die Zuständigkeit der Länder betroffen ist
({6})
- lassen Sie mich doch bitte ausreden; ich habe Sie doch
auch ausreden lassen -, was hier der Fall ist - ich erwähne
als Beispiel den Strafvollzug -, müssen wir das gemeinsam
mit den Ländern machen. Die FDP hat in ihrem Antrag,
der jetzt eingegangen ist, völlig zu Recht geschrieben,
der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern,
diese Vorbehaltserklärung „zurückzunehmen und auf die
Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen hierfür zu
schaffen“.
Ich denke, dass wir die inhaltliche Diskussion, die
Diskussion über die Notwendigkeit der Interpretationsklausel, dort führen müssen, wo sie hingehört, nämlich
in den Ausschüssen.
({7})
Wir Rechtspolitiker sind heute erstmals damit befasst;
bislang waren es die Familienpolitiker. Aber auch wir
Rechtspolitiker setzen uns für die Rechte der Kinder ein
und werden darüber, wie es sich gehört, diskutieren.
({8})
- Frau Kollegin, allein dadurch, dass Sie schreien, wird
Ihre Argumentation nicht besser.
({9})
Es ist eine Tatsache, dass das hier eine reine Symboldiskussion ist und dass Sie uns mit dieser öffentlichen
Debatte - die eine rein formale Debatte ist - in die Ecke
stellen wollen, indem Sie den Eindruck erwecken,
Deutschland tue nichts für die ausländischen Kinder. Dabei
gibt es in keinem Staat der Welt ein aus der Kinderrechtskonvention abgeleitetes Aufenthaltsrecht oder
Bleiberecht. Wir gehen hier konform mit Ländern in der
ganzen Welt und lassen uns auch von Ihnen in dieser Debatte nicht den Vorwurf anhängen, dass es anders wäre.
({10})
Lassen Sie uns dort darüber reden, wo das Thema hingehört, nachdem Ihre Große Anfrage beantwortet ist;
dann können wir die Punkte in Ruhe abarbeiten. Ich
denke, wir sollten in diesem Hause nicht darüber streiten,
ob wir Kinderrechte umsetzen oder nicht. Wir kämpfen
schließlich alle zusammen dafür, und so soll es auch
sein.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben gerade gefordert,
dass diese wichtige Debatte nicht hier im Plenum, sondern
in den Fachausschüssen geführt wird. Deshalb möchte ich
Sie fragen, ob Sie eigentlich wissen, dass diese Debatte seit
ungefähr einem Jahr in den Fachausschüssen eingefordert
wird und dass wir im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, in den diese Debatte neben dem
Rechtsausschuss sicherlich gehört, seit einem Jahr mit
Anträgen konfrontiert werden, diesen Tagesordnungspunkt zu vertagen. Wenn wir dem nicht stattgäben, würde
abgestimmt. Deshalb ist Ihr Hinweis reine Verzögerungstaktik.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich zu diesen Fragen
äußern und nicht hier im Plenum auf die Fachberatungen
verweisen. Wir haben die Debatte in den Fachausschüssen
führen wollen; doch das ist von der Großen Koalition
verhindert worden.
({0})
Wussten Sie das eigentlich? Oder warum verweisen Sie
in dieser Debatte auf die Fachausschüsse?
Frau Kollegin, ich gehöre ja dem Rechtsausschuss an.
Die Diskussion im Familienausschuss kenne ich nur aus
den Protokollen. Aber ich kann Ihnen sagen: Was Sie
jetzt reklamieren, war unter Rot-Grün auf Jahre ebenso
im Stau, wie das jetzt vielleicht im Stau ist.
({0})
Wenn Sie die Protokolle lesen, können Sie das nachvollziehen.
({1})
Aber lassen Sie mich jetzt einfach sagen, ohne dass
ich mich auf Formalien zurückziehen möchte: Es gibt
dieses Abkommen zwischen dem Bund und den Ländern.
Es gibt kein einheitliches Votum der Länder dahin gehend,
die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. Ich denke,
wir sollten diese Vereinbarung, die wir als Bund mit den
Ländern getroffen haben, einhalten bzw. klären, wie wir
weiter verfahren können. Bis zum heutigen Tage ist dieses
Einvernehmen mit den Ländern nicht da. Schon von daher
kommen wir nicht weiter. Aber da diese Vorbehaltserklärung rein symbolischen Charakter hat, ist es kein
Problem, dass sie nach wie vor besteht.
({2})
Ich verweise nochmals auf den Antrag der FDP:
Wenn man der Auffassung ist, man solle sie zurücknehmen
- wie gesagt, sie hat Symbolcharakter -, dann sollte das
in den Ausschüssen diskutiert werden, und zwar mit denen,
die zuständig sind. Es wurden schon mehrere Gespräche
mit den Ländern geführt. Aber wir haben nun einmal einen
föderalen Staat, wir haben verschiedene Zuständigkeiten,
wir haben 16 Länder, die man unter einen Hut bringen
muss. Ich kann nur das sagen, was derzeit Fakt ist. So ist
die Situation, die sich aus formalen und aus inhaltlichen
Gründen ergibt. Was die Kollegin hier vorgetragen hat,
ist materiell und formell einfach nicht richtig.
Frau Kollegin, möchten Sie jetzt noch eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz zulassen?
Nein. Sie hatten die Möglichkeit für eine Zwischenfrage;
ich denke, das reicht. Sie haben so viel dazwischengeredet,
dass es nicht unkollegial ist, keine weitere Zwischenfrage zuzulassen.
Ich bin damit auch am Ende. Mehr brauchen wir nicht
zu sagen, weil wir uns mittlerweile im Kreis drehen.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin noch nicht so lange hier im Bundestag.
Aber das, was wir hier in Sachen UN-Kinderrechtskonvention erleben, ist - das muss ich leider sagen - Politik
zum Abgewöhnen. Es tut mir leid, dass die Zuschauer
auf den Rängen das miterleben müssen.
Wir debattieren hier im Plenum zum wiederholten
Male über die Rücknahme der Vorbehalte. Das Thema
wird bei uns im Familienausschuss in der Tat mit Vorliebe
von der Tagesordnung abgesetzt, im Plenum auch gerne
auf die Abendstunden verlegt. Heute gab es wieder die
Diskussion, ob wir die Reden nicht einfach zu Protokoll
geben sollten. Alles wird hin- und hergeschoben, und die
Beschlüsse dieses Hohen Hauses werden schlichtweg
ignoriert. Dadurch bestätigen wir meines Erachtens die
vorherrschenden Klischees von der Politik. Die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention
ist ein anderes Thema als die Verkehrsfähigkeit von
Kräutern, Tees und Gewürzen; auch dieses Thema stand
schon einmal auf unserer Tagesordnung. Es geht um die
Rechte von Kindern in Deutschland.
Aber Sie können mir nicht erklären, warum Sie sich
so verhalten. Das können Sie keinem Bürger erklären,
erst recht nicht den betroffenen Kindern. Egal, wen man
fragt - ob die betroffenen Fachpolitiker, die Verantwortlichen in den Ländern oder die Ministerin selbst -, alle
sind sich scheinbar darin einig, dass die Vorbehalte
zurückgenommen werden müssen. Dazu haben wir im
Übrigen auch innerhalb der Kinderkommission einen
einstimmigen Beschluss gefasst. Deswegen darf Frau
Noll heute wahrscheinlich nicht reden. Ich frage mich:
Wo liegt das Problem?
({0})
So machen wir uns auf dem internationalen Parkett
nur lächerlich. Irritationen und Zweifel am Willen
Deutschlands, die UN-Kinderrechtskonvention uneingeschränkt umzusetzen, sind derzeit mehr als berechtigt.
Was für ein Licht wirft das auf Deutschland? Zusätzlich
liefern wir mit dieser Haltung anderen Staaten noch
mehr Munition, selbst Vorbehalte anzumelden. Ist dies
das Bild, das wir nach außen abgeben wollen? Ich
meine, nein.
Inhaltlich - das ist mehrfach gesagt worden - diskutieren wir über Menschenrechte, und zwar im Hinblick
auf die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Diese Instrumentalisierung hat zur Folge, dass
Flüchtlingskinder ab 16 Jahren im Asylverfahren wie
Erwachsene behandelt werden - Frau Deligöz hat das
schon angesprochen - und keinen juristischen Beistand
bekommen. Ihre Asylanträge werden häufig abgelehnt,
weil das Schicksal keine politische Verfolgung im Sinne
des deutschen Asylrechts darstellt.
({1})
Sie sind beim Schulbesuch, bei der medizinischen Versorgung und bei der Berufsausbildung schlechter gestellt als
deutsche Kinder und können in Abschiebehaft geraten.
Meine Damen und Herren, Kinderrechte sind Menschenrechte. Aber mittlerweile habe ich Zweifel, wie
ernst es diesem Land mit diesem Thema wirklich ist.
Immer, wenn es um die Rechte der Kinder geht und ihnen mehr Ansprüche eingeräumt werden sollen, stoßen
wir auf Widerstände.
Zum Inhalt möchte ich noch eine kurze Bemerkung
machen. Da ich heute bereits zu zwei anderen Tagesordnungspunkten gesprochen habe, weiß ich, dass wir auch
über das Thema Kinderschutz diskutiert haben. In
diesem Zusammenhang haben Sie die Bundesregierung
aufgefordert, Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention
umzusetzen. Wie schön, dass Sie einerseits die Forderung
erheben, einen einzelnen Artikel der UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen, obwohl Sie es andererseits noch
nicht einmal schaffen, die Vorbehalte gegen die Konvention
zurückzunehmen!
({2})
Abschließend möchte ich auf unseren Antrag eingehen
- das tue ich, damit Sie mich in Zukunft richtig zitieren -:
Wir fordern die Bundesregierung zunächst einmal auf,
unverzüglich die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen - das ist der erste
Teil des Satzes, der für sich steht - und in einem zweiten
Schritt auf die Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen
hierfür zu schaffen.
In Zeiten, in denen die Themen Kinder, Familie und
Familienfreundlichkeit eine solche Renaissance erfahren,
wie wir es gerade erleben, darf sich Deutschland nicht
dermaßen blamieren. Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stellt ein dringend notwendiges und überfälliges
Signal für ein kinderfreundliches Deutschland dar. Angesichts der Absurdität der bisherigen Debatte erübrigt
sich eigentlich schon fast meine Bitte an Sie, unserem
Antrag zuzustimmen. Denn das Votum dieses Hauses
scheint hier leider nicht zu zählen.
