Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg feiert heute seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich sehr herzlich und wünsche alles, alles Gute.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Laurenz Meyer ({1}), Veronika Bellmann,
Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten
Dr. Rainer Wend, Ludwig Stiegler, Christian
Lange ({2}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse in der mittelständischen
Wirtschaft
- Drucksache 16/4391 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({5}), Ilse Aigner, Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Rainer Wend, Christian Lange ({6}),
Ludwig Stiegler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Neue Impulse für den Mittelstand
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Paul K. Friedhoff, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Unternehmen statt Unterlassen - Vorfahrt
für den Mittelstand
- Drucksachen 16/557, 16/562, 16/1070 Berichterstattung:
Abgeordneter Laurenz Meyer ({7})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Schauerte für die Bundesregierung.
({8})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der Abbau von Bürokratie
und die Suche nach besserer Regulierung da, wo sie nötig ist, ist einer der wichtigen Programmpunkte der Großen Koalition und der Bundesregierung. Jedes Übermaß
an Bürokratie ist schädlich:
({0})
Notwendige Entscheidungen werden verhindert oder
verlangsamt. Zeit und Geld von Verwaltungen, von Forschern, von Freiberuflern, von Arbeitnehmern, von Unternehmern werden vergeudet.
Redetext
({1})
Bürokratie belastet mehr oder weniger, immer oder
manchmal jeden Bürger.
Politik, aber auch Wirtschaft und Gesellschaft sind
dringend aufgefordert, alte bürokratische Zöpfe zurückzuschneiden und neu entstehende, wo immer möglich,
zu vermeiden. Über dieses Programm sind wir uns hier
im Parlament im Prinzip einig. Ich denke, wir können
auch angesichts der heutigen Debatte mit einigem Stolz
sagen: Noch nie hat sich eine Bundesregierung so intensiv von Beginn an mit diesem Thema beschäftigt wie die
jetzige, von der Großen Koalition getragene Bundesregierung.
({2})
Wir sind systematisch an dieses Thema herangegangen: Wir haben das von vornherein im Koalitionsvertrag
verabredet und dann viele Baustellen gleichzeitig eröffnet. Wir haben das Standardkostenmodell entwickelt und
messen erstmals Bürokratiekosten. Wir evaluieren erstmals, wie viel bürokratischer Aufwand und welche Kosten durch neue Gesetze entstehen. - Unser Vorgehen
- das ist auch zwingend nötig - ist ganz praktisch ausgerichtet: Der Normenkontrollrat, der mittlerweile eingerichtet wurde, erklärt bereits vor der parlamentarischen
Beratung eines jeden Gesetzes öffentlich, wie viel Bürokratie damit verbunden sein wird. So können wir eine
qualifizierte Debatte über drohende neue Bürokratie und
Vermeidungsstrategien führen, weil wir wissen, worüber
wir reden, weil wir etwas Handfestes auf dem Tisch haben.
Wir haben in der letzten Woche Abbauziele verabredet: 25 Prozent bis zum 31. Dezember 2011. Das ist ein
mutiges Unterfangen; damit handeln wir sehr konsequent. Wir bewegen uns mit diesem Zeitrahmen in dem
gleichen Rahmen, den beispielsweise die Engländer und
Holländer in ähnlicher Situation gebraucht haben. Hier
darf es keine Schnellschüsse geben. Es handelt sich vielmehr um einen kontinuierlichen, auch Zeit brauchenden
Prozess. Ich denke, dass wir damit gut aufgestellt sind.
Dass sich Deutschland so intensiv mit dieser Frage
beschäftigt, hat auch Auswirkungen auf die Europäische Union; denn auch da nimmt die Bereitschaft zu,
das Thema ernst zu nehmen.
({3})
Von dort können wir in Zukunft ebenfalls mit festen Vorgaben rechnen. Hier hat man sich das Ziel gesetzt, einen
Abbau von 25 Prozent der Bürokratiekosten zu erreichen, allerdings bis zum 31. Dezember 2012. Auch in allen 16 Bundesländern wird sehr intensiv über die Frage
des Bürokratieabbaus in der jeweiligen Zuständigkeit
geredet und entsprechend gehandelt.
Ich komme zu meiner Eingangsbemerkung zurück:
Noch nie ist auf der politischen Ebene der Bürokratieabbau so ernst genommen, so breit angelegt und so intensiv
versucht worden - ich sage das bewusst nachdenklich wie unter der jetzigen Bundesregierung. Ich will keine
falschen Erwartungen wecken; aber wir arbeiten mit voller Kraft an diesem Problem, und das ist schon einmal
ein sehr guter Anfang.
Vor allem Wirtschaft und Mittelstand sind von der
Bürokratie betroffen. Deshalb ist das Wirtschaftsministerium die treibende Kraft in dieser Debatte. Der Mittelstand ist besonders betroffen; denn je kleiner die Unternehmen, desto mehr leiden sie unter der Bürokratie.
({4})
Für sie entstehen dadurch Kosten und Belastungen, die
erheblich sind. Die Zahlen sind zum Teil bekannt. Man
sagt mittlerweile, 4 bis 6 Prozent des Umsatzes der
mittelständischen Wirtschaft müssten für Bürokratie aufgewandt werden. Wenn diese Zahl stimmt, dann entstehen diesen Unternehmen jährlich mehr als
70 Milliarden Euro Bürokratiekosten. Bei dieser Dimension wird jeder erkennen, dass Bürokratie auch ein ganz
wichtiger Standortfaktor ist.
({5})
Je besser wir im Hinblick auf Regulierungen und Bürokratie aufgestellt sind, desto wettbewerbsfähiger sind
wir in der sich schnell verändernden Welt. Insoweit ist
diese Baustelle ausgesprochen wichtig.
Wir haben in 2006 ein erstes Mittelstandsentlastungsgesetz verabschiedet. Darüber hinaus haben wir einen Katalog mit 16 Einzelvorhaben und 37 Maßnahmen
für mittelstandsfreundliche Reformvorhaben verabschiedet, die im Moment in der Umsetzung sind. Bei diesem
ersten Mittelstandsentlastungsgesetz waren wir noch
nicht so weit, dass wir Bürokratiekosten messen konnten. Das geschieht jetzt erstmalig durch das zweite Mittelstandsentlastungsgesetz.
Der Betrag, um den es hier geht, ist zunächst einmal
relativ gering. Niemand sollte glauben, mit den
58 Millionen Euro, die wir hier ermitteln, hätten wir
schon einen Durchbruch erzielt. Aber mit diesem Gesetz
haben wir ein neues System angelegt und versuchen,
eine Lösung des Problems zu finden. Es gibt da durchaus
noch Schwächen; ich komme auf die eine oder andere
Schwäche zurück. Bei diesem Gesetzgebungsvorhaben
ist auch noch nicht alles gemessen worden, was wir messen müssen und messen wollen. Die Entlastungswirkung
ist aber insgesamt größer.
Ich denke, dass wir das miteinander im Prozess noch
verbessern können. Wir sind nicht der Auffassung, wir
hätten an dieser Stelle die Weisheit gepachtet. Wir sind
noch auf der Suche.
Der Regelinhalt des zweiten Mittelstandsentlastungsgesetzes: Es reduziert die Menge unnötiger Vorschriften.
17 Deregulierungsmaßnahmen auf verschiedenen
Rechtsgebieten sollen in Kraft gesetzt werden. Das soll
zeitnah geschehen, jeweils so schnell es möglich ist. Einige Maßnahmen können praktisch mit der Verkündung
des Gesetzes in Kraft treten, andere brauchen eine gewisse Umsetzungsphase, aber in sehr überschaubaren
Fristen.
Beim Thema Bürokratieabbau geht es immer wieder
um Statistiken und Berichtspflichten. Wir wollen mit
diesem zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz zum Beispiel Existenzgründer in den ersten drei Jahren von statistischen Meldepflichten befreien; das ist ein ganz sinnvoller Vorschlag.
({6})
Wir alle sind uns einig: Wenn einer eine Existenz gründet, hat er genug zu tun; er muss sich um den Markt, das
Produkt, die Organisation seines Unternehmens kümmern. Wenn dann noch lästige Bürokratieanforderungen
hinzukommen, ist das ein Schlag ins Kontor und demotiviert möglicherweise. Deswegen denke ich, dass wir hier
wenigstens einen wichtigen ersten Schritt gehen.
Auf die Zahlen wirkt sich das so aus, dass die Zahl
der Existenzgründungen steigt. Bei 7 100 Existenzgründungen geht es um ersparte Bürokratiekosten - das fängt
an zu wachsen - von 1,2 Millionen Euro. Das ist eigentlich ein kleiner Betrag. Aber ich sage noch einmal: Mir
geht es in dieser Debatte darum, dass ein guter Anfang
gemacht worden ist; das ist noch nicht das Schlussergebnis. Dieser Prozess wird ja nicht abgebrochen, sondern
er wird fortgesetzt und intensiviert; er wird an Fahrt gewinnen.
Eine weiterer Punkt des Gesetzes ist, dass statistische
Erhebungen bei kleinen Unternehmen mit weniger als
50 Beschäftigten auf drei Stichproben pro Jahr beschränkt werden. Im Jahr 2004 wurden 625 dieser Unternehmen zu mehr als drei Stichprobenerhebungen herangezogen.
An diesem Punkt wird deutlich: Die Gesellschaft hat
ein Interesse an Information. Wir möchten wissen, welche Prozesse in den Wirtschaftsbereichen ablaufen. Wir
wollen rechtzeitig erkennen, ob es Fehlentwicklungen
gibt, und sind daher auf Informationen angewiesen.
Viele Informationen werden von den Wirtschaftsverbänden selbst gewünscht und gefordert. Sie können ihre
Steuerungs- und Beratungsfunktion nicht erfüllen, wenn
sie sozusagen blind gemacht werden.
Wir müssen es also auf intelligente Weise schaffen,
die notwendigen Informationen ohne unnötige Bürokratie mit modernen Methoden zu ermitteln. In diesem Findungsprozess befinden wir uns. Die Maßnahmen, die im
zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz enthalten sind,
entsprechen diesem Ansatz.
In der Dienstleistungskonjunkturstatistik werden
bereits verstärkt vorhandene Verwaltungsdaten genutzt.
Wir müssen die Trennung bei denen, die im Besitz von
Daten sind, aufheben. Dann ist ein Austausch von Informationen möglich. Eine einmal erhobene Zahl kann für
sehr viele Prozesse verwendet werden. Sie darf nicht in
der Schublade liegen bleiben, sondern sie muss weitergegeben werden. Dadurch entfallen Bürokratiekosten
- wir fangen bescheiden an - in Höhe von insgesamt
jährlich 3,5 Millionen Euro. Aber ein Anfang ist gemacht.
Herr Zeil, damit kein falscher Eindruck entsteht, sage
ich noch einmal: Wir sagen nicht unter Fanfarenklängen,
dieses Mittelstandsentlastungsgesetz sei der Durchbruch. Es ist ein kleiner Anfangsbaustein in einem Prozess, den wir verabredet haben.
Es gibt einen Wegfall der Genehmigungspflicht im
Preisangaben- und Preisklauselgesetz. Ich bin selber
Notar gewesen. Sie alle kennen diesen Fall: Wenn ein
Vertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren zwischendurch
an die Inflationsentwicklung angepasst werden sollte,
dann musste man eine Genehmigung für diese Klausel
bei der Preisklauselgenehmigungsbehörde einholen. Das
ist ein unnötiger Vorgang. Der Wegfall dieser bürokratischen Maßnahme ist ebenfalls im Mittelstandsentlastungsgesetz enthalten. Zuletzt gab es diesbezüglich
17 000 Anträge pro Jahr. Eine solche Genehmigung einzuholen war ärgerlich, hat immer Zeit gekostet und war
völlig unnötig. Ich kenne aus meiner Praxis keinen Fall,
bei dem die Klausel einmal nicht genehmigt wurde. Also
weg damit! Das sind Elemente, die den Bürokratieabbau
befördern.
Ich komme zu einem weiteren Punkt: Wegfall von
Doppelprüfungen. An dieser Stelle haben wir die Entlastung nicht genau quantifiziert. Wir wollen, dass im
Rahmen einer Betriebsprüfung nicht beide, also sowohl
der Unfallversicherungsträger als auch der Rentenversicherungsträger, tätig werden müssen. Sie können die
Zahlen untereinander austauschen. Wir haben uns auf
diesen gegenseitigen Austausch von Informationen verständigt. Herr Müntefering, das ist ein Bereich, der zum
Teil in Ihrem Hause zu bearbeiten ist.
Was sind die Konsequenzen? Dadurch entfallen jährlich 130 000 Doppelprüfungen. Diese Doppelprüfungen
sind Außenprüfungen in den Betrieben. Da haben wir,
wie schon gesagt, die sich ergebende Entlastung nicht
konkret angesetzt. Für die Verwaltungen, die diese Prüfungen durchführen müssen, und für die Betriebe, die
Material, Personal und Räumlichkeiten zur Verfügung
stellen müssen, ergeben sich pro Tag Kosten in Höhe
von 1 000 Euro. Bei 130 000 Prüfungen bedeutet das unter der Annahme, dass einen Tag lang geprüft wird, eine
Einsparung von 130 Millionen Euro. Dieser Betrag ist in
der im Gesetzentwurf angegebenen Nettoentlastung für
die Wirtschaft von ungefähr 58 Millionen Euro nicht
eingerechnet, weil wir ihn, wie gerade erläutert, noch
nicht genau genug erfassen konnten. Wir waren der Meinung, diesen Betrag noch nicht zu berücksichtigen, um
zu verhindern, dass wir uns später darüber streiten, ob
diese Zahl seriös ermittelt wurde oder nicht. Obwohl es
sich bis dato nur um eine Schätzung handelt, können
alle, die in der Wirtschaft zu Hause sind, erkennen, dass
da etwas Nennenswertes passiert.
Wir machen weiter auf diesem Weg. Dies ist ein kleiner Baustein. Wir bereiten die nächsten Entlastungsgesetze in gleicher Weise vor. Aber noch wichtiger als
diese Einzelgesetze bleibt das grundsätzliche Prinzip:
Der Normenkontrollrat prüft jedes neue Gesetz. Wir
können dann miteinander darüber streiten, wie bürokratisch und unnötig das entsprechende Gesetz ist. Das ist
einer der wichtigsten Blöcke. Außerdem setzen wir das
Standardkostenmodell für neue und mit zunehmender
Zahl auch für alte bürokratische Regelungen an.
Wir sind auf einem guten Weg. Ich denke, wir sollten
dieses Anliegen gemeinsam weiterverfolgen. Angesichts
der Geißel Bürokratie, die uns alle ärgert, sind wir alle
gefragt.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Herrn Kollegen Schauerte zu seiner
Ernennung zum Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung gratulieren.
({0})
Sie stehen damit unter verschärfter Beobachtung. Aber
Glückwunsch zur neuen Funktion, die Ihnen übertragen
wurde!
Seit Jahren hat der Bürokratiewust zugenommen.
Auch die sogenannte Große Koalition, die schwarz-rote
Regierung, hat dem Mittelstand zunächst einmal kräftig
einiges übergestülpt: Bei den Betrieben wurden die Sozialabgaben 13-mal abkassiert. Mit dem Antidiskriminierungsgesetz, das weiter gefasst wurde, als es die EU
verlangt, wurden Bürokratie und Schwierigkeiten draufgeknallt, und die Steuern wurden kräftig erhöht. - Das
alles sind keine Beiträge, es dem Mittelstand in Deutschland leichter zu machen.
({1})
Wenn Sie jetzt den Hebel umlegen und den Rückwärtsgang im Hinblick auf die Bürokratie einlegen wollen, ist das richtig und begrüßenswert. Was Sie aber bisher vorlegen, kann man bestenfalls unter dem Motto
„Kleinvieh macht auch Mist“ zusammenfassen. Die Bürokratielasten werden auf rund 50 Milliarden Euro geschätzt. Wenn man das, was Sie hier auf den Weg bringen, wohlwollend hochrechnet, macht das maximal
60 Millionen Euro aus. Das ist etwa 1 Promille der Bürokratielasten, die die Fachleute, die Sachverständigen
feststellen. Das ist zwar relativ wenig; aber zumindest
die Richtung stimmt.
({2})
Ich empfehle Ihnen sehr, auch die Themen der Generalunternehmerhaftung und der Bauabzugsteuer auf den
Weg zu bringen. Die damit verbundenen Ziele waren
durchaus ernst zu nehmen. Aber es hat sich herausgestellt, dass eine Riesenbürokratie und wenig Effekte entstanden sind. Schaffen Sie diese Steuer doch einfach ab!
Wenn man merkt, man hat etwas falsch gemacht, dann
sollte man es abschaffen und den Mittelstand nicht weiter mit Bürokratie belasten. Das wäre ein Beitrag, dies
vernünftig und richtig zu regeln.
({3})
Es ist durchaus sympathisch, dass Sie sich um ein
Milch- und Margarinegesetz kümmern. Aber der deutsche Mittelstand erwartet schon ein bisschen mehr und
etwas anderes.
Ein großes Thema sind Unternehmensübergaben und
die Erbschaftsteuer. Hierzu liegt kein Gesetzentwurf
vor. Hier streiten sich Schwarz und Rot; da gibt es Gezänk. Man muss fürchten, dass es auch hier wieder sehr
bürokratisch und sehr kompliziert wird. Ich nenne als
Beispiel nur die Problematik der Abgrenzung zwischen
produktivem und nichtproduktivem Betriebsvermögen.
Ich wünsche viel Vergnügen; das wird außerordentlich
schwierig werden. Da werden sich die Mittelständler
sehr freuen. Bringen Sie dies aber wenigstens einmal auf
den Weg, damit hier ein Stück Entlastungsperspektive
entsteht und damit dort, wo Übergänge möglich sind und
sie anstehen, diese auch erfolgen und nicht weiter gewartet wird, ob es eine Regelung gibt und welche.
Ich persönlich meine - das ist nicht Beschlusslage
meiner Partei -, man sollte die Erbschaftsteuer ganz abschaffen
({4})
- das werden wir nicht schaffen, Herr Kollege Wend -;
denn das wäre der größte Beitrag zur Bürokratievereinfachung.
({5})
Wenn Sie das nicht wollen, dann sollten Sie zumindest
die Zuständigkeiten für die Ausgestaltung der Erbschaftsteuer auf die Länder übertragen. Die Einnahmen aus der
Erbschaftsteuer betrugen im letzten Jahr insgesamt in allen neuen Bundesländern gerade einmal 60 Millionen
Euro. Dort wurde so gut wie keine Erbschaftsteuer erhoben. Wenn diese sie abschaffen oder drastisch vereinfachen bzw. reduzieren würden, hätten sie einen Standortvorteil. Das wäre Wettbewerbsföderalismus. Haben Sie
Mut, diejenigen, die sowieso Destinatar, also Begünstigte, von Steuern sind, dies selbst entscheiden zu lassen!
Man nennt das in der Fachsprache Subsidiarität.
({6})
Zur Unternehmensteuerreform. Auch da streiten
sich die Schwarzen und die Roten. Die SPD überlegt:
Welches Volumen kann man überhaupt verantworten?
Sollte man nicht mehr Masse beim Staat zur Umverteilung zurückbehalten? Auch dort ist nichts klar. Aber wir
stehen weiter im Wettbewerb. Die Vergleiche zeigen:
Wenn wir die Weichen hier nicht richtig stellen, gibt es
weiter Abwanderungstendenzen.
Was der Mittelstand daneben bräuchte, ist mehr Flexibilität beim Arbeitsrecht und bei den Löhnen. Wir haben in Deutschland ein sehr kompliziertes Arbeitsrecht.
Das ist eine Ausgeburt an Bürokratie und selbst für gute
Juristen kaum noch logisch nachvollziehbar. Wir müssten vor allen Dingen den Mut haben, den Mitarbeitern in
den Betrieben mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu geRainer Brüderle
ben, die Arbeitnehmerrechte im Betrieb zu stärken, die
Funktionärsrechte ein Stück zurückzunehmen und betriebliche Bündnisse für Arbeit zu ermöglichen. Wir setzen eine hohe Schwelle: Wenn 75 Prozent der Belegschaft in freier und geheimer Abstimmung zum
Ausdruck bringen, dass sie eine andere Regelung wollen, als das Kartell ihnen vorschreibt, muss diese andere
Regelung Geltung finden. Die Betroffenen müssen das
Recht haben, eine andere Entscheidung zu treffen. - Sie
aber haben nicht den Mut, den Arbeitnehmern mehr Entscheidungsrechte zu geben, nicht einmal, wenn eine
hohe Schwelle von 75 Prozent - das ist mehr als eine
verfassungsändernde Mehrheit - vorgesehen wird. Nein,
bei uns geht die Funktionärsherrschaft weiter. Warum
wundern wir uns eigentlich, dass sich vieles nicht zum
Vernünftigen ändert? Dieses Thema muss aber angepackt werden; sonst kommen wir nicht voran.
({7})
Die Diskussion über die Mindestlöhne ist sehr liebenswert. Ich gönne jedem jeden Euro. Mindestlöhne
schaffen aber keine Arbeitsplätze. Es wäre reiner Zufall,
wenn deren Höhe richtig wäre. Sind sie zu niedrig, haben sie null Effekt. Sind sie zu hoch, verhindern sie die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Deshalb müssen Sie andere Instrumente, Kombiansätze - wir nennen es Bürgergeld -, wählen. Der Mindestlohn ist wieder so ein
ideologisches Thema. Man rennt herum und sagt: Wir
tun etwas für euch. - In Wahrheit gibt man denen, die
draußen stehen, keine Chance, hineinzukommen. Das ist
das Gegenteil von Hilfestellung.
({8})
Der Mittelstand ist sehr beunruhigt, dass in den Reihen der Koalition schon wieder darüber diskutiert wird,
das Briefmonopol erneut zu verlängern. Das Verlängern
der Monopole ist offensichtlich Ihr Beitrag zu „Mehr
Freiheit wagen!“, wie die Bundeskanzlerin ihre Regierungserklärung betitelt hat. Nein, wir müssen neuen
Existenzen auch in diesem Bereich Freiraum bieten, damit sie sich entwickeln können. Überall, wo der Staat
steuert, wo es Monopole gibt, haben wir Probleme. Ob
bei EADS oder anderswo: Zu viel Staatseinfluss führt zu
Fehlentscheidungen. Die Arbeitnehmer baden aus, dass
sich der französische Staat zu stark eingemischt hat, aber
die Deutschen wollen jetzt den gleichen falschen Ansatz
wählen.
({9})
Oder nehmen Sie - letzte Bemerkung - das Telekommunikationsrecht. Hier führen Sie lieber einen Krieg
mit der Europäischen Kommission. Sie haben etwas Einmaliges gemacht, etwas, das es noch nie in Deutschland
gegeben hat: Selbst die milde Regulierung der Netzagentur gilt nicht, es gibt Regulierungspausen. - Das gab
es früher: Als Madame Pompadour Louis XVI. eine tolle
Nacht bereitet hat, erhielt sie das Monopol für den Kakaoausschank. Das sind nicht die Wege, auf denen wir
im 21. Jahrhundert nach vorne kommen.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Brüderle, es ist Aufgabe der Opposition, darauf hinzuweisen, wie wir noch besser werden
können, natürlich auch beim Thema Bürokratieabbau. In
Richtung FDP muss ich aber sagen: Fast alle Vorschriften, die wir jetzt wegen zu großer Bürokratie abschaffen
wollen, sind von früheren FDP-Wirtschaftsministern erfunden worden, Kollege Brüderle.
({0})
Deswegen empfehle ich der FDP, in dem Prozess, in dem
wir uns jetzt befinden, ein wenig mehr Demut zu zeigen.
Ich finde, dass die Große Koalition in Sachen Bürokratieabbau einen guten Prozess begonnen hat. Wir haben im letzten Jahr - Herr Schauerte hat darauf hingewiesen - das erste Mittelstandsentlastungsgesetz
verabschiedet. Damit haben wir eine Reihe von bürokratischen Regelungen, die gerade Kleinunternehmen und
Mittelstand belasten, abgeschafft. Wir haben beispielsweise die Grenze für die Bilanzierungspflicht von Unternehmen angehoben, und zwar von einem Umsatz von
350 000 Euro auf einen Umsatz von 500 000 Euro.
Nach dem ersten Mittelstandsentlastungsgesetz haben
wir etwas gemacht, wovon wir uns die größte Wirkung
versprechen; das hat gerade der Staatssekretär angesprochen. Es geht darum, dass wir die Bürokratiekosten der
Unternehmen, die aus ihren Berichts- und Dokumentationspflichten gegenüber staatlichen Stellen entstehen,
in Geld messen und anschließend mit klaren Zielvorgaben reduzieren wollen. Die Bundesregierung hat am
Mittwoch beschlossen, diese Bürokratiekosten bis zum
Jahr 2011 um 25 Prozent zu reduzieren. Es sind inzwischen über 11 000 Vorschriften identifiziert, die auf ihre
Kosten hin zu untersuchen und anschließend zu reduzieren sind.
Ich habe eine freundschaftliche Bitte an die Bundesregierung - alle Sozialdemokraten gehen freundschaftlich mit der Bundesregierung um -:
({1})
Eine Reduktion um 25 Prozent bis 2011 ist gut. Ich
fände es aber schön, wenn es uns gelingen würde, ein
Ziel bis zu den nächsten Wahlen in 2009 festzulegen. Es
ist immer leicht, etwas auf Kosten künftiger Bundesregierungen - wenngleich sie möglicherweise so aussehen
wie die jetzige; jedenfalls sollten die Sozialdemokraten
daran beteiligt sein ({2})
zu machen. Noch besser aber fände ich es, wenn es uns
gelingen würde, für diese Legislaturperiode ein festes
Ziel zu vereinbaren.
Das erste Mittelstandsentlastungsgesetz und der Normenkontrollrat, der die Umsetzung des Standardkostenmodells überprüfen soll, waren die ersten Schritte. Das
zweite Mittelstandsentlastungsgesetz - der Staatssekretär hat bereits einige Punkte daraus genannt -, mit dem
wir noch einmal Erleichterungen bei der Bilanzierungspflicht vornehmen und Existenzgründern durch den
Wegfall von Dokumentations- und Berichtspflichten helfen, ist der dritte Schritt beim Bürokratieabbau.
Nun kommt von der Opposition die Kritik - das ist,
wie ich finde, auch ihre Aufgabe -, dies sei zu wenig.
Ich finde, wir sollten uns im parlamentarischen Prozess
offen zeigen, an dem einen oder anderen Punkt weiterzuarbeiten. Das Stichwort Generalunternehmerhaftung
ist genannt worden. Aber es ist ein bisschen komplizierter, Herr Kollege Brüderle, als Sie es dargestellt haben.
Wahr ist, dass auf der einen Seite für die Generalunternehmer zusätzliche Belastungen entstehen, wenn sie für
Subunternehmer, die sie beauftragen, haften müssen.
Auf der anderen Seite kann dieses Verfahren dazu beitragen, dass Versicherungsbeiträge von Subunternehmern
regulär gezahlt werden und somit Schwarzarbeit bekämpft wird. Das ist das Ziel dieses Gesetzes.
Unsere Aufgabe ist es, zwischen den Zielen des Gesetzes und den Maßnahmen, die wir eingeleitet haben,
abzuwägen und zu beurteilen, ob sie in einem klugen
Verhältnis zueinander stehen. Das müssen wir jetzt sorgfältig prüfen. Anschließend müssen wir zu einer Entscheidung kommen, wie damit zu verfahren ist.
Die SPD ist im parlamentarischen Prozess offen bezüglich möglicher Verbesserungen und Erweiterungen
des zweiten Mittelstandsentlastungsgesetzes. Es gibt
aber ein klares Nein der SPD zu vielen Dingen, die Sie
hier formuliert haben, Herr Kollege Brüderle, zum Beispiel zu dem, was Sie in Ihrem Antrag zu Kündigungsschutz und betrieblichen Bündnissen geschrieben haben.
Ich will Ihnen das einmal ohne Wenn und Aber sagen:
Die SPD steht für bestimmte Regeln und will bestimmte
Regeln in unserer Gesellschaft aufrechterhalten.
({3})
Wir sind vor 140 Jahren aufgrund ganz bestimmter Erwägungen gegründet worden. Es gab damals den freien
Kapitalismus mit Kinderarbeit, ohne Kündigungsschutz
und mit 60-Stunden-Woche. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für
Jahrzehnt wurden durch SPD und Gewerkschaften Regeln geschaffen, die den freien Kapitalismus eingeschränkt haben, durch Kündigungsschutz und Tarifautonomie. Wir wollen, dass er in dieser Weise eingeschränkt
bleibt.
({4})
Ein Kernbestandteil unserer Programmatik ist die
Tarifautonomie. Bevor es sie gab, wurden die Arbeitsbedingungen zwischen Unternehmern und einzelnen Arbeitnehmern verhandelt; die Arbeitnehmer waren den
Unternehmern faktisch ausgeliefert. Erst durch Gründung der Gewerkschaften und die Einführung der Tarifautonomie gab es in etwa eine Gleichberechtigung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite bei der
Aushandlung von Arbeitsbedingungen.
({5})
Deswegen bleibt die Tarifautonomie Kernbestandteil unserer Programmatik. Wir werden eine Beseitigung der
Tarifautonomie nicht zulassen, weil dadurch das alte Ungleichgewicht zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite wiederhergestellt würde.
({6})
Ich möchte auch etwas zum sogenannten Staatseinfluss bei Airbus sagen. Ich teile insofern Ihre Auffassung, als ich glaube, dem Unternehmen Airbus würde es
auf Sicht am besten gehen, wenn sich alle staatlichen
Stellen aus unternehmerischen Entscheidungen zurückzögen.
({7})
Aber wenn einer der Eigentümer in dieser Gesellschaft,
ein Staat, einen anderen Weg geht und sich dezidiert
dazu bekennt - das hat die französische Seite getan -,
wäre es doch fahrlässig gewesen, wenn die deutsche
Seite auf Einflussnahme verzichtet hätte.
({8})
Deswegen war das, was wir in den letzten Wochen und
Monaten getan haben, richtig. Wir stehen dazu.
Ich möchte etwas zum Briefmonopol sagen. Auch
hier teile ich Ihre Ausgangsposition, dass es gut und
richtig wäre, auf europäischer Ebene einen Weg zu finden, um mehr Wettbewerb und eine stärkere Liberalisierung zuzulassen. Aber ich muss auf etwas hinweisen,
worauf ich auch beim Thema Airbus schon zu sprechen
gekommen bin: Wenn einige Länder in Europa ihren
Markt geschlossen halten, dann kann es doch nicht vernünftig sein, dass wir sie einladen, in unserem Land am
Wettbewerb teilzunehmen, solange wir nicht die Möglichkeit bekommen, unsererseits am Wettbewerb in diesen Ländern teilzunehmen. Diese Ungleichbehandlung
dürfen wir nicht zulassen.
({9})
Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas zum
Thema Mindestlöhne sagen. Zunächst einmal danke ich
dem Minister; Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie
ihm das ausrichten. Ich habe nämlich in der Zeitung gelesen, dass sich der Minister offen dafür zeigt, im Hinblick auf die Entlohnung eine Untergrenze zu setzen - es
muss ja nicht „Mindestlohn“ heißen; über Begriffe
braucht man mit mir nicht zu streiten -, weil ansonsten
die Unternehmen, wenn wir Langzeitarbeitslosen über
Kombilöhne oder Ähnliches helfen wollen, Mitnahmeeffekte ohne Ende haben, weil sie die Löhne stark senken können, da sie damit rechnen können, dass die
Löhne ohnehin staatlicherseits aufgestockt werden. Ihr
Minister ist auf dem richtigen Weg. Ich finde es gut, dass
er das so formuliert hat.
({10})
Es ist nicht richtig, dass sich der Wettbewerb im Postbereich fast nur noch darum dreht, welches Unternehmen die niedrigsten Löhne zahlt und die Postzustellungen in unserem Land unter den schlechtesten
Arbeitsbedingungen erledigt.
({11})
Wettbewerb finde ich gut. Aber ein Wettbewerb, der ausschließlich um Dumpinglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen geführt wird, ist für uns nicht akzeptabel. Wir
wollen einen Wettbewerb um die Qualität von Leistungen.
({12})
Deswegen habe ich insbesondere an die FDP die
Bitte: Lassen Sie uns den Bürokratieabbau gemeinsam in
Angriff nehmen. Sie sollten aber nicht die Überschrift
„Bürokratieabbau“ wählen und sie dann als „Abschaffung von Arbeitnehmerrechten“ buchstabieren. Dass wir
in diesem Fall Ihr Gegner wären, muss Sie nicht betrüben. Aber dies würde auch dazu führen, dass Sie das
Thema Bürokratieabbau diskreditieren und es in unserer
Gesellschaft nicht mehr mehrheitsfähig wäre. Deshalb
sagt die SPD mit aller Kraft Ja zum Bürokratieabbau,
aber genauso deutlich und mit aller Kraft Nein zum Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Erst einmal zu Herrn Wend:
Herr Dr. Wend, ich fand es sehr wohltuend, von Ihnen zu
hören, wie die Wurzeln der SPD einmal entstanden sind.
({0})
- Nein, Sie stehen nicht dazu, leider. Das Verhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften ist sehr gestört.
Das kann ich Ihnen sagen. Ich bin nämlich DGB-Vorsitzende in der Region Vogtland-Zwickau.
Uns alle - das verstehen Sie jetzt vielleicht nicht verbindet einiges. Wir alle waren nämlich einmal Kinder. Vielleicht kennen Sie noch die Geschichte von Jim
Knopf und dem Scheinriesen.
({1})
- Genau. - Je näher man dem Riesen entgegenkommt,
desto kleiner wird er. Genauso verhält es sich mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Großen Koalition. Laut
Bundesminister Glos ist dieses Gesetz ein „Leuchtturmprojekt“ der Bundesregierung auf dem Gebiet des Bürokratieabbaus. Schaut man sich das Zweite Mittelstandsentlastungsgesetz jedoch näher an, wird deutlich: Es
handelt sich eigentlich nur um ein wirtschaftspolitisch
kleines Licht.
({2})
Nach den Zahlen der Bundesregierung wird die mittelständische Wirtschaft mit einem Paket von 17 Einzelmaßnahmen um 60 Millionen Euro - das ist heute schon
erwähnt worden - entlastet. Bei 3,4 Millionen mittleren
und kleineren Unternehmen sind das durchschnittlich
17 Euro pro Jahr. Herr Schauerte - der Bundesminister
ist ja heute leider nicht da -, was bedeuten 17 Euro je
Unternehmen und Jahr für Wirtschaft und Beschäftigung? Sie täuschen hier das Wahlvolk und Hunderttausende kleine mittelständische Unternehmen.
({3})
Damit nicht genug: Unter dem Schlagwort des Bürokratieabbaus beschneidet die Bundesregierung seit Jahren systematisch die Statistik, und zwar genau den Bereich, der über die Lage der kleineren und mittleren
Unternehmen informiert. Das legt den Schluss nahe,
dass die Große Koalition den kleinen Mittelstand abgeschrieben hat.
({4})
Die Bundesregierung kennt nur den großen Mittelstand:
Unternehmen, die über 100 Mitarbeiter haben, die am
Exportgeschäft teilnehmen und die schwarze Zahlen
schreiben.
Ich rede im Gegensatz dazu von der Mehrzahl der
mittelständischen Unternehmen: denen mit weniger als
fünf Beschäftigten. Das sind 2,8 Millionen von den
3,4 Millionen Unternehmen, die es in Deutschland gibt.
Diese Kleinstunternehmen leiden seit Jahren unter dem
Stagnieren der Binnennachfrage und dem Sparkurs der
öffentlichen Hand.
Die Wirtschaftspolitik der letzten Jahre hat ausschließlich den Großunternehmen geholfen. Die Deutsche Bank hat diesbezüglich jüngst ganz interessante
Zahlen veröffentlicht - ich gehe davon aus, Sie werden
sie kennen -: Von 1997 bis 2004 ist der Wert der Gesamtleistung des deutschen Mittelstandes kaum gewachsen, nämlich nur um 2 Prozent, während die Großunternehmen in diesen acht Jahren viel kräftiger, nämlich um
30 Prozent expandiert sind.
Die Regierung feiert den Aufschwung:
({5})
2,7 Prozent Wachstum, seit Jahren nicht gehabt. Das ist
gut und schön. Aber was nützt ein Wachstum, das immer
noch an vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen vorbeigeht?
({6})
Dieses Problem betrifft vor allen Dingen den ostdeutschen Mittelstand. Ich zitiere den ostdeutschen Sparkassenverband von letzter Woche:
Der wirtschaftliche Aufschwung ist noch nicht
beim ostdeutschen Mittelstand angekommen. Das
durchschnittliche Wirtschaftswachstum von rund
2,8 Prozent im Osten Deutschlands beschränkt sich
auf die industriellen Kerne.
Die jüngste Erholung, die die neuen Zahlen der KfWBankengruppe zeigen, erfolgt vor dem Hintergrund einer
langen Durststrecke. Und es ist keineswegs ausgemacht,
dass diese Erholung anhält. Zum Beispiel stellt sich der
Zentralverband des Deutschen Handwerks für dieses
Jahr auf einen Wachstumsrückschlag ein.
({7})
Meine Damen und Herren der Großen Koalition, Sie
veranstalten viel Brimborium um das Zweite Mittelstandsentlastungsgesetz. Anscheinend soll damit verdeckt werden, dass diese Koalition auf die wirtschaftlichen Probleme des Mittelstandes keine Antwort weiß.
({8})
Um den mittelständischen Unternehmen zu helfen,
braucht es keine weitere Kostenentlastung und schon gar
keine Steuerreformen, wie sie die Bundesregierung gemacht hat und ankündigt. Der Mehrzahl der kleineren
und mittleren Unternehmen fehlen schlicht die Aufträge;
das müssten Sie eigentlich wissen. Deswegen setzt sich
Die Linke für eine Stärkung der Binnennachfrage ein.
Dazu gehören auch ordentliche Lohnsteigerungen.
({9})
Herr Wend, wenn Sie so die Wurzeln der Arbeiterbewegung suchen, dann unterstützen Sie sicherlich auch die
Lohnforderungen der Gewerkschaften.
({10})
- Das ist schön. - Denn höhere Löhne und damit mehr
Kaufkraft kommen vor allem den kleineren und mittleren Unternehmen zugute. Profitieren würde insbesondere der Einzelhandel, der - darüber haben wir noch gar
nicht geredet - völlig am Boden liegt.
Ich fasse zusammen: Diese Große Koalition geht mit
dem vorliegenden Gesetz das zentrale Problem des Mittelstandes überhaupt nicht an. Denn die fehlenden Aufträge werden hiermit nicht kompensiert. Die Linke fordert ein umfassendes öffentliches Investitionsprogramm
von mindestens 30 Milliarden Euro
({11})
für die Zukunftsbereiche Energie, Bildung und kommunale Infrastruktur. - Es steht Ihnen frei, sich darüber aufzuregen. Wir können gerne in kleiner Runde darüber diskutieren.
Die von Ihnen vorgelegten Maßnahmen helfen den
Hunderttausenden KMUs in Deutschland nicht. Das
Mittelstandsentlastungsgesetz bleibt letztlich ein Scheinriese.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, am Anfang einer
Debatte über Bürokratieabbau und die Halbherzigkeit
der Regierung in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Bürokratie und die damit einhergehenden
Regelungen notwendig sind. Aber selbstverständlich
braucht der sozial und ökologisch verantwortliche Staat
einen anspruchsvollen Ordnungsrahmen. Damit ist
auch Bürokratie als effizienter Steuerungsmechanismus
verbunden.
Wir brauchen Bürokratie, um Rechtssicherheit, aber
auch - das wurde bereits angesprochen - um den Schutz
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und eine gesunde Umwelt zu gewährleisten. Bürokratie muss aber
auch effizient sein. Sie muss ihre Ziele erreichen und vor
allen Dingen auch verständlich sein.
Ich möchte mit dieser Eingangsbemerkung Herrn
Brüderle und der FDP noch einmal ins Stammbuch
schreiben, dass ein Bürokratieabbau nach dem Motto
„Hau weg das Ganze!“, das in Ihren Anträgen immer
wieder zum Tragen kommt, nicht unbedingt zu mehr
Freiheit, sondern häufig zu mehr Unsicherheit und
Chaos führt.
({0})
Unsere Aufgaben sind in einem sehr schwierigen
Spannungsfeld zu erfüllen. Sir Ralf Dahrendorf hat, wie
ich finde, dieses Spannungsfeld sehr schön beschrieben:
Wir brauchen die Bürokratien, um unsere Probleme
zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindern sie
uns, zu tun, wofür wir sie brauchen.
Ich finde, das ist die richtige Beschreibung der Situation: Keiner will Bürokratie haben, aber an vielen Stellen wird sie dann doch wieder von den jeweiligen Lobbys eingeklagt. Sie ist in vielen Bereichen historisch
gewachsen. Die Aufgabe anzugehen, die Bürokratie effizient und überschaubar zu machen, erfordert Mut, zum
Beispiel gegenüber den Lobbys. Vor allem in jüngster
Zeit finden sich in der aktuellen Debatte immer wieder
Beispiele, die zeigen, dass der Bundesregierung dieser
Mut fehlt.
Ein aktuelles Beispiel ist der Kniefall der Bundesregierung vor der Autolobby im Zusammenhang mit den
CO2-Emissionen. Das Vermischen von Kriterien - wie
die jeweilige Höhe der CO2-Emissionen und die Anrechnung des Biospritverbrauchs - wird zu einem riesigen
bürokratischen Aufwand bei der Grenzwertbestimmung
führen. Sie reden zwar viel, tun aber an vielen Stellen
genau das Gegenteil.
Sie haben - darauf hat Herr Schauerte schon hingewiesen - das Ziel formuliert, 25 Prozent der Bürokratiekosten abzubauen. Dafür haben Sie lange gebraucht.
Sie haben angegeben, dieses Ziel bis zum Jahr 2011 erreichen zu wollen. Damit verschieben Sie das Vorhaben
in die nächste Legislaturperiode. Das ist viel zu spät
- Herr Wend hat schon darauf hingewiesen -, weil man
Sie dann nicht an Ihren Maßnahmen messen kann. Wir
fordern Sie auf, klare Ziele zu benennen, damit Sie an
Ihren eigenen Vorstellungen gemessen werden können.
({1})
Das jetzt vorgelegte zweite Mittelstandsentlastungsgesetz sieht 17 Maßnahmen vor - Sie haben die Zahlen
vorhin genannt -; umgerechnet entspricht das einem Anteil von 0,075 Prozent am Abbau der Bürokratiekosten.
Das sind noch nicht einmal Trippelschritte.
Wenn man den Blick auf Ihr gesamtes Handeln richtet, dann wird deutlich, dass Sie nicht nur auf der Stelle
treten, sondern zurücklaufen.
({2})
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Wie sieht die Unternehmensteuerreform aus, über die zurzeit diskutiert
wird? Sie schaffen drei Informationspflichten ab und legen 32 neue auf. Auf eine abgeschaffte Informationspflicht kommen also zehn neue.
Betrachtet man das alles im Zusammenhang, dann
kommt man zu dem Schluss, dass nicht weniger Bürokratie, sondern mehr Bürokratie geschaffen wird. Herr
Schauerte, Sie haben gesagt, Sie seien systematisch vorgegangen. Aber hier offenbaren sich die Schwächen Ihres Gesamtkonstrukts. Der von Ihnen eingerichtete
Bürokratie-TÜV setzt sich - das ist ein zentrales Problem - eben nicht mit allen Gesetzen auseinander, wie
Sie behauptet haben. Er setzt sich allenfalls mit den Gesetzen der Bundesregierung auseinander. Aber das, was
aus dem Parlament kommt, wird gar nicht überprüft. Das
heißt, Sie haben von vornherein die Hintertür, ein riesengroßes Scheunentor, aufgemacht.
Im Rahmen des von Ihnen gefeierten Standardkostenmodells werden nur die Informationskosten überprüft
und nicht das, was Bürokratie an vielen anderen Stellen
kostenintensiv macht. Sie alle kennen doch die Beispiele
wie die von Ihnen ins Feld geführten Erleichterungen bei
den Unternehmensgründungen und die Anforderungen
für Kleinbetriebe, die, wenn sie mehr als zwei Beschäftigte haben, zwei getrennte Toiletten für Männer und
Frauen einrichten müssen. Ich könnte diese Liste beliebig verlängern. Das alles kann man im Rahmen der Informationskosten nicht messen. Das ist eine unsinnige
Bürokratie, die wir abbauen müssen.
({3})
Wir fordern deswegen, dass alle Gesetze überprüft werden und dass alle Bürokratiekosten auf den Prüfstand gestellt werden, nicht nur ein ganz kleiner Teil.
Das Problem ist, dass Sie zwar groß blinken - es ist
Chefsache -, sich aber nicht wirklich an den Bürokratieabbau heranwagen. Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel
aus der letzten Zeit. Dieses Bürokratiemonster eines
Gesundheitsfonds ist von Ihnen selber an keiner Stelle
zur Debatte gestellt worden.
({4})
Deswegen fordert meine Fraktion im Zusammenhang
mit dem Bürokratieabbau einen parlamentarischen Ausschuss - ähnlich dem Haushaltsausschuss -, der sich jedes Gesetz vornimmt und es nicht zulässt, dass sich die
Bundesregierung die Rosinen herauspickt und letztendlich um die große Aufgabe drückt.
({5})
Die Arbeitsgemeinschaft Mittelstand hat Ihnen ins
Stammbuch geschrieben, dass es sich hier eher um redaktionelle Änderungen handelt. Ich will nicht sagen,
dass die einzelnen Änderungen überflüssig sind; natürlich brauchen wir sie. Aber sie bringen uns nicht wirklich voran. Herr Glos hat gesagt, das Vorhaben sei ein
Leuchtturm der Regierungstätigkeit. 0,075 Prozent - ich
habe diese Zahl vorhin genannt -, das ist meiner Ansicht
nach ein ziemlich schwaches Licht für einen Leuchtturm. Ich befürchte, dass Ihr Projekt Bürokratieabbau an
den Klippen zerschellt, wenn Sie so weitermachen.
Schauen wir uns einmal genau an, was Sie uns alles
vorgelegt haben. Herr Wend, Sie selbst haben eingeräumt - das finde ich gut -, es fehle einiges. Sie haben
das Problem der Generalunternehmerhaftung angesprochen. Gestern haben wir über die Bauabzugsteuer gesprochen. Im Hinblick auf das Erreichen des Ziels, die
Schwarzarbeit am Bau einzudämmen, müssen wir die
entsprechenden Gesetze auf den Prüfstand stellen; denn
anstatt Schwarzarbeit zu verhindern und Effekte zu erzielen, sorgen sie in der Praxis offenbar für mehr Bürokratie.
({6})
Wir müssen mehr und umfassend über den Bürokratieabbau nachdenken, und zwar auch über die großen Projekte, die Sie still und heimlich unter den Tisch fallen
lassen wollen.
An die Adresse der FDP, die sich immer wieder an die
Spitze der Bewegung stellen will, sage ich: Machen Sie
doch mit bei der endgültigen Entschlackung der Handwerksordnung! Wir waren hier schon weiter.
({7})
An die Adresse der Regierung sage ich: Machen Sie
doch mit bei der modernen rechtlichen Gestaltung des
Schornsteinfegerwesens, anstatt das Gebietsmonopol in
Deutschland - ein Schornsteinfeger für eine Region, das
ist vorsintflutlich - fortzuschreiben, sodass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher heute noch immer nicht
den Schornsteinfeger aussuchen können, den sie beauftragen wollen!
({8})
Das alles führt nur zu mehr unsinniger Bürokratie.
Das ist auch kein Verbraucherschutz, und das ist auch
nicht ökologisch, sondern das Gegenteil von all dem.
Frau Kollegin, Herr Kollege Hinsken würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne.
Frau Kollegin Dr. Dückert, Sie gehören einer Fraktion
an, die von 1998 bis 2005 an der Regierung war. Würden
Sie mir bitte sagen, was speziell in dieser Zeit zur Entlastung insbesondere des Mittelstandes von Bürokratie
unternommen wurde? Ich sage Ihnen gleich, wie ich es
empfinde: Es ist fast nichts geschehen. Jetzt geißeln Sie
- zu Recht - diese Bürokratiebelastung; aber wenn Sie
damals schon etwas in die Wege geleitet hätten, dann
hätte das dem Bürokratieabbau mehr gedient, und Sie
könnten etwas glaubwürdiger vor uns reden.
({0})
Lieber Kollege Hinsken, ich habe gedacht, dass Sie,
wie sonst üblich, nach der Handwerksordnung fragen.
Ich kann aufgrund Ihrer Geschichte verstehen, dass Sie
genau dieses große Projekt des Bürokratieabbaus nicht
geschätzt haben,
({0})
aber es war eines der größten Projekte zum Bürokratieabbau, die dem Mittelstand genutzt haben. Wir haben infolge dieser Verschlankung der Handwerksordnung erlebt, dass der Mittelstand mit Existenzgründungen und
einem Boom von Neugründungen reagiert hat. Ich
denke, etwas Besseres konnte man gar nicht tun.
({1})
Ich möchte zum Schluss kommen. Es ist sicher verdienstvoll, dass das Thema jetzt in den Überschriften
steht. Es gibt einen irrsinnigen, historisch gewachsenen
Dschungel von Vorschriften, an die wir heranmüssen.
Die Strukturen müssen geändert werden. Ich habe die
Stichworte genannt: Der Bürokratie-TÜV, der Normenkontrollrat, muss sich um alles kümmern, um alle Gesetze, die hier diskutiert werden. Wir brauchen einen
Ausschuss im Parlament, der sich originär damit befasst.
Es ist wichtig, alle Kosten der Bürokratie auf den Prüfstand zu stellen und alle unsinnigen Auswüchse zu beseitigen.
Wir brauchen ein Arbeitsgesetzbuch, um den kleinen
und mittleren Betrieben in dem Dschungel der verschiedenen Gesetze einen Wegweiser an die Hand zu geben.
Damit meine ich nicht - das sage ich auch in Richtung
FDP - den Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten. Das
ist bei Ihnen immer das trojanische Pferd. Wir brauchen,
gerade was das Steuerrecht anbelangt, auf EU-Ebene
eine Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage. Das
würde uns viel bei der unübersichtlichen Steuergesetzgebung helfen. Meine Redezeit reicht jetzt nicht aus, um
Ihnen noch all die Ideen vorzutragen, die wir in den Diskussionsprozess einbringen werden. Ich freue mich darauf, im Ausschuss weiter darüber zu debattieren.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Dückert, ich kann wirklich nicht alles nachvollziehen,
was Sie hier von sich gegeben haben. Gerade die Grünen
haben doch in vielfältiger Weise dafür gesorgt, dass die
Bürokratie in Deutschland gewachsen ist. Ich habe von
Ihnen bis jetzt wirklich kaum konkrete Vorschläge gehört, wo wir die Bürokratie, von der wir viel zu viel haben - da sind wir uns völlig einig -, abbauen können. Sie
hatten sieben Jahre lang Zeit, das zu tun, was Sie hier
vorgeschlagen haben. Ich habe aber in den sieben Jahren
der letzten Legislaturperiode - das habe ich im Wirtschaftsausschuss erlebt - von Ihnen dazu gar nichts gehört. Ich frage mich wirklich, wo Ihre Glaubwürdigkeit
bleibt, wenn Sie jetzt das fordern, was Sie hätten tun
können, als Sie in der Regierung waren. Sehr interessant,
aber nicht glaubwürdig.
({0})
Diese Bundesregierung ist mit dem Ziel angetreten,
Bürokratie abzubauen, und sie tut das in vielfältiger
Weise. Wir haben ein erstes Mittelstandsentlastungsgesetz verabschiedet. Jetzt liegt uns der Entwurf eines
zweiten Mittelstandsentlastungsgesetzes vor. Wir sind
selbstverständlich bereit, mit Ihnen zusammen zusätzliche Punkte in das parlamentarische Verfahren einzubringen. Wir werden darüber auch in den Berichterstattergesprächen diskutieren. Jeder in diesem Hohen Hause ist
eingeladen, sich daran zu beteiligen.
Wir haben einen Normenkontrollrat eingerichtet
- auch das hätten Sie machen können; aber wahrscheinlich hatten Sie noch nicht einmal die entsprechenden
Ideen -, und er hat viel schneller seine Arbeit aufgenommen als zum Beispiel das entsprechende Gremium in
den Niederlanden, Actal. Bei uns läuft dieses System.
Die Messverfahren werden bis zum Frühsommer dieses
Jahres abgeschlossen sein.
Die Bundesregierung hat Ziele festgelegt. Ich bin mit
dem Kollegen Wend völlig einig, dass diese Ziele nicht
zu langfristig ausgelegt sein sollten; vielmehr sollten wir
die Bundesregierung durchaus auffordern, Ziele festzulegen, die bis zum Jahre 2009 zu erreichen sind. Wir sind
uns darüber im Klaren, dass es innerhalb von zwei Jahren nicht zu einem Abbau um 25 Prozent kommen kann.
Dennoch sollten die Ziele eindeutig formuliert werden.
Diese Bundesregierung tut konkret etwas für den Mittelstand. Sie labert nicht nur herum, sondern sie handelt.
Beispielhaft dafür möchte ich nennen, was das Ministerium für Wirtschaft und Technologie und das Ministerium für Bildung und Forschung getan haben:
Handwerkliche und haushaltsnahe Dienstleistungen
sind steuerlich besser absetzbar. Das hat jede Menge gebracht. Auf einmal ist zum Beispiel die Schwarzarbeit
ein wenig zurückgegangen.
({1})
Diese Maßnahme hat also geholfen, und wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll ist, diesen Weg
weiterzugehen.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bringt etwas. Es gibt schon heute in Deutschland große Probleme, Sanierungsmaterialien zu bekommen. Beispielsweise sind Dachlatten mittlerweile ein Mangelprodukt
- ich kann das nicht nachvollziehen -; sie werden jetzt
aus Litauen importiert. Anscheinend funktioniert das so
gut. Frau Zimmermann, das, was Sie gerade von sich gegeben haben, waren die üblichen Sprüche, die man von
der Linken hört. Dies entbehrt jeglicher gründlicher Recherche. Gerade den mittelständischen Handwerksbetrieben geht es aufgrund der Maßnahmen dieser Bundesregierung so gut wie seit langer Zeit nicht mehr.
({2})
Die Existenzgründungsoffensive hat etwas gebracht.
Wir haben die Förderungen neu gestaltet. Auch das ist
richtig. Wir haben die Internetplattform Startothek geschaffen. Frau Dückert, all das hätten Sie ebenfalls machen können.
Wir straffen jetzt das Außenwirtschaftsgesetz, und
wir werden dafür sorgen, dass die Mittelständler vermehrt in Auslandsmärkte eintreten. Genau das ist notwendig; denn der heimische Markt allein ist auch für
viele Mittelständler mittlerweile zu klein.
Wir haben eine Hightech-Strategie entwickelt, die
bis zum Jahre 2009 mit immerhin 15 Milliarden Euro
unterlegt ist. Wir müssen versuchen, dafür zu sorgen,
dass in Deutschland neue Produkte auf den Markt kommen. Diese Produkte müssen hier also nicht nur erdacht,
sondern auch hergestellt werden.
({3})
Das ist eine Strategie dieser Bundesregierung. Ich halte
sie für sehr richtig.
Last, but not least: zwei ganz wichtige Reformen. Wir
werden eine Unternehmensteuerreform durchsetzen.
({4})
Ich hoffe, wir sind uns darüber einig, dass es darüber
keine Diskussionen geben sollte. Das gehört zur Glaubwürdigkeit unserer Politik.
Genau so gehört es zur Glaubwürdigkeit unserer Politik, dafür zu sorgen, dass der Unternehmensübergang im
Erbfall vernünftig geregelt wird. Wir haben den Entwurf
eines Unternehmensnachfolgegesetzes in der Pipeline.
Dieser Entwurf muss schnellstmöglich ins Parlament.
Wir haben den Unternehmen nämlich zugesagt, dass dieser Gesetzentwurf innerhalb kurzer Zeit beraten wird
und zum 1. Januar 2008 in Kraft tritt. Deswegen werden
wir uns mit diesem Gesetzentwurf intensiv beschäftigen.
Es muss auf diesem Sektor weitergehen.
Selbstverständlich hat das Auswirkungen. Lassen Sie
uns doch ganz einfach einmal die aktuellen Zahlen anschauen. Gestern hat die Bundesagentur bekannt gegeben, dass wir 822 000 Arbeitslose weniger als vor einem
Jahr haben. Die „Bild“-Zeitung, die ja nicht unbedingt
ein regierungsfreundliches Blatt ist, lobt das erste Mal
die Bundeskanzlerin, und zwar völlig zu Recht. Nicht
nur, dass es 822 000 Arbeitslose weniger gibt; es sind innerhalb von einem Jahr auch 455 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen worden. Darauf
können wir stolz sein.
({5})
Ich bin ziemlich sicher: Wenn der Kollege Brüderle
heute Wirtschaftsminister wäre, dann hätte er vor lauter
Kraft kaum bis zum Rednerpult laufen können.
({6})
Der Chef der Bundesagentur spricht von einem „Bilderbuchaufschwung“. Er sagt auch, dass das nicht nur mit
der milden Klimasituation zu tun hat, sondern dass das
ganz klar Folgen des Wirtschaftsaufschwungs sind.
Deswegen möchte ich eine Forderung an uns, an die
Regierungsfraktionen, stellen. Bei diesen exzellenten
Zahlen, die wir aus Nürnberg bekommen, sollten wir
überprüfen, damit das nämlich so weitergeht, ob wir
nicht den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung
weiter senken können. Für uns muss das Ziel sein, die
Lohnzusatzkosten weiter zu senken. Wir können wahrscheinlich sehr bald - der Meinung bin ich - auf einen
Beitragsatz von 3,5 Prozent kommen; das sollten wir zumindest anstreben.
Herr Kollege Wend, es gibt ja in vielerlei Hinsicht zusätzliche Belastungen. Diese haben nichts mit der jetzigen Situation, mit der Gesundheitsreform zu tun; sie resultieren aus den Altlasten. Die Belastungen sind groß.
Die AOK Rheinland-Pfalz hat den Beitragssatz zur
Krankenversicherung um 2,2 Punkte erhöht. Wir müssen
versuchen, meine ich, jeden Freiraum zu nutzen, um zu
weiteren Absenkungen zu kommen. Deswegen muss die
politische Forderung hier ins Haus, in der Arbeitslosenversicherung jeden Spielraum zu nutzen, um das Geld
denjenigen zurückzugeben, die gezahlt haben, nämlich
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Arbeitgebern.
({7})
Ich halte es für notwendig, dass wir auf dem Weg des
Bürokratieabbaus weitermachen. Wir werden ein drittes
Mittelstandsentlastungsgesetz brauchen. Wir alle, alle
Frauen und alle Männer, sollten darüber nachdenken,
was dort zusätzlich aufgenommen werden kann; denn
wir können nicht warten, bis der Normenkontrollrat alle
diese einzelnen Punkte abgearbeitet hat.
Für mich gehört auch dazu, dass wir dem Mittelstand
Glaubwürdigkeit vermitteln - Glaubwürdigkeit durch
eine vernünftige Steuerreform, Glaubwürdigkeit durch
eine vernünftige Erbschaftsteuerreform, aber auch
Glaubwürdigkeit, was die Diskussion über das berühmte
Thema Mindestlöhne angeht. Ich halte den Ansatz von
Bundeswirtschaftsminister Glos genauso wie Sie, Herr
Kollege Wend, für richtig. Ich ärgere mich darüber, dass
beispielsweise Gewerkschaften so tun, als wäre es ein
Skandal, wenn da so geringe Mindestlöhne vereinbart
werden. Ich habe mir die Mühe gemacht, einmal herauszusuchen, wer denn diese Löhne vereinbart hat. Bei der
Friseurinnung in Sachsen war es die Gewerkschaft
Verdi, die den Tarifvertrag mit 3,82 Euro abgeschlossen
hat - ich habe den Tarifvertrag dabei und kann Ihnen das
zeigen, wenn Sie mir nicht glauben - und ihn obendrein
auch noch für allgemeinverbindlich in Sachsen hat erklären lassen. Ich spreche Herrn Bsirske die Berechtigung
für sein permanentes Gejaule ab. Das kann nicht angehen.
({8})
Auf der einen Seite zu sagen, das würde man nicht zulassen, und auf der anderen Seite solche Tarifverträge abzuschließen, das halte ich schon für sittenwidrig.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wend?
Aber selbstverständlich.
({0})
Herr Kollege Fuchs, stimmen Sie mit mir darin überein, dass die Gewerkschaft Verdi den Tarifabschluss, den
Sie kritisieren, möglicherweise nicht deshalb getätigt
hat, weil sie glücklich darüber war, zu nur gut 3,80 Euro
abschließen zu können, sondern deshalb, weil die Kräfteverhältnisse so waren, dass es ihr nicht möglich war,
zu anderen Abschlüssen zu kommen? Solche Abschlüsse
sind ja immerhin noch besser, als wenn die Lohngestaltung völlig ungeregelt bleibt. Wäre das nicht ein gutes
Argument dafür, dass sich der Gesetzgeber fragen muss,
ob er bei der Entlohnung gerade im unteren Lohnbereich
nicht hilfreich sein muss?
Lieber Herr Kollege Wend, wenn eine Gewerkschaft
einen Tarifvertrag abschließt - ich habe selber über viele
Jahre Tarifpolitik gemacht und viele Tarifverträge persönlich unterschrieben -, dann ist das immer ein Ausbalancieren der Situation, dann hat das immer auch etwas
mit der Produktivität in den einzelnen Bereichen zu tun.
Wenn man sagt, dies sei als Tariflohn nicht in Ordnung,
ist es meines Erachtens angezeigt, nicht zu unterschreiben.
({0})
Niemand hat Verdi gezwungen, einen solchen Vertrag zu
unterschreiben.
({1})
Tarifverträge sind keine Versailler Verträge, sondern
werden ausgehandelt.
({2})
Wenn die Gewerkschaft das unterschreibt, dann hat sie
es auch zu verantworten. Diese Verantwortung erfordert
es dann auch, dazu zu stehen und nicht so zu tun, als
gäbe es das nicht.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lassen Sie uns
bitte gemeinsam auf diesem Sektor weitermachen! Lassen Sie uns bitte gemeinsam weiter versuchen, Bürokratie abzubauen und den Mittelstand zu entfesseln! Er
dankt es uns, und er wird uns zusätzliche Arbeitsplätze
bescheren; denn er ist der Jobmotor Nummer eins in
Deutschland.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum einen ist von der Machete für den Dschungel die Rede, die
anderen sprechen von Leuchttürmen. Herr Staatssekretär
Schauerte, es ist sehr interessant, dass Sie verbal etwas
abgerüstet und uns auf die ganz kleinen und zaghaften
Schritte in diesem Gesetz eingeschworen haben. Ich
glaube, damit haben Sie die Wahrheit besser getroffen
als mit den ewigen großen Worten und Ankündigungen.
Es ist gut, dass nach der Vorgabe der Trippelschrittpolitik jetzt wenigstens einige von meiner Fraktion seit
Jahren geforderte Schritte in dem Gesetz enthalten sind:
Entlastung der Existenzgründer, Vereinfachung der Bilanzierungspflichten und die Einführung der Datenübertragung für Arbeitgeberbescheinigungen. Das alles sind
gute Beispiele für kleine Schritte, die Sie wegen des offenbar vorhandenen geistigen Tempolimits in der Koalition vor Kurzem aber noch abgelehnt haben.
({0})
Werfen wir doch einmal einen Blick auf die nüchternen Zahlen: Eine Entlastung in Höhe von
60 Millionen Euro ist schon genannt worden. Die Gesamtbelastung liegt bei etwa 50 Milliarden Euro. Wenn
Sie in diesem Tempo pro Gesetz weitermachen und man
berücksichtigt, dass Sie eine Kostensenkung von
25 Prozent erreichen wollen, dann erkennt man, dass Sie
möglicherweise mit dem 125. Mittelstandsentlastungsgesetz am Ziel sein werden.
({1})
Sie schreiben schöne Worte:
Unnötige Bürokratie und Überregulierung behindern unternehmerisches Engagement und wirtschaftliche Dynamik.
Niemand würde Ihnen da widersprechen. Im konkreten
Teil machen Sie aber nicht entschlossen weiter. Dadurch
erzielen Sie auch keinen spürbaren Effekt. Die Vorschläge liegen ja vor. Sie sprechen von Offenheit im
Verfahren. Allein der DIHK hat 66 Vorschläge vorgelegt, die erneut weitgehend unberücksichtigt bleiben. Ich
will einige Beispiele nennen:
Erstens. Warum führen Sie bei der Buchführungspflicht denn nicht die Millionengrenze ein?
Zweitens. Die Unternehmens- und die Erbschaftsteuerreform sind schon genannt worden. Hier deutet sich
an, dass alle Grundsätze der Steuervereinfachung und
der Entbürokratisierung über Bord gehen werden. Es
zeichnet sich ab, dass gerade die Personengesellschaften
zwar ihren Beitrag zur Gegenfinanzierung leisten, von
den tollen steuerbegünstigten Gewinnrücklagen und den
Ansparabschreibungen aber kaum profitieren werden.
Hier gibt es keine Planungssicherheit, und hier fehlt der
Impuls für unternehmerisches Engagement und wirtschaftliche Dynamik.
Drittens. Herr Kollege Wend, ich will auch noch etwas zum Arbeitsmarkt sagen. Es ist immer schön, wenn
man sich die Pappkameraden gegenseitig vorhält. Sie
werfen uns immer vor, wir wollten die Tarifautonomie
und die Arbeitnehmerrechte abschaffen.
({2})
Finden Sie es denn wirklich richtig - wie neulich in Bayern wieder geschehen -, dass 230 Arbeitsplätze nicht gesichert werden konnten, weil es den Arbeitnehmern, die
einer Vereinbarung mit 98 Prozent zugestimmt haben,
nicht möglich war, ihre Rechte in die eigenen Hände zu
nehmen?
({3})
Viertens. Auch hinsichtlich einer durchgreifenden Reduzierung der Statistikpflichten im Arbeits- und Sozialrecht herrscht Fehlanzeige. Sie begnügen sich letztlich
mit einer Bonsai-Politik. Die Dinge werden nicht weitergetrieben.
Sie haben die 11 000 Informationspflichten genannt,
und Sie schaffen neue. Zwischen dem Inkrafttreten des
ersten Mittelstandsentlastungsgesetzes und dem des
zweiten heute haben Sie allein mit dem Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz und der Gesundheitsreform
wieder einen derartigen Bürokratieschub ausgelöst,
dass Sie selbst das unternehmerische Engagement und
die wirtschaftliche Dynamik behindern, die Sie so schön
an den Anfang des Gesetzes schreiben.
({4})
Die beiden Entlastungsgesetze lassen sich so zusammenfassen: Die Bundesregierung versucht den Bürokratieabbau, aber kaum jemand merkt etwas.
({5})
Mit diesem Doppelspiel - einerseits Placebogesetze,
andererseits mittelstandsfeindliche Maßnahmen in Hülle
und Fülle - muss endlich Schluss sein. Ein engmaschiges Netz bürokratischer Regelungen liegt immer noch
wie Mehltau über unserem Land.
Ludwig Erhard hat einmal gesagt: Je freier die Wirtschaft, desto sozialer ist sie. Erst wenn der Wirtschaftsminister dieses Vermächtnis erfüllt, wird er seiner Aufgabe gerecht.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christian Lange, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Fuchs, so einfach wie
Sie kann man es sich nicht machen. Sie haben auf den
Kollegen Dr. Wend nach dem Motto geantwortet: Wenn
man bei den Tariflöhnen nichts anderes aushandeln
kann, dann ist es eben so, oder man unterschreibt diesen
Vertrag nicht. Ich denke, gerade wir als Abgeordnete, die
wir nicht Mitglieder der Tarifvertragsparteien sind, müssen uns fragen: Was wollen wir eigentlich? Ich sage Ihnen: Ich möchte - ich denke, auch die SPD möchte das -,
dass die Menschen von ihrer Lohnarbeit leben können.
Das muss doch das Ziel sein!
({0})
Wenn man das in der Tarifautonomie nicht mehr aushandeln kann, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob wir
dieses System um das Instrument des Mindestlohns ergänzen müssen.
Ich glaube, wir alle haben das Spektrum, in dem wir
diese Bürokratiekostendebatte führen, hier erlebt. Auf
der einen Seite ist da Die Linke. Ich war sehr überrascht
darüber, was Sie hier gesagt haben. Sie haben die Abschaffung der Statistikpflichten für kleine Unternehmen
als einen Angriff auf diese Unternehmen bezeichnet.
Nehmen Sie eigentlich nicht zur Kenntnis, dass mittlerweile 4 bis 6 Prozent des gesamten Umsatzes von kleinen und mittleren Unternehmen in Bürokratie fließen?
Behaupten Sie, das würde diese Unternehmen freuen?
Ich kann mich nur darüber wundern, wie Sie sich hier
eingelassen haben.
Christian Lange ({1})
Auf der anderen Seite ist da die FDP, die nach wie vor
auf klassischen Manchesterkapitalismus setzt und dies
ein bisschen mit dem Thema Bürokratie bemäntelt.
({2})
Gerade Ihnen von der FDP sage ich noch einmal:
Wissen Sie, was die Vorteile des Standardkostenmodells und des Normenkontrollrats auf diesem Weg, auf
den wir uns jetzt begeben haben, sind? Wir sind aus der
alten Diskussion heraus getreten, die aus den Schützengräben geführt wurde. Bei dieser Diskussion standen auf
der einen Seite diejenigen, die die Arbeitnehmerrechte
und die Tarifautonomie schleifen wollen. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die deregulieren wollen.
Ein Grund dafür, dass Sie von der FDP in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gerade bei diesem Thema
versagt haben, war der, dass wir uns in dieser Auseinandersetzung festgehakt haben. Erstmals gehen wir einen
Weg dazwischen. Wir messen, was Dokumentationspflicht und was Berichtspflicht ist. Wir messen, was
diese jeweils kosten. Dieses Thema anzugehen und hier
etwas abzuschaffen, ist das Ziel. Zugegeben, wir machen
kleine Schritte, aber wir machen die ersten Schritte, und
das ist gut so. Diesen Weg werden wir fortsetzen.
({3})
Wir wissen, dass Bürokratieabbau mühsam ist. Mit
diesem zweiten Bürokratieentlastungsgesetz haben wir
für die Unternehmen 58 Millionen Euro und für die Verwaltungen 5 Millionen Euro freigesetzt. Das ist schon etwas!
Wir haben nun schon über vieles gesprochen. Jetzt
will ich noch einmal den Fokus auf das Gesetzgebungsvorhaben selbst lenken. Ich meine, das lohnt sich. Ich
will Ihnen sieben Beispiele dafür geben.
Erstens zu den Existenzgründungen. Wir haben Existenzgründer in den ersten drei Jahren von den statistischen Meldepflichten befreit. Davon sind 7 100 Existenzgründerinnen und Existenzgründer in Deutschland
betroffen. Für diese Unternehmen bedeutet das eine geschätzte Entlastung von 1,2 Millionen Euro.
Zweitens zu den statistischen Erhebungen. Bei kleinen Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten werden statistische Erhebungen auf drei Stichproben pro
Jahr beschränkt. Davon sind 625 Unternehmen betroffen. Das sind nicht viele, aber es geht in die richtige
Richtung.
Drittens. Für 33 000 kleinere Dienstleistungsunternehmen wird die vierteljährliche Befragung entfallen.
Das bedeutet für diese Unternehmen eine Kostenersparnis von 3,5 Millionen Euro pro Jahr.
Viertens zu einer besseren Strukturierung der Zusammenarbeit. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern
wird so bei der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur vereinfacht. Der Verwaltungsaufwand reduziert
sich enorm. Davon sind jährlich rund 2 000 Förderfälle
betroffen, bei denen die KMU-Betriebe zuletzt Investitionen in Höhe von insgesamt 2,7 Milliarden Euro ausgelöst haben. Es wurden rund 40 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert.
Fünftens zur Änderung des Gesetzes zur vorläufigen
Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern. In jährlich rund 900 000 Fällen werden Auskünfte
über Gewerbetreibende von den Gewerbebehörden, die
die Auskunftsersuchen noch manuell bearbeiten, auf die
Finanzbehörden verlagert, die praktisch ohne jeden Zusatzaufwand auf automatisierte Verfahren zurückgreifen
können. Auch hier gibt es Einsparungen von circa
2,2 Millionen Euro.
Sechstens. Die Vorausbescheinigung des Arbeitgebers für die Rentenversicherung wird durch eine Sondermeldung im Meldeverfahren der Sozialversicherung
ersetzt. Bei durchschnittlich rund 800 000 Vorausbescheinigungen pro Jahr ergibt sich aufseiten der Unternehmen eine Bürokratiekostenentlastung von rund
8 Millionen Euro.
Siebtes Beispiel: Vereinfachung der Auskunftsverfahren für Daten aus dem Gewerberegister. Damit entfallen
Hunderttausende Auskunftsanträge ganz oder werden
durch automatisierte Verfahrensabläufe erleichtert. Die
dadurch geschätzte Gesamtentlastung für die Zukunft
beläuft sich auf 42 Millionen Euro.
Es ist mühsam, und - das zeigen diese Details - es
geht um das Kleine. Aber genau diesen Weg müssen wir
gehen. Es ist genau das, was Existenzgründer, was kleine
und mittlere Unternehmen sowie Handwerksbetriebe in
Deutschland drückt. Wir ändern etwas daran. Dies sollten wir auch entsprechend würdigen.
({4})
Nun zu Ihnen, Herr Fuchs, und zu Ihren Vorschlägen
in Sachen Generalunternehmerhaftung und Bauabzugsteuer. Die Generalunternehmerhaftung wurde 2002
für den Baubereich eingeführt. Demnach haftet der
Hauptunternehmer dafür, dass Subunternehmer die Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Wir wollen - das ist
Ziel des Gesetzes - erreichen, dass Sozialversicherungsbeiträge korrekt abgeführt werden. Ich finde, das ist ein
richtiges Ziel. Ich nehme allerdings auch zur Kenntnis,
dass in der „FAZ“ vom 22. Januar zu lesen war, dass es
in zwei Jahren nur etwa acht Haftungsbescheide gegeben
hat und nur in einem Fall tatsächlich eingegriffen worden ist. Ich nehme das sehr wohl zur Kenntnis.
Auch mit der Bauabzugsteuer verfolgen wir ein, wie
ich meine, wichtiges Ziel, nämlich den Umsatzsteuerbetrug zu verhindern. Die Auftraggeber von Handwerkern
oder Baufirmen müssen die Umsatzsteuer auf der Handwerkerrechnung selbst direkt an das Finanzamt überweisen. Wir wissen, dass sich diese Regelungen nur über
Freistellungserklärungen umgehen lassen. Diese wiederum erfordern einen hohen bürokratischen Aufwand
der Unternehmen.
Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag: Warum,
Herr Mittelstandsbeauftragter der Bundesregierung, lassen Sie diese beiden Gesetze nicht einmal vom Normenkontrollrat überprüfen? Wir halten an der Zielsetzung
beider Gesetze fest, überlegen uns aber, ob es nicht einen
Christian Lange ({5})
besseren Weg gibt, zum gleichen Ziel zu kommen. Das
entspricht dem, was wir uns vorgenommen haben und
was der Normenkontrollrat prüfen soll: an dem Ziel festhalten, aber einen besseren Weg finden. Das wäre doch
eine Aufgabe für den neuen Mittelstandsbeauftragten.
Wir würden das unterstützen.
({6})
Lassen Sie uns den Weg weitergehen, Mittelstand und
Handwerk zu entlasten, an den Zielsetzungen festzuhalten und zu überlegen, wie wir bessere Wege finden können, um es Handwerk und Mittelstand in Deutschland
leichter zu machen, dadurch Existenzgründungen zu fördern, statt sie zu behindern. Ich denke, dann sind wir auf
einem guten Weg.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brüderle, bei Ihnen habe ich manchmal den Eindruck, dass Sie zwar „Mittelstand“ sagen, aber eigentlich
immer nur die Konzerne und Großbanken meinen.
({0})
Das zeigt sich darin, dass Sie die Erbschaftsteuer abschaffen wollen. Wir als Linke sagen: Setzen Sie die
Erbschaftsteuer rauf, aber erhöhen Sie den Freibetrag,
damit es die Kleinen nicht und die Mittleren weniger
trifft.
({1})
Sie aber wollen die Erbschaftsteuer ganz abschaffen und
damit den Milliardären und Konzernen, den Großaktionären helfen. Dafür nehmen Sie das schön klingende
Wort „Mittelstand“.
({2})
Weder in der EU noch in Deutschland gibt es einen
einheitlichen Mittelstand. 1 Prozent der Unternehmen
sind Großunternehmen, 1 Prozent sind mittelständische
Unternehmen. 7 Prozent der Unternehmen haben bis zu
49 Beschäftigte. 91 Prozent sind Kleinstunternehmen
mit bis zu 9 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es geht
um diese Klein- und Kleinstunternehmen. Herr Fuchs,
ich weiß manchmal nicht, ob Sie nicht sehr einseitig nur
mit einer bestimmten Kategorie von Unternehmern verkehren, wenn Sie sagen: Denen geht es so gut wie nie. Haben Sie noch nicht erlebt, dass es vielen Unternehmerinnen und Unternehmern im Handwerksbereich in
Deutschland manchmal schlechter geht als Arbeitnehmern und es einigen so geht wie Hartz-IV-Empfängern?
({3})
Haben Sie die Menschen noch nicht kennengelernt,
die überschuldet sind, dann ein Unternehmen halten
wollen? Das ist ein entscheidender Punkt, mit dem sich
Bürokratieabbau auseinandersetzen muss. Bürokratieabbau darf nicht zum Wortnebel werden, hinter dem die
Abhängigkeit der Kleinunternehmen von Konzernen ungehemmt noch weiter verschärft wird.
({4})
Nehmen Sie einmal die Auto- und Elektronikkonzerne. Wo bleibt die Reparaturfreundlichkeit? Es gibt
kaum noch Reparaturmöglichkeiten. Fertigteile werden
irgendwo hergestellt, über Autobahnen oder Schifffahrtswege ins regionale Handwerk gebracht. Versuchen
Sie einmal, einen elektrischen Fensterheber reparieren
zu lassen. Sie müssen gleich die Zentralverriegelung und
die drei anderen Fensterheber mitreparieren lassen.
({5})
Wir müssen per Gesetz die Konzerne zwingen, damit das
Handwerk mehr Freiheiten hat.
({6})
Wer den Konzernen nicht Freiheiten nimmt, kann den
Kleinunternehmerinnen und -unternehmern nicht Freiheiten geben.
({7})
Nehmen Sie einmal die Abhängigkeit von den Großbanken. Haben Sie jemals versucht, als Kleinunternehmer ein Darlehen zu bekommen? Sie hätten da eine entwürdigende Bürokratie bei den Banken erleben können,
auch bei den Sparkassen; denn auch diese stehen unter
Druck, zum einen weil die öffentliche Hand dadurch,
dass sich die Großbanken der Steuerpflicht entziehen,
kaum Gelder mehr zur Verfügung stellen kann, zum anderen weil durch Basel II die Kreditvergabe so reglementiert wurde, dass man sagen kann: Ein Kleinunternehmer in Deutschland bekommt nur dann einen Kredit
von einer Bank, wenn er ihr lückenlos nachweist, dass er
keinen braucht.
Gerade die Kleinstunternehmer haben in den Bereichen der sozialen Sicherung ähnliche oder sogar identische Probleme und Interessen wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das gilt für die Alterssicherung,
für die Krankenversicherung und für die Absicherung im
Fall der Arbeitsunfähigkeit.
Die FDP hat zehn Punkte aufgeschrieben. Diese nützen nicht den Interessen des Mittelstands, sondern zielen
darauf, den abhängig Beschäftigten zu schaden: Die Forderungen nach betrieblichen Bündnissen, nach Abbau
des Kündigungsschutzes und nach dem Verzicht auf gesetzliche Mindestlöhne wenden sich direkt gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
ihrer Gewerkschaften. Die Forderungen nach Privatisierung der Daseinsvorsorge und dem als Reform bezeichneten Abbau der öffentlichen Sozialversicherungen haben mittelbar dieselbe Stoßrichtung.
Als Unternehmer weiß ich: Nicht ideologische Sprüche und blumige Sonntagsreden helfen den Kleinunternehmen aus dem Joch der Energiekonzerne, der Großbanken und der turbokapitalistischen EU-Pleitemaschine
namens Dienstleistungsrichtlinie und Neoliberalismus.
({8})
- Selbstverständlich hat auch in folgendem Punkt der
Kollege Wend recht; ihm habe ich schon vorhin im Zusammenhang mit den Monopolen zugestimmt: Die große
Mehrheit derjenigen, die zum Mittelstand gezählt werden, haben keinen wirklichen Nutzen von den Vorschlägen der Koalition und der FDP.
Wir sollten nicht Zwietracht zwischen den Kleinunternehmen und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
säen, sondern mit gezielter Mehrwertsteuersenkung, mit
gesetzlichen Mindestlöhnen, mit echten staatlichen Investitionsprogrammen dafür kämpfen, dass die Mehrheit
der Menschen, die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie der Kleinunternehmer, wieder mehr
Geld in die Hand bekommt, damit mittelständische
Dienstleistungen und Produkte auch gekauft werden
können.
Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Vereinfachte frische Kredite, aber vor allem ein kräftiger Kaufkraftzuwachs, das
ist das, was die Mehrheit der Arbeitslosen, die Mehrheit
der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer und die
Mehrheit des Mittelstandes dringend braucht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr gehrte Damen und Herren! Herr Dr. Dehm, es ist
eigentlich kaum zu glauben, dass Sie sich als Unternehmer, der Sie ja offensichtlich sind, hier hinstellen und zusätzliche staatliche Lenkung fordern.
({0})
Wir wollen Freiheit, keine staatliche Gängelung. Das ist
unser Verständnis von Wirtschaftspolitik.
({1})
Ich begrüße es, dass wir uns in dieser Debatte auch intensiv über die Bedeutung des Mittelstandes und nicht
ausschließlich über den Bürokratieabbau unterhalten.
Die gestern bekanntgegebenen Arbeitslosenzahlen belegen die Fortsetzung des positiven Trends der letzten Monate beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Erstmals seit
sieben Jahren gibt es im Februar einen Rückgang der
Zahl der Arbeitslosen und im Vergleich zum letzten Jahr
826 000 arbeitslose Menschen weniger. Diese positive
Entwicklung wird maßgeblich vom deutschen Mittelstand getragen. Deutschland ist wieder der wirtschaftliche Gipfelstürmer in Europa. Der Bundeswirtschaftsminister Michael Glos ist der Bergführer des Aufschwungs.
So muss man das sehen.
({2})
Nicht nur die Arbeitslosigkeit geht zurück, auch die
Ausbildungslücke wird deutlich kleiner. Die Zahl der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse
steigt. Die Unternehmer und Handwerker investieren
wieder. Dafür gibt es natürlich Gründe. Der Kollege
Fuchs hat die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen angesprochen. Ich glaube, dass wir
diesen Weg weitergehen müssen. Ich denke, dass über
eine Umsetzung des Vorschlags des Bundeswirtschaftsministers nachgedacht werden sollte, nämlich zukünftig
nicht nur 20 Prozent von 3 000 Euro, sondern 25 Prozent von 4 000 Euro absetzbar zu machen. Das wäre ein
richtiger Schritt, den man verfolgen sollte. Wenn wir die
erkennbare positive Stimmung nachhaltig unterstützen
wollen, müssen wir mehr Bürokratie abbauen, als wir
das bisher getan haben.
Die Bundesregierung ist unter dem Motto „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten“ angetreten. Das
heißt, dass wir die Probleme, die wir haben, jetzt lösen
müssen und sie nicht in die Zukunft verschieben und auf
die nächste Generation verlagern dürfen. Anders formuliert: Wir müssen das Zukunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse stellen. Das klingt vielleicht etwas kompliziert. Aber der eine oder andere unter den Zuhörern
kennt vielleicht den Satz, der genau das ausdrückt, was
ich damit meine, nämlich: Ich will, dass es meinen Kindern einmal besser geht als mir. - Das meine ich, wenn
ich sage, dass das Zukunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse gestellt werden muss. Das ist die Politik,
die wir vorantreiben müssen, um Wachstum und Beschäftigung auf hohem Niveau zu erreichen und Wohlstand und Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten.
Dazu gehört, die Belastungen der Wirtschaft abzubauen. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat festgestellt, dass Bürokratieabbau bis zu 600 000 zusätzliche
Arbeitsplätze in Deutschland bringen und neue Wachstumsimpulse setzen kann. Das zweite Mittelstandsentlastungsgesetz, wie wir es heute beraten, ist ein Meilenstein auf dem Weg dahin.
({3})
Damit ist das Ziel noch nicht erreicht - das ist heute
auch schon angesprochen worden -; aber es ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel.
Wenn Sie über Bürokratieabbau reden, können Sie
feststellen, dass Ihnen drei verschiedene Reaktionen Ihrer Zuhörer entgegenschlagen: erstens Zustimmung. Die
Menschen erkennen, dass es sich um ein wichtiges Anliegen handelt; denn viele sind persönlich sehr stark von
Bürokratie betroffen. Zweitens gibt es Protest von einer
Reihe von Menschen, die sagen, es gehe sowieso nicht
vorwärts; seit Jahrzehnten werde über Bürokratieabbau
geredet, aber es bewege sich nicht wirklich etwas; nur
wieder einer mehr, der zu diesem Thema redet. Die dritte
mögliche Reaktion, die zu erkennen ist, ist die gefährlichste: Spott. Inzwischen ernten wir bei dem Thema Bürokratieabbau auch Spott, weil viele Menschen den Eindruck haben, dass die Politik nicht mehr glaubhaft
versichern kann, dass sie sich dem Bürokratieabbau
wirklich widmet.
Umso wichtiger ist es, dass wir Ziele formulieren.
Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass wir das Ziel
des Abbaus um 25 Prozent, das das Kabinett diese Woche beschlossen hat, ernsthaft angehen. Ich stimme ausdrücklich dem Kollegen Fuchs und dem Kollegen Wend
zu, die gefordert haben, dass wir ein Ziel formulieren,
das wir bis zur nächsten Bundestagswahl erreichen wollen. Damit unterstreichen wir glaubhaft das, was wir den
Menschen sagen: Wir machen Ernst mit Bürokratieabbau.
({4})
Das zweite Mittelstandsentlastungsgesetz bietet,
glaube ich, Herr Staatssekretär Schauerte, wesentlich
ambitioniertere Entlastungsmöglichkeiten, als in dem
Gesetzentwurf aufgeführt wird. Ich glaube, dass die Entlastung sich nicht nur auf die genannte Summe belaufen
wird, sondern eine Entlastungswirkung für die deutsche
Wirtschaft von weit über 200 Millionen Euro entfaltet
wird. Außerdem muss man auch immer wieder darauf
hinweisen, dass mit dem Bürokratieabbau für die Betroffenen eine spürbare Erleichterung verbunden ist, die
über den finanziellen Aspekt hinausgeht.
Sie haben angesprochen, dass die Existenzgründer
in den ersten drei Jahren von den statistischen Meldepflichten befreit werden. Jetzt kann man sagen, das sei
eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Über diese Selbstverständlichkeit diskutieren wir im Deutschen Bundestag seit Jahren.
({5})
Auch von der Vorgängerregierung ist sie nicht in Angriff
genommen worden. Jetzt endlich wird hier ein Ergebnis
erzielt. Die Entlastungswirkung wird für die circa
7 000 Unternehmen vor allem in der kritischen Phase
des Aufbaus des Unternehmens spürbar, in der sich der
Unternehmer zum Beispiel um die Kundenakquise kümmern muss. In dieser kritischen Phase hat eine Entlastungswirkung noch wesentlich mehr Bedeutung als zu
einer späteren Zeit.