({3})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Die Rücknahme der Vorbehalte zur UNKinderrechtskonvention beschäftigt seit Jahren nicht nur
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages und die
Kinderkommission. Auch die Bundesregierung hat sich
wiederholt mit den Möglichkeiten zur Rücknahme dieser
Erklärung auseinandergesetzt.
({0})
Ich sage Ihnen allen eines - hören Sie gut zu -: Alle
in diesem Hause vertretenen Fraktionen waren daran
beteiligt. Selbst die Linken waren in mindestens zwei
Länderparlamenten vertreten - Frau Jelpke, hören Sie
mir bitte zu - und hätten entsprechende Anträge einbringen
können. Dadurch hätte die Regierung unter Druck gesetzt
werden können.
({1})
- Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten
Stein! Ich habe einmal Theologie studiert.
({2})
- Jetzt seid doch einmal still.
Wir wissen heute, dass die Erklärung nicht notwendig
gewesen wäre. Die Kinderrechtskonvention würde ohne
die Erklärung genauso ausgelegt werden, wie wir sie
heute mit der Erklärung auslegen. Es handelt sich im
Wesentlichen um Erläuterungen, die man damals, 1992,
meinte, zu brauchen, um Fehl- oder Überinterpretationen
zu vermeiden. Dies spricht auf den ersten Blick natürlich
für eine Rücknahme der Erklärung. Sie wissen aber
auch, dass die Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989 auf Wunsch der Länder
aufgenommen worden ist. Die Länder waren nur unter
dieser Bedingung mit der Ratifizierung der Konvention
einverstanden.
Nun ist eine Rücknahme der Erklärung durch die
Bundesregierung allein, das heißt ohne Einbeziehung
der Länder, natürlich rein rechtlich möglich. Ein derartiges Vorgehen kommt für uns aber nicht in Betracht. Sollten sich die Länder also gegen eine Rücknahme der Erklärung aussprechen - es sieht genau so aus -, dann wird
diese Bundesregierung Rücksicht darauf nehmen. Frau
Gruß, Sie haben hier Krokodilstränen geweint. Ihre Partei ist in mindestens drei Länderregierungen. Stellen Sie
doch einmal einen Antrag im Bundesrat, dass hier die
Rücknahme der Erklärung beschlossen wird, und fangen
Sie nicht an, hier Tränen zu weinen.
({3})
- Ich bin sonst nicht so aggressiv, aber das hat mich
heute Abend gereizt.
({4})
Wir sollten uns hier doch alle eines klarmachen: Die
Rücknahme der Erklärung wäre natürlich ein politisches
Signal mit symbolischer Bedeutung, mehr allerdings
nicht. Es existiert ja verbreitet die irrige Vorstellung,
Deutschland habe sich mit seiner Erklärung den Verpflichtungen aus der Kinderrechtskonvention entziehen
wollen. Es wird auch behauptet, dass durch die Erklärung ein angemessener und völkerrechtlich verbürgter
Schutz für die Flüchtlingskinder verhindert wird. All
dies ist falsch.
({5})
Das deutsche Recht steht mit oder ohne Erklärung im
Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die
sich aus der Kinderrechtskonvention ergeben. Keinesfalls wird durch die Erklärung aber verhindert, dass die
rechtliche und tatsächliche Situation von Flüchtlingskindern verbessert wird. Ein Beispiel dafür sind die von Ihnen eben kritisierten Asylbewerberunterkünfte, wo man
vieles getan hat, um die Situation der Flüchtlingskinder
erheblich zu verbessern. Mit der Erklärung wird der
Handlungsspielraum der Politik und der Rechtsetzung
also nicht eingeengt. Es hängt letztlich vom politischen
Willen aller ab - auch in den Ländern -, nicht aber von
der Rücknahme der Erklärung, ob man vernünftige und
altersangemessene Bedingungen für Flüchtlingskinder
schafft.
Nun noch ganz kurz zur Großen Anfrage: Es ist natürlich richtig, dass Sie solche Anfragen stellen. Wir bemühen uns auch sehr, vernünftige Antworten zu geben. Es
dauert aber seine Zeit. Sie wird in naher Zukunft beantParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
wortet werden. Ich glaube, dass das noch vor der Sommerpause der Fall sein wird.
Sie werden dann sehen, dass diese Bundesregierung
alles getan hat und dass kein Flüchtlingskind darunter
leiden muss, dass dieser Vorbehalt bisher nicht zurückgenommen worden ist.
Kommen Sie also bitte auf den Boden der Tatsachen
zurück und lassen Sie uns gemeinsam das tun, was getan
werden kann.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik zur UN-Kinderrechtskonvention ist symptomatisch für den Umgang
mit Schutzbedürftigen in diesem Land.
({0})
Schon der Wortlaut verrät einiges über das Denken
seiner Autoren. In der Konvention heißt es nämlich: Alle
Kinder haben die gleichen Rechte. - Demgegenüber
steht im Vorbehalt der Bundesregierung - ich zitiere -:
Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern müssen gemacht werden. Mit anderen Worten: Kinderrechte
sollen nur die Rechte deutscher Kinder sein. Das widerspricht aber dem Grundgedanken der Konvention, dem
besonderen Schutzbedürfnis von Kindern universell
Gültigkeit zu verschaffen. Diese Diskriminierung trifft
in besonderer Weise Kinder, die besonders schutzbedürftig sind - meine Kollegin von den Grünen hat es schon
angesprochen -, zum Beispiel die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Im Alter von 16 und
17 Jahren gelten sie nach dem Asylverfahrensgesetz
schlichtweg als Erwachsene. Um ihr Alter bestimmen zu
können, werden sie nicht einfach gefragt; vielmehr werden sie entwürdigenden Behandlungen und fragwürdigen medizinischen Untersuchungen unterzogen. Davon
sind selbstverständlich auch Kinder betroffen, die noch
nicht einmal 16 Jahre alt sind.
Eine weitere Konsequenz der unvollständigen Umsetzung der Konvention ist, dass auch Minderjährige in
Abschiebehaft genommen werden. Das wurde eben bereits angesprochen. Herr Staatssekretär, allein im Jahr
2004 saßen in zwölf Bundesländern 240 Minderjährige
zwischen 16 und 17 Jahren in Abschiebehaft. Auch für
unbegleitete 16- und 17-jährige Flüchtlinge gilt das sogenannte Flughafenverfahren, das an sich schon eine sehr
fragwürdige und zweifelhafte Einrichtung ist.
Schließlich sind alle diese Jugendlichen von den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII ausgeschlossen. Alle bisherigen Bundesregierungen - darin
muss man den Kollegen recht geben, die das kritisiert
haben - einschließlich der SPD-Grüne-Bundesregierung
haben diesen Vorbehalt trotz vieler Anträge nicht zurückgenommen.
({1})
Es wird im Übrigen auch ignoriert, dass das UN-Komitee für die Rechte der Kinder noch im Jahr 2004 zahlreiche Kritikpunkte am deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht äußerte.
({2})
- Ich kann es Ihnen gerne geben, wenn Sie es nicht glauben.
Diese Beispiele zeigen: Der Vorbehalt ist die eine
Seite des Skandals; die entsprechenden Bestimmungen
im deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht sind die andere
Seite. Ich nehme Sie gerne beim Wort, Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, dass die geltenden Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen.
Wir werden auf jeden Fall darauf zurückkommen. Denn
tatsächlich müssten Sie sämtliche Gesetze im Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht ändern, wenn der Vorbehalt zurückgenommen wird.
Wir fordern die tatsächliche Gleichberechtigung aller
Kinder und den umfassenden Schutz minderjähriger
Flüchtlinge. Deswegen muss der Vorbehalt zurückgenommen und müssen vor allen Dingen die Gesetze den
internationalen Verpflichtungen angepasst werden.
Danke.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, ich habe die Erlaubnis, an dieser Stelle Klartext zu reden.
({0})
Dieser Klartext lautet, dass die SPD-Bundestagsfraktion
wie schon in der 14. und 15. Legislaturperiode klar und
deutlich die Rücknahme des letzten noch bestehenden
Vorbehaltes zur VN-Kinderrechtskonvention verlangt
und darauf hinarbeiten wird, dass es in den nächsten Monaten und Jahren dazu kommt. Das ist die klare Position
unserer Fraktion.
({1})
In Bezug auf das, was wir heute diskutiert haben,
möchte ich einige Fragen stellen. Ich bin nur Jurist. Vielleicht habe ich das eine oder andere nicht richtig verstanden.
Es gibt Feststellungen, dass die Erklärung nur der
Klarstellung dient, dass sie die Konvention inhaltlich
nicht berührt und keine eigene Regelungswirkung entfaltet. Wenn das so ist, dann frage ich Sie, wer in diesem
Land irgendeinen Schaden erleidet, wenn wir die Erklärung endlich zurücknehmen. Das ist doch die Realität,
und so müsste man, glaube ich, die politische Diskussion
führen.
({2})
Ich weiß auch - das ist ebenfalls ziemlich klar -, dass
dabei die Länder involviert sind. Darüber müssen wir
uns nicht den Kopf zerbrechen; das ist so. Ich will nicht
auf juristische Feinheiten eingehen. Ich bin aber nach
wie vor der Meinung, dass dann, wenn der politische
Wille gegeben ist - wir sollten darauf hinwirken -, die
Rücknahme der Erklärung allein durch die Bundesregierung theoretisch möglich wäre.
({3})
Denn bei der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention
mussten die Länder mit im Boot sein - das ist völlig
richtig -, weil Bereiche wie die Bildung davon berührt
waren. Aber alle Vorbehalte sind beseitigt, bis auf einen:
das Ausländer- und Asylrecht. Das liegt trotz Föderalismusreform weiterhin in der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Daher könnte man, wenn
man wollte, diesen Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention unter gegebenen Umständen zurücknehmen.