({6})
Herr Staatssekretär, Sie haben noch einen weiteren
Punkt angesprochen. Für Kleinunternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten wird es zukünftig eine Begrenzung auf maximal drei Stichprobenerhebungen geben.
Das klingt vielleicht nicht allzu ambitioniert. Aber in der
Praxis zeigt sich, dass es bei den Gutmütigen immer
mehr wird, dass sich bei denen, die auf Anforderung einen Statistikbogen nach dem anderen ausfüllen und die
sich nicht dagegen wehren, das Ganze häuft. Deswegen
ist es wichtig, dass wir hier wirksame Regelungen finden.
({7})
Herr Kollege Zeil, ich will noch auf einen Punkt eingehen, den Sie angesprochen haben. Sie haben gefragt,
warum wir nicht mehr bei der Buchführungspflicht machen. Ich habe die entsprechende Stelle im Gesetzestext
herausgesucht:
… wird die steuerliche Buchführungspflicht vereinfacht.
Im Nachgang zur Erhöhung der Umsatzschwelle
für die steuerliche Bilanzierungspflicht von
350 000 auf 500 000 Euro im Ersten MittelstandsEntlastungsgesetz erfolgt nun auch die Anhebung
der Gewinngrenze von 30 000 auf 50 000 Euro.
Allein diese Maßnahme wird zusätzlich 200 000 Unternehmen in Deutschland entlasten, die zukünftig mit einer einfachen Einnahme-Überschuss-Rechnung auskommen. Wir haben es im Programm; wir haben es gemacht.
({8})
Wir sind diejenigen, die die Bürokratie weiter abbauen. Diesen Weg wollen wir gemeinsam weitergehen.
Danke schön.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die 90 Minuten dieser leidenschaftlichen
Debatte zum Bürokratieabbau zusammenfassen soll, so
stelle ich fest: Alle reden von Bürokratieabbau, aber
viele verstehen darunter sehr Unterschiedliches. Ich will
am Schluss der Debatte den Versuch machen, eine
grundsätzliche Betrachtung über den Bürokratieabbau
anzustellen und den Blick darauf zu weiten.
Wir müssen zwei Fragen beantworten. Erste Frage:
Wo entsteht Bürokratie, wer sind die Verursacher, wer
sind die Täter und die Opfer? Zweite Frage: Was können
wir dagegen tun?
Ich danke Frau Dückert ausdrücklich für den hervorragenden Hinweis: In einem Rechtsstaat sind materielle
Vorschriften, festgelegte Verfahren und Informationspflichten grundsätzlich ein unverzichtbarer Bestandteil
einer funktionierenden Gesellschaftsordnung. Das muss
man als Ausgangspunkt deutlich formulieren. Wenn man
manche Reden der FDP wörtlich nimmt, dann kommt
man zu dem Ergebnis: Alle Steuern und alle Gesetze
müssen weg; dann geht es uns wunderbar; das ist das Paradies auf Erden.
({0})
Aber so ist es nicht, Herr Brüderle.
({1})
Ich sage es einmal deutlich: Nicht Regulierungs- und
Verwaltungsverfahren an sich sind das eigentliche Übel,
sondern die Überdosierung sowohl inhaltlicher als auch
verfahrensmäßiger Art, die dann zu zu viel Bürokratie
führt.
Dieses Grundverständnis vorausgesetzt, will ich Ihnen nun erklären, wie Bürokratie entsteht. Wir haben
heute Morgen im Grunde nur über Gesetze geredet und
haben uns den Schuh angezogen, alle Schuld auf uns zu
nehmen, indem wir von uns sagen: Wir sind die Täter,
weil wir zu viele Gesetze schaffen. Ich sage Ihnen: Das
ist eine sehr verkürzte Sicht. Sicherlich entstehen Bürokratie und Verwaltungsaufwand durch Gesetze und
durch Standards, die wir setzen.
Ich gebe dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit, das zeigt,
dass die Verwaltung zu Bürokratie beiträgt, nämlich die
Fahrradverordnung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom 17. Januar 2006.
Dort wird der wunderbare Versuch unternommen, ein
Fahrrad zu definieren:
Fahrräder … sind alle Fahrzeuge mit mindestens
zwei Rädern, die durch die Muskelkraft des Fahrers
oder der Fahrer mit Hilfe von Pedalen oder Handkurbeln angetrieben werden.
Kinderfahrräder, Kinderroller und ähnliche nicht
motorbetriebene, zum Gebrauch durch Kinder bestimmte Fortbewegungsmittel sind nicht Fahrräder
im Sinne dieser Verordnung.
Das ist wunderbar; das schafft Klarheit. So muss es aber,
ehrlich gesagt, nicht sein.
({2})
Ein Beispiel muss auch die Bundesregierung ertragen.
Ich möchte darauf hinweisen: Das ist noch lange nicht
alles, was uns an Bürokratie täglich und monatlich überzieht. Denn wenn Sie den Blick etwas weiter schweifen
lassen, stellen Sie fest: Es gibt viele Überregulierungen,
die nicht auf staatlicher Initiative oder gesetzlicher Gestaltung beruhen, zum Beispiel die Vorgaben der Berufsgenossenschaften, das Regelwerk zwischen Krankenkassen und Ärztevereinigung im Gesundheitswesen oder
das, was sich die verschiedenen nationalen und internationalen Normgremien, die Fachbruderschaften, ausdenken. Daran ist keiner von Ihnen, keiner von den Kolleginnen und Kollegen, also kein Gesetzgeber, sondern
daran sind Menschen aus dem Handwerk und der Wirtschaft beteiligt.
Die rund 20 000 DIN-Normen reichen von der einheitlichen Kennzeichnung von Lineaturen in Schulheften - das ist die DIN 16552 - 1 - über Prüfnormen für
den Knieschutz bis zum IT-Management. Das Europäische Komitee für Normung hat 2006 sehr stolz verkündet: Wir haben den zehntausendsten europäischen Standard erreicht, nach dem Motto: Hoch lebe der genormte
Krümmungswinkel der Banane! Auch das sollte man bei
der Gesamtbetrachtung bitte im Auge haben.
Ich weite den Blick noch etwas: Wir Bürger reden
gerne darüber, dass wir uns über die Verwaltung ärgern.
Aber tragen wir nicht selber dazu bei, indem wir zum
Beispiel größten Wert auf Einzelfallgerechtigkeit bei
allen möglichen Entscheidungen legen? Ich denke zum
Beispiel an den Fall, dass ich kritisiere, wie ein Lehrer
meine Tochter oder meinen Sohn beurteilt hat, und damit
vor Gericht gehe und mir von vielleicht drei Instanzen
bestätigen lasse, ob die Vier minus richtig war oder
nicht. Auch diese Mentalität spielt bei uns Bürgerinnen
und Bürgern eine Rolle. In die Gesamtbetrachtung sollte
man also auch die Gerichte einbeziehen.
Ich möchte auf Folgendes hinweisen, wenn wir von
Bürokratie, zu großem Verwaltungsaufwand, von Überdosierung und Verwaltungsanforderungen sprechen: Es
gibt sicherlich den Täter Gesetzgeber; aber es gibt sehr
viele mehr, die davon betroffen und nicht nur Opfer sind.
Angefangen von der Verwaltung über die Wirtschaft bis
hin zu uns Bürgerinnen und Bürgern sind wir an dem
Gesamtkunstwerk „Bürokratieaufbau“ mitbeteiligt.
Zur zweiten Frage: Was ist zu tun? Der Staat - damit
fängt es an - sollte seinen Anspruch auf Allzuständigkeit
und Vielfachkontrolle aus meiner Sicht aufgeben. Nicht
für jede staatlich reglementierte Lebenssituation muss
der Staat ein eigenes Testat ausstellen. Muss zum Beispiel ein öffentlich bestellter Schornsteinfeger die Feststellungen eines geprüften Heizungsbauers noch einmal
prüfen und dann bestätigen? Muss ein Statiker des kommunalen Bauamtes jeweils die Ergebnisse eines diplomierten Statikers testieren? Das ist, glaube ich, bei deutscher Übergründlichkeit nicht nötig.
Die Wirtschaft - um diese Adresse zu nennen könnte nach meinem Verständnis viel stärker Eigenverantwortung übernehmen, zum Beispiel durch freiwillige
Selbstverpflichtung. Wir müssen der Wirtschaft doch
nicht alles par ordre du mufti vorgeben. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit außergerichtlicher InteressenausDr. Michael Bürsch
gleichsverfahren. Es gibt freiwillige Vereinbarungen zur
Feinstaubminderung, zur Altautoentsorgung. Es gibt Audits, das heißt selbstangelegte Überprüfungen im Datenschutz und an anderen Stellen. Ich werbe sehr dafür, dass
diese Instrumente der freiwilligen Übernahme von Verpflichtungen viel stärker genutzt werden.
Schließlich wieder an unsere eigene Adresse gerichtet: Wir Bürgerinnen und Bürger könnten manches viel
mehr als bisher in Selbstorganisation und Eigenverantwortung übernehmen. Das bedeutet allerdings, dass wir
an manchen Stellen nicht so sehr darauf pochen, welche
Rechte wir haben und dass wir auch noch bis in die
letzte Instanz Recht bekommen. Vielmehr sollten wir
auch ein paar Pflichten übernehmen und uns zum Beispiel selber zusammentun, um Missstände zu beseitigen.
Auch die Gerichte könnten ihrerseits das Prinzip der
Selbstbeschränkung entdecken. Es gibt auch für Gerichte die Möglichkeit, zu sagen: Nein, darüber entscheiden wir nicht. Wir gehen nicht noch in die letzte Verästelung einer Prüfungsentscheidung oder einer dienstlichen
Beurteilung.
({3})
Ich werbe sehr dafür, dass die Verwaltung ihre Aufgabe stärker darin sieht, Ermessensspielräume auszunutzen, und dass sie nicht den „Doktor Kontrolletti hoch
drei“ an den Tag legt. Wir könnten sehr viel mehr Bürokratieabbau erreichen, wenn aufseiten der Verwaltung
erkannt wird: Ich muss nicht eine doppelte und dreifache
Kontrolle in jede Verästelung hinein vorsehen. Ich begreife mich nicht als Verwalter, sondern als Gestalter der
öffentlichen Dinge. Das ist vielleicht eine Art neue Verwaltungskultur. Aber ich sage Ihnen: Es geht.
Wo dies besonders eine Rolle spielt, ist der Bereich,
der mich sehr beschäftigt: der Bereich des Ehrenamts
und des bürgerschaftlichen Engagements. Ich könnte Ihnen Hunderte, Tausende von Fällen nennen, Ihnen sieben, acht, zehn Aktenberge auf den Tisch legen, um Ihnen zu zeigen, welche Hürden es in dem Bereich des
Ehrenamts, des freiwilligen Engagements, gibt, die
wirklich nicht nötig sind. An dieser Stelle appelliere ich
ausdrücklich an die Verwaltung, zu erkennen: Ich kann
das entscheiden. Niemand wird mich festnageln oder mir
einen Schadenersatzprozess an den Hals hängen, wenn
ich zugunsten des Engagements weniger bürokratisch
entscheide.
Fazit von alledem: Der Abbau von Bürokratie ist
nicht allein Sache des Gesetzgebers, obwohl auch er gefordert ist. Einiges ist auf den Weg gebracht worden.
Heute ist viel von Bonsais, Bergführern, kleinen und
größeren Leuchttürmen gesprochen worden. All das ist
richtig. Auf diesem Wege muss es vorangehen. Genauso
richtig finde ich den Normenkontrollrat.
Das Gesamtprojekt betrifft aber die Gesellschaft, den
Staat und die Wirtschaft. Wir müssen zusammenwirken.
Das ist eine Gesamtaufgabe. Ich stelle mir vor: Wir
könnten gemeinsam eine Leitlinie für das Gesamtprojekt
Bürokratieabbau ausgeben, nach dem Motto von Konfuzius: „Wer etwas will, sucht Wege, wer etwas nicht
will, sucht Gründe.“ Es wurden genug Wege beschrieben. Also: Bürokratieabbauer aller Länder, vereinigt
euch!
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4391 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie auf der Drucksache 16/1070. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD auf Drucksache 16/557 mit dem Titel
„Neue Impulse für den Mittelstand“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi-
tion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/562 mit dem Titel „Unter-
nehmen statt Unterlassen - Vorfahrt für den Mittel-
stand“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die
Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig
Fischer ({0}), Eckart von Klaeden, Anke
Eymer ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Gert Weisskirchen
({2}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Für eine Politik der gleichberechtigten Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern
- Drucksache 16/4414 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller ({4}), weite8384
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Afrika auf dem Weg zu Demokratie und nachhaltiger Entwicklung unterstützen
- Drucksache 16/4425 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel,
Dr. Norman Paech, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Für eine Afrikapolitik im Interesse der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit
- Drucksache 16/4410 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesaußenminister, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({7})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gründe
für eine Afrikadebatte in diesem Hause gibt es reichlich.
Ich freue mich, dass die Fraktionen des Deutschen Bundestages Anlässe für eine solche Debatte geschaffen haben. Ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich bin Ihnen dankbar,
dass wir die Debatte jetzt führen; denn 2007 ist in der Tat
ein wichtiges Jahr für Afrika. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass Ghana fast auf den Tag genau vor 50 Jahren
unabhängig geworden ist und damit einen historisch einmaligen Prozess der Dekolonialisierung, und zwar unumkehrbar, eingeleitet hat.
Schauen wir heute auf dieses Land: Ghana zeigt gerade mit der Bereitschaft, den Vorsitz in der Afrikanischen Union zu übernehmen, seine Entschlossenheit,
auch künftig als Pionier in Afrika voranzugehen. Das,
was wir jetzt sehen, ist in diesem Jahr wichtig. In diesem
Jahr haben wir allein in Westafrika bis zu elf Wahlen
vor uns, darunter die ganz besonders wichtige Präsidentschaftswahl in Nigeria, die ganz sicher - egal wie sie
ausfallen wird - Signalwirkung für den gesamten Kontinent haben wird.
Ich betone das, weil ich denke, dass der vor uns liegende Wahlkalender in Afrika eines zeigt, nämlich dass
Demokratisierung und politische Entwicklung unseres
Nachbarkontinents viel weiter sind, als wir in Europa
das manchmal wahrhaben wollen.
({0})
Ich sage das, obwohl ich die Probleme kenne: Elend
und Bürgerkrieg in manchen Regionen dieses Kontinents. Aber es gibt eben auch die positiven Zeichen. Ich
erinnere mich, dass Thabo Mbeki Ende der 90er-Jahre
eine „Afrikanische Renaissance“ gefordert hat. Ich erinnere mich, wie viele darüber gelächelt haben. Was damals noch als Träumerei galt, ist heute in vielen Teilen
Afrikas politische Realität geworden. Sie kennen das
Engagement vieler afrikanischer Staaten in der Entwicklungspartnerschaft NEPAD, in der sie zeigen, dass sie
sich zu mehr Demokratie und Transparenz verpflichten.
Sie haben den Prozess der letzten Jahre mitverfolgt, in
dem sich die Afrikanische Union mehr und mehr zu einer handlungsfähigen Gemeinschaft entwickelt hat.
({1})
Was zeigt das? Afrika hat sich aus meiner Sicht auf
der Weltbühne zurückgemeldet - nicht nur als bloßer
Empfänger von Entwicklungstransfers, sondern als Mitgestalter unserer gemeinsamen globalen Zukunft. Ich
nenne nur - Sie haben das aus jüngster Zeit in Erinnerung - die Gastgeberrolle Kenias beim Weltsozialforum
Anfang dieses Jahres. Die Umweltpolitiker unter Ihnen
erinnern sich an die Weltklimakonferenz Ende 2006.
Mir liegt fachlich sehr viel näher die positive Rolle, die
etwa Ghana und Südafrika im Gouverneursrat der Internationalen Atomenergiebehörde gespielt haben, auch
und gerade bei der Behandlung des immer noch nicht gelösten Konflikts mit dem Iran.
({2})
Ich meine, all das zeigt: Die Staaten Afrikas wollen gestalten, nehmen das Leitmotiv „African Ownership“
ernst und sind bereit, sich über ihren eigenen Kontinent
hinaus aktiv einzubringen.
Was ich über die politische Entwicklung sage, gilt
auch - vorsichtig gesehen - für die wirtschaftliche Entwicklung. Nach den Wachstumsraten, die seit zwei
oder drei Jahren relativ stabil sind und sich in diesem
Jahre offensichtlich so fortsetzen, können wir mit einem
soliden Wirtschaftswachstum des afrikanischen Kontinents von im Durchschnitt immerhin 5 bis 6 Prozent
rechnen. Ich weiß, dass ein Großteil dieses Wachstums
auf die hohen Rohstoffpreise zurückzuführen ist. Ich
weiß auch, dass die Gründung von Wachstum nur auf
Ausbeutung von Rohstoffressourcen seine eigenen Probleme mit sich bringt. Wirtschaftlich gesehen zeigen die
Fakten: Afrika ist - Sie alle wissen das - für private InBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
vestoren interessanter geworden, zumal für asiatische
und insbesondere für Investoren aus China.
Für die politische wie für die wirtschaftliche Zukunft
Afrikas wird ganz entscheidend sein, dass der eben angesprochene positive Reformkurs fortgesetzt wird. Das
gilt ganz sicher politisch und auch beim Ausbau der Bildung, bei dem wir viel helfen müssen. Es gilt aber auch
wirtschaftlich; auch dort brauchen wir eine Fortsetzung
der Reformen. Denn Sie alle wissen oder ahnen: Nur
wenn es gelingt, dass ausländisches Kapital und ausländisches Know-how nach Afrika kommen, werden wir
Armut auf diesem Kontinent wirksam und nachhaltig bekämpfen können.
({3})
Nur wenn das gelingt, dann wird die Jugend dieses
Kontinents und damit die Hälfte der Einwohner Afrikas
eine Zukunft in ihrem eigenen Land sehen. Nur dann
können politische und wirtschaftliche Institutionen aufgebaut und erhalten werden, solche Institutionen, die in
der Lage sind, Herausforderungen wie Aids, regionale
und innerstaatliche Konflikte, Urbanisierung und Migration wirksam anzugehen und hoffentlich auch zu meistern. Meine Damen und Herren, wir in Deutschland bzw.
in Europa insgesamt wollen Afrika auf seinem Weg in
die Zukunft partnerschaftlich begleiten. Das sollte die
Botschaft sein, die von der heutigen Debatte ausgeht.
({4})
Deutschland und die Europäische Union haben mit
ihrem Engagement zur Absicherung der Wahlen im
Kongo gezeigt, dass sie bereit sind, Verantwortung zu
übernehmen und die Partnerschaft, von der ich eben gesprochen habe, mit Leben zu füllen. Ich habe, als wir
schon einmal über den Kongo diskutierten, gesagt: Eine
nachhaltige Stabilisierung gerade der Region der Großen
Seen wäre ein Meilenstein für die Entwicklung Afrikas
insgesamt.
Natürlich müssen wir auch Gefahren und Krisenherde
außerhalb dieser Region weiter im Fokus behalten. Es
geht nicht nur um den Kongo. Wir unterstützen auch die
Forderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen,
die Möglichkeiten der Afrikanischen Union im Sudan
schlagkräftiger zu machen und sie mittelfristig mit den
Anstrengungen der Vereinten Nationen zu verknüpfen.
Die Europäische Union wird weitere Mittel freigeben
bzw. freigeben müssen, damit die Finanzierung der AUKräfte sichergestellt werden kann. Am kommenden
Montag werden wir im EU-Außenministerrat darüber
beraten.
Natürlich werden wir die sudanesische Regierung anhalten müssen, sich viel stärker als bisher zu einer politischen Öffnung bereit zu erklären. Ich freue mich, dass
mein ehemaliger schwedischer Kollege Jan Eliasson in
dieser Region unterwegs ist und versucht, neue und jetzt
endlich belastbare Absprachen und Vereinbarungen zwischen den unterschiedlichen Rebellengruppen und der
Regierung zu treffen. Ich denke, wir sollten ihm bei seinem Bemühen auch von hier aus großen Erfolg wünschen.
({5})
Was ich über den Sudan gesagt habe, könnte ich in
abgeschwächter Form auch über Somalia sagen. Wir haben uns in diesem Jahr erneut mit der Situation in diesem Land beschäftigen müssen. Hierzu sage ich: Militärische Präsenz allein wird die Probleme nicht lösen. Sie
ist kein Ersatz für eine politische Lösung, die wir in diesem Land dringend brauchen.
Auch auf europäischer Ebene habe ich die Auffassung
vertreten: Wenn wir, wie gerade geschehen,
15 Millionen Euro für die Bemühungen der Afrikanischen Union freigeben, dort einigermaßen stabile Verhältnisse sicherzustellen, dann muss das unter der Voraussetzung geschehen, dass die somalische
Übergangsregierung bereit ist, den politischen Prozess
bzw. den innerstaatlichen Versöhnungsprozess wirklich
nachhaltig einzuleiten.
({6})
Gott sei Dank kann Deutschland in diesem Jahr aufgrund seiner EU- und G-8-Präsidentschaft ganz besondere Akzente setzen; Frau Wieczorek-Zeul wird dazu
gleich aus der Perspektive der Bundesregierung berichten. In der Europäischen Union tun wir das, indem wir
versuchen, in diesem Jahr endlich die Hindernisse aus
dem Weg zu räumen, die in der Vergangenheit einem
EU-Afrika-Gipfel im Wege gestanden haben.
Im Hinblick auf die internationalen Aktivitäten, die
Sie alle beobachten, müssen Sie sich einmal vorstellen:
Seit nunmehr sieben Jahren gab es zwischen der Europäischen Union und den afrikanischen Staaten keine Zusammenkunft auf Gipfelhöhe, also auf der Ebene der Regierungschefs. Die Gründe dafür sind bekannt. Wir versuchen nun intensiv, und zwar gemeinsam mit der
nachfolgenden portugiesischen Ratspräsidentschaft,
diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir wollen,
dass in der zweiten Jahreshälfte, ungefähr im September,
endlich ein solcher Gipfel möglich wird.
({7})
Schließlich komme ich auf die G-8-Präsidentschaft
Deutschlands zu sprechen. Ganz bewusst haben wir sie
unter das Motto „Wachstum und Verantwortung“ gestellt. Wir werden mit besonderer Beachtung der afrikanischen Staaten - der afrikanischen Staaten, die als Leistungsträger gelten - die dortigen Reformprozesse
unterstützen. Wir wollen die Kapazitäten der Afrikanischen Union und der Regionalinstitutionen im Bereich
Frieden und Sicherheit weiter ausbauen. Ziel ist aus außen- und sicherheitspolitischer Sicht, dass es uns lang8386
fristig gelingt, in Afrika eine umfassende eigene Sicherheitsstruktur zu schaffen.
({8})
Die Zeiten, in denen afrikanische Staaten als Bittsteller behandelt wurden, gehören - ich möchte sagen: Gott
sei Dank! - der Vergangenheit an. Afrika, in all seiner
Vielfalt und Dynamik, ist längst wichtiger Partner geworden. Ich bin überzeugt: In einer Welt, die immer stärker zusammenwächst, die sich zum globalen Dorf entwickelt, brauchen wir ein starkes, ein handlungsfähiges
Afrika, ein Afrika, das gleichberechtigt und auf Augenhöhe wahrgenommen wird.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 900 Millionen Menschen,
54 heterogene Staaten, zwölf Minuten Redezeit für die
FDP und sechs Minuten Redezeit für mich - das zeigt
auch, dass Afrika, verglichen mit anderen Themen in der
Politik, immer noch zu wenig Beachtung bekommt.
({0})
Deswegen begrüße ich es sehr, dass wir heute zu dieser
Stunde, in der Kernzeit, diese Debatte führen.
Aktuell gibt es zahlreiche Herausforderungen: Denken wir an den Konflikt am Horn von Afrika, vor dem
wir noch im Dezember gewarnt hatten; denken wir an
die Lage in Darfur und an die Flüchtlingsdramen an den
Südgrenzen der EU! Diese Konflikte zeigen, dass
Afrika längst im Zentrum internationaler Interessen
steht. Die Konflikte erhalten ihr teuflisches Potenzial
meist im Windschatten ganz anderer Interessen: In
Darfur geht es natürlich auch um Öl. In Somalia geht es
um Sicherheitsinteressen, um den eritreisch-äthiopischen Konflikt. Im Kongo geht es seit Jahrzehnten um
knappe, wertvolle Rohstoffe.
Die Bedeutung Afrikas in der Welt hat in den letzten
Jahren zugenommen. Deshalb ist es wichtig, dass wir
Afrikapolitik nicht immer nur mit einem rein entwicklungspolitischen Ansatz verfolgen.
({1})
Die hierzulande weitverbreitete Ansicht, dass Entwicklungshilfe und wirtschaftliches Engagement einen Gegensatz darstellen, hilft dem afrikanischen Kontinent
nicht. Deutschland kann sein Engagement in Afrika ausbauen, politisch und wirtschaftlich. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung Afrika auf die
Agenda gesetzt hat. Sie hat die einmalige Chance, sich
stärker für die Lösung der Konflikte einzusetzen und dabei vor allem europäische und international abgestimmte
Initiativen auf den Weg zu bringen. Doch leider besteht
der Eindruck, dass schon innerhalb der Bundesregierung
die rechte Hand nicht immer weiß, was die linke tut.
Es gibt wirklich positive Entwicklungen und Chancen
auf dem afrikanischen Kontinent; Herr Steinmeier hat es
ausgeführt. Wir sehen wieder erfreuliches Wachstum,
Schritte zur Demokratie. Gerade im Süden und Westen
des Kontinents gibt es wirklich viele Chancen. Wenn wir
diese Prozesse genau anschauen und ganz ehrlich sind,
dann müssen wir feststellen: Sie sind das Ergebnis von
Wirtschaftsreformen im Innern und Investitionen von
außen und einer Einbindung in den internationalen Handel.
Stellen wir also die beiderseitigen Chancen in den
Mittelpunkt unserer Debatten! Die Bundesrepublik hat
das vorhandene wirtschaftliche Potenzial in vielen Ländern Afrikas verschlafen, obwohl Deutschland insgesamt ein angesehener Partner ist. Ich meine, die Bundesregierung muss sich stärker als bisher für eine
Verbesserung der Bedingungen für Investitionen deutscher Betriebe und Unternehmen in Afrika einsetzen und
dabei auch gezielt für den Umweltschutz und für erneuerbare Energien werben. Denn hier liegt eine Menge
Potenzial, in beiderseitigem Interesse.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Verantwortung für Afrika ist nicht nur interessengeleitet - sie ist
interessen- und werteorientiert. Die Verpflichtung zur
Armutsbekämpfung, zur Konfliktprävention, zur Hilfe
beim Kampf gegen Aids und Hunger und beim Umweltschutz - all das resultiert aus unserer natürlichen Verantwortung. Wir möchten auf dem Weg zur Stabilität, zu einer rechtstaatlichen Gesellschaftsordnung und einer
freien und demokratischen Zivilgesellschaft Unterstützung zur Selbsthilfe leisten.
({3})
Mit dem höheren Stellenwert Afrikas gehen verstärkte Anstrengungen für diese Aufgaben vor Ort einher. Eine konkrete Forderung richtet sich an Sie, Herr
Minister Steinmeier: Notwendig ist die entsprechende
Ausstattung der deutschen Botschaften.
({4})
Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen. Die Rückzugspolitik, die wir bei den Botschaften in Afrika unter
Rot-Grün erlebt haben, war - das muss deutlich gesagt
werden - verheerend.
({5})
Die Ausstattung der Botschaften ist noch heute unzureichend. Wenn zum Beispiel eine deutsche Botschaft in
einem afrikanischen Land mit drei politischen Mitarbeitern auskommen muss, in der französischen oder britiMarina Schuster
schen Auslandsvertretung sind es hingegen zehn bis 14,
dann bedeutet das, dass wir uns auf das Operative beschränken und dass das Konzeptionelle vernachlässigt
wird.
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung
zur politischen Zusammenarbeit. Die Afrikanische
Union hat die Möglichkeit, sich langfristig zum politischen Zentrum Afrikas zu entwickeln. Der Aufbau und
die finanzielle Absicherung der AU schreiten jedoch nur
langsam voran. Wenn wir es mit dem Konzept des
„African Ownership“ ernst meinen, dann müssen wir die
AU stärker als bisher unterstützen, und zwar finanziell,
personell, beim Aufbau der Organisation und beim
Know-how-Transfer.
Was die Sicherheitskomponente anbelangt, kann es
nicht sein, dass wir die AU einerseits als „security provider“ einsetzen wollen und sie dann andererseits im
wahrsten Sinne des Wortes in der Wüste stehen lassen.
Denn das unterminiert unsere Glaubwürdigkeit und die
der AU.
({6})
Kofi Annan hat in seinen letzten Wochen als UNGeneralsekretär der deutschen Bundesregierung noch
eine gewaltige Aufgabe mit auf den Weg gegeben. Er hat
festgestellt, dass es für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents - insbesondere in Subsahara - entscheidend auf die deutschen Präsidentschaften ankommen wird, weil wir unsere Bemühungen intensivieren
und bündeln müssen.
Ich wünsche mir, dass sich aus den verstärkten Bemühungen der deutschen Präsidentschaften spätestens in
Heiligendamm ganz Konkretes ergibt, nämlich Taten.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Mit den Worten „Die Menschlichkeit der Welt entscheidet sich am Schicksal Afrikas“ hat Bundespräsident
Köhler in seiner Vereidigungsrede am 1. Juli 2004 deutlich gemacht, welche zentrale Bedeutung Afrika nicht
nur für uns, sondern auch für die internationale Politik
hat.
Das Bild Afrikas hat sich geändert. Zwar bestimmen
Hunger, Armut, Unterentwicklung, Krieg und Bürgerkriege, zerfallende Staaten, Flüchtlingsströme, massive
Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt Aidsepidemien nach wie vor das Bild Afrikas. Das Bruttosozialprodukt aller Länder südlich der Sahara entspricht
etwa dem Argentiniens. Von 51 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt liegen 42 in Afrika. Aber es
gibt auch ein vorwärtsgewandtes, Optimismus ausstrahlendes und dynamisches Afrika. Deswegen besteht für
uns die Gelegenheit, die bereits vorhandenen Ansätze
für eine neue und echte Partnerschaft mit Afrika in einer
neuen Qualität zu entdecken und weiterzuentwickeln.
Wir müssen uns von einem vom altruistischen Paternalismus geprägten Afrikabild hin zu einem strategischen Dialog mit Afrika entwickeln. Wir müssen einen
strategischen Blick auf den Kontinent richten. Dabei
sollten wir auch berücksichtigen, welch hohes Ansehen
Deutschland in vielen Ländern Afrikas hat. Deutschlands Ansehen ist höher als das vieler anderer europäischen Länder, die immer noch mit ihrer kolonialen Vergangenheit in Verbindung gebracht werden. Dieses
Ansehen sollten wir im Interesse Afrikas, im Interesse
Europas und nicht zuletzt auch in unserem eigenen Interesse nutzen.
({0})
Wenn wir über die Asymmetrien im Handel sprechen, dann sollten wir darauf achten, den afrikanischen
Staaten mehr Möglichkeiten zu bieten, auf unsere
Märkte zu exportieren. Wir sollten aber auch die afrikanischen Staaten ermuntern und ihnen helfen, selbst für
ein geeignetes Investitionsklima zu sorgen.
({1})
Nach wie vor prägen Rechtsunsicherheit, Staatsgläubigkeit und Überregulierung die meisten Wirtschaftssysteme in Afrika. Traditionen belasten zudem die Entwicklung. Beispielsweise können in vielen Ländern Afrikas
Frauen, auf deren Schultern häufig die Landwirtschaft
ruht, das bewirtschaftete Land nicht erben mit der häufigen Folge, dass sie nach einem Erbfall verelenden und
das Land brachliegt. Einige afrikanische Staaten - leider
noch nicht genug - haben diese Defizite erkannt.
Die Integration in die Weltwirtschaft ist eine Voraussetzung für die Entwicklung Afrikas. Dabei sollten
wir die afrikanischen Staaten ermuntern, sich stärker
dem Aufbau regionaler Märkte zu widmen, als primär
auf den notwendigen, jedoch nur mühsam zu erreichenden Abbau von Handelsbarrieren der industriellen Welt
zu warten.
({2})
Ein wesentlicher Erfolg unseres Landes besteht darin,
dass ein großer Teil unserer Exporte in die Europäische
Union geht, dass also unsere wirtschaftliche Kraft und
unser Wohlstand vor allem vom regionalen Handel abhängen. Ich finde, dieses Beispiel sollte auch in Afrika
Schule machen.
Was gehört zu einem strategischen Blick auf Afrika?
Ich will drei Punkte nennen: erstens die Sicherung des
Friedens, zweitens Afrika als Partner bei der Gestaltung
der Globalisierung sowie drittens Ressourcen- und Energiesicherheit.
Die große Gefahr besteht darin, dass die in weiten
Teilen Afrikas herrschenden Konflikte über die Grenzen
des Kontinents hinaus wirken und auch uns unmittelbar
betreffen. Im Herzen Afrikas, an den Großen Seen, in
Teilen Westafrikas und am Horn von Afrika ist in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine explosive
Mixtur aus sozialer Verelendung, Werteverfall, wirtschaftlichem Niedergang, Rechtlosigkeit, politischem
Zerfall und exzessiver Gewaltanwendung entstanden,
die in ihren verheerenden Folgen der uns nur zu gut bekannten Entwicklung in Afghanistan in den 90er-Jahren
ähnelt. Politische Instabilität sowie Armut und Hoffnungslosigkeit stellen eine große sicherheitspolitische
Gefahr dar. Internationale Waffen - und Drogen - sowie
kriminelle Kartelle und transnationale Terroristen machen sich diese Umstände bei Operationen, Rekrutierung
und Finanzierung - Beispiele sind Blutdiamanten oder
Coltan - zunutze und verschärfen diese Konflikte in ihrem Interesse.
Es gibt leider nach wie vor genügend Anzeichen dafür, dass Somalia und andere Konfliktregionen Afrikas
nicht nur Quellen des transnationalen Terrorismus waren, sondern zum Teil noch sind. Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Osama Bin Laden, bevor er nach Afghanistan ging, sein Terrornetzwerk vom
Sudan aus geführt hat. Deshalb ist es richtig, dass wir
den Aufbau des Terrorismusbekämpfungszentrums der
AU in Algier unterstützen.
Es kommt insbesondere beim Aufbau der Sicherheitsstrukturen in Afrika auf das an, was man so schön
African Ownership nennt. Am 31. Januar 2007 waren
weltweit über 82 000 Polizisten und Soldaten im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen im Einsatz.
Eine Rekordzahl! Davon waren allein in Afrika
55 000 Polizisten und Soldaten eingesetzt. Die afrikanischen Länder stellten 18 000 Polizisten und Soldaten für
diese VN-Missionen zur Verfügung. Das ist ein beeindruckender Beitrag. Nichtsdestotrotz ist der Saldo Afrikas bei der Herstellung der eigenen Sicherheit - im Vergleich zu 55 000 auf dem afrikanischen Kontinent
eingesetzten Polizisten und Soldaten die erwähnten
18 000 afrikanischen Soldaten und Polizisten - bedauerlicherweise negativ. Deswegen liegt es auch in unserem
Interesse, in das Zentrum unserer Bemühungen den Aufbau und die Stabilisierung der entstehenden afrikanischen Sicherheitsarchitektur zu stellen.
({3})
Dabei steht die Afrikanische Union im Mittelpunkt,
deren wichtigstes Organ der Friedens- und Sicherheitsrat
ist, der im März 2004 seine Arbeit aufgenommen hat.
Die westafrikanische ECOWAS ist die aus sicherheitspolitischer Sicht am weitesten entwickelte Regionalorganisation in Afrika. Sie hat wie keine andere Regionalorganisation in Mitgliedsländern militärisch interveniert,
in denen gewaltsame Konflikte eskalierten, und entschlossen und eindeutig auf MiIitärputsche in Niger und
Gambia sowie an der Elfenbeinküste und in Togo reagiert. Das heißt, es kommt ganz wesentlich darauf an,
diese Sicherheitsarchitektur bei allen Defiziten, die sich
zum Beispiel auch im Rahmen von AMIS im Sudan gezeigt haben, zu unterstützen. Dabei, Frau Kollegin
Schuster, kommt es auch darauf an, dass zunächst einmal die Initiative von den afrikanischen Staaten selber
ausgeht. Ich hatte eben den Eindruck, als wollten Sie in
Ihrem Beitrag zuerst die Europäische Union und damit
auch die Bundesregierung für die Schwierigkeiten in
Darfur verantwortlich machen.
({4})
Es geht vor allem um African Ownership, was Voraussetzung für eine nachhaltige Friedenslösung ist, für die
wir uns einsetzen. In diesem Zusammenhang begrüße
ich es sehr, dass sich die Bundesregierung bei der Gründung des Kofi Annan International Peace Keeping Training Centre in Ghana engagiert und sich auch am Aufbau eines Krisenfrühwarnsystems am Sitz der AU in
Addis Abeba beteiligt.
({5})
Der zweite Punkt ist die Gestaltung der Globalisierung. Wir dürfen angesichts der internationalen Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt-, Klima- und Sicherheitspolitik nicht vergessen: Afrika besitzt in internationalen
Organisationen eine große Macht schon allein deswegen,
weil es mit seinen über fünfzig Staaten ein hohes numerisches Gewicht in multilateralen Organisationen und Institutionen einzubringen hat, in denen das Prinzip „One
Country, One Vote“ gilt. Es ist aber auch wichtig, dass
Afrika erkennt, dass es seine Rolle in diesen Institutionen besser koordinieren muss, und dass vor allem die
Lösungen der Probleme, die nur in diesen internationalen Organisationen erreicht werden können, wie zum
Beispiel die Konsequenzen der Erderwärmung oder die
Fragen des Klimaschutzes, zuallererst Afrika zugutekommen; denn kein Kontinent droht so sehr unter der
globalen Erwärmung zu leiden wie Afrika.
Der dritte Punkt betrifft die Rohstoff- und Ressourcensicherheit. Auch daran haben wir ein eigenes,
elementares Interesse; denn wir legen Wert auf Diversifikation, und wir wollen unsere Abhängigkeit von Russland und auch von der notorisch instabilen Region des
Nahen und Mittleren Ostens verringern. Dazu bietet sich
ein Engagement in Afrika an, ein Engagement, das unseren Standards entspricht und dafür sorgt, dass es zu einer
wirklich fairen Partnerschaft kommt und dass die Völker
der Länder, die über diese Ressourcen und Energievorräte verfügen, tatsächlich von deren Exploration profitieren können.
In diesem Zusammenhang ist beeindruckend, was
China in Afrika macht. Das ist aber auch ein Warnsignal; denn China unterläuft mit seiner Entwicklungszusammenarbeit unsere westlichen Standards von Good
Governance. Ich selber habe auf einer Reise nach Afrika
im letzten Jahr erlebt, dass afrikanische Regierungen
händeringend darum bitten, dass sich Europa und insbesondere Deutschland stärker engagieren. In KongoBrazzaville habe ich den stellvertretenden Außenminister getroffen. Der Ton des Gesprächs war freundlich,
aber was Europa anging, so war er leicht indigniert. Er
fragte: Wann wird endlich wieder die deutsche Botschaft
in unserem Land eröffnet? Wann endlich kommt es dazu,
dass nicht nur hohe Diplomaten aus China, Nordkorea
oder Iran sich um unser Land kümmern, sondern dass
wir auch wieder Staatsekretäre und Minister aus Europa
bei uns begrüßen können? - Dieses Land hatte zu dem
Zeitpunkt, als ich es besuchte, die Präsidentschaft der
Afrikanischen Union inne, spielte also gerade bei den
Konflikten, mit denen wir uns nahezu wöchentlich auch
hier im Bundestag beschäftigen, eine entscheidende
Rolle.
Ein anderes Gespräch bei einem Besuch bei Außenminister Ping in Gabun hatte einen ähnlichen Ton. Dieser Außenminister war Präsident der 59. VN-Generalversammlung. Er berichtete mir, dass sein Land gerade
einen großen, über Jahrzehnte laufenden Vertrag mit der
Volksrepublik China über die Exploration von Eisenerz
und über mehrere Straßenbauprojekte abgeschlossen
hatte. Auch er fragte: Wo ist das Engagement Europas?
Wo ist das Engagement des Westens? Wir hätten gerne
mit euch Verträge abgeschlossen, wir hätten gerne mit
euch kooperiert, aber die Angebote, die uns China
macht, diese All-Inclusive-Pakete, gibt es von euch
nicht. - Es fehlt also an Engagement und an staatlicher
Unterstützung für eine echte wirtschaftliche Kooperation
und eine auf Augenhöhe stattfindende Partnerschaft und
Zusammenarbeit.
Herr Kollege!
Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. - Afrika strategisch zu begreifen und es wirklich zu einer Partnerschaft
auf Augenhöhe kommen zu lassen, ist das Ziel unserer
Afrikapolitik.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Die Linke erhält nun das Wort der
Kollege Aydin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungsfraktionen behaupten in ihrem Antrag:
Im Bereich Frieden und Sicherheit sind in den vergangenen zehn Jahren deutliche Fortschritte gemacht worden.
Das ist reine Beschönigung. Ihnen selbst fallen mit Somalia, Elfenbeinküste, Äthiopien und Darfur bereits
mehr heiße als gelöste kriegerische Konflikte ein. Viele
andere Konflikte, wie jener im Nigerdelta Nigerias, werden von Ihnen gar nicht erst angesprochen. Der Grund
ist einfach: Die Politik der G 8, darunter jene der Bundesregierung, trägt nicht wirklich zu dauerhaften Konfliktlösungen bei.
Fehler Nummer eins: Wenn Sie von Afrika sprechen,
dann meinen Sie immer die Herrschenden in Afrika. Die
kommen mit den neoliberalen Programmen der Weltbank und des IWF ganz gut klar. Denn häufig genug sind
es Konsortien von afrikanischen und transnationalen Unternehmen, die von der erzwungenen Privatisierung des
afrikanischen Staatsvermögens profitieren. So war es im
Fall des tansanisch-deutsch-britischen Unternehmens
City Water, das 2003 die Wasserwerke in der tansanischen Hauptstadt Daressalam übernommen hatte. Verlierer war die Masse der Bevölkerung, die mit enormen
Preissteigerungen des Wassers zu kämpfen hatte.
Auffällig ist: Die reichsten Potentaten Afrikas waren
immer auch die Lieblinge des Westens. So war es bei
Kibaki in Kenia oder bei Mobutu in Zaire, dem heutigen
Kongo. An dieser Politik hält die Bundesregierung weiterhin fest. So erfahren wir, dass der Innen-Staatssekretär
Hanning mit den Geheimdiensten Algeriens gemeinsame
Vereinbarungen zur Abwehr afrikanischer Flüchtlinge
trifft. Leider erfahren wir nichts darüber, wie die humanitäre Situation der Flüchtlinge in den nordafrikanischen
Lagern verbessert werden soll, geschweige denn, wie
man endlich den Tod von Tausenden Afrikanern verhindern will, die von Woche zu Woche - vielleicht gerade in
diesem Augenblick - auf hoher See ertrinken.
Sprechen wir es aus: Jedes Jahr sterben zehnmal mehr
Menschen an den Mauern der Festung Europa als in
28 Jahren an der schrecklichen Berliner Mauer. Frau
Merkel, Herr Steinmeier, nutzen Sie die EU-Präsidentschaft und reißen Sie endlich ein Loch in diese Mauer
der Schande!
({0})
Es muss endlich eine Lösung geben, wie Afrikaner auf
legalem Weg nach Europa gelangen können.
Ja, es gibt auch Fortschritte in Afrika, zum Beispiel
dort, wo Entwicklungsprogramme auf den Aufbau der
sozialen Daseinsfürsorge und der Infrastruktur setzen.
Das heißt: Fortschritte sind dort zu verzeichnen, wo die
Entwicklungspolitik in der Praxis die Auswirkungen
neoliberaler Strukturanpassungsprogramme bekämpft.
Nehmen wir Äthiopien als Beispiel. Dank der Wasser- und Sanitärprogramme der UNICEF ist die Kindersterblichkeit seit 1992 um 40 Prozent zurückgegangen.
Doch noch immer sterben in Äthiopien zwölf von
100 Kindern in den ersten fünf Jahren an vermeidbaren
Krankheiten. Dieses Leid ist keine Folge von Naturkatastrophen; es ist eine Folge der Armut, die der Weltkapitalismus unter anderem über Schwarzafrika gebracht
hat.
Über 80 Prozent der Äthiopier leben von weniger als
1 Dollar pro Tag. In einem Land mit einer reichen Vegetation haben die meisten Menschen einfach nicht genug
Geld, um sich ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen.
Die Folge ist, dass die Hälfte aller Kinder Äthiopiens an
chronischer Unterernährung leidet. Ihr Immunsystem ist
zu schwach gegen Durchfall- und Atemwegserkrankungen, an denen fast drei Viertel der betroffenen Kinder
sterben.
Das heißt: Auf der einen Seite haben wir die UNICEF,
die um das Leben der Kinder Äthiopiens kämpft. Auf der
anderen Seite haben wir die USA und die EU, die die Regierung dieses verarmten Landes aufrüsten und zu einem
militärischen Einmarsch nach Somalia ermutigen. Ist es
das, was die Bundesregierung unter „gleichberechtigter
Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern“ versteht?
Jede Afrikapolitik muss sich daran messen lassen,
was sie den Armen in Afrika bringt. Die vorgelegte EUStrategie für Afrika setzt einseitig auf die Förderung privater Investitionen - als wenn das allein schon irgendetwas für die Bevölkerungsmehrheit bringen würde! Blicken wir auf die Investitionen im Bergbau, etwa im
Kongo! Die illegale Ausbeutung der Ressourcen hat
der Bericht einer parlamentarischen Kommission in
Kinshasa wohl dokumentiert. Herr von Klaeden, das
müssen Sie ja kennen. Von ihr profitieren sowohl zahlreiche internationale Konzerne wie auch kongolesische
Warlords und Geschäftemacher. Doch obwohl der Bericht nun schon ein Jahr vorliegt, wird er von EU und
Bundesregierung totgeschwiegen. Anders ausgedrückt:
Die Bundesbürger zahlen mit Millionen einen Einsatz
der Bundeswehr im Kongo, doch die krummen Geschäfte in dem Land werden ungestört weiterbetrieben.
Wenn es hingegen um den Schutz von Arbeitnehmern in Afrika geht, bleibt die Bundesregierung systematisch untätig. Gestern lag hier im Bundestag ein
Antrag der Linken zur Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über Heimarbeit vor. Dieses Übereinkommen soll die Regierungen in Entwicklungsländern dazu
verpflichten, Mindeststandards einzuführen und wenigstens den Mutterschutz zu gewähren. Doch die Regierungsfraktionen stimmten dagegen. Sie signalisieren ihren reichen Freunden in den Regierungen der armen
Entwicklungsländer: Sorgt dafür, dass bei euch die
Heimarbeiterinnen weiter rechtlos bleiben! Denn das
hilft, das Lohnniveau zu drücken, und zwar weltweit,
unter anderem eben auch in Deutschland.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist eine
Politik, die erstens Armut in Afrika bekämpft, zweitens
keine Kriege zwischen den afrikanischen Staaten anzettelt
({1})
und drittens solidarisch für die Interessen der lohnabhängig Beschäftigten in Afrika eintritt,
({2})
mit anderen Worten: das Gegenteil der Politik, wie sie
die G 8 und die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft verwirklichen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach diesem Lamento darüber, wie schlecht es in Afrika
ist und dass der Kapitalismus daran schuld ist - die Welt
stimmt also wieder -, will ich mit den positiven Signalen
aus Afrika anfangen. Es ist in der Tat so, dass sich Afrika
auf den Weg gemacht hat, auf den Weg zu einer politischen Gemeinschaft mit dem Anspruch auf Selbstständigkeit und dem Anspruch auf grundlegende Reformen.
Das haben wir auch hier bisher viel zu wenig zum
Thema gemacht.
({0})
Ohne Zweifel bleiben die Probleme in Afrika immens; viele haben das schon angesprochen. Auch für die
Erreichung der Millenniumsziele sieht es sicherlich nicht
gut aus, vor allem wegen Afrika-Subsahara. Doch die
Gründung der Afrikanischen Union, der gesamte
NEPAD-Prozess, die zunehmende Zahl demokratischer
Regierungen - alles das sind wirklich positive Zeichen
für einen Aufbruch. Es gibt auch volkswirtschaftliche
Erfolgsgeschichten; ich nenne nur einmal Botswana.
Auch das gehört zur afrikanischen Realität. Ich will jetzt
einmal den Ausblick auf die Fußball-WM 2010 geben.
Da wird die Welt dieses selbstbewusste Afrika des
Aufbruchs kennenlernen, und das finde ich wirklich
gut.
({1})
Wir haben Afrika gegenüber nicht nur entwicklungspolitische Verpflichtungen. Afrika ist auch ein Kontinent
politischer Chancen. Da muss ich bei Ihnen, Herr von
Klaeden, noch einmal einhaken. Bei allem, was China
oder die Amerikaner oder Vertreter anderer Kontinente
da machen, hat Afrika an Europa, an die Europäer immer
noch die höchsten Erwartungen und die größten Hoffnungen. Das Problem ist, dass die Europäer - auch wir
Deutsche - diese Chance nicht begreifen.
({2})
Immerhin reden wir alle jetzt - auch heute hier - von
Partnerschaft: der Außenminister, die Kanzlerin. Vor
allem der Bundespräsident hat sich der Sache angenommen. Das heißt, bei unserem Blick auf Afrika hat sich etwas getan. Ich glaube, es kommt darauf an, diesen Begriff der Partnerschaft durch eine konkrete Politik mit
Leben zu erfüllen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
ich will schon fragen: Wie kann man eine wirkliche Partnerschaft aufbauen, wenn bisher weder die Kanzlerin
noch der Außenminister Afrika besucht haben - mit
Ausnahme der Maghreb-Staaten - und Afrika immer
hinten herunterfällt? Ich weiß, dass es gerade während
der EU-Ratspräsidentschaft viele und wichtige SchwerKerstin Müller ({3})
punkte gibt. Aber ich finde das schade, und wir müssen
darauf achten, dass dieses Wort der Partnerschaft nicht
zur Floskel verkommt.
({4})
- Ja, das können wir gerne tun. Sie werden dann sehen,
dass das anders war.
({5})
Wenn wir von Partnerschaft reden, dann müssen wir
auch selbst zum Politikwechsel bereit sein. Wie steht es
mit der viel beschworenen Anhebung der ODA-Quote
auf 0,7 Prozent? Wann sehen wir einen konsequenten
Abbau der europäischen Agrarsubventionen, durch die
die afrikanische Landwirtschaft ruiniert wird? Wann gibt
es eine Änderung der EU-Fischereipolitik - der Bundespräsident hat neulich darauf hingewiesen -, durch die die
Fischer Westafrikas arbeitslos gemacht werden? Mit unserer eigensüchtigen Agrar-, Fischerei- und Welthandelspolitik konterkarieren wir die Entwicklungspolitik
in afrikanischen Staaten. So werden wir die Millenniumsziele in Afrika nicht erreichen.
Ich sage: Damit sind wir zu einem erheblichen Teil
mit an dem schuld, was an Europas Grenzen passiert.
Wie reagieren wir denn auf diese Migration? Wir tun
das eben nicht mit dem Abbau dieser verheerenden Subventionspolitik, sondern mit einer aufgerüsteten EUGrenzschutzagentur und mit neuen Verfahren zur Abschiebung. Das hat meines Erachtens nichts mit einer
Partnerschaft mit Afrika zu tun.
({6})
Wir müssen die Afrikaner auch bei der Befriedung
der vielen bewaffneten Konflikte auf dem Kontinent
unterstützen. Die Afrikanische Union und ihre Regionalorganisationen haben inzwischen erstaunliche Fortschritte beim Aufbau eigener Friedenstruppen gemacht. Nach dem Einsatz der Afrikanischen Union in
Darfur - AMIS - steht jetzt in Somalia eine neue Mission an. Es ist völlig klar: Ohne die Unterstützung der
EU wird das nicht funktionieren. Das ist zu bedenken,
wenn es um eine konkrete Partnerschaft geht. Allerdings
wird das in Darfur und bei anderen Konflikten nicht ausreichen. Die Vereinten Nationen werden der wichtigste
Träger von Peacekeeping-Missionen in Afrika sein: im
Kongo, in der Elfenbeinküste, in Liberia und in anderen
Staaten.
Auch das will ich in dieser Debatte, in der es um die
Außen- und Sicherheitspolitik im Hinblick auf Afrika
geht, ganz klar ansprechen: An diesen UN-Missionen ist
Deutschland leider immer noch nur minimal beteiligt.
Diese schwere Aufgabe des Peacekeeping in Afrika
überlassen wir immer noch lieber Staaten der Dritten
Welt. Ich meine: Wenn wir die Partnerschaft mit Afrika
und unsere Unterstützung der Vereinten Nationen wirklich ernst nehmen, dann müssen wir uns stärker auch an
diesen Friedensmissionen in Afrika beteiligten.
({7})
Sie haben die Stabilisierungsmission im Kongo erwähnt. Das war ein erster positiver Schritt. Aber auch
hier muss man sagen: Welche Debatten mussten wir darüber führen! Es ist vielen schwergefallen, zu entscheiden, dass man sich daran beteiligt. Vor allen Dingen:
Was ist jetzt eigentlich mit dem Aufbauprozess? Viele
haben hier in der Debatte gesagt, dass das zivile Engagement das Wichtigste ist. Ich kann da bisher nicht viel sehen.
({8})
Wo sind nicht nur unsere entwicklungspolitischen Initiativen? Wo ist zum Beispiel das Wirtschaftsministerium? Hier liegen jetzt Chancen. Wenn wir schon dort
hingehen, dann müssen wir diese Chancen auch begreifen.
({9})
Meines Erachtens ist die Bundesregierung beim
Thema Darfur vollkommen gescheitert. Zurzeit gibt es
dort die größte humanitäre Krise weltweit. Die sudanesische Regierung spielt Katz und Maus mit der internationalen Gemeinschaft und lehnt eine UN-Mission immer
noch ab. Herr von Klaeden, wenn es um Völkermord
geht, dann kann man sich nicht hinter African Ownership verstecken.
({10})
Es geht inzwischen um Völkermord. Deshalb noch
einmal: Herr Außenminister, Sie haben das in der nächsten Woche stattfindende Außenministertreffen erwähnt.
Warum ergreifen die Außenminister nicht endlich entsprechende Maßnahmen wie die Verhängung von EUSanktionen, um den Druck auf das Regime zu erhöhen,
sodass die UNO-Mission endlich zugelassen wird?
({11})
- Sie möchten eine Zwischenfrage stellen?
Frau Kollegin, die kann ich schon deshalb nicht mehr
zulassen, weil Sie außerhalb Ihrer Redezeit sprechen
würden.
Ich würde sie gern beantworten.
Das habe ich mir gedacht.
Ich würde mir wünschen, dass es in Bezug auf diese
Krisen ein stärkeres Engagement der Bundesregierung
gäbe. Wir würden Sie dabei in jedem Fall unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Es besteht der Wunsch nach einer Kurzintervention.
Bitte schön.
Frau Kollegin Müller, Sie haben mir vorgeworfen, ich
würde mich bezüglich des Völkermords in Darfur hinter
African Ownership verstecken. Das weise ich mit aller
Entschiedenheit zurück. Ich wäre Ihnen aber dankbar,
wenn Sie Butter bei die Fische täten und sagen würden,
dass die Grünen für eine militärische Intervention sind,
ohne dass es dafür in den Vereinten Nationen die notwendige Unterstützung gibt und ohne dass es von der
Regierung im Sudan dafür die notwendige Zustimmung
und Unterstützung gibt. Feuilletonistisch alles zu beklagen und der Regierung fehlendes Handeln vorzuwerfen,
selber aber nicht zu sagen, was man zu tun bereit wäre,
ist, finde ich, ziemlich fahrlässig.
({0})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Müller.
Herr Kollege von Klaeden, mir in der Darfurfrage
feuilletonistische Reden vorzuwerfen, ist ziemlich absurd. Ich kann Ihnen das aber sehr konkret sagen. Ich
habe das auch schon im Plenum für die Fraktion gesagt;
wir sind in dieser Frage ziemlich klar. Ja, wir sind für die
von der UNO bereits beschlossene robuste UNO-Mission. Das Problem ist, dass diese UNO-Mission nicht ins
Land gelassen wird. Nach dem Beschluss der UNO ist es
noch nicht einmal notwendig, dass die sudanesische Regierung zustimmt. Natürlich wäre das wünschenswert.
Deshalb gibt es auch die diplomatischen Initiativen.
Deshalb habe ich hier immer gefordert, dass man darauf
hinwirkt, dass die Russen und die Chinesen ihren Einfluss geltend machen. Notwendig wäre das nicht. Die
UNO hat bereits eine robuste Truppe beschlossen.
({0})
- Ja, sicherlich.
({1})
Wenn es um Völkermord geht, dann müssen wir alles
tun, um diesen Völkermord zu stoppen. Letztlich bin ich
auch der Meinung, dass wir dies gegen den Willen der
sudanesischen Regierung tun müssen. Selbstverständlich. Jetzt muss aber erst einmal alles versucht werden,
um die Zustimmung zu bekommen. Die EU hat die Verhängung von Sanktionen zigmal beschlossen. Warum
werden diese nicht umgesetzt? Dies wäre ein Drohmittel
gegen das Regime.
Zum Schluss kann ich nur an das erinnern, was Kofi
Annan gesagt hat. Er ist jemand, der sich wirklich in den
Krisen dieser Welt auskennt. Es gibt eine Krise, die er
uns zum Abschluss in allen Reden sozusagen ins
Stammbuch geschrieben hat. Das ist die Krise in Darfur.
Er tat dies mit der eindringlichen Aufforderung an uns,
sich hier gemeinsam zu engagieren und mit einer robusten UNO-Truppe alles dafür zu tun, das Morden dort zu
stoppen. Darum geht es mir.
({2})
Nun erteile ich das Wort der Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika bildet einen
Schwerpunkt des G-8-Gipfels in Heiligendamm und ist
ein zentrales Thema der deutschen Präsidentschaft in der
Europäischen Union. Das ist ein praktisches Zeichen für
unsere Unterstützung dieses Kontinents.
({0})
In allen Diskussionsbeiträgen wurde immer wieder
darauf hingewiesen: Afrika nimmt seine eigene Verantwortung wahr. Wir wollen Afrika dabei unterstützen. Ich
finde, wir sollten Erfolge, die auch unsere Erfolge sind,
nicht immer vergessen. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen um die Frage, ob wir Soldaten in den Kongo
schicken, um dort den Wahlprozess abzusichern und einen Bürgerkrieg zu verhindern. Es ist gelungen, diese
Wahlen abzusichern und den Bürgerkrieg zu verhindern.
Es gibt aber noch weitere Erfolge. Am 15. Dezember
2006 haben die elf Mitgliedstaaten der Internationalen
Konferenz Große Seen einen Stabilitäts- und Solidaritätspakt unterzeichnet. Dieser regionale Prozess ist, so
würde ich sagen, mit dem vergleichbar, was die KSZE in
Europa war. Die Region jedenfalls ist noch größer als
Europa.
({1})
Zu der Aussage von Frau Müller, sie sehe hierzu
nichts, möchte ich sagen: Unser Ministerium unterstützt
das Konferenzsekretariat, das diese Konferenz leitet, die
die Themen Wirtschaft, Sicherheit, Menschenrechte sowie Energiefragen behandelt. Wir setzen dazu beratend
unsere Entwicklungszusammenarbeit ein. Ich finde, das
sollten wir nicht kleinschreiben, sondern sehen, dass wir
einen aktiven Beitrag zur Friedenssicherung leisten.
({2})
Zu Herrn Aydin will ich sagen: Man muss immer auf
der Höhe der Zeit bleiben, wenn man wirklich helfen
möchte. Ihre Ausführungen gingen an der Realität vorbei. Was jedoch machen wir? Unser Ministerium trägt
mit dazu bei, dass das Protokoll zur Eindämmung der illegalen Rohstoffausbeutung unterschrieben und damit
der illegalen Rohstoffausbeutung ein Ende gesetzt
wird. Das sind doch praktische Erfolge, die wir nicht selber kleinschreiben dürfen.
({3})
Vielleicht eine Anmerkung zur Situation in Darfur,
die uns allen, Frau Müller, entsetzlich auf der Seele lastet. Wir dürfen die Augen nicht vor dieser entsetzlichen
Situation der Vertreibung und der Ermordung von Menschen verschließen, die immer noch anhält. Ich sage an
dieser Stelle - ich glaube, das verbindet uns alle -: Es ist
gut, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag endlich Schuldige, die selbst in
der sudanesischen Regierung sitzen, benannt hat. Wir erwarten die Anklage und die entsprechenden juristischen
Maßnahmen gegen diese Schuldigen.
({4})
Niemand wird - obwohl das eine entsetzliche Situation ist -, wenn er wirklich abwägt, sagen können, dass
man gegen den Willen der sudanesischen Regierung in
das Land gehen sollte. Das würde ein noch schrecklicheres Morden bedeuten. Umso wichtiger ist es, massive
Sanktionen gegen die sudanesische Regierung voranzubringen. Wir brauchen endlich ein Waffenembargo für
den ganzen Sudan und nicht nur für Darfur. Die Situation dort ist doch absurd. Setzen wir uns dafür ein und
tragen wir dazu bei, dass Druck auf die sudanesische Regierung ausgeübt wird!
({5})
Die Schwerpunkte des deutschen Engagements, auch
die unseres Ministeriums, sind: Förderung von Frieden
und Sicherheit, Stärkung von verantwortlicher Regierungsführung. Das, was wir tun, wird in Afrika hoch anerkannt. Aber ich will auch hier noch einmal sagen: Wir
unterstützen den Aufbau des Afrikanischen Menschenrechtsgerichtshofs. Deutschland ist der größte Geber und
Unterstützer beim Aufbau des Panafrikanischen Parlaments. Das sind alles Schritte hin zu wirklich demokratischen Entwicklungen, die wir im Rahmen der Partnerschaft leisten. Ich finde, das sollte anerkannt werden und
das sollte auch stärker in das öffentliche Bewusstsein gelangen.
({6})
Wir unterstützen Handel, Regionalorganisationen,
Wachstum, nachhaltige Förderung der erneuerbaren
Energien und Energieeffizienz. Außerdem ist Afrika der
regionale Schwerpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahr 2005 - ich kann nur diese Zahlen
nennen, weil lediglich dazu die ODA-Zahlen vorliegen haben wir knapp 2 Milliarden Euro sowohl für bilaterale
als auch für multilaterale Leistungen oder für Leistungen
für Afrika zur Verfügung gestellt - Official Development Assistance - und Schuldenerlasse in Höhe von
rund 1 Milliarde Euro ermöglicht. Ich wiederhole an dieser Stelle: Das entspricht auch unserer Selbstverpflichtung. Wir alle, die G 8, haben auf dem G-8-Gipfel in
Gleneagles zugesagt, die Finanzmittel für Afrika bis
zum Jahr 2010 zu verdoppeln. Wir haben uns verpflichtet und sind nun verpflichtet, diese Zusage auch einzuhalten.
({7})
Es geht neben den Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit, also den öffentlichen Finanztransfers,
auch darum - das ist in der Diskussion mehrfach angesprochen worden -, die Wachstumskräfte in Afrika zu
stärken. Afrika braucht breitenwirksames Wachstum,
damit in den unterschiedlichen Ländern, die es in Afrika
gibt, auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei geht
es um dreierlei: Erstens geht es darum, mehr Transparenz bei der Produktion in den erdölfördernden Ländern
zu verwirklichen. Zweitens geht es darum, Länder wie
Ghana und Tansania, die als Topreformer wirklich hervorragende Leistungen aufweisen können, zu unterstützen. Drittens muss den kleineren Entwicklungsländern
dabei geholfen werden, ihre Märkte durch regionale Kooperation auszuweiten.
({8})
- Herr Präsident, da möchte eine Kollegin etwas fragen.
Da Sie das offenkundig zulassen wollen: Bitte schön,
Frau Kollegin Wolf.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Frau Wieczorek-Zeul, hier war jetzt schon mehrfach
die Rede davon, dass das deutsche Engagement in
Afrika gerade im Hinblick auf Investitionen zu gering
sei. Jetzt sprachen auch Sie gerade davon, dass man mithilfe der von uns immer unterstützten HIPC-Initiative
bei der Entschuldung vorankommen wolle. Seit einiger
Zeit treibt mich angesichts der Investments, die die Chinesen in gerade entschuldeten Ländern Afrikas tätigen,
die Frage um, warum die Deckungshöhe von Hermesbürgschaften für Investitionen gerade in den HIPC-Staaten so niedrig ist und warum diese nur eine so kurze
Laufzeit haben. Vielleicht wird dadurch die Hemmschwelle für kleine und mittlere Unternehmen, in diesen
Ländern zu investieren, unnötig erhöht. Mich würde in8394
Margareta Wolf ({0})
teressieren, ob Sie meine Analyse teilen und ob die Bundesregierung gewillt ist, von der niedrigen Deckungshöhe und -dauer von 250 000 Euro über 365 Tage bei
diesen Ländern Abstand zu nehmen.
Ich kann sagen, dass es Überlegungen gibt, die Absicherungsmöglichkeiten von Krediten zu verbessern, um
entsprechende Investitionen zu fördern. Zu den Details
kann ich Ihnen noch nichts sagen, weil wir darüber gerade im Rahmen der G 8 beraten. Auf das Engagement
Chinas möchte ich im Folgenden etwas ausführlicher
eingehen, Frau Kollegin, weil ich an dieser Stelle den
Punkt China ohnehin aufgreifen wollte.
Manche stellen es in der Diskussion so dar, als sei das
Auftreten Chinas in Afrika eine Entwicklung der letzten
Tage. Ich möchte darauf hinweisen: Die internationale
Gemeinschaft ist im Dialog mit verschiedenen neuen
Geberländern; das betrifft nicht nur China, sondern auch
andere Länder. Nach meiner Meinung machen neue
Finanzmittel für Afrika dann Sinn, wenn sie nach internationalen Standards eingesetzt werden: Ökologische
und soziale Normen müssen respektiert und die lokalen
Arbeitsmärkte dürfen nicht zerstört werden. Das liegt
auch im Interesse der afrikanischen Bevölkerung. Von
dieser werden dabei die Investitionen und anderen Unterstützungsmaßnahmen Europas sehr viel höher geschätzt als die All-inclusive-Investments Chinas. Was
zählt, ist, dass dauerhaft neue Arbeitsplätze auf den lokalen Märkten der afrikanischen Länder entstehen und gesichert werden.
({0})
Lassen Sie mich zum Schluss ein Thema ansprechen,
das vorhin schon von Herrn von Klaeden und anderen
genannt wurde: die Frauen. Vor einer Woche haben wir
in Berlin eine Konferenz über Gleichberechtigung von
Frauen, insbesondere von afrikanischen Frauen, durchgeführt. Wir haben dabei alle zusammen noch einmal
darauf hingewiesen: Zugang zu Landbesitz, Sicherung
des Erbrechts sowie Zugang zu Krediten und Beschäftigung sind zentrale Forderungen. Dass Frauen weltweit
nur über 2 Prozent des gesamten Landes verfügen, ist
doch ein Skandal.
Wichtig ist - das wird in Afrika immer mehr verstanden; aber wir müssen dazu beitragen, dass der Zusammenhang noch deutlicher wird -: Die Gleichberechtigung von Frauen ist natürlich eine Frage von
Menschenrechten und Demokratie, aber nicht nur das.
Hohe Wachstumsraten korrelieren in Entwicklungsländern mit dem Engagement für die Gleichberechtigung
der Frauen und ihrem Zugang zu wirtschaftlichen Chancen. Die Benachteiligung von Frauen geht mit einer Senkung der Wachstumsraten einher. Das heißt, die Benachteiligung von Frauen ist auch wirtschaftlich zutiefst
schädlich. Das sollten wir immer wieder deutlich machen und die Chancen der afrikanischen Frauen beim
Zugang zu Krediten sowie Land- und Erbrecht verbessern.
({1})
Wer Frauen stark macht - auch das ist ein wichtiger
Punkt -, der schwächt die Aidspandemie. Deshalb wird
die Bekämpfung von HIV/Aids ein zentrales Thema auf
dem G-8-Gipfel sein, besonders bezogen auf die Infizierung von Frauen und Kindern. Frauen machen im südlichen Afrika 60 bis 70 Prozent aller Infizierten aus. Da ist
ein dramatischer Anstieg zu verzeichnen, dem wir nicht
tatenlos zusehen dürfen.
Zwei Bemerkungen an dieser Stelle. Erstens. Ich
werbe für den globalen Fonds, mit dem die Bekämpfung
von Aids, Malaria und Tuberkulose unterstützt wird.
Dieser Fonds ist vor wenigen Jahren eingerichtet worden. Er hat mit seiner Arbeit 1,5 Millionen Menschen
das Leben gerettet; jeden Monat können weitere
100 000 Menschen gerettet werden, darunter sehr viele
Kinder. Lassen Sie uns diesen Fonds so stärken, dass
mehr Menschenleben gerettet werden können! Das ist
unsere gemeinsame Verpflichtung.
({2})
Zweitens werbe ich dafür, dass die internationale Gemeinschaft während unserer Präsidentschaften einen
Verhaltenskodex beschließt, der die Abwerbung medizinischen Personals aus afrikanischen Ländern untersagt.
({3})
Ärzte und Krankenschwestern werden in diesen Ländern
gebraucht für die Gesundheitsversorgung, für die Aidsbekämpfung und für die Krankheitsbekämpfung im Allgemeinen. Lassen Sie uns dazu beitragen, dass sie dort
gefördert werden, damit die Menschen dort Chancen haben und damit das Ausbluten afrikanischer Länder verhindert wird!
Ich danke Ihnen.
({4})
Der Kollege Königshaus hat nun das Wort für die
Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
die Kollegin Müller eben gehört hat, könnte man glauben, sie habe nie einer Bundesregierung angehört, die
schon vor all den Problemen gestanden hat, die sie hier
so lauthals beklagt hat, wo es aber keine Strategien gab,
diese wirklich nachhaltig zu lösen.
({0})
Insofern sollte sie hier vielleicht ein bisschen zurückhaltender sein.
Alle reden über Afrika. Es gibt Strategien und alle
möglichen sonstigen wohlfeilen Aktivitäten. Aber wenn
es tatsächlich ans Eingemachte geht, dann stellt sich
schnell heraus, dass die Probleme doch etwas vielschichHellmut Königshaus
tiger sind und dass es schwer ist, die Einzelteile zu sortieren. Man hat das gemerkt, als sich der Kollege von
Klaeden eben mühsam durch sein Manuskript gearbeitet
hat.
({1})
Das ist mit einer zusammenhängenden Strategie nicht zu
vereinbaren.
({2})
- Klar schaue ich auf mein Manuskript. Es war sehr
schwer, sich zu merken, was der Kollege von Klaeden
überhaupt gesagt hat, wenn ich da einmal ehrlich bin.
Deshalb musste ich mir das notieren.
({3})
- Ja, zur Sache.
Die Probleme können natürlich nicht mit einer einfachen und schnell umsetzbaren Strategie gelöst werden.
Was wir brauchen, sind Maßstäbe, anhand derer wir die
Lösung der jeweiligen Probleme tatsächlich gezielt angehen können. Wir brauchen Maßstäbe für jedes Problem, jedes Land, jedes Themenfeld.
({4})
Das heißt auch, angemessene und kohärente Lösungsansätze herzuleiten. Daran fehlt es uns leider noch immer.
Auch die hier zur Beratung anstehenden Anträge helfen
da nicht weiter.
Übrigens, Frau Ministerin, weil Sie gerade das Thema
Aids ansprachen: Wir hatten ja als FDP im Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit verlangt, dass dafür
ein namhafter Betrag festgeschrieben wird. Auch das ist
wieder abgelehnt worden. Ich hoffe, dass wir in Zukunft
zu einer vernünftigeren Handhabung solcher Dinge
kommen. In Bezug auf Afghanistan sind Sie unseren
Vorschlägen ja immerhin letztlich dann doch gefolgt.
Die Bundesregierung kann also offensichtlich auch dazulernen.
({5})
Dass wir hier Afrika so sehr in den Fokus stellen, ist
in erster Linie dem Bundespräsidenten zu verdanken, der
zu Beginn seiner Amtszeit gesagt hat, er wolle Afrika
zum Schwerpunkt seiner Arbeit machen.
({6})
Er hat dazu allen Grund gehabt; denn es ist dringend
erforderlich, die verheerenden Schäden, die während der
Zeit der rot-grünen Regierung auf dem afrikanischen
Kontinent entstanden sind, zu beheben. Herr Bundesaußenminister, mit Blick auf Afrika ist Ihnen zugute zu
halten, dass Sie den verheerenden Trend, immer mehr
Botschaften zu schließen, immer mehr Personal abzuziehen und sich immer weniger diesen Ländern zuzuwenden, gestoppt haben. Es wäre begrüßenswert, wenn Sie
in der Koalition dafür werben würden, dem Antrag der
FDP zur Stärkung des diplomatischen Dienstes zuzustimmen; denn dann könnten wir gemeinsam an diesem
Projekt arbeiten.
({7})
Dass wir auf diesem Kontinent präsent sein müssen, damit wir dort die Probleme lösen können, ist für jedermann nachvollziehbar.
Afrika ist ja nicht per se arm. Wenn man die Rohstoffsituation betrachtet, muss man sagen, dass Afrika im
Grunde genommen ein reicher Kontinent ist. Aber wir
müssen helfen, dass die Afrikaner in der Lage sind, von
diesem Reichtum selbst zu profitieren. Dass wir über
solch gravierende Probleme reden müssen wie Hunger,
Analphabetentum, Rückständigkeit und HIV/Aids, liegt
eben daran, dass die Afrikaner ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht selbst nutzen können.
Eben wurde völlig zu Recht davon gesprochen, welche gravierenden Auswirkungen die Dürre angesichts
des sich abzeichnenden Klimawandels haben wird. Man
muss aber auch über die Ursachen sprechen. Eine der
Ursachen ist eben, dass wir zwar gut gemeinte Maßnahmen auf den Weg bringen - beispielsweise die Beimischung von Biokraftstoffen -, dass aber dafür Regenwälder geopfert werden müssen. Es wird also das
Gegenteil von dem bewirkt, was wir eigentlich erreichen
wollen. Über diese Problematik müssen wir etwas intensiver nachdenken.
Ich möchte noch Folgendes anfügen: Protokolle zu
unterschreiben, genügt nicht. Man muss auch eine
durchdachte Politik betreiben. Was hier im Moment passiert, ist aber nicht durchdacht.
({8})
Ich konnte das am Beispiel Indonesien selbst beobachten.
In Afrika gibt es unbestritten sehr große Hilfeleistungen westlicher Geber. Aber diese verpuffen in der Regel
aufgrund der typisch afrikanischen Probleme wie Korruption, Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung; wir haben schon darüber gesprochen. Die westlichen Geber bemühen sich, diese Probleme zu lösen, indem sie völlig
zu Recht die Hilfe an Bedingungen wie gute Regierungsführung und Korruptionsfreiheit knüpfen. Aber wir können die Einhaltung solcher Kriterien nur im Konsens mit
allen anderen Gebern durchsetzen. Anderenfalls - so
lehrt uns die Lebenswirklichkeit - werden sich korrupte
Eliten und skrupellose Kleptokraten an den Hilfsgeldern
und an den Hilfsgütern bereichern.
Vor allem müssen wir verhindern, dass die Rohstoffe
dieses Kontinents weiter geplündert werden. Denn diese
Rohstoffe sind die einzige Chance, dass dort eine nachhaltige Entwicklung stattfinden kann. Der Kontinent ist
viel zu groß, als dass wir das ganz allein bewirken könnten.
Natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang über
China sprechen, aber ohne - da haben Sie, Frau Ministerin, völlig Recht - in ein China-Bashing zu verfallen.
China ist nur einer von vielen neuen Gebern, die sich
dort einbringen. China betreibt dort Realpolitik, schert
sich aber keinen Deut um Menschenrechte und sonstige
Grundsätze, die wir alle hochhalten. Wir müssen daher
versuchen, zu vernünftigen Regelungen zu kommen, um
die Chinesen, Inder und andere, die auf diesem Kontinent aktiv werden, einzubinden und auf unsere Grundsätze zu verpflichten.
Denjenigen, der in Afrika und anderswo Entwicklungshilfe leistet - zum Teil aus egoistischen Motiven -,
muss man darauf hinweisen, dass er im eigenen Land die
Armut aus eigenen Mitteln bekämpfen muss. Es kann
nicht angehen, dass beispielsweise in China die Armut
mit deutschen und europäischen Mitteln bekämpft wird,
währen die Chinesen in Afrika mit erheblich größerem
Mitteleinsatz als Geber auftreten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hartwig Fischer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung nutzt die Chance der EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr sowie des G-8-Vorsitzes,
den afrikanischen Kontinent verstärkt in das Bewusstsein der Politik, der Wirtschaft und der Medien zu bringen. Wir wollen mit dem vorliegenden Koalitionsantrag
die Grundlage für eine parlamentarische Diskussion,
aber auch für die Begleitung des Prozesses in den nächsten Monaten schaffen. Wir von der Koalition werden in
den nächsten Monaten einen weiteren Antrag zur Entwicklungspolitik einbringen.
Viele in Deutschland und Europa kennen Afrika aufgrund einer zum Teil verzerrten und einseitigen Darstellung nur unter dem Begriff der sieben Ks: Konflikte,
Korruption, Kriminalität, Kapitalflucht, Krankheiten sowie Natur- und Hungerkatastrophen. Es gibt derzeit elf
bewaffnete Konflikte, von denen über 150 Millionen
Menschen betroffen sind. Gerade in Darfur ist die Situation menschenverachtend und fast ausweglos.
Korruption wird nicht selten als afrikanischer Tumor
bezeichnet. Laut Transparency International liegen nahezu alle afrikanischen Länder auf dem Korruptionsindex bei drei Punkten, was sehr negativ ist. In diesem
Zusammenhang ist es auch ein Verbrechen an den Menschen Afrikas, wenn es einigen afrikanischen Despoten
weiterhin gelingt, ihre durch Korruption, Betrug, Erpressung, Plünderung öffentlicher Kassen und Raub zusammengestohlenen Dollarvermögen ungestraft ins Ausland
zu transferieren.
({0})
Ich bin deshalb der Bundeskanzlerin sehr dankbar,
dass sie auf dem 24. französisch-afrikanischen Gipfel in
Cannes deutliche Worte zum Beispiel für den simbabwischen Diktator Mugabe gefunden hat.
({1})
Hier muss Afrika selbst handeln. Insbesondere Südafrika
darf sich von Mugabe nicht auf der Nase herumtanzen
lassen. Das langsame Siechtum Simbabwes beginnt nun
auch die bisher gute Entwicklung Südafrikas und seiner
Nachbarländer zu gefährden. Wenn es so weitergeht,
werden in wenigen Jahren weitere Teile der Bevölkerung
Simbabwes ihre Heimat verlieren und nach Südafrika
oder in andere Länder emigrieren. Hier droht nicht nur
ein neuer Konflikt; er weitet sich vielmehr gerade aus.
Eben wurde die Bedrohung durch die Pandemie Aids
angesprochen. Etwa 30 Millionen Menschen, also
6 Prozent der Bevölkerung, sind davon betroffen. Die
Zahl der Aidswaisen in Afrika liegt derzeit bei etwa
12 Millionen und wird laut UNICEF in den nächsten
drei Jahren auf 20 Millionen steigen.
Auch Afrika wird bekanntlich nicht von Hungerund Dürrekatastrophen verschont. Wir wissen das von
Kenia, wo seit 2005 etwa 3 Millionen Menschen betroffen sind. Sie haben in den letzten Tagen die Überflutung
von Teilen Mosambiks erlebt. Über 300 000 Menschen
waren davon betroffen; 100 000 Menschen sind obdachlos. Ich danke der Entwicklungshilfeministerin und dem
Außenminister für ihr unglaublich schnelles Handeln.
Innerhalb von vier Tagen wurden Mittel zur Verfügung
gestellt, damit die Hilfsorganisationen vor Ort und auch
unsere Durchführungsorganisationen arbeiten können.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass Sie zusätzlich
1 Million Euro für das nationale Institut für Katastrophenmanagement in Mosambik zur Verfügung gestellt
haben.
({2})
Aber es gibt auch ein ganz anderes, ein modernes
Afrika, ein Afrika, das in den letzten Jahren in allen Bereichen enorme Anstrengungen unternommen hat und
sich der Zukunft stellt. Dies umfasst Anstrengungen und
deutliche Verbesserungen in den Bereichen der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik sowie bei Menschenrechten und Good Governance. Deutschland und
Europa müssen diese afrikanischen Bestrebungen jetzt
deutlicher unterstützen.
Bundespräsident Köhler hat recht, wenn er sagt, dass
es an der Zeit ist, Afrika als Partner auf Augenhöhe zu
betrachten. Der Schutz der Menschenwürde und die
Förderung der Menschenrechte sind die Grundlage eines partnerschaftlichen Dialogs.
Bei den Gesprächen mit unseren afrikanischen Partnern und Freunden muss es jedoch auch um die Grundwerte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit gehen.
Zu einer offenen und ehrlichen Partnerschaft gehört
auch, gemeinsame, aber auch gegenteilige Interessen zu
benennen. Meine Fraktion hat es sehr bedauert, dass es,
als es im UN-Menschenrechtsrat um die Verurteilung der
Regierung im Sudan ging, bei der ersten Abstimmung
des Antrages des finnischen Ratspräsidenten im verganHartwig Fischer ({3})
genen Herbst fast einen Block afrikanischer Länder gegeben hat, die eine Abstimmung zulasten der Regierung
in Khartoum verhindert haben. Wir begrüßen, dass es
später zu einer Änderung gekommen ist. Aber es gab nur
zwei afrikanische Staaten, die den finnischen Ratspräsidenten unterstützt haben. Das war falsch verstandene
Solidarität afrikanischer Länder.
({4})
Afrika darf nicht einfach als Ort einer ständigen
Wohltätigkeitsveranstaltung gesehen werden, wie es von
verschiedenen Seiten suggeriert wird. Afrika ist ein
Kontinent, an dem und in dem die internationale Staatengemeinschaft vitale Interessen haben muss. Die Bestandserhaltung des afrikanischen Regenwaldes mit seinem Reichtum an Flora und Fauna ist von globaler
Bedeutung und liegt im ökologischen Interesse.
Der steigende weltweite Energieverbrauch und CO2Ausstoß, die Erderwärmung und die Veränderung des
globalen Klimas rücken Afrika immer stärker in den Fokus geostrategischer Politik. Der aktuelle Bericht der
Vereinten Nationen über eine mögliche Klimakatastrophe zeigt deutlich, wie wichtig Afrika auch für das
Klima in Mitteleuropa ist.
({5})
- Danke, Frau Kollegin Koczy.
Darüber hinaus droht Afrika die Gefahr weiterer
Wüstenbildung, so die UN. Die fruchtbaren Landstriche
am Kap, in Angola, in Simbabwe und in Mosambik
könnten sich in den kommenden Jahrzehnten in Halbwüsten verwandeln, damit Lebensgrundlagen entziehen
und somit neue Konflikte heraufbeschwören. Migrationsbewegungen größten Ausmaßes wären die Folge.
Dass Afrika immer wieder in den Fokus energie- und
rohstoffhungriger Staaten gerät, beweisen China und die
USA. Aber auch Deutschland ist ein ressourcenarmes
Land und sollte daher ein natürliches Interesse an den
mineralischen und energetischen Ressourcen Afrikas
haben. Wir müssen die afrikanischen Regierungen unterstützen, damit der Abbau dieser Ressourcen auf umweltverträgliche Weise erfolgt und vor allem die Menschen
Afrikas davon profitieren.
({6})
Es kann und darf nicht sein, dass nur wenige Kleptokraten und unverbesserliche Diktatoren den Nutzen aus dem
Abbau, lassen Sie mich sagen: aus dem Raubbau von
Rohstoffen haben.
Die afrikanischen Länder müssen dabei unterstützt
werden, ihre Rohstoffe zertifiziert abzubauen und die
daraus erzielten Gewinne transparent in den jeweiligen
Staatshaushalt fließen zu lassen. Die positive Vorreiterrolle Botswanas zeigt, dass dies möglich ist und der Entwicklung des Landes und damit der Bevölkerung dient.
Der Initiative für einen transparenten Rohstoffabbau,
EITI, gebührt deshalb unsere volle Unterstützung.
Zur Ehrlichkeit mit Partnern gehört: Deutschland hat
als Exportland selbstverständlich auch wirtschaftliche
Interessen in Afrika. Die afrikanische Wirtschaft wuchs
im Jahr 2005 um durchschnittlich knapp 5 Prozent, im
Jahr 2006 um 6 Prozent. Dennoch zeigt der mit
2 Prozent sehr geringe Anteil Afrikas am Welthandel,
dass viele Länder den Anschluss an die weltwirtschaftliche Entwicklung noch finden müssen.
Wir müssen uns - ich sage das bewusst mit Blick auf
unser Bundeswirtschaftsministerium - mit einer Wirtschafts- und Investmentstrategie stärker in diesen Prozess einbringen. Wir können dazu beitragen, dass sich
Schwellenländer zu Ankerländern entwickeln. Es gibt
viele Länder wie Angola, Botswana, Namibia, Mosambik, Tansania oder Ruanda, die in der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit eine wichtigere Rolle spielen könnten.
({7})
Spätestens seit dem 11. September 2001 rücken fragile und instabile Staaten als Rückzugsräume für Terroristen und nichtstaatliche Gewaltakteure immer mehr ins
Blickfeld sicherheitspolitischer Überlegungen. Wir müssen uns für Frieden und Sicherheit für die Menschen in
Afrika einsetzen; denn Deutschland hat nicht nur ein humanitäres, sondern auch ein großes sicherheitspolitisches Interesse an stabilen politischen Verhältnissen in
Afrika. Es liegt weder in unserem noch im afrikanischen
Interesse, wenn Gefahren und Bedrohungen, die von unserem Nachbarkontinent ausgehen, zu Sicherheitsrisiken
führen.
Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Strategien
zum Aufbau einer afrikanischen Truppe unter dem
Einsatz der Afrikanischen Union, die dafür sorgen soll,
dass Afrika bei Krisenherden selbstverantwortlich handeln kann.
Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Keskin?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Kollege Keskin.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört und dabei den Eindruck gewonnen, dass
Sie die Afrikaner selbst für die vorhandenen Probleme,
Schwierigkeiten und Konflikte verantwortlich machen
und die alte koloniale Vergangenheit und auch die jetzige Einmischung von außen, insbesondere von ehemaligen Kolonialherren, gänzlich ausblenden. Meinen Sie
nicht, dass auch heute noch die alte koloniale Politik und
die neue mehr oder weniger hegemoniale Politik für
viele der Probleme und Konflikte eine maßgebliche Verantwortung haben?
Herr Kollege Keskin, Punkt eins: Ich persönlich bin
der Überzeugung, dass die koloniale Vergangenheit eine
große Rolle gespielt hat, weil viele der afrikanischen
Länder auf die Freiheit nicht vorbereitet waren.
Punkt zwei: Die Rohstoffe in Afrika werden in vielen
Bereichen für die Afrikaner zum Fluch. Dies ist aus
zweierlei Gründen so: einerseits, weil Staaten in der
freien Welt bereit sind, ausgebeutete Rohstoffe aufzukaufen, und andererseits, weil es in diesen Ländern Despoten gibt, die dies nutzen, um von den Korruptionsgeldern gut zu leben.