({4})
Darum geht es mir aber gar nicht. Ich will hier kein
Fass aufmachen, das nicht aufgemacht werden sollte. So
sind wir über Jahrzehnte mit dem Lindauer Abkommen
gut gefahren. Deshalb sollten wir diese Fragen politisch
klären. Nach meiner Meinung ist es eine politische Entscheidung. Wenn die Große Koalition - genauso wie
Rot-Grün - die Kinder- und Familienpolitik in den Mittelpunkt stellt - ich stehe dahinter; es stimmt auch -,
wenn wir darüber diskutieren, Kinderrechte in das
Grundgesetz aufzunehmen - was gut und richtig ist -,
und wenn wir an vielen Stellen die Kinderrechte stärken
wollen, dann passt es nicht dazu und schadet der Glaubwürdigkeit aller, die das betreiben, wenn wir uns an einer Stelle, an der es nichts kostet, querstellen und den
Vorbehalt weiter existieren lassen. Das geht meines Erachtens nicht.
({5})
Als Menschenrechtspolitiker kommt man viel in der
Welt herum. Wir fordern von vielen Regierungen in Ländern, die völlig andere Strukturen haben, zu Recht, sich
an die VN-Konvention zu halten, sie zu unterzeichnen,
zu ratifizieren und zu implementieren. Wenn ich in
China bin und von der chinesischen Regierung zu Recht
fordere, endlich den WSK-Pakt oder den Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu unterzeichnen und zu ratifizieren, dann fragen mich die chinesischen Vertreter kalt lächelnd, was wir mit der UN-Kinderrechtskonvention machen. Die Tatsache, dass
Deutschland neben Österreich das einzige Land ist, das
diesen Vorbehalt noch hat, schadet seinem internationalen Ansehen und gibt ihm kein gutes Renommee. Daher
sollten wir alles daransetzen, um diesen Vorbehalt endlich zu beseitigen.
({6})
Ich weiß, dass zu den Bundesländern, die sich gegen
eine Beseitigung des Vorbehalts stellen, sozialdemokratisch geführte Bundesländer und Bundesländer mit freidemokratischen Innenministern gehören. Wir schreiben
sie an und fordern sie dort auf, wo es uns möglich ist, zuzustimmen, damit dieser familienpolitische und internationale Skandal, den wir in Deutschland zu beklagen haben, endlich beseitigt wird. Der Vorbehalt muss weg.
Dafür sollten wir gemeinsam in diesem Hause streiten.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4735 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/4663 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes wurde die Befugnis des Zollkriminalamtes zur präventiven Telekommunikationsund Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich bis
zum 30. Juni dieses Jahres befristet. Bis zum Auslaufen
dieser Frist gilt es also, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung umzusetzen. Die Bundesregierung
hat ein Gesamtkonzept erarbeitet, um die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei allen Maßnahmen,
die Eingriffe in das durch Art. 10 des Grundgesetzes geschützte Fernmeldegeheimnis in Form einer Telekommunikationsüberwachung vorsehen, umzusetzen.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze wird
dieses Gesamtkonzept nun in einem ersten Schritt für
den Bereich der präventiven Telekommunikations- und
Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich umgesetzt. Ich weise ausdrücklich auf die Bedeutung dieses
Gesetzes hin. Ohne eine fristgerechte Anschlussregelung
entfiele die Befugnis des Zollkriminalamtes zur präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung im
Außenwirtschaftsbereich. Zu diesem Zeitpunkt möglicherweise laufende Überwachungsmaßnahmen müssten
dann abgebrochen werden.
Der hier in Rede stehende Bereich ist außenpolitisch
besonders bedeutsam. Die präventive Telekommunikations- und Postüberwachung dient dazu, die unzulässige
Ausfuhr hochsensibler Güter zu verhindern. Die Bundesregierung verfolgt eine sehr restriktive Exportkontrollpolitik unter anderem mit dem Ziel, der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wirksam zu
begegnen. Hierzu haben wir uns in vielen internationalen Vereinbarungen verpflichtet. Beispielhaft erwähne
ich die jüngste Resolution des Weltsicherheitsrats zum
Iran. Die präventive Telekommunikations- und Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich dient dazu,
den durch unzulässige Ausfuhren sensibler Güter entstehenden außenpolitischen Schaden für die Bundesrepublik Deutschland bereits im Vorfeld abzuwenden. Mit
dem Regierungsentwurf werden weitere Regelungen des
Zollfahndungsdienstgesetzes an die sich aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung ergebenden Anforderungen angepasst. Beispielhaft sind die Befugnisse zur Durchführung von Eigensicherungsmaßnahmen für verdeckte
Ermittler innerhalb von Wohnungen zu erwähnen.
Die im Gesetzentwurf enthaltenen Maßnahmen sehen
im Wesentlichen Folgendes vor: Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung greift bereits auf der
Anordnungsebene. Es ist unzulässig, Telekommunikationsüberwachung anzuordnen, wenn erkennbar ist, dass
allein Gespräche, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, Gegenstand der Maßnahme sein
werden. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht
verwertet und müssen unverzüglich gelöscht werden.
Die vorgeschlagene Regelung gewährt in verfassungskonformer Weise den Schutz des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung und trägt zugleich den Besonderheiten
einer Telekommunikationsüberwachung Rechnung.
Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird gestärkt. Zielgerichtete Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gegen Seelsorger, gegen Verteidiger und auch
gegen Abgeordnete sind grundsätzlich unzulässig.
({0})
Ausgenommen hiervon sind lediglich die Fälle, in denen
die genannten Personen selbst an der Vorbereitung einer
in § 23 a Abs. 1 oder 3 des Zollfahndungsdienstgesetzes
genannten Straftat - dies sind Verstöße gegen das Gesetz
über die Kontrolle von Kriegswaffen - beteiligt sind.
Dem Datenschutz dient die Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Daten, die aus verdeckten Maßnahmen
erlangt werden.
({1})
Dies gewährleistet, dass die Daten ordnungsgemäß und
zweckgebunden genutzt werden.
Der Gesetzentwurf beinhaltet neben den Änderungen
des Zollfahndungsdienstgesetzes auch Änderungen des
Zollverwaltungsgesetzes, des Außenwirtschaftsgesetzes
und des Bundesbesoldungsgesetzes. So werden zum
Beispiel die Befugnisse der Zollverwaltung zur Überwachung des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs zum
Zwecke der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung an die einschlägige EU-Verordnung
angepasst.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie
herzlich bitten, im Ausschuss zielgerichtet zu beraten,
damit wir rechtzeitig vor diesem genannten Termin dieses Gesetz in Kraft setzen können.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Die bisherige Bilanz zu diesem Gesetzgebungsvorhaben ist leider eine eher traurige; denn Ausgangspunkt war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004, das genaue Vorgaben
gemacht hat, wie die präventive Telekommunikationsund Postüberwachung durch das Zollkriminalamt
überhaupt geregelt werden könnte. In der damals vorliegenden Form war sie verfassungswidrig. Dann ist das
Zollfahndungsdienstgesetz, das angeblich eine solche
Neuregelung enthielt, verabschiedet worden, das - das
haben wir oft hier im Bundestag debattiert - gerade nicht
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils, und
zwar unter Berücksichtigung des Art. 10 des Grundgesetzes, ausreichend enthalten hat. Seine Geltungsdauer
war deshalb auch nur befristet. Diese Geltungsdauer ist
aber zu Beginn dieser Legislaturperiode - dies war Gegenstand der letzten Debatte, die wir hierzu geführt
haben - bis Juni dieses Jahres verlängert worden. Es
waren schon wieder eineinviertel Jahre vergangen, bis
ein Gesetzentwurf vorgelegt worden ist. Der Zeitrahmen, in dem der Entwurf behandelt werden soll, ist
ziemlich begrenzt. Bis Mitte Juni dieses Jahres soll ein
verfassungskonformer Zustand hergestellt sein.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
steht in einem Zusammenhang: zum einen mit der am
selben Tag im Jahre 2004 verkündeten Entscheidung
zum Großen Lauschangriff, zum anderen - gerade was
die präventive Telekommunikationsüberwachung angeht mit der Entscheidung zum niedersächsischen Polizeigesetz im Jahre 2005. Auch im Lichte dieser Entscheidungen gilt dennoch bis Mitte dieses Jahres diese Regelung,
die aus unserer Sicht nicht verfassungskonform ist, was
wir immer wieder angemahnt haben.
Wenn man den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf liest,
hat man den Eindruck, dass er vielleicht eine Verbesserung ist. Man macht deutlich: Man will Bedenken, die
geäußert worden sind, aufgreifen. Wir als FDP sind der
Meinung, dass sehr gründlich geprüft werden muss, ob
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts - ihr Ziel
ist, den Kernbereich privater Lebensgestaltung mit den
Vorgaben für die Telekommunikationsüberwachung,
also nicht nur für das Abhören in Wohnungen, in Einklang zu bringen - in angemessener, richtiger und geeigneter Weise umgesetzt werden. Ich möchte beispielhaft
zwei Punkte dieses Gesetzentwurfs herausgreifen, die
nach unserer Auffassung in dieser Form nicht beibehalten werden können - ich kann hier nicht abschließend
auf sämtliche infrage kommende Punkte eingehen -:
Erstens. Die Eigensicherung durch den Einsatz
technischer Mittel außerhalb von Wohnungen soll auch
zur Aufdeckung unbekannter Straftaten möglich sein;
ich beziehe mich auf den neuen § 22 dieses Gesetzentwurfs. Man lehnt sich damit an eine entsprechende Regelung in der Abgabenordnung zur Erforschung unbekannter steuerlicher Sachverhalte an. Ich will nur
andeuten, dass schon das Ziehen dieser Parallele etwas
abwegig ist. In der Begründung heißt es ausdrücklich,
dass man Initiativermittlungen ohne Anfangsverdacht
wolle. Allerdings besagt sogar die Abgabenordnung,
dass zumindest abstrakte Anhaltspunkte dafür vorliegen
müssen, dass es sich überhaupt um ein entsprechendes
Verhalten, um einen entsprechenden Tatbestand handelt.