Deshalb haben wir uns mit der damaligen rot-grünen
Bundesregierung zum Beispiel gegen diejenigen gewandt, die in Deutschland Coltan verarbeitet haben, das
im Kongo gefördert wurde. Hier gibt es eine ganz klare
Linie. Wir unterstützen, um diese Vergangenheit zu bewältigen und die Rohstofffrage zu lösen, das System
EITI, aber auch mit all unseren Stiftungen den Aufbau
von Good Governance, weil das die Grundlage dafür ist,
dass für die Menschen in diesen Ländern etwas getan
werden kann.
({0})
Ich glaube, damit ist Ihre Frage beantwortet.
Ich sehe, dass meine Redezeit - trotz des Anhaltens
der Uhr für die Beantwortung der Zwischenfrage - abgelaufen ist. Lassen Sie mich trotzdem zur Linken noch
einmal sagen: Für mich ist es bedrückend, wenn jemand
- wie Herr Aydin - die Situation im Kongo nicht offen
und ehrlich darstellt. Wir kennen die Ereignisse - es gab
dreieinhalb Millionen Tote - und wissen, dass die Bundeswehr neben der ganzen Zivilorganisation einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung geleistet hat.
({1})
- Ihre Fraktion hat gegen den Einsatz gestimmt. - Menschen, die vorher in Flüchtlingslagern waren, sind jetzt
wieder in ihren angestammten Bereichen. Sie versuchen,
die Situation falsch darzustellen.
Eines ist für mich sicher: Der Satz „Keine Hälfte der
Welt kann ohne die andere Hälfte der Welt überleben“,
der auf einem Plakat des BMZ steht, muss Prämisse unseres Handelns sein.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Heike Hänsel für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
zuerst etwas zu Ihnen, Frau Müller, sagen. Ich finde es
schon ein starkes Stück, dass Sie hier dafür plädieren,
ohne eine Zustimmung seitens der sudanesischen Regierung Truppen nach Darfur zu schicken. Das wäre in
meinen Augen keine Friedensmission. Das ist eine Aussage für einen Kriegseinsatz in Darfur.
({0})
Sie können doch bei so einer komplizierten Situation wie
der in Darfur, für deren Bewältigung Sie viel mehr Akteure an einen Tisch bekommen müssen, nicht dafür plädieren, jetzt einfach Truppen dorthin zu schicken! Wie
wollen Sie die Situation dort militärisch lösen? Das finde
ich hanebüchen.
({1})
Sie als ehemalige Staatsministerin müssten das wissen.
Noch zu einem anderen Punkt. Sie haben Recht: Es
gibt ein selbstbewusstes modernes Afrika. Aber dass das
erst bei einer Fußball-WM zu finden ist, bezweifle ich.
Das gibt es bereits. Im Januar fand das Weltsozialforum
zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent statt.
Mehr als 50 000 Menschen kamen in Nairobi zusammen. Die Menschen dort haben sehr gute Ansätze und
ganz andere Vorstellungen, wie Afrika, wie ihre Länder
sich entwickeln sollen, als die, die ich hier gehört habe.
Das ist das Afrika, das wir zu Wort kommen lassen müssen. Das würde Partnerschaft und Zusammenarbeit auf
gleicher Augenhöhe bedeuten.
({2})
Diese Menschen haben ihre Lebenssituation geschildert, die nun einmal düster ist. Denn trotz der verbesserten ökonomischen Werte, die wir in den letzten Jahren in
Afrika verzeichnen, hat sich die Situation für viele Menschen in den afrikanischen Ländern verschlechtert. Vielen geht es heute schlechter als Anfang der 90er-Jahre.
Die Armut hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Auch die Zahl der Hungernden ist weltweit weiter gestiegen. Dafür sind in hohem Maße die deutsche
und europäische Handelspolitik verantwortlich. Während eine Afrikanerin durchschnittlich 8 Dollar Entwicklungshilfe im Jahr erhält, wird eine Kuh in Europa mit
über 900 Dollar im Jahr subventioniert.
({3})
- Ja, so zynisch ist unsere Außenpolitik. - Wir müssen
aufpassen, wohin die Gelder fließen. Wir subventionieren unsere Agrarprodukte. Das geht auf Kosten der Entwicklungschancen der Menschen in den Ländern des Südens.
Es ist ein Mythos, dass Handelsliberalisierung den
Entwicklungsländern Wohlstand und Entwicklung
bringt. Genauso wenig stimmt es, dass Wachstum per se
Arbeitsplätze schafft. Wir sehen im Moment in Europa:
Trotz Wachstums gehen immer mehr Arbeitsplätze verHeike Hänsel
loren. Die Hilfsorganisation Christian Aid hat errechnet,
dass die Handelsliberalisierung die afrikanischen Länder
südlich der Sahara in den vergangenen 20 Jahren über
270 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Zwei Jahrzehnte
der Liberalisierung haben diese Länder so viel gekostet,
wie sie an Entwicklungshilfe erhalten haben. Wären
diese Länder nicht zur Liberalisierung gezwungen worden, um Schuldenerlass und Kredite zu erhalten, hätten
sie genug Geld gehabt, um jedes Kind impfen zu lassen
und jedem Kind den Schulbesuch zu ermöglichen.
({4})
Es kommt nicht darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu
stehlen.
Das schreibt der UN-Sonderberichterstatter für Nahrung, Jean Ziegler, in seinem Buch „Das Imperium der
Schande“. Doch die EU arbeitet schon an neuen Liberalisierungs- und Marktöffnungsvorhaben. Bekannt sind
die Verhandlungen über die EPAs. Es ist ganz klar, dass
es hierbei um eine Senkung der Zölle und um eine weitere Öffnung der Märkte geht, und zwar nicht nur für Industrie- und Agrarprodukte der EU, sondern auch für
Investitionen, Dienstleistungen und das Beschaffungswesen.
Das hätte katastrophale Folgen für all die lokalen
Märkte in den afrikanischen Ländern und für die regionale Integration. Es hätte auch sehr negative Auswirkungen auf die Umwelt, weil dann viele Staaten gezwungen
wären, ihre Rohstoffexporte zu erhöhen - zum Beispiel
den Export von Öl oder Tropenholz -, um die fehlenden
Zolleinnahmen zu kompensieren.
Frau Wieczorek-Zeul, auch die Situation der Frauen
würde sich dadurch sehr verschlechtern, weil davon insbesondere lokale Händlerinnen und Bäuerinnen betroffen wären. Insofern kann ich nur an uns alle appellieren:
Unterstützen wir die Forderungen der sozialen Bewegungen in den afrikanischen Ländern, stoppen wir die
EPA-Verhandlungen und schreiben wir ein neues Mandat aus!
Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die Kriege
und Krisen in den afrikanischen Ländern. Die Potenziale der Bevölkerung werden ausgeblendet. Stattdessen
wollen wir von außen immer stärker militärisch intervenieren. Ich frage mich: Wie soll eine afrikanische Sicherheitsarchitektur ohne die aktive Beteiligung der Zivilbevölkerung aussehen? Es gibt dort enorme Potenziale. Sie
werden aber nicht einbezogen.
Herr Steinmeier, in diesem Zusammenhang würde
mich interessieren: Was sagen Sie eigentlich zu
AFRICOM, der neuen Kommandozentrale der US-Amerikaner in Stuttgart, die dazu dient, neue militärische Interventionen in diesen Ländern zu koordinieren? In meinen Augen ist diese Entwicklung falsch. Wir brauchen
eine Stärkung der Zivilbevölkerung. Nur so können wir
auf die Krisen und Konflikte in diesen Ländern eine
nachhaltige Antwort geben.
({5})
Mein letzter Satz. Statt Milliardenbeiträge in die
Schaffung militärischer Einheiten zur Abwehr von
Flüchtlingen an Europas Außengrenzen und in den Aufbau europäischer Interventionstruppen - unter anderem
auch für Einsätze im Kongo - zu stecken, sollten wir sie
in die Umstellung des europaweiten Energiesystems auf
regenerative Energien und gleichzeitig in den Aufbau
dezentraler alternativer Energiesysteme in den afrikanischen Ländern investieren. Dies wäre für mich eine Afrikapolitik auf der Höhe des 21. Jahrhunderts.
Danke.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich halte es für eine Schande und Blamage für die internationale Gemeinschaft, dass es nicht
gelingt, die Menschen in Darfur vor der Ermordung, vor
dem Völkermord und vor Ihrer eigenen Regierung zu
schützen. Ich hoffe, dass die Worte Kofi Annans nicht
ungehört verhallen. Er hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass wir eine Verantwortung haben. Es ist sehr bedauerlich, dass man hier nicht weiterkommt.
({0})
Es ist sicherlich vermessen, mal eben in 5 Minuten
die ganze Bandbreite einer modernen Entwicklungspolitik in, für und mit Afrika darzustellen. Was haben Länder wie Südafrika und Ägypten oder Nigeria und Burundi gemeinsam? Dennoch halte ich ein Plädoyer für
die Vertiefung der Beziehungen zu Afrika, weil wir mit
diesem Kontinent stärker verbunden sind, als uns gemeinhin bewusst ist.
Im Jahr der deutschen Doppelpräsidentschaft geht es
uns Grünen darum, unsere Afrikastrategie mit Leben zu
füllen. Deswegen haben wir unseren Antrag mit dem
Titel „Afrika auf dem Weg zu Demokratie und nachhaltiger Entwicklung unterstützen“ eingebracht.
Afrikapolitik vollzieht sich heute in einem grundlegend veränderten Umfeld. Den afrikanischen Staaten
stehen neue Optionen zur Verfügung. Vor allem China
zeigt uns, dass wir Europäerinnen und Europäer in
Afrika auch wegen unseres Desinteresses an Boden verloren haben. Nicht zuletzt die USA vertiefen ihre Kooperation mit afrikanischen Ländern. Der Hintergrund
ist offensichtlich: Es geht um die Schätze Afrikas, um
Öl, Gold, Coltan und Kobalt - Rohstoffe, die für unser
tägliches Leben eine Rolle spielen. Ich sage es zugespitzt: Es gilt aus Interesse an Frieden und Gerechtigkeit
zu verhindern, dass Afrika erneut als Beutekontinent angesehen wird und seine Reichtümer aufgeteilt werden.
({1})
Wir können vor hier aus dazu beitragen, Afrika mit
neuen Chancen zum Durchbruch zu verhelfen. Deswegen muss die Bundesregierung, muss die EU mit den
afrikanischen Staaten, aber auch mit China, Indien und
den USA viel stärker darum ringen, sich zu Best
Practices und internationalen Standards zu bekennen.
Der Kampf gegen Korruption und Misswirtschaft muss
gemeinsam und gezielt geführt werden. Die von China
verfolgte Nichteinmischung in innere Angelegenheiten
hat - das muss man ganz deutlich sagen - eine gefährliche Schlagseite: Sie gefährdet den sozialen Frieden.
Wenn China und Indien eine größere Bedeutung als
weltpolitische Akteure erlangen, müssen sie auch in
Haftung genommen werden für Entwicklungen, die destabilisieren und zerstören.
({2})
Die Gleichzeitigkeit von ökonomischen und demokratischen Fortschritten auf der einen Seite und Krisen
und Katastrophen auf der anderen Seite kennzeichnen
afrikanische Wirklichkeiten. Es ist schon gesagt worden:
In fast einem Dutzend afrikanischer Staaten stehen Wahlen an, die mehr oder weniger demokratisch ablaufen.
Das Wirtschaftswachstum beträgt in vielen afrikanischen Staaten nun schon im vierten Jahr in Folge mehr
als 5 Prozent. Gerade im Rohstoffsektor steigen die Investitionen. Es gibt eine innerafrikanische Reformorientierung im Rahmen von NEPAD. Die Initiative zur Entschuldung der ärmsten Länder ermöglicht Fortschritte.
Aber es gibt auch andere afrikanische Wirklichkeiten
- auch sie sind heute schon benannt worden -: Afrika ist
die einzige Region auf dieser Erde, in der die Zahl der
Hungernden immer noch steigt, in der immer noch so
viele Menschen an Unterernährung leiden. Es ist eine
Schande, dass es uns nicht gelingt, in den ländlichen
Räumen Fortschritte zu erreichen.
({3})
Ich will weitere Stichwörter nennen: Kindersterblichkeit,
Lebenserwartung, HIV/Aids, Genitalverstümmelung,
Brustbügeln in Kamerun, eine weitere Misshandlung
von Frauen, die in patriarchalen Strukturen leben, von
der wir erfahren haben. Wir wissen inzwischen, dass wir
die Millenniumsziele, wenn die Umsetzung in dem
Tempo fortgesetzt wird, wahrscheinlich nicht erreichen
werden. Und dann sind da noch der Klimawandel und
die Perspektivlosigkeit.
Deswegen geht es darum, dass wir auf die Dinge, die
wir beeinflussen können, Einfluss nehmen. Ich möchte
darauf hinweisen, dass es nicht nur darum geht, von unserer Seite aus etwas zu tun. Wir müssen uns mit den
afrikanischen Ländern, mit den Staatsführern, mit den
örtlichen Wirtschaftseliten zusammentun und etwas gestalten. Es braucht aber auch Lösungen von unten: Wir
müssen die Organisationen afrikanischer Bäuerinnen,
die Frauen, die Handwerker und andere zivilgesellschaftliche Akteure unterstützen, damit sie bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunftsfragen stärker mitreden können.
Doch all das wird nicht viel bringen, wenn wir nicht
die Rechte der Frauen stärken.
({4})
Sie sind das Rückgrat Afrikas. Aus Zeitstudien in Benin,
Madagaskar, Mauritius und Südafrika geht hervor, dass
die Frauen pro Tag bis zu sieben Stunden länger beschäftigt sind als die Männer. Der schöne Ausdruck „faire la
natte“ - übersetzt: sich auf die Matte legen, dem Müßiggang frönen -, den ich im Tschad kennengelernt habe,
bringt dieses bizarre Ungleichgewicht auf den Punkt.
Diese sozialen und kulturellen Normen, die die Arbeitsteilung im Haushalt festlegen, führen zu einer eklatanten
Benachteiligung der Frauen. Sie gefährden den Frieden
in Afrika, sie gefährden die Zukunft. Ich bin der Meinung, dass wir uns in diesem Bereich weitaus mehr engagieren müssen, als wir es bisher getan haben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
hatten in den vergangenen Jahren immer wieder Gelegenheit, über Afrika zu reden. Heute behandeln wir dieses Thema erneut.
Ich denke aber, dass wir heute keine Wiederholungsdebatte führen, weil es zwei bemerkenswerte Neuerungen gibt: Erstens - das wurde schon mehrfach erwähnt hat Deutschland zurzeit die Präsidentschaften innerhalb
der Europäischen Union und der G8. Das verpflichtet zu
einer Schwerpunktpolitik gegenüber Afrika.
Die zweite Neuerung ist, dass der Deutsche Bundestag mit den vorliegenden Anträgen die Afrikapolitik
nicht nur begleitet, sondern in der Tat inhaltlich in seine
Arbeit mit aufnimmt. Ein Blick in die Anträge zeigt,
dass bei allen Unterschieden, liebe Frau Hänsel, und bei
allen Vorwürfen doch sehr viele Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Zum einen wächst das Engagement für
Afrika. Das ist zu begrüßen. Zum anderen stellen wir
fest, dass von niemandem in diesem Haus in irgendeiner
Weise kritisiert wurde, dass Afrika Partner der Politik
sein soll.
({0})
Das ist in der Tat neu. Wenn man das ernst meint
- wir werden sicherlich noch daran arbeiten müssen -,
dann heißt das, dass sich einige, die in diesem Hause geredet haben, aber auch viele, die sich in der Öffentlichkeit zu Afrika äußern, von manchen Klischees verabschieden müssen.
Es ist in der Tat richtig - darin stimme ich dem Kollegen Fischer ausdrücklich zu -, dass Afrika unter den drei
Ks - Krieg, Krisen und Katastrophen - zu leiden hat.
Afrika ist aber nicht nur der Kontinent der drei Ks, auch
wenn das sensationsträchtig sein mag.
({1})
Afrika eignet sich überhaupt nicht als Objekt der Aggression gegen die deutsche oder europäische Politik,
liebe Frau Hänsel. Das ist falsch.
({2})
Sie haben zwar recht, dass vieles dringend geändert werden muss. Manches ist in der Tat zynisch. Aber den Vergleich der Subventionierung einer Afrikanerin mit der
einer Kuh finde ich nicht nur unangemessen, sondern er
ist auch in der Sache falsch, weil - wie alle, die sich mit
diesen Fragen beschäftigen, wissen - die vorhandenen
Unterstützungsgelder zum Teil nicht abließen können.
Denn die Fortschritte beim Empowerment und die Unterstützung bei der Institutionenbildung sind noch nicht
so weit gediehen, wie sie sollten.
({3})
Wir sollten aber auch vermeiden, Afrika in erster
Linie nur noch als Ressourcenlieferanten zu betrachten.
Afrika sollte auch nicht mehr als Objekt unserer Fürsorge missverstanden werden, sei sie auch noch so gut
gemeint. Afrika entspricht aber auch nicht dem Bild, das
in den letzten Monaten und Jahren in den Medien gezeichnet wird. Auf der einen Seite stelle ich mit Freude
fest, dass die Berichterstattung über Afrika zugenommen hat. Auf der anderen Seite beunruhigt mich aber gelegentlich, dass der Anteil ziemlich schmalziger Homestorys mit vermeintlich afrikanischem Lokalkolorit
überwiegt.
Was ich vermisse und was in den kommenden Monaten unserer vertieften Befassung mit Afrika deutlicher
zum Ausdruck kommen sollte, ist, dass wir mehr von der
Vielfalt und Kultur Afrikas, der afrikanischen Dynamik
und den Persönlichkeiten zur Kenntnis nehmen, die
nicht nur uns, sondern der ganzen Welt viel zu geben haben.
({4})
Manches ist heute schon angesprochen worden. Ich
will noch das eine oder andere ergänzen. Die Zahl der
Bevölkerung Afrikas entspricht heute der der 46 Mitgliedsländer des Europarats. Morgen wird das anders
sein, weil allein in den drei Ländern Uganda, Kenia und
Tansania - das wurde bereits erwähnt -, die ein beträchtliches Veränderungspotenzial haben und dies auch nutzen, mehr als 40 Prozent - zum Teil mehr als 50 Prozent - der Bevölkerung jünger als 15 Jahre sind. Wir
können uns keine Vorstellung davon machen, welche
Veränderungsmöglichkeiten das mit sich bringt.
Ich glaube, dass Bischof Tutu, dessen moralische Autorität wir alle nur bewundern können, völlig recht hat,
wenn er von Afrika nicht mehr von einem schlafenden,
sondern von einem erwachenden Riesen spricht, der auf
den verschiedenen Feldern eine Menge dazu beizutragen
hat, dass das Leben auf unserer Erde und die Nachbarschaft mit dem Kontinent Europa in Zukunft durch Frieden und Gemeinsamkeit geprägt werden kann.
({5})
Ich meine auch - um auf die Kultur zurückzukommen -, dass wir Nobelpreisträger wie Wole Soyinka endlich mit einer größeren Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen sollten, übrigens nicht nur in dem, was er
iterarisch geschrieben hat, sondern auch dann, wenn er
das wiederholt, was Kofi Annan nicht müde wird, immer
wieder zu sagen. Es gibt zwar unendlich viele Analysen
und Beschreibungen von einzelnen Bereichen und Problemen, auch von Lösungswegen zu Afrika; daran
herrscht kein Mangel. Aber was wir brauchen, ist eine
partnerschaftliche Politik im Hinblick auf Afrika, die zu
einer Umsetzung führt. Hier geht es um die Frage des
„deliver“, wie es Kofi Annan in seiner letzten Rede ausgedrückt hat; das ist das Entscheidende.
({6})
Wenn man die Politik der Bundesregierung unvoreingenommen betrachtet, dann kann man sie genau so loben
wie die der Europäischen Union. Es gibt viele Pläne,
Lösungswege und Unterstützungsprojekte zur Armuts-,
Hunger- und Krankheitsbekämpfung, zum Schuldenabbau, zur Bekämpfung der Korruption sowie zur
Durchsetzung der Menschenrechte und von Good
Governance. Es kommt aber nun darauf an - das ist auch
Aufgabe des Parlaments -, dass wir der Umsetzung zunehmend mehr Kraft verleihen und Schwerpunkte setzen; denn wir können nicht alles auf einmal machen.
Lassen Sie mich zwei Bereiche nennen, die in dem
Antrag der Großen Koalition aufgeführt sind und die ich
für das kommende halbe Jahr für besonders wichtig
halte. Erstens. Wir können die Zusammenarbeit mit
unseren Partnerparlamenten in Afrika verstärken.
Wenn wir hier Fortschritte erreichen, dann tun wir viel
für Transparenz, Good Governance, Kontrolle, Partizipation und Demokratie. Lassen Sie uns das bitte stärker
in unsere Überlegungen einbeziehen.
({7})
Zweitens. Im Zusammenhang mit der notwendigen
und richtigen militärischen Unterstützung für die Wahlen im Kongo als Begleitprozess haben wir gesehen,
dass wir nicht allein oder schwerpunktmäßig Peacekeeping betreiben oder militärische Einsätze durchführen
dürfen. Vielmehr müssen wir Peacebuilding, das heißt
Institutionbuilding betreiben, bevor Institutionen zusammenbrechen. Wir müssen in dem Moment fördernd eingreifen, in dem tatsächlich Möglichkeiten für die Entwicklung von Demokratie und Gemeinsamkeiten entstehen.
({8})
Dieses Peacebuilding liegt mir sehr am Herzen. Manchmal habe ich in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass
wir viel leichter Geld für militärische Einsätze - welcher
Art auch immer - bekommen als für Peacebuilding bzw.
Institution-Building, das so wichtig für Empowerment
ist.
({9})
Lassen Sie mich noch einen Punkt aufgreifen, den die
Bundesministerin angesprochen hat und der so wichtig
ist, dass er auf dem Afrikagipfel und dem G-8-Gipfel besprochen werden sollte. Das ist die wirklich üble Entwicklung des Braindrains. Wir alle sind zwar für afrikanisches Empowerment und leisten viel Unterstützung.
Aber das nutzt nichts, wenn Ärzte und andere Spezialisten nach ihrer Ausbildung in Afrika - davon berichten
Kolleginnen und Kollegen, egal aus welchem afrikanischen Land, immer wieder - meistens von englischsprachigen, aber auch von französischsprachigen Ländern
abgeworben werden. Dagegen können und sollten die
EU- und die G-8-Länder etwas tun.
({10})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Partnerschaftliche Politik mit und für Afrika ist Sache nicht nur dieses
Parlaments, sondern auch der Menschen - und zwar in
zunehmendem Maße -, die sich zusammen mit partnerschaftlichen Organisationen in unseren Gemeinden und
Regionen für Afrika einsetzen und hier ein unglaublich
großes Engagement an den Tag legen.
({11})
Es sind nicht nur die großen Hilfsorganisationen, sondern auch die partnerschaftlichen Organisationen, die
zusammen mit den Menschen gegen Aids, Armut und
Hunger kämpfen sowie für Frauen und Kinder streiten.
Ihnen sollten wir nicht nur Dank sagen, sondern auch
unsere Unterstützung zusichern.
Herzlichen Dank.
({12})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die außenpolitische Diskussion und
die internationale Wahrnehmung haben sich in den vergangenen Jahren vermehrt der Themen des afrikanischen
Kontinents angenommen. Wir wissen: Afrika ist kein
Rand- und auch kein Sonderthema. Dementsprechend
nimmt Afrika auch in der deutschen Außenpolitik eine
wichtige Position ein. Der vorliegende Antrag der Koalition ist ein adäquater Ausdruck dafür.
Eingedenk der Geschichte Afrikas und Europas muss
Ziel all unserer Bestrebungen sein, Afrika zu einem Produkt der Afrikaner werden zu lassen. Wir setzen uns auf
allen Ebenen für eine gleichberechtigte Politik in enger
Abstimmung mit den afrikanischen Partnern ein. Eine
Grundkonstante dabei ist die Einbindung Deutschlands
in die Politik der Europäischen Union. Daher fordere ich
eine noch engere Abstimmung der Vorgehensweisen der
europäischen Partner in Bezug auf eine gemeinsame
Afrikapolitik. Die deutsche Ratspräsidentschaft und der
Vorsitz in der G 8 - das wissen wir inzwischen, auch
nach den Reden heute Morgen - geben uns dazu eine
hervorragende Gelegenheit. Das gestärkte deutsche Interesse an einer guten Entwicklung in Afrika und einem
partnerschaftlichen Miteinander steht auf breitem Fundament.
({0})
Dieses zeigt sich ganz besonders in dem Engagement
unserer Regierung, zum Beispiel auch in der Planung
unserer Bundeskanzlerin, Ende dieses Jahres nach
Afrika zu fahren.
({1})
- Frau Müller, Sie meinten vorhin etwas anderes.
Grundlage unseres Handelns sind der G-8-Aktionsplan für Afrika und die EU-Afrikastrategie. Im Rahmen
seiner internationalen Bündnisse und Verpflichtungen ist
Deutschland in den letzten Jahren zu einem aktiven und
wichtigen Protagonisten der internationalen Afrikapolitik geworden. Wir haben uns internationalen Missionen nicht entzogen, und wir werden uns in Zukunft internationalen Missionen nicht entziehen. Wir werden
weiterhin im Rahmen unserer Möglichkeiten aktiv Verantwortung für Frieden und eine gute Entwicklung in
Afrika übernehmen. Dazu gehört auch, die Afrikanische
Union zu unterstützen. Dabei geht es um ihre Bemühungen und Projekte für Frieden und eine stabile Entwicklung in Afrika. Im internationalen Dialog vom Prinzip
und der Forderung nach guter Regierungsführung, also
nach Good Governance, abzurücken, wäre unverständlich und auch unverantwortlich.
Auf einem Kontinent, auf dem in den vergangenen
Jahren noch Millionen von Menschen durch Krieg und
Gewalt vertrieben und getötet worden sind, müssen Frieden und Sicherheit vorrangige Ziele jeder Bestrebung
sein. Eine erfolgreiche Sicherheits- und Friedenspolitik
braucht starke afrikanische Partnerstaaten. Dazu gehört
sinnvollerweise, regionale afrikanische Kapazitäten zur
Konfliktbewältigung und zur Konfliktprävention auszuweiten und zu unterstützen. Das betrifft auch das Problem der Migration, sowohl der Binnenvertriebenen in
Afrika als auch jener Flüchtlinge, die unter Lebensgefahr versuchen, nach Europa zu kommen. Es ist sicherlich keine Lösung, die Kriterien der deutschen Asylpolitik im großen Stil aufzuweichen.
({2})
Wer vorgibt, mit solchen unrealistischen und unrealisierbaren Mitteln Probleme in Afrika lösen zu wollen, die
vorrangig durch Prävention vor Ort zu lösen sind, der
bietet uns nur eine unverantwortliche Grimm’sche Märchenstunde.
Anke Eymer ({3})
({4})
Sicherheit betrifft auch die Frage nach dem internationalen Terrorismus. Das ist die Frage, inwieweit religiöse
Fundamentalisten in Afrika in jenen Bereichen Fuß fassen, die durch staatliche Strukturen nicht mehr kontrolliert werden. Der interreligiöse und der interkulturelle
Dialog sind in diesem Zusammenhang eine wichtige
Aufgabe. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist
nicht nur für eine intellektuelle Elite fruchtbar. Elite ist
wichtig und muss auch gefördert und gehört werden. Ich
möchte an dieser Stelle auf die Arbeiten der Universität
Fort Hare hinweisen. Das ist eine Universität, die für
zahlreiche afrikanische Politiker der Ausgangspunkt war
und ist. Kultureller Austausch und Präsenz helfen, auf
breiter Ebene Missverständnisse abzubauen. Hier ist
auch die Arbeit der zahlreichen Stiftungen und die Arbeit des Goethe-Instituts zu nennen. Wir müssen dafür
Sorge tragen, dass in Zukunft ausreichend Mittel für
diese Arbeit bereitstehen.
({5})
Was den Bereich der menschlichen Entwicklung angeht, möchte ich einen Punkt herausstreichen - er wurde
im Laufe dieser Debatte schon angeführt -: die Bedrohung durch Pandemien wie HIV und Aids, die eine besondere Gefährdung darstellen. Afrika ist von HIV und
Aids besonders stark betroffen, und es ist auf internationale Hilfe angewiesen. Diese Hilfe muss die Versorgung
der Betroffenen mit modernen Medikamenten sicherstellen. Aber das Bewusstsein mancher Verantwortlicher in
Afrika, ja selbst das Anerkennen, dass es HIV und Aids
gibt, ist leider nicht immer gegeben.
({6})
Wie dringend der Handlungsbedarf hier ist, muss nicht
weiter unterstrichen werden.
Zu diesem Thema gehört die besondere Rolle der
Frauen und Mädchen; denn sie sind von HIV und Aids
stärker betroffen. Auch in diesem Bereich ist die Stärkung der Position der Frauen und Mädchen dringend
notwendig.
Der große Afrikaner und ehemalige Präsident von
Südafrika, Nelson Mandela - er ist im Laufe dieser Debatte leider noch nicht erwähnt worden -, hat hierzu eine
einfache Wahrheit ausgesprochen - ich zitiere -:
Wir müssen diese Krankheit beherrschen, sonst
werden wir von ihr beherrscht.
Mandela ruft damit gleichzeitig alle Verantwortlichen
auf, in dem Kampf gegen die Ausbreitung und in der
Sorge um die Betroffenen nicht nachzulassen.
Deutsche Interessen in Afrika sind natürlich auch
wirtschaftlicher Natur. Die Rohstoffe gehören den afrikanischen Bevölkerungen, die am Gewinn fair beteiligt
werden müssen. Aber auch der Aufbau dauerhafter stabiler Wirtschaftsstrukturen, die nicht nur auf Rohstoffabbau ausgerichtet sein dürfen, gehört dazu.
Ebenso wichtig ist der Dialog mit den neuen internationalen Akteuren, die sich verstärkt für die afrikanischen Länder interessieren, also mit Ländern wie China
und Indien. Ziel des Dialogs mit diesen neuen Akteuren
muss es sein, dass vor allem eine chinesische Darlehensund Investitionspolitik und ein chinesisches Interesse an
den afrikanischen Rohstoffen nicht zu einer Einbahnstraße für die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika werden.
({7})
In dem vorliegenden Antrag der Koalition wird die
Bedeutung Afrikas als Wirtschaftspartner, im Bereich
Demokratisierung und Konflikteindämmung und bei
Fragen der internationalen Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung deutlich. Daher bitte ich Sie, den Antrag der Koalition zu unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Mit besonderem Dank an die letzte Rednerin, die
jedenfalls einen kleinen Beitrag zur Wiederherstellung
der ursprünglich vereinbarten Redezeit geleistet hat,
schließe ich diese Debatte.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/4414, 16/4425 und 16/4410 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?
({0})
- Das wollte ich doch hören. - Dann ist das damit so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Ordnungspolitischer Kompass für die deut-
sche Energiepolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt
Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Die zukünftige Energieversorgung sozial
und ökologisch gestalten
- Drucksachen 16/589, 16/1082, 16/3582 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Gudrun Kopp, Martin Zeil, Christian
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bundeskartellamt stärken - Ausgewogene
Wettbewerbsaufsicht auf den Energiemärkten
- Drucksachen 16/1678, 16/4076 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter,
Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Energiepreiskontrolle sicherstellen
- Drucksachen 16/2505, 16/3585 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Aussprache
eine Dreiviertelstunde dauern soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute eine ganze Reihe von energiepolitischen Anträgen und Vorstellungen der Oppositionsfraktionen. Das Ganze gipfelt darin, dass ein
ordnungspolitischer Kompass auch in der Energiepolitik
eingefordert wird. Ich will gern versuchen, Ihnen darzulegen, dass die Union und diese Bundesregierung einen
ordnungspolitischen Kompass in der Tasche haben, an
dem sich auch ihre alltägliche politische Arbeit ausrichtet.
Dies kann man von den Anträgen, die von den Oppositionsparteien gestellt werden, allerdings nicht immer
behaupten. Wenn ich hier nur einmal die Anträge der
Linken betrachte - beispielsweise bringen Sie die Forderung nach Verstaatlichung der Netze, die wir nächste
Woche diskutieren, aufs Tapet -, dann muss ich leider
feststellen, dass Sie in dieser Frage jegliche ordnungspolitische Grundorientierung verloren haben. Auch bei
manch anderem haben wir den Eindruck, dass Sie
manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen oder
zumindest partiell desorientiert sind.
Wie ist die Lage, und wie ist unser ordnungspolitischer Kompass in der täglichen Arbeit und Umsetzung
in der Energiepolitik? Ich will beim Thema „Strom und
Gas“ beginnen. Dort sind es im Wesentlichen drei Faktoren, die die Preise und die Entwicklung beeinflussen.
Zum Ersten sind das die staatlich administrierten
Steuern und Abgaben, die bei den Preisen für Haushaltsstrom mittlerweile über 40 Prozent ausmachen; beim
Gas und auch beim Industrie- und Gewerbestrom ist das
etwas weniger, aber auch einer der dominierenden Bestandteile.
Zum Zweiten ist das natürliche Monopol der Netze zu
nennen, was mit den Netzkosten zu Buche schlägt. Im
Haushaltsbereich sind dies 35 Prozent. Allein durch
diese beiden Faktoren sind dort fast 75 Prozent, also drei
Viertel der Kosten determiniert.
Zum Dritten ist das der Wettbewerbsbereich, Stromund Gasbezug inklusive Erzeugung und Vertrieb.
Wie sind wir hier ordnungspolitisch bereits zu Werke
gegangen? Wir haben schon im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Erhöhungsorgie beenden, die wir bei
Abgaben und Steuern in den sieben Jahren von RotGrün erlebt haben. Nach einem Anstieg von 2 auf über
13 Milliarden Euro staatlich administrierter Abgabenbelastung pro Jahr haben wir gesagt: Das Ende der Belastung ist erreicht.
Was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, insbesondere der energieintensiven Industrie, anbelangt, so haben wir im letzten Jahr mit der Härtefallregelung beim EEG die energieintensiven Industrien um über
80 Millionen Euro entlastet. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen haben wir weiterhin ganze Branchen im energieintensiven Bereich von
der Strom- und Mineralölsteuer - EU-konform! - befreit
und so weitere 60 Millionen Euro wettbewerbsfördernd
eingesetzt.
({0})
Was das natürliche Monopol der Netze angeht, also
den zweiten Bereich, leistet die Bundesnetzagentur gute
Arbeit. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz, das wir noch
zu Ende der letzten Legislaturperiode gemeinsam im
Vermittlungsausschuss verabschiedet haben, haben wir
die Grundlage dafür gelegt. Diese Arbeit trägt jetzt erstmals Früchte. Gerade diese Woche hat die Bundesnetzagentur veröffentlicht, dass Haushalte und Wirtschaft
gleichermaßen im letzten Jahr um 2,8 Milliarden Euro
entlastet worden sind, nämlich dadurch, dass Erhöhungen der Netzentgelte nicht genehmigt bzw. Netzentgelte
gesenkt worden sind. In diesem Bereich des natürlichen
Monopols, wo der Markt bisher nicht funktioniert, wo
Marktversagen vorliegt, sparen wir mit unserem Ansatz
der kostenorientierten Ex-ante-Regulierung 2006 und
2007 und übergangsweise, modifiziert, 2008 2,8 Milliarden Euro ein.
({1})
Es gibt Prognosen, die besagen - ich will nicht zu optimistisch sein, aber ich denke, dass dies durchaus realistisch ist -: Ausgehend von den etwas über 23 Milliarden
Euro Netzentgelten im Strombereich - so viel waren es
im Jahr 2006 - schaffen wir mit den Maßnahmen, die
jetzt in Gang gesetzt worden sind, nicht nur eine Stabilisierung. Über die Anreizregulierung eröffnen wir, ganz
geplant, einen Erlöspfad nach unten, sodass wir in fünf,
sechs, sieben Jahren im Ergebnis vielleicht bei 17 oder
18 Milliarden Euro Netzentgelte liegen werden. Das
heißt: nicht nur Stabilisierung, keine weiteren Erhöhungen, sondern sogar sinkende Netznutzungsentgelte.
Beim Netzzugang werden wir parallel Maßnahmen treffen - hier seien nur die Netzzugangsverordnung und andere Dinge mehr erwähnt -, und das wird Wirkung beim
Wettbewerb zeigen.
Auch hier haben wir also eine klare ordnungspolitische Grundorientierung, die sich jetzt auszahlt.
Im Bereich der Anreizregulierung werden wir diesen
Erlöspfad nach unten in den nächsten Wochen und Monaten nicht nur konkretisieren - die Eckpunkte liegen ja
vor -, sondern wir werden auch sicherstellen, dass die
Investitionen in die Netze auch zukünftig sichergestellt
werden. Mit dieser Anreiz- und einer Qualitätsregulierung werden wir unseren hohen deutschen Standard, der
einmalig in Europa und in der Welt ist, dauerhaft etablieren, gleichzeitig aber auch die genannten Einsparungen
erzielen. So weit zum Netzbereich.
Der dritte Bereich ist der Wettbewerbsbereich,
Strom- und Gasbezug sowie Erzeugung und Vertrieb.
Hier gibt es eigentlich seit 1998 einen Wettbewerb. Wir
müssen aber leider übereinstimmend feststellen, dass
dieser Wettbewerb nur eingeschränkt funktioniert, weil
es marktbeherrschende Stellungen der großen vier Unternehmen in diesem Bereich gibt, die heute mit 80 Prozent
bis 90 Prozent - je nach Definition - bei der Erzeugung
von Strom dominieren. In nächster Zeit werden wir mit
der GWB-Novelle und auch mit anderen Maßnahmen
- zum Beispiel mit der Kraftwerksanschlussverordnung
und anderen Dingen mehr - den Wettbewerb anregen und
intensivieren, da es unsere Aufgabe ist, den Wettbewerb
in diesem Bereich zu erhalten, den wir uns wünschen, damit mittelfristig die entsprechenden Wirkungen entfaltet
werden können.
Sie sehen: Dies ist ein durchdachtes Konzept, mit
dem in den einzelnen Feldern die richtigen Instrumente
genutzt und die richtigen Stellschrauben in die richtige
Richtung gedreht werden.
Wir sind aber nicht nur im Strom- und Gasbereich
ordnungspolitisch klar verankert und orientiert; das gilt
auch für andere Bereiche. Auch in dieser Debatte will
ich das Auslaufen der Dauersubventionierung im Steinkohlebergbau ansprechen. Während es den Grünen unter Rot-Grün in sieben Jahren nicht gelungen ist, ist es
der Union zusammen mit der SPD in einem Jahr der
Großen Koalition gelungen, die Dauersubventionierung
im Steinkohlebergbau zu beenden und stattdessen in die
Zukunft zu investieren.
({2})
Die klare ordnungspolitische Positionierung und Orientierung finden sich auch im Bereich des Klimaschutzes wieder. Mit dem Gebäudesanierungsprogramm - es
geht um energetische Sanierungen im Bestand -, das einen Umfang von knapp 2 Milliarden Euro hat, haben wir
im letzten Jahr Investitionen von 10 bis 12 Milliarden Euro ausgelöst. Nach neuesten Berechnungen ist das
gemeinsam mit allen zusammenhängenden und flankierenden Maßnahmen - ich nenne beispielsweise nur die
Absetzbarkeit der Kosten von Handwerkerleistungen im
Haushalt für den Vermieter und den Mieter gleichermaßen, sodass der Handwerker aus der Schwarzarbeit herauskommt - ein Beitrag in Höhe von 0,5 Prozent bis
0,7 Prozent zum letztjährigen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Auch dies war durch diese klare ordnungspolitische Orientierung möglich.
Auch im Wärmemarkt haben wir mit einem Anreizprogramm, das wir ausgedehnt haben, auf den Markt gesetzt und Erfolge erzielt. Nur zwei Stichwörter: Pelletsheizungen und Wärmepumpen. Der Absatz hat sich im
letzten Jahr mehr als verdoppelt. Wir sind hier ohne
staatlich-dirigistische Maßnahmen, Vorgaben und Vorschriften weitergekommen. Dies gilt auch im Bereich
der alternativen Kraftstoffe. Als letztes Stichwort sei nur
noch die technologieoffene Quote genannt.
Sie sehen also, dass wir nicht nur eine klare theoretische Orientierung, sondern auch ein in sich stimmiges
Energiegesamtkonzept haben, das den Strom, das Gas,
das Klima, die Treibstoffe, den Verkehr und die Gebäude
gleichermaßen umfasst. Wir setzen dieses beharrlich
Schritt für Schritt um.
Wir laden alle Fraktionen des Hauses herzlich dazu
ein, sich konstruktiv daran zu beteiligen, damit in diesem
Bereich zukünftig auch etwas Licht auf Ihre Aktivitäten
und nicht nur auf die der Regierung und der Großen Koalition fällt.
Herr Kollege.
Es ist nämlich in der Tat eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Wir würden uns freuen, wenn Sie alle zukünftig konstruktiv mitmachen. Dann könnten wir uns nächstes Jahr um diese Zeit wiederum über eine klare ordnungspolitische Debatte freuen.
In diesem Sinne denke ich, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Ich lade Sie alle ein, mitzumachen.
({0})
- Genau: Glückauf!
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Lieber Kollege Pfeiffer, es wäre schön, wenn dieses Parlament, diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen tatsächlich einen ordnungspolitischen
Kompass hätten. Dann bräuchten wir diesen Antrag
nicht. Dem ist aber nicht so. Ich glaube, wir können auch
angesichts der Debatten in dieser Woche zum Thema
Klimaschutz sagen, dass eine preisgünstige, umweltver8406
trägliche und sichere Bereitstellung von Energie durchaus eine Schicksalsfrage der Nation ist. An dieser Frage
entscheidet sich sehr viel.
Wir haben allerdings den Eindruck, dass die Energieund Klimapolitik immer mehr zum Tummelplatz für jedermann wird. In der Öffentlichkeit gibt es die abstrusesten Vorschläge von Lobbygruppen und einzelnen
Mitgliedern von Parteien, die nicht den Eindruck bestätigen, den Sie, Herr Pfeiffer, eben versucht haben zu vermitteln. Zum Beispiel gibt es Vorschläge, die Netze zu
verstaatlichen oder sie unabhängigen Betreibern zu übergeben. Andere Vorschläge lauten, Unternehmen zum
Verkauf von ganzen Kraftwerken zu zwingen. Erneuerbare Energien werden für 20 Jahre mit Garantiepreisen
versehen und somit in den Markt gepresst. Kohlekraftwerke und die Kernenergie - so sagen manche - sollten
dagegen verboten werden.
Die Debatte beinhaltet unter anderem Vorschläge zu
Fahrverboten, zu Glühbirnen und zu bestimmten Autos,
die verboten werden sollen. Einige wollen am liebsten,
dass die Preisgestaltung staatlich vorgegeben und eben
nicht über eine Stärkung von Markt und Wettbewerb gefunden werden soll. Einige wollen Emissionszertifikate
versteigern, andere wollen diese verschenken und Steuern auf den CO2-Ausstoß erheben sowie die Steuern auf
den Energiebedarf insgesamt anheben. Dieses Sammelsurium zeigt uns allen sehr deutlich, dass der Mehrheit
der in der Politik Tätigen leider Kurs und Orientierung
im ordnungspolitischen Sinn ziemlich abhanden gekommen sind.
({0})
Lieber Kollege Pfeiffer, Sie haben gerade gesagt, die
Große Koalition habe jetzt das Drehen an der Schraube
von Steuern und Abgaben auf die Energiepreise beendet. Mit einer vorwochenendlichen Gedächtnislücke
haben Sie wahrscheinlich verdrängt, dass wir zum
1. Januar dieses Jahres eine Mehrwertsteuererhöhung
hatten. Sie haben sicher ebenfalls verdrängt, dass die
Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der Bundesregierung ein Gesetz erlassen haben, nach dem vorgesehen
ist, dass beispielsweise die Netzanschlusskosten für Offshoreanlagen auf alle Netzbetreiber umgelegt werden.
Damit werden wiederum Ausnahmetatbestände geschaffen, und es wird weiter an der Kostenschraube gedreht.
Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dass die Kosten
im Monopolbereich Netz sinken können und dass die
Bürger am Ende auch davon profitieren können. Wir
wollen nicht, dass der Staatshaushalt auf diese Weise gefüllt wird und dass Politik immer mehr abschöpft.
Ich habe in dieser Woche ausdrücklich gesagt: Einschließlich der Mehrwertsteuererhöhung haben sich die
Steuern und Abgaben von 1998 bis zum heutigen Tag
beispielsweise im Bereich der Strompreise um 91 Prozent erhöht. Das sind politische Fehlentscheidungen und
Fehlhandlungen. Das hat leider gar nichts mit einem ordnungspolitischen Kompass zu tun.
({1})
Deshalb empfehlen wir mit unserem heutigen Antrag,
der ein ordnungspolitischer Weckruf ans Parlament und
insbesondere an die Regierung sein soll,
({2})
dass wir den Wettbewerb stärken, und zwar in der
Weise, wie wir uns das vorstellen: Wettbewerb schützen,
Wettbewerb überhaupt erst möglich machen und ihn gegen Absprachen, Kartelle und marktbeherrschendes Verhalten von einzelnen Unternehmen stärken.
In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, dass
das Bundeskartellamt als Wettbewerbshüter Nummer
eins in unserem Land auch personell so ausgestattet
wird, dass es seinen Aufgaben tatsächlich gerecht werden kann. Das ist ein wichtiges Anliegen, das ich für die
FDP-Fraktion noch einmal sehr deutlich unterstützen
möchte. Das ist leider nur teilweise geschehen, war aber
immerhin ein kleiner Schritt.
Wir haben als ordnungspolitische Sünde zu verzeichnen, dass wir eine Vielzahl von Parallelsystemen und
-gesetzen haben, die nicht geeignet sind, die Energiepolitik marktkonform aufzustellen. Staatliche Eingriffe
werden zum Beispiel mit fünfzehn verschiedenen Gesetzen vorgenommen. Wir brauchen nicht parallel - ich
nenne nur einige wenige - das Erneuerbare-EnergienGesetz, das Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz, eine Ökound eine Stromsteuer, eine Mineralölsteuer und den
Emissionshandel.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion wünschen uns für
den Klimaschutz ein wirksames Instrument, beispielsweise
den Treibhausgaszertifikatehandel, statt zig Parallelinstrumenten, wobei sogar noch das eine das andere in
seiner Wirkung aushebelt. Das ist unser Anliegen.
Wir möchten, dass die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass Markt und Wettbewerb und damit
auch die soziale Marktwirtschaft über eine Renaissance
der Ordnungspolitik gestärkt werden. Ich bitte Sie sehr
herzlich, darauf zu achten, welche weiteren Instrumente
Sie einführen, und auf die zu verzichten, die zulasten der
Verbraucher gehen und wenig Wirkung hinsichtlich der
Stärkung des Wettbewerbs zeigen. Ich wünsche mir, dass
Sie unsere Anträge unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Rolf Hempelmann ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In der Tat beschäftigen wir uns heute nicht zum ersten
Mal mit diesen insgesamt vier Anträgen der Opposition
hier im Parlament. Wir haben das schon im September
ausgiebig getan. Die damalige Debatte war - so fand
ich - eigentlich erhellend. Man hätte damit rechnen können, dass die Anträge zurückgezogen werden. Dies ist
nicht geschehen. Deswegen haben wir uns anschließend
auch in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages
mit diesen Anträgen noch einmal ausführlich befasst.
({0})
Dort sind sie von der Regierungskoalition abgelehnt
worden. Dennoch befassen wir uns heute zu unser aller
Überraschung erneut hier im Plenum des Deutschen
Bundestages damit.
({1})
Und vermutlich - die Opposition wird nicht damit rechnen - werden die Anträge erneut das gleiche Schicksal
erleiden und am Ende abgelehnt werden.
({2})
Das ist keine Trotzreaktion der Koalition, sondern hat
einfach sachliche Gründe; denn - das ist vielleicht in der
Rede von Frau Kopp auch deutlich geworden - Energiepolitik ist eben komplex.
({3})
Deswegen ist es normal, dass in einem Meinungsbildungsprozess, jedenfalls solange die Dinge noch nicht in
Gesetze gegossen sind, auch diese Komplexität der Meinungen zum Ausdruck kommt. Das hat auch etwas damit
zu tun, dass Energiepolitik nicht ausschließlich zum
Beispiel Umweltpolitik ist, sondern zum Beispiel auch
- und vielleicht in manchen Bereichen vor allem - Wirtschaftspolitik, dass sie je nachdem, um welche Projekte
es geht, auch Verkehrs- oder Baupolitik sein kann. Es
gibt nationale oder regionale Aspekte genauso wie internationale, europäische oder globale. Am Ende einer umfassenden Diskussion müssen wir auch zu Entscheidungen kommen. Ich denke, Herr Dr. Pfeiffer hat durchaus
richtig dargestellt, dass das, was jetzt kurz davor steht,
ins Gesetzblatt zu kommen, ein in sich stimmiges Gesamtkonzept widerspiegelt.
Die meisten dieser Anträge befassen sich mit dem
Thema Preise, insbesondere mit den Strom- und Gaspreisen. Im Grunde greift das sogar zu kurz. Wir müssen
uns eigentlich mit den Energiepreisen insgesamt befassen, weil die Bürgerinnen und Bürger mittlerweile nicht
nur unter der zweiten Miete, also den Strom- und Gaspreisen, sondern unter den Energiepreisen insgesamt leiden. Dazu gehören auch Heizöl und Benzin.
({4})
Es ist unser aller Bestreben, dass es gerade im Zusammenhang mit den ökologischen Herausforderungen, vor
denen wir stehen, nicht dazu kommt, dass Energiebezug
zum Privileg für wenige Reiche wird. Deswegen müssen
wir unsere energiepolitischen Instrumente mit Blick auf
diese Herausforderungen anpassen.
({5})
Die vorgeschlagenen Instrumente helfen dabei allerdings nicht. Eben ist schon angedeutet worden, dass eine
Verlängerung der Tarifpreisaufsicht nicht mehr in die
derzeitige Wettbewerbslandschaft passt. Deswegen ist es
richtig, dass die Preiskontrolle zum 30. Juni 2007 ausläuft. Das ist nun einmal eine logische Konsequenz der
Liberalisierung. Wir müssen uns darum bemühen, den
Wettbewerb auf dem Markt zu entwickeln. Es ist sicherlich richtig, dass dieser noch nicht befriedigen kann, aber
wir haben gerade Instrumente entwickelt, von denen wir
uns eine ganze Menge versprechen. Einige sind ja auch
schon im Einsatz. - Im Übrigen hat das der Bundesrat
offenbar nicht anders gesehen als wir; denn er hat den
Vorstoß der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
zur Verlängerung der Tarifaufsicht zurückgestellt. Ich
denke, das ist ein klares Indiz dafür.
Andere Vorschläge zielen darauf ab, das Kartellamt
zu stärken. Die FDP hat einen entsprechenden Antrag
gestellt. Da geht es aber ausschließlich um die personelle
Stärkung der Behörde. In diesem Zusammenhang kann
man auf die drei neuen Stellen, die im letzten Jahr im
Rahmen der Haushaltsberatungen beim Kartellamt geschaffen wurden, verweisen. Nach meiner Einschätzung
sind das aber eher zu wenige als zu viele Stellen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der Einsparrunde für Verwaltungsbehörden auch beim Bundeskartellamt wieder Stellen gestrichen worden sind.
Deswegen müssen wir - das sage ich ausdrücklich - dieses Thema sicherlich noch einmal aufgreifen. Dabei
müssen wir uns dann darum bemühen, dass eine entsprechende Personalausstattung für das Bundeskartellamt
gewährleistet wird. Gut ist, dass es nicht zu Kürzungen
im Bereich der Energieaufsicht gekommen ist. Aber alles in allem ist die derzeitige Situation noch nicht zufriedenstellend.
Wir wollen nicht, dass es zu einer Verschiebung von
Personal von der Bundesnetzagentur hin zum Bundeskartellamt kommt. Die Bundesnetzagentur ist eine
junge Behörde, die gerade erst ans Werk gegangen ist.
Sie braucht, wie ich denke, die ihr zugewiesene Personalausstattung zur Wahrnehmung ihrer neuen Aufgaben
angesichts der bestehenden Herausforderungen.
Es gibt einen weiteren Vorschlag aus dem Bundeswirtschaftsministerium, der schon bei der Debatte, die
wir im September geführt haben, vorgestellt wurde. Hier
geht es um eine Veränderung im GWB, also im Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Ich habe diesen
Vorstoß in der damaligen Plenardebatte grundsätzlich
begrüßt. Er kann eine gewisse Brückenfunktion bilden,
bis insbesondere im Bereich der Energieerzeugung die
Oligopolsituation ein Stück weit aufgebrochen, die Angebotssituation verbessert, Liquidität auf dem Markt
hergestellt und Anbietervielfalt erreicht ist. Insofern
könnte durch mehr Wettbewerb auf der Erzeugerseite
und mehr Angebote auch Druck auf die Erzeugerpreise
ausgeübt werden. Bis dahin kann es über Regelungen im
GWB - immer verstanden als Brückenfunktion - Sinn
machen, dem Bundeskartellamt dabei zu helfen, eventuellen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu
identifizieren und ihn zu unterbinden. Das ist aber kein
einfaches Unterfangen, weil es sich beim Kartellrecht
um ein sehr gut austariertes Recht handelt. Damit haben
sich ja in der Vergangenheit schon durchaus kluge Köpfe
beschäftigt. Deswegen mussten wir die Vorschläge des
BMWi sorgfältig prüfen. Hierüber gibt es einen intensiven Dialog zwischen den verschiedenen Ressorts und
den Fraktionen.
Ich bin mir ganz sicher, dass wir zu einem Ergebnis
kommen werden, das einerseits die Behörde stärkt sowie
die Feststellung von entsprechendem Marktmissbrauch
erleichtert und andererseits mit dem Stromhandel an den
internationalen Börsen kompatibel ist. Wenn ein Stück
mehr Staat an einer Stelle implementiert wird - das ist
immer so -, muss darauf geachtet werden, dass nicht das
sozusagen zart angewachsene Pflänzchen Markt im
Keime erstickt wird. Wir werden dazu aber letztlich etwas Vernünftiges vorlegen können.
({6})
Meine Damen und Herren, die Vorschläge, wie sie
hier auf dem Tisch liegen, sind - ich habe das angedeutet nicht wirklich zielführend. Ich glaube aber, dass wir, die
Koalition, nachweisen können, dass wir nicht bei null
anfangen. Schon die rot-grüne Koalition hat, am Ende
dann mit Unterstützung von Schwarz und Gelb im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat,
das Energiewirtschaftsgesetz novelliert, die Bundesnetzagentur installiert und letztlich dafür gesorgt, dass diese
mittlerweile erfolgreich Netzentgelte reguliert und auch
für preisdämpfende Effekte sorgt.
Das alles kann sicherlich noch sehr viel besser funktionieren, und das soll es auch im Rahmen der Anreizregulierung, die nach unserer Auffassung am 1. Januar
2008 in Kraft treten soll. Es zeigt sich aber, dass es
wahrscheinlich der 1. Januar 2009 wird. Deshalb - so ist
es bisher jedenfalls vom Wirtschaftsministerium und
auch von der Bundesnetzagentur angedacht - soll es eine
zweite Ex-ante-Preisgenehmigungsrunde geben. Unser
Appell ist, dass dann auf jeden Fall auf die Betriebskosten- und nicht so sehr auf die Kapitalkostenseite geschaut wird. Denn in der ersten Runde ist vieles gelungen, eines aber nicht, nämlich dass die weniger
effizienten Unternehmen in Bezug auf Effizienz deutlich
mehr unter Druck geraten und der Druck auf die bereits
effizienten Unternehmen geringer ist. Das ist der Grundgedanke der Anreizregulierung, sollte aber auch vor Inkrafttreten der Anreizregulierung Grundprinzip sein.
Das geht nur, wenn jetzt der Blick auf die Betriebskosten gelenkt wird. In der ersten Runde war es so, dass die
Unternehmen, die hohe Kapitalkosten hatten, diese senken mussten. Diese hohen Kapitalkosten waren aber teilweise dadurch begründet, dass man bereits Effizienzmaßnahmen ergriffen hatte, zum Beispiel Netze saniert
hatte, was natürlich kapitalintensiv war und Kapitalkosten verursacht hatte. Diese Unternehmen haben auf der
anderen Seite aber niedrigere Betriebskosten. - Jetzt
muss sozusagen im Umkehrschluss die andere Seite geprüft werden, damit das Ganze einigermaßen ausgeglichen wird.
Ich gehe davon aus, dass wir insbesondere über die in
Rede stehende Kraftwerksanschlussverordnung erreichen werden, dass mehr Kraftwerke ans Netz kommen,
und dass wir auf diese Weise dann letztlich auch mehr
Liquidität, mehr Strom im Angebot haben und dadurch
über mehr Wettbewerb Preisdruck erzeugen können. Die
Kraftwerksanschlussverordnung, die jetzt im Entwurf
vorliegt, muss insbesondere dem Gedanken der Nichtdiskriminierung verpflichtet sein. Das heißt, alle Anbieter müssen die gleiche Chance bekommen, nicht nur ans
Netz angeschlossen zu werden, sondern nach Netzanschluss auch bei eventuellen Netzengpässen ihren Strom
zum Endkunden durchleiten zu können. Diese Voraussetzung ist wichtig, um Druck darauf auszuüben, dass
die Netze sukzessive ausgebaut werden. Ohne Netzausbau werden die Kraftwerke letztlich nur teilweise gefahren werden können. Das macht keinen Sinn. Deswegen
brauchen wir eine Netzausbaustrategie. Das kann im
Rahmen einer klug gewählten Anreizregulierung durchaus mitgeleistet werden. Die Bundesnetzagentur hat ja
die Doppelaufgabe, auf kosteneffizienten Netzbetrieb,
aber auch auf Qualität und Investitionen Einfluss zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass das,
was Frau Kopp eben angesprochen hat, tatsächlich möglich ist, nämlich die energiepolitischen Instrumente auf
ein einziges zu reduzieren.
Herr Kollege, Frau Kopp würde an dieser Stelle gerne
eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie sie zulassen.
Immer gern.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Hempelmann. - Die Frage
kommt etwas zeitverzögert; es dauert ja immer etwas,
bis man seine Frage stellen kann. Ich gehe deshalb ein
Stück zurück. Ich bin ein bisschen erstaunt darüber, dass
Sie den ursprünglichen Konsens, den wir unter den energiepolitischen Sprechern hatten, nämlich im Zeitrahmen
der Regulierung zu bleiben und die Anreizregulierung
nicht ein Jahr nach hinten zu verschieben, infrage stellen.
Ich bitte Sie, noch einmal Folgendes zu bedenken. Sie
haben gesagt, im ersten Durchgang der Kostenregulierung sei es in erster Linie um die Kapitalkosten gegangen. Meine Information ist: Richtig, es ging um Kapitalkosten, aber auch um Betriebskosten, und zwar
Betriebskosten/Personalkosten. Mein Kenntnisstand ist,
dass es in der Energiewirtschaft in der letzten Zeit eine
Kostenoptimierung in Form eines enormen Personalabbaus gegeben hat. Ich befürchte einfach, dass wir in der
zweiten Runde, die ein Jahr andauern soll, nicht zu den
gewünschten Effizienzen kommen und somit wertvolle
Zeit bis zum Beginn der Anreizregulierung verschenken.
Stimmen Sie mir da zu?
Wir liegen, was die grundsätzlichen Fragen angeht,
nicht weit auseinander. Ich würde mir wünschen, wir
könnten zum 1. Januar 2008 mit der Anreizregulierung
beginnen. Das ist unser Signal gegenüber der Bundesnetzagentur und dem Wirtschaftsministerium. Aber die
erste Entgeltgenehmigungsrunde hat eben eine Menge
Zeit gekostet. Die Behörde musste - das ist kein Vorwurf erst noch Erfahrungen sammeln.
Die Genehmigungsrunde läuft noch; sie ist noch nicht
abgeschlossen. Deswegen scheint es wenig realistisch zu
sein - wir müssen uns den Realitäten stellen -, diese
Runde sehr schnell und gleichzeitig die Vorbereitung für
den Beginn einer Anreizregulierung zum 1. Januar 2008
abschließen zu können. Wenn es gelänge, wäre es sehr
gut. Es wäre in jedem Fall die bessere Lösung. Wenn das
aber nicht möglich sein sollte, dann muss es wenigstens
gelingen - das ist in der ersten Runde nicht gelungen -,
die weniger effizienten Unternehmen stärker unter
Druck zu setzen als die effizienteren, um die Schere zwischen beiden ein Stück weit zu schließen. Das ist das
Prinzip der Anreizregulierung. Deswegen sollte es in der
zweiten Runde ebenfalls das Leitprinzip sein.
Es ist zwar so, dass Daten zu Personal- und Personalzusatzkosten sowie anderen Betriebskosten eingeholt
worden sind. Aber im Wesentlichen waren die Kapitalkosten Maßstab dafür, ob ein Unternehmen mit Kürzungen rechnen musste. Wenn eine zweite Runde kommt,
empfiehlt es sich daher, verstärkt die Betriebskosten als
Grundlage zu nehmen.
Noch einmal: Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu, dass
es wünschenswert wäre, ohne eine zweite Runde die Anreizregulierung zu starten. Nach allen Aussagen aus dem
federführenden Haus, aber auch aus der Bundesnetzagentur scheint das aber nicht mehr realistisch zu sein.
Ich habe bei dem letzten Punkt Frau Kopp direkt angesprochen, weil sie eben die These aufgestellt hat, der
Emissionshandel könne sozusagen das Globalinstrument werden und man könne auf andere Instrumente
verzichten. Ich staune über den Glauben an den Emissionshandel als das sozusagen omnipotente Instrument;
denn es gibt eine ganze Reihe von Kritikpunkten am
Emissionshandel. Auch die, die ihn grundsätzlich unterstützen, wissen natürlich, dass es sich um ein Instrument
handelt, das sich erst noch sukzessive bewähren muss.
Die Situation ist die, dass eine Realisierung in
27 Mitgliedstaaten erfolgen muss. Sie werden das natürlich auf unterschiedliche Art und Weise tun, wie wir es
in der ersten Handelsperiode gesehen haben. Es wird in
der zweiten Runde sehr darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass die Realisierung des Zertifikatehandels in Europa möglichst harmonisiert und unter Berücksichtigung
der unterschiedlichen Ausgangslagen der Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Zum jetzigen Zeitpunkt zu sagen,
das sei das Globalinstrument, unter das wir alles andere
subsumieren können, ist zumindest verfrüht.
Zum anderen möchte ich darauf hinweisen, dass die
Instrumente jeweils unterschiedliche Schwerpunktziele
haben. Hier geht es ganz eindeutig um die Reduzierung
von CO2. Bei den erneuerbaren Energien geht es aber
auch darum, Zukunftsperspektiven für ein Zeitalter zu
schaffen, in dem fossile Energien möglicherweise nicht
mehr zur Verfügung stehen. Hier geht es also um technologische Entwicklungen, die vorangetrieben werden sollen. Deswegen handelt es sich um ein Instrument, das
man nicht eins zu eins mit dem Emissionshandel vergleichen kann. Das kann man auch von anderen Instrumenten sagen.
Richtig ist, dass wir die Instrumente nebeneinanderlegen müssen. Wir müssen prüfen, wo es Doppelwirkungen gibt und wo sich die Wirkungen gegenseitig neutralisieren; da stimme ich Ihnen grundsätzlich zu. Wir
müssen dann versuchen, solche negativen Aspekte letztendlich zu beseitigen.
Über vieles konnte nicht gesprochen werden. Aber
dass wir natürlich nicht nur im Bereich Strom und Gas,
sondern auch im Bereich Verkehr und Gebäude ehrgeizige Ziele haben, ist deutlich geworden. Herr Pfeiffer hat
es angesprochen: Wir stehen vor gewaltigen Aufgaben.
Bitte helfen Sie mit, dass wir sie tatsächlich erfüllen
können!
Vielen Dank.
({0})
Es spricht der Kollege Hans-Kurt Hill für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hempelmann, Sie haben eben über die Komplexität
der Meinungen gesprochen. Das finde ich sehr gut. Ich
empfehle Ihnen einmal, in der „Frankfurter Rundschau“
den Artikel von Staatssekretär Werner Müller
({0})
- Michael Müller, Entschuldigung -, erschienen am
1. März dieses Jahres, zu lesen. Dort werden Sie die
Komplexität der Meinungen wiederfinden.
Zu unserem Antrag. Den Antrag „Die zukünftige
Energieversorgung sozial und ökologisch gestalten“ haben wir vor einem Jahr gestellt; das ist eben angesprochen worden. Ich sage: Er ist so aktuell wie nie zuvor.
Das liegt nach wie vor an der zunehmenden Brisanz der
Energiepolitik und insbesondere an der Untätigkeit der
Regierung. Dass wir recht haben, zeigt nichts besser als
der Antrag selbst. Schon beim Emissionshandel und bei
den Biokraftstoffen ist der Regierung Merkel die Realität um die Ohren geflogen. Der faule Kompromiss beim
Gebäudeenergiepass führt dazu, dass erst 2018 mit wirksamen Energieeinsparungen zu rechnen ist. In Sachen
Energie und Klimaschutz fällt die Große Koalition im
Rahmen der Ratspräsidentschaft nur durch Zurückrudern
auf.
Ich möchte aber auf ein viel größeres Problem eingehen. Die Bundesregierung ist dabei, eine klimafreundliche und soziale Energiepolitik an den Nagel zu hängen.
Am Mittwoch versprachen die Regierungsvertreter im
Umweltausschuss, man sei bezüglich der Senkung der
Klimagasemissionen um bis zu 40 Prozent im Gespräch.
Aber im Gespräch ist die Große Koalition auch bei der
Atomfrage.
Ihr Versagen beim Klimaschutz wird deutlich, wenn
man sich die aktuelle Entwicklung in der Energiewirtschaft ansieht. Fossile Kraftwerke in einem Umfang
von 60 000 Megawatt sind geplant, allein Steinkohlekraftwerke in einem Umfang von 40 000 Megawatt. Es
sind also weit mehr Kohleblöcke geplant, als zurzeit in
Betrieb sind. Die meisten der vorgesehenen CO2-Schleudern sollen bis zum Jahr 2012 laufen. Sie sind mit herkömmlicher Technik ausgerüstet und für die CO2-Abspaltung nicht geeignet. Kollege Schwabe von der SPD
- er ist leider nicht da - hat gestern in der „Frankfurter
Rundschau“ gefordert, ab 2015 solle es nur noch CO2freie Kraftwerke geben. Das ist eindeutig zu spät, liebe
Sozialdemokraten.
({1})
Wenn die Bundesregierung jetzt nicht massiv in die
Kraftwerksplanung eingreift, dann steigt der Klimagasausstoß in Deutschland in fünf Jahren über das Niveau
von 1990.
Mir wird damit auch klar, weshalb sich das Bundeswirtschaftsministerium beharrlich weigert, das Parlament über geplante Kraftwerke zu informieren. Sehr geehrte Herren Glos und Gabriel, die unbequeme Wahrheit
lautet: Ab 2008 dürfen keine neuen Kohleblöcke mehr
genehmigt werden; ansonsten kommen wir in Teufels
Klimaküche. Wir werden das in Kürze in einer Studie
nachweisen.
Aber die Energiekonzerne machen derweil mit fossilatomaren Steinzeitkraftwerken Kasse. Zentralistische
Großkraftwerke sichern ihr Energiemonopol. Aus dieser
Position drehen sie nach Belieben an der Preisschraube.
Sie verhindern gleichzeitig die Dezentralisierung der
Energieversorgung, und sie behindern den Netzzugang
erneuerbarer Energien. Das ist Klimafrevel hoch zwei.
({2})
Die Zeche zahlen die Verbraucherinnen und Verbraucher mit überhöhten Strom- und Gasrechnungen. Deshalb ist eine wirksame Überwachung der Energiepreise,
wie sie die Linke mit dem Antrag „Energiepreiskontrolle
sicherstellen“ fordert, unverzichtbar.
({3})
Strom- und Gasrechnungen nach Gutsherrenart können
wir uns nicht leisten.
Industrieminister Gabriel kommt derweil Klimaignoranten wie Audi zu Hilfe. Durch den Zwang der Beimischung klimaneutraler Biokraftstoffe zum fossilen Sprit
soll der CO2-Ausstoß der Spritfresser heruntergerechnet
werden. Die Pioniere der Bioenergie hat Gabriel aber
wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Zum Stopfen von
Steinbrücks Steuerkassen werden Biodiesellandwirte abgezockt, bis sie pleite sind.
Gestern habe ich mir einen solchen Biodieselbetrieb
angesehen. Der Ökosprit wurde dort, integriert in den
landwirtschaftlichen Betrieb, für den Eigenverbrauch
und den regionalen Bedarf hergestellt. Die Wertschöpfung fand also vor Ort statt - bisher. Jetzt hat der Betrieb
die Biodieselproduktion eingestellt. An der Anlage, die
nur drei Jahre lief, hängt ein Schild: Gefördert durch die
EU, das Land Sachsen-Anhalt und die Agentur für Arbeit. Die Fördermittel sind futsch, und der Insolvenzverwalter kommt. 15 000 Stellen sind durch die Biospritsteuer schon verloren gegangen. So macht man keine
soziale und ökologische Energiepolitik.
({4})
Ich komme nun zum Schluss. Die Linke fordert die
Bundesregierung auf, Fehler in der Energiepolitik rückgängig zu machen: erstens, raus aus der fossil-atomaren
Energiewirtschaft; zweitens, mehr erneuerbare Energien,
mehr Energieeffizienz und mehr Energieeinsparung;
drittens, dem Energiekartell wirksam auf die Finger
klopfen; viertens, Klimaschutz ernst nehmen statt lose
Versprechungen machen.
Danke schön.
({5})
Hans-Josef Fell hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Klimaveränderung wird immer dramatischer. Zurzeit wird Bolivien von apokalyptischen Regenfällen heimgesucht. 500 000 Menschen haben alles
verloren. Allein in Beni sind 22 000 Rinder ertrunken,
die Plantagen sind zerstört, und Infektionskrankheiten
breiten sich aus.
Präsident Morales, der mit der Verstaatlichung von
Erdöl und Erdgas in seinem Land das Klima selbst anheizt,
({0})
beschreibt die Ursachen dennoch richtig:
Es gibt Länder, die maßlose und unkontrollierte Industriepolitik betreiben, das vergiftet den Planeten
Erde und zerstört die Umwelt, und wir armen Länder leiden darunter.
Auch EU-Kommissionspräsident Barroso betont die Ursache der Klimaveränderung immer wieder: 80 Prozent
aller Klimagasemissionen werden durch die Nutzung der
fossilen Energien emittiert.
Nun liegt uns heute ein Antrag der Freien Demokraten über den ordnungspolitischen Kompass für die deutsche Energiepolitik vor. In diesem Antrag kommt der
Klimaschutz nur einmal als Kostenfaktor vor und nicht
als übergreifende Notwendigkeit. Schlimmer noch: NotHans-Josef Fell
wendige und erfolgreiche staatliche Regulationen im
Energiebereich wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz
werden als zu große Strompreisbelastung diffamiert und
fälschlicherweise sogar als Subvention bezeichnet.
Man kann doch nicht ernsthaft die mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz verbundenen winzigen Strompreiserhöhungen um 0,5 Cent pro Kilowattstunde für Haushaltskunden und um nur 0,15 Cent für Industriekunden
als Belastung bezeichnen. Auch angesichts der inzwischen wohl 200 000 Jobs, einer industriellen Entwicklung von Windkraft, Fotovoltaik, Biogas und anderen
Energieträgern ist diese FDP-Kritik völlig verfehlt.
({1})
Die ganze Welt staunt über die industrielle Entwicklung
der erneuerbaren Energien in Deutschland, und die FDP
mäkelt an winzigen Strompreiserhöhungen und ordnungspolitischen Fragen herum. Wettbewerb und Ordnungspolitik sind in ihrem Antrag die einzigen dominanten Themen. Energieversorgungssicherheit und
Klimaschutz spielen keine Rolle, ebenso wenig die dafür
notwendigen Maßnahmen.
({2})
Wettbewerb ist wichtig, sind es doch gerade die großen Oligopole, die wirksamen Klimaschutz mit erneuerbaren Energien und Energieeinsparung behindern. Deren
Marktmacht muss natürlich mit mehr Wettbewerb verringert werden. Aber Wettbewerb und Ordnungspolitik
über alle anderen Kriterien, zum Beispiel den Klimaschutz, zu stellen, wie Sie es in Ihrem vorliegenden Antrag tun, ist kein sinnvoller ordnungspolitischer Kompass.
({3})
Ich weiß, dass einige in der FDP die Wertigkeit des
Klimaschutzes heute anders sehen, als es in diesem Antrag formuliert ist; die Diskussion im Umweltausschuss
zeigt dies deutlich. Ihr Antrag ist immerhin schon ein
Jahr alt. Vor einem Jahr hat die FDP den Klimaschutz offensichtlich noch nicht so ernst genommen wie heute.
Ich kann es deswegen nur für richtig befinden, wenn die
FDP angesichts der Erkenntnisse des IPCC ihren eigenen Antrag heute ablehnt. Das wäre die einzig richtige
Konsequenz.
({4})
Nun zu den Anträgen der Linken. Hier gibt es erfreulicherweise viele Übereinstimmungen mit den klimaschutzpolitischen Notwendigkeiten in der Energiepolitik. Die Betonung der schnellstmöglichen Abkehr von
atomaren und fossilen Energien ist genauso wichtig wie
die Betonung der Aussage, die zukünftige Energieversorgung sozial gestalten zu wollen. Dies findet unsere
Zustimmung.
Dass die Umstellung auf erneuerbare Energien und
Energieeinsparung die einzige Chance für eine bezahlbare Energieversorgung in der Zukunft ist, liegt doch auf
der Hand. Angesichts steigender Verknappung der fossilen und atomaren Rohstoffe wird eine bezahlbare Energieversorgung auch für sozial Schwache zukünftig nur
mit erneuerbaren Energien möglich sein; denn im Gegensatz zu ständig steigenden Preisen für Erdöl, Erdgas,
Kohle und Uran kosten Wind, Sonnenstrahlen, Wasserkraft und Erdwärme nichts.
({5})
Seit Jahren sinken sogar die Technikkosten. Bei steigender Verbreitung der erneuerbaren Energien werden diese
Kosten weiter sinken.
Dass Sie von der Linken immer noch an die Allmacht
des Staates glauben, drücken Sie mit der Forderung nach
der Verstaatlichung der Netze aus. Dies können wir nicht
mittragen. Wirklicher Wettbewerb auf dem Energiemarkt ist sinnvoller als staatlicher Besitz. Da sind wir
durchaus näher bei den Freien Demokraten.
Aber Wettbewerb allein als Allheilmittel für alle
Energieprobleme greift nicht, wenn man zum Beispiel
die Menschheitsherausforderung „Klimaschutz“ bewältigen will. Hier muss und kann wesentlich mehr getan
werden, als die Große Koalition macht, was heute wieder betont wurde. Sie reden nur von Maßnahmen, aber
Sie handeln nicht, oder Sie handeln so, dass es Rückschritte gibt: Die ersten Biodieselproduzenten schließen
oder gehen ins Ausland. Ein Wärmegesetz steht zwar im
Koalitionsvertrag, aber eine Realisierung ist immer noch
nicht zu sehen. Über eine europäische Biogasstrategie
- statt der Erdgasabhängigkeit - diskutieren Sie nicht
einmal. - Die Große Koalition muss endlich aufhören zu
reden und endlich handeln.
Zu den Freien Demokraten sage ich zum Abschluss:
Der ordnungspolitische Kompass, den Sie vorgelegt haben, ist ein missweisender Kompass und führt deshalb in
die Irre.
({6})
Albert Rupprecht hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Antrag der FDP ist im Grundsatz absolut richtig.
({0})
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft ... sollen auch in der Energiepolitik in stärkerem Maße
Bedeutung erhalten.
Hier haben Sie meine absolute Zustimmung. Eine vernünftige Energiepolitik braucht zwingend endlich einen
funktionierenden Wettbewerb. Das ist die Schlüsselfrage
Albert Rupprecht ({1})
überhaupt. Es darf nicht so sein wie bisher: Vier große
Oligopolisten teilen den Markt unter sich auf, verlangen
vollkommen überhöhte Preise und kassieren dabei Milliarden als Monopolgewinne.
Ihre zweite Kernaussage, Frau Kopp, ist zumindest
im zweiten Teil falsch. Sie schreiben:
... die ideologisch motivierte Energiepolitik ... der
vergangenen sieben Jahre
- Anmerkung: unter Rot-Grün ist gescheitert, und es zeichnet sich unter der großen Koalition
- Anmerkung: unter Schwarz-Rot ... keine Verbesserung ab.
Kanzler Schröder und seine Minister Müller und
Clement haben in der Tat in diesen sieben Jahren die
Machtkonzentration in der Energiewirtschaft begünstigt. Minister Glos hingegen kämpft massiv darum, diese
Machtkonzentration aufzubrechen und Wettbewerb zugunsten der Verbraucher zu schaffen.
({2})
Das ist ein Riesenunterschied. Deswegen ist Ihre Bewertung in der Sache falsch. Es zeichnet sich sehr wohl eine
Besserung ab.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich wurden
hier unter Kanzler Schröder massive Fehler gemacht. Es
war ein Fehler, 2003 mit der Verrechtlichung der Verbändevereinbarung den jungen Wettbewerb zu ersticken.
Es war ein Fehler, bei der Vorwärtsintegration der großen Stromkonzerne in die Kommunalunternehmen tatenlos zuzusehen.
({4})
Es war ein Fehler, dass der Minister die Fusion von Eon
und Ruhrgas genehmigt hat.
({5})
Das Leitbild war eben nicht primär mehr Wettbewerb,
sondern das Leitbild waren nationale Champions. Die
Vorstellung war, mit Rückendeckung der deutschen Politik deutschen Großunternehmen auf dem Weltmarkt zu
helfen. Die Förderung des Wettbewerbs hatte bei
Kanzler Schröder kein großes Gewicht.
({6})
Um das aus heutiger Sicht klar zu bewerten: Das war
der falsche Weg. Es kann doch nicht sein, dass deutsche
Verbraucher aufgrund der vollkommen überhöhten
Preise finanzieren, dass deutsche Unternehmen irgendwo auf der Welt einkaufen gehen.
({7})
Es kann doch nicht sein, dass der deutsche Verbraucher,
indem er die überteuerten Preise zahlt, Aktionäre in New
York, München oder Zürich finanziert. Das ist doch absurd!
({8})
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit vernünftiger
Wirtschaftspolitik, geschweige denn mit nationalen Interessen oder Patriotismus zu tun.
({9})
Nationale Interessen fördert man, indem man in Bildung
und Forschung am Standort Deutschland investiert, in
gute Infrastruktur, niedrige Steuern und einen funktionierenden, lebendigen Wettbewerb.
Die Kernaussage von Ludwig Erhard ist bis heute
richtungweisend und richtig, auch was die Energiepolitik betrifft - ich zitiere -:
Unsere Wirtschaftspolitik dient dem Verbraucher,
er allein ist Maßstab und Richter allen wirtschaftlichen Tuns.
({10})
In diesem Sinne ist die Energiepolitik von Minister Glos
eindeutig eine Kehrtwende. Ihre Maxime ist die Förderung des Wettbewerbs zum Wohle der Verbraucher. Im
Jahr 2007 wird ein umfangreiches Maßnahmenpaket
verabschiedet, um auf dem Energiemarkt mehr Wettbewerb zu schaffen.
Um nur einige dieser Maßnahmen zu nennen: Erstens.
Die angesprochene Verordnung zur Anreizregulierung
wird hoffentlich am 1. Januar 2008, spätestens aber am
1. Januar 2009 in Kraft treten. Zweitens. Die Investitionen werden vorangetrieben. Einige Stromanbieter haben
inzwischen Investitionen in Milliardenhöhe zugesagt.
Drittens. Mit § 29 GWB werden wir das Bundeskartellamt im Kampf gegen überhöhte Preise massiv stärken.
Viertens. Die Energiepolitik ist der überragende Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Zur Entstehung eines europäischen Strommarktes werden massive Investitionen in Kuppelstellen an den Grenzen
getätigt.
Keine Frage: Wenn all diese Maßnahmen innerhalb
der nächsten drei bis vier Jahre nicht zu erheblich mehr
Wettbewerb führen, dann werden wir letztendlich auch
in Deutschland ernsthaft über eine eigentumsrechtliche
Entflechtung reden müssen.
({11})
Ziel ist und bleibt ganz klar ein funktionierender Wettbewerb - mit Energie zu niedrigen Preisen zum Wohle der
Verbraucher.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf
Drucksache 16/3582. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/589
mit dem Titel „Ordnungspolitischer Kompass für die
deutsche Energiepolitik“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Linken gegen die Stimmen der FDP.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1082 mit dem
Titel „Die zukünftige Energieversorgung sozial und ökologisch gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen mit den
Stimmen der Großen Koalition und der FDP gegen die
Stimmen der Linksfraktion bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 26 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/4076 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Bundeskartellamt stärken - Ausgewogene
Wettbewerbsaufsicht auf den Energiemärkten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1678 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 26 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/3585 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Energiepreiskontrolle sicherstellen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2505
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung der
Koalition, der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dr. Petra
Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Schutz des Welterbes im Konflikt um die
Waldschlösschenbrücke in den Vordergrund
stellen
- Drucksache 16/4411 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/4460 zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2499 mit dem
Titel „Bundespolitik soll im Streit um die Waldschlösschenbrücke vermitteln“ zu erweitern und diese
als Zusatzpunkt 16 in Verbindung mit diesem Tagesordnungspunkt zu beraten. - Damit sind Sie offensichtlich
einverstanden. Dann ist das so beschlossen, und ich rufe
zugleich diesen Zusatzpunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping,
Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Bundespolitik soll im Streit um die Waldschlösschenbrücke vermitteln
- Drucksachen 16/2499, 16/4460 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Christoph Waitz
Katrin Göring-Eckardt
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
halbe Stunde zu debattieren. Als Erster gebe ich das
Wort der Kollegin Lukrezia Jochimsen.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
32 Orte gibt es in Deutschland, die die UNESCO in den
Rang von Welterbestätten erhoben hat, darunter Dome
und Kirchen, Schlösser und Parks, ganze Altstädte,
Bergwerke, Flusstäler, auch das Bauhaus in Dessau. Es
gibt weitere zwölf Bewerber für diese globale Ehre, darunter das Wattenmeer, das Bayreuther Opernhaus und
die Franckeschen Stiftungen in Halle. Das heißt, mehr
als 40 komplexe und komplizierte Findungs- und Entscheidungsprozesse haben seit 30 Jahren stattgefunden
bzw. finden statt. Da ist es eigentlich eher ein Wunder,
dass es bisher nur einen schweren und andauernden
Konfliktfall gibt: Dresden, dessen Elbfront mit Zwinger,
Oper, Schloss und Frauenkirche 2004 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen wurde. Wegen des
Baus einer Straßenbrücke über die Elbe droht der Stadt
nun die Aberkennung dieses Titels.
Die Linksfraktion hat bereits im September vergangenen Jahres beantragt, dass sich die Bundesregierung vermittelnd einschaltet.
({0})
Denn es geht bei diesem Konflikt aus unserer Sicht nicht
nur um eine Dresdener Lokalangelegenheit und auch
nicht nur um eine Sache Sachsens.
({1})
Die Bundesregierung hat sich inzwischen eingeschaltet,
und auch der Ausschuss hat sich mit diesem Thema befasst. Denn es steht viel auf dem Spiel: unsere nationale
Vertragstreue bei völkerrechtlichen Verpflichtungen, unsere internationale Glaubwürdigkeit im Bereich des
Denkmalschutzes und unsere Fürsorgepflicht gegenüber
den Kulturstätten Deutschlands, die sich zurzeit und in
Zukunft um den Titel „Welterbe“ bei der UNESCO bewerben.
Deshalb hat unsere Fraktion einen aktualisierten Antrag eingebracht, der den Expertenvorschlag des Mediationsverfahrens aufnimmt, im Rahmen einer moderierten Perspektivenwerkstatt eine Lösung zu finden. Dafür
müsste sich jetzt die Bundesregierung einsetzen. In diese
Richtung geht auch die Erklärung der SPD-Fraktion; sie
deckt sich mit unserem heutigen Antrag. Umso unverständlicher ist mir, dass die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien lautet, unseren Antrag abzulehnen.
Wir wissen, dass der Streit zurzeit noch beim Oberverwaltungsgericht Bautzen anhängig ist. Ursprünglich
wurde mit einer Entscheidung vor dieser Plenardebatte
gerechnet. Aus Respekt vor dem laufenden Rechtsverfahren wollen wir heute keine dezidierte Stellungnahme
in der Sache vornehmen. Aber wir wollen uns mit den
Konsequenzen befassen, die aus dem Konfliktfall zu ziehen sind, ganz unabhängig davon, wie das Gerichtsurteil ausfällt und der Streit sich fortsetzen wird. Wir
sind überzeugt, dass die Bundesregierung sich an den
Entscheidungsprozessen betreffend Welterbestätten in
Deutschland in Zukunft von Anfang an beteiligen sollte.
({2})
Wie wäre die Einrichtung eines Referats beim Staatsminister für Kultur und Medien - er ist leider nicht da -,
({3})
welches im Fall von Konflikten rechtzeitig Vermittlung
anbieten kann, ein Mediator für alle Fälle, eine Art Clearingstelle? Denn eines ist absehbar: In Zukunft wird es
eher mehr als weniger Konflikte um die Anerkennung
des Welterbetitels geben. Einzigartigkeit und Authentizität verlangt die UNESCO. Doch diese beiden Kriterien
sind in einem modernen, auf Wachstum und Veränderung setzenden Land oft schwer miteinander zu vereinbaren. Das gilt auch und gerade dann, wenn man Kulturschätze bewahren und herausstellen möchte.
In diesem Sinne lautet unser Vorschlag, aus dem
Streit um die Waldschlösschenbrücke in Dresden zu lernen. Die Bundesregierung muss in diesem Fall vermitteln und - in geeigneter Form - bei allen zukünftigen
Bewerbungen umso mehr.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
({4})
Jetzt hat Arnold Vaatz das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Jochimsen, wie wir mit den Konsequenzen des
noch ausstehenden Bautzen-Urteils umgehen, sollten wir
nicht heute entscheiden, sondern dann, wenn das Urteil
gesprochen ist.
({0})
Ich habe Ihrem Antrag entnommen, dass Sie die Einrichtung einer „moderierten Perspektivenwerkstatt“ fordern. Darauf möchte ich eingehen.
Was das Verfahren angeht, ist festzuhalten, dass Ihr
erster Antrag zur Waldschlösschenbrücke abgelehnt
wurde. Jetzt haben Sie einfach einen nahezu gleich lautenden zweiten Antrag eingebracht. Sie können sich
doch ausrechnen, dass auch dieser Antrag keine Mehrheit finden wird, wenn Sie keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen haben.
({1})
Wer eine solche Auffassung von Seriosität hat, zeigt,
dass er das Parlament offenbar genauso wenig ernst
nimmt, wie Sie in Dresden den Bürgerwillen ernst nehmen wollen.
({2})
Sie versuchen offensichtlich, ein laufendes Gerichtsverfahren zu beeinflussen. In der Sache hat nicht der
Deutsche Bundestag zu entscheiden, sondern - das wissen Sie auch - das Oberverwaltungsgericht Bautzen. Sie
sollten aufhören, den Wählern Zuständigkeiten vorzutäuschen, die Sie nicht haben.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Katja
Kipping zulassen, Herr Vaatz?