Wenn man eine Parallele zur Abgabenordnung zieht,
dann sollte man erkennen, dass allein schon diese Vorgaben in diesem Gesetzentwurf nicht eingehalten worden
sind.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier die Regelung zum
Schutz von Berufsgeheimnisträgern ausgeführt. Gerade der unterschiedliche Schutz von Berufsgeheimnisträgern - sie werden hier in zwei Gruppen aufgeteilt - ist
in dieser Form nicht gerechtfertigt. In meinen Augen
entspricht diese Regelung mit dieser Begründung und
dieser Aufteilung nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Ich denke dabei insbesondere an das Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung.
Gerade in der Begründung dieser Bestimmungen in
diesem Paragrafen wird auf die Entscheidung zum niedersächsischen Polizeigesetz Bezug genommen: Es lasse
sich nach der Erfahrung bei der Telekommunikationsüberwachung nicht ausschließen, dass kernbereichsrelevante Inhalte, also auch solche Gespräche, die der
Staat - auch nach Abwägung - nicht abhören darf, erfasst werden. Es wird aber nicht ausgeführt, dass das
Bundesverfassungsgericht festgestellt hat: Nur in Ausnahmefällen, nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte
wirklich einen Bezug auf die unmittelbar bevorstehende
Begehung einer Straftat nahelegen, ist diese Form der
Erfassung von Telekommunikationsinhalten zulässig.
Wir haben im Rechtsausschuss bereits beschlossen, eine
Anhörung durchzuführen. Es gibt mehr als genug
Gründe, um sich mit diesem Stoff zu befassen.
Eine letzte Bemerkung. Der Rechtsausschuss kann
dem, was der Bundesrat zur Nichtlöschung von beweisrelevantem Material zum Teil ausführt, nicht zustimmen.
Ein einziger Blick in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt nämlich, dass es den im Bundesverfassungsgerichtsurteil gemachten Vorgaben eklatant widerspricht. Wir wollen eine rechtsstaatlich
einwandfreie Regelung; dem haben wir uns nie verwehrt. Hier haben wir noch ausreichend Beratungsbedarf.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU, hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1)
Deswegen ist der nächste Redner Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen hierüber diskutieren, weil die FDP das
gesprochene Wort haben wollte; das kann sie haben.
Das ist jetzt der dritte Versuch, ein verfassungsgemäßes Zollfahndungsdienstgesetz auf den Weg zu bringen.
({0})
- Doch, der dritte Versuch. - Beim zweiten Versuch wa-
ren wir dabei. Danach, bei dem halben Versuch im
Dezember 2005, waren wir schon nicht mehr dabei. Jetzt
sind wir jedenfalls so auch nicht dabei, obwohl wir
einsehen - das haben wir immer gesagt; wir halten das
für richtig und notwendig -, dass der Zoll damit zu be-
auftragen ist, zu verhindern, dass von deutschen Firmen
etwa Teile ins Ausland geliefert werden, aus denen man
Giftgasfabriken oder Ähnliches herstellen kann. Das ist
nicht reine Fantasie, sondern das war Realität, beispiels-
weise in Libyen in den 80er-Jahren. Ähnliche, vielleicht
1) Anlage 2
nicht ganz so bekannte und dramatische Beispiele gibt es
auch aus der Zeit danach. Wir sind uns einig: Das darf
nicht sein. Da muss man in Deutschland rechtzeitig Vorsorge treffen, und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil
sonst der Ruf der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beschädigt werden könnte - das ist ein Nebenaspekt -,
sondern weil es völlig unerträglich ist, wenn wir nicht alles tun, um zu verhindern, dass Menschen in anderen
Ländern gefährdet werden.
({1})
Nun haben Sie einen neuen Entwurf vorgelegt. Herr
Kollege Stünker, ich darf Sie an all die Diskussionen erinnern, die wir geführt haben. Sie hätten sich diesen
neuen Gesetzentwurf ersparen können - das muss man
hier einmal ganz klar sagen -, wenn Sie damals auf uns
gehört hätten.
({2})
Wir haben damals nach langem Hin und Her ein Gesetz
verabschiedet, das wirklich sehr viel besser ist als das,
was vorher da war, vor allen Dingen sehr viel schlanker
und ein bisschen verständlicher, wenn auch nicht voll
verständlich. Das war ein großer Fortschritt. Wir waren
auch stolz darauf, dass wir das geschafft haben. Aber
was fehlte, war eine ausreichende datenschutzrechtliche Regelung.
Wir haben eine solche Regelung immer angemahnt.
Wir haben gesagt: Gerade der Kernbereich privater Lebensführung muss tabu sein. Uns wurde dann immer entgegengehalten: Wenn die vom Zoll losgehen, dann wollen die sowieso nicht in Wohnzimmer oder in
Schlafzimmer, sondern in Fabriken; deshalb ist da der
Schutz nicht notwendig. - Das haben wir schon damals
nicht eingesehen. Wir haben dem Gesetz dann aber zugestimmt, um keine Schutzlücke entstehen zu lassen.
Wir waren uns darüber einig, dass da nachgebessert werden muss, um eine bessere allgemeine datenschutzrechtliche Regelung für die Telekommunikationsüberwachung zu erlangen.
Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist aus mehreren Gründen nicht ausreichend:
Erstens fehlt - das haben wir immer wieder angemahnt - das Zahlenmaterial darüber, welche Erfahrungen mit dem Gesetz in der letzten Fassung eigentlich gemacht worden sind. Sie sind verpflichtet, das bis zum
Jahr 2008 vorzulegen. Das könnten Sie jetzt vorlegen.
Die datenschutzrechtlichen Regelungen, die Sie hier
vorsehen, werden durch eine massive Ausweitung der
Überwachung der Bürgerinnen und Bürger bzw. der
Möglichkeiten dazu eigentlich völlig aufgehoben. Sie
wollen jetzt nicht nur den Großen Lauschangriff einführen, sondern auch den großen Guckangriff. Es steht im
Entwurf: In Zukunft soll es möglich sein, heimlich nicht
nur abzuhören, sondern auch in Wohnungen, in Geschäftsräume, in Büros usw. zu sehen, das aufzunehmen
und festzuhalten. Das ist ein riesiger Schritt. Dazu hat
sich das Bundesverfassungsgericht noch gar nicht verhalten können, weil es so etwas in anderen Bereichen
bisher noch gar nicht gibt.
Auf einen zweiten erheblichen Mangel ist bereits hingewiesen worden. Im Gesetz steht: Geschützt werden
sollen die Zollfahnder, die unterwegs sind, wenn sie in
erhebliche Lebensgefahr oder so etwas kommen. Aber
Sie schränken überhaupt nicht ein, wann denn dann abgehört oder geguckt werden darf, ob das schon Wochen
vorher, einen Tag vorher, danach noch oder nur dann,
wenn die Zollfahnder in den jeweiligen Räumen sind,
möglich sein soll. Uns reicht das nicht aus.
Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren. Wir wollen
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang umsetzen. Deshalb muss im Kernbereich mehr getan werden. Deshalb muss vor allen Dingen für die
Berufsgeheimnisträger viel mehr gemacht werden. Es
ist überhaupt nicht einsichtig, warum Verteidiger geschützt sind, aber Rechtsanwälte weniger und Journalisten noch weniger. Dafür gibt es keine ausreichende sachliche Begründung.
Herr Kollege Ströbele!
Das machen wir nicht mit. Wir sind aber bereit, bei
der Novellierung dieses Gesetzes mitzuwirken, weil
auch uns der Schutz der Bevölkerung in anderen Ländern, möglicherweise auch im eigenen Land, vor den
Folgen unerlaubter Exporte
Herr Kollege Ströbele! Ich erinnere Sie jetzt an Ihre
Zeit.
({0})
- von Waffenfabriken genauso wichtig ist wie Ihnen
allen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Anmerkungen, Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger: Erstens. Die erste Verfassungswidrigkeit, die wir zu beheben hatten, betraf ein Gesetz, das zu
Ihrer Amtszeit erlassen wurde. Zweitens. Machen Sie
Ihre Ausführungen zur Verfassungsgemäßheit im Zusammenhang mit Bürgerrechten bitte auch in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo Ihre Kolleginnen
und Kollegen an den Landesregierungen beteiligt sind.
({0})
Am 15. Dezember 2005 habe ich hier in diesem Hohen Hause das Versprechen abgegeben, dass wir binnen
18 Monaten eine verfassungskonforme Regelung im
Bundesgesetzblatt stehen haben werden. Wir legen Ihnen daher heute den Entwurf vor, mit dem wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli
2005 umsetzen wollen. Wir folgen damit dem Gebot des
Gerichtes, dass auch bei Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen Regelungen zum Schutz des Kernbereiches der privaten Lebensgestaltung erforderlich
sind, Herr Kollege Ströbele.
Als Neuregelung haben wir folgenden Satz vorgesehen: Abhörmaßnahmen
sind unzulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte
für die Annahme vorliegen, dass durch sie allein
Kommunikationsinhalte aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden.
({1})
- Genauso ist das. - Ich bin ganz sicher, über das Wörtchen „allein“, Herr Kollege Ströbele, werden wir lange
in der Sachverständigenanhörung und bei den Beratungen im Ausschuss diskutieren. Wir haben bereits den
Termin für die Anhörung festgelegt: Sie findet am
25. April statt. Ich freue mich mit Ihnen allen auf eine
zügige Beratung.
Schönen Dank.
({2})
Der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke,
hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/4663 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
- Drucksache 16/4736 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 2
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um
meinem Unverständnis hier gleich vorab Luft zu machen: Es ist mir wirklich schleierhaft, warum sich nur
meine Fraktion, die FDP, hier aktiv mit der Bodenschutzrichtlinie auseinandersetzt. Alle anderen Fraktionen sind ja scheinbar abgetaucht.
({0})
Weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktionen haben sich bisher dazu schriftlich oder auf andere
Weise irgendwie öffentlich geäußert. Ich denke, es
scheint Ihnen ein wenig gleichgültig zu sein.
({1})
Man muss sehen: Sie tragen mit dazu bei, dass die europäische Richtlinie jetzt überreguliert wird. Das wird uns
irgendwann noch einmal auf die Füße fallen.
({2})
In der Orientierungsdebatte des Europäischen Rates
am 20. Februar konnte sich die Bundesregierung nicht
zur Sache äußern, da sie ja derzeit den Ratsvorsitz innehat. Alle anderen Mitgliedstaaten haben sich aber mehrheitlich für rechtsverbindliche Vorgaben zum Bodenschutz unter Wahrung von Subsidiarität und
Verhältnismäßigkeit ausgesprochen. Es ist sehr schade,
dass es im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages, obwohl wir zunächst auf einem guten Wege waren,
nicht möglich war, einen interfraktionellen Entschließungsantrag zum Richtlinienentwurf auf den Weg zu
bringen. Genau das hätte der europäische Bodenschutz
gebraucht.
({3})
Es ist bekannt - das ist ja kein Geheimnis -, dass der
vorliegende Antragstext von den Kollegen Petzold und
Müller auf den Weg gebracht wurde. Sie müssen jetzt
dieses Desaster miterleben. Mein herzliches Beileid,
liebe Kollegen!
Insbesondere die Bedenken des Bundesrates sind in
den Antrag mit eingeflossen, vor allem - das richte ich
besonders an die Kollegen von der CSU - die Bedenken
des Freistaats Bayern.
({4})
Ich weiß nicht, warum dieser Antrag nun am Veto der
CSU scheitert; ich bin völlig irritiert.
({5})
- Ich weiß auch nicht, was in Bayern los ist.
Der Umweltausschuss hat dieses EU-Dokument nur
zur Kenntnis genommen. Das heißt, dass das Thema von
der Tagesordnung verschwunden ist. Wir haben damit
eine wichtige Gelegenheit verpasst, mitzubestimmen,
wie diese EU-Richtlinie ausgestaltet wird. Mit diesem
Versäumnis lassen wir auch die Unternehmen, die auf
Wettbewerbsgleichheit hoffen, im Prinzip im Stich.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag
der Liberalen ist Ihre letzte Chance, die Bundesregierung aufzufordern, im Sinne der deutschen Interessen
beim europäischen Bodenschutz aktiv zu werden. Ich
hoffe sehr, Sie sind sich Ihrer Verantwortung bewusst.
Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Standard
im vor- und nachsorgenden Bodenschutz. Es ist nicht erforderlich, dass die auf EU-Ebene geplanten Regelungen
über die in Deutschland vorhandenen Vorleistungen hinausgehen.
Der geforderte integrative Ansatz, wie er in Art. 3 der
EU-Richtlinie verlangt wird, wird in Deutschland durch
nationales und auch durch EU-Recht schon heute praktiziert. Weitere europäische Vorgaben sollten auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden.
Insbesondere - das wurde auch vom Bundesrat, insbesondere von Bayern, betont - ist uns wichtig, dass die
Subsidiarität und der Erhalt des in Deutschland erreichten Bodenschutzstandards gewahrt bleiben.
({6})
Wir meinen, dass die Standards und Berichtspflichten so
ausgestaltet werden sollen, dass zum Beispiel ausschließlich Tätigkeiten, nicht aber pauschal Anlagentypen berichtspflichtig werden. Denn sonst würde das über
das hinausgehen, was sinnvoll ist.
Wichtiger Maßstab sollten in Zukunft einzig und allein die zu erzielenden Erfolge beim Zustand der Böden
sein. Gerade im Hinblick auf die östlichen und südlichen
Länder der Europäischen Union ist die Verbesserung der
Bodenpolitik insgesamt wünschenswert. Hier kann die
Bundesregierung auf Basis der in Deutschland gewonnenen Erfahrungen konstruktiv auf den weiteren Verhandlungsprozess und den Gesetzgebungsprozess Einfluss
nehmen. Dazu fordern wir Sie mit unserem Antrag heute
auf. Unsere Vorschläge - ich kann es nicht oft genug
wiederholen - entsprechen dabei dem Beschluss des
Bundesrates; das ist nahezu identisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beklagen uns
als Parlamentarier oft genug darüber, dass wir auf die
EU-Vorlagen mitunter nur noch reagieren können und
dass wir hinterhergaloppieren. Diesmal hätten wir wirklich agieren und aktiv Einfluss nehmen können. Wir haben diese Chance wahrscheinlich verpasst. Ich appelliere
an Ihre Verantwortung, sich den Aufgaben des Bodenschutzes in Europa zu stellen und die Verpflichtung gegenüber den betroffenen Unternehmen und Betrieben
wahrzunehmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Brunkhorst, es ist jetzt 21.38 Uhr, und
wir debattieren über das Thema. Von Gleichgültigkeit
kann also keine Rede sein.
Es geht hier aus unserer Sicht vielleicht gar nicht
schwerpunktmäßig um die Frage des Bodenschutzes,
sondern um ein sehr viel wichtigeres Thema, nämlich
die Zuständigkeit der Europäischen Union. Die Politik der Europäischen Union leidet in besorgniserregender Weise unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung. Das sage nicht
ich, sondern das sagt kein Geringerer als der ehemalige
Bundespräsident Roman Herzog. Ich meine, er hat damit
recht.
({0})
Die EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Nährboden für ebendiese Analyse, für ebendiesen Eindruck. Es
ist bodenlos, wenn 84 Prozent unserer Rechtsakte im
Zeitraum von 1998 bis 2004 substanziell aus Brüssel
stammen. Es ist bodenlos, wenn wir der parlamentarischen Demokratie mehr und mehr den Boden entziehen.
Die Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Musterbeispiel
und bester Beleg dafür, dass Roman Herzog recht hat.
({1})
Es ist doch unstrittig, dass die EU jedenfalls nicht
ausschließlich zuständig ist. Jetzt ist die Frage: Ist die
Europäische Union überhaupt zuständig? Wenn sie nicht
ausschließlich zuständig ist, dann gilt das Subsidiaritätsprinzip: Die Gemeinschaft wird nur tätig, sofern die
Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der
Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht
werden können. Die Bundesrepublik Deutschland - da
geben Sie mir hoffentlich recht - hat doch gezeigt, dass
wir das Thema Bodenschutz selber in nationaler Zuständigkeit - und zwar vorbildlich - regeln können.
({2})
Das, meine ich, sollte unstrittig sein. Deshalb ist die Europäische Union an der Stelle nicht zuständig; da kann
man Anträge formulieren, soviel man will.
({3})
- Aber Ignoranz vonseiten der Europäischen Union,
nicht von uns; denn sie sagt, sie sei für Dinge zuständig,
für die sie faktisch nicht zuständig ist.
Man muss sich einmal fragen, wo an dieser Stelle das
Einfallstor für die Europäische Union ist. Als die Debatte losging, habe ich scherzhaft gesagt: Wahrschein8980
lich wird eine grenzüberschreitende Bodenerosion
behauptet. Da haben alle gelacht. Als ich das entsprechende Dokument aufgeschlagen habe, habe ich nicht
gelacht; denn genau das wird darin behauptet: Es gebe
eine grenzüberschreitende Bodenerosion durch Flüsse.
Das ist vollständig lächerlich.
({4})
Wo ist denn das Realität, wo spielt denn das eine Rolle?
Nirgends, meine Damen und Herren! Offensichtlich haben auch die Kollegen auf der europäischen Ebene, die
das geschrieben haben, gemerkt, dass das hanebüchen
ist. Daher haben sie dann natürlich das angehängt, was
immer das generelle Einfallstor für die Europäische
Union ist, nämlich das Thema Binnenmarkt und Wettbewerbsverzerrungen.
({5})
Damit können sie letztendlich jede Kompetenz, die sie
von der nationalen Seite holen wollen, an sich ziehen.
An dieser Stelle sollte man aber bitte nicht ansetzen; da
gibt es ganz andere, besser geeignete Baustellen, zum
Beispiel im Bereich des Steuerrechts und im Bereich des
Sozialrechts.
Jedenfalls bin ich der Meinung, dass man den Bodenschutz subsidiär in nationaler Zuständigkeit und individuell regeln kann. Es macht einen Unterschied, ob es um
Boden in Spanien oder um Boden bei uns geht. Auch das
sollten wir an dieser Stelle einmal sagen.
Ihrem Antrag - in dem viel Gutes steht, nämlich das,
was Sie vom Bundesrat und von der bayerischen Seite
abgeschrieben haben - kann man unter dem Strich deshalb nicht zustimmen, weil darin steht, die Subsidiarität
sei gewahrt, wenn man eine solche Rahmenrichtlinie beschließt, und weil der Brüsseler Allmachtsanspruch darin ausdrücklich begrüßt wird.
Wir müssen uns aber natürlich auch überlegen, was
nun passieren wird und wie es jetzt weitergeht. Der Einfluss des Parlaments wird nicht so sein, wie er an der
Stelle sein müsste. Wir werden erleben, dass sich die
Fachminister einig sind und dass sie auf die Gewaltenteilung, auf die parlamentarische Demokratie und auf die
Subsidiarität schlichtweg pfeifen werden. Wir werden
auch erleben, dass es eine Illusion ist, zu glauben, wir
könnten den deutschen Standard vorgeben und sagen:
Über das hinaus, was wir schon haben, darf nichts geschehen. - Wir werden erleben, dass es eine Illusion ist,
zu glauben, dass die EU nicht über das Ziel hinausschießt.
Betroffen werden am Ende die Landnutzer sein, die
Land- und Forstwirtschaft, diejenigen, bei denen ein Eigeninteresse des Eigentümers vorliegt und bei denen
man auf Eigenverantwortung setzen kann - zu Recht,
wie ich meine.
({6})
Genau das, was der Staatssekretär Müller sagt, wird passieren: Wir werden wieder einmal Bürokratie statt Eigenverantwortung als neue Perspektive erleben. Die
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land spüren das ganz
genau. Deshalb geht die Akzeptanz der Europäischen
Union auch permanent zurück. Bevor jemand schreit, ich
sei ein Europagegner - das versucht man ja, der CSU allenthalben in die Schuhe zu schieben -, sage ich: Nein,
ganz im Gegenteil, wir sind glühende Verehrer des europäischen Gedankens. Aber wir erleben in den letzten
Jahren, dass das Pferd Europa, das uns zu Frieden und
Wohlstand getragen hat, von den Brüsseler Bürokraten
nach und nach zu Tode geritten wird.
({7})
- Eine bayerische Bundespolitik wollen Sie nicht, weil
dann die FDP keine Rolle spielen würde;
({8})
das ist mir schon klar. Denn dann hätten wir auch hier
natürlich eine klare Mehrheit.