Nein. - Das vom Oberverwaltungsgericht Bautzen ermöglichte Mediationsverfahren ist gescheitert. Das war
- darauf haben der Kollege Mücke und ich übrigens
schon während der Anhörung im Kulturausschuss hingewiesen - auch nicht anders zu erwarten. Ich behaupte sogar, es war von Ihnen eingeplant.
Genauso falsch ist die gelegentlich vorgetragene Behauptung, der Bau der Waldschlösschenbrücke bedeute
einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Was das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der
Welt angeht, existiert kein Gesetz, das seine Transformation in deutsches Recht vorschreibt. Damit bindet es weder die Bundesrepublik Deutschland noch den Freistaat
Sachsen und die Stadt Dresden. Es kann nicht einmal gegen einen Bürgerentscheid abgewogen werden.
Ferner ist das UNESCO-Welterbekomitee nicht zu
verbindlichen Entscheidungen gegenüber Vertragsstaaten oder einzelnen Kommunen berechtigt. Das ist die
nüchterne Rechtslage. Wenn Sie das nicht glauben, dann
bitte ich Sie, die Urteilsverkündung abzuwarten. Dann
wissen Sie das auch.
Dresden hat - das haben Sie bisher immer verschwiegen - den Antrag zur Aufnahme in die Weltkulturerbeliste mit einem gültigen Stadtratsbeschluss zum Bau der
Brücke gestellt und den Zuschlag erhalten.
({0})
Die UNESCO kannte die Pläne zum Bau der Waldschlösschenbrücke bis ins Detail.
({1})
Drei Gutachter des von der UNESCO beauftragten
Gremiums, von ICOMOS, haben sich vor Ort von dem
Bauvorhaben informieren können. Diese Gutachter haben nicht einmal ansatzweise ein Problem darin gesehen,
dass das Dresdener Elbtal auch mit der Waldschlösschenbrücke zum Welterbe erklärt wird. Sie haben
keinen Bedarf für zusätzliche Prüfungen gesehen, sondern im Gegenteil die Einbettung der Brücke in die
Landschaft mit der Feststellung gelobt, sie sei ausreichend schlank und niedrig, um eine massive Wirkung in
der Landschaft zu vermeiden. Das war die Einschätzung
der UNESCO-Gutachter.
({2})
Nun hat auf massiven Druck der im Plebiszit Unterlegenen die UNESCO-Führung in Berlin bei der Universität in Aachen ein Gefälligkeitsgutachten in Auftrag gegeben, das später acht Professoren der TU Dresden unter
die Lupe genommen haben, die eine ganze Reihe von
handwerklichen Fehlern bis hin zu fatalen Zeugnissen
von Unkenntnis der Ortslage entdeckt haben. Dieses
Gutachten der Universität Aachen ist die Grundlage für
den Beschluss von Vilnius, Dresden auf die Rote Liste
zu setzen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die UNESCO
diese Praxis fortsetzt, dann verliert nicht die Stadt Dresden an Autorität, sondern das für uns sehr wichtige Gremium der UNESCO.
({3})
Der Brückenbau wurde in einem ordentlichen Bürgerentscheid mit Zweidrittelmehrheit beschlossen. Die
Wahlbeteiligung bei diesem Plebiszit war höher als bei
der vorangegangenen Kommunalwahl, Frau Jochimsen.
Die klare Entscheidung für die Brücke ist nicht aus Lust
an Eingriffen in das Stadtbild oder aus Zerstörungswut
der Dresdner erfolgt, sondern deshalb, weil der Verzicht
auf die Brücke verheerende verkehrliche, wirtschaftliche
und stadtentwicklungsgefährdende Folgen hätte; das ist
die Realität.
({4})
Alle diese Betrachtungen haben in Ihren Erwägungen
bislang keine Rolle gespielt.
({5})
Nur der Vollständigkeit halber: Ohne diese Brücke
verläuft die Verkehrsführung in der Stadt Dresden auf
Jahre hinaus hufeisenförmig, weil die benachbarte Flussseite nur durch eine entfernte Brücke erreicht werden
kann. Die zusätzlichen Verkehrswege, die zusätzliche
Verschmutzung, die zusätzlichen Wartezeiten, den zusätzlichen Aufwand und die zusätzliche Entwertung von
Grundstücken, alles das werden Sie verursachen, wenn
Sie sich durchsetzen.
({6})
Wer von einem möglichen Kompromiss in dieser
Frage redet, der spekuliert auf die Unkenntnis der Sachlage beim Publikum und hat die wahre Absicht, den Bau
der Brücke zu vereiteln. Das Scheitern des Mediationsverfahrens bestätigt das. Jedes andere Verfahren, ob Sie
es nun moderierte Perspektivenwerkstatt oder perspektivische Moderationswerkstatt - oder welche andere verbale Flucht in die Infantilität Ihnen auch immer einfällt nennen, ist nichts anderes als der Versuch, die Entscheidung so lange hinauszuzögern, bis die Bindekraft des
Volksentscheides kraft Gesetzes erlischt. Das ist das eigentliche Ziel, das Sie verfolgen.
({7})
Die Bürger der Stadt Dresden erwarten aber von der
Politik, dass ihnen erlaubt wird, das umzusetzen, was sie
rechtens entschieden haben. Danach bemisst sich unter
anderem ihr Vertrauen in die Demokratie,
({8})
nämlich danach, ob der Unterlegene in der Lage ist, eine
Niederlage zu akzeptieren oder nicht. Das sind Sie nicht.
Wie immer die Angelegenheit ausgeht, ich bin der
festen Überzeugung, dass es Ihnen misslingen wird, politisches Kapital aus der möglichen Vereitlung der Brücke zu schlagen, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Die Menschen werden über Jahre hin merken, was Sie ihnen eingebrockt haben.
Zweitens. Die Stadt Dresden war 1945 ein Trümmerhaufen. Über 25 000 Tote wurden damals
({9})
- ich habe die Bitte, dass Sie das einmal zur Kenntnis
nehmen ({10})
auf Eisenbahnschienen auf dem Altmarkt verbrannt.
({11})
- Lassen Sie mich doch bitte einmal ausreden! - Die
Menschen waren mental und materiell so schwer getrof8416
fen, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen kann.
Nun haben die Dresdner die Zeit nach 1945 genutzt, um
ihre Stadt wiederaufzubauen. Das ist eine einzigartige
Leistung. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man die
Ausgangsposition betrachtet, an deren Beschreibung Sie
mich hindern wollten.
({12})
Diese Leistung, auf die die Dresdner berechtigterweise stolz sind, zumal seit die Frauenkirche wieder
steht, ist nahezu einzigartig in der Welt; denn das Ganze
wurde nicht ausschließlich öffentlich finanziert, sondern
zum Teil privat, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Ich
glaube nicht, dass die Dresdner, die das alles ohne die
Fürsorge, das Geld und die Ratschläge der UNESCO geschafft haben, es akzeptieren werden, dass die UNESCO
- so scheint es -, nachdem alles fertig ist, sich quasi in
das gemachte Nest setzt und beginnt, die Bürger vor sich
selber zu schützen.
Das werden die Dresdner niemals akzeptieren.
({13})
Ich sage Ihnen: Auch etliche Personen von der Minderheit, an die Sie appellieren, denken in dieser Frage genauso. Bedenken Sie, was Sie anrichten, wenn Sie weiter
in dieser Art argumentieren.
Vielen Dank.
({14})
Ich gebe jetzt Katja Kipping das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Vaatz, es geht heute nicht um die verkehrliche
Wirkung der Brücke, wobei ich glaube, dass Sie einem
fatalen Irrtum unterliegen; denn die Brücke wird die
Stadt nicht entlasten, sondern vor allem Durchgangsverkehr nach Dresden bringen.
Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie der Linken
unterstellt haben, sie missachte den Bürgerwillen. Diese
perfide Unterstellung darf nicht unwidersprochen bleiben.
({0})
Die Linke hat - das wissen Sie sehr genau - nach dem
Bürgerentscheid gesagt, sie habe bis zuletzt für ein anderes Votum gekämpft, aber jetzt akzeptiere sie diesen
Bürgerentscheid.
({1})
Wir müssen jedoch auch zur Kenntnis nehmen, Herr
Vaatz, dass inzwischen ein neuer Tatbestand eingetreten
ist. Eine Vielzahl von Leuten, die beim Bürgerentscheid
für die Brücke gestimmt haben, hat gesagt, dass sie die
Brücke nicht zu dem Preis wollten, dass das Dresdner
Elbtal den Titel „Weltkulturerbe“ verliert. Weil Sie, Herr
Vaatz, sich so abfällig über die Anträge der Linken geäußert haben,
({2})
will ich darauf hinweisen, dass wir die Ersten waren, die
die bundespolitische Bedeutung dieses Themas erkannt
und den Brückenbau thematisiert haben. Wenn es nach
der CDU gegangen wäre, dann hätte sich die Bundespolitik nicht damit beschäftigt, es hätte keinerlei Moderation gegeben, und Sie hätten leichtfertig den Titel „Weltkulturerbe“ für Dresden aufs Spiel gesetzt, was für eine
Stadt wie Dresden, die sehr stark auf Tourismus angewiesen ist, auch wirtschaftspolitisch ein extremes Problem darstellt.
({3})
Herr Vaatz.
Frau Kollegin Kipping, dass bei Ihnen die politische
Ankündigung mit dem Handeln oder auch Wort und Tat
nicht übereinstimmen, haben Sie nicht erst bei dieser
Gelegenheit bewiesen.
({0})
Wenn Sie im Stadtrat so reden und politisch anders handeln, dann spricht das nicht unbedingt dafür, dass Sie tatsächlich bereit sind, demokratische Entscheidungen zu
akzeptieren.
Was Sie zu der Verkehrsführung gesagt haben, halte
ich für kompletten Unsinn, wenn ich das einmal so sagen
darf. Das sieht im Übrigen jeder, der den Stadtplan betrachtet. Was Sie weiterhin über die Notwendigkeit des
Titels „Weltkulturerbe“ gesagt haben, bestreiten die Tourismusverbände kategorisch. Sie sind an einem Verkehrsfluss in dieser Region von Dresden weitaus interessierter als an dem Titel „Weltkulturerbe“.
Sie hatten noch etwas über die Zustimmung der Bevölkerung gesagt. Da verweise ich Sie auf die „DNN“
von voriger Woche. Dort wird genau das Gegenteil von
dem belegt, was Sie gerade behauptet haben. Im Übrigen
zählt ein gültiger Volksentscheid. Es zählt niemals irgendeine Umfrage, wie immer sie ausfällt.
({1})
Jetzt gebe ich das Wort Jan Mücke für die FDP.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich möchte am Anfang mit einem Irrtum aufräumen, dem die Kollegin Kipping hier erlegen ist. Sie ist
davon ausgegangen, dass die Dresdnerinnen und Dresdner beim Bürgerentscheid nicht darüber informiert geJan Mücke
wesen sind, dass es sich beim Dresdner Elbtal um ein
Weltkulturerbe handeln würde.
({0})
Das ist falsch. Der Bürgerentscheid zur Waldschlösschenbrücke - das muss man hier noch einmal sagen - ist ein Musterbeispiel für direkte Demokratie und
dafür, wie demokratische Prozesse richtig durchgeführt
werden.
({1})
Es hat zu diesem Bürgerentscheid ein Abstimmungsbuch gegeben, welches jeder Dresdner Haushalt in den
Briefkasten bekommen hat. Auf acht Seiten konnten sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Waldschlösschenbrücke ihre Position deutlich machen.
Ich darf Ihnen mit Genehmigung der Frau Präsidentin
zitieren, was die Gegner der Waldschlösschenbrücke auf
Seite 1 dieses Buches geschrieben haben:
Liebe Dresdnerinnen und Dresdner! … Sie haben
die Möglichkeit zu entscheiden: … Vor allem aber
werden Sie bestimmen, wie mit der einzigartigen
Elbtallandschaft, die zum UNESCO-Weltkulturerbe
gehört, umgegangen wird.
({2})
Wir
- die Gegner meinen: Diese Brücke ist zu teuer. Sie löst die Verkehrsprobleme nicht. Sie schädigt die einmalige
Elblandschaft.
Das haben die Gegner der Waldschlösschenbrücke in
diesem Abstimmungsbuch geschrieben. In Kenntnis
dieser Behauptung, die sie in diesem Abstimmungsbuch
aufgestellt haben, in Kenntnis der Tatsache, dass es sich
um etwas handelt, was zum UNESCO-Weltkulturerbe
gehört, haben sich die Dresdnerinnen und Dresdner zu
68 Prozent für die Bau der Waldschlösschenbrücke entschieden, und in einer Demokratie hat zu gelten, was die
Mehrheit des Volkes will.
({3})
- Ich weiß, dass Sie das alles sehr aufregt. Ich weiß
auch, dass die Linke mit Instrumenten direkter Demokratie immer dann kommt, wenn Sonntagsreden gehalten werden müssen,
({4})
aber nicht dann, wenn es um die tatsächliche Umsetzung
von direkter Demokratie geht.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Dresdner ihre Meinung nicht geändert haben. Auch die veränderte Medienlandschaft hat daran nichts geändert. Die in der „DNN“
vom 22. Februar abgedruckte Umfrage zeigt ganz eindeutig,
({6})
dass für den Bau der Waldschlösschenbrücke 58 Prozent
sind - auch wenn es die Zugehörigkeit zum UNESCOWeltkulturerbe kosten würde - und dass 25 Prozent dagegen sind. Ich kann Ihnen diese Umfrage gern zur Verfügung stellen.
({7})
Sie stammt vom Institut für Kommunikationswissenschaften der Technischen Universität Dresden. Es ist
also kein Gefälligkeitsgutachten.
Dass Sie mit direkter Demokratie ein Problem haben,
haben wir schon mehrfach beobachten können. Es ist bedauerlich, dass Sie den demokratischen Willen der
Dresdner mit Füßen treten. Das ist die Wahrheit.
({8})
Mit Füßen getreten haben die Demokratie allerdings
auch die Mediatoren.
({9})
Das muss man kritisch anmerken. Dieses Mediationsverfahren hat nicht dazu geführt, dass verschiedene Positionen zusammengeführt werden.
({10})
Im Gegenteil: Die Mediatoren haben auf einer Maximalposition beharrt, indem sie gesagt haben: Waldschlösschenbrücke - auf gar keinen Fall. Auf diese
Weise kann man Mediation nicht betreiben.
({11})
- Ja, Sie sind ja auch nicht für alles verantwortlich. Aber
ich bin mir ziemlich sicher: Wenn Sie die Mediatoren
gestellt hätten, dann wäre das Ergebnis ähnlich katastrophal ausgefallen.
({12})
Mir ist völlig unverständlich, warum die Mediatoren
einen bestimmten Weg nicht gegangen sind, den ich eigentlich für einen akzeptablen Kompromiss gehalten
habe. Es ist ja ganz häufig so, dass Verkehrsprojekte Probleme in landschaftlicher oder in anderer Hinsicht her8418
vorrufen. Daher haben wir, der Gesetzgeber, die Möglichkeit geschaffen, Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen.
Ich verstehe nicht, warum die Mediatoren diese Chance
nicht genutzt haben. So hätte die Wertschätzung für dieses Weltkulturerbe, die selbstverständlich vorhanden ist,
zum Ausdruck gebracht werden können. Ich will Ihnen
zwei konkrete Beispiele nennen.
Es gibt im Gebiet dieses Weltkulturerbes zwei Schlösser, die dringend sanierungsbedürftig sind: Das eine ist
die Villa Stockhausen, und das zweite ist das Schloss
Übigau. Beide Häuser sind ruinös; beide müssen saniert
werden. Die Sanierung beider Villen mit öffentlichen
Mitteln wäre ein idealer Anlass gewesen, um auch der
UNESCO zu zeigen: Wir nehmen diesen Titel ernst; aber
wir können am Bürgervotum nicht vorbei. Wir werden
und wir wollen diese Brücke bauen; aber wir werden an
anderer Stelle einen Ausgleich für diesen Eingriff in das
Weltkulturerbe schaffen. - Das wäre aus meiner Sicht
und aus der Sicht der FDP-Fraktion ein akzeptabler
Kompromiss gewesen.
Stattdessen haben die Mediatoren auf Maximalpositionen beharrt, und wer auf Maximalpositionen beharrt,
der wird am Ende eine Entscheidung vor Gericht nicht
vermeiden können. Wir werden sehen, wie das Oberverwaltungsgericht in der nächsten Woche entscheiden
wird. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die dritte Gewalt
des Staates den Willen des Volkes akzeptiert.
Vielen Dank.
({13})
Herr Mücke, möchten Sie eine Nachfrage der Kollegin Kurth zulassen, die eigentlich eine Zwischenfrage
sein sollte?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Mücke, Sie haben eben als Vorschlag für die
Mediatorengruppe angegeben: Es hätten Ausgleichsmaßnahmen geprüft werden sollen. - Ich frage Sie, ob
Ihnen bewusst ist, dass es hier nicht um eine Pflichtaufgabe geht, die die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude, zum Beispiel Schlösser, betrifft - das wäre überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen gewesen -, sondern
darum, dass hier das Gesamtbild des Welterbes zerstört
würde. Es ist völlig unerheblich, was da saniert ist oder
nicht saniert ist. Ich frage Sie also: Ist Ihnen bewusst,
dass Ausgleichsmaßnahmen zum Erhalt eines Gesamtbildes, das geschützt ist, nicht tauglich sind?
({0})
Das sehe ich, mit Verlaub, anders. Auch die Mediatoren haben sich bemüht, einen Kompromiss zu finden.
Wir müssen einen Kompromiss finden, der wirklich beides vereint, der auf der einen Seite den Willen der Bürger umsetzt, die Brücke zu bauen, und auf der anderen
Seite - ({0})
- Ich habe Ihnen lange zugehört, Frau Jochimsen. Ich
weiß, dass Ihnen das schwerfällt,
({1})
weil es für Sie unangenehm ist, dass Sie den Bürgerwillen mit Füßen treten. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn
Sie mich trotzdem einfach ausreden lassen würden.
({2})
Es ging in dieser Frage darum, einen Kompromiss zu
finden. Dabei sind die Mediatoren gnadenlos gescheitert.
Wichtig wäre es gewesen, diesen Ausgleich zu finden.
Das ist leider gescheitert.
Man muss eines sehen - das möchte noch kurz ergänzen -: Die UNESCO-Welterbekonvention hat einen
ganz entscheidenden Fehler: Sie sieht für den Konfliktfall keinerlei Regelungen vor. Da ist die Bundesregierung gefordert, international aktiv zu werden mit dem
Ziel, dass es dafür künftig Regeln gibt:
({3})
Wie findet eine Mediation statt? Sind alle Entscheidungen des Welterbekomitees eigentlich sakrosankt, oder
müssen diese nicht möglicherweise auch überprüft werden können?
({4})
Das alles sind Fragen, die geklärt werden müssen. Solange dies nicht geschehen ist, ist für uns als FDP-Fraktion die Entscheidung ganz klar: Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang
Thierse für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine kleine Bemerkung vorweg, Kollege Vaatz: Wir
sollten der UNESCO nicht drohen, wie Sie das hier gemacht haben.
({0})
Zweitens. Ich finde es unangemessen, dass man das
Leid der Dresdener von 1945 für eine Entscheidung instrumentalisiert, über die man streiten kann. Das finde
ich hochproblematisch.
({1})
Im Übrigen: Es geht auch nicht so sehr um eine juristische Frage; dann wäre es relativ einfach. Es geht uns
auch nicht darum, Kollege Vaatz, uns einen parteipolitischen Vorteil zu verschaffen, sondern es geht um einen
beunruhigenden Konflikt. Die geplante Waldschlösschenbrücke durchschneidet und zerstört das unter dem
besonderen Schutz des UNESCO-Titels „Weltkulturerbe“ stehende wunderschöne Elbtal.
({2})
- Moment einmal! Ich beschreibe doch nur den Konflikt. - Es geht um einen Konflikt einerseits zwischen einer Stadtverwaltung und vor allem einem Regierungspräsidium, die sich immerhin auf einen Bürgerentscheid
berufen können - das ist gewiss von außerordentlichem
Gewicht; selbstverständlich -, und andererseits dem
Kulturstaat Bundesrepublik Deutschland, der als Vertragsstaat der UNESCO bestimmte Verpflichtungen eingegangen ist.
({3})
Dieser Konflikt ist nicht allein eine städtische Angelegenheit. Deswegen ist es legitim, dass wir hier darüber
reden. Es ist ein Konflikt, bei dem es durchaus um eine
Frage von nationaler Tragweite geht. Dieser Konflikt ist
nicht mit bornierter Sturheit zu lösen.
({4})
Das Oberverwaltungsgericht hat das gerichtliche Verfahren ausgesetzt und einen Mediationsversuch vorgeschlagen, genau deshalb, weil, wie die sehr weise Begründung lautet - ich zitiere -, keine der streitenden
Parteien durch eine gerichtliche Entscheidung zwischen
Bürgerentscheid einerseits und völkerrechtlichem Abkommen andererseits letztlich gewinnen und ein Urteil
keine befriedende Wirkung haben wird. - Wahrlich eine
weise Beurteilung.
({5})
Blicken wir nach Köln! Dort existierte ein ähnlicher
Konflikt. Es gab ein Mediationsverfahren. Die Stadtverwaltung und der Bürgermeister haben sich zu einem
Kompromiss bereitgefunden. An dieser Stelle, Herr Kollege Mücke, eine kleine Bemerkung zum Stichwort
„Ausgleichsmaßnahme“.
({6})
Wie fänden Sie das: Man baut eine Brücke, die den Blick
auf den Kölner Dom verstellt, und an anderer Stelle wird
ein barockes Schlösschen saniert. Das ist doch wohl kein
sinnvoller Vorschlag. Ich glaube, Ausgleichsmaßnahmen
dieser Art sind nicht sinnvoll.
({7})
Dieses Mediationsverfahren hat stattgefunden, die
Stadtverwaltung Dresden und das Regierungspräsidium
Sachsen haben sich aber, wie ich höre, nicht konstruktiv
an diesem Vermittlungsversuch beteiligt
({8})
Im Gegenteil: Sie haben sich eher obstruktiv verhalten.
Das nenne ich durchaus skandalös.
({9})
Im schriftlich niedergelegten Ergebnis zum Mediationsverfahren wird einheitlich festgestellt - ich zitiere -:
Die geplante Waldschlösschenbrücke respektiert
die gewachsene Kulturlandschaft nicht. ... Die derzeitige Planung für die Waldschlösschenbrücke ist
nicht durch Detailmaßnahmen verbesserbar.
({10})
- Ja, das ist Ihre Meinung.
({11})
Die Sachverständigen, die immerhin neutral sind, schlagen deshalb eine moderierte Perspektivenwerkstatt unter
Beteiligung der Politik, der Verwaltung, von Vertretern
der Stadtgemeinschaft, von Fachwissenschaftlern und
der UNESCO vor, um in diesem Verfahren verbindliche
Grundlagen und Rahmenbedingungen für eine neue Planung festzulegen.
Herr Thierse.
Wir unterstützen diesen Vorschlag aus einem einfachen Grund ausdrücklich.
Herr Thierse, ohne Ihren Redefluss unterbrechen zu
wollen: Der Kollege Börnsen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Wollen Sie noch?
Ja.
Bitte schön.
Frau Präsidentin, meine Frage bezieht sich auf einen
Sachverhalt, der angesprochen wurde, als alle drei Personen im Präsidium ihre Köpfe noch gesenkt hatten und
schwer beschäftigt waren.
Ich möchte den Kollegen Wolfgang Thierse Folgendes fragen: Es ist klar, dass uns bei einer solchen Thematik das Herz überläuft; das gilt für alle Beteiligten. Herr
Kollege, Sie sprachen aber von „bornierter Sturheit“ der
Befürworter der Brücke.
({0})
Gleichzeitig wissen Sie, dass sich 68 Prozent der Dresdner für die Brücke ausgesprochen haben. Wen meinen
Sie? Ich glaube, Sie selbst haben ein Interesse daran,
dass in der politischen Kultur auch wirklich Ross und
Reiter genannt werden, weil das im Umgang miteinander fairer ist.
Herr Kollege Börnsen, erstens halte ich im Vergleich
zum Kollegen Vaatz eine vergleichsweise sachliche
Rede.
({0})
Ich könnte auch polemischer sein.
({1})
Zweitens habe ich ziemlich genau gesagt, dass bornierte Sturheit nicht hilft.
({2})
- Herr Kollege Vaatz, wie Sie bemerkt haben, habe ich
Ihnen absolut ruhig zugehört. Könnten Sie die parlamentarische Leistung aufbringen, auch mir ruhig zuzuhören?
({3})
Ich habe von „bornierter Sturheit“ gesprochen und
meinte, dass man einen Konflikt nicht dadurch löst, dass
man mit dem Kopf durch die Wand geht, egal, welche
Seite dies tut. Ich habe keine einseitige Schuldzuweisung vorgenommen.
({4})
Ich habe ausdrücklich gesagt, dass der Bürgerentscheid
von außerordentlichem Gewicht ist; selbstverständlich.
Jetzt geht es aber darum, einen drohenden Verlust
des Welterbestatus zu verhindern. Das würde weltweit
erstmalig geschehen und der internationalen Glaubwürdigkeit Deutschlands im Bereich des Denkmalschutzes
und im Hinblick auf seine Vertragstreue schaden. Darum
geht es. Das ist das andere gewichtige Gut.
Zwischen dem Anspruch einer Mehrheit der Bürger,
die über den Bürgerentscheid abgestimmt haben, und
des Regierungspräsidiums auf der einen Seite sowie des
Kulturstaates Deutschland, der Vertragspartner ist, auf
der anderen Seite gibt es einen wirklichen Konflikt. Deswegen begrüßen wir ja diesen Vermittlungsversuch, damit wir aus diesem Dilemma einer Nichtentscheidung
herauskommen.
Herr Kollege.
Ich glaube - wenn ich es richtig sehe und richtig gehört habe -, dass die Stadt Dresden zu Kompromissen
bereit ist.
Herr Kollege, es gibt zwei Meldungen zu Zwischenfragen.
Das Problem sind aber das Regierungspräsidium und
das Land Sachsen - im Grunde die sächsische CDU sowie, wenn Sie so wollen, auch ein paar FDP-Politiker.
({0})
Es ist also nicht so, dass die Bundesregierung den Konflikt lösen kann. Es wäre aber schon ganz sinnvoll -
Herr Kollege, es gibt noch zwei Wünsche, eine Zwischenfrage zu stellen, nämlich einmal vom Kollegen
Beck und einmal vom Kollegen Mücke. Möchten Sie
beide noch zulassen?
Wenn sie meine Redezeit verlängern wollen, bitte.
Wegen Ihres Weges nach der Rede und damit Sie
nicht den falschen Bogen machen, kündige ich Ihnen
jetzt gleichzeitig aus gegebenem Anlass noch an, dass es
auch noch den Wunsch von Herrn Vaatz gibt, das Wort
zu einer Kurzintervention zu erhalten. - Jetzt ist der Kollege Beck an der Reihe.
Herr Kollege Thierse, Sie haben gerade betont, dass
Sie uns Ihre Rede hier sachlich vortragen. Ich kenne ja
Ihre sachliche Argumentation; wir haben sie gerade gehört. Zur Belebung der parlamentarischen Demokratie
- das ist Gegenstand des nächsten Tagesordnungspunktes - würde ich, wenn Sie gestatten, jetzt gerne auch
noch die polemische Version von Ihnen hören.
({0})
Ich werde mich zurückhalten. - Ich habe eine klare
Meinung. Ich kenne Dresden ganz gut und bin sehr oft
dort. Ich glaube, dass die Brücke, wie sie jetzt an dieser
Stelle und in diesen Ausmaßen geplant ist, das Obere
Elbtal zerstört.
({0})
Ich glaube, dass es deshalb vernünftig ist, zu versuchen, eine andere Verkehrslösung mit einer kleineren, einer schmaleren Brücke an einer anderen Stelle zu finden.
Es gibt dazu sehr seriöse Vorschläge.
({1})
Herr Mücke, bitte schön.
Herr Kollege Thierse, Sie hatten eben vorgeschlagen,
an einer anderen Stelle eine kleinere und besser in die
Landschaft passende Brücke zu bauen. Wenige Sätze zuvor haben Sie gesagt, dass Sie den Bürgerentscheid
selbstverständlich ernst nehmen und das Votum berücksichtigen wollen. Können Sie mir bitte erklären, wie
diese beiden Aussagen zusammenpassen? Die Frage des
Bürgerentscheids lautete - um es noch einmal zu referieren -: Sind Sie für den Bau der Waldschlösschenbrücke?
Daneben gab es eine Zeichnung, auf der die Lage der
Brücke exakt eingezeichnet war. Sehen Sie einen Widerspruch zwischen diesen beiden Aussagen? Wenn Sie keinen Widerspruch darin sehen, können Sie mir dann bitte
sagen, wie Sie das Votum der Dresdener Bürger für den
Bau der Waldschlösschenbrücke mit dem Bau an einer
anderen Stelle vereinigen wollen?
Herr Mücke, die ständige Berufung auf diesen Bürgerentscheid und die Forderung, auf keinen Fall etwas anderes zu tun, als dieser vorgibt, ist keine Lösung eines
Konflikts. Jedenfalls ist das kein Kompromiss. Das ist
eine Lösung, die zulasten des Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartner der UNESCO geht.
Ich sage: Wir haben - möglicherweise gerade als Nichtdresdener - die Pflicht, eine dritte Lösung zu finden,
die zwischen der einen und der anderen Variante liegt.
Es braucht eine Lösung, die den Interessen der Dresdener und der Lösung der Verkehrsprobleme dienen kann,
die jedoch auch berücksichtigt, dass wir vielleicht auch
weiterhin Anträge auf Verleihung dieses Kulturerbetitels
stellen wollen. Aus Sachsen sind mehrere solcher Anträge unterwegs.
Wenn ein solcher Weltkulturerbetitel zum ersten Mal
in der Geschichte der UNESCO aberkannt würde, dann
wäre das ein schwerer Schaden für den Kulturstaat
Deutschland und auch für das Kulturland Sachsen. Darum geht es mir, und dafür müssen wir eine Lösung finden.
({0})
Es geht darum, Schaden abzuwenden.
({1})
Es geht nicht darum, stur auf einer Lösung zu beharren,
die Sie vertreten. Das ist meine Position. Ich bin sehr dafür, und ich fordere die Parteivorsitzende der CDU, Frau
Merkel, oder den sich in Dresden sehr gut auskennenden
Kanzleramtsminister de Maizière auf, in diesem Sinne
zu wirken; denn sie könnten hier einwirken. Das Ganze
ist nicht so sehr eine Sache der Bundesregierung. Sie
könnten aber auf die sächsische Landesregierung oder
das Regierungspräsidium einwirken, um doch noch eine
andere Lösung zu ermöglichen, die beide Interessen berücksichtigt. Das halte ich für vernünftig!
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Vaatz zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Thierse, ich will Ihrem Eigenlob bezüglich der Sachlichkeit Ihrer Rede nicht unbedingt widersprechen.
({0})
Zumindest eines will ich aber richtigstellen: Ich meine,
man müsste zwischen Kritik und Drohung differenzieren
können. Wenn ich eine Entscheidung der UNESCO kritisiere und nach Möglichkeiten frage, wie man sich als betroffener Bürger gegen eine solche wenden kann, wenn
man sie nicht für sachgerecht hält, dann halte ich das für
eine demokratische, akzeptable und notwendige Haltung. Im Unterschied dazu ist das, was Sie sagen, eine
Drohung. Ich weiß nicht, an welcher Stelle Sie von mir
eine Drohung gegenüber der UNESCO gehört haben
wollen.
({1})
- Bitte schön, ich bin von Herrn Thierse angegriffen
worden. Mir ist das unterstellt worden, also darf ich das
zurückwerfen. ({2})
Herr Thierse, ich verwahre mich gegen die Unterstellung, ich hätte die Opfer von 1945 für die Waldschlösschenbrücke instrumentalisiert.
({3})
- Darf ich das bitte richtig stellen? - Ich habe lediglich
feststellen wollen, dass es den Bürgern der Stadt Dresden - vom Ausgangspunkt 1945 gedacht - viel schwerer
gefallen ist als den Bürgern mancher anderer Städte, dieses Stadtbild wieder herzustellen. Das habe ich erwähnen wollen, und das wird man wohl noch dürfen.
({4})
Herr Kollege Thierse, Sie haben uns der Parteipolitik
bezichtigt. Die Gleichsetzung von Regierungspräsidium
und CDU kam doch wohl von Ihnen. Habe ich mich da
verhört, oder war das so?
({5})
Als Nächstes sage ich Ihnen: Ich verstehe nicht, wie
Sie das Eintreten für die Umsetzung eines Mehrheitswillens als borniert bezeichnen können. Ich verstehe auch
nicht, wie Sie sich außerdem in primitive Beschimpfungen flüchten können,
({6})
indem Sie das Regierungspräsidium in Dresden mit Vokabeln bedenken, die Ihrer nicht würdig sind.
({7})
Zum Schluss frage ich Sie, was Sie eigentlich unter
„einwirken“ verstehen. Ich verstehe nicht, auf wen Sie in
Dresden einwirken wollen. Sie müssen doch die Frage
beantworten, ob die Bundesregierung das Recht hat, einen Bürgerentscheid in Dresden zu kippen, der demokratisch zustande gekommen ist. Sie müssen schon die
Frage beantworten, ob Sie das tun wollen oder nicht.
Ich möchte noch eines hinzufügen: Ihre Vorstellung
von Kompromissen entbehrt jeder sachlichen
Grundlage. -
Herr Kollege, Kurzinterventionen sind zeitlich begrenzt. - Bevor Herr Thierse antworten kann, habe ich
noch eine Kurzintervention des Kollegen Koppelin zu
seinem Beitrag in der Hoffnung, dass es sich nicht um
ein Vorziehen der nächsten Debatte handelt.
Bitte schön, Herr Koppelin.
({0})
Herr Kollege Thierse, ich war echt gespannt auf Ihren
Beitrag, weil ich auch ein bisschen gehofft hatte, dass
Sie versöhnliche Töne anklingen lassen und vielleicht
die beiden Gegensätze zueinanderführen würden. Ich
muss aber sagen, dass ich in Ihrem Redebeitrag weder
eine Lösungsmöglichkeit gesehen habe - Sie haben
keine angeboten - noch eine Meinung habe erkennen
können. Deswegen tut mir Ihre Rede sehr leid. Sie sollten sie einfach noch einmal nachlesen. Bei einem so
wichtigen Punkt sollte man hier nicht als Schulmeister
auftreten, den anderen Noten geben und sich selber auf
einen hohen Sockel stellen.
({0})
Herr Thierse, bitte schön.
Herr Koppelin, dass Ihnen meine Rede leidtut, kann
ich nicht verhindern; sie ist gehalten.
({0})
Herr Kollege Vaatz, ich will Ihnen nur noch einmal
eine einzige Frage stellen: Warum ist in Dresden nicht
möglich, was in Köln möglich war?
({1})
Auch in Köln ging es um die Gefährdung des Titels
„Weltkulturerbe“. Es ging um eine entschlossene und
auch wütende Bürgerschaft. Dann haben Bürgermeister,
Stadtverwaltung, wahrscheinlich auch Regierungspräsidium, die beteiligten Parteien und vor allem das Land
gesagt:
({2})
Wir müssen sehen, wie wir eine vernünftige Lösung zustande bringen, die diesen Status nicht gefährdet und
Deutschland als Vertragspartner nicht schädigt.
Warum soll dasselbe nicht auch in Dresden möglich
sein, indem man zum Beispiel weiter miteinander redet,
um eine Lösung zu finden? Es geht um Standort, Art und
Größe der Brücke. Hier liegen die Kompromissmöglichkeiten. Wo sonst? Sie lehnen einen Kompromiss ab. Das
haben Sie deutlich gesagt.
({3})
Ich halte das für falsch, weil es uns in Deutschland insgesamt als Kulturstaat schadet. Das ist die Meinungsdifferenz zwischen uns beiden. Daran ist nichts zu beschönigen oder zu entschuldigen.
({4})
({5})
Ich erteile Kollegin Göring-Eckardt, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Ich will nur sagen, dass es ausdrücklich nicht darum
geht, Dynamik aus der Debatte zu nehmen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben auch im Kulturausschuss schon über dieses
Thema debattiert. Es ist schade, dass aus einigen Fraktionen die Mitglieder des Kulturausschusses heute nicht
reden und dass auch der Vorsitzende nicht hier sein
kann.
Bei jener Debatte waren wir uns der großen Bedeutung des kulturellen Erbes sehr bewusst. Darüber müssen wir in dieser kulturpolitischen Debatte auch noch
einmal intensiv reden, unabhängig von Auseinandersetzungen auf kommunaler Ebene.
({0})
Bei jener Debatte ging es sehr stark darum, dass der
Schutz des kulturellen Erbes - das ist ja weit mehr als
die Frage, ob eine Brücke gebaut wird oder nicht - Vorrang vor angeblichen Sachzwängen haben soll, im Fall
der Dresdner Waldschlösschenbrücke eben auch vor den
Lobbyinteressen der Autoindustrie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte im Übrigen dem Vorsitzenden des Kulturausschusses ausdrücklich dafür danken, dass er sich gegen den heftigen
Widerstand von Teilen seiner eigenen Fraktion für eine
konstruktive Moderation durch den Bund im Streit um
die Waldschlösschenbrücke eingesetzt hat.
({1})
Ich habe gehört, dass die FDP die Frage der Kultur zu einem ganz besonderen Schwerpunkt ihrer Politik machen
will. Ich finde es vor diesem Hintergrund schade, dass
hier nun in ganz anderer Art und Weise debattiert wurde,
nämlich mehr über juristische Fragen und weniger über
die kulturellen Fragen, die hiermit zusammenhängen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Börnsen?
Sehr gerne.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, wir alle haben Verständnis für Ihre kulturpolitische Argumentation. In Ihren Ausführungen ging es ja auch um den Gesichtspunkt, was der Kulturlandschaft Deutschland nützt oder
schadet. Finden Sie es da nicht ein wenig deplatziert
- ich halte das sogar für höchst problematisch -, dass Sie
in einer Nebenbemerkung sagten, es gehe dabei auch um
die Lobbyinteressen der Autoindustrie? Sie unterstellen damit den 68 Prozent der Bürger, die, wohlwissend,
was das bedeutet, für die Brücke votierten und damit ihren Willen darüber zum Ausdruck gebracht haben, was
in Zukunft für Dresden gut und richtig ist, sie seien
nichts anderes als die Speerspitze der Autolobbyisten.
Hierbei handelte es sich um gutwillige Frauen und Männer, die, wohlwissend um die Problematik, ihre Stimme
abgegeben haben. Was ist uns denn der Wille der Bürger
überhaupt noch wert, wenn wir deren eigene mündige
Entscheidung nicht akzeptieren?
({0})
Zunächst einmal ist festzuhalten, Herr Börnsen: Die
Frage, um welche Lobbyinteressen es geht, ist ja in
Dresden sehr ausführlich diskutiert worden. Dabei ging
es auch um die angesprochene Lobby. Ich finde, man
kann das an dieser Stelle auch einmal sagen. Nichtsdestoweniger hat die Stadtratsfraktion der Grünen, ähnlich
wie die der Linken, unmittelbar nach der Abstimmung
- das kann man nachlesen - im Stadtrat gesagt: Wir waren zwar gegen die Brücke, aber wir respektieren den
Bürgerentscheid.
Ich selbst war zusammen mit anderen Mitgliedern des
Kulturausschusses in Dresden und habe dort mit Gegnern und Befürwortern ein sehr engagiertes Gespräch
geführt. Ich selbst habe dort sehr deutlich gesagt, dass
der Wille der Bevölkerung, der im Bürgerentscheid
zum Ausdruck kommt, respektiert werden muss. Ich
werde darauf nachher noch einmal zurückkommen.
({0})
- Das ist nicht unwahr, sondern das habe ich dort gesagt,
Herr Vaatz. Kommen Sie einmal wieder herunter. - Ich
habe sehr deutlich gemacht, dass dieser Wille respektiert
werden muss, aber zugleich bin ich überzeugt - da bin
ich ganz anderer Meinung als Herr Mücke -, dass die
Bürgerinnen und Bürger damals beim Bürgerentscheid
nicht gewusst haben, was passieren würde, wenn diese
Brücke tatsächlich gebaut würde. Das haben sie nicht
gewusst.
({1})
Da Sie, Herr Mücke, das Abstimmungsbuch an dieser
Stelle noch einmal hochhalten, muss deutlich gesagt
werden: In der Auseinandersetzung um die Frage, ob die
Brücke gebaut werden kann oder nicht, ging es nicht darum, wie es sich mit dem UNESCO-Titel mit Brücke
oder ohne Brücke verhält. Aus diesem Grunde sage ich
Ihnen ganz klar: Diejenigen, die jetzt fordern, den Bürgerentscheid ernst zu nehmen, sollten auch zur Kenntnis
nehmen, dass die Entwicklung weitergegangen ist und
die UNESCO erst nach dem Bürgerentscheid gesagt hat,
wenn die Brücke gebaut würde, dann müsste der Kulturerbetitel aberkannt werden. Diejenigen, die nun so viel
Wert auf die Bürgermeinung legen, frage ich: Warum
wird kein Bürgerentscheid auf der neuen Grundlage
durchgeführt?
({2})
Die dann zum Ausdruck gebrachte Meinung der Bürgerinnen und Bürger würden wir alle ernst nehmen.
Warum debattieren wir heute eigentlich darüber? Aus
dem einzigen Grund, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen werden könnte, der weit über Dresden hinaus
wichtig und entscheidend ist. Unabhängig davon sollten
sich diejenigen, die heute darüber lieber nicht gesprochen hätten, wenigstens darüber freuen, dass hier ein wenig Werbung für Dresden als Kulturerbestadt gemacht
wurde, was sie hoffentlich auch bleiben wird.
Es geht nicht einfach nur darum, ob eine Brücke gebaut werden soll oder nicht, sondern es geht um die
Frage, wie wir als Gesellschaft zu unserem kulturellen
Erbe stehen. Das ist nicht irgendetwas. Wie viel Verantwortung übernehmen wir da, und wie fahrlässig hätten
wir gehandelt, wenn dieser Titel aberkannt würde?
({3})
Viele Umfragen, auch Wirtschaftsumfragen und Tourismusumfragen, bringen zum Ausdruck, dass die Anerkennung des Titels „Weltkulturerbe“ vielleicht gar
nicht so eine große Wirkung habe; es sei nicht mehr als
ein schöner Titel, den man an der Autobahn auf ein
Schild aufbringen könne. Ich persönlich sehe das nicht
so; aber ich weiß, dass es solche Analysen gibt. Wenn
man die gleichen Leute aber fragt, was die Aberkennung
des Titels „Weltkulturerbe“ bedeutet,
({4})
dann wird deutlich, dass das eine völlig andere Qualität
hat. Dann ist von der Tourismuswirtschaft, von Ansiedlungspolitik in Dresden die Rede. Wenn man mit Unternehmerinnen und Unternehmern spricht, die sich irgendwo ansiedeln wollen, gerade im Osten Deutschlands,
dann spielen die weichen Standortfaktoren eine ganz entscheidende Rolle. Wie wollen Sie denen erklären, dass
Dresden leider nicht mehr Weltkulturerbe ist, sondern
dass dieser Titel wegen einer Brücke aberkannt worden
ist? Ich glaube, da hören Sie deutschlandweit und auch international: Das ist verrückt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davon
überzeugt, dass man bei der Diskussion, die jetzt in
Dresden und auch hier bei uns stattfindet - da bin ich
ganz der Meinung meines Vorredners -, nicht einfach sagen kann, man wolle bei seiner Meinung bleiben. Herr
Mücke, das finde ich so dramatisch an Ihrer Aussage
über den Prozess, der stattgefunden hat. Sie sagen, da sei
kein Kompromiss gefunden worden. Herr Mücke, haben
Sie denn irgendeinen Kompromiss vorgeschlagen?