Wir wollen ein Europa der Bürger, ein Europa der
Nationalstaaten und der Parlamente. Ich kann an die
Kolleginnen und Kollegen Umweltpolitiker nur appellieren: Lassen Sie sich nicht vom Charme europäischer
Umweltpolitik blenden! Wenn die EU auch noch beim
Thema Bodenschutz, bei einem Thema, das keinerlei
grenzüberschreitende Bedeutung hat - außer einer, die
an den Haaren herbeigezogen ist -, an Boden gewinnt,
dann können wir in der Konsequenz die komplette Umweltpolitik sofort nach Brüssel abgeben und brauchen uns
jedenfalls mit diesem Thema nicht mehr zu beschäftigen.
Wir können dann Voten abgeben, die lauten: Kenntnisnahme und Übernahme. Das wäre die Konsequenz dessen.
Ich kann an dieser Stelle, wenn wir, wie Sie vorhin
gesagt haben, im Boot bleiben wollen, nur eines tun,
nämlich an den Staatssekretär und den Minister zu
appellieren, dass auch sie sich ihrer Verantwortung
bewusst sind und darauf drängen, klarzumachen: Die
Europäische Union ist nicht zuständig. Das ist und bleibt
ein nationales Thema.
Ich kann an die Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag nur appellieren: Hier geht es doch
nicht um irgendein umweltpolitisches Randthema. Hier
geht es doch um unser Selbstverständnis im Deutschen
Bundestag,
({9})
darum, dass uns, so wie es das Bundesverfassungsgericht
im Maastrichturteil formuliert, letztendlich substanzielle
Rechtssetzungskompetenz verbleiben muss. Das ist
doch unser Anspruch. Da geht es doch an erster Stelle
um uns und darum, dass wir das tun, was die Bürgerinnen
und Bürger von uns verlangen, wofür wir uns letztendlich
parlamentarisch-demokratisch verantworten müssen.
Ich meine, es geht nicht allein um den Bodenschutz.
Es geht um den Boden unserer Demokratie und um den
Boden des Deutschen Bundestages. Den würde ich mir
ganz ungern einfach von der EU entziehen lassen.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bodenschutzstrategie und der Entwurf der Rahmenrichtlinie werden nicht nur von der FDP kritisiert. Auch die
Umweltverbände sind unzufrieden, allerdings auf andere
Weise. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen
verrate, wessen Kritik wir im Wesentlichen teilen.
Das Europäische Umweltbüro stellt fest, dass die
Rahmenrichtlinie kaum konkrete Ziele oder einheitliche
Qualitätsstandards festschreibt. Auch wir meinen, durch
ihre Unbestimmtheit wird das Tor für Ausweichmanöver
jener Mitgliedstaaten geöffnet, die momentan wenig
Interesse an einem EU-koordinierten Bodenschutz
zeigen, beispielsweise Großbritannien oder auch Österreich. Wien will nicht einmal Risikogebiete ausweisen,
weil dies den Bodenwert negativ beeinflussen könne und
damit ein Eingriff in das Eigentum sei. Das befürchtet
offensichtlich auch die FDP. Sie will ja mit ihrem Antrag
die Richtlinie auch in diesem Punkt verwässern.
Die Linke begrüßt dagegen ein europäisches Gesetz
für den Bodenschutz.
({0})
Denn bisher werden die Böden in der EU nur lückenhaft
und indirekt über EU-Rechtsakte mit anderen Grundzielen
geschützt.
Es stimmt, Deutschland hat mit der Verabschiedung des
Bundes-Bodenschutzgesetzes für dieses Umweltmedium
bereits einen Rechtsrahmen geschaffen; da stimmen wir
der FDP zu. Die Liberalen übersehen jedoch, dass die
Richtlinie nicht für Deutschland, sondern für alle Mitgliedsländer gemacht wird. Manche davon haben hier
größere Defizite. Das spricht unserer Ansicht nach für
eine europäische Gesetzgebung. Wir wollen eine mit Biss.
Zudem ist auch der deutsche Bodenschutz nicht der
Gipfel der Nachhaltigkeit. Zwar haben wir auf dem Gebiet
der Altlastenerfassung und -sanierung einige Fortschritte
gemacht. Allerdings sind die meisten davon im Osten
erzielt worden. Die neuen Grundstückseigentümer wurden
nach der Wende ja nur dann von der Treuhand von der
Sanierung der Altlasten befreit, wenn diese zuvor in einer
bestimmten Frist ermittelt wurden. Das hatte eine hektische
Altlastensuche großen Umfangs zur Folge. Schließlich
hat der Staat ja allen Investoren und auch Spekulanten
die Sanierung bezahlt.
Im Westen - machen wir uns nichts vor - liegen noch
jede Menge unentdeckter Altlasten in den Böden, von
denen wir noch gar nichts oder nur wenig wissen. Bei
der Sanierung wird im Bundes-Bodenschutzgesetz das
jeweilige Sanierungsziel abhängig gemacht von der jeweils
nachfolgenden Nutzung. Wir haben das damals schon
kritisiert. Dieses Vorgehen hat nur wenig mit vorsorgendem
Bodenschutz zu tun. Denn so wird der Boden nur als
Wirtschaftsgut und nicht in seiner Funktion als Lebensraum und Wasserspeicher begriffen.
Die neue Bodenschutzstrategie könnte also auch
Deutschland auf die Sprünge helfen. Leider sind die vielfach unpräzisen Formulierungen des Richtlinienentwurfs
da wenig hilfreich. Bleibt es dabei, dann wird tatsächlich
nur jene Bürokratie erzeugt, die die FDP befürchtet.
Noch zum Schluss. Wir hatten im Umweltausschuss
eine Diskussion über eine Veränderung beim Bodenschutzgesetz. Die Linke hatte das beantragt. Es ging um
den Standort Schonungen bei Schweinfurt.
({1})
Dort wurden Menschen ins Elend getrieben und mussten
für Dinge bezahlen, die sie nicht verursacht hatten. Es
ging um Arsen, um tausendfach höhere Werte als erlaubt.
Damit so etwas nie mehr passiert und damit die Menschen
gesund leben können, brauchen wir eine gute Bodenschutzrahmenrichtlinie. Das ist dringend notwendig. Ich
appelliere an Sie: Da muss wirklich etwas passieren, damit
sich so etwas wie in Schonungen an anderen Altlastenstandorten nie mehr wiederholen kann.
({2})
Das Wort hat der Kollege Detlef Müller von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Brunkhorst, ich muss und ich will Ihnen
ein Kompliment aussprechen: Sie haben die gute Qualität
des ursprünglichen Entschließungsantrages der Koalitionsfraktionen nicht nur erkannt. Nein, Sie haben den Antrag
sogar noch konstruktiv weiterentwickelt. Sie, verehrte
Kollegen der FDP, haben im Vergleich zur ursprünglichen
Fassung unter anderem die Zeile „fordert der Ausschuss
auf“ durch die Zeile „fordert der Deutsche Bundestag
auf“ ausgetauscht. Für diese inhaltliche Mitarbeit haben
Sie Respekt verdient.
Nein, Spaß beiseite, es soll nur gezeigt werden, worum
es Ihnen wirklich geht: nicht um die wichtige Sache
Bodenschutz an sich, sondern nur um Populismus und
die Vorführung der Koalitionsfraktionen.
({0})
Detlef Müller ({1})
Sie haben sich gar nicht erst an die Arbeit gemacht,
konstruktiv an unserem Antrag mitzuarbeiten. Da hilft
Ihnen im Übrigen auch Ihre eigene Pressemitteilung
vom 7. März nicht unbedingt weiter, wenn Sie da ausführen - ich zitiere -:
… dass sich Rot, Schwarz und Gelb nach intensiven
Vorgesprächen in dieser Problematik einig waren.
Wann war denn Gelb eigentlich dabei? Sie haben im Forderungsteil unseren Antrag eins zu eins übernommen, kurz
gesagt: abgeschrieben. Sie haben dafür aber im Feststellungsteil unterschiedlichste Positionen der Koalition, der
Agrarlobby und des Bundesrates zusammengetragen und
den eigentlichen Zielansatz vollkommen verkleistert. Sie
benutzen den Antrag heute nur als Werkzeug, um einen
Keil zwischen die Koalitionsfraktionen zu treiben.
({2})
Ich muss zugeben, dass es wegen des Entschließungsantrages Differenzen zwischen den Umwelt-Arbeitsgruppen der SPD und der Union gab, vor allem deshalb,
weil Herr Petzold und ich lange konstruktiv über diesen
Antrag beraten haben
({3})
und uns nach wochenlangen Verhandlungen endlich am
Ziel wähnten. Leider hat die Union dann kurz vor der
Ausschusssitzung ihre Zustimmung zurückgezogen.
Dadurch wurde die Chance verpasst, schon im Vorfeld
der Beratungen in Brüssel eine Stellungnahme des
Deutschen Bundestages abzugeben. Das war und das ist
bedauerlich.
Unser Boden erfüllt eine ganze Reihe lebenswichtiger
Funktionen für Mensch und Umwelt. Er ist Lebensraum
an sich und dient zur Erzeugung von Lebensmitteln, ist
Teil der Landschaft und des kulturellen Erbes und nicht
zuletzt auch Rohstofflieferant. Er erfüllt damit unverzichtbare ökologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Funktionen und soll somit auch als Lebensgrundlage für
künftige Generationen dienen.
Etwas ganz Wichtiges muss in diesem Zusammenhang
noch einmal gesagt werden: Weil der Boden eben keine
erneuerbare Ressource darstellt, kommt seinem Schutz
eine herausragende Bedeutung zu. Wenn es auch manchmal auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, können
Verschlechterungen der Bodenqualität gravierende Auswirkungen auf andere Bereiche wie Wasser, Gesundheit,
Klimawandel, Naturschutz oder unsere Artenvielfalt haben.
({4})
Es steht außer Frage, dass die Böden in Europa einer
vielfachen Beanspruchung und Belastung ausgesetzt
sind. Aus Sicht der Europäischen Kommission gilt es
deshalb, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die
Böden vor Überlastung zu schützen, insbesondere weil
in letzter Zeit viele ost- und südosteuropäische Länder
Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworden sind,
die sich noch mit den Hinterlassenschaften aus vergangenen Zeiten herumschlagen müssen. Außerdem sind
zunehmend auch in Europa Überschwemmungen, Erdrutsche und Versteppungen zu beobachten, die ernste
Hinweise auf negative Veränderungen darstellen.
Die Europäische Kommission verfolgt mit ihrem
Vorschlag für eine europäische Bodenschutzrichtlinie
hauptsächlich das Ziel, dass es zu einer Harmonisierung
des europäischen Bodenrechtes kommt. Der Vorschlag
der Kommission hat in den meisten Mitgliedstaaten
grundsätzliche Zustimmung erfahren: Für viele Mitgliedstaaten ist es nachvollziehbar, dass der Bodenschutz
einer europäischen Regelung bedarf; daher unterstützt
auch die Bundesregierung grundsätzlich den Richtlinienvorschlag.
Allerdings formierte sich im Bundesrat, hier vor allem
im Agrarausschuss, erheblicher Widerstand gegen den
Entwurf der Kommission. Der Bundesrat argumentierte,
diese Richtlinie sei überflüssig, da in Deutschland im
Bereich des Bodenschutzes in Gesetzgebung und Praxis
bereits seit Jahren ein hoher Standard existiere. In der
Tat gibt es in Deutschland bereits nationale und regionale
Bodenschutzkonzepte. So haben die Bundesländer eigene
Bodenschutzgesetze. Der Bund hat seit 1998 ein eigenes
Bodenschutzrecht. Nach Auffassung des Bundesrates
rechtfertigt das Argument, dass einzelne Mitgliedstaaten
noch kein entsprechend hohes Schutzniveau vorweisen
können, nicht das Harmonisierungsbestreben der Kommission. Der Bundesrat lehnte die von der Kommission
beabsichtigten Regelungen auch aus Furcht vor einem
Mehr an Bürokratie ab.
Zwar muss man die Einwände des Bundesrates ernst
nehmen - die Kritik am ersten Entwurf war zum Teil
gerechtfertigt -, aber man muss auch festhalten, dass
sich der Richtlinienvorschlag der Kommission dafür
ausspricht, bereits bestehende, bewährte nationale oder
regionale Bodenschutzkonzepte und gesetzliche Regelungen nicht infrage zu stellen sowie den Spielraum der
Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Bodenschutzpolitik zu wahren. Die Richtlinie steht eben nicht im
Gegensatz zum deutschen Bodenschutzrecht und sieht
auch keine Verschärfung vor. Im Gegenteil: Das deutsche
Bodenschutzrecht könnte vielmehr als Grundlage für
nationale Bestrebungen im Bereich des Bodenschutzrechtes anderer Mitgliedstaaten dienen.
({5})
Das Bundesumweltministerium und die Koalitionsfraktionen im Bundestag haben nach mehreren Verhandlungsrunden die Änderungswünsche des Bundesrates
akzeptiert; zum Teil wurde sogar eine Verschärfung der
Bundesratsempfehlungen vorgenommen, zum Beispiel im
Bereich des Bergbaurechtes. Weil wir als Berichterstatter
der Koalitionsfraktionen die Kritik des Bundesrates ernst
genommen und die Änderungswünsche aufgegriffen haben, spricht nach meiner Ansicht, Herr Dr. Nüßlein,
nichts für eine generelle Ablehnung der Bodenschutzstrategie.
({6})
Detlef Müller ({7})
Sowohl das BMU als auch die SPD-Fraktion im
Bundestag gehen weiterhin von der Notwendigkeit eines
europäischen Rechtsrahmens für den Bodenschutz aus;
denn eine wirklich durchdachte Bodenschutzstrategie
kann nicht an den Grenzen enden. Deutschland braucht
doch gar keine Furcht vor einer europäischen Bodenschutzstrategie zu haben; denn Deutschland ist - das
wurde schon festgestellt - gewissermaßen Vorreiter für
ein gut funktionierendes Bodenschutzrecht.
Deutschland ist durch seine Gesetzgebung und vor allem
durch seine erfolgreiche Altlastensanierung seit 1991 ein
Musterbeispiel. Wir sind mit unserem Bodenschutzrecht
gut aufgestellt und können den Anforderungen gerecht
werden. Wir brauchen eine europäische Bodenschutzrichtlinie, weil wir nur in einem größeren Rahmen die
massiven Umweltherausforderungen bewältigen können.
Eine europäische Richtlinie ist notwendig, weil bisher
nur neun von 27 Mitgliedstaaten ein eigenständiges Bodenschutzrecht haben. Durch die europäische Rahmenrichtlinie werden endlich auch die anderen Mitgliedstaaten
aufgefordert, eigene nationale Regelungen zum Schutz
des Bodens zu schaffen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen
stärkt somit den Bodenschutz auf EU-Ebene und wird
ihm mehr Bedeutung verleihen.
Für Deutschland ist auch aus Wettbewerbsgründen
ein europäischer Rechtsrahmen im Bereich des Bodenschutzes notwendig. Für deutsche Unternehmen ist es
nämlich gerade wegen des vergleichsweise hohen Standards der deutschen Gesetzgebung wichtig, dass in den
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ebenfalls
entsprechende Vorsorgemaßnahmen veranlasst werden.
Angeglichene Umweltvorschriften verhindern Wettbewerbsverzerrungen durch Umweltdumping und helfen,
zum Beispiel die landwirtschaftliche Produktion am
Standort Deutschland zu erhalten und sie vor Wettbewerbsverzerrungen durch Mitgliedstaaten mit niedrigeren
Anforderungen zu schützen. Eine europäische Lösung
ist besser als eine Vielzahl zersplitterter Einzellösungen
in den Mitgliedstaaten.
({8})
Wie man das Blatt auch dreht und wendet: Es zeigt
sich, dass wir eine europäische Bodenschutzrichtlinie
benötigen. Deutschland kann viel zum europäischen Bodenschutz beitragen. Wir sollten uns daher konstruktiv
für ein schlankes und effektives EU-einheitliches Bodenschutzrecht einsetzen und damit einen zukunftsorientierten Beitrag zur Behebung der absehbaren europäischen Bodenprobleme leisten.
Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen
war ein guter Kompromiss. Meine Fraktion und ich sind
im Rahmen der parlamentarischen Beratung weiterhin
daran interessiert, den Entwurf der europäischen Bodenschutzrichtlinie aktiv mitzugestalten.
Wir brauchen eine kritische Prüfung der Regelungen,
die über den deutschen Standard hinausgehen. Aber das
geht nur gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im europäischen Rahmen, und eben nicht
im Alleingang.
({9})
Was wir nicht brauchen, ist eine pure Ablehnung der
Richtlinie, weil bestimmte Lobbygruppen unbegründete
Ängste verbreiten, und Populismus, wie wir ihn auch
heute hier im Deutschen Bundestag erlebt haben.
Vielen Dank.
({10})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Worte des Kollegen Müller habe ich
gerne gehört. Denn wir Grünen begrüßen das Vorhaben
einer EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie und die Vorlage
einer Bodenschutzstrategie durch die EU-Kommission.
Das hat nicht nur umweltpolitische Gründe.
Ein europäischer Bodenschutzstandard ist auch wirtschaftspolitisch sinnvoll; denn unsere deutschen Unternehmen müssen das deutsche Bodenschutzrecht einhalten.
Das heißt, dass sie im Fall notwendiger Altlastensanierungen häufig mit Kosten belastet werden. Wenn in anderen EU-Mitgliedstaaten keine solchen Verpflichtungen
bestehen, dann profitieren die Unternehmen dort von einem Ökodumping, welches deutsche Unternehmen im
Wettbewerb benachteiligt. Das kann nicht im Interesse
Deutschlands sein.
Vor diesem Hintergrund, Kollege Nüßlein, ist es kurzsichtig, dass Unions-, SPD- und FDP-Politiker das Projekt Bodenschutzrahmenrichtlinie in den letzten Monaten vollständig abgelehnt haben. Jetzt höre ich hier
andere Töne, was mich, wie gesagt, sehr freut. Besonders kurzsichtig ist es, dass Sie diese Ablehnung mit
dem Verweis auf das aus Ihrer Sicht ausreichende deutsche Bodenschutzrecht begründen. Wie kann eine EURegelung verzichtbar sein, nur weil Deutschland bereits
ein Bodenschutzgesetz hat?
({0})
Es geht doch darum, wie es um den Bodenschutz in Europa steht.
({1})
- Ja, ja, Sie wollen immer eins zu eins umsetzen; das
weiß ich.
Die EU-Kommission weist darauf hin, dass sich der
Zustand der Böden europaweit seit Jahren verschlechtert: Die Flächenversiegelung konnte nicht eingedämmt
werden. Die Erosion durch Wasser betrifft 12 Prozent
der Böden. 45 Prozent weisen einen abnehmenden Ge8984
halt an Humus auf. Geschätzte 3,5 Millionen Hektar sind
kontaminiert. - Auch Deutschland hat trotz Bundes-Bodenschutzgesetzes mit diesen Problemen zu kämpfen.
Bisher haben nur neun Mitgliedstaaten - das sagte
Kollege Müller schon - Maßnahmen zum Bodenschutz
ergriffen. Wer auch nur im Ansatz ein umweltpolitisches
Interesse hat, der kann nicht ernsthaft dagegen sein, dass
die restlichen Länder endlich nachziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war positiv
überrascht, dass sich die FDP in ihrem Antrag zur Verabschiedung einer Richtlinie bekennt. Sehr erfreut war ich
auch, dass die FDP es als im deutschen Interesse liegend
bewertet, wenn in allen EU-Staaten ein angemessenes
Bodenschutzrecht gilt, damit deutsche Unternehmen im
Standortwettbewerb keine Nachteile erleiden.
({2})
Aber zu früh gefreut: Die FDP hält über das deutsche
Bodenschutzrecht hinausgehende Anforderungen für
nicht erforderlich. Schlimmer noch: Der gesamte Antrag
macht klar, dass die FDP den EU-Bodenschutzstandard
deutlich unter das von der Kommission vorgeschlagene
Niveau senken will. Das ist mehr als bedauerlich.