({6})
Ist es wirklich ein Kompromiss, die Restaurierung des
Schlosses als Ausgleichsmaßnahme anzubieten? Was hat
das mit dem Gesamtbild zu tun?
({7})
Was hat das mit tatsächlicher Kompromissfindung zu
tun, die über die Verkehrsfrage auf der einen Seite und
die Frage des Weltkulturerbes auf der anderen Seite erfolgen muss? Man muss doch genau diese beiden Dinge
zusammenbringen und darf nicht irgendetwas anderes
ins Spiel bringen, bei dem es schön wäre, wenn es restauriert würde.
({8})
Wenn man diese beiden Dinge zusammenbringen
will, dann muss man über Verkehrspolitik und über andere Möglichkeiten reden. In Bezug darauf gibt es auch
in Dresden eine ganze Menge Vorschläge.
({9})
Auf der anderen Seite muss man deutlich machen, wie
wir dafür sorgen wollen, auch in einem Prozess gemeinsam mit der UNESCO, dass der Titel trotzdem erhalten
bleibt. Im Gegensatz zu vielen, die Ihre Position vertreten, hat die UNESCO nämlich deutlich gemacht, dass sie
kompromissbereit ist, dass sie bereit ist, daran zu arbeiten und darüber zu diskutieren.
({10})
Deswegen bin ich sehr für einen entsprechenden Prozess
gemeinsam mit der UNESCO.
({11})
Köln hat gezeigt, dass es geht, dass man, wenn man
sich an einen Tisch setzt und willens ist, tatsächlich zu
einem Kompromiss kommen kann, ohne den Ruf der
Stadt - der UNESCO-Titel ist nicht einfach nur ein schönes Anhängsel an das Stadtwappen - zu gefährden. Es
geht hier um eine Kompromissfindung und nicht darum,
aus ideologischen Gründen auf seiner Position zu beharren.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Marlies Volkmer, SPDFraktion.
({0})
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wer das schöne Dresdner
Elbtal kennt, der weiß, dass es richtig ist, dass es auf der
Weltkulturerbeliste der UNESCO steht, und der weiß
auch, dass man bei jedem Eingriff in diese Landschaft
ganz sensibel vorgehen muss.
Wir brauchen hier eine Verkehrslösung, durch die
das Elbtal nicht zerschnitten wird, sondern bei der diese
schöne Landschaft erhalten bleibt. Eine solche Lösung
ist auch mit der UNESCO voll kompatibel. Weil die politisch Verantwortlichen bisher keine solche Lösung gefunden haben, haben wir jetzt das Problem, dass ein
Gericht angerufen worden ist. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat das Verfahren im November ausgesetzt
und damit eine weise Entscheidung gefällt, weil so
- Wolfgang Thierse hat schon darauf hingewiesen - keiner der Antragsgegner gewinnen konnte. Es wurde der
Versuch eines Mediationsverfahrens unternommen. Im
Ergebnis wird nun empfohlen, in einer moderierten
Perspektivenwerkstatt eine Lösung zu erarbeiten, die
sowohl den Belangen des Welterbes als auch dem stattgehabten Bürgerentscheid von 2004 gerecht wird.
Nun hat das Regierungspräsidium Dresden leider erklärt, das Mediationsverfahren sei gescheitert, und hat
die Wiederaufnahme des ausgesetzten Verfahrens beantragt, übrigens gegen den Willen der Stadt Dresden, obwohl die Stadt Dresden ebenfalls den Bürgerwillen verkörpert. Die Stadt Dresden hat darauf hingewiesen, dass
der Freistaat Sachsen mit seinem prozessualen Verhalten und dem Beharren auf dieser Lösung den Verlust des
Welterbetitels in Kauf nimmt.
Die Bewerbung Dresdens als Welterbestätte wurde
auch vom Freistaat Sachsen getragen. Damit hat Sachsen
auch eine Verpflichtung übernommen. Es reicht nämlich
nicht, sich nur mit solch einem Titel zu schmücken, sondern man hat auch entsprechende Verantwortung. Seither genießt das Dresdener Elbtal im Interesse der
Menschheit internationalen Schutz auch vor unbilligen
Eingriffen durch Sachsen.
Ich begrüße ganz ausdrücklich die Haltung meiner
Fraktionskolleginnen und -kollegen im Ausschuss für
Kultur und Medien. Sie haben bereits in der Ausschusssitzung im Januar erklärt, den Vorschlag für eine moderierte Perspektivenwerkstatt zu unterstützen.
({0})
Ich appelliere an dieser Stelle an den Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen: Engagieren Sie sich dafür, Herr Milbradt, den Ruf Sachsens als Land der kulturvollen Bürgerinnen und Bürger zu retten!
({1})
- Ja, Sachsen ist führend in der Kultur. Deswegen kann
sich Sachsen so etwas auch nicht leisten.
({2})
Bitte, Herr Milbradt, helfen Sie klarzumachen: Es
gibt keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Verkehrsfluss und Welterbe.
({3})
Beteiligen Sie sich an der Problemlösung mit der Perspektivenwerkstatt! Es kann doch nicht sein, dass eine
solche Kulturstadt wie Dresden der erste Ort wäre, dem
ein solcher Welterbetitel wieder aberkannt werden
würde.
({4})
Ich würde mich natürlich freuen - aber ich habe nach
der heutigen Debatte keine Hoffnung -, dass sich Herr
Vaatz diesem Appell anschließen könnte.
({5})
Aber ich hoffe sehr und gehe davon aus, dass sich die
Sächsische Staatsregierung ihrer Verantwortung bewusst
wird und sich für eine einvernehmliche Lösung einsetzt.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4411 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitbera-
tung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Aus-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu über-
weisen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist es so beschlossen.
Zusatzpunkt 16. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/4460 zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bun-
despolitik soll im Streit um die Waldschlösschenbrücke
vermitteln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/2499 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c
auf:
29 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk, Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Lebendige Demokratie in Zeiten der großen
Koalition
- Drucksache 16/581 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Ulrich Maurer und der
Fraktion der LINKEN
Stärkung der Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag
- Drucksache 16/4119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte
({3})
- Drucksache 16/126 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
Ich gebe das Wort zunächst dem Kollegen Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute anhand der drei Vorlagen der Oppositionsfraktionen über den Stellenwert der Politik in diesem Hause.
Wir reden über den Stellenwert des Parlamentes in unserem demokratischen Gemeinwesen; denn wir leben gegenwärtig in einem Ausnahmezustand der parlamentarischen Demokratie.
({0})
Unsere Geschäftsordnung und unsere Verfassung gehen von dem Regelfall einer kleinen Koalition und einer
großen Opposition aus. Der Regelfall in der Geschichte
unseres Landes war, dass die größte Oppositionsfraktion
über sämtliche Oppositionsrechte allein aufgrund ihrer
Stärke verfügte. Gegenwärtig verfügen noch nicht einmal alle drei Oppositionsfraktionen gemeinsam über alle
Rechte der Opposition, die unsere Geschäftsordnung
vorsieht und unsere Verfassung regelt.
Deshalb sage ich: Wir müssen uns hier im Parlament
darüber Gedanken machen, wie das Parlament auch unter diesen Mehrheitsverhältnissen, die eine legitime politische Konstellation sind - auch wenn sie nicht viel zuwege bringt -, eine funktionierende parlamentarische
Kontrolle durch die Opposition erreichen kann. Die gegenwärtige Geschäftsordnungs- und verfassungsrechtliche Lage gibt das nicht in allen Punkten her; deshalb reden wir hier darüber.
({1})
Ein anderer Punkt, der für das Ansehen und die Lebendigkeit der Debatten hier im Hohen Hause konstitutiv ist, ist das Prinzip von Rede und Gegenrede zwischen Koalition und Opposition. Auch dies ist im
Regelfall nicht gewährleistet. Wir wissen, seit der Antike gehört der Dialog konstitutiv zur Einsichts- und
Wahrheitsfindung. Dies gilt seit Platon. Aber ich will
jetzt nicht die ganze Geschichte herleiten; dazu reicht
meine Redezeit nicht aus.
Auch bei den Erwägungen zu den Grundlagen, die
wir uns in der Geschäftsordnung gegeben haben, waren
das zentrale Gründe für die Ausgestaltung unseres heutigen § 28 der Geschäftsordnung. Als dieser in der fünften
Wahlperiode auf Anregung der SPD-Fraktion eingefordert wurde, hat man gesagt, dass Rede und Gegenrede
der zentrale Debattengrundsatz sein soll. Das ist er gegenwärtig nicht.
Sie alle wissen, wir halten jede Woche ein, zwei oder
drei Aktuelle Stunden ab. Da haben wir am Anfang unter
den ersten fünf oder sechs Rednern eine lebendige Debatte zwischen der Koalition und der Opposition, und
danach beginnen die Selbstgespräche der Koalition mit
weiteren vier bis sechs Redebeiträgen.
({2})
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
langweilen sich offensichtlich selbst; denn der Saal leert
sich dann immer dramatisch.
Volker Beck ({3})
({4})
Langeweile hier, Langeweile auf der Besuchertribüne,
Langeweile bei der Presse, das ist nicht die Art, wie wir
unserem Parlament Geltung verschaffen.
Deshalb bitte ich die Koalitionsfraktionen inständig,
sich unsere Anträgeergebnisse offen anzuschauen. Wir
von der Fraktion der Grünen haben bewusst keine Detailvorschläge gemacht, sondern gesagt: Wir wollen über
eine Anhörung im Geschäftsordnungsausschuss mit Ihnen gemeinsam dazu kommen, dass das Parlament lebendiger wird und wir als Opposition die Möglichkeit
haben, die Kontrolle der Regierung wahrzunehmen.
Diese Oppositionsrechte nehmen wir stellvertretend für
das gesamte Haus und damit für jeden einzelnen Abgeordneten - auch für die Abgeordneten der Koalition wahr. Das ist die Idee unserer Verfassung; das ist die
Idee unseres Verfassungsrechtes.
Wir haben meines Erachtens in drei Punkten besonderen Handlungsbedarf. An drei Punkten gibt es Eindrittelrechte. Das heißt, die gegenwärtige Opposition kann sie
nicht in Anspruch nehmen, selbst wenn sie sich hundertprozentig einig ist, was auch nicht immer der Fall ist,
weil wir politisch sehr divergieren. Dabei geht es zum
einen um die Frage der Einberufung des Deutschen
Bundestages bei Punkten, von denen wir meinen, jetzt
müsse das Parlament zusammentreten, weil in der Koalition oder im Lande etwas geschieht, was debattiert werden muss. Wenn die Koalition das aber - aus verständlichen Gründen - nicht will, können wir das gegenwärtig
nicht durchsetzen. Das muss sich ändern. Es muss zumindest ein Recht der 25 vom Hundert geben, dass die
Opposition, wenn sie sich einig ist, eine solche Einberufung durchsetzen kann.
({5})
Der zweite Punkt beruht auf der Logik unserer Geschäftsordnung und des parlamentarischen Miteinanders. Unsere Geschäftsordnung sieht die Möglichkeit
vor, dass alle Regeln, die in der Geschäftsordnung verankert sind, mit Zweidrittelmehrheit zur Seite gelegt
werden können und man sagen kann: Wir verfahren, wie
es uns beliebt, weil wir uns darin einig sind, dass anders
verfahren werden muss, als es unsere Regeln grundsätzlich vorsehen. Die Idee dieser Bestimmung ist, dass sich
die Koalition mit Teilen der Opposition einig ist, anders
zu verfahren als in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Beim BSE-Skandal waren wir uns zum Beispiel einig,
dass die Futtermittelverordnung innerhalb von einer Woche in Kraft treten musste.
Gegenwärtig bedeutet „Zweidrittelmehrheit“ aber, die
Große Koalition ist sich einig, und die Minderheitenrechte der Opposition werden unter Umständen mit den
Füßen getreten.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, lassen Sie mich einen letzten Satz
sagen.
({0})
Der dritte Punkt bezieht sich auf das Normenkontrollrecht. Alle Länderfürsten, alle Ministerpräsidenten,
gehören den Parteien der Großen Koalition an. Es ist
nicht zu erwarten, dass ein Bundesland Normenkontrollklage gegen ein Gesetz der Großen Koalition erhebt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Die Opposition kann auch keine Normenkontrollklage einreichen, weil sie dafür ein Drittel der Mitglieder
des Hauses zusammenbekommen müsste, über das sie
aber nicht verfügt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das steht jetzt fest.
Das heißt, die letzte Remedur für den Schutz der Bürger vor verfassungswidrigen Gesetzen ist gegenwärtig
der Bundespräsident. Das soll aber nicht seine Hauptaufgabe sein.
Herr Kollege!
Deshalb appelliere ich an Sie: Geben Sie auch der jetzigen Opposition trotz ihrer geringen Redezeit das
Recht, den Bürger vor verfassungswidrigen Gesetzen zu
schützen.
({0})
Jetzt hat das Wort der Kollege Bernhard Kaster für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat unseres
Bundestagspräsidenten, Dr. Lammert, vom Anfang dieser Legislaturperiode beginnen, das das Selbstverständnis des Parlaments und das Selbstverständnis von Regierung und Opposition sehr treffend beschreibt:
Für die Arbeit wie für das Ansehen des Parlaments
ist die Opposition im Übrigen nicht weniger wichtig als die Regierung. ... Was ein politisches System
als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz
einer Regierung, sondern die Existenz eines Parla8428
mentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität.
Ich denke, das ist ein Satz, den wir alle unterschreiben
können.
({0})
Vor dem Hintergrund dieser treffenden Aussage haben wir als Parlamentarier natürlich Verständnis dafür,
dass Sie sich als Oppositionspolitiker Gedanken darüber
machen, wie Sie Ihre Interessen hier noch effektiver vertreten können. Wir werden uns mit diesen Anträgen daher selbstverständlich im Geschäftsordnungsausschuss
- insbesondere der Antrag der Fraktion der Grünen beinhaltet ja eine Reihe von Prüfaufträgen - ausführlich
und kritisch beschäftigen.
Sollte allerdings gegenüber der Öffentlichkeit der
Eindruck erweckt werden - ich will das nicht unterstellen -, dass die in der Tat kleinere Opposition durch die
Große Koalition förmlich erdrückt wird, dass sie keine
Möglichkeiten hat, dann muss gesagt werden, dass dieser Eindruck - das wissen Sie - schlichtweg falsch wäre.
Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung geben uns
als Koalition, das heißt als Regierungsfraktionen, und
Ihnen als Oppositionsfraktionen eine Vielzahl von parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand.
In einer Ausführung des Wissenschaftlichen Dienstes
- sie umfasst mehr als 15 Seiten - wurden die Minderheitenrechte der Opposition dokumentiert. Ich will einmal die wichtigsten Gestaltungsmöglichkeiten nennen:
Auskunft über jedes Thema kann durch schriftliche Fragen verlangt werden;
({1})
das Recht, mündliche Fragen an die Bundesregierung zu
richten und diese im Plenum unter den Augen der Öffentlichkeit mit der Bundesregierung zu diskutieren;
({2})
das Recht aller Fraktionen, Kleine und Große Anfragen
zu stellen; Große Anfragen im Plenum zu debattieren;
das Recht, eine Aktuelle Stunde zu beantragen - davon
wird ja auch rege Gebrauch gemacht - und vieles andere
mehr. Ich wollte nur die wichtigsten Punkte nennen, damit hier nicht der Eindruck aufkommt, dass unsere Geschäftsordnung und das Grundgesetz in Bezug auf die
Minderheitenrechte nicht entsprechend ausgelegt sind.
({3})
Natürlich hat die Opposition auch das Recht, einen
Untersuchungsausschuss einzuberufen und unter bestimmten Voraussetzungen Beschlüsse des Bundestages
vor dem Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Diese beiden letzten Punkte sind der Kern Ihrer Anträge. Deswegen will ich darauf näher eingehen.
Die Parlamentsautonomie des Art. 40 des Grundgesetzes lässt einen weiten Spielraum, wie der Bundestag
seine Arbeitsformen und -verfahren gestaltet. Die Grenzen sind dabei durch unsere Verfassung und zwischenzeitlich auch durch eine Vielzahl von Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichtes vorgegeben.
Meines Erachtens müssen wir uns, wenn wir etwas
verändern, etwas neu gestalten, von drei Zielen leiten
lassen. Das ist erstens das Ziel, einvernehmliche Lösungen zu erzielen. Ich erinnere daran, dass es auch der
Geist im Geschäftsordnungsausschuss ist, zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen.
Das zweite Ziel ist, dass man den Aufgabenstellungen
des Parlaments als Gesetzgebungsorgan und Kontrollorgan der Regierung gerecht wird.
Das dritte Ziel ist, dass die Regeln bei unterschiedlichsten Mehrheitsverhältnissen Bestand haben und
den vom Wähler bestimmten unterschiedlichen politischen Stärkeverhältnissen der Fraktionen und Parteien
gerecht werden und diese abbilden. Auch das muss immer Ziel sein, wenn wir die Regeln für unser Haus gestalten.
Die jetzt anstehenden Beratungen Ihrer Anträge können daher nicht ausschließlich vor dem Hintergrund der
jetzigen Mehrheitsverteilung stattfinden. Herr Beck, Ihrer Aufteilung in Ausnahmesituationen und Normalsituationen folge ich nicht. Die Regeln sind auf die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse, die wir haben,
anzuwenden. Bei Änderungen des Grundgesetzes oder
Regelungen der Geschäftsordnung muss über den Tag
hinaus, das heißt über die aktuelle Mehrheitsverteilung
hinaus, nachgedacht werden. Das Grundgesetz sieht die
Entscheidungsfähigkeit des Bundestages ebenfalls als einen Wert von Verfassungsrang an und bringt diesen Verfassungswert in sehr ausgewogener Weise in Einklang
mit den geforderten parlamentarischen Kontrollaufgaben.
Das geltende Minderheitsquorum für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und die Anrufung
des Bundesverfassungsgerichtes bei der abstrakten Normenkontrolle zeigen die Ausgewogenheit und Angemessenheit dieses Systems sehr deutlich. Ich muss daher vor
einer undurchdachten und nur scheinbar gerechtfertigten
Angleichung der beiden Quoren auf jeweils ein Viertel
der Abgeordneten oder gar reduziert auf eine einzige
Fraktion - wenn es auch die kleinste ist -, warnen.
({4})
Es ist angemessen und richtig, dass unser Grundgesetz bei der abstrakten Normenkontrolle ein Drittel der
Abgeordneten als Mindestquorum fordert, während es
bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein
Viertel der Abgeordneten sind. Hier wird sehr bewusst
ein Unterschied gemacht. Die beiden Dinge sind nicht
miteinander vergleichbar. Die Überprüfung von Gesetzen ohne jeden Bezug zu einem konkreten Rechtsstreit
ist in unserer Rechtsordnung die absolute Ausnahme.
Es hat gute Gründe, dass dieses Recht auf die Bundesregierung, die Landesregierungen und ein Drittel des
Parlamentes begrenzt ist. Denn damit wird verhindert,
dass die Verfassungsrichter mit einer übergroßen Zahl
von Anträgen überhäuft und letztlich in ihrer Arbeitsweise beeinträchtigt werden.
({5})
Das Grundgesetz wollte Karlsruhe zu Recht davor schützen, seine Aufgaben durch eine Flut von Verfassungsklagen nicht mehr wahrnehmen zu können. Wenn die Hürden hier gesenkt werden, befürchte ich eine deutliche
Zunahme der Verfassungsklagen,
({6})
die - da wollen wir doch ehrlich untereinander sein schließlich oft mehr aus politischem Kalkül als aus tatsächlichen verfassungsrechtlichen Bedenken angestrengt
werden.
({7})
Bereits jetzt wird in der politischen Auseinandersetzung
sehr schnell und leichtfertig der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ausgesprochen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Karlsruhe ständig in die politische Auseinandersetzung einbezogen wird.
Noch ein Wort zum Thema Untersuchungsausschuss: Hier liegt es im Interesse der Opposition, das
niedrige Quorum von einem Viertel - das ist ein niedriges Quorum - beizubehalten. Ein Untersuchungsausschuss ist eine innerparlamentarische Angelegenheit, mit
der Klage vor dem Bundesverfassungsgericht also gar
nicht vergleichbar. Dieses niedrige Quorum liegt im Interesse der Opposition. Zu Recht wird ein Untersuchungsausschuss als schärfstes Schwert des Parlamentes
bezeichnet. Er soll das letzte Mittel sein, um einen Sachverhalt aufzuklären. Wenn wir das Quorum hier weiter
absenken, wird dieses Mittel mehr geschwächt als gestärkt.
In dieser Legislaturperiode hat sich gezeigt, dass das
funktioniert. Es wurden nämlich Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Dieses Quorum wird also auch in
diesem Bundestag erreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist im Übrigen
nicht neu, dass unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse
bzw. unterschiedliche Rollen - ob man also Mitglied einer Regierungsfraktion oder einer Oppositionsfraktion
ist - in solch speziellen Fragen schon immer zu unterschiedlichen Sichtweisen geführt haben. Ich erinnere daran, dass Sie, Herr Kollege Beck, nicht in dieser Legislaturperiode, sondern in der letzten Legislaturperiode, als
Sie noch nicht auf den Oppositionsbänken saßen, in einer ähnlichen Frage, als es ebenfalls um die Anpassung
der Geschäftsordnung im Hinblick auf Mehrheitsverhältnisse ging, unter anderem Folgendes gesagt haben:
Regeln leben davon, dass sie in verschiedenen Situationen gelten und man sich nicht von Situation zu
Situation die passende Regel gibt.
({8})
Ich denke, diesen Satz sollten wir einfach einmal so stehen lassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Jan Mücke hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zu Beginn meiner Rede einen Fakt vorwegschicken - diese Bemerkung richtet sich vor allen Dingen an
den Kollegen Beck -: Ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass wir diese Debatte erst am Schluss einer
Tagesordnung führen.
({0})
Denn eigentlich gehört dieser Punkt ganz oben auf die
Tagesordnung.
({1})
- Sehr geehrter Herr Beck, Sie haben einige Aktien daran, dass wir über dieses Thema erst so spät diskutieren.
({2})
Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir darüber an einem
Donnerstag- oder einem Freitagvormittag diskutiert hätten.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck
zulassen?
Nein, das möchte ich nicht.
({0})
Meine Damen und Herren, eine Demokratie lebt davon, dass einer Regierung eine effektive Opposition gegenübersteht, die über eigene Rechte verfügt, die sie
auch ausüben kann. Das, was der Kollege Kaster gesagt
hat - dass die Opposition angesichts ihrer umfangreichen Auskunfts- und Fragerechte eigentlich gut bedient ist -, muss ich leider zurückweisen.
Ich frage relativ viel. Aber Sie glauben nicht, was für
Antworten ich bekomme.
({1})
Wenn ich beispielsweise eine Frage nach Kosten stelle,
aber die einzige Zahl, die mir genannt wird, nicht etwa
ein Geldbetrag, sondern das Datum ist, und ansonsten
geantwortet wird, dass sich diese Frage der Bundesregierung nicht stellt, dann muss ich feststellen, dass mein
Kontrollrecht als Oppositionsabgeordneter ins Leere
läuft.
({2})
Ich frage mich: Warum hat die Koalition Angst davor,
der Opposition die Möglichkeit einzuräumen, mit einem
25-Prozent-Quorum nach Karlsruhe zu gehen? Wer nicht
vorhat, verfassungswidrige Gesetze zu machen, der
müsste vor einer Überprüfung in Karlsruhe gar keine
Angst haben.
({3})
Die Wahrheit sieht so aus, dass Art. 93 Abs. 1 des
Grundgesetzes gegenwärtig ins Leere läuft, weil die
kleinen Oppositionsfraktionen zusammen nicht das erforderliche Quorum aufbringen. Ich kann gut verstehen,
dass wir nicht nach jeder Wahl das Grundgesetz ändern
können, um es an die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse
anzupassen.
({4})
Aber man muss sehen: Der Verfassungsgesetzgeber hat
es nicht als Regelfall vorgesehen, dass es eine
Große Koalition gibt,
({5})
durch die die Minderheitenrechte ausgehebelt sind. Die
Mütter und Väter des Grundgesetzes haben in Herrenchiemsee mit Sicherheit nicht vor Augen gehabt, dass
die großen Volksparteien irgendwann einmal so stark
erodieren, dass es nur noch für eine Große Koalition
reicht.
({6})
Für uns ist entscheidend, dass die Opposition ihre
Rechte effektiv wahrnehmen kann. Deshalb schlagen wir
in unserem Gesetzentwurf vor: Künftig soll ein Viertel
der Mitglieder des Bundestages eine abstrakte Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht erheben
können.
({7})
Wir wollen dies vor allen Dingen deshalb, weil die beiden anderen Klagebefugten - Bundesregierung bzw.
Landesregierung - ausfallen. Denn eine Landesregierung wird ja immer von entweder Union oder SPD geführt und wird demzufolge niemals klagen. Das heißt,
dass dieser Artikel so, wie er jetzt abgefasst ist, ins Leere
läuft.
Wir wollen auf der anderen Seite aber auch nicht,
dass in dem möglichen Fall, dass hier einmal eine radikale Partei eine Fraktion bildet, diese, ohne auf andere
Fraktionen angewiesen zu sein, das Bundesverfassungsgericht blockieren kann, indem sie eine solche Normenkontrollklage einreicht. Deshalb halten wir 25 Prozent
für ein ausreichendes und vernünftiges Quorum.
Auf die Große Koalition kommt jetzt eine große Verantwortung zu. Denn es liegt in Ihrer Hand, ob es eine
Verfassungsänderung geben wird, und es liegt in Ihrer
Hand, ob die Opposition künftig so gestellt werden kann,
dass sie ihre Rechte wahrnehmen kann. Ich möchte Ihnen zum Schluss ein Zitat von Abraham Lincoln mit
auf den Weg geben:
Willst Du den Charakter eines Menschen erkennen,
so gib ihm Macht.
Der Umgang Ihrer beiden Fraktionen mit unseren Anträgen und unserem Gesetzentwurf wird zeigen, wie Sie
mit Ihrer Macht umgehen und wie vernünftig Sie die
Rechte der Opposition einschätzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Volker Beck.
Verehrter Herr Kollege, da Sie hier den Zeitpunkt
kritisiert haben, zu dem wir das diskutieren, möchte ich
Sie - Sie sind ja neu im Parlament - über die Usancen
und unsere Möglichkeiten diesbezüglich aufklären: Dies
ist der erste Tagesordnungspunkt der Grünenfraktion an
diesem Sitzungstag. Ein früheres Aufsetzungsrecht stand
uns nicht zur Verfügung.
Zweiter Punkt. Ihre wie unsere Vorlage stammen
beide von der Jahreswende 2005/2006. Es wäre der FDP
also jederzeit möglich gewesen, diese zu einem früheren
Zeitpunkt auf die Tagesordnung zu setzen. Wir hätten
uns sicher nicht dagegen gewehrt, wenn Sie Ihren TagesVolker Beck ({0})
ordnungspunkt vom heutigen Tag - um 12.30 Uhr - für
diese Debatte zur Verfügung gestellt hätten. Außerdem
darf ich Sie darüber unterrichten, dass der Geschäftsführer Ihrer Fraktion ursprünglich geplant hatte, die Anträge
als Ohne-Debatte-Punkte laufen zu lassen.
({1})
Das wollten wir wiederum nicht. Denn wir denken, eine
Debatte über die Parlamentsrechte ist eine Debatte, die
das ganze Haus angeht; das erscheint mir eine Selbstverständlichkeit zu sein. Deshalb: Auch wenn dies kein guter Zeitpunkt auf der Tagesordnung ist, er ist besser als
keiner.
({2})
Wir sollten allerdings aus dieser Petitesse, aus der
Mücke keinen Elefanten machen und die Debatte jetzt
fortsetzen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Uwe Küster, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will gleich zu Anfang auf meinen Kollegen
Beck und auf meinen Kollegen Mücke eingehen, die
sich gestritten haben, wann man dieses Thema am besten
debattieren könnte. Da Sie die Debatte hier über Kalauer
angeleiert haben, sage ich Ihnen: Seit einem Jahr liegen
Ihre Anträge hier im Archiv vor. Wenn Ihnen dieses
Thema so wichtig wäre, wie Sie jetzt tun, hätten Sie
längst eine Gelegenheit finden können, es zum Gegenstand einer Kernzeitdebatte zu machen.
({0})
Für den Antrag der PDS/Linken gilt dies nicht; er ist aus
diesem Jahr. Also: Jeder von Ihnen hätte dieses Thema
zum Gegenstand einer Kernzeitdebatte machen können.
Worum geht es bei Ihrem Tagesordnungspunkt 29?
Dazu fällt mir der Begriff „Upgrading“ ein: Sie wollen
die Minderheitenrechte im Parlament noch weiter ausbauen.
({1})
Die Rechte parlamentarischer Minderheiten im Deutschen Bundestag sind, wie man feststellen muss, wenn
man sie mit denen der Minderheiten in den Parlamenten
vieler anderer Länder vergleicht, bereits heute ausgesprochen weitgehend; so weit vorab zur Klarstellung.
({2})
Wir haben in den vergangenen Jahren in Sachen Minderheitenrechte sehr viel getan. Deswegen gibt es keinen Grund, uns hier eine Belehrung zu erteilen.
Am weitesten geht natürlich Die Linke - die PDS mit ihrem Wunschkonzert. Von der Einberufung des
Bundestages bis hin zur abstrakten Normenkontrollklage
beim Bundesverfassungsgericht möchte sie alles mit
Fraktionsstärke durchsetzen können. Das kann man zwar
alles fordern, aber man sollte die Kirche im Dorf lassen.
({3})
Im Laufe der vergangenen Legislaturperioden sind die
Rechte der Minderheiten erheblich erweitert und gestärkt worden, und zwar bis an die Grenzen des Verantwortbaren.
({4})
Die Zusammensetzung des Bundestages und die
Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Fraktionen
spiegeln das Wahlergebnis von 2005 wider. Ich muss
Sie daran erinnern, dass dieses Wahlergebnis bis 2009
gilt.
Der Bundestag atmet an jeder Stelle den Wählerwillen von 2005. Es ist unsere Aufgabe, diese Entscheidung, die der Wähler damals getroffen hat, möglichst genau umzusetzen. Dafür sind wir gewählt worden.
Minderheitenrechte dürfen die Wahlergebnisse nicht auf
den Kopf stellen.
({5})
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben ein Wahlergebnis erreicht, mit dem Sie nicht die
Mehrheit stellen. Ihre Politik wurde nicht von der Mehrheit des Landes gewollt. Sie haben sich auch der Regierungsverantwortung entzogen. Zumindest zwei Fraktionen haben Angebote gehabt. Sie haben sie nicht
wahrgenommen.
({6})
Der Begriff Opposition bedeutet, an der Regierungsbildung und der Führung der Regierungsgeschäfte nicht beteiligt zu sein. Die von Ihnen gewählte Rolle ist die
Rolle der Opposition: Kritik, Kontrolle, Alternativenbildung.
Ich möchte Sie an dieser Stelle auf die erste Große
Koalition von 1966 bis 1969 hinweisen. Damals war die
Opposition mit nur 10 Prozent im Parlament vertreten.
Hat man damals eklatante Regelungslücken festgestellt?
({7})
- Nein.
({8})
Es gab keine Korrektur des Grundgesetzes oder der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, bezogen
auf die damalige Große Koalition.
({9})
Ich möchte Ihnen vor Augen führen, welche Möglichkeiten Sie als Opposition bzw. als Minderheitenfraktionen haben. Sie haben Frage- und Interpellationsrecht
gemäß der Geschäftsordnung des Bundestages. Das umfasst zum Beispiel Große und Kleine Anfragen.
Herr Kollege, möchten Sie - im Sinne von Fragerechten - eine Zwischenfrage des Kollegen Mücke zulassen?
Gerne.
Bitte, Herr Mücke.
({0})
Herr Kollege Küster, Sie haben gerade ausgeführt, es
habe nach 1966 keine Änderungswünsche der Opposition, die mit nur 10 Prozent im Parlament vertreten war,
gegeben. Ist Ihnen der Antrag der Fraktion der FDP auf
Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages auf
Drucksache 1229 der 5. Legislaturperiode bekannt?
Herr Mücke, ich muss passen: Mein Gedächtnis reicht
nicht bis zur fünften Wahlperiode zurück.
({0})
Da Sie das alles parat haben, sind Sie auch berechtigt - ({1})
- Nein. Ich komme gleich darauf zurück. Ich will Ihnen
ein Argument entgegenhalten. Wir haben im Oktober 2005 in der konstituierenden Sitzung des Bundestages gemeinsam über die Geschäftsordnung des jetzigen
Bundestages entschieden. Dazu gab es aus allen Fraktionen breite Zustimmung. Das heißt, Sie waren mit der Regelung der Geschäftsordnung in den vergangenen Jahren
einverstanden.
Ein Jahr später entdecken Sie plötzlich einen Regelungsbedarf. Das Wahlergebnis und die daraus resultierenden Mehrheitsverhältnisse waren Ihnen bekannt.
Auch Ihre Möglichkeiten als Oppositionsfraktion waren
Ihnen bekannt. Ein Jahr später kommen Sie jetzt mit der
Forderung nach Änderungen. Das ist ein bisschen weit
hergeholt.
Zurück zum Thema. Wie Sie wissen, reicht ein Quorum von 5 Prozent der Abgeordneten aus, um Ihr Fragebzw. Interpellationsrecht - darunter fällt auch die Einberufung einer Aktuellen Stunde - wahrzunehmen. Sie
nutzen die Instrumente der Opposition weidlich aus.
Im Präsidium stellt die Opposition drei Vizepräsidenten, die Koalition vier. Wenn man das Wahlergebnis
auf die Zusammensetzung des Präsidiums übertragen
würde, dann gäbe es einen Vizepräsidenten zu viel.
({2})
Der Bundestag hat aber gewollt, dass jede Fraktion im
Präsidium vertreten ist. Das war der ausdrückliche Wille
des gesamten Hauses.
({3})
- Jede Fraktion sollte vertreten sein, aber die Mehrheitsverhältnisse müssen sich in jedem Gremium widerspiegeln, Herr Niebel.
({4})
Das wissen Sie doch. Sie sind lange genug dabei.
Bei der Tagesordnung gilt das Reißverschlussprinzip. In der nächsten Woche haben wir folgendes Kuriosum: Die Koalition hat am Donnerstag drei Tagesordnungspunkte, während die Opposition sechs hat.
({5})
Mit anderen Worten: Über welche Dinge beklagen Sie
sich eigentlich? Ihre Rechte sind weit gefasst.
Bei einer üblichen 30-minütigen Debattenzeit - auch
das spielt in den Anträgen eine Rolle - entfallen
58 Prozent der Redezeit auf die Koalition, während die
Opposition, die nur 26 Prozent der Abgeordneten stellt,
42 Prozent hat. Zudem darf man nicht vergessen, dass
der Einbringer einer Initiative noch eine Bonuszeit bekommt. Die Abgeordneten der Opposition können also
deutlich länger und öfter reden als die Abgeordneten der
Koalitionsfraktionen.
({6})
Zur finanziellen Ausstattung: Die Finanzierung der
Fraktionen erfolgt durch einen für alle Fraktionen
gleich hohen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Die
kleinen Fraktionen sind durch einen Sockelbetrag bevorteilt. Als Oppositionsfraktion erhalten sie sogar noch einen Zuschlag; das ist gut so. Das ist gewollt.
Die Minderheiten sind dem Bundestag lieb und teuer.
Eines darf aber nicht geschehen: Der Wählerwille darf
bei allem Respekt vor demokratischen Minderheitenrechten im parlamentarischen Alltag nicht in sein Gegenteil verkehrt werden.
({7})
Herr Mücke hat in der vorangegangenen Debatte gesagt:
Mehrheit ist Mehrheit. - Das gilt auch hier. Letztlich ist
jede Entscheidung von der Mehrheit zu tragen.
({8})
Wissen Sie, was es bedeutete, wenn Ihr Wunsch erfüllt würde, die für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder einer Enquete-Kommission
geforderten Quoren auf Fraktionsstärke herabzusetzen?
Dann hätten wir jetzt drei Untersuchungsausschüsse.
Man muss sich einmal vorstellen, was das bedeutet: Das
Parlament zerbröselt quasi. Wir hätten gar keine Chance
mehr, vernünftig zu arbeiten.
({9})
Das jetzige Quorum von 25 Prozent zwingt die Opposition, egal wie sie sich zusammensetzt, sich auf einen Antrag zu einigen, wenn sie gemeinsam etwas erreichen
und ihre Minderheitenrechte ausüben will.
Das Gleiche gilt - darauf hat schon mein Kollege
Herr Kaster hingewiesen - bezüglich der Normenkontrollklage. Wenn das dafür erforderliche Quorum auf
Fraktionsstärke herabgesetzt würde, wenn also 5 Prozent
der Abgeordneten dieses Hauses eine solche Klage anstrengen könnten, bedeutete dies, dass wir innerhalb kürzester Zeit die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts gefährden würden.
({10})
Das Quorum für das Recht, eine Sondersitzung des
Deutschen Bundestages zu beantragen, ist in der Verfassung bei einem Drittel der Mitglieder des Hauses angesiedelt. Sollte das Quorum auf Fraktionsstärke herabgesetzt werden, bestünde die Möglichkeit der
Manipulation, könnte es passieren, dass man vor lauter
Sondersitzungen kaum noch etwas „Normales“ machen
könnte.
({11})
In den vergangenen 30 Jahren gab es bei einem funktionierenden Recht der antragsberechtigten Minderheit gerade einmal 38 Sondersitzungen des Bundestages auf
Antrag von Fraktionen. Das heißt, es gibt gar nicht den
von Ihnen unterstellten Bedarf an Sondersitzungen. Zudem muss man sich darüber im Klaren sein, dass das erstens zu einer Störung des normalen Ablaufs führen und
zweitens Geld kosten würde. Darüber müssten Sie irgendwann einmal Bericht erstatten.
({12})
Aus der Sicht meiner Fraktion besteht keine Veranlassung für tiefgreifende Änderungen. Der Wählerwille, die
Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages und die
Minderheitenrechte müssen miteinander in Einklang stehen. Das haben wir erreicht. Jeder Wunsch der Oppositionsfraktionen nach Machterweiterung lässt sich in der
Regel alle vier Jahre durch ein entsprechendes Wählervotum vielleicht erfüllen. Daran sollten die Oppositionsfraktionen arbeiten.
({13})
- Sie haben genügend Rechte. Das wissen Sie, Herr
Niebel.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Jetzt ist die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann für die
Linke an der Reihe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Küster, bei Ihnen fällt mir nur eines ein: Hochmut
kommt vor dem Fall.
({0})
Ja, er hat recht - jetzt meine ich nicht den Kollegen
Küster -, und ich zitiere mit Ihrer gütigen Erlaubnis:
Das eine Thema ist die Frage, ob unter den Bedingungen einer Großen Koalition über die Ausgestaltung der Minderheitenrechte der Opposition, möglicherweise mit Blick auf Quoren für bestimmte
Initiativrechte, Modifizierungen erfolgen.
Ja, er hat so recht, unser Bundestagspräsident. Herr
Lammert, mit Ihrem Interview in der Zeitung „Das Parlament“ sind Sie ein Stück zum Hoffnungsträger der Opposition geworden.
Nach eineinhalb Jahren bestätigt sich in der Tat:
Grundlegende Rechte einer parlamentarischen Opposition sind de facto außer Kraft gesetzt. Herr Kaster, das
ist nicht nur ein Eindruck, sondern eine Tatsache, die wir
Sitzungswoche für Sitzungswoche hier erleben. Es besteht also dringender Handlungsbedarf.
Meine Damen und Herren, auch er hat recht - ich zitiere -: Geschäftsordnungsfragen sind Machtfragen ...
Machtfragen nicht einmal im guten Sinne des Wortes
Macht, sondern etwa im Sinne der Ausschaltung der anderen, der Ausschaltung der Minderheiten, einseitiger
Bevorzugung der Mehrheit. - Dass ich einmal Richard
Stücklen, den ehemaligen CSU-Bundestagspräsidenten,
hier zitiere, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.
Aber wo er recht hat, hat er recht. - Herr Präsident, das
war im Übrigen in einer Debatte über das Selbstverständnis des Parlaments. Ich würde dringend anregen,
dass wir uns einer solchen Debatte zum Selbstverständnis des Parlaments erneut stellen.
({1})
Es ist eine Tatsache, dass die Minderheit in diesem
Parlament weitgehend ausgeschaltet wird. Die Rede war
vom Quorum zur Überprüfung eines Gesetzes hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit. Dieses Quorum
ist eindeutig zu hoch. Dieses typische Oppositionsrecht
ist heute real nicht wahrzunehmen, es sei denn, dass sich
die Opposition, die sich innerhalb der Koalition findet,
einem entsprechenden Antrag der Opposition anschließt.
Das ist aber angesichts des herrschenden Fraktionszwangs relativ unwahrscheinlich.
({2})
Oder nehmen wir einen Untersuchungsausschuss,
zumeist eingerichtet zum Aufdecken von - vorsichtig
ausgedrückt - Unregelmäßigkeiten der Regierung. Die
Geschäftsordnung erzwingt mit ihrem Quorum von
25 Prozent, dass sich die Opposition einig sein muss.
Aber eine Koalition in der Opposition kann und darf es
in diesem Parlament nicht geben.
({3})
Ein Untersuchungsausschuss kann sich auch mit Themen befassen, die das Regierungshandeln einer ehemaligen Regierungspartei und jetzigen Opposition betreffen.
Da sind Hemmungen vorprogrammiert. Die Geschichte
unseres Untersuchungsausschusses zum BND zeigt das
exemplarisch.
Ähnlich sieht es mit der Entscheidung über die Einrichtung von Enquete-Kommissionen aus. Das ist
umso bedauerlicher, als über eine Enquete-Kommission
Sachverständige in die parlamentarische Arbeit einbezogen werden und damit eine Stärkung der parlamentarischen Willensbildung, nicht nur der Opposition, sondern
von Koalition und Opposition, erfolgt.
Dass für die Einberufung einer ganz normalen
Anhörung in den Ausschüssen ebenfalls 25 Prozent der
Abgeordneten gebraucht werden, zeigt, dass die Regelungen unserer Geschäftsordnung in dieser Beziehung
nicht mehr zeitgemäß sind.
Da sind wir beim eigentlichen Problem. In Konsequenz geht es um Rechte und Pflichten des gesamten
Parlaments, um Gestaltung von Politik und natürlich um
Kontrolle der Regierung. Gerade das Kontrollrecht ist
im eigentlichen Sinne kein Oppositionsrecht, sondern
ein Recht des ganzen Parlaments, das auch so wahrgenommen werden sollte.
({4})
Das Parlament hat sich in seiner Mehrheit inzwischen
zum verlängerten Arm der Regierung degradiert, zum
Abnickorgan für Regierungshandeln.
({5})
Eine Mehrheit des Parlaments bewegt sich immer weiter
weg von der Mehrheit der Bevölkerung. Wir erleben
heute, dass die Demokratie nachhaltig beschädigt wird.
Umso wichtiger wird Opposition, umso wichtiger werden Minderheitenrechte in diesem Parlament. Herr
Kaster, Einvernehmen mit der Regierung herzustellen,
ist nun gerade nicht Aufgabe der Opposition.
({6})
Mein Appell geht an Sie alle: Verschließen Sie sich
einer solchen Debatte nicht! Sie geht uns alle an. Denken
Sie daran: Wer heute in der Regierung sitzt, kann morgen schon in der Opposition sein und umgekehrt. Gestatten Sie mir dazu ein letztes Zitat.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Es lautet:
... im Interesse der Aufgaben des Parlamentes ...
werde ich persönlich ganz sicher ein hartnäckiger
Verfechter der Interessen der Opposition sein.
So noch einmal Kollege Lammert. Herr Präsident, wir
werden Sie beim Wort nehmen.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/581,
16/4119 und 16/126 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. März 2007, 13 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.