({3})
Ist es denn so, dass Deutschland bereits alle Ziele
beim Bodenschutz erreicht hat? Nein. Ich als Brandenburgerin kann ein Lied, ein Klagelied davon singen. Altlasten werden noch lange Risiken für Menschen und
Umwelt sowie wirtschaftliche Hemmnisse bleiben. Oft
werden Flächen in Deutschland deswegen nicht recycelt,
weil Investoren nach wie vor die mit Altlasten verbundenen Kosten scheuen.
({4})
So wird weiter auf der grünen Wiese gebaut. Deswegen
müssen wir Flächenrecycling zukünftig attraktiver machen.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass Altlasten nicht nur zur
akuten Gefahrenabwehr, sondern systematisch beseitigt
werden, wohl wissend, dass es viel Geld kostet, sollten
wir diesen Punkt in unsere Bodenschutzstrategie aufnehmen. Erfolgreiche Modellprojekte belegen, dass das
volkswirtschaftlich sinnvoll ist.
Wir Grüne plädieren dafür, die Richtlinie ambitionierter auszugestalten. Vor allen Dingen ist es notwendig,
konkrete Zielvorgaben, also einen EU-Bodenschutzstandard, festzulegen. Der fehlt im Entwurf bisher. Dieser Mangel hätte zur Folge, dass allein die Nationalstaaten festlegen, welche Ziele sie erreichen wollen. Dann
bliebe auch die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen Stückwerk. Hier muss dringend nachgebessert
werden.
Frau Kollegin!
Alles in allem bin ich entsetzt darüber, wie national
zentriert die Debatte über diese Richtlinie hierzulande
geführt wird. Noch entsetzter bin ich aber über den Mangel an umweltpolitischen Ambitionen, den ich dabei insbesondere bei der Union zutage treten sehe.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4736 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Kosovo-Verhandlungen - für eine neutrale
Moderation und eine eigenverantwortliche
und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern
- Drucksachen 16/3093, 16/3707 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen ({1})
Kerstin Müller ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Kosovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichem Abschluss bringen
- Drucksachen 16/588, 16/3708 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Markus Meckel
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({4})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise
Beck ({6}), Rainder Steenblock, Volker Beck
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Eine europäische Perspektive für das Kosovo
- Drucksachen 16/3520, 16/3830 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen ({8})
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({9})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner, FDP-Fraktion.
({10})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einige
von den Kollegen, die heute Abend hier sitzen, wissen es
vielleicht, die Kollegen, die nicht hier sind, das Bundestagspräsidium und die Öffentlichkeit wissen es sicherlich nicht: Im Kosovo stehen wir bezüglich der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik vor einer Situation,
gegenüber der das, was wir bei der Raketendiskussion
erlebt haben, Peanuts sind. Uns stehen erhebliche Gefahren bevor, auf die ich hinweisen möchte. Deshalb rede
ich in dieser Debatte.
Angesichts der dramatischen Situation im Kosovo
- ich werde gleich sagen, warum ich das so sehe - bin
ich erstaunt, dass die Debatte über das Kosovo, wenn wir
schon einmal darüber sprechen, an den Rand der Tagesordnung geschoben wird und ich mir als Einziger die
Freiheit nehme, dazu zu reden. Ich finde das sehr bedenklich, sehr bedeutsam und sehr interessant.
Die Anträge, über die wir heute diskutieren, spiegeln
die Dramatik nicht wider; sie sind einige Tage alt. Der
Antrag der Linken besagt im Prinzip, dass alles so weitergeht wie bisher. Es wird bis zum Sankt-NimmerleinsTag weiterverhandelt, dann werden wir alle schwarz sein
und wissen genau, dass die beiden Seiten auch in
120 Jahren keine einvernehmliche Lösung zustande
bringen werden.
Unser Antrag ist auch schon etwas älter. Wir sagen:
zügig verhandeln und Ende 2006 bzw. jetzt Anfang 2007
zum Ende kommen. Unser Antrag liegt voll auf der Linie von Herrn Ahtisaari. Wir haben ihn schon geschrieben, bevor Herr Ahtisaari seine zeitlichen Vorstellungen
vorgebracht hat. Wir liegen voll auf seiner Linie. Wir
meinen nämlich, dass weiteres Verhandeln nichts bringt.
Die internationale Gemeinschaft hat die Aufgabe, jetzt
zu entscheiden, damit der Status endlich definiert wird
und wir im Kosovo weiterkommen.
({0})
Der Antrag der Grünen fasst vieles Richtige und vieles Wichtige zusammen.
({1})
Aber, sehr verehrte Frau Kollegin, er hat einen Riesenhaken. Es wird nämlich vorgeschlagen, dass wir unmittelbar mit SAA-Verhandlungen beginnen. Das halte ich
angesichts der völlig unklaren Situation im Kosovo im
Augenblick für völlig unmöglich, weil wir gar nicht wissen, wie es in der nächsten Woche aussieht.
({2})
Die Anträge, die uns vorliegen, spiegeln also die aktuelle Gefahr nicht wider. Die Gefahr ist nämlich: Der
Sicherheitsrat findet zu keiner gemeinsamen Resolution,
das Kosovo erklärt sich für unabhängig, die USA erkennen dies an, einige europäische Länder machen mit, andere europäische Länder machen nicht mit.
({3})
Damit würde ein weiteres Mal bewiesen, dass die Europäische Union in außen- und sicherheitspolitischen Fragen völlig zerstritten, nicht handlungsfähig ist. Doch die
Region, über die wir sprechen, ist bedeutsam; denn das
ist unsere Region, das ist nicht weit weg, das ist mitten
in Europa. So etwas hätte dramatische Folgen.
({4})
- Russland könnte ich auch noch erwähnen; ich kann die
halbe Stunde ja ausnutzen, wenn die Präsidentin es erlaubt.
({5})
Meine Damen und Herren, ohne Sicherheitsratsresolution gibt es auch keine europäische Mission im Kosovo; das hat Solana in den letzten Tagen noch einmal
sehr deutlich klargemacht. Das heißt, es gibt dann keine
Ablösung der Resolution 1244, sondern es bleibt bei
dieser Resolution. Damit sind UNMIK und KFOR verpflichtet, bei Verstößen gegen die Resolution 1244 einzuschreiten. Das kann zu der absurden Situation führen,
dass, wenn das Kosovo sich einseitig für unabhängig erklärt und die Amerikaner und einige Europäer dies anerkennen, die Soldaten ebendieser Länder, die den Kosovo
anerkennen, also gegen die Resolution 1244 verstoßen,
im Auftrage von KFOR und UNMIK gegen die Unabhängigkeit vorgehen müssten, die kosovarische Regierung und vielleicht sogar die Botschafter festnehmen
müssten. Auch wenn ich jetzt ein bisschen übertreibe:
Das ist eine kafkaeske Situation, die wir unter allen Umständen vermeiden müssen.
({6})
Ich frage die Bundesregierung, ob sie die Dramatik
der Situation erkannt hat und was sie zu tun gedenkt, damit es nicht dazu kommt. Denn tatsächlich hat Russland
in der Kontaktgruppe angedeutet, dass man einer solchen UN-Resolution eventuell nicht zustimmen wird.
Dann wird genau die Situation eintreten, die ich aufgezeichnet habe. Ich frage, ob die Bundesregierung, auch
im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft, die Gefahr erkennt, die eine europäische Sicherheitspolitik mit sich
bringen würde, die das nicht verhindert. So etwas hätte
die Spaltung der Europäischen Union zur Folge.
Wir alle wissen: Korruption und organisierte Kriminalität sind im Kosovo ein Riesenproblem. Wir kennen viele Studien, auch neuere Studien, die sehr deutlich
darauf hinweisen, dass dieses Problem völlig ungelöst
ist. Wenn ich mir dann vorstelle, dass es keine internationale Präsenz im Kosovo mehr gäbe, dass der Kosovo gezwungen würde, solche Dinge alleine zu regeln, dann
wäre das eine Horrorvision. Damit wäre für den Kosovo
der Weg nach Europa meines Erachtens versperrt. Wir
haben ihm aber in Thessaloniki die europäische Perspektive eröffnet, und an dieser Perspektive wollen wir arbeiten. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten eine europäische Präsenz, eine internationale Präsenz im Kosovo
unbedingt notwendig. Ich fordere die Bundesregierung
auf, alles dafür zu tun, damit das erreicht werden kann.
Schönen Dank und einen schönen Abend.
({7})
Die Kolleginnen Uta Zapf, Monika Knoche,
Marieluise Beck ({0}) sowie der Kollege Manfred
Grund und der Staatsminister Gernot Erler haben ihre
Reden zu Protokoll geben.1)
({1})
Deswegen schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Kosovo-Verhandlungen - für eine neutrale Moderation und eine eigenverantwortliche und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3707, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3093 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Kosovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichem
Abschluss bringen“.
({2})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/3708, den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/588 abzulehnen. - Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der
1) Anlage 3
CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Eine europäische Perspektive für das
Kosovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3830, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3520 abzulehnen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen
der Grünen und Zustimmung der anderen Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Individuell fördern und regional gestalten Handlungsfreiheit der Arbeitsgemeinschaften
stärken
- Drucksache 16/4612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Die Redner Karl Schiewerling, Rolf Stöckel, Jörg
Rohde und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd
Andres sowie die Kolleginnen Kornelia Möller und
Brigitte Pothmer haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4612 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Birgitt Bender, Dr. Thea
Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrs-
raum - Einfach, schnell und günstig für Ver-
braucherinnen und Verbraucher sowie Unter-
nehmen
- Drucksache 16/4611 -
Die Redner Georg Fahrenschon, Frank Schäffler,
Dr. Gerhard Schick sowie die Kolleginnen Nina Hauer
und Dr. Barbara Höll haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben.3)
Wir kommen zum Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4611 mit
2) Anlage 4
3) Anlage 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
dem Titel „Einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrsraum - Einfach, schnell und günstig für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen“.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht
Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen von CDU/
CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Finanzausschuss und mitberatend an den
Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
nicht über den Antrag auf Drucksache 16/4611 ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({4}), Birgitt Bender, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weitere Verschlechterung der Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria verhindern
- Drucksache 16/4747 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Redner Hartwig Fischer ({6}), Florian
Toncar, Michael Leutert, Volker Beck ({7}) sowie die
Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4747 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. März 2007, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Zuschauern auf der Tribüne einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